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German Pages [363] Year 2020
Werte-Bildung interdisziplinär
Band 4
Herausgegeben von Martina Blasberg-Kuhnke, Eva Gläser, Reinhold Mokrosch, Susanne Müller-Using und Elisabeth Naurath
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Reinhold Mokrosch / Elisabeth Naurath / Michèle Wenger (Hg.)
Antisemitismusprävention in der Grundschule – durch religiöse Bildung
Mit 10 Abbildungen
V&R unipress Universitätsverlag Osnabrück
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen des Universitätsverlags Osnabrück erscheinen bei V&R unipress. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Rainer Oberhänsli-Widmer, Hoffnung, Öl auf Papier, 50 x 65 cm, 1997 (nach einer Skulptur von Ilana Goor im Garten von Yad Vashem, Jerusalem). Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-1523 ISBN 978-3-7370-0156-4
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Elisabeth Naurath Antisemitismus-Prävention im Religionsunterricht der Grundschule – Wagnis, Herausforderung und Ermutigung . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gelungene Praxisbeispiele zur Antisemitismus-Prävention Elisabeth Naurath / Heide Rosenow / Aloys Lögering / Reinhold Mokrosch »Judentum begreifen« – Wie Juden leben und glauben. Ein Projekt für Schulen und andere Bildungseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michèle Wenger »Likrat« – In Begegnung lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Katharina Müller-Spirawski / Vanessa Eisenhardt Lebendiges Zeugnis erhalten – Die Arbeit des Vereins ZWEITZEUGEN e.V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Martina Strehlen Judentum für Kinder. Das »Lehrhaus für Kinder« der Alten Synagoge Essen (3.–4. Schuljahr) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Klärungen zu Antisemitismus und Antisemitismus-Prävention Hanspeter Heinz »An allem sind die Juden schuld« – Begrifflich-historische Klärungen
. .
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Inhalt
Ludwig Spaenle Für Präventionsarbeit ist es nie zu früh – Zur Bedeutung von Antisemitismus-Prävention in der Grundschule . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Chance einer Antisemitismus-Prävention in der Grundschule – durch religiöse Bildung Elisabeth Naurath Antisemitismus als religiöses Vorurteil. Entwicklungspsychologische Möglichkeiten der Vorurteilsprävention in der Grundschule durch religiöse Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Reinhold Mokrosch Friedenserziehung und Antisemitismus-Prävention – ein Geschwisterpaar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Georg Langenhorst Trialogisches Lernen – ein didaktischer Weg zur Vorbeugung gegen Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Thomas Schlag Das Recht des Kindes auf Religion ist auch ein Recht auf Antisemitismus-Prävention – ein religionspädagogisches Plädoyer . . . . 109 Michèle Wenger »Weil die Verfolgung und Missachtung der Rechte der Menschen auch heute genauso vorkommt.« – Antisemitismus-Prävention im Schweizer Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Michael Kiefer Antisemitismus – Prävention als Aufgabe interkultureller und interreligiöser Bildung aus muslimischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . 133
Didaktik nach der Shoa als Chance einer Antisemitismus-Prävention in der Grundschule Elisabeth Naurath Kriterien einer Didaktik nach der Shoa für den Religionsunterricht in der Grundschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
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Inhalt
Reinhold Mokrosch »Könnte ich doch meinen Kindern Empathie beibiegen!« – Interviews mit Lehrkräften über Antisemitismus-Prävention in der Grundschule . . . . . 163 Reinhold Boschki »Die Kinder sensibilisieren, nicht überfordern.« – Möglichkeiten und Grenzen des Erinnerungslernens mit 6- bis 12-Jährigen im Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Tina Raddatz-Schick Beispiele für Antisemitismus-Prävention an einer Grundschule in Osnabrück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Georg Wagensommer Empirische Studien zu Nationalsozialismus und Holocaust aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen und darauf aufbauende Möglichkeiten einer Antisemitismus-Prävention . . . . . . . . . . . . . . 201 Reinhold Mokrosch Kinder hören vom Leiden in der Shoa – Wie reagieren sie?
. . . . . . . . 225
Religionsdidaktische Impulse einer Antisemitismus-Prävention für die Praxis Joachim Willems / Ariane Dihle ›Identität‹ als Problem? Judentum im evangelischen Religionsunterricht . 243 Julia Spichal Antisemitismus-Prävention: Ein kritischer Blick in Lehrpläne und Schulbücher der Primarstufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Roland Biewald Judentum erleben – Begegnung mit jüdischer Gegenwartskultur als Antisemitismus-Prävention. Unterrichtsbausteine für die Grundschule (Klassenstufe 3–4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Georg Langenhorst Antisemitismus-Prävention durch literarisches Lernen . . . . . . . . . . . 297
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Inhalt
Benigna Schönhagen Synagogenpädagogik als Antisemitismus-Prävention am außerschulischen Lernort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Heide Rosenow Biographiebezogene Lernformen gegen Ausgrenzung und Antisemitismus bei Grundschulkindern – eine christliche Perspektive . . . . . . . . . . . 317 Selcen Güzel Antisemitismus-Prävention im islamischen Religionsunterricht mit Praxisbeispielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Jasmin Kriesten Antisemitismus-Prävention als Aufgabe der Lehramtsaus- und fortbildung – auch für Grundschullehrkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Michèle Wenger Unterrichtsideen zum Coverbild dieses Bandes . . . . . . . . . . . . . . . 353 Verzeichnis der Autor*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
Vorwort
»Antisemitismus-Prävention kann bei Kindern gar nicht früh genug ansetzen« betont der Antisemitismus-Beauftragte von Bayern, Ludwig Spaenle, in seinem Beitrag für diesen Band. Denn bereits im Grundschulalter können Vorurteile und Feindbilder entstehen. Auch wenn für den deutschen Kontext bislang weitgehend unerforscht ist, ob und wie sich antisemitische Einstellungen bei Kindern bilden, muss man doch annehmen, dass bereits bei den Sechs- bis Zwölf-Jährigen die Wurzeln für spätere jugendliche Erscheinungsformen von antisemitischen Einstellungen auf Schulhöfen und in Klassenzimmern wachsen. Hierbei kommt der religiösen Bildung im Grundschulkontext eine besondere Bedeutung zu, denn das Thema ›Judentum‹ ist für die höheren Grundschulklassen fest in den Lehrplänen verankert und dies führt möglicherweise für viele Schüler*innen zu einer Erstbegegnung mit jüdischer Geschichte, Theologie, Tradition und Kultur – eventuell auch zu einer ersten dialogischen Begegnung mit Menschen jüdischen Glaubens oder dem Besuch einer Synagoge. Insofern verstehen wir als Herausgeber*innen diesen Band als evidenten Schritt zu einer friedenspädagogisch motivierten Reform für den Religionsunterricht in der Grundschule: Stärker als bisher gesehen und umgesetzt steht der Religionsunterricht vor der gesamtgesellschaftlich bedeutsamen Herausforderung, antisemitische Präventionsarbeit zu leisten! Grundschulen in Deutschland stellen ein Konglomerat an Ethnien, Kulturen und Religionen dar. Deshalb kommen in diesem Buch deutsche, österreichische, schweizerische, türkische und arabische Stimmen als auch christliche, muslimische und jüdische Positionen zu Wort. Die interreligiöse und internationale Perspektive soll hierbei durch eine intergenerationale Dimension ergänzt werden: Wir drei Herausgeberinnen und Herausgeber gehören drei Generationen nach dem Krieg und nach der Shoa an: Reinhold Mokrosch, Jahrgang 1940, Osnabrück, hat als Kind die Schrecken des Krieges erlebt und später viel zum sog. Kirchenkampf gearbeitet. Elisabeth Naurath, Jahrgang 1965, Augsburg, hat aufgrund der Verschwiegenheit und Verdrängungsstrategien der Großelternund Elterngeneration angefangen, nach der christlichen Mitschuld an der Shoa
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Vorwort
zu fragen und über jüdische Religion, Geschichte und Kultur zu forschen. Und Michèle Wenger, Jahrgang 1991, Zürich, kennt den Zweiten Weltkrieg aus Schilderungen ihrer Großeltern (Zeitzeugen) und arbeitet als Forscherin im Erinnerungslernen. Wir danken allen Autor*innen der 27 Beiträge dieses Bandes herzlich. Sie repräsentieren eine große Varianz zur »Antisemitismus-Prävention an Grundschulen – durch religiöse Bildung«. Ganz bewusst haben wir die Vielstimmigkeit und zum Teil auch Kontroversität der Meinungen der Autor*innen nicht zensiert oder geglättet, um den Diskurs möglichst lebendig zu halten. Sowohl die unterrichtspraktische wie auch die wissenschaftlich-theoretische Sichtung war uns ein Anliegen. Wir danken besonders Luisa Beck und Jens Beiner aus Augsburg für ihre großartige Arbeit bei Korrekturen und Formatierung. Wir sind dankbar, wenn dieses Buch dazu beitragen kann, Religionslehrkräfte bei ihrer Aufgabe zur Antisemitismus-Prävention zu unterstützen, damit Grundschulkinder für die jüdische Kultur und Religion aufgeschlossen und vor antisemitischen Vorurteilen bewahrt werden. Osnabrück, Augsburg, Zürich im Juni 2020
Reinhold Mokrosch, Elisabeth Naurath, Michèle Wenger
Elisabeth Naurath
Antisemitismus-Prävention im Religionsunterricht der Grundschule – Wagnis, Herausforderung und Ermutigung
Die Wunden sind verschorft, aber der Schmerz bleibt auf immer und täglich wieder neu. Erschreckend Herausfordernd Er will uns zeigen, was böse ist und was gut sein kann. Er will uns zeigen, was zu hoffen und was zu tun ist. Elisabeth Naurath
Der Jahresbericht 2019 zur ›Politisch motivierten Kriminalität‹ (PMK) zeigt, dass antisemitische Straftaten aktuell um rund 13 % gestiegen sind. Eine Entwicklung, die mit großer Sorge beobachtet wird und in allen Bildungsbereichen nach Präventionsmöglichkeiten verlangt. Auch im Kontext religiöser Bildung wird verstärkt gefragt, inwiefern antisemitische als dezidiert judenfeindliche Einstellungen zu sehen sind, ob nicht Synergie-Effekte religiöser und politischer Bildung stärker zu beachten sind und vor allem ob nicht lebensgeschichtlich viel früher mit Präventionsmaßnahmen zu beginnen sei? »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus
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Elisabeth Naurath
kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.«1
Während es schon vorchristliche Formen der Judenfeindschaft und des Judenhasses gab, wurde seit dem späten 19. Jahrhundert der Begriff ›Antisemitismus‹ meist in rassistischer Perspektive exklusiv abwertend auf das Judentum bezogen.2 Antisemitismus wurde zum Oberbegriff antijüdischer Ressentiments, indem letztendlich die »vorgefasste Idee vom Juden als das Wesentliche«3 allen Differenzierungen entgegengesetzt und auch rückwirkend auf die verschiedenen Facetten von Judenfeindschaft übertragen wurden. Vom ursprünglichen Wortsinn her rekurriert der Begriff ›Semit‹ auf alle Personen und Personengruppen, die sich nach biblischer Tradition auf Sem, den ältesten Sohn Noahs zurückführen lassen, d. h. im Prinzip die Völker des Nahen Ostens. Dennoch bezieht sich der Begriff ›Antisemitismus‹ ausschließlich auf das grundlegende Phänomen der Judenfeindschaft – nicht aber der Islamfeindlichkeit – in all seinen historischen Formen des Wandels der jeweiligen Begründungszusammenhänge. Auf die hierin liegende Problematik eines »ewigen Antisemitismus« hat beispielsweise schon Hannah Arendt in ihren Schriften hingewiesen, indem eine gewisse historische Unveränderbarkeit suggeriert wird.4 Der nur schwer definierbare Neologismus ist hierbei nicht nur im Sinne eines theologischen Antijudaismus als vielmehr wesentlich globaler, allgemeiner und komplexer zu verstehen, nämlich als »Sammelbezeichnung für alle Einstellungen und Verhaltensweisen, die den als Juden wahrgenommenen Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen aufgrund dieser Zugehörigkeit negative Eigenschaften unterstellen.«5 Der erste Antisemitismusbericht der Bundesregierung 1 Bei dieser Definition handelt es sich um die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) in der von der Deutschen Bundesregierung angenommenen Form, vgl. https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/themen/kultur dialog/-/216610; (Stand: 31.08. 2019). Zur Geschichte und Entwicklung dieser Arbeitsdefinition und zu den Schwierigkeiten einer definitorischen Klärung vgl. das entsprechende Kapitel im Bericht des Unabhängigen Arbeitskreises Antisemitismus an den Deutschen Bundestag vom 7. 4. 2017, S. 23ff., https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/119/1811970.pdf; (Stand: 31. 08. 2019). 2 Vgl. zum Folgenden auch: Werner Bergmann: Geschichte des Antisemitismus, C.H. Beck Verlag, München 2002, 5. durchgesehene Aufl. 2016,sowie Werner Bergmann: Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949–1989, Schriftenreihe des Zentrums für Antisemitismusforschung, Bd. 4, Campus Verlag, Frankfurt a. M./New York 1997. 3 Jean-Paul Sartre, Betrachtungen zur Judenfrage, Zürich 1948, 13. 4 Vgl. z. B. Hannah Arendt, Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher. Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung ›Aufbau‹ 1941–1945. München 2000. 5 Deutscher Bundestag (Hg.): Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze. Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Drucksache 17/7700. Berlin 2011, 9.
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von 20116 zeigte bereits, dass antisemitische Einstellungen und Haltungen quer durch die Alters- und Gesellschaftsschichten verlaufen. Bei der drängenden Frage, wie man also diesem flächendeckenden Phänomen vorbeugend begegnen kann, ist besonders evident, dass trotz der breit angelegten Bemühungen einer gesamtgesellschaftlichen Verurteilung von Antisemitismus keine systematische Präventionsarbeit stattgefunden hat und stattfindet. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern muss mit Robert Sigel konstatiert werden: »Für die Bundesrepublik steht ein Gesamtkonzept noch aus (…)«7. ›History doesn’t repeat itself, but it does rhyme‹ – so Mark Twain. Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Um diesen Reim quasi als Schema zu durchbrechen, muss sich die Struktur grundlegend ändern, die Struktur des Denkens und damit auch des Redens und Handelns. Wie grundlegend – das zeigt die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland, ja sogar in Europa. Hierin liegt die heutige friedenspädagogische Aufgabe angesichts eines nach 80 Jahren erneut aufflammenden Antisemitismus in unserer Gesellschaft.8 Einerseits ist dies eine bildungstheoretische Aufgabe für alle schulischen Fächer9, andererseits kommt dem Religionsunterricht angesichts der gesellschaftlichen Tradierungsabbrüche zwar quantitativ eine kleiner gewordene, aber aus inhaltlichen Gründen eine besonders wichtige Rolle und Verantwortung zu. Allerdings ist für den deutschen Kontext der Religionsunterricht in der Grundschule ein nahezu weißer Fleck auf der Landkarte der Präventionsbemühungen. Daher liegt es zu Beginn des Bandes besonders nahe, mit ›Guten-Praxisbeispielen‹ Einblicke in bereits vorhandene und erfolgreiche Modelle zu geben und zur Reflexion, Diskussion und Nachahmung zu ermutigen. Aus diesem Grund starten wir im 1. Kapitel mit ›Guten-Praxisbeispielen‹, um Einblicke in bereits vorhandene und erfolgreiche Modelle zu geben. Zunächst wird das niedersächsische Kooperationsprojekt ›Judentum begreifen‹ (Elisabeth Naurath, Heide Rosenow, Aloys Lögering, Reinhold Mokrosch) vorgestellt. Es lebt von der Begegnung mit Menschen jüdischen Glaubens, die in Projekttagen an Grundschulen anhand von Gesprächen, Präsentationen, Workshops, Film und Theater ihre Glaubens- und Festtraditionen vorstellen und mit den Kindern ins Gespräch kommen. Auch das Thema Shoa wird hierbei nicht ausgeklammert, 6 Ebd. 7 Robert Sigel, Das Thema ›Antisemitismus‹ in der schulischen Bildung. In: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit https://www.blz.bayern.de/meldung/das-thema-ran tisemitismusr-in-der-schulischen-bildung.html; (Stand: 06.02.20). 8 Vgl. hierzu auch: Lipstadt, Deborah: Der neue Antisemitismus. München 2018; Blume, Michael: Warum der Antisemitismus uns alle bedroht. Wie die neuen Medien alte Verschwörungstheorien befeuern. Ostfildern 2019. 9 Vgl. Matthes, Eva/ Meilhammer, Elisabeth (Hg.): Holocaust Education im 21. Jahrhundert. Kempten 2015.
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sondern mit der Einladung einer Zeitzeugin für die Grundschulkinder vergegenwärtigt. Den Gedanken des Begegnungslernens aufgreifend ist in internationaler Perspektive spannend, wie Michéle Wenger das seit 2002 bestehende Projekt ›Likrat‹ aus der Schweiz vorstellt, das mittlerweile auch in Österreich und Deutschland übernommen wurde. Das Dialogprojekt Likrat (das hebräische Wort für ›aufeinander zugehen‹) sendet ausgebildete Likratinos und Likratinas mit dem Ziel der Information, Begegnung, Mediation und Bildung auch in Schulen, um antisemitischen Einstellungen vorzubeugen bzw. diese abzubauen. Gerade mit Blick auf die religionsbezogene Bildung an Volksschulen ist diese Initiative hinsichtlich der Kompetenzziele nicht nur anschlussfähig, sondern zukunftsweisend. Dies gilt ebenso für die Arbeit des Vereins »ZWEITZEUGEN e.V.«, der sich aus dem Studienprojekt Heimatsucher e.V. entwickelt hat und die Katharina MüllerSpirawski und Vanessa Eisenhardt in ihrem Artikel beschreiben. Seit der Gründung mit dem Ziel, die Lebensgeschichten Shoa-Überlebender auf ehrenamtlicher Basis in die Bildungseinrichtungen zu bringen, versetzen sie sich als Zweitzeug*innen in die Biographien von Zeitzeug*innen, um Schüler*innen zu sensibilisieren, die Lebensgeschichten lebendig zu erhalten und ihnen zu helfen, auch selbst friedenspädagogische Verantwortung zu übernehmen. Das Präventionsziel einer Förderung der Kenntnisse und des Verstehens der jüdischen Religion verfolgt auch das Lehrhaus für Kinder der Alten Synagoge Essen, das Martina Strehlen für die 3. und 4. Grundschulklasse vorstellt. Gerade dieser historische und mit einem Bildungsprogramm neu konzipierte Lern- und Erfahrungsort bietet die Möglichkeit, dass Kinder dem Judentum in seiner Tradition und in seiner Lebendigkeit begegnen. Insofern steht dieses ›GutePraxisbeispiel‹ nicht nur als Modell für Synagogenpädagogik, sondern auch für die Chance interreligiösen Dialogs. Eine Klärung der Frage, welche Phänomene und Einstellungen als Antisemitismus anzusehen sind, um von hier aus Präventionsstrategien zu entwickeln, ist besonders problematisch. Bei Sichtung der Literatur fällt auf, dass die Heterogenität der Begriffsklärungen zum Antisemitismus auf die Komplexität des Phänomens verweist. Für diesen Band sollen daher im 2. Kapitel einleitend begrifflich-historische Klärungen eine für Lehrkräfte grundlegende Orientierung bieten. Der im christlich-jüdischen Dialog seit vielen Jahrzehnten engagierte Träger der Buber-Rosenzweig-Medaille Hanspeter Heinz erläutert die klassisch gewordenen Typen des Antisemitismus, indem er sie historisch von der Antike bis heute verortet. In einem weiteren Schritt zeigt er die Wende im christlichjüdischen Verhältnis mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auf und betont die Notwendigkeit einer Neuinterpretation antijüdischer Aussagen von christlicher Seite. Schließlich beschreibt er Formen latenten Antisemitismus in Kirche und
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Gesellschaft und plädiert dafür, Antisemitismus nicht zum zentralen Thema im Blick auf Juden werden zu lassen. Während Hanspeter Heinz die kirchliche Präventionsarbeit fokussiert, sieht Ludwig Spaenle, der seit 2018 Antisemitismusbeauftragter der Bayerischen Staatsregierung ist, den staatlich-schulischen Bereich in seiner wertebildenden Aufgabe – auch zur Antisemitismus-Prävention – herausgefordert. In seinem Beitrag betont er, dass Präventionsarbeit lebensgeschichtlich möglichst früh ansetzen und daher stärker als bisher auch die Grundschule in die Verantwortung nehmen sollte. Kernelement der Wertevermittlung in der Grundschule sei auch Antisemitismus-Prävention. Sie sei zu stärken, indem deutlicher als bisher Informationen über jüdisches Leben in seiner Vielfalt an die Grundschulkinder vermittelt werden sollten. Doch welche Möglichkeiten bietet religiöse Bildung, um AntisemitismusPrävention im Religionsunterricht der Grundschule zu fördern? Im 3. Kapitel sollen daher religiöse (christliche und muslimische) wie auch interreligiöse Ansätze zur Sprache kommen, die zukunftsweisende Chancen ausloten. Hierbei ist wichtig zu sehen, dass eine dezidierte Antisemitismus-Prävention für religiöse Bildungsprozesse mit Kindern bislang zu wenig im Blick war. Aus diesem Grund steht am Beginn dieses Kapitels der Beitrag von Elisabeth Naurath, der entwicklungspsychologische Bedingungen der Vorurteilsprävention reflektiert, da Antisemitismus auch als religiöses Vorurteil gesehen werden kann und insofern gerade für den Religionsunterricht evident ist. Inwiefern gerade das Alter der 3./4.–Klässler zur Vorurteilsprävention günstig ist und religionspädagogische Interventionsmöglichkeiten bietet, wird anhand von Praxisbeispielen auch zum interreligiösen Lernen aufgezeigt. Religionspädagogischer Hintergrund dieser im dritten Hauptteil aufgezeigten Konzepte ist letztlich eine Verortung im Konzert der Friedenspädagogik. So zeigt Reinhold Mokrosch in seinem Artikel, dass Friedenserziehung und Antisemitismus-Prävention ein Geschwisterpaar sind. Ausgehend von einer Klärung der Begrifflichkeiten wird gezeigt, dass eine Entwicklung zur Friedensfähigkeit mit einer Entwicklung zum Widerstand gegen Antisemitismus Hand in Hand gehen kann und soll, auch wenn dies von verschiedenen Einflussfaktoren wie Intelligenz, Moral, Sozialverhalten und Persönlichkeitsstrukturen abhängig ist. Der Beitrag religiöser Friedenserziehung liege jedoch gerade darin, zu betonen, dass alle Menschen als Gottes Geschöpfe angesehen werden sollten und somit kein Raum für Antisemitismus gegeben wird. In einem weiteren Schritt geht es um die Bedeutung religiöser Bildung für eine Antisemitismus-Prävention in der Grundschule. Georg Langenhorst stellt in seinem Beitrag das trialogische Lernen als zukunftweisende Option auch zur Antisemitismus-Prävention in den Vordergrund, da der Fokus ›Abraham‹ auf den gemeinsamen Ursprung von Judentum, Christentum und Islam in den letzten 30 Jahren zu den erfolgreichsten theologiegeschichtlichen Entwicklungen
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zähle. Hierbei wirke das trialogische Lernen als Grundprinzip christlichen Denkens und sei damit im Sinne gegenseitiger Wertschätzung als Gegenkraft gegen antisemitische Tendenzen zu verstehen. Für Langenhorst kann es eine optimale Grundlage für interreligiöses Lernen sein, die plurale Welt direkt als Kind kennen zu lernen. Dies geschieht durch Lernen in einer heterogenen Gruppe mit jüdischen, muslimischen und christlichen Kindern, wie dies beispielsweise in der »Drei-Religionen-Grundschule« in Osnabrück der Fall ist. Aber auch der Einsatz von Medien wie der Kindertora, die zu einem Vergleich mit Kinderbibel und Kinderkoran anregen, kann der Austausch über gemeinsame und verschiedene Sprachstile, Gottesvorstellungen u. a. in ein trialogisches Gespräch münden. So gibt es viele Wege im Miteinander der Glaubenden der abrahamischen Religionen schon im Grundschulalter Antisemitismus-Prävention zu leisten. Dass das Recht jedes Kindes auf religiöse Bildung auch AntisemitismusPrävention umfassen soll, mag wünschenswert sein, ist aber aufgrund der Komplexität dieses Anspruchs auch problematisch: Thomas Schlag beschäftigt sich daher in seinem Beitrag mit entwicklungspsychologischen, (religions)pädagogischen und politikdidaktischen Dimensionen einer für die Grundschule geeigneten Subjektorientierung, die bildungstheoretischen Grundsätzen genügt und zugleich Antisemitismus-Prävention mit dem Grundgedanken des Menschenrechtsbezug religiöser Bildung verbindet. Dieser bereichernde und weiterführende Blick über die deutsche Grenze hinaus ins Nachbarland Schweiz wird mit dem Beitrag von Michèle Wenger fortgesetzt, denn hinsichtlich der religionsdidaktischen Chancen einer Antisemitismus-Prävention in der Grundschule ist der schweizerische Kontext, in dem einerseits auch antisemitische Tendenzen in der Bevölkerung auszumachen sind und man andererseits aufgrund der Neutralität während der Zeit des Nationalsozialismus einen weniger belasteten Zugang zum Thema Holocaust findet. In ihrem Beitrag gibt sie einen Einblick in die Ergebnisse der REMEMBER-Studie, genauer in Antworten von 125 Lehrpersonen der Schweiz. Dabei wird klar, dass die Lehrpersonen Antisemitismus und den Holocaust für Themen des Religionsunterrichts halten und mit ihnen auch zentrale Aufgaben zur Antisemitismus-Prävention erfüllt werden können: Dazu zählt das Erkennen totalitärer Tendenzen in der heutigen Gesellschaft, die Wissensvermittlung über die Geschichte des Holocaust und hierauf aufbauend die Förderung von gesellschaftlichem Verantwortungsbewusstsein. Als Ausblick fordert die Autorin Unterstützung für die Lehrkräfte in Form von Fortbildungsmöglichkeiten, aber auch Lehrmitteln zur Thematik. Aus muslimischer Sicht fragt Michael Kiefer nach Antisemitismus-Prävention als Aufgabe interkultureller und interreligiöser Bildung von Kindern, wobei in der Altersgruppe von sechs bis zwölf Jahren bisher keinerlei Studien über antisemitische Haltungen durchgeführt wurden. Als Problemfelder, die möglicher-
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weise auch antisemitische Haltungen bei Kindern auslösen können, beschreibt er die einseitige Rezeption des Nahostkonfliktes, eine Kolportage antisemitischer Narrationen über einen langen Zeitraum und außerdem eine fehlende zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit antisemitischen Einstellungen. Grundlegend widmet er sich der Frage, was Muslime zur Bekämpfung antisemitischer Haltungen tun können? Neben dem familiären Umfeld liegen seines Erachtens zukunftsweisende Präventionsmaßnahmen in gemeindlicher Kinder- und Jugendarbeit, in Eltern- und Familienarbeit, Koranunterricht und Begegnungsarbeit. Vom Islamischen Religionsunterricht fordert er, reflektierte Zugänge zu den Quellen zu ermöglichen, Perspektiven für eine Verständigungsbereitschaft zu öffnen und interreligiösen Dialog zu fördern. Als Grundlage hierfür sieht er Handlungsbedarf im Bereich der Aus- und Weiterbildung von Religionslehrkräften – als eine zukunftsweisende Perspektive. Deutlich zeigt sich, dass die Thematisierung der Shoa hinsichtlich der Entwicklung von Strategien zur Antisemitismus-Prävention nicht ausgeklammert werden kann – schon gar nicht im Unterricht an deutschen Schulen. So widmet sich das 4. Kapitel einer intensiven Diskussion um die Möglichkeiten einer Didaktik nach der Shoa im Religionsunterricht der Grundschule. Hierzu sollen zunächst Kriterien erstellt werden, die den durchaus kritischen Diskurs aufnehmen und zugleich nach einer kindgerechten Didaktik fragen. In ihrem Beitrag geht Elisabeth Naurath davon aus, dass Grundschulkinder – gerade weil sie erwiesenermaßen im Alltag in den Familien oder über Medien Hinweise zum Holocaust aufschnappen – nicht vor der Begegnung mit der Thematik an sich geschützt werden können – wohl aber vor einer unbegleiteten Konfrontation. Vielmehr ist es wichtig, die Kinder mit ihren Fragen ernst zu nehmen, die zeitliche Distanz zum Holocaust so zu berücksichtigen, dass die Lernenden selbst Bezugspunkte finden können. Eine kindgerechte Didaktik hat selbstverständlich entwicklungspsychologische Bedingungen zu beachten und auf dieser Basis weniger historische Kenntnisse als vielmehr eine Förderung prosozialer Kompetenzen anzuvisieren. Wichtigstes Ziel bleibt bei allem, Traumatisierungen zu verhindern und sensibel, subjektorientiert mit einer gut reflektierten, für Kinder angemessenen Methodik zu unterrichten. Ob und wie dies in der Praxis auch gelingt, ist bislang für den Religionsunterricht empirisch unerforscht. Insofern ist eine erste, nicht repräsentative Befragung von Lehrkräften hilfreich und weiterführend: Reinhold Mokrosch zeigt in der Auswertung seines Fragebogen-geleiteten Gesprächs mit Lehrkräften verschiedener Schularten, dass die Befragten der Meinung sind, dass Antisemitismus-Prävention in der Grundschule ansetzen müsse. Die Vorschläge, wie man dies allerdings in den Unterricht einbringen würde, waren sehr unterschiedlich. Wichtig war dabei das Thematisieren von Einzelbiografien, jedoch ohne die Kinder emotional, moralisch oder religiös zu überfordern. Die meisten Lehr-
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kräfte waren davon überzeugt, dass durch Antisemitismus-Prävention im Unterricht die Schüler*innen empathiefähiger geworden seien. Auch Reinhold Boschki plädiert in seinem Beitrag für eine Sensibilisierung von Kindern für Antisemitismus im Religionsunterricht der Grundschule, indem er die Dimension des Erinnerungslernens beleuchtet und die gegenseitige Ergänzung von emotionaler und kognitiver Dimension des Erinnerns betont. Da religiöse Bildung genuin anamnetische Strukturen aufweist, die sowohl individuelles wie auch kulturelles Erinnern umfasst, spielt auch das Erinnern des Holocaust eine evidente Rolle. Hierzu hat es sich die Forschungsgruppe REMEMBER zur Aufgabe gemacht, im Rahmen einer Bestandsaufnahme auch Religionslehrkräfte an Grundschulen zu befragen. Deutlich zeigt sich, dass sowohl Erinnern als auch Erzählen als geeignete Lernwege ineinandergreifend die Empathiefähigkeit bei Schüler*innen erhöhen, wobei immer die Betonung des lebendigen Judentums im Blick bleiben sollte. Zur eingehenderen Klärung der unterrichtspraktischen Zugänge ist der Blick in die Praxis von Lehrkräften unabdingbar, so dass Tina Raddatz-Schick ihre Erfahrungen mit Bezug zum niedersächsischen Kerncurriculum und Bildungsauftrag für den Religionsunterricht hinsichtlich einer intendierten Antisemitismus-Prävention beschreibt. Obwohl im Religionsunterricht Themenbereiche von Neid, Vorurteil und Ausgrenzung bearbeitet werden, bemängelt sie, dass Antisemitismus-Prävention nur indirekt vorkomme. Bei der praktischen Umsetzung stellt sie fest, dass die Lernenden sehr wissbegierig seien und auch Präkonzepte bestünden. Es sei hierbei immer zu bedenken, wie viel den Kindern schon zuzumuten ist und wo Grenzen liegen. Auch Georg Wagensommer beschreibt in seinem Artikel Möglichkeiten zur Antisemitismus-Prävention in der Grundschule ausgehend von einer Didaktik der Shoa, indem er den Weg wählt, Ergebnisse verschiedener empirischer Studien zur Holocaust-Didaktik zugrunde zu legen. Klar zeigt sich, dass das Judentum kein Teil der Lebenswelt der Schüler*innen ist und sie vorrangig über die Medien Kenntnisse generieren. Es wird deutlich, dass auch Kinder schon früh und auch außerhalb von Schule mit der Thematik des Nationalsozialismus in Kontakt kommen, wobei ein »Hitlerzentrismus« auffällt. Jüdinnen und Juden werden mehrheitlich in einer Opferperspektive wahrgenommen, wobei Opfer, Täter und Zuschauer eher entindividualisiert und anonymisiert werden. Wagensommer sieht hier die Lehrkraft vor der großen Herausforderung, die Schüler*innen sowohl kognitiv als auch emotional im Rahmen religiöser Bildungsprozesse abzuholen, um sowohl Multiperspektivität wie auch Gegenwartsbezüge zu generieren. Reinhold Mokrosch beschreibt konkretisierend, wie er eine Unterrichtseinheit über »Janusz Korczak und seine Waisenkinder im Warschauer Ghetto« in einem 3. Schuljahr miterlebt hat; und er untersucht, ob die 9-Jährigen mit den gleichen Gefühlsstrukturen, mit denen sie alltägliche Leiderfahrungen verar-
Antisemitismus-Prävention im Religionsunterricht der Grundschule
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beiten, auch auf das Leiden der Waisenkinder in der Shoa reagieren. Er beobachtet große Differenzen. Und er befragt außerdem 12/13-Jährige, wie sie mit religiösen Antworten auf die Frage ›Warum gibt es Leid?‹ umgehen – dies auch aktuell am Beispiel der unter Corona Leidenden. Die Befragten lehnten, wie er feststellt, religiöse Antworten durchweg ab, obwohl sie sich zum Teil als religiös konnotierten. Abschließend und zugleich für die Praxis eröffnend, widmet sich das 5. Kapitel religionsdidaktischen Impulsen einer Antisemitismus-Prävention für die Praxis. Joachim Willems und Ariane Dihle betonen die identitätsfördernde Dimension religiöser und konfessioneller Bildung, indem sie Religionsbücher für das 3./4. und 5./6. Schuljahr daraufhin untersuchen, ob kategoriale – und daher nicht selten diskriminierende – Zuschreibungen zum Judentum im Sinne eines Gegenentwurfs zum Christentum in den Schulbüchern zu finden sind. Am Modell des ›Othering‹ und der Ausblendung multipler Identitäten lassen sich solche essentiellen Zuschreibungen als folgenschwer aufzeigen. Daher plädieren beide Autoren für eine Verdeutlichung der Verwurzelung christlicher Theologie im Judentum, für Differenzsensibilität und Rekategorisierung, z. B. mit Hilfe von Begegnungslernen und literarischem Lernen. Den Faden bezüglich Lehrplänen und Unterrichtsmaterialien aufgreifend setzt die an der Universität Wien (Österreich) tätige Religionspädagogin Julia Spichal den kritischen Blick in die Lehrpläne und Schulbücher der Primarstufe fort und verweist hierzu auf ihre Monografie »Vorurteile gegen Juden im christlichen Religionsunterricht«, aus der der vorliegende Artikel einige Ergebnisse von Analysen aufnimmt. Schon Analysen seit den 1980er Jahren hatten betont, dass bei einigen Themen die christliche Identität auf Kosten des Judentums veranschaulicht werde. Wie Spichal analysiert, gab es seit diesen Analysen zwar Verbesserungen, jedoch wurden verschiedene Bereiche dennoch nicht berichtigt; dies gilt insbesondere, wenn keine Verweise darauf zu finden sind, dass das Alte Testament auch die Heilige Schrift des gegenwärtigen Judentums ist, oder wenn Nächsten- und Feindesliebe, das Vaterunser, die Bergpredigt oder auch die Zehn Gebote ohne Rekurs zum Judentum dargestellt werden. Wichtig sei demgegenüber, schon in der Primarstufe via Lehrbücher und Lehrplänen Verbindungslinien zwischen Judentum und Christentum zu betonen, um möglichst früh antijüdischen Vorurteilen entgegenzuwirken. Ein Schlüssel hierzu ist in der jüdischen Gegenwartskultur zu sehen, die Roland Biewald in konkrete Unterrichtsbausteine für die höheren Grundschulklassen 3 und 4 so übersetzt, dass sie sich zur Prävention von antisemitischen Einstellungen eignen. Biewald setzt darauf, Zugänge dort zu suchen, wo die Kinder mit Vorurteilen, Ausgrenzungen, Beschimpfungen und Beleidigungen in Berührung kommen: Indem die Schüler*innen Mechanismen der Ausgrenzung reflektieren, diese mit einer biblischen Geschichte verbinden und spielerisch
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Elisabeth Naurath
Verhaltensstrategien gegenüber ausgegrenzten Menschen einüben, wird als nächster Schritt im Unterricht die Begegnung mit einer biographischen Erzählung mit einem altersgleichen Mädchen (Lebensgeschichte von Henny Brenner als Beispiel von Verfolgung in der Shoa) geführt, um sich mit den Gründen auseinanderzusetzen, warum gerade Juden ausgegrenzt wurden und werden. Abschließend soll dann ein Einblick in jüdische Gegenwartskultur ermöglicht werden. Vertieft wird diese Chance zur Antisemitismus-Prävention via literarischen Lernens in dem zweiten Beitrag von Georg Langenhorst: gegenwärtige jüdische Kinder- und Jugendliteratur eignet sich hervorragend, in interkultureller und religionspädagogischer Perspektive dezidiert religiöse Facetten heutigen Judentums ansprechend und interessant zu verlebendigen, um subjektive Perspektiven quasi spielerisch verfremdet ›von innen‹ zu erlesen. Gerade diese Texte der deutschen Gegenwartsliteratur eignen sich zur Antisemitismus-Prävention, da sie nicht vorrangig mit Blick auf die Shoa vergangenheitsbewältigend ausgerichtet sind. Im folgenden Beitrag präsentiert Benigna Schönhagen die Augsburger Synagoge als außerschulischen Lernort, um ebenfalls lebendiges Judentum den Schüler*innen nahe zu bringen. An diesem Lernort soll besonders die Förderung interkultureller Bildung im Vordergrund stehen, die hier durch den Erwerb von religiösem Wissen geschieht. Die Chancen und Grenzen für die AntisemitismusPrävention sowohl dieses Kooperationsprojektes von Schule und Museum, als auch von Synagogenführungen werden in diesem Beitrag deutlich. Ziel des Projektes ist stets den Schüler*innen positive Erfahrungen beim Kennenlernen des Judentums und dem ersten Austausch darüber zu ermöglichen. Diesen Faden aufgreifend beschreibt Heide Rosenow in ihrem Artikel biographiebezogene Lernformen der Antisemitismus-Prävention aus christlicher Perspektive. In ihrem Beitrag will sie als erfahrene Grundschullehrkraft und Seminarleiterin exemplarisch anhand der Biographie der Holocaustüberlebenden Erna de Vries Wege aufzeigen, welche die Kinder im Grundschul-Religionsunterricht gegen Judenfeindlichkeit sensibilisieren. Rosenow rät hierbei auch zu lokalen Bezügen, da Kinder nicht selten mit Vorwissen Anknüpfungspunkte an außerschulische Lernorte mitbringen, die kontextbezogen und wirkungsvoll akzentuiert werden können. Selcen Güzel wendet sich in ihrem Beitrag »Antisemitismus-Prävention im islamischen Religionsunterricht mit Praxisbeispielen« einem sehr wichtigen Thema zu: da sowohl Judentum wie auch Christentum Themen im Lehrplan in der dritten und vierten Jahrgangsstufe sind, kann und soll hier auch der Komplex friedliches Zusammenleben, Fremden- und Judenfeindlichkeit thematisiert werden kann. Äußerst ansprechend: Der Blick in Unterrichtspraxis einer IslamStunde und die reflektierte unterrichtspraktische Reaktion auf eine judenfeind-
Antisemitismus-Prävention im Religionsunterricht der Grundschule
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liche Äußerung einer Schülerin (beeinflusst durch das Elternhaus). Der erste Baustein beinhaltet eine Visualisierung des Vorwissens der Schüler*innen, der zweite Baustein ein Brainstorming zum Vorwissen und einer Sensibilisierung durch Selbstreflexion. Von der hierdurch entstandenen Diskussion unter den Lernenden leitet die Lehrkraft auf das Thema »Judentum als eine von Gott offenbarte Religion« über, wozu die Vermittlung von Basiswissen den dritten Baustein darstellt. Als vierten Baustein bringt Güzel die Differenzierung zwischen religiösen und politischen Themen im Kontext des Judentums ein, um schließlich gesellschaftsrelevante Reflexionsfähigkeit der Schüler*innen zu fördern. Gerade in dieser Unterrichtsphase ist es der Lehrkraft wichtig, dass die Schüler*innen kritisch und tolerant mit kontroversen Meinungen ihrer Mitschüler*innen umgehen. Last but noch least bedarf es eines zukunftsweisenden Blicks in die Unterrichtspraxis der Grundschule, die perspektivisch nur mittels der Lehramtsausund fortbildung eine wachsende Sensibilisierung zur Antisemitismus-Prävention erreichen kann. Jasmin Kriesten zeigt auf der Basis theologischer und kirchlicher Grundannahmen Desiderate hinsichtlich der Lehramtsbildung für Religionslehrkräfte auf und erarbeitet inhaltlich begründete Kompetenzbereiche, die vorrangig Pluralitätsfähigkeit und Friedensbildung für den Religionsunterricht stark machen. An einem konkreten Seminarbeispiel zeigt sie schließlich, wie gemeinsam mit Studierenden für die Praxis erarbeitete didaktische Unterrichtsbausteine aussehen könnten, die religiöse Bildung mit dem Ziel der Antisemitismus-Prävention konstruktiv verbinden. Der Bogen schließt sich mit unterrichtspraktischen Vorschlägen zum Coverbild dieses Band von Rainer Oberhänsli-Widmer von 1997, indem Michèle Wenger das Thema Hoffnung als bilddidaktischen Impuls in verschiedenen methodischen Zugängen aufgreift und kindgerecht umsetzt.
Gelungene Praxisbeispiele zur Antisemitismus-Prävention
Elisabeth Naurath / Heide Rosenow / Aloys Lögering / Reinhold Mokrosch
»Judentum begreifen« – Wie Juden leben und glauben. Ein Projekt für Schulen und andere Bildungseinrichtungen1
1.
Begegnung ist die Grundlage interreligiösen Lernens
»Haben Sie schon einmal einen Juden oder eine Jüdin kennengelernt?« – fast alle Studierenden des Seminars »Judentum begreifen« an der Universität Osnabrück verneinten bedauernd unsere Frage. Auch wenn heute die jüdische Religion und Kultur in Deutschland wieder lebendig präsent werden, bleiben aufgrund der Shoa jüdische Mitbürger*innen eine sehr kleine Minderheit. Es ist wichtig, Begegnungen mit jüdischen Gemeinden zu arrangieren, da man der religiösen Pluralität unserer Tage insbesondere kontextuell – das heißt in Begegnungen gerecht werden kann. Interreligiöses Lernen sollte auch subjektorientiert durchgeführt werden, weil Zusammenhänge nur sichtbar werden, wenn Subjekte als Teile des Ganzen erkennbar und erlebbar sind. Denn bei dem Thema ›Dialog der Religionen‹ neigen wir dazu, uns fremde Religionen als homogene Blöcke vorzustellen, die auf fest definierten Standpunkten einander begegnen. Erst in der individuellen Begegnung mit Menschen anderen Glaubens entdecken wir, dass Glaube kontextuell durch Lebensgeschichten, regionale Einflüsse oder situative Bedingungen geprägt ist. So liegt aus der Perspektive der Religionspädagogik eine Chance interreligiösen Lernens darin, dass in der Praxis des Religionsunterrichts Kinder und Jugendliche nicht nur über eine Religion informiert werden, sondern dass sie in der Begegnung mit Menschen anderer Religionen deren Glaubensinhalte und Glaubensformen ganzheitlicher verstehen, d. h. im wahrsten Sinne des Wortes begreifen können. Verstehensprozesse gelingen insbesondere im Zusammenspiel kognitiver, emotionaler und pragmatischer Lerndimensionen, da Erfahrung nie eindimensional geschieht, sondern jeden Men1 Der folgende Beitrag nimmt Textpassagen von Elisabeth Naurath und Heide Rosenow auf aus: Dies., Judentum begreifen. Ein dialogisches Konzept zum interreligiösen Lernen in der Grundschule, in: Loccumer Pelikan 3/2011, 118–123; vgl. auch Heide Rosenow, Judentum begreifen – ein dialogisches interreligiöses Konzept für alle Schulformen in Osnabrück, in: Saskia Eisenhardt/ Kathrin S. Kürzinger/ Elisabeth Naurath/ Uta Pohl-Patalong, Religion unterrichten in Vielfalt. Konfessionell – religiös – weltanschaulich, Göttingen 2019, 271–275.
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schen als psychosomatische Einheit betrifft. Aus diesem Grund entstand das ›dialogische Konzept‹ ›Judentum begreifen‹. Es wurde mit großem Engagement von Aloys Lögering, Inessa Goldmann und Alexander Ginsburg in Kooperation mit der Gesellschaft für Christlich-jüdische Zusammenarbeit, der jüdischen Gemeinde und dem Lehrstuhl für Religionspädagogik des Instituts für Evangelische Theologie der Universität Osnabrück durchgeführt.
2.
Ziele, Aufgaben und Inhalte des Projekts
In der Satzung dieses Vereins heißt es: »Der Verein ›Judentum begreifen – Projekt für Schule und Bildung‹ soll in Schulen, Erwachsenenbildung und anderen Bildungseinrichtungen das reiche Erbe des Judentums in Religion und Kultur bewusst und die Gegenwart unserer jüdischen Nachbarn durch Begegnung und Information lebendig machen. Er unterstützt das Zusammenspiel von Juden und Christen…Der Verein soll das Kennenlernen der jüdischen Wurzeln in Christentum und allgemeiner Kultur in Geschichte und Gegenwart ermöglichen und so zum Abbau von Antijudaismus und Antisemitismus beitragen. Er bemüht sich um die Weitergabe von Kenntnissen über Holocaust und Nationalsozialismus und vermittelt Zeitzeugen und Besuche in Gedenkstätten. Er pflegt Kontakte zu den Verfolgten des Naziregimes, insbesondere zu den nach 1989 eingewanderten jüdischen Migranten*innen…In diesem Anliegen weiß sich der Verein mit allen Gesellschaften, Gruppen und Personen verbunden, die…eine Zusammenarbeit mit der jüdischen Gemeinde pflegen und die kulturelle, soziale und menschliche Integration der jüdischen Mitbewohner*innen fördern….Mit dem Projekt werden vor allem Schulen und andere Bildungseinrichtungen angesprochen.«2
Und in einer Kurzbeschreibung formulieren die Initiatoren: »Wir sind eine Gemeinschaft aus Christen und Juden, geprägt von Vergangenheit und voller Hoffnung auf gemeinsame Zukunft in Deutschland, möchten die Gesellschaft über jüdisches Leben und Glauben informieren und Brücken zwischen Menschen verschiedener Religionen bauen. Dafür sind wir mit dem Projekt ›Judentum begreifen‹ in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen aktiv. Mit unseren Themenangeboten und Workshops ergeben sich neue Möglichkeiten nicht nur Judentum zu verstehen, sondern auch durch Begegnungen und Gespräche mit Juden deren Lebensgeschichte und Glauben unmittelbar und persönlich wahrzunehmen. In altersgerechten Workshops erleben wir gemeinsam Formen jüdischen Lebens: das Kochen von jüdischen Speisen, jüdische Bräuche, Tänze und Feste, hebräische Schrift, jüdischen Humor etc. …Wir führen einen Dialog mit vielen Fragen und Antworten, wir erleben immer wieder etwas Neues, und dabei kommen wir einander näher, um Freundschaft aufzubauen… Unter den Schülern*innen erlebten wir Kinder aus Flüchtlingsfamilien so, dass sie ein 2 Aus der unveröffentlichten Satzung des Vereins »Judentum begreifen e.V.« vom 19. März 2012.
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großes Interesse an dem Thema zeigten. Es reicht manchmal ein persönliches Treffen, um mögliche Klischées abzubauen…Rechtextremismus und Antisemitismus haben nach wie vor einen Nährboden in Deutschland. Wir sind Zeugen lebensbedrohlicher Überfälle auf Ausländer mit dunkler Hautfarbe oder ›fremdem‹ Aussehen….Neonazistische Gewalt und nationalsozialistisches Gedankengut nehmen rasant zu. Die Verbrechen der Nazis werden geleugnet. Und besonders Kinder und Jugendliche werden geködert… Deshalb ist es besonders wichtig, die Präventionsarbeit gegen Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen zu verstärken. Deshalb wird unsere Präsenz in den Schulen von Kollegen*innen, Eltern und den Schülern*innen für sehr wichtig gehalten und nachgefragt. Unsere Gespräche erweitern sich durch schmerzhaft aktuelle Fragestellungen wie Fremdsein, Ausgrenzung und Multikulturalität. Dieses Angebot wird hoch geschätzt und angenommen….«
3.
›Judentum begreifen‹ ist ohne Einblick in die Shoa nicht möglich
Das Judentum kennenlernen, Fremdheit abbauen und Dialog führen – das ist auch das Anliegen der Religionslehrer*innen der Grundschule Diesterweg in Osnabrück. An dieser Schule führten wir schon einmal einen solchen Projekttag in einem 3. Schuljahr durch. Nach der Auswertung dieses ersten Projekttages kamen wir zu der Einsicht: Wir können nicht authentisch über das Judentum sprechen, ohne den Holocaust zu erwähnen. Deshalb entschlossen wir uns, Erna de Vries, eine Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz, einzuladen, um den Kindern von der Verfolgung und Vernichtung der Juden im Dritten Reich zu berichten. Wir informierten alle Eltern im Vorab und erhielten Zustimmung. Trotz der Kontroverse zur Thematisierung des Holocaust in der Grundschule3 haben wir uns entschieden, die Shoa nicht zu verschweigen, sondern im Rahmen eines Gesprächs mit einer Zeitzeugin einzubringen. Dafür sprach u. E., dass auch Grundschulkinder in ihrem Alltag mit Gewaltthemen konfrontiert werden und ihnen Möglichkeiten zur Verarbeitung gegeben werden sollten. So stellte auch tatsächlich ein Junge den Bezug zur aktuellen Situation in Libyen her und verglich die Vernichtung der libyschen Bevölkerung mit der Vernichtung der Juden. Die Antisemitismusforschung hat ja gezeigt, dass möglichst frühzeitig eine Sensibilität für die Judenverfolgung – auch im Kontext einer ethischen Bildung von Mitgefühl4 – zur Folge haben könnte, damit sich gar nicht erst judenfeind3 Vgl. im 4. Kap. dieses Bandes: Elisabeth Naurath: Kriterien einer Didaktik nach der Shoa in der religiösen Bildung der Grundschule. 4 Vgl. Elisabeth Naurath, Mit Gefühl gegen Gewalt. Mitgefühl als Schlüssen ethischer Bildung in der Religionspädagogik, Neukirchen 32010.
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liche Aussagen auf den Schulhöfen einnisten. Allerdings sollte das Thema in didaktischer Verantwortung ohne Schilderung der Gewalttaten in der Grundschule erarbeitet werden. Es ist möglich, auf Zusammenhänge von Judenhass und Vernichtung zu verweisen, ohne im Detail auf einzelne Gräueltaten einzugehen. Auf Bildmaterial mit Leichenbergen muss verzichtet werden. Stattdessen eignen sich kindgerechte Darstellungen zum Holocaust5, um Anknüpfungspunkte für Grundschulkinder heute zu finden.
4.
Ablauf eines Projekttages in der Diesterwegschule
4.1.
Film »Was glaubt man, wenn man jüdisch ist?«
Zu Beginn des Projekttages trafen sich alle Schüler*innen der 3. Jahrgangsstufe im Foyer der Schule. Nach der Vorstellung der jüdischen Gäste und einer Einführung zum Ablauf des Vormittags wurde einführend der Film »Was glaubt man, wenn man jüdisch ist?« aus der Reihe »Willi will’s wissen« gezeigt. Dabei erhielten die Schüler*innen einen Einblick in Besonderheiten jüdisch-religiösen Lebens: der Begriff ›kosher‹ bzw. ›koshere Lebensmittel‹ wurde erklärt. Die Schüler*innen konnten den Shabbat über die Identifikationsfigur Willi in einer jüdischen Familie miterleben, einen Rabbiner kennenlernen und exemplarisch einen 14-jährigen Jungen während seines Bar Mizwa Festes begleiten.
4.2.
Jüdische Festsymbolik und Gespräche mit Juden
In einem nächsten Schritt konnten die Kinder die jüdische Festsymbolik ›aus der Nähe‹ erfahren: Auf einem großen Tisch lagen Symbole jüdischen Lebens ausgebreitet und konnten von den Kindern benutzt werden. Die Kippa konnte aufgesetzt werden, der Gebetsschal (Tallit) und die Gebetsriemen (Tefillin) konnten angelegt werden; Pessachteller und Kidduschbecher wurden gefüllt. Ein Highlight der Präsentation waren die Torah-Rolle und das Blasen des Widderhorns (Schofar), durch ein Kind, um nur einen kleinen Einblick in die religiösen Gegenstände zu geben, welche für die Kinder auf dem festlich gedeckten Tisch bereit lagen und anschaulich erklärt wurden. Die Intensivierung dieses Prozesses lag darin, dass es nicht nur um die Gegenstände an und für sich ging, sondern dass diese quasi aus erster Hand mit Lebens- und Glaubensfragen verbunden wurden. Die Schüler*innen spürten darin die authentische Bedeutung jüdischen 5 Vgl. Helga Weissova, Zeichne, was du siehst (mit Lehrerkommentar), Frankfurt 2001.
»Judentum begreifen« – Wie Juden leben und glauben
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Glaubens im Alltags- und Fest-Erleben; sie konnten konkrete Fragen stellen und Antworten aus erster Hand erhalten.
4.3.
Workshops
Nach dieser Präsentation wurden in wechselnden Workshops vertiefend ausgewählte thematische Schwerpunkte zur jüdischen Religion vermittelt: Workshop 1: Jüdischer Tanz und Gesang In diesem Workshop probten die Kinder einen israelischen Tanz und erlernten das Lied ›Hewenu shalom alechem‹ kennen. Workshop 2: Dreidl-Spiel In Anlehnung an die Geschichte des Dreidl-Spiels bastelten die Kinder ihren eigenen Dreidl und spielten in Partnerübung. Es handelt sich um einen mit hebräischen Buchstaben beschrifteten Kreisel, der traditionell von jüdischen Kindern zum achttägigen Chanukka-Fest gespielt wird. Basierend auf einer Legende, wonach im 2. Jh. v. Chr. den Juden die Ausübung ihrer Religion durch die Seleukiden verboten worden war, spielten Kinder früher das Kreiselspiel auf der Straße und warnten damit die heimlich betenden Eltern. Indem die Schüler*innen mit ihrem selbst gebastelten Dreidl spielten, lernten sie gleichzeitig hebräische Buchstaben kennen. Dieses Spiel ist durch Einsatz von Süßigkeiten sehr beliebt. Workshop 3: Die Menora – der 7-armige Leuchter wird künstlerisch gestaltet Nach einer Vorlage gestalteten die Kinder zeichnerisch den siebenarmigen Leuchter Menora. Erweiternd konnten sie hebräische Buchstaben kennenlernen und den eigenen Namen mit hebräischen Buchstaben unter ihr Bild schreiben. Sie waren sehr stolz, als sie ihren Namen hebräisch präsentieren konnten. Workshop 4: Gespräch mit einer Zeitzeugin Wir hatten die 87-jährige Zeitzeugin Erna de Vries eingeladen. Sie berichtete ungemein intensiv, ruhig und sachlich von ihrer Zeit als junger Frau in Auschwitz. Die Kinder waren tief berührt und lauschten aufmerksam. Aus ihren Nachfragen ging hervor, dass sie sich sowohl kognitiv als auch emotional auf das Thema eingelassen hatten: »Ich bin froh, dass wenigstens Sie überlebt haben!«,
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»Sind Ihre Wunden (an Füßen und Beinen) denn wieder geheilt?« Eine Schülerin sagte: »Ich habe Mitgefühl mit den Juden, mit denen das alles gemacht wurde.« Die Kinder wollten sich mit Bildern genauer informieren: »Was ist eine Pritsche? Gab es auch Bettzeug?« Oder: »Wo kam denn das Gas raus? Und konnte man das riechen?« Eine Studentin fragte Frau de Vries nach ihrem Glauben: »Konnten sie nach all diesen Erfahrungen weiter an Gott glauben?« Frau de Vries erklärte: »Ich war gar nicht so gläubig erst. In Auschwitz habe ich Gott erfahren. Als ich gebetet habe: ›Ich möchte noch einmal die Sonne sehen‹ in der letzten Station des Vernichtungslagers, da begann mein Glaube. Dieses Erlebnis brachte mich zum Glauben, daraus schöpfe ich täglich meine Kraft.« Ihre Mutter, die in Auschwitz ermordet wurde, hatte ihr konkret die Hoffnung mitgegeben, dass sie überleben und der Nachwelt von dem Leid erzählen sollte. Erna de Vries war gerührt, wie teilnehmend die Kinder mit dem von ihr erfahrenen Leid umgingen. Für die Schüler*innen war es wichtig, nach dieser Begegnung in kleinerer Gruppe mit ihrer vertrauten Lehrerin Fragen besprechen und Gefühle formulieren zu können.
4.4.
Ausklang mit Puppenspiel
Zum Abschluss des Projekt-Vormittags wurde ein Puppentheaterspiel zum Thema des jüdischen Purimfestes aus dem Buch Esther inszeniert. Das war ein lebensfroher und die Aktivität der Kinder einbeziehender Akzent zum Schluss. Wir verabschiedeten die jüdischen Gäste mit dem erlernten Lied ›Hewenu shalom alechem‹ (›Wir wollen Frieden für alle‹). Und mit einer Süßigkeit klang dieser ereignisreiche Projekt-Vormittag für die Kinder in der Schule aus. Sie hatten mit allen Sinnen eine Religion kennengelernt und sind dabei Menschen jüdischen Glaubens persönlich begegnet. Und auch die oft tabuisierte, grauenhafte Vergangenheit wurde nicht ausgespart, sondern kompetent einbezogen. Das Projekt ›Judentum begreifen‹ ist ein Baustein, um einem möglichen späteren Antisemitismus von Kindern und Jugendlichen vorzubeugen. Es ist für die Grundschule und auch für spätere Klassen konzipiert. Es möchte ein Anwachsen möglicher antijüdischer und antisemitischer Vorurteile und Feindbilder verhindern. Die bisherigen Erfahrungen bei über 4.000 Schülern*innen und die große Nachfrage an niedersächsischen Schulen lassen hoffen, dass diese Ziele erreicht werden.
Michèle Wenger
»Likrat« – In Begegnung lernen
Am 14. August 2019 wurde im Bündner Touristenort Davos mit einem großen Fest eine Thora eingeweiht. Rund 2000 orthodoxe Jüdinnen und Juden nahmen an dem von der Gemeinde bewilligten Festzug teil und feierten in einer ungefähr einstündigen Festivität auf den Straßen das seltene Zeremoniell ausgelassen: Es wurde getanzt, gesungen und gefeiert. Zeitweise war dabei die Zugangsstraße zum Ort durch die Menschenansammlung für den Verkehr blockiert, was nicht bei allen Betroffenen auf Verständnis stieß – im Gegenteil: Die Folgen der angekündigten Einweihung waren Reaktionen im Netz, unter anderem antisemitische Hasskommentare oder abfällige Bemerkungen über jüdische Traditionen1 sowie Jüdinnen und Juden in den sozialen Netzwerken und in Zeitungskommentaren. Viele Schweizer Ferienorte, zum Beispiel im Kanton Wallis, Graubünden oder Bern, erfreuen sich mit ihren Bergregionen wachsender Beliebtheit bei jüdischen Tourist*innen. Wo Kulturen aufeinandertreffen, gibt es Potenzial für Reibungen, besonders dort, wo Unverständnis durch Unkenntnis zu Befremdung führt. Um das gegenseitige Verständnis zu stärken und diesem Befremdungsempfinden entgegenzuwirken, reagierte der Schweizerisch Israelitische Gemeindebund (SIG) auf den Unmut nach der Thora-Einweihung in Davos und schickte sogenannte Likratinos und Likratinas2 in den Bündner Ferienort. Sie wurden aus dem
1 So zum Beispiel das von einem SVP-Landrat kommentierte Video der Prozession auf Facebook mit dem Kommentar »Jetzt sind wir soweit. Unglaublich.« oder von einem privaten Facebook-Account: »Was soll der Scheiß.. und wer erlaubt sowas? sind wir in Israel oder was?«. Noch heute findet sich unter dem vom SIG geposteten Video zur Thora-Einweihung ein Kommentar, der fragt: »Ist es wirklich notwendig, mit solchen »Machtdemonstrationen« einer solchen doch ziemlich extremen Religion, die öffentliche Ordnung zu stören?« https://www. facebook.com/watch/?v=655985504911549 (Stand: 08. 01. 2020). Die antisemitischen Hasskommentare wurden mittlerweile wieder gelöscht. 2 Vom SIG ausgebildete Vermittler*innen. Besonders interessant ist an dieser Stelle das »Tagebuch einer Likratina«, das in drei Einträgen die Sichtweise einer solchen Mediatorin in SaasGrund beschreibt. Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG), Tagebuch einer Likratina, https://www.likrat.ch/de/public/tagebuch-einer-likratina-teil-1/ (Stand: 02. 02. 2020).
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Michèle Wenger
Projekt Likrat3 Public4, das 2015 vom SIG ins Leben gerufen wurde, losgesandt und sollten als Vermittler*innen zwischen der lokalen Bevölkerung und den jüdischen Gästen und Gemeindemitgliedern dienen. Bereits im Juni 2019 lancierten die Tourismusverbände Schweiz Tourismus und Hotellerie Suisse eine Broschüre mit dem Namen »Jüdische Gäste in der Schweiz«, die sich besonders an Schweizer Hoteliers richtet. Sie enthält Informationen zum Judentum allgemein, zu jüdischen Festen und Feiertagen und zu jüdischen Bräuchen, zum Beispiel zu koscherem Essen. Zwischendurch lässt die Druckschrift jüdische Stimmen, von einem Vermittler (Likratino), einem Rabbi und einem israelischen Reiseunternehmer zu Wort kommen. Im Vorwort findet sich auch eine Erklärung für das Erstellen der Broschüre: »[…] Kommen die Gäste aus fremden Kulturen, hilft das Wissen über die jeweiligen Traditionen und Gepflogenheiten, Missverständnisse zu vermeiden und den Aufenthalt für die Gäste und den Gastgeber reibungslos und angenehm zu gestalten. […]«.5
Gleichzeitig gab der SIG eine zweite Broschüre für die jüdischen Gäste heraus, die die Schweiz als Touristen*innen besuchen wollen, damit sie sich in der Schweiz mit ihren Traditionen und Bräuchen besser zurechtfinden. In der Einleitung der Broschüre über deren Zweck steht geschrieben: »[…] It may also be helpful to prevent frictions between Jewish tourists and the locals. Such frictions unfortunately have led to some very unpleasant reports about Jewish tourists in Switzerland. This is why we want to emphasize how essential it is to become familiar with Swiss culture and local codes of behavior when you prepare visiting Switzerland. We all represent the Jewish people, and this is a responsibility which we must take seriously.«6
Die jüdischen Gäste finden Reiseinformationen und einen sogenannten »Swiss Culture and Social Norms«-Abschnitt, der Jüdinnen und Juden über Sitten und Bräuche in der Schweiz aufklärt, die besonders beachtenswert scheinen. Darin finden sich Beschreibungen zu Begrüßungstraditionen oder Ausführungen zur empfohlenen gedämpften Lautstärke bei Telefongesprächen und weitere alltagsrelevante Hinweise. Beide Broschüren sind darum bemüht, mögliche kulturellen Reibungen zu vermeiden. 3 Likrat (hebräisch für »aufeinander zugehen«). 4 Informationen unter: https://www.likrat.ch/de/public/ (Stand: 02. 02. 2020). 5 HotellerieSuisse/Schweiz Tourismus, Jüdische Gäste in der Schweiz, Bern 2019, http://files-eu. clickdimensions.com/hotelleriesuissech-aj7p8/files/juedische_gaeste_2019_dt_final.pdf ?m= 10. 07. 2019%206:33:01&_cldee=bWFpbEBjaGVmLXNhY2hlLmNo&recipientid=account-e94 d06ce3952e9119142005056b6670b-2fec5f570872425c86ca8a5691926e1c&esid=a2801d53-d2a2 -e911-9149-005056b6670b, 5. (Stand: 08. 05. 2020). 6 Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG), in Kooperation mit GRA, WELCOME to the SWISS ALPS. Insights into Swiss Customs, 2019, https://www.swissjews.ch/en/downloads/ likrat-public-guests/guests-brochure.pdf (Stand: 02. 02. 2020), 3.
»Likrat« – In Begegnung lernen
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Doch es stellt sich die Frage, inwiefern diese Hefte Dialogangebote zwischen den einzeln darin angesprochenen Parteien wirklich zur Verfügung stellen und inwiefern der interreligiöse und interkulturelle Dialog über die Broschüren hinaus gefördert wird. Sie bieten sicherlich einen ersten Anhaltspunkt für Involvierte, sodass die bisherigen Friktionen von vornherein vermieden werden könnten. Für weitere Dialogangebote sorgten im Davoser Fall dann die abgeordneten Likratinos und Likratinas, die vor allem mit der Bevölkerung und den Menschen vor Ort in Kontakt traten, zuhörten und erklärten und damit zur Verständigung interkulturell und interreligiös beitragen konnten. Die Situation vor Ort konnte dank der Mediatoren*innen gut und friedlich gelöst werden.
1.
Dialog als Grundlage
1.1.
Likrat als Dialogprojekt
In der Schweiz, mit dieser unendlichen Vielfalt, mit ihrer sprachlichen, regionalen, politischen und religiösen Vielfalt, wird man sich bewusst, dass Vorurteile eine Gefahr für den nationalen Zusammenhalt sind.7 Gerade die von Bundesrat Berset angesprochene Pluralität, die die Schweiz mit ihren vier Landessprachen und vielen Kulturen, nationalen, kantonalen, regionalen und lokalen Traditionen kennzeichnet, braucht für ein friedvolles Zusammenleben den Dialog. Dialog ist auf mannigfaltige Weise und zu vielerlei Anlässen möglich und nötig. Das Projekt Likrat engagierte sich nicht nur 2018 im Bündnerland als LikratPublic-Projekt, sondern existiert als Dialogprojekt in der Schweiz schon seit 2002. Es wurde spezifisch für die Arbeit mit Jugendlichen an Schulen konzipiert und macht es möglich, dass Schüler*innen zwischen 12 und 18 Jahren in ihrem gewohnten schulischen Umfeld im Peer-Education-Modus auf etwa gleichaltrige Likratinos und Likratinas treffen und direkt von ihnen Informationen über das Judentum und jüdisches Leben aus einer Innenperspektive und in der Unterhaltung mit ihnen erfahren. Likratinos und Likratinas sind Jugendliche, die zwischen 15 und 18 Jahre alt sind und vom SIG in mehreren Seminaren speziell für ihre Aufgabe und Begegnungen mit jugendlichen Schüler*innen ausgebildet wurden. Ihre hauptsächliche Aufgabe besteht darin, Fragen von Schüler*innen zu ihrer Religion und Kultur, zu ihren Sitten und Bräuchen und ihrem Alltagsleben zu beantworten. 7 Alain Berset, Schweizer Bundesrat, über das Dialogprojekt Likrat, in: Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG), *Teaser* LIKRAT – der Film. Ein Dialogprojekt gegen Vorurteile, https://www.youtube.com/watch?time_continue=1&v=cyf9qvFJEoU&feature=emb_ title oder https://www.likrat.ch/de/schulen/ (Stand: 09. 02. 2020).
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Michèle Wenger
Empfohlen wird das Dialogprojekt, wenn Themenblöcke, die das Judentum oder Israel betreffen, vorher im Unterricht behandelt wurden und mit einer Begegnung ergänzt werden sollen. Keine Fragen an die Likratinos und Likratinas sind tabu: »So geben die Jugendlichen dem Judentum ein Gesicht – ein Lehrbuch kann dies nicht.«8. Das Projekt soll durch interkulturellen und interreligiösen Dialog Vorurteile und Stereotypen abbauen, Antisemitismus präventiv verhindern und Fragen ermöglichen, die eine Lehrperson oder informierende Texte in Schulmaterialien nicht oder nur bedingt beantworten können. Walter Weibel als langjähriger, mittlerweile pensionierter Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle in Aarau ergänzt in seinem Werk In Begegnung lernen. Der jüdisch-christliche Dialog in der Erziehung zum Projekt: »Interkulturelles Lernen wird damit gleichzeitig zur Prävention gegen Rassismus und Antisemitismus.«9 Durch den Dialog unter Gleichaltrigen ist die Hemmschwelle für Fragen niedriger als sie es vielleicht im Unterricht bei einer Lehrperson ist. Gelerntes kann so perspektiviert, erweitert, ergänzt und auch relativiert werden. Likrat ist gerade deshalb besonders erfolgreich und wird seit 2015 auch in Österreich, seit 2017 in Deutschland und seit 2018 in Moldawien angeboten.10 Pro Jahr finden schweizweit etwa 100 Begegnungen statt, was einer Reichweite von rund 1500 Schüler*innen entspricht.11 Das Projekt Likrat wird hauptsächlich vom SIG finanziert, der damit die Programme Likrat, Likrat Public und Likrat International ermöglicht. Das Unternehmen wird auch von der Schweizer Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB) unterstützt.
1.2.
Ablauf einer Begegnung
Die zwei Jugendlichen, die als Likratinos und Likratinas die Schulklassen besuchen, zeigen den Schüler*innen als erstes einen einführenden Film, der eigens für Likrat produziert wurde, bevor sie Fragen zum Film, zu sich selbst, zum Judentum, zum Holocaust, zu Israel, zu behandelten Unterrichtseinheiten, usw. beantworten. Begegnungen sind jeweils für zwei Unterrichtslektionen (90 Minuten) angelegt. Likratinos und Likratinas nutzen die Unterrichtseinheiten nicht nur, um Fragen zu beantworten, sondern auch, um den Schüler*innen der besuchten Klasse Fragen zu stellen und sie miteinzubeziehen. Eine Unterrichtslektion beginnt zum Beispiel damit, dass die Schüler*innen nach Vorurteilen 8 https://www.likrat.ch/de/schulen/ (Stand: 02. 02. 2020). 9 Walter Weibel, In Begegnung lernen. Der jüdisch-christliche Dialog in der Erziehung, Zürich 2013, 242. 10 Vgl. https://www.likrat.ch/de/international/ (Stand: 02. 02. 2020). 11 Vgl. Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG), Likrat, https://www.likrat.ch/de/ (Stand: 02. 02. 2020).
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gegenüber Jüdinnen und Juden gefragt werden, woraus sich dann eine Möglichkeit ergibt, über historisch und kulturell verankerte Vorurteile und antisemitische Stereotypen zu sprechen.12
2.
Geschichten zur Geschichte erhalten: Konkretisierungen
Gerade der persönliche und interkulturelle Dialog bietet elementare Chancen in religionsbezogenen Lehr-Lernprozessen, damit ›das Fremde‹ ein Gesicht bekommt und damit biografieorientiertes Lernen ermöglicht wird. Bei dem Projekt Likrat wird bewusst darauf gesetzt, dass das Judentum in seiner Pluralität dargestellt wird, indem nämlich Unterschiede in religiösen Weltanschauungen und religiöser Lebenspraxis der einzelnen Likratinos und Likratinas im Gespräch mit ihnen offenbar werden. Sie gehören vielfach verschiedenen Strömungen des Judentums an und leben ihre Religion und Kultur auf unterschiedliche Weise aus. ›Das‹ Judentum erhält damit eine Multiperspektivierung und erlaubt gleichzeitig ein Fragen nach der eigenen Identität und ihrer Konstruktion auf Seiten der Schüler*innen: Wie und worüber definiere ich mich, meine Kultur, meine Weltanschauung? Woher rühren sie und wie sind sie bestimmt? Aus welchen Traditionen stamme ich, wie definieren sie mich und wie definiere ich sie mit? Solche und viele Fragen mehr können Anknüpfungspunkte für Schüler*innen darstellen, die ihnen ermöglichen, über ihre eigenen religiösen und kulturellen Hintergründe und über die Frage »Wer bin ich?« nachzudenken. Schüler*innen hören hin, perspektivieren13, setzen sich in Bezug zum Gehörten und zu den Menschen, die ihnen gegenüber Auskunft über ihre Kultur geben und ihnen damit ermöglichen, ihre eigene Kultur ebenfalls zu hinterfragen und zu entfalten. Durch die Anlage des Likratprojekts ist es unmöglich, ein einziges Narrativ als simple Realität wahrzunehmen und so wird auch die eigene Wahrnehmung mehrperspektivisch geschult und vielfältiger. Beide Vermitt12 Vgl. Einen kurzen Einblick in eine solche LIKRAT-Begegnung bietet das Video LIKRAT – der Film. Ein Dialogprojekt gegen Vorurteile auf der offiziellen Webseite des Projekts: https:// www.likrat.ch/de/schulen/ (Stand: 04. 03. 2020). 13 Reinhold Boschki nennt in seinem WiReLex-Artikel zum Erinnerungslernen in der religionspädagogischen Fokussierung die »doppelte Subjektorientierung«, die im Erinnerungslernen relevant ist und hier als Ausführungen zum Begriff der Perspektivierung gelten soll: Das biografieorientierte Lernen ist einer doppelten Subjektorientierung unterstellt, jener der konkret vorliegenden Biografie (hier in Form der Biografie eines Likratinos/einer Likratina) und jener der Schüler*innen. Lernen geschieht hier, indem die Biografien beider Subjekte aufeinandertreffen und dieses Moment didaktisch genutzt werden kann, um eine »Subjektwerdung zu fördern« und damit Identität im Dialog mit einem Gegenüber konstruiert werden kann. Reinhold Boschki, Art. Erinnerung/Erinnerungslernen, in: WiReLex (2015), http:// www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100048/, (Stand:14. 05. 2020).
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Michèle Wenger
ler*innen von Likrat sind repräsentativ für jüdische Menschen, sie sind jedoch zwei von vielen mehr und das wird im Dialog zwischen den Schüler*innen und ihnen schnell klar. »The single story creates stereotypes«, sagt die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie, »and the problem with stereotypes is not that they are untrue, but that they are incomplete. They make one story become the only story.«14. Genau dieser Vereinfachung auf eine einzige Geschichte, genau diesem stereotypen Denken will Likrat entgegenwirken. Das Projekt Likrat schafft beziehungsweise sensibilisiert für komplexere Realitäten, indem einseitige Narrative aufgebrochen und auf vielseitige und mehrschichtige Narrative hin erweitert werden. Auch der Frage nach der Deutungshoheit über verschiedene Narrative und über Prägungen jener kann Ausdruck verliehen werden. Der Kontext des jüdisch-christlichen Lernens fließt bei Likrat reflektiert in die einzelnen Diskussionen ein. So sprechen Likratinos und Likratinas zum Beispiel in Bezug auf den Holocaust und in Bezug auf den religiösen Antisemitismus gerade diese Beziehungsebene der Geschwisterreligionen an und verbinden sie mit ihrer eigenen Familiengeschichte und ihren Erlebnissen mit Antisemitismus im Alltag. Es ist elementar wichtig, dass Menschen ihre Geschichten erzählen. Worin der Zusammenhang zwischen diesen Geschichten und Geschichte im allgemeinen Sinn liegt, wird im folgenden Ausschnitt aus einem Zeitungsartikel in der Republik15 deutlich gemacht: »Wir kennen diese Zahlen, wir kennen die Geschichte. Der Holocaust wurde und wird von Historikerinnen weltweit erforscht und ist in zahllosen Archiven akribisch dokumentiert. Reicht das, damit wir die Ungeheuerlichkeiten des Ereignisses verstehen? Seine menschlichen, politischen, numerischen Dimensionen erfassen? Oder brauchen wir dazu Menschen, die uns die Geschichten zur Geschichte erzählen, mit ihren eigenen Stimmen, in ihren eigenen Worten, und uns dabei in die Augen sehen?«16
In Ali Amirs Artikel wird das baldige Fehlen jeglicher Zeitzeug*innen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs angesprochen.17 Ihre Geschichten sind wichtig und müssen gehört werden, in all ihrer Vielfalt und in all ihren Kontexten, damit die Geschichten zu etwas Persönlichem werden und mit einem Menschen verbunden werden können. Nur so sind sie für andere Menschen in anderen Zeiten und Kontexten erfahrbar, als menschliche Schicksale. Die Zuwendung zu konkreten Menschen mit ihren Biografien ist ein wichtiger Teil, nicht nur, aber auch im 14 Chimamanda Ngozi Adichie, The danger of a single story, TED-Talk, 07. 10. 2009, https:// www.youtube.com/watch?v=D9Ihs241zeg (Stand: 09. 02. 2020). 15 Genossenschaftliches (von der Leserschaft getragenes) Schweizer Online-Magazin. 16 Amir Ali, Der Geschichte in die Augen schauen: »Wenn jemand sagt, dass er dich ermorden will – glaub ihm«, in: Republik, 27. 01. 2020, https://www.republik.ch/2020/01/27/der-geschich te-in-die-augen-schauen (Stand: 01. 02. 2020); Kursivsetzung d. d. Autorin d. Art. 17 S. auch: Zehavit Gross und E. Doyle Stevick, As The Witnesses Fall Silent: 21st Century Holocaust Education in Curriculum, Policy and Practice, Basel 2015.
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religionspädagogischen Ansatz des Erinnerungslernens und damit der Holocaust-Education.18
3.
Ausblick für die Antisemitismus-Prävention
Gerade für die Antisemitismus-Prävention leistet Likrat erstaunliche Arbeit. Jede Begegnung mit jüdischen Menschen ermöglicht ein Lernen von, mit und über sie, relativiert die eigenen Eindrücke und ergänzt die im Unterricht erhaltenen Einsichten um persönliche Begegnungen, in denen Lebensgeschichten verlebendigt werden. In Bezug auf die Antisemitismus-Prävention im Grundschulalter wäre die Ausweitung des Likrat-Projekts auf die Grundschulstufe wünschenswert und von den Inhalten her sicherlich auch anschlussfähig an die Grundschulstufe. Durch Projekte wie Likrat wird es für Schüler*innen möglich, sich mit kulturellen Unterschieden und Ähnlichkeiten auf dialogische Weise auseinanderzusetzen. Gerade für die religionsbezogene Bildung, die hauptsächlich im Schulzimmer stattfindet, bietet Likrat eine wertvolle Chance, mit Menschen einer anderen oder gleichen Kultur in Kontakt zu kommen und die eigenen Stereotypen, Bilder und Vorurteile abzubauen und um neue Bilder zu erweitern. Ihre Rede zur Gefahr einer einzigen Geschichte beendet Chimamanda Ngozi Adichie in Anlehnung an Alice Walker: »When we reject the single story, when we realise that there is never a single story about any place, we regain a kind of paradise.« Dieselbe Erkenntnis gilt nicht nur für die einzelne Geschichte eines Ortes, dasselbe gilt für einzelne Geschichten von Personen, ihre Biografien und für die Kulturen, die von jedem*r einzelnen ihr zugehörigen Menschen geformt werden. Dafür müssen Geschichten von Menschen erzählt und gehört werden und Likrat ermöglicht dies als Dialogangebot im Religionsunterricht zwischen Jugendlichen verschiedener Kulturen.
4.
Rolle der religionsbezogenen Bildung
Ein exemplarischer Blick in den Lehrplan 21 für die Volksschulstufe des Kantons Zürich im Fach Religionen, Kulturen, Ethik (RKE) soll die Rolle der religionsbezogenen Bildung und ihrer Leistungen und Chancen in Bezug auf dialogische Projekte wie Likrat erläutern.
18 Vgl. Reinhold Boschki, Art. Erinnerung/Erinnerungslernen, in: WiReLex (2015), https://www. bibelwissenschaft.de/fileadmin/buh_bibelmodul/media/wirelex/pdf/Erinnerung_Erinnerungs lernen__2020-04-20_09_13.pdf (Stand: 08. 01. 2020), 4–6.
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Schüler*innen, so der Grundanspruch 3.1c des Lehrplans, sollen »in alltäglicher Umgebung, in kulturell bedingten Lebensweisen oder Lebensstilen religiöse Aspekte identifizieren und im Kontext ihrer Verwendung deuten (z. B. Kleidung, Accessoires, Musik, Wohnen)«19 können. In diesem Kompetenzziel wird deutlich, was durch den gesamten Lehrplan angestrebt wird: Es geht nicht um eine reine Kategorisierungsfähigkeit, was welcher Religion zuzuordnen sei, sondern um die zu erwerbende Kompetenz, religiöse Vielfalt zu erkennen, anzuerkennen und mit ihr umzugehen. Dazu gehört sicherlich in einem ersten Schritt, dass Schüler*innen jene religiösen Aspekte, die sich im Alltagsleben zeigen, zuerst einmal erkennen und zuordnen können, aber in einem weiteren Schritt wird auch der Deutungskontext wichtig. Schüler*innen sollen erklären können, weshalb diese religiösen Aspekte für die jeweiligen Religionen, Kulturen und die ihr zugehörigen Menschen bedeutsam sind, was ohne Dialog nur schwerlich erfahrbar ist. Ein weiteres Ziel, das Likrat ebenfalls bedient, findet sich im Abschnitt 3.2 des RKE-Lehrplans, in dem Schüler*innen »Rolle und Wirkungen von Religionen und Religionsgemeinschaften in gesellschaftlichen Zusammenhängen einschätzen« lernen sollen. Gerade für die Rolle und Wirkungen von Religionsgemeinschaften ist der Dialog unentbehrlich. In den genaueren Zielen unter 3.2 finden sich die Ansprüche an den Religionsunterricht, dass er mit den Schüler*innen soziale oder kulturelle Einrichtungen erkundet (a) und ihnen damit die Möglichkeit bietet, anhand dieser Orte einen Bezug zu den einzelnen Religionen herzustellen, sowie positive, ambivalente und negative Wirkungen von Religionen einschätzen zu lernen (b). Nur durch Begegnungen mit Menschen jener Kulturen und Religionen gelingt diese Auseinandersetzung und Einschätzung. Ein besonderes Ziel, das mit Themenvorschlägen unterlegt ist, findet sich in Abschnitt c: Schüler*innen »können an der Geschichte des Judentums in der Schweiz und Europa Erfahrungen religiöser und kultureller Minderheiten exemplarisch aufzeigen.«20 Unter den Inhaltsvorschlägen findet sich explizit die Annäherung durch das Thema Antisemitismus. Rund um den Themenkreis kultureller Identitäten und interkultureller Verständigung (Kompetenzziel 4.2) finden sich weitere Ausführungen, dass Schüler*innen religiöse Praxis im lebensweltlichen Kontext erläutern können sollen, sowie sich in der Vielfalt religiöser Traditionen und Weltanschauungen orientieren und verschiedenen Überzeugungen respektvoll begegnen können (Kompetenzziel 4.4). In 4.2 geht es u. a. um eine Begegnungskompetenz der Schü19 Bildungsdirektion des Kantons Zürich, Volksschulamt, Lehrplan 21 Volksschule. Religionen, Kulturen, Ethik. Kompetenzaufbau, 3. Zyklus. RKE3.1c. 3., https://zh.lehrplan.ch/index.php? code=b|6|5 (Stand: 09. 05. 2020). 20 Ebd.
»Likrat« – In Begegnung lernen
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ler*innen mit Angehörigen verschiedener Religionen und Weltsichten und um Respekt gegenüber der Lebensgestaltung und Traditionen dieser Menschen. Sie und ihre Anliegen sollen nicht nur respektiert werden, vielmehr gilt ein Diskriminierungsverbot (b). Verschiedene Weltsichten und Weltdeutungen reflektieren zu können, gehört zum Kompetenzkatalog, den religionsbezogene Bildung zu erfüllen hat (Kompetenzziel 4.5) und sie soll Schüler*innen zu einem gemeinschaftlichen Miteinander befähigen, in dem sowohl ihre eigene Weltanschauung wie auch jene anderer gehört, gesehen und anerkannt wird. Genau dafür steht auch Likrat ein. Es ließen sich noch viele Kompetenzziele des RKE-Lehrplans hier an- und ausführen, denen Likrat mit seiner Anlage entspricht. All diesen Zielen gemeinsam ist, dass sie nur dialogisch und durch Begegnungen zu erreichen sind. Zu diesen Kompetenzzielen gibt es in der religionsbezogenen Bildung aus jeder Religion inhaltliche Annäherungen, die sich im religionskundlichen wie auch im religiösen Unterricht zur Auseinandersetzung anbieten. Als Beispiele nennen lassen sich Themen wie Gebote zur Nächstenliebe oder Feindesliebe, aber auch die Aufforderung zum Dialog durch religiöse Gebote und Gesetze (Dekalog, Goldene Regel), genauso wie Werte von Menschenwürde, Schöpfungswürde. Sie alle fördern den Dialog der Religionen und Kulturen untereinander und zeigen Chance für den Dialog durch den religionsbezogenen Zugang. Der Bedarf an Dialog wird umso größer, je mehr Berührungspunkte es zwischen unterschiedlichen Kulturen gibt. In der heutigen pluralen Gesellschaft, die sich durch das Zusammenleben vieler Kulturen in einem Staat oder an einem Ort auszeichnet, ist dieser Bedarf größer denn je und dies zeigt auch der eingangs erwähnte Vorfall in Davos. In jedem Fall gibt es mehrere Geschichten zur Geschichte. Lässt man sie erzählen und führt sie zusammen, fördern sie im gelingenden Fall ein besseres gegenseitiges Verstehen und erheblich mehr Verständnis. Projekte wie Likrat ermöglichen solche Begegnungen für Schüler*innen im Religionsunterricht.
Katharina Müller-Spirawski / Vanessa Eisenhardt
Lebendiges Zeugnis erhalten – Die Arbeit des Vereins ZWEITZEUGEN e.V.1
»Das bedeutet mich als Mensch. Vier Jahre lang hat mich niemand als Mensch gesehen. Bei diesen Kindern da ist ein Gefühl. Die fühlen das, was ich gefühlt habe.«2
Chava Wolf hat zwischen 1941 bis 1944 das erlebt, was später in ihrer Akte des International Tracing Service als der »Fall Transnistrien« vermerkt wurde. Sie ist am 7. Juli 1932 in Wischnitz im damaligen rumänischen Teil der Bukowina geboren und in der Nähe von Ra˘da˘ut,i aufgewachsen. Chava, ihre Familie und alle als Juden und Jüdinnen verfolgten Einwohner*innen des Dorfes wurden im Herbst 1941 mit Viehwaggons in ein Ghetto und später in verschiedene Lager Transnistriens deportiert. Über das, was sie erlebte, konnte sie mehr als 60 Jahre nicht sprechen. Im Dezember 1947 kam die fünfzehnjährige alleine nach Haifa. Dort baute sie sich ein neues Leben auf: Sie heiratete, gründete eine Familie, bildete sich autodidaktisch fort und begann Kunst zu schaffen. Doch nie konnte sie das Trauma der Shoa verarbeiten. Wem sie heute ihre Geschichte erzählt, der spürt sofort, wie präsent ihre Vergangenheit in ihrem gegenwärtigen Leben ist. Wie Chava Wolf, wanderten viele Überlebende in der Hoffnung auf ein neues Leben aus. Beispielsweise Amerika und Palästina verhießen die lang entbehrte Sicherheit, Akzeptanz, Geborgenheit und Heimat. Doch oft trafen die Überlebenden weder auf Anerkennung noch auf Unterstützung, wenn sie von ihrem Leid und ihrer Überlebensgeschichte erzählten. Den Shoa-Überlebenden und ihren Leidensgeschichten schenkte man öffentlich wenig Aufmerksamkeit und
1 Auszüge dieses Artikels auch in: Vanessa Eisenhardt, Zweitzeug*innen – Eine Perspektive für die Erinnerungskultur, in: Anja Ballis (Hg.) /Markus Gloe (Hg.), Holocaust Education Revisited: Didaktik und Nachhaltigkeit (Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung), Wiesbaden 2020. 2 Vgl. Chava Wolf als Reaktion auf Briefe, die im Rahmen eines Schulprojektes von ZWEITZEUGEN e.V. entstanden sind.
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Katharina Müller-Spirawski / Vanessa Eisenhardt
auch die Überlebenden selbst schwiegen in der Hoffnung auf eine stabilere Zukunft. Sie erlitten nach dem genozidalen noch ein gesellschaftliches Trauma.3 Bis heute haben viele nicht wieder angefangen zu reden, dabei sind es gerade die Stummen, denen zugehört und geholfen werden muss. So ist es »sehr leicht diese Opfer zu vergessen, denn sie machen keinen Lärm«4. Viele Überlebende der Shoa konnten lange Zeit nicht über ihre verstörenden Erinnerungen sprechen, weil ihnen die Kraft fehlte. Den meisten fehlt sie bis heute. Doch immer wieder werden sie von ihren Erinnerungen überwältigt. Ein Geruch, ein Geräusch, ein Wort oder ein Bild können dazu führen, dass der lange errichtete Schutzwall aus Schweigen, Verdrängen und Abspalten bricht, dass dieser Teil ihrer Identität, das extreme Trauma der Shoa, wieder gegenwärtig wird und sich der Überlebenden bemächtigt, sie überwältigt.5 Depressionen, Einsamkeit, Sorgen, Albträume, Schuldgefühle und Ängste, das fortgesetzte Trauma6, prägten und prägen das Leben vieler Überlebender. Weltweit leben derzeit etwa 388.800 Überlebende, die als Juden und Jüdinnen verfolgt wurden. Etwa ein Drittel von ihnen lebt unterhalb der Armutsgrenze und hat große Schwierigkeiten Nahrung und Medikamente zu finanzieren.7
1.
Der Beginn des Vereins ZWEITZEUGEN e.V.
Die Arbeit von ZWEITZEUGEN e.V. begann 2010 unter dem Namen HEIMATSUCHER als Studienprojekt von Anna Damm und Sarah Hüttenberend. Nachdem die beiden Designstudentinnen eine Dokumentation über die Situationen von Shoa-Überlebenden in Israel gesehen hatten, wollten sie genau jene Menschen treffen und ihre Lebensgeschichten kennenlernen. Sie wollten dazu beitragen, dass gerade ihrem Leben nach der Befreiung mehr Aufmerksamkeit zukommt. Schließlich konzipierten sie eine Ausstellung über ‹Shoa-Überlebende heute’. Auf ihrer Reise nach Israel und bei der Vorbereitung der Interviews 3 Vgl. Kurt Grünberg/Friedrich Markert/ Werner Bohleber (Hg.), Child Survivors – geraubte Kindheit, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalysen und ihre Anwendungen 70 (2016), 411– 440, hier 430. 4 https://www.sueddeutsche.de/politik/holocaust-ueberlebende-in-israel-die-vernachlaessigtenopfer-1.637149 (Stand: 25. 03. 2020). 5 Vgl. Isidor J. Kaminer, Tikun Haolam – Wiederherstellung der Welt. »Über-Leben« nach der Shoa, in: Forum Psychoanalyse 22/2006, 127-144, hier 137. 6 Vgl. Kristin Platt, Gedächtnis, Erinnerung, Verarbeitung. Spuren traumatischer Erfahrung in lebensgeschichtliche Interviews, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History vol. 2 11(1998), 250. 7 Israel: https://www.cbs.gov.il/he/mediarelease/DocLib/2020/025/01_20_025b.pdf (Stand: 20. 03. 2020), USA, Kanada und 59 weitere Länder: https://www.ushmm.org/remember/resources-ho locaust-survivors-victims/individual-research/registry-faq#9 (Stand: 20. 03. 2020).
Lebendiges Zeugnis erhalten – Die Arbeit des Vereins ZWEITZEUGEN e.V.
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begleiteten sie verschiedene Fragen, zum Beispiel: Wie war das Leben vor der Verfolgung? Was war nach 1945? Was hat ihnen geholfen weiterzumachen? Wie geht es ihnen heute? Es folgte eine aufregende, berührende und emotionale Zeit in Israel. Zurück in Deutschland zeigte ihre Ausstellung die Portraitfotos zehn Überlebender, mit denen sie gesprochen hatten. Die beiden berichteten von ihren Begegnungen mit den zehn einzigartigen und vollkommen unterschiedlichen Menschen, deren (Über)Lebensgeschichten sie kennenlernen durften. So verschieden sie sind, ist ihnen allen eines gemeinsam: Ihnen wurde auf brutalste Art ihre Heimat genommen. Viele von ihnen haben lange nach einer neuen Heimat gesucht; einige haben bis heute keine gefunden. So entstand der damalige Vereinsname HEIMATSUCHER. Berührt von der Idee der Ausstellung entwickelten Katharina Müller-Spirawski und Sarah Boll, damals Lehramtsstudierende an der Universität Osnabrück, ein Konzept für Grundschüler*innen. Dieses testeten sie, überarbeiteten es nach neuesten wissenschaftlichen Standards und entwickelten 2011 ein didaktisches Konzept. Es folgten weitere Ausstellungen, sowie erste Workshops mit Kindern und Jugendlichen. Immer mehr Menschen wollten die Idee unterstützen und engagierten sich ehrenamtlich. Zwei weitere Interviews entstanden, diesmal in Deutschland. Eines davon mit Erna de Vries, Auschwitz-Überlebende, die sagte: »Das Schweigen bringt die Menschen einander auch nicht näher. Ich finde man sollte versuchen, aufeinander zuzugehen […]«8 – Bestätigung und Motivation zugleich, um das Projekt voranzubringen und die (Über)Lebensgeschichten weiter zu tragen.
2.
Die Idee der Bildungsarbeit: »Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst zum Zeugen werden.«9
Geleitet durch das Zitat des Shoa-Überlebenden Elie Wiesel, entwickelten Pädagog*innen verschiedener Fachdidaktiken ein Konzept für Schüler*innen ab zehn Jahren. Begonnen von den vier bereits genannten Pädagog*innen, wurde die Bildungsarbeit immer wieder nach wissenschaftlichen Standards überarbeitet und neuesten Entwicklungen in der Holocaustdidaktik angepasst. Das Thema Shoa ist für die meisten Menschen sehr abstrakt, unpersönlich und weit entfernt von der eigenen Lebenswelt. Fast jeder von uns kennt die Bilder aus 8 Anna Damm/Sarah Hüttenberend, HEIMATSUCHER. Schoa-Überlebende in Israel heute, Osnabrück 2012, 199. 9 Elie Wiesel, »Schuldig sind nur die Schuldigen«, in: Martin Doerry, »Nirgendwo und überall zu Haus«, Gespräche mit Überlebenden des Holocaust, München 2006, 204–211, hier 211.
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Auschwitz: Berge von Schuhen, Haaren und Brillen. Doch hinter den Zahlen von Verfolgten und den sechs Millionen jüdischen Ermordeten, stehen einzelne Menschen und ihre fragmentierten (Über)Lebensgeschichten. Sie will ZWEITZEUGEN e.V. sichtbar machen und über ihren Tod hinaus an sie erinnern.
2.1.
Das Grundschulalter als besondere Zielgruppe
Laut aktueller Studien lässt sich in den letzten Jahren auch unter Jugendlichen eine bedenkliche Zunahme antisemitischen Denkens beobachten. Umfragen, Studien und Wahlergebnisse zeigen, dass rund ein Fünftel der in Deutschland lebenden Menschen latent antisemitische Ressentiments und Haltungen hat.10 Aktuelle Wahlergebnisse und Anschläge in Deutschland spiegeln die Ergebnisse dieser Studie. Antisemitismus ist heute selten direkt als solcher zu erkennen, sondern wird verschleiert und kommt latent zum Vorschein etwa in Phrasen wie »man wird ja wohl noch sagen dürfen, dass …«, als angebliche Israelkritik, als »Relativierung und Leugnung der Geschichte«11 ausgelebt. Auf den Schulhöfen gibt es heutzutage weniger rechtsorientierte Cliquen, die eine gewalttätige Konfrontation suchen, sondern Konflikte zwischen den Schüler*innen werden verstärkt indirekt gesucht12 und häufig außerhalb des Schulraumes über soziale Netzwerke ausgetragen. Im schulischen Kontext sehen sich Lehrer*innen und Schüler*innen vermehrt mit »rechten Wortergreifungsstrategien«13 konfrontiert. Vom Vorhandensein dieser Strategien zeugt der Antisemitismusbericht, indem er zeigt, dass die Beschimpfung »Du Jude« auf Platz zwei der am häufigsten verwendeten Schimpfwörter ab Klasse fünf rangiert.14 Auf diese, überwiegend latent vorhandenen, antisemitischen Einstellungen von Kindern und Jugendlichen, die schon in der Grundschulzeit ihren Anfang finden, mit Ignoranz oder Verharmlosung zu reagieren, wäre absolut unzureichend.15 10 Der aktuelle Antisemitismusbericht spricht gesamtgesellschaftlich bis zu 26 Prozent der Bevölkerung latent antisemitische Einstellungen zu. (Bundesministerium des Inneren (Hg.), Antisemitismus in Deutschland, Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze, Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, Berlin 2018, 58.) 11 Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Dossier Antisemitismus, Bonn 2007–2011, www. bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/ (Stand: 20. 03. 2020). 12 Vgl. https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/debatte/interview/wie-schulen-langfristig-ge gen-rechtsextremismus-arbeiten-koennen-2013-01, (Stand: 20. 03. 2020). 13 https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/debatte/interview/wie-schulen-langfristig-gegenrechtsextremismus-arbeiten-koennen-2013-01, (Stand: 20. 03. 2020). 14 Vgl. Bundesministerium des Inneren, Antisemitismusbericht, 107f. 15 Vgl. Fachstelle für Rassismusbekämpfung (Hg.), Jugendliche und Rechtsextremismus: Opfer. Täter, Aussteiger – Wie erfahren Jugendliche rechtsextreme Gewalt, welche biografischen Faktoren beeinflussen den Einstieg, was motiviert zum Ausstieg?, Bern 2007, 56.
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Dass diese Einstellungen bereits im Kindesalter auftauchen, zeigen Studien: Sie führen an, dass Kinder ab einem Alter von zwei Jahren beginnen, negative Einstellungen und Abwertungen durch ihr unmittelbares Umfeld unbewusst und unreflektiert zu übernehmen. Durch dieses frühe Alter ist die emotionale Verankerung intensiver und damit die Stabilität über den weiteren Lebensverlauf sehr hoch.16 Diese emotionale Verankerung betrifft vor allem jene Vorurteile, die nicht bewusst oder nicht offen von den Bezugspersonen geäußert werden, wie es bezüglich Juden und Jüdinnen der Fall ist. Damit lässt sich erklären, warum es nicht zu einer unmittelbaren Begegnung mit der vermeintlichen Fremdgruppe kommen muss und trotzdem Vorurteile verinnerlicht wurden. Übernommene Vorurteile, auch antisemitische, verfestigen sich fast ausnahmslos ohne eine Wissensgrundlage über diese sozialen Gruppen.17 Durch die Betrachtung des Entwicklungsverlaufs von sozialen Vorurteilen wird die Altersphase zwischen sieben bis zehn als besonders sensible und geeignete Phase in Bezug auf äußere Einflussmöglichkeiten in die Vorurteilsentwicklung bestimmt.18 Denn hier scheinen Kinder besonders bereitwillig zu sein, ihre bereits übernommenen Vorurteile zur Disposition zu stellen.19 Zudem zeigen deutsche und amerikanische Studien auf, dass Kinder ab etwa sechs Jahren ethnische Unterschiede verstehen und unterscheiden können. Inwieweit sie dieses Wissen um unterschiedliche Ethnien für bewusste rassistisch Ausgrenzungspraktiken gegenüber anderen anwenden, ist umstritten und kann nicht eindeutig beantwortet werden.20 Bei diesen Betrachtungen wird deutlich, dass eine Interventionsarbeit gegen rassistische und antisemitische Einstellungen umso wirksamer ist, je früher sie einsetzt. Eine Holocaustdidaktik gibt, so die Theorie, die Möglichkeit, adäquat auf die gesellschaftlichen antisemitischen Entwicklungen einzugehen, indem sie Kinder und Jugendliche für die Problematik sensibilisiert.21 Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse greift der Verein ZWEITZEUGEN e.V. auf: Die Mitarbeitenden des Projekts versuchen über das emotionale Lernen antisemitischen und rassistischen Vorurteilen schon im Kindesalter vorzubeugen. Seit den 1990er Jahren bis heute bringen zahlreiche Überlebende der Shoa 16 Vgl. Tobias Raabe/Andreas Beelmann, Entwicklungspsychologische Grundlagen, in: Andreas Beelmann, Diskriminierung und Toleranz. Psychologische Grundlagen und Anwendungsperspektiven, Wiesbaden 2009, 113–135, hier 125. 17 Vgl. ebd., 114. 18 Vgl. ebd., 114f. 19 Vgl. Raabe/Beelmann, Entwicklungspsychologische Grundlagen, 114f. 20 Vgl. Steffen Brockmann, Diversität und Vielfalt im Vorschulbereich. Zu interkulturellen und antirassistischen Ansätzen (Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen (IBM) an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg 25), Oldenburg 2006, 49. 21 Vgl. ebd., 9.
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Kindern und Jugendlichen das damalige Geschehen auf emotionaler Ebene näher, wenn sie ihnen persönlich begegnen. Die Auswirkungen des Nationalsozialismus wird als eine von einzelnen Menschen erlebte und erlittene Lebensgeschichte sichtbar. So wird für junge Menschen spürbar, wozu Rassismus und Antisemitismus führen können und die eigene gesellschaftliche Verantwortung wird wahrgenommen und Motivator für eine aktive Mitgestaltung von Demokratie und Vielfalt. In absehbarer Zeit wird es jedoch keine Zeitzeug*innen der Shoa mehr geben. Ihre einzigartigen (Über)Lebensgeschichten müssen dennoch weitergetragen werden, nicht nur schriftlich in Büchern oder als Film, sondern in Form persönlicher Begegnungen.
2.2.
Eine Zukunft ohne Zeitzeug*innen?
Mit dem Konzept der Zweitzeug*innen hat der Verein einen einzigartigen Ansatz entwickelt, um auf die Frage nach der Zukunft ohne Zeitzeug*innen zu antworten. Damit ihre (Über)Lebensgeschichten nicht vergessen werden, ist es für die Mitglieder von ZWEITZEUGEN e.V. ein Herzensprojekt geworden, die Geschichten und Begegnungen weiterzutragen. Solange die Zeitzeug*innen leben, halten sie mit ihnen Kontakt, besuchen sie regelmäßig und überbringen ihnen Briefe von Kindern und Jugendlichen22: Die Zeitzeug*innen wissen, dass ihre Überlebensgeschichten weitergetragen werden und es ist ein großer Vertrauensbeweis, dass sie ihre Geschichte erzählt haben. Der Verein schafft durch die Briefe eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen, die in der Zukunft wirkmächtig ist: Die Schüler*innen erhalten als Zweitzeug*innen eine Rolle in der sie konkret handeln können: die Geschichte weiterzugeben und damit aktiv zur Erinnerungskultur und Demokratie beizutragen. Die Mitarbeiter*innen des Vereins können nahe Vorbilder für die Schüler*innen sein und ihnen Handlungsoptionen aufzeigen. Gemeinsam mit Schüler*innen werden Konzepte der Zweitzeug*innenschaft, wie zum Beispiel ein Programm für einen Gottesdienst oder eine eigene Ausstellung in ihrer Schule entwickelt. Heute ist es nur noch wenigen Zeitzeugen*innen möglich in Schulen und bei Veranstaltungen zu sprechen, doch sie fühlen sich dazu verpflichtet dies so oft wie möglich zu tun. Der Verein versucht ihnen die Last der Erinnerung zu nehmen, indem die Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen als Zeitzeug*innen die 22 Zum Schluss jedes Bildungsprojektes haben die Kinder und Jugendlichen deswegen die Möglichkeiten den Zeitzeugen*innen zu antworten durch die Briefe, in denen sie ihnen ihre Gedanken, ihre Wünsche ihren Respekt und ihre Dankbarkeit mitteilen. Zudem bieten diese Briefe eine Möglichkeit der Reflexion des Gehörten, einen Transfer ins Heute wie auch die erste Handlung als Zweitzeugen*innen.
Lebendiges Zeugnis erhalten – Die Arbeit des Vereins ZWEITZEUGEN e.V.
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Geschichten weitertragen. Sie besuchen die Überlebenden, zeichnen ihre Geschichten auf und berichten den Kindern und Jugendlichen von den beeindruckenden Begegnungen. Sie treten nicht an die Stelle der Zeitzeug*innen selbst, sondern zeugen von den Begegnungen und den Lebensgeschichten, die ihnen anvertraut wurden. Dabei erzählen die Mitarbeiter*innen die Lebensgeschichten vor, während und nach der Shoa. Junge Menschen werden so sensibilisiert sowie stark gemacht gegen Antisemitismus und Rassismus. Durch das Erzählen von Lebensgeschichten und das Weitergeben der Eindrücke aus den Begegnungen mit den Überlebenden, überwindet der Verein die vermeintliche temporäre und lebensweltliche Distanz. Es sind Geschichten, die jede*r verstehen kann: Geschichten von der ersten großen Liebe, dem ersten Kuss, vom Schule schwänzen, vom Fußballspielen, von Traumberufen und vom Familienleben. Gleichzeitig sind es Geschichten von Ausgrenzung, Diskriminierung, Verfolgung, Gewalt – heute kaum vorstellbare Auswirkungen von weitverbreitetem und geduldetem Rassismus und Antisemitismus. Über die persönliche Weitergabe von Biografien schafft das Zweitzeug*innen-Projekt einen einfühlsamen und lebendigen Zugang, der zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen bis heute wirksamen Auswirkungen anregt.
2.3.
Das didaktische Konzept
Die Mitarbeitenden von ZWEITZEUGEN e. V. bauen persönliche Kontakte zu Überlebenden auf und tragen ihre Geschichten in Schulklassen ab der 4. Jahrgangsstufe mündlich weiter. Diese emotionale und identifikationsstiftende Art des Kontakts mit der Geschichte des Nationalsozialismus führt Schüler*innen jeglicher Bildungsbiographie an das Thema heran und ermöglicht ihnen einen biografischen Zugang zu Einzelschicksalen der NS-Zeit. Mit der Arbeit stellt sich der Verein der gesellschaftlichen Verantwortung für Demokratie und Vielfalt. Hierbei wird gezielt den nachfolgenden Generationen die Möglichkeit gegeben, an dieser Verantwortung teilzuhaben. Um aus der Geschichte für das Heute zu lernen, müssen Kinder und Jugendliche sie zunächst verstehen, über Mitgefühl die Bedeutung begreifen und schließlich ihr eigenes Handeln entsprechend verändern. In der Pädagogik ist gesichert, dass emotionales Lernen nachhaltiger wirkt, da erst ein emotionaler Bezug zu Themen nötige neurobiologische Veränderungen initiiert. Wird dieser nicht hergestellt, bleibt alles Gelernte oberflächlich.23 23 Vgl. Matthias Huber, Lernen und Emotion, Jugendhilfe 5 (2017), 450–457, hier 453f.
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Indem von persönlichen Begegnungen mit den Überlebenden und deren Lebensgeschichten berichtet wird, erleben auch die Kinder eine emotionale Nähe zu den Überlebenden. Die Geschichten beginnen in der Kindheit und bieten so eine besondere Möglichkeit der Identifikation für Schüler*innen jeden Alters. Diese emotionale Art des Kontakts mit den Geschichten der Shoa führt Schüler*innen niederschwellig an das Thema heran und schafft eine Brücke zu ihrem eigenen Leben. Insbesondere für Schüler*innen, die über die klassischen Vermittlungswege keinen Zugang zu Geschichte finden und Schüler*innen mit eigener Migrationsbiographie wird diese so greifbarer und eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Thematik interessant. Die Geschichten sind zugleich Beispiele des Überlebens. Die Zeitzeug*innen haben die Kraft gefunden, sich ein neues Leben aufzubauen und erzählen ihre (Über)Lebensgeschichte, damit niemand die nationalsozialistischen Verbrechen vergisst. Das Engagement der Zeitzeug*innen und auch insbesondere das der Mitarbeiter*innen von ZWEITZEUGEN e. V. kann zum Vorbild für die Kinder und Jugendlichen werden: der Wille zur aktiven gesellschaftlichen Mitgestaltung und die Partizipation an Veränderung sind eine Orientierungsmöglichkeit und Beispiel dafür, wie sie sich selbst einsetzen können. Darüber hinaus stehen sie in direktem Kontakt mit Menschen, die Haltung zeigen und konkret verbalisieren, wofür sie sich engagieren und wie eben dieses Engagement ihr eigenes Leben beeinflusst. Aufgrund der direkten Begegnung können die Mitarbeiter*innen zu nahen Vorbildern und Orientierungsmöglichkeit in unserer pluralen Gesellschaft werden. Aus dem Zusammenspiel von Kopf, Herz und Hand (Pestalozzi) ergeben sich die Wirkungsziele des Projekts: a) der Erhalt und die Weitergabe von Überlebensgeschichten der Shoa, b) einen niederschwelligen empathischen Zugang zu persönlich erlebter Geschichte für Schüler*innen jeder Bildungsbiographie, c) die Vermittlung von demokratischen Werten, d) die Konfrontation mit und den Abbau von eigenen Vorurteilen und e) Verantwortungsübernahme und Selbstsicherheit in derer aktiven Gestaltung einer toleranten Gesellschaft.
3.
Die Arbeit von ZWEITZEUGEN e.V. auf einen Blick
Den Schwerpunkt der Arbeit von ZWEITZEUGEN e.V. bildet die Umsetzung von Projekten in Bildungsprojekten deutschlandweit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Darüber hinaus entstehen kontinuierlich neue Zeitzeug*innenportraits und Interviews, die unterschiedlich aufbereitet werden: als Magazine zur Veröffentlichung, als Material für Projekte in Schulen und außerschulischen Einrichtungen und für unsere Ausstellungen. Es werden Ausstellungen gezeigt und Veranstaltungen organisiert, in denen zum Beispiel der Film Auf gute
Lebendiges Zeugnis erhalten – Die Arbeit des Vereins ZWEITZEUGEN e.V.
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Nachbarschaft, ein vereinseigener Dokumentarfilm, gezeigt wird. Bei ZWEITZEUGEN e.V. bringen Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen ihre Expertise ein und berichten über die Arbeit des Vereins an Universitäten sowie bei Tagungen und Konferenzen. Zudem verorten sie das didaktische Konzept innerhalb der Fachdidaktiken und entwickeln es konstant weiter. Die Arbeit von ZWEITZEUGEN e. V. ist mehrfach ausgezeichnet worden unter anderem mit dem startsocial Sonderpreis der Bundeskanzlerin, der JosephNeuberger-Medaille der jüdischen Gemeinde Düsseldorf und dem Zukunftspreis der Israelstiftung Deutschland. Er wächst stetig: 2010 aus einem Studienprojekt als HEIMATSUCHER entstanden, ist erst HEIMATSUCHER e.V., nun ZWEITZEUGEN e.V., seit 2014 ein eingetragener gemeinnütziger Verein. Die Wanderausstellung wurde bereits an mehreren Orten präsentiert, unter anderem im Landtag NRW und im Jüdischen Museum Westfalen in Dorsten. Aktuell hat der Verein 200 Mitglieder und es engagieren sich 100 Ehrenamtliche in zehn Teams. Insgesamt hat der Verein 37 Zeitzeug*innen getroffen und ihre (Über)Lebensgeschichten aufgearbeitet, darunter auch die von Chava Wolf. Ziel des Projektes ist es, durch eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Geschichte eine eigene Haltung gegenüber Rassismus und Antisemitismus zu entwickeln, um so eine verantwortungsbewusste und vielfältige Gesellschaft mitzuformen. Die Konzentrationslager wurden befreit und der Krieg am 8. Mai 1945 beendet, doch Rassismus, Antisemitismus und die Folgen der Shoa sind bis heute wirksam in den Überlebenden, ihren Kindern und in unserer Gesellschaft. In Zeiten, in denen Rechtspopulismus, Rassismus und Antisemitismus sich immer mehr Raum nehmen, erzählen die Zweitzeug*innen Überlebensgeschichten der Shoa für eine Gesellschaft ohne Rassismus und Antisemitismus. Es ist ein Projekt von Mensch zu Mensch, das eine Verbindung schafft zwischen Zeitzeug*innen, Zweitzeug*innen und Schüler*innen. ZWEITZEUGEN e.V. bezeugt und erinnert an das gesamte Leben und die Namen der Shoa-Überlebenden, denn jeder Mensch hat einen Namen.
Martina Strehlen
Judentum für Kinder. Das »Lehrhaus für Kinder« der Alten Synagoge Essen (3.–4. Schuljahr)
1.
Die Alte Synagoge Essen
Die 1913 eingeweihte Essener Synagoge hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Nach massiven Zerstörungen in der NS- und Nachkriegszeit wurde sie 1980 als städtische Gedenkstätte Alte Synagoge eröffnet, mit einer Dauerausstellung, die sich vor allem mit dem Widerstand in der NS-Zeit beschäftigte. Das ehemalige Synagogengebäude als früherer Ort jüdischen Lebens spielte zunächst keine Rolle, sondern wurde nur über die Brandschatzung in der Pogromnacht im November 1938 thematisiert. Nach einer Teilrekonstruktion wurde seit 1988 eine zweite Dauerausstellung über die Geschichte der jüdischen Gemeinde Essen gezeigt. Nun kam auch die frühere jüdische Bedeutung des Ortes als neuer Akzent hinzu. Neben den Führungen durch die Ausstellungen gab es seit den 1990er Jahren Workshops für Kinder und Jugendliche, die sogenannten Lehrhäuser. Das erste Lehrhaus für Kinder bot einen kleinen Einblick in jüdische Religion und Traditionen und wurde mit großem Erfolg durchgeführt. Nach dem letzten weitreichenden Umbau und einer Neugestaltung wurde die Alte Synagoge im Juli 2010, erweitert zum Haus jüdischer Kultur, mit einer neuen Dauerausstellung wiedereröffnet. In Deutschland beschränkt sich die Beschäftigung mit Judentum in Museen zumeist auf wenige Themen. Eines davon ist die Diskriminierung und Verfolgung von Juden und Jüdinnen im Mittelalter und der frühen Neuzeit, insbesondere aber in der Zeit des Nationalsozialismus. Häufig erscheinen Juden* dabei als passive Opfergruppe, eine Betrachtungsweise, die sich vor allem in Betroffenheit erschöpft und häufig zu Unsicherheit und Verkrampfung bei Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft im Umgang mit Juden* und Judentum führt. Dies führt dazu, dass manche Menschen Judentum nur mit Verlust und Trauer, mit Antisemitismus und der Shoa assoziieren. Ein zweiter Themenschwerpunkt ist der Bereich der Religion und ihrer Rituale, die häufig aus einer rein christlichen Perspektive gezeigt werden. Dabei entsteht der Eindruck, dass jüdische Kultur eine Religion und Judentum eine
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Martina Strehlen
Glaubensgemeinschaft wie Christentum und Islam sei. Eine solche Verkürzung wird der Eigenart jüdischen Selbstverständnisses jedoch nicht gerecht, denn Judentum ist weitaus mehr als eine Religion, und jüdische Kultur ist nicht nur Geschichte und Tradition, sondern vor allem eine Lebenskultur der Gegenwart. Im Haus jüdischer Kultur sollen neue, erweiterte Sichtweisen ermöglicht und festgefügte Bilder und Klischees zumindest erkannt und in Frage gestellt werden. Wir möchten Neugier und Entdeckerlust gegenüber einer eher unbekannten, vitalen und vielfältigen Kultur wecken. In diesem Rahmen werden auch, aber nicht prioritär, Geschichte, Verfolgung und Zerstörung thematisiert. Obwohl die Alte Synagoge heute kein jüdischer Ort mehr ist, so möchten wir doch an den Urgedanken von Synagoge anknüpfen, nämlich ein Haus der Versammlung, der Begegnung, des Lernens und des Feierns zu sein. Dies alles wird vermittelt durch die verschiedenen Bereiche in der neuen Dauerausstellung – und findet auch in den museumspädagogischen Programmen seinen Ausdruck. Insbesondere der Ausstellungsbereich »Jüdischer Way of Life« bietet einen neuen, interaktiven Ansatz, jüdische Kultur zu präsentieren und lädt zu ungewöhnlichen Einblicken in jüdische Lebenswelten ein. Er ist der zentrale Ausstellungsteil im Haus jüdischer Kultur.1 Die Aufnahme zahlreicher neuer Akzente in der Dauerausstellung machte es notwendig, auch die museumspädagogischen Angebote neu zu konzipieren. In der bereits bewährten Kooperation mit der »Agentur für jüdische Kulturvermittlung« wurde das neue Lehrhaus für Kinder passend zur neuen Ausstellung konzipiert und inhaltlich entwickelt. Seit Herbst 2011 wird es in der Alten Synagoge angeboten. Besonders für jüngere Kinder war die Alte Synagoge schon vor der Neukonzeption ein spannender und fröhlicher Lern- und Erfahrungsort. Das sollte so auch weiterhin bleiben. Auf spielerische Weise wird Grundschulkindern hier eine Begegnung mit Judentum und dem Kulturort Alter Synagoge ermöglicht. Nach diesen positiven Erfahrungen kehren sie in späteren Jahren gerne wieder zurück, wenn sie zum Beispiel im Fach Religion oder Geschichte das Thema Judentum behandeln. Das Lehrhaus für Kinder richtet sich an Schüler*innen im Grundschulalter, kann aber bei Bedarf auch für andere Altersstufen angepasst werden (ca. 2.–7. Schuljahr). Die Kinder lernen einige Grundbegriffe des Judentums kennen, wobei der Schwerpunkt weniger im kognitiven Bereich liegt, sondern stark spielerische Elemente betont. Aus insgesamt 13 Modulen können Lehrer*innen oder Erzieher*innen im Vorfeld zwei auswählen. So lässt sich ein individuelles Programm für jede Gruppe zusammenstellen. 1 Die inhaltliche Konzeption dieses Ausstellungsbereiches entwickelte das Team der Alten Synagoge – Dr. Edna Brocke, Dr. Peter Schwiderowski und Martina Strehlen – gemeinsam mit Dr. Esther Graf und Manja Altenburg von der »Agentur für jüdische Kulturvermittlung« (heute: Agentur für jüdische Kultur).
Judentum für Kinder. Das »Lehrhaus für Kinder« der Alten Synagoge Essen
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In der Dauerausstellung nimmt das einzigartige Synagogengebäude einen bedeutenden Platz ein – es ist eines der Hauptexponate. Doch die Kinder sollen auch erfahren, dass sie in einer ehemaligen Synagoge sind, und was eine Synagoge überhaupt ist – für viele ist das ihre erste Begegnung mit einem Ort einstigen jüdischen Lebens. Daher wurde ein Modul zu diesem Thema erarbeitet, mit dem jedes Lehrhaus startet. Daneben gibt es Module zu jüdischen Festen sowie zur jüdischen Tradition und Geschichte, die alle Bezüge zum Haus oder zur Ausstellung haben. Viele dieser Module stellen Aspekte der jüdischen Religion vor, thematisieren aber gleichzeitig, dass z. B. die Feste auch von nichtreligiösen Juden* gefeiert werden – als ein Ausdruck von Tradition oder Zugehörigkeitsgefühl zur jüdischen Gemeinschaft. Einige Module werden weiter unten noch etwas genauer beschrieben. Das Lehrhaus kann von Schulklassen oder Gruppen gebucht werden und ist für diese kostenlos. Einmal im Jahr, in den Sommerferien, gibt es ein offenes »Ferien-Lehrhaus«, zu dem die Kinder einzeln angemeldet werden können. Honorarkräfte sind als Lehrhausbegleiter* tätig. Die meisten sind Studierende, vor allem aus den Bereichen Pädagogik, Religionswissenschaft und Geschichte. Es gibt aber auch pensionierte Lehrerinnen und Kunsthistorikerinnen, die gern mit Kindern arbeiten möchten. Das neue Lehrhaus für Kinder wurde von Beginn an gut angenommen. Schulklassen und Gruppen kommen vor allem aus den Fächern Religion (inklusive kirchliche Gruppen / Kommunionskinder) und Geschichte. Schnell kristallisierten sich einige Module als besonders beliebt heraus. Vor allem die Module »Torahrolle«, »Doris Moses und die Mosaiksteinchen« sowie die Module zu jüdischen Festen sind hier zu nennen.2
2.
Beispielhafte Module
2.1.
Das Modul Synagoge
Zu jedem Kinderlehrhaus gehört das Einführungsmodul »Synagoge«. Hier erfahren die Kinder, was eine Synagoge ist, wofür sie genutzt wird und was zu einer traditionellen Synagogen-Ausstattung gehört. Mithilfe der Abbildungen von Synagogen aus aller Welt erkennen sie, dass Juden* in vielen Ländern leben und trotz regionaler und stilistischer Unterschiede gewisse Elemente immer identisch bleiben. Muslimische Kinder registrieren oft mit Erstaunen äußerliche Ge2 Vgl. auch: Alte Synagoge Essen – Haus jüdischer Kultur (Hg.), Lehrhaus für Kinder, Essen 2011; und: Alte Synagoge Essen – Haus–jüdischer Kultur (Hg.), Die Dauerausstellung, Essen 2016.
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Martina Strehlen
meinsamkeiten der Synagoge auf Djerba mit einer Moschee. Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Einrichtung einer Synagoge können die Kinder auch an zwei hölzernen Synagogenmodellen erkennen. Sie erfahren, dass die Alte Synagoge heute nicht mehr der Ort der Versammlung und des Gebets der Essener Juden* ist, sondern ein Museum. In Gruppen erarbeiten die Kinder die Kennzeichen eines Synagogenraumes und/oder füllen hierzu einen Lückentext aus.
2.2.
Das Modul Torahrolle
Die Kinder erfahren, dass die Torah, die fünf Bücher Mose, die Quelle aller jüdischen Traditionen ist. Die Herstellungsart einer Torahrolle wird ebenso erläutert wie deren Verwendung in der Synagoge. Eine echte Torahrolle und ein Fragment werden in einer Vitrine gezeigt, ebenso Materialien zu ihrer Herstellung. Dabei lernen die Kinder auch, dass die Torah in hebräischer Schrift, von rechts nach links, geschrieben wird. Objekte zum Anfassen, darunter eine LernTorahrolle, Kippot und ein Torahzeiger veranschaulichen, wie jüdische Kinder mit der Torah vertraut gemacht werden. Auch auf die Bar/Bat Mizwa, den Tag der religiösen Mündigkeit, wird eingegangen. Die Beliebtheit des Moduls Torahrolle ist sicher auch dadurch zu erklären, dass etwas gebastelt wird, das man mit nach Hause nehmen kann. Die Kinder stellen eine kleine Schriftrolle her, auf der sie ihren Namen in Hebräisch schreiben können.
2.3.
Das Modul Doris Moses und die Mosaiksteinchen
Hier lernen die Kinder zunächst die Geschichte des Synagogengebäudes kennen, die von seiner Erbauung als Synagoge über seine Verwüstung und den verschiedenen Nutzungen bis heute reicht. In Gruppenarbeit entdecken sie Originalobjekte des Gebäudes. Während dieser Suche stoßen sie in einer Vitrine auf Mosaiksteinchen, die von den Mosaiken des Torahschreins stammen. Sie hören die wahre Geschichte von Doris Moses, die elf Jahre alt war, als die Essener Synagoge in der Nacht des 9./10. Novembers 1938 verwüstet wurde. Am folgenden Tag kletterte Doris heimlich durch ein zerbrochenes Fenster in die Synagoge, um als Erinnerung einige Scherben und Mosaiksteine des zerstörten Torahschreins aus dem Schutt aufzusammeln. 1988 kam sie nach vielen Jahren zurück nach Essen und schenkte die Steine der Alten Synagoge, wo sie seitdem ausgestellt werden. Dies ist eines von zwei Modulen, in denen die NS-Zeit und die Shoa angesprochen werden. Die Familie Moses floh nach Holland, wurde im Durch-
Judentum für Kinder. Das »Lehrhaus für Kinder« der Alten Synagoge Essen
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gangslager Westerbork interniert und später nach Theresienstadt deportiert. Der Vater von Doris Moses wurde in Auschwitz ermordet. Doris, ihre Mutter und ihr Bruder überlebten und zogen nach der Befreiung nach Australien, wo Verwandte lebten. Auch wenn uns eine positive Grundstimmung im Lehrhaus für Kinder sehr wichtig ist, blenden wir in diesem Modul die Shoa nicht völlig aus, sondern ziehen eine Verbindungslinie von der Verfolgungssituation und Deportation der Familie Moses zur Stadtgeschichte. Wir bieten die Möglichkeit zum Einfühlen in die Situation der elfjährigen Doris an. Allerdings haben wir uns dagegen entschieden, die Shoa gegenüber dieser Altersgruppe ausführlicher zu thematisieren. Zu unterschiedlich sind die Vorkenntnisse und Voraussetzungen der Kinder, und wir empfanden es als unpassend, nichtsahnenden Kindern eine erste Begegnung mit diesem äußerst belastenden Thema in einem Workshop zuzumuten. Selbst bei älteren Kindern und Jugendlichen (Sekundarstufe I) mussten wir bereits feststellen, dass sie bisweilen so gut wie nichts über die NS-Zeit wissen. Das Thema Shoa wird daher – bei Interesse – im Lehrhaus für Jugendliche (ab Sekundarstufe II) und selbstverständlich auch in den Führungen für Jugendliche und Erwachsene behandelt. Das Modul zu Doris Moses wird ebenfalls sehr gut angenommen, weil diese Geschichte sich gut zur Identifikation anbietet.
2.4.
Module zu jüdischen Festen
Im Modul »Die Truhe mit den Festutensilien« werden die vier Feste Chanukka, Sukkot, Pessach und Purim vorgestellt. Die Kinder erfahren, dass es im Judentum eine Vielzahl von freudigen Festen gibt, die an verschiedene Begebenheiten erinnern und für die unterschiedliche Utensilien verwendet werden. In einer interaktiven »Aufräumaktion« können sie ihr Wissen anwenden, um Ritualgegenstände bestimmten Festen zuzuordnen und zu erklären. Es gibt aber daneben je ein Modul zu den wichtigsten jüdischen Festen. Passend zu den Festen gibt es nach einer Einführung interaktive Elemente. Im Lehrhaus zu Purim können die Kinder sich verkleiden und eine Szene aus dem Buch Ester nachspielen, in dem zu Sukkot (Laubhüttenfest) basteln sie aus Papier Girlanden und schmücken eine Sukkah (Laubhütte) und im Lehrhaus zu Rosch haSchannah/Jom Kippur (Neujahr/Tag der Umkehr) spielen sie das aus dem Fernsehen bekannte Spiel »1, 2 oder 3?« mit Fragen zu diesen Festen.
56 2.5.
Martina Strehlen
Das Modul Israelische Volkstänze
Innerhalb der Ausstellung begeistern vor allem die interaktiven Stationen im Bereich »Jüdischer Way of Life«. Die Station »Israelische Volkstänze« in der Ausstellung und das dazu passende Modul sind bei den kleineren Kindern beliebt. Hier lernen sie einen oder zwei einfache Tänze. Bei den älteren Kindern sind es oft nur noch die Mädchen, die gern tanzen. In diesem Modul lässt sich besonders gut Bewegung in das museumspädagogische Konzept einbinden.
3.
Reaktionen
Die folgenden Beobachtungen stammen von den Lehrhausbegleiter*innen, die ich gebeten hatte, von ihren Erfahrungen zu berichten: Alle betonen, dass die Kinder viel Spaß an der »bunten Vielfalt« des Judentums haben, die sie in den Vitrinen und interaktiven Stationen der Dauerausstellung entdecken. Auch die Requisiten für die einzelnen Lehrhäuser (z. B. bunte Kippot, Dreidel zu Chanukka, Seder-Teller und Kinderspielzeug zu Pessach) finden sie spannend. Nur wenige Kinder wissen Genaueres über das Judentum oder über jüdisches Leben in Nordrhein-Westfalen oder in Deutschland. Alle Lehrhausbegleiter*innen betonen aber, dass sich ihr Interesse an jüdischer Kultur leicht wecken lässt. Im Gegensatz zu den zahlreichen Kindern, die ohne Religion aufwachsen, wissen muslimische Kinder oft sehr viel von ihrer eigenen Religion. Sie interessieren sich vor allem für Details, die sie an ihre eigene Kultur erinnert, z. B. zum jüdischen Kalender, zum koscheren Essen, zu Riten und Bräuchen im Allgemeinen, zu jüdischen Propheten etc. Ähnlich ist es bei Kindern, die in einer christlichen Familie aufgewachsen sind, in eine christliche Schule gehen und so auch Vorwissen haben. Antisemitische Bemerkungen kamen in dieser Altersstufe bisher noch nicht vor. Die häufigste Reaktion der zahlreichen Kinder, die über kein religiöses Wissen verfügen, ist eine leichte Verwirrung angesichts der vielen Gebote, Bräuche und Feste. In der Regel fehlt es hier an Vorwissen aus dem Christentum, um einen Kontext zu etablieren. Für diese Kinder liegen die Geschichten zu Pessach und anderen jüdischen Festen in einer sehr fernen Vergangenheit. Rituale und Symbole, wie sie bei vielen Festen vorkommen, sind für sie oft fremd, weil sie solche nicht in ihrem Alltag erleben. Wie bereits erwähnt wurde, beginnt jedes Lehrhaus mit dem Einführungsmodul »Synagoge«. Das große Holzmodell der Essener Synagoge fasziniert die Kinder, die hier den Vergleich zwischen damals und jetzt herstellen können. Nur wenige haben schon
Judentum für Kinder. Das »Lehrhaus für Kinder« der Alten Synagoge Essen
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einmal eine Synagoge aus der Nähe gesehen, und das große, prächtige Gebäude beeindruckt sie häufig sehr. Der rekonstruierte Torahschrein hilft ihnen dabei, die Elemente des Synagogenaufbaus zu lernen. Die frühere Gestaltung als Synagoge und die Idee der einstigen Mosaiken und Golddekorationen, die anhand historischer Fotos besprochen werden, löst in einigen Kindern ein ästhetisches Gefühl der Demut oder auch Wehmut aus. Dieser Moment des »Beeindrucktseins« wirkt sich sehr auf den Lernprozess aus. Kinder, die sich beeindruckt zeigen, sind während des restlichen Lehrhauses oft aktiver und stellen häufig mehr Fragen. Die Mutter eines neunjährigen Jungen schrieb, dass ihr Sohn »unheimlich interessiert die Erklärungen verfolgt und zu Hause sprudelnd davon erzählt« habe. Sie hält das Lehrhaus für eine sehr lehrreiche und anschauliche Maßnahme, von der viel bei den Kindern hängen bleibt. Zum Abschluss möchte ich eine unserer Lehrhausbegleiterinnen, Y.K., zitieren: »Besonders im Gedächtnis ist mir ein Mädchen aus einer Kindergruppe geblieben. Sie bekam insbesondere im Raum ›Quellen jüdischer Traditionen‹ ganz glänzende Augen und hatte wohl so etwas wie ein ›religiöses Erwachen‹. Auf jeden Fall erzählte sie mir, dass ihre Familie ja ›eigentlich‹ aus dem Judentum kommt, eine russische Familie, soweit ich verstanden habe. Und dass ihre Eltern und weitere Familie aber ›eigentlich gar nichts damit machen‹. Sie fand das dann alles aber so toll, dass sie sich jetzt viel mehr damit beschäftigen möchte. Und sie möchte unbedingt wiederkommen – mit ihren Eltern. So etwas hört man mit so viel aufrichtigem Enthusiasmus ja nicht jeden Tag. Zum Schluss ist sie dann quasi davon ›geschwebt‹. Das hat mich ganz ehrlich beeindruckt, wie so ein Besuch einen jungen Menschen derartig bewegen kann.«
Klärungen zu Antisemitismus und Antisemitismus-Prävention
Hanspeter Heinz
»An allem sind die Juden schuld« – Begrifflich-historische Klärungen
1931, inmitten der Weltwirtschaftskrise führte Friedrich Hollaender in seinem Berliner Kabarett eine Revue auf mit dem Chanson »An allem sind die Juden schuld«. Diese Satire machte sich lustig über das damals verbreitete antisemitische Feindbild vom Juden, der hinter allem Übel der Welt steckt. Die häufig geübte Praxis, Schuldzuweisungen gegen »die Juden« ohne Angabe von Gründen oder mit nicht überprüfbaren Argumenten zu rechtfertigen, treibt der Refrain ironisch auf die Spitze: An allem sind die Juden schuld! Die Strophen führen augenzwinkernd und übertreibend gängige Vorwürfe gegen »das Judentum« vor, z. B. die alleinige Verantwortlichkeit für Weltkatastrophen wie den Ersten Weltkrieg, die Russische Revolution von 1917 oder die Wirtschaftskrisen der Nachkriegszeit. Auch sind die Juden im Lied daran schuld, dass es regnet, hagelt, schön ist oder bewölkt, der Schnee weiß und kalt ist und das Feuer heiß oder »ob du hustest, ob du niest«. Treffend ist die Formulierung des Holocaust-Überlebenden Theodor W. Adorno: »Antisemitismus ist das Gerücht über den Juden«. Seinen Text unterlegte Hollaender mit der vertrauten Melodie aus einer Oper. Während im Original gesungen wird, dass die Liebe von Zigeunern stammt, behauptet die Parodie in grotesker Umkehrung, dass alles nur erdenkliche Übel von Juden stamme. Das Chanson wurde zu einem dauerhaft populären Lied, das auch von Größen wie Marlene Dietrich und Katja Ebstein gesungen wurde. Es ist ein Musterbeispiel für den Mechanismus der »Sündenbockprojektion«, aber auch ein Musterbeispiel für die Effektivität einer Satire, die weit mehr vermag als logische Argumente. 1933 wurde Hollaender als einer der ersten Juden aus Deutschland ausgewiesen.
1.
Definition des Antisemitismus
Von Wolfgang Benz, einem der renommiertesten Antisemitismus-Experten, stammt die Definition: »Antisemitismus umfasst alle Formen und Stufen der Ablehnung gegenüber Juden, wie sie manifest durch Diskriminierung und Ge-
62
Hanspeter Heinz
walt, latent durch Ressentiments, als Haltung der Abneigung in Erscheinung treten.«1 »Antisemitismus sieht den Juden als feindliches Konstrukt, als Projektion negativer Eigenschaften und Verhaltensweisen, die mit der Realität nichts zu tun haben. Antisemitismus definiert ›den Juden‹, um ihn auszugrenzen.«2 Dieser Begriff ist wörtlich genommen als Semitengegnerschaft eine Missbildung, weil er fälschlicherweise die Sprachfamilie der Semiten als »Rasse« verstand, dabei jedoch nur die Juden meinte. Zunächst sollen die früheren Typen des Antisemitismus und nach der historischen Wende des Zweiten Vatikanischen Konzils die heutigen Formen vorgestellt werden.
2.
Sozial begründeter Antisemitismus in der Antike3
Schon Jahrhunderte vor der Zerstörung Jerusalems durch die Römer lebte mehr als die Hälfte des jüdischen Volkes außerhalb des eigenen Landes. Zu kämpferischen Konfrontationen mit der Bürgerschaft kam es nur selten. Die meisten römischen Kaiser waren recht judenfreundlich. So erklärte 212 Kaiser Caracalla die Juden im gesamten Römischen Reich zu Vollbürgern. Selbst nach der Niederschlagung der beiden jüdischen Aufstände in den Jahren 70 und 135 galt im Römischen Reich das Judentum weiterhin als »erlaubte Religion«, eine Duldung, woran sich auch durch die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion Anfang des 4. Jahrhunderts nichts änderte. Wohl aber gab es öfters – nicht überall und reichsweit – Konflikte und Rivalitäten, weil die Juden die Teilnahme am Kult der lokalen und imperialen Götter verweigerten, was als Verstoß gegen die erste Bürgerpflicht galt. Hing doch vom Wohlwollen der Götter, die ihre Opfer verlangten, das Wohlergehen der Stadt und des Reiches ab. Während viele Heiden am Ein-Gott-Glauben und der Ethik des Judentums interessiert waren, schreckte man vor der Beschneidung und den Speisegesetzen zurück, weil beides in der griechisch-römischen Welt verpönt war und zur sozialen Absonderung beitrug. Der christliche Antisemitismus ist nicht als Fortsetzung der heidnischen Konflikte mit Juden zu deuten, er stammt aus einer anderen Quelle.
1 Wolfgang Benz, Das Gerücht. Antisemitismus–Debatte in Deutschland, in Herder Korrespondenz 73 (2019), 13–16, hier 13. Hervorhebung Heinz. 2 Ebd. 3 Vgl. Gerhard Dautzenberg, Art. Antijudaismus, Antisemitismus, I. Vorchristlich und im NT, in: 3LThK (1993) Bd. 1, 748–750.
»An allem sind die Juden schuld« – Begrifflich-historische Klärungen
3.
63
Christlicher Antisemitismus – eine theologische Feindschaft4
Seit dem 4. Jahrhundert gehörte der Antisemitismus zum Arsenal der christlichen Prediger und Theologen (Kirchenväter). Ihre Polemik gegen die Juden war großenteils eine Abwehr, um die Christen vom Besuch der attraktiven jüdischen Feste und Bräuche fernzuhalten. Im Mittelalter wurde der Antisemitismus selbstverständliches Gemeingut der Bevölkerung. Durch das Eindringen in die Volksfrömmigkeit nahm er sodann dämonische Züge an. Den gottlosen Juden traute man alles zu: Brunnenvergiftung, Hostienschändung, Ritualmorde. Solche Verschwörungstheorien und Legenden machten Eindruck, provozierten Gewalt. Der christliche Antisemitismus ist in Wahrheit unchristlich, weil er ein eklatanter Verstoß gegen die Liebe, das Hauptgebot des Alten wie des Neuen Testaments, ist! Im Unterschied zum kämpferischen Islam in den christlichen Stammgebieten im Orient und nördlichen Afrika sowie im Südosten Europas waren die Juden nie eine militärische Bedrohung. Weit mehr als der Islam waren sie jedoch ein theologisches Ärgernis, weil sie sich konsequent weigerten, die Wahrheit des Christentums anzuerkennen. Selbst durch Zwangsdisputationen, Zwangspredigten und Zwangstaufen ließen sich diese als »halsstarrig und verstockt« geltenden Juden nicht bekehren! Dabei bezeugten doch ihre eigenen Heiligen Schriften, das Alte Testament, ohne jeden Zweifel Jesus als den von den Propheten verheißenen Messias! Hier liegt der theologische Kern des christlichen Antisemitismus. »Hauptanliegen der christlichen Autoren ist es, die Christen als das wahre Israel und die Kirche als Erbin der Verheißungen Gottes zu erweisen, während die Juden alle Prärogativen verloren hätten und nicht mehr als Volk Gottes gelten könnten.«5 Diese Theologie ist, wie wir (leider erst) heute wissen, eine schreckliche Fehlleistung mit fatalen geschichtlichen Folgen gewesen. Darauf ist später zurückzukommen. ›Mehr als die Theologie trennt uns die Geschichte‹, pflegte der 2007 verstorbene Brückenbauer zwischen Juden und Christen, der Judaist Ernst-Ludwig Ehrlich, zu wiederholen. Hierbei hatte er vor allem, aber keineswegs allein, die Shoa im Blick. Es sind zum einen die von Zeit zu Zeit wiederkehrenden blutigen Exzesse gegen Juden, zum anderen die generelle gesellschaftliche Demütigung. Juden waren zwar geduldet und nützlich, aber nie wurden sie geachtet wie etwa die griechischen und römischen Dichter und Denker. Der Zutritt zu den Zünften der Handwerker war ihnen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ebenso verwehrt wie der Erwerb von Grundbesitz. Doch als Ärzte, vor allem als 4 Vgl. Rainer Kampling, Art. Antijudaismus, Antisemitismus, II. Patristik bis 19. Jh., ebd., 750– 752. 5 Ebd., 751.
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Hanspeter Heinz
Händler und Geldverleiher wurden sie gebraucht, mussten für diese Dienste aber hohe Abgaben entrichten und Gewalt und Neid der Bevölkerung erleiden. Zur Illustration zwei Beispiele: »1215 berief Papst Innozenz III., der Urheber des vierten Kreuzzuges (1202–1204) und gnadenloser Feind der Juden, das 4. Laterankonzil ein (…) Sie waren fortan von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, mussten ein Stück gelben Stoffs als Kennzeichen der sozialen Degradierung auf ihr Gewand nähen und durften sich während der Osterwoche in der Öffentlichkeit nicht zeigen. Besonders am Karfreitag war es für sie lebensgefährlich, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.«6
Weil die Juden (!) den Heiland gekreuzigt hätten, galt ihnen am Karfreitag der besondere Hass der Christen. Erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde die tausendjährige antisemitische Karfreitagsfürbitte geändert! 7 Als einer der erbittertsten Judenhasser gilt bekanntlich Martin Luther.8 In seiner Schrift ›Von den Juden und ihren Lügen‹ (1543) rief er dazu auf, dass »dies verworfene Gezücht der Juden, ekelerregendes Gewürm« zur Zwangsarbeit geschickt werde, dass man ihnen ihre heiligen Schriften wegnehmen und ihre Synagogen, Schulen und Häuser niederbrennen solle. Das Arsenal dieser Beschimpfungen entstammt zwar der Tradition, aber die sprachliche Verschärfung und das hohe Ansehen des Reformators hatten über Jahrhunderte fatale Folgen für die Juden. In der der NS-Zeit beriefen sich radikale Antisemiten in Staat und Kirche auf Luther, um ihr rassistisches Gedankengut salonfähig zu machen. Seit den 1960er Jahren haben evangelische Forscher*innen und Kirchenleitungen in wachsendem Maße und unmissverständlich Luthers Judenfeindschaft eine Absage erteilt.
4.
Rassistischer Antisemitismus – eine menschenverachtende Ideologie9
Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff ›Rasse‹ gebräuchlich, um Gruppen von Tieren und Menschen mit gemeinsamen äußeren Merkmalen zu klassifizieren. Dabei wurden auch soziale Schichtung auf Rassenunterschiede und der angebliche Kulturverfall auf Rassenmischung zurückgeführt. Es entstand der Mythos vom reinrassigen Arier, der in einem historischen Endkampf der minderwertigen 6 Nachum T. Gidal, Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, Köln 1997, 11. 7 Vgl. Walter Homolka/Erich Zenger (Hg.), »… damit sie Jesus Christus erkennen.« Die neue Karfreitagsfürbitte für die Juden, Freiburg i.Br. 2008. 8 Vgl. Hans Hermann Henrix, Israel trägt die Kirche. Zur Theologie der Beziehung von Kirche und Judentum (Forum Christen und Juden 17), 144–160. 9 Vgl. Gildal, Juden in Deutschland, 150f.
»An allem sind die Juden schuld« – Begrifflich-historische Klärungen
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Mischlingsrasse der Juden gegenüberstünde. So wurde der vorher religiös oder ökonomisch begründete Antisemitismus zur Rassenfrage erklärt, wobei der vage Rassenbegriff auch Begriffe wie Volk, Nation, Deutsch- und Germanentum umschloss. Die nationalsozialistische Rassentheorie setzte diese Tradition fort. Ihre Rassen- und Vernichtungspolitik hat zwar aus den vorherigen Entwicklungen geschöpft, sie aber auf präzedenzlos gewaltsame Weise umgesetzt. Die Shoa (Vernichtung), für die auch der Name Auschwitz steht, ist mit keinem anderen Völkermord in der Menschheitsgeschichte gleichzusetzen. Die Shoa ist einzigartig für Juden, Christen und die Menschheit. Für die Juden bedeutet sie die größte Katastrophe ihrer Geschichte; alle waren betroffen: Männer und Frauen, Alte und Junge, Säkulare und Religiöse. Für die Kirchen bedeutet sie die Desavouierung des Christentums durch ihre jahrhundertealte Judenfeindschaft, die den Nazis teilweise den Weg bereitet hat. Für die Würde des Menschen bedeutet sie den tiefsten Abgrund, die radikalste Negation. Scheinbar wissenschaftlich argumentierend, wird der Mensch auf Biologie reduziert. Ein Jude konnte Kommunist werden, um der stalinistischen Verfolgung zu entgehen; doch für einen Juden, selbst wenn er Nazi wurde, gab es während des Nationalsozialismus kein Entkommen. Die höchste Würde des Menschen ist der biblische Ehrentitel ›Bild Gottes‹ – tiefster Abgrund der Erniedrigung des Menschen ist die Rassenideologie. Dieses finstere Kapitel der Geschichte belastet die nachkommenden Generationen nicht mit Schuld, wohl aber mit einer Verantwortung für alle Zeiten. Das gilt besonders für die Menschen in Deutschland, denn die Verbrechen gingen von Deutschland aus. Und sie nimmt die Kirchen in Verantwortung, denn das Christentum hat das Immunsystem zur Abwehr der Naziideologie schwer geschädigt, die Täter und Kollaborateure waren größtenteils Getaufte. Die Proklamation der Allgemeinen Menschenrechte und der Genfer Flüchtlingskonvention hat für Europa eine Zeitenwende eingeläutet, die für alle Zukunft in Pflicht nimmt.
5.
Wende im christlich-jüdischen Verhältnis durch das Zweite Vatikanische Konzil
Nicht die Theologie, sondern die Shoa hat die Kirche wachgerüttelt. Die entschiedene Abkehr vom Antisemitismus markiert in der kirchlichen und weltlichen Öffentlichkeit vor allem das Zweite Vatikanische Konzil wegen seiner einzigartigen Wirkungsgeschichte.10
10 Vgl. Henrix, Israel, 7–27.
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Hanspeter Heinz
An der Schwelle des Konzils besuchte der jüdische Historiker Jules Isaac aus Frankreich Papst Johannes XXIII. Als Resultat seiner gründlichen Forschungen legte er dar: Die verhängnisvolle Weichenstellung im Verhältnis des Christentums zum Judentum war die »Lehre der Verachtung«. Was das bedeutet, lässt sich in erschreckender Deutlichkeit an den Portalen gotischer Kathedralen wie Straßburg oder Bamberg in der Gegenüberstellung zweier schöner Frauengestalten »bewundern«: auf der einen Seite die siegreiche, von Gott erwählte Ecclesia/ Kirche, auf der anderen die besiegte, von Gott verworfene blinde Synagoga. Es müsste umgekehrt sein: Mit Blindheit geschlagen war nicht die Synagoge, sondern die Kirche! Auf Kosten der Juden hatte die Kirche jahrhundertelang ihre Identität definiert: Gnade statt Werke, Glaube statt Gesetz, Liebe statt Gerechtigkeit. Die Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den Juden, meist als Nostra aetate 4 zitiert, ist das kürzeste (15 lateinische Sätze) und mutigste Konzilsdokument, sie stellt eine radikale Kehrtwende in der Beziehung und Haltung der Kirche zu den Juden dar. Der Inhalt lässt sich in vier Thesen fassen: – Wenn sich die Kirche auf ihr tiefstes Mysterium besinnt, muss sie sich zugleich auf ihre Verwurzelung im Volk und Glauben Israels besinnen. Israel gehört von Anfang an und auf immer zu ihrer Identität. – Gott hat seinen Bund mit Israel nie gekündigt, er hat sein Volk nicht verworfen. Sein Ja-Wort gilt auf immer. – Der Tod Jesu darf nicht pauschal »den Juden« angelastet werden. – Antisemitismus ist verwerflich, und das nicht aus politischen Gründen, sondern um des Evangeliums willen. Diese Aussagen stehen in klarem Widerspruch zur fast 2000-jährigen Tradition der Kirche. Es ist bezeichnend, dass das Konzil sich allein auf den Römerbrief des Apostels Paulus, Kapitel 9–11, beruft. Der ganzen Tradition hingegen galt der Hebräerbrief (besonders 8,7–13 und 7,18) als Kronzeuge für die Ablösung des ›Alten Bundes‹ durch den ›Neuen Bund‹. Vor allem fällt ins Gewicht, dass das Konzil die Tür zur Zukunft öffnet: Mithin nicht Abschluss, sondern nur ein Anfang, der mit Mitteln des Studiums und des Dialogs offene Fragen klären und neue Perspektiven eröffnen soll. Damit ist die Richtung eindeutig vorgegeben: die Kehrtwendung von der Lehre der Verachtung hin zu einer Theologie der Achtung. Dies ist die entscheidende Weichenstellung des Konzils. Auf dieser Grundlage sind in den folgenden Jahrzehnten beachtliche Fortschritte erzielt worden. Das bezeugen die mutigen Dokumente evangelischer, katholischer und jüdischer Repräsentant*innen und Gremien zum 50-jährigen
»An allem sind die Juden schuld« – Begrifflich-historische Klärungen
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Jubiläum von ›Nostra aetate‹.11 Der Tenor lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Israel und Kirche sind gemeinsam und auf je spezifische Weise Werkzeuge Gottes für das Kommen seiner universalen Königsherrschaft.
6.
Zum neuen Verständnis neutestamentlicher Aussagen
Zu den erfreulichen Früchten christlich-jüdischer Zusammenarbeit in den letzten Jahrzehnten gehört eine grundlegende Neuinterpretation der klassischen antijüdischen Texte im Neuen Testament.12 Das ist von einschneidender Bedeutung für die Religionsdidaktik! Ein wichtiger Ort für innovative Ideen ist der Gesprächskreis »Juden und Christen« beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken, dem derzeit je 15 Katholiken und Juden angehören. In einer Erklärung aus dem Jahr 2009 heißt es: »Das Zweite Vatikanische Konzil fordert in der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung, die Bibel aus der Situation der biblischen Schriftsteller und den Bedingungen ihrer Zeit zu verstehen. Durch diese Weisung fällt ein neues Licht auf die Neutestamentlichen Aussagen, die in der kirchlichen Tradition judenfeindlich gelesen wurden […] Sie erklären sich meist aus der Enttäuschung der jüdischen Christengemeinden über die vielgestaltigen jüdischen Richtungen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht an Gottes Handeln in Jesus Christus glaubten. Mit ihrem Nein zu Jesus wahrten diese ihre bisherige jüdische Identität, indem sie am Glauben an ihren jüdischen Heilsweg gemäß den Weisungen Gottes festhielten. Die Enttäuschung der christusgläubigen Juden wurde nicht selten zur heftigen Polemik […] gegen andere jüdische, vornehmlich pharisäische Gruppierungen […]. Es war ein Verhängnis, dass diese ursprünglich innerjüdischen Polemiken in der kirchlichen Tradition [aufgrund der Schriften durch sogenannte Heidenchristen] zu christlichen Vorwürfen gegen ›die Juden‹ wurden. […] Doch es kann nicht länger angehen, aus zeitbedingten polemischen Äußerungen im Neuen Testament zeitlos gültige Glaubensaussagen zu machen. […] Das Hören auf Gottes Wort in der Schrift verlangt nicht blindem Gehorsam, sondern die kluge Unterscheidung
11 Zur Wirkungsgeschichte von Nostra aetate in der katholischen Kirche vgl. Henrix, 28–105; zur jüdischen Rezeption vgl. ebd. 106–123; zur Geschichte der Judenfeindschaft und ihrer Überwindung aus evangelischer Perspektive vgl. Klaus Müller, Christlicher Antijudaismus als religiöse Form des Antisemitismus, in: Zeitschrift für christlich–jüdische Begegnung 2 (2018), 216–226. 12 Vgl. Dautzenberg, Antijudaismus, 249f. mit einer Auflistung der einschlägigen Stellen im NT, dessen Interpretation ich jedoch nicht immer teile.
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Hanspeter Heinz
zwischen Gottes verbindlicher Heilsbotschaft und situationsbedingten Äußerungen, die nur ein zeitbedingtes Menschenwort sind.«13 Diese neue Forschungslage verlangt ein Umdenken nicht nur der Bibelwissenschaften, sondern aller theologischen Disziplinen, nicht zuletzt der praktischtheologischen Fächer Religionspädagogik, Homiletik und Pastoraltheologie. Dort ist sie erst teilweise angekommen. Dasselbe gilt für Predigt und Religionsunterricht (s. u. 8.3).
7.
Sekundärer Antisemitismus: Kritik am Staat Israel
Eine kritische Haltung gegenüber israelischer Politik breitet sich aus. »Diese Haltung in Bausch und Bogen als ›neuen Antisemitismus‹ oder als revitalisierte Judenfeindschaft neonationalsozialistischer Observanz zu denunzieren, ist weder richtig noch hilfreich.«14 Deutsche Staatsräson und unsere Gesetze gebieten mehr als in anderen Staaten das Einschreiten des Rechtsstaates gegen Verbrechen. Ganz andere Wurzeln hat die Israelfeindschaft in arabischen Ländern, die dem Staat Israel das Existenzrecht auf ihrem angestammten Territorium bestreiten. Die abstrusesten israelfeindlichen Stereotypen werden in arabischen Staaten propagiert, einschließlich der europäischen Propaganda aus dem 19. Jahrhundert von einer jüdischen Weltverschwörung und den Hetzparolen der Nazis. Berichte über manche gewalttätigen Ausfälle zeugen zwar von einem unter Muslimen verbreiteten Hass gegen Israel und gegen Juden. Doch daraus lässt sich kein genereller Antisemitismus der Muslime ableiten, auch nicht aus dem Koran. Die pauschale Denunziation aller Muslime würde sie nur in die Solidarität mit den Fanatikern drängen.15 Zur Entlarvung antisemitischer Israelkritik helfen folgende Kriterien: – das Existenzrecht und/oder das Recht zur Selbstverteidigung wird infrage gestellt – Israel wird mit anderen Maßstäben gemessen als andere Länder – die israelische Politik wird mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt – Juden werden weltweit für die Politik Israels verantwortlich gemacht.
13 Erklärung des Gesprächskreises ›Juden und Christen‹ beim Zentralkomitee der Deutschen Katholiken, Nein zur Judenmission – Ja zum Dialog zwischen Juden und Christen (https:// www.zdk.de/veroeffentlichungen/erklaerungen/detail/Nein-zur-Judenmission-Ja-zum-Dia log-zwischen-Juden-und-Christen-181y/ (Stand am: 14.05.20).) 14 Benz, Gerücht, 14. 15 Vgl. ebd., 15.
»An allem sind die Juden schuld« – Begrifflich-historische Klärungen
8.
Latenter Antisemitismus in Kirche und Gesellschaft
8.1.
Comeback des Judenhasses in Deutschland?
69
»Ein ›neuer‹ Antisemitismus wird alle paar Jahre prognostiziert, und die Zunahme der Judenfeindschaft in Deutschland zu konstatieren, werden die Auguren nicht müde.«16 Wie stark Juden auch in Deutschland verunsichert sind, zeigte das Entsetzen nach dem Anschlag am 9. Oktober 2019 auf die Synagoge in Halle. Die Statistik zeigt jedoch ein anderes Bild: »Der von der Bundesregierung berufene ›Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus‹ schätzt die Dimension der Judenfeindschaft anhand von Einstellungsmustern über Jahre hinweg auf konstante 15–20 %.«17 Dieser latente Antisemitismus bedeutet nicht, dass diese Menschen alle fanatische oder gewaltbereite Judenhasser sind, wohl aber dass sie unausgesprochene Vorbehalte gegen Juden hegen. Der manifeste Antisemitismus von 4–5 % entspricht langjährigen Konstanten.18
8.2.
Antisemitismus im Alltag
Ein Filmproduzent in Hamburg: »Besonders schlimm finde ich, dass offenbar die Juden, die ja Opfer der Nazis waren und selbst das Schlimmste erfahren mussten, jetzt genauso gegen die Palästinenser vorgehen, wie man damals gegen die Juden vorging.« Schüler zu anderem Schüler, beide keine Juden, auf einem deutschen Schulhof, gehört von der Lehrerin: »Komm her, du Jude!«19 Judenfeindliche Sprüche, Schmierereien und Parolen – alles nur ein Problem am rechten Rand der Gesellschaft? Keineswegs, findet Juliane Wetzel. Die Mitarbeiterin am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung ist eine der Mitautor*innen der Website. Sie soll helfen, antisemitische Vorurteile im Alltag zu erkennen. Unter jedem Zitat wird erklärt, was daran problematisch ist, wie man in dem Moment reagieren kann und wer einen dabei unterstützen könnte. Die Website bietet auch eine umfangreiche Datenbank sowie Listen von weiteren Websites, Publikationen und Anlaufstellen, um Antisemitismus im Alltag zu bekämpfen.
16 17 18 19
Ebd., 14. Ebd., 15. Vgl. ebd. Diese und 33 weitere Zitate aus dem deutschen Alltag findet man auf der neuen Website www.stoppantisemitismus.de (Stand 09. 06. 2020).
70 8.3.
Hanspeter Heinz
Antisemitismus in Predigt und Religionsunterricht
In den letzten Jahrzehnten kam es an vielen Orten und bei vielen Gelegenheiten zu fruchtbaren gemeinsamen Forschungen und Diskussionen von Juden und Jüdinnen mit Christinnen und Christen. Allerdings blieb die Freude am gemeinsamen Entdecken und Lernen meist auf die direkt Beteiligten an solchen Dialogen begrenzt. Nur wenig von den Erträgen ist bislang an der christlichen Basis, in den Gemeinden angekommen, weil in Predigt und Religionsunterricht zu wenig Wert auf Antisemitismus-Prävention gelegt wird. Deshalb bestehen zahlreiche Irrtümer über das Judentum unter Christ*innen weiter fort. Nicht, weil diese an den neuen Erkenntnissen kein Interesse hätten, sondern weil sie keinen Zugang zu den nötigen Informationen finden oder suchen. So entstand im Gesprächskreis »Juden und Christen« des Zentralkomitees der deutschen Katholiken als Gemeinschaftswerk ein kleines Lexikon: »Von Abba bis Zorn Gottes. Irrtümer aufklären – das Judentum verstehen.«20 Hieraus eine Leseprobe zum Stichwort »Zorn Gottes«: Hartnäckig hält sich die Behauptung, Zorn sei im Alten Testament die hervorstechende Eigenschaft Gottes. Mit der Botschaft Jesu aber sei dieses »Gottesbild«, wie man in den christlichen Kirchen häufig sagt, »überwunden«. So scheint die Problematik für Christen »entschärft«, das Gottesbild »gereinigt« […]. Wie im Alten so wird auch im Neuen Testament der Graben zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, mit dem Zorn Gottes verknüpft […]. Auch von Jesu Zorn gegen Verstockte und Ungläubige und gegen Strukturen, die Menschen versklaven, wird berichtet. Dies geschieht in der Absicht, die verheerende Destruktivität der menschlichen Ignoranz gegenüber dem Gerechtigkeitswillen Gottes warnend und mahnend zu Bewusstsein zu bringen [….]. Die Bibel weiß im Alten wie im Neuen Testament um den Willen Gottes, sich in Welt und Geschichte leidenschaftlich für das Wahrwerden seines Willens einzusetzen. Hier ist der Ort, vom Leiden Gottes zu sprechen. Auch der Zorn kann eine Gestalt des Leidens sein, eines Leidens an der Welt, die besser sein könnte, als sie ist. […] Und anstatt das Alte Testament mit seinem zornigen Gott herabzuwürdigen, könnten wir entdecken, was uns dieser zornige, leidenschaftliche Gott zutraut: die Welt (und damit unser Leben) besser zu machen, wo immer wir sind.
20 Paul Petzel/ Norbert Reck (Hg.), Ostfildern 2017; zum Folgenden ebd., 200–203.
»An allem sind die Juden schuld« – Begrifflich-historische Klärungen
9.
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Warnung vor dem Opfernarrativ
Wenngleich Verfolgung und Unterdrückung die Geschichte der Juden von Anfang an belasten, wäre es völlig verfehlt, Juden generell auf die Opferrolle festzulegen. Zum einen würde es den Fakten widersprechen, weil Juden zu allen Zeiten kulturelle Hochleistungen erbracht haben – und es heute noch tun. Man denke nur an die vielen Nobelpreise und den erstaunlichen Aufbau des Staates Israel. Zum anderen würde es die gegenseitige Befangenheit fördern. Denn die einen wollen nicht immer und überall als Nachkommen der Opfer gelten, die Mitleid und Wiedergutmachung einfordern. Die anderen wollen nicht immer und überall als Nachkommen der Täter gelten, die sich schämen und rechtfertigen müssen. Zwar ist tatkräftige Wachsamkeit gegen Antisemitismus geboten, aber Antisemitismus darf nicht zum ersten und zentralen Thema im Blick auf die Juden werden.
Ludwig Spaenle
Für Präventionsarbeit ist es nie zu früh – Zur Bedeutung von Antisemitismus-Prävention in der Grundschule
Vorbehalte gegenüber Jüdinnen und Juden, antisemitische Einstellungen und mögliche Handlungen können ihren Ursprung in der Familie haben, in denen sich z. B. Mutter oder Vater oder Geschwister kritisch, abwertend oder feindlich gegenüber Jüdinnen und Juden äußern. Sie können ihren Nährboden in PeerGroups haben, vor allem bei älteren Kindern und Jugendlichen, in denen eine negative Grundhaltung gegenüber dem Judentum vermittelt und praktiziert wird – im Miteinander oder auch in den sozialen Medien – vielleicht sogar verbunden mit Aktionen und Handlungen. Vorurteile und Vorbehalte gegenüber Jüdinnen und Juden können aber auch medial vermittelt sein. Häufig werden unterschiedliche Erlebnisse und Erfahrungen ineinanderfließen und sich gegenseitig be- und verstärken. Dabei können religiöse Gemeinschaften eine Rolle spielen. Vorurteile und Vorbehalte können aber auch durch anderslautende Informationen und durch andere Erfahrungen verhindert, durchbrochen oder abgemildert werden.
1.
Wertebewusstsein stärken und Präventionsarbeit gegen Judenfeindlichkeit leisten
Wir können deshalb nicht früh genug damit beginnen, das Wertebewusstsein bei Kindern zu stärken und Informationen über jüdisches Leben in seiner Vielfalt an Kinder zu vermitteln und so Weichen gegen Judenfeindlichkeit und Antisemitismus zu stellen. Präventionsarbeit gegen Antisemitismus, gegen Stereotype und Vorurteile gegenüber Jüdinnen und Juden können nicht früh genug einsetzen. Eine besondere Chance, aber auch eine besondere Verantwortung ergibt sich für Lehrkräfte, Erzieher*innen von Kindern im Grundschulalter. Die Kinder sind in dieser Entwicklungsphase noch dabei, die Welt zu erkunden, ihr Wissen und ihre Vorstellungen zur Gesellschaft auszuprägen, und sie bringen in der Regel ihren Lehrkräften und Erzieher*innen große Sympathie und Zuneigung entgegen.
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Ludwig Spaenle
Zudem ist der Bildungs- und Erziehungsauftrag von Grundschulpädagog*innen ganzheitlicher als der an weiterführenden Schulen, bei welchen häufig die Vermittlung von Fachkenntnissen im Mittelpunkt steht. Dieses besondere Vertrauensverhältnis, diese besondere pädagogische Nähe für die grundlegende Vermittlung von Werten im Sinne des Grundgesetzes und der Bayerischen Verfassung zu nützen, ist von großer Bedeutung. Eine präventive Bildung gegen Antisemitismus ist ein Kernelement solcher Wertevermittlung. Handlungsorte für das pädagogische Handeln sind Schule und Unterricht im engeren Sinne, aber auch Horte und Nachmittagsbetreuung an oder im Umfeld der Schule. Und das Handeln der Pädagog*innen wird im Idealfall die Erziehungs- und Bildungsarbeit, die die Eltern leisten, miteinbeziehen. Die Mittel sind vielfältig und schließen auch Elternabende mit ein.
2.
Gleichwertigkeit lebendig machen
Es muss dabei unser Ziel sein, zu erklären, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Größe, ihrem Aussehen, ihrer Religion und unabhängig davon, ob sie eine Behinderung haben oder nicht, gleichwertig sind und auch gleichwertig zu behandeln sind. Eine Erziehung in diesem Sinne schließt sowohl emotionale wie auch kognitive Elemente mit ein. Stärkeres Gewicht als Information werden aber Erfahren und Erleben haben. Kinder müssen deshalb nicht nur gesagt bekommen, dass sie sich immer wieder an die Lehrkräfte wenden können. Sie müssen es erleben. Sie müssen erfahren, dass es keine Bevorzugung von Mädchen oder Jungen, von Christen, Juden oder Muslimen im Schulalltag bei gleichem Verhalten geben darf und kann. Diese Art von erlebtem Menschenbild der Gleichwertigkeit und -behandlung wird die Kinder prägen.
3.
Immun machen gegen Vorurteile und Ausgrenzung
Auf dieser Grundlage muss es unser Bestreben sein, die Kinder möglichst ein Stück weit immun zu machen gegenüber Vorurteilen und gegen Hetze. Dazu müssen wir sie in die Lage versetzen, so genannte ›Othering-Prozesse‹ zu erkennen. Sie müssen also Handeln ausmachen können, bei dem sich jemand ganz bewusst selbst und sein Ansehen hervor- und heraushebt und andere Menschen als anders, als andersartig, ja als fremd einstuft mit dem Ziel, diese abzuwerten. Und vom Erkennen ausgehend, müssen sie ein solches Verhalten auch ablehnen und in ihren Möglichkeiten sanktionieren lernen.
Für Präventionsarbeit ist es nie zu früh
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Das Vorbild der Lehrkraft ist dabei sehr wichtig. Die Kinder müssen an diesem Vorbild erkennen, dass die Lehrperson keine Konstruktion von Außenseitern und -gruppen akzeptiert, kein Mobbing von einzelnen Schüler*innen zulässt und verhindert, dass ganze Gruppen leichtfertig mit abwertenden Handlungsweisen oder Eigenschaften verknüpft werden. Dabei werden sie eine Wertschätzung von Vielfalt und Verschiedenheit bei gleichzeitiger Anerkennung allgemein gültiger Normen erleben und diese für sich übernehmen.
4.
Grundschule als Lernort für verschiedene Religionen und Anschauungen
Die Grundschule eröffnet vielfältige Möglichkeiten, andere Religionen kennenzulernen. Dazu gehören z. B. Inhalte im konfessionellen Religionsunterricht und in Ethik. Die Grundschule ermöglicht darüber hinaus aber auch die Begegnung mit Angehörigen anderer Religionen, beispielsweise mit Juden und Jüdinnen – etwa in gemeinsamen, über den Unterricht hinausgehenden Projekten etc. Dingsymbole bzw. Elemente, die im religiösen Alltag von Gläubigen eine Rolle spielen können dabei z. B. als Gesprächsgegenstand dienen. Auch der Heimat- und Sachunterricht bietet hier vielfältige Chancen. In vielen Orten Bayerns gibt es zumindest noch steinerne Dokumente vergangenen jüdischen Lebens, Hinweise auf Synagogen und Mikwen sowie jüdische Friedhöfe. Ein Unterrichtsgang durch den Ort und eine Begegnung mit Expert*innen kann hier wichtige Impulse liefern und die Aussagen von Lehrkräften ergänzen. Die Schüler*innen können z. B. in Städten mit Israelitischer Kultusgemeinde auch eine lebendige jüdische Gemeinde besuchen und dort gegebenenfalls auch mit Kindern jüdischen Glaubens zusammenkommen. Doch um solche Gelegenheiten zunächst ausmachen und dann optimal nutzen zu können, ist es hilfreich und sinnvoll, Lehrkräfte bereits in der universitären Ausbildung, also in ihrer ersten Ausbildungsphase, fit zu machen. Ansatzpunkte dazu bieten Anregungen im Fachunterricht z. B. in Religion, aber auch Geschichte und europäischer Ethnologie. Möglichkeiten eröffnen auch die Fachdidaktiken der genannten Fächer und die allgemeine pädagogische Psychologie.
76
5.
Ludwig Spaenle
Fazit: Prävention, Intervention und Sanktion gehören zusammen
Fazit: Die Präventionsarbeit gegen Antisemitismus an der Grundschule und in deren Umfeld hat vielfältige Chancen. Ihr sind aber auch Grenzen gesetzt und sie bedarf der Ergänzung. Die Prävention fügt sich fest in einen Dreiklang von Handlungsmodellen ein: Prävention, Intervention und im Bedarfsfall auch Sanktion mit jeweils eigener Zielrichtung: Prävention soll über jüdisches Leben informieren und ein Stück immun machen gegen judenfeindliche Ideen und Haltungen; Intervention soll judenfeindliche und antisemitische Vorgänge verhindern und Sanktionen sollen diejenigen Menschen ereilen, die antisemitische Handlungen und auch Straftaten begangen haben. Ihnen muss bewusst sein, dass ein solches Vorgehen nicht ohne Folgen bleibt. Die Grundschule ist vor allem der Ort der Prävention.
Die Chance einer Antisemitismus-Prävention in der Grundschule – durch religiöse Bildung
Elisabeth Naurath
Antisemitismus als religiöses Vorurteil. Entwicklungspsychologische Möglichkeiten der Vorurteilsprävention in der Grundschule durch religiöse Bildung
In einem Seminar zum interreligiösen Lernen mit Lehramtsstudierenden der evangelischen Theologie sollen zu Beginn auf drei Plakaten Assoziationen zu den abrahamischen Religionen genannt werden. Das Ergebnis: Interessanterweise finden sich auf dem Plakat zum Thema Christentum keine negativen Assoziationen, während auf dem Plakat zum Islam Stichworte wie ›Gewalt‹ oder ›Unterdrückung der Frau‹ genannt werden. Besonders deutlich treten auch Vorurteile auf dem Plakat zum Thema Judentum in den Vordergrund, denn hier finden sich Begriffe wie ›Hakennase‹ oder ›viel Geld‹ – sogar die dezidiert antisemitische Assoziation ›Finanz-Judentum‹ wird aufgeschrieben. In der anschließenden Reflexionsrunde stellen wir mit Erschrecken fest, dass selbst Theologiestudierende, die sich aufgrund ihres Studiums mit Religionen sowie Stereotypisierungen und Vorurteilen derselben beschäftigen (sollten), nicht vor antisemitischen Haltungen geschützt sind.
1.
Antisemitismus als Vorurteil: Begriffliche Klärungen
»Vorurteil ist eine kognitive und emotive Disposition mit verschiedenen Vorstadien, Vorläufern und Nebenformen.«1 So ist es dringend geboten, die in der Sozialpsychologie seit den 50er Jahren etablierte Vorurteilsforschung interdisziplinär stärker aufzugreifen und in die jeweiligen Fachdidaktiken schulischer Bildung einzubeziehen. Denn Bedingungsgrund für die Erarbeitung eines systematisch durchdachten, religionspädagogischen Konzepts zur AntisemitismusPrävention ist angesichts der Komplexität der verschiedenen Formen und Ausprägungen antisemitischer Einstellungen auch die Klärung der sozialpsychologischen Bedingungsstrukturen: Welche Gründe führen zu Stereotypisierungen
1 Aleida Assmann, Einführung, in: Anton Pelinka (Hg.), Vorurteile. Ursprünge, Formen, Bedeutung. Berlin/ Boston 2012, 1–30, hier 1.
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Elisabeth Naurath
bestimmter Bevölkerungsgruppen und wie geschehen die Mechanismen von Verachtung und Ausgrenzung? Im Rekurs auf die sozial- und persönlichkeitspsychologischen Forschungen von Gordon W. Allport, der mit seinem Werk die Basis für die Erforschung des Phänomens ›Vorurteil‹ schuf, kann man als grundlegende Definition voraussetzen: »Ein zustimmendes oder ablehnendes Gefühl gegenüber einer Person oder Sache, das der tatsächlichen Erfahrung vorausgeht, nicht auf ihr gründet.«2 Interessant ist hierbei, dass die Voreingenommenheit des Urteils zunächst positiv oder negativ sein kann. Im Laufe der Zeit hat sich jedoch die Negativität im Sinne eines ›schlecht Denkens über andere‹ etabliert, wobei die Unbegründetheit bzw. Grundlosigkeit des Urteils zentrales Charakteristikum des ›Vorurteils‹ wurde. Damit ist jedoch das Phänomen des Vorurteils letztlich stärker emotional als rational bestimmt, denn eigentliches Urteilen basiert ja auf kognitiven, argumentativen und rational nachvollziehbaren Prozessen. Im sozialpsychologischen Kontext ist evident, dass die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ausreichend sein kann, um dem dieser Gruppe zugeordneten Vorurteil anheim zu fallen. Das heißt, dass Differenzsensibilität und Differenzkompetenz keine Rolle spielen, sondern eher pauschalisierende Verallgemeinerungen als Voraussetzung des ›Vor-verurteilens‹ einem gewissen, zur Differenzierung fähigen, bildungstheoretischen Anspruch widersprechen. Gegenwärtig wird mit dem Begriff des ›Othering‹3 erziehungswissenschaftlich argumentiert, dass zur eigenen Identitätsfindung bzw. -stärkung Menschen oder Gruppen zu ›Anderen‹ gemacht werden. Diese Kategorisierung ist als sozialpsychologischer Prozess zu sehen, der ›das Eigene‹ bzw. ›die Eigenen‹ in Abgrenzung zu den ›Anderen‹ aufwertet und damit einhergeht, Hierarchien zu konstituieren bzw. zu konsolidieren, die nicht selten in Exklusion enden. Besonders problematisch ist hierbei, wenn individuelle Eigenschaften im Horizont der Stereotypisierung einer Gruppe quasi zu Gruppeneigenschaften stilisiert werden – oder umgekehrt. Mit dem Sozialpsychologen Andreas Zick wird Antisemitismus im Anschluss an die US-amerikanische Forschung als soziales Vorurteil gesehen4, denn es
2 Gordon W. Allport, Die Natur des Vorurteils, Köln 1971, 20 (amerik. Originalausgabe ›The Nature of Prejudice‹, Reading/Mass., 1954). 3 Paul Mecheril/Oscar Thomas-Olalde, Die Religion der Anderen, in: Birgit Allenbach u. a. (Hg.), Jugend, Migration und Religion. Interdisziplinäre Perspektiven, Baden-Baden 2011, 35–66. 4 Vgl. Andreas Zick/Beate Küpper: Transformed anti-Semitism – a Report on anti-Semitism in Germany. Journal für Konflikt- und Gewaltforschung (7) 2005, 50–92. Vgl. Wilhelm Heitmeyer/ Beate Küpper/ Andreas Zick, Vorurteile als Elemente gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Eine Sichtung der Vorurteilsforschung und ein theoretischer Entwurf, in: Anton Pelinka (Hg.), Vorurteile. Ursprünge, Formen, Bedeutung, Berlin/ Boston 2012.
Antisemitismus als religiöses Vorurteil
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»vereinen sich religiöse, vermeintlich biologische und kulturelle Merkmale, aufgrund derer Menschen [sc. beispielsweise] als Juden/Jüdinnen kategorisiert und abgewertet werden. Wir definieren Antisemitismus im Folgenden als soziales Vorurteil gegenüber Juden/Jüdinnen, weil sie Juden/Jüdinnen sind.«5
Allerdings ist hierbei nicht aus dem Blick zu verlieren, dass Antisemitismus auch in die Kategorie eines religiösen Vorurteils fällt: »Menschen, die ein konkurrierendes System von Glaubensinhalten und Praktiken haben, erachten genuine Glaubensinhalte und Praktiken anderer Religionen als minderwertig. Das religiöse Vorurteil bezieht sich nicht allein auf das System, sondern auch auf dessen Anhänger*innen, denen mittelbar mit denselben Vorurteilen begegnet wird«.6
Dies soll im Folgenden mit Blick auf die religiösen Dimensionen als Problem markiert werden – freilich ohne den Anspruch auf Vollständigkeit.
2.
Antisemitismus als religiöses Vorurteil
Beim religiösen Vorurteil hat wiederum die emotionale Dimension eine vergleichsweise stärkere Bedeutung, da religiöse Zugehörigkeiten – auch mit Blick auf die emotionalen Bedingungen der Gottesbeziehung – an grundlegende (lebensgeschichtlich meist frühe) Beziehungsfaktoren und -erfahrungen geknüpft sind. Die persönlichkeitspsychologischen Faktoren einer autoritären Charakterstruktur, familial begünstigende negative Kontexte und prekäre Einflussfaktoren des sozialen Umfelds sind vieldiskutierte Voraussetzungen.7 Der starke Bedeutungsgehalt und die Wirkmächtigkeit religiöser Vorurteile liegen nun besonders darin begründet, dass sie mit religiösen Gefühlen im Sinne von existentialen Entscheidungen, Bekehrungserlebnissen und Bekehrungen, einer alle Lebensbereiche umfassenden Sinndeutung und Ausrichtung der Lebensformen einhergehen. Als »breites Spektrum des Konstruierens und Verhaltens, das von emotionalen Aversionen bis zur gewaltsamen Konfrontation reichen kann«8 sind mit Kampling folgende Typen religiösen Vorurteils zu differenzieren9: – Abgrenzung einer sich religiös definierenden Gruppe gegenüber anderen religiösen oder nicht-religiösen Gruppen. 5 Andreas Zick/ Beate Küpper/ Andreas Hövermann, Die Abwertung der Anderen: Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung, Berlin 2011, 46. 6 Rainer Kampling, Religiöses Vorurteil, in: Anton Pelinka (Hg.), Vorurteile. Ursprünge, Formen, Bedeutung. Berlin/ Boston 2012, 147–168, hier 156f. 7 Vgl. Klaus Ahlheim (Hg.), Die Gewalt des Vorurteils, Schwalbach 2007. 8 Kampling, Religiöses Vorurteil, 148. 9 Vgl. ebd., 149f.
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Elisabeth Naurath
– Aversion gegenüber einer tatsächlichen oder vermeintlichen religiösen Praxis mit dem Ziel der Ausgrenzung. – Abwertung des Religiösen als vormodern und antiaufklärerisch (z. B. Antiklerikalismus der Aufkärung). – Ethno-religiöse Vorurteile mit rassistichen Tendenzen (z. B. Stichwort ›primitive Religionen‹). – Abwehr religiöser Vorstellungen ohne Kenntisse von deren religiösen Ursprüngen (z. B. Verschwörungstheorien). Religiös begründete Vorurteile christlicher Kirchen gegenüber dem Judentum lassen sich bis zu den Schrecken der NS-Diktatur sowohl in der Theologie wie auch in praktisch-theologischen Handlungsfeldern als immer wieder auftauchende Einstellung nachweisen und wurden erst mit der beginnenden Aufarbeitung dieser antisemitischen Schuldgeschichte reflektiert und verneint. Beispielhaft zeigt sich dies an der kritischen Lutherrezeption, die mit dem 500jährigen Jubiläum der Reformation öffentlichkeitswirksam verdeutlicht wurde. So kann man ganz im Sinne Allports festhalten, dass Religion einerseits Vorurteile generiert und andererseits auch auflöst.10 Doch welche Kenntnisse zur Entwicklung religiöser Vorurteile wie beispielsweise antisemitischer Einstellungen sind nötig, um möglichst früh ein Präventionskonzept zu erarbeiten und – beispielsweise im schulischen Kontext – umzusetzen?
3.
Entwicklungspsychologische Prämissen »Stereotype schaffen die elementaren Kategorien, mithilfe derer wir uns in der Welt bewegen und sie begreifen; sie gehören zu den ersten Dingen, die Kinder erlernen oder unbewusst aufnehmen, während sie aufwachsen und mit ihrer Umgebung in Beziehung treten. Was in diesem Stadium gelernt wird, wird zur Leitlinie der Reaktionen und Reflexe unseres weiteren Lebens.«11
Das bedeutet, dass es notwendig ist, im Kontext der Sozialisationsprozesse Kategorien der Strukturierung zu schaffen, um sich zu orientieren. Einbezogen in kulturelle Kontexte sind Heranwachsende von Lebensbeginn an in (zunächst noch unbewusste) Vorannahmen eingebunden und adaptieren diese. Die Bedeutung des frühen Lebensalters ist von daher gar nicht hoch genug zu ge10 Vgl. Gordon W. Allport, The Nature of Prejudice, Perseus 1979, 444 (»It (Anm.: religion) makes prejudice and it unmakes prejudice«; zit. n.: Rainer Kampling, Religiöses Vorurteil, in: Anton Pelinka (Hg.), Vorurteile. Ursprünge, Formen, Bedeutung. Berlin/ Boston 2012, 147– 168, hier 151). 11 Assmann, Einführung, 2.
Antisemitismus als religiöses Vorurteil
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wichten, denn hier etablieren und konsolidieren sich Stereotypisierungen, die dann zu Vorurteilen werden können, wenn »Stereotype mit spezifischen, zu Glaubensstatus überhöhten Emotionen aufgeladen werden«12. Sollten wir daher aus der Perspektive der Vorurteilsforschung nicht wesentlich früher ansetzen, in pädagogischen Interaktionen negativen Voreingenommenheiten, die zu einem destruktiven Othering führen, entgegen zu wirken? Hierzu müssen entwicklungspsychologische Kenntnisse einbezogen werden, um zu klären, ob sich implizite wie explizite Vorurteile altersbezogen entwickeln.13 Mit den Untersuchungen von Raabe und Beelmann14, die eine weltweit angelegte Metaanalyse von 113 Studien zur Entwicklung von Vorurteilen erstellten, kann konstatiert werden, dass im Grundschulalter ein steigender Ausprägungsgrad von Vorurteilen mit einem Höhepunkt bei 5–7 Jahren feststellbar ist. Im späteren Grundschulalter von 8–10 Jahren fällt die Vorurteilskurve häufig wieder ab, weil in Zuwachs an kognitiven Fähigkeiten Differenzierungen ermöglicht. Da im Jugendalter jedoch nicht selten wieder ein Anstieg der Vorurteilshaltungen im Sinne einer Polarisierung sichtbar wird15, spricht man von einer Zick-Zack-Kurve der Vorurteilsbildung von der Kindheit bis zum Jugendalter. Für die Abnahme des Vorurteilsniveaus im späten Grundschulalter werden als Ursachen wachsende sozialkognitive wie auch sozialemotionale Fähigkeiten angenommen. Kinder ab 6 Jahren sind in der Lage zu verstehen, dass Vorstellungen von den Überzeugungen einer anderen Person falsch sein können.16 Die Stabilität der Vorurteile ist umso größer, je früher sie ausgebildet wurden, weil die emotionale Verankerung durch das frühe Erwerbsalter intensiver ist. Ansonsten sind insbesondere folgende Faktoren identifizierbar, die zur Stabilisierung von Vorurteilen beitragen: (1) die Vermeidung von Fremdgruppenkontakt mit der Folge der Umgehung von vorurteilsinkonsistenten Informationen; (2) selektive Wahrnehmung als kognitiver Mechanismus, der dazu führt v. a. vorurteilskonsistente Informationen zu beachten bzw. zu speichern; (3) die hohe Stabilität impliziter Einstellungen, wohingegen explizite Einstellungen eher von
12 Ebd., 8. 13 Vgl. auch Elisabeth Naurath, Antisemitismusprävention im Religionsunterricht, in: Franz Sedlmeier (Hg.), Wider das Vergessen. 80 Jahre nach der Reichspogromnacht (Augsburger Universitätsreden 81, Augsburg 2020, 117–131. 14 Vgl. Tobias Raabe/ Andreas Beelmann, Development of Ethnic, Racial, and National Prejudice in Childhood and Adolescence: A Multinational Meta-Analysis of Age Differences, in: Child Development Vol. 82, Nr. 6 (2011), 1715–1737. 15 Vgl. Ebd., 1716. 16 Vgl. Josef Perner/ Heinz Wimmer, »John thinks that Mary thinks that…«. Attribution of second-order beliefs by 5–10-year-old children. Journal of experimental child Psychology, 1985, 437–471.
84
Elisabeth Naurath
motivationalen Prozessen, also aktuellen Lebensumständen abhängen.17 Ein wichtiger Einflussfaktor für die Reduzierung von Vorurteilen sind nach Beelmann/Raabe vielfältige Kontaktmöglichkeiten zwischen der eigenen und der Fremdgruppe (out group). Fehlende Kontaktmöglichkeiten gelten somit als Risikofaktoren. Mit Blick auf Interventionsmöglichkeiten belegen diese Erkenntnisse, dass die Altersperiode zwischen 7–10 Jahren als eine äußerst sensible Phase in Bezug auf äußere Einflussmöglichkeiten auf die Vorurteilsbildung bei Kindern bezeichnet werden kann. Diese Phase wird als durchlässig beschrieben und der Einfluss durch die Auseinandersetzung mit anderen sozialen Gruppen sowie die bereits erwähnten Kontaktmöglichkeiten als besonders fruchtbar und positiv angesehen. Kurzum: Das Alter der 3./4.–Klässler*innen kann als äußerst günstiges Fenster für eine aussichtsreiche Antisemitismus-Prävention gewertet werden.
4.
Religionspädagogische Interventionsmöglichkeiten
Natürlich bietet sich der schulische Religionsunterricht als Lernort zur Prävention und Reduktion von Vorurteilen an, denn die Achtung der religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen Anderer soll hier im Rahmen der WerteBildung vermittelt werden. Ein Beispiel: Gemäß dem in Bayern geltenden LehrplanPlus für den Evangelischen Religionsunterricht »lernen die Kinder, wie wichtig es ist, sich mit fremden Religionen und Weltdeutungen von Anfang an sachlich fundiert auseinanderzusetzen und Fremde und Fremdes zu verstehen. Leben in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft kann so in kindgemäßer Weise angebahnt werden.«18 Allerdings erstaunt gerade für den deutschen Kontext, dass die Antisemitismus-Prävention hier nicht explizit als Aufgabe des Religionsunterrichts genannt und als Kompetenzziel konkretisiert wird. So beklagen aktuelle Studien, dass die schulische Antisemitismus-Prävention bei weitem nicht ausreiche.19 Hierbei ist zu sehen, dass der Unterricht zu Themen der NS-Diktatur in den verschiedenen Fachdidaktiken nicht grundsätzlich mit Antisemitismus-Prävention gleichzusetzen ist. Vielmehr muss eine grundlegende Didaktik der Antisemitismus17 Vgl. Tobias Raabe/ Andreas Beelmann, Entwicklungspsychologische Grundlagen, in: Andreas Beelmann/ Kai J. Jonas, Diskriminierung und Toleranz. Psychologische Grundlagen und Anwendungsperspektiven, Wiesbaden 2009, 113–135, hier 117. 18 https://www.lehrplanplus.bayern.de/fachprofil/grundschule/evangelische-religionslehre (Stand: 13. 11. 2019). 19 Vgl. zum Beispiel Juliane Wetzel, Neuer Antisemitismus oder Aktualisierung eines alten Phänomens. Eine Bestandsaufnahme, in: Hansjörg Schmid/ Britta Frede-Wenger (Hg.), Neuer Antisemitismus? Herausforderungen für den interreligiösen Dialog, Berlin 2006, 9–30.
Antisemitismus als religiöses Vorurteil
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Prävention als Vorurteilsprävention konzeptionell und unterrichtspraktisch erst noch erarbeitet werden. Hierbei muss es neben einer Didaktik nach der Shoa und einer Didaktik der Erinnerungskultur vor allem darum gehen, Werte-Bildung im Sinne von Dialog- und Pluralitätsfähigkeit zu fokussieren. In Einklang mit der ›Gemeinsamen Erklärung des Zentralrats der Juden in Deutschland und der Kultusministerkonferenz zur Vermittlung jüdischer Geschichte, Religion und Kultur in der Schule‹ muss das Ziel sein, »das Judentum in seiner Vielfalt und Authentizität in der Schule zu thematisieren sowie den Schüler*innen ein lebendiges und differenziertes Bild des Judentum zu vermitteln«20. Hier scheinen zwei Dimensionen elementar: – Zum einen geht es darum, die Bereicherung des wissenschaftlichen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Lebens durch Jüdinnen und Juden zu entdecken. Anders gesagt: dem Bild der Ausgrenzung und Verfolgung ist ein positives Bild des lebendigen Judentums entgegenzusetzen. Mit Blick auf die emotionale Lerndimension ist es wichtig, dass die Schüler*innen das Thema Judentum nicht nur mit Schrecken, Grauen, Schuld und Scham angesichts des Holocaust verbinden, sondern ihr Interesse am Thema ›Judentum‹ vorrangig positive Gefühle im Sinne von Interesse, Bereicherung und Wertschätzung auslöst. – Zum anderen geht es im Kontext religiöser Bildung darum, die lebendige Vielfalt des jüdischen Glaubens, jüdischer Feste und Rituale in deren Alltagsbezug kennenzulernen. Da nicht selten die Tendenz besteht, sich fremde Religionen als homogene Blöcke vorzustellen, die auf fest definierten, dogmatisch konnotierten Standpunkten einander begegneten, kommt der individuellen Begegnung mit Menschen anderen Glaubens eine besondere Bedeutung zu, um die Gebundenheit von Religiosität an lebensgeschichtliche Kontexte, regionale Einflüsse oder situative Bedingungen nachvollziehen zu können. Das ist wichtig, um stereotype Bilder einseitiger, vielleicht fundamentalistischer Strömungen einer Religion durch plurale Phänomene zu ergänzen und auszugleichen. So liegt aus der Perspektive der Religionspädagogik eine Chance interreligiösen Lernens darin, dass in der Praxis des Religionsunterrichts Kinder und Jugendliche nicht nur über eine Religion informiert werden, sondern konkret in der Begegnung mit Menschen anderer Religion Glaubensinhalte und -formen verstehen können. ›Nach dem Motto: Die Abwesenden haben Unrecht‹ liegt ein Schlüssel für das Vermeiden von Kommunikationsproblemen darin, dass die Kommunikationspartner*innen anwesend sind. Anknüpfend an die Erkenntnisse der Vorur20 https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2016/2016-12-08_KMKZentratrat_Gemeinsame-Erklaerung.pdf (Stand: 16. 12. 2019).
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Elisabeth Naurath
teilsforschung kann die Genese von Stereotypisierungen am ehesten verhindert werden, wenn man in Kommunikation tritt, sich begegnet, kennenlernt und Beziehung aufbaut. Nicht nur, dass im gemeinsamen Lernen über, von und mit anderen Religionen Verabsolutierungen, Fundamentalismen und Abgrenzungen schwieriger werden, es ist auch so, dass das Entdecken von Unterschieden hilfreich ist, um eigene Positionen zu klären und Identitätsgefühle aufzubauen. Gute Voraussetzungen sind klare Strukturen und Gesprächsformen sowie ein geschütztes Klima der gegenseitigen Wertschätzung. Da bekanntermaßen nach Albert Einstein ein Vorurteil schwerer zu spalten sei als ein Atom, ist es gerade in religionspädagogischen Kontexten wichtig, sozialpsychologische Erkenntnisse einzubeziehen, um konstruktive Präventionsarbeit leisten zu können. Dann aber ist es wichtig, möglichst früh pädagogisch anzusetzen, denn »Prophylaxe heißt für uns also vertiefte Aufklärung durch Eindringen in die entsprechende psychodynamische Wirklichkeit«21. Mit Blick auf religiöse Vorurteile sind insbesondere Ansätze der interreligiösen Bildung zukunftsweisend, die neben religionskundlichen Informationen, die auf der kognitiven Ebene fälschliche Zuschreibungen klar benennen können, auch die emotionale und pragmatische Lerndimension ansprechen. Von besonderer Bedeutung zur Vorurteilsprävention sind nach Allports Kontakthypothese von 1954 häufig arrangierte Kontaktmöglichkeiten zu Menschen anderer Gruppen – insbesondere wenn man gemeinsame Ziele verfolgt (Kooperation), wenn die Gruppenmitglieder einen ähnlichen Status haben und wenn die Dringlichkeit der interaktiven Zielsetzungen von Autoritätspersonen unterstützt wird.22 Mit der Möglichkeit, bereits im Lehramtsstudium für Religionslehrkräfte kooperative Lernarrangements zu fördern – wie dies am Beispiel der Zusatzqualifikation Interreligiöse Mediation (ZIM) in diesem Band vorgestellt wird23 – kann es gelingen, bereits Studierende für antisemitische Zuschreibungen zu sensibilisieren und auf diese Weise in ihrem zukünftigen pädagogischen Engagement zur Vorurteilsprävention zu stärken.
21 Wolfgang Hochheimer, Vorurteilsminderung in der Erziehung und die Prophylaxe des Antisemitismus, in: Klaus Ahlheim (Hg.), Die Gewalt des Vorurteils, Schwalbach 2007, 390–400, hier 391. 22 Vgl. auch: Thomas Frazer Pettigrew/ Linda R. Tropp, A meta-analytic test of intergroup contact theory, in: Journal of Personality and Social Psychology 90, 751–783. 23 Vgl. den Beitrag von Jasmin Kriesten »Antisemitismus-Prävention als Aufgabe der Lehramtsaus- und fortbildung – auch für Grundschullehrkräfte« in diesem Band.
Reinhold Mokrosch
Friedenserziehung und Antisemitismus-Prävention – ein Geschwisterpaar?
Ist Friedenserziehung bzw. Friedensbildung1 eine Voraussetzung oder gar ein Teil von Antisemitismus-Prävention? Diese Kernfrage möchte ich im Folgenden mit fünf Unterfragen zu beantworten versuchen: 1. Fördert die Fähigkeit, Konflikte gewaltfrei zu lösen, also Friedensfähigkeit, auch die Fähigkeit, sich gegen Antisemitismus durchzusetzen? 2. Und: Entspricht die Entwicklung zur Friedensfähigkeit im Lebenslauf eines Kindes und Jugendlichen auch einer Entwicklung zum Widerstand gegen Antisemitismus? 3. Und: Gibt es anthropologische Gegebenheiten, wie z. B. Clandenken, FreundFeind-Denken, Verantwortung nur für den Nahbereich, Aggressionsbereitschaft u. a., welche Friedenserziehung behindern und damit auch Antisemitismus-Prävention erschweren? 4. Und: Ist eine religiös ausgerichtete Friedenserziehung ein Vorbild für ›Antisemitismus-Prävention durch religiöse Bildung‹? 5. Und: Sind Methoden der Friedenserziehung wie z. B. »Gewaltfreie Kommunikation« oder die »Transcend-Methode« auch Methoden zur Antisemitismus-Prävention? Kurz: Sind Friedenserziehung und Antisemitismus-Prävention ein Geschwisterpaar? Gar ein unzertrennliches? Und sind religiöse Friedenserziehung und »Antisemitismus-Prävention durch religiöse Bildung« noch besonders miteinander verbunden? 1 Ich bevorzuge in diesem Beitrag den Begriff der Friedenerziehung gegenüber dem der Friedensbildung, weil er m. E. für die Grundschularbeit besser geeignet ist. Friedensbildung enthält Selbstbildung, Selbstbewusstwerdung, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung für den Frieden. Das kann man von 6- bis 12-Jährigen kaum erwarten. Friedenserziehung dagegen bedeutet von außen angeleitete Motivierung zum Frieden mit vorgegebenen Regeln, Normen und Verhaltensweisen. Das wird von Kindern in der Regel gern aufgenommen und könnte später sogar zur eigenen Friedensbildung führen.
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Reinhold Mokrosch
Diesen und weiteren Fragen möchte ich im Folgenden einzeln nachgehen. Ich beleuchte dabei jede Frage von Seiten der Friedenserziehung und von Seiten der Antisemitismus-Prävention.
1.
Entsprechen schon die Begriffe ›Frieden und Friedenserziehung‹ dem Phänomen Antisemitismus-Prävention?
Johan Galtungs Definition der Begriffe ›Frieden und Friedenserziehung‹ ist noch immer hoch aktuell: »Frieden ist ein kontinuierlicher Prozess abnehmender Gewalt bei gleichzeitiger Zunahme an Gerechtigkeit.«2 Und Friedenserziehung ist »das Bemühen, die Adressaten kontinuierlich zur Minimierung von Gewalt bei gleichzeitiger Maximierung von Gerechtigkeit und Toleranz anzuleiten«.3 Warum werden diese Definitionen noch heute zugrunde gelegt? Weil sie Frieden als positiven, warmen und nicht als negativen, kalten Frieden beschreiben; d. h. dass von Frieden noch keine Rede sein kann, wenn nur Gewaltlosigkeit vorliegt, sondern erst dann, wenn allen Beteiligten auch soziale Gerechtigkeit und Toleranz widerfährt.4 Im Einzelnen: Mit »Abnahme an Gewalt« meint Galtung nicht nur eine Abnahme physischer Gewalt wie sichtbare Vernichtung, Verletzung, Schädigung usw.; sondern er meint damit auch eine Abnahme an weniger sichtbarer psychischer Gewalt wie Mobbing, Drohen, Ausgrenzen, Beschuldigen und Degradieren. Und noch mehr: Er meint damit auch eine Abnahme struktureller Gewalt wie Überwachen, Freiheitsberaubung, Arbeitsüberlastung, Armut und Klimaschädigung (schon 1972 und 1982). Und schließlich brachte er auch noch den Begriff »kulturelle Gewalt« ein, die abnehmen müsse, wie z. B. schädigende Videos, Musik, Karikaturen, Computerspiele u. a. Friedenserziehung hat dementsprechend die Aufgabe, so Galtung, diese vier Formen von Gewalt, physische, psychische, strukturelle und kulturelle, kontinuierlich zu minimieren. Und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen sollen die Adressaten befähigt werden, sich selbst gegen solche Formen der Gewalt zu wehren; und zum anderen sollen sie sich für andere, die Gewalt erleiden, einsetzen und sich protestierend einmischen.
2 Vgl. Johan Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbeck 1982; Ders., Frieden mit friedlichen Mitteln. Frieden und Konflikt, Entwicklung und Kultur, Opladen 1998. 3 Ebd.; aber auf Friedenserziehung kommt Galtung selten zu sprechen. 4 Vgl. https://de.wikipedia.org./wiki/Positiver_Frieden (Stand: 12. 05. 2020).
Friedenserziehung und Antisemitismus-Prävention – ein Geschwisterpaar?
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Zum zweiten Element: Bei »gleichzeitiger Zuname an Gerechtigkeit und Toleranz«. Gerechtigkeit ist für Galtung immer soziale Gerechtigkeit, d. h. Förderung von Chancen, Bedürfnissen und sozialen Lagen auf der Grundlage von Menschenwürde und Gleichberechtigung. Und zwar müsse, so Galtung, diese Zunahme an Gerechtigkeit und Toleranz gleichzeitig geschehen mit der Abnahme von Gewalt. Nicht nachträglich!5 Die Gerechtigkeits- und Toleranz-Forderung ist ja auch schon in dem Aufruf zur Gewaltfreiheit enthalten; z. B.: »Du sollst nicht verletzen, weil die Würde jedes Menschen unverletzbar ist. Der andere ist wie Du!« In diesem Aufruf zur Gewaltfreiheit ist bereits ein Aufruf zu Gerechtigkeit und Toleranz enthalten. Insofern involviert der Aufruf zur Gewaltabnahme bereits den Ruf zu Gerechtigkeit und Toleranz – gleichzeitig! Friedenserziehung hat dementsprechend die Aufgabe, zur Überwindung z. B. von Feindbildern und Vorurteilen, zum Respekt vor anderen und zum Eintreten für sozial gerechte Verhältnisse anzuleiten. Und zwar gilt das nach Galtung wieder in doppelter Hinsicht: Jede(r) soll sowohl für sich selbst als auch für andere Gerechtigkeit und Toleranz einfordern. Diese Doppelaufgabe mögen Friedenserzieher*innen immer im Blick haben. Haben diese Begriffsdefinitionen Galtungs von Frieden und Friedenerziehung Antisemitismus-Prävention mit im Blick? Ich meine: ja, und möchte das begründen: Der Aufruf zur Abnahme von Gewalt in ihrer vierfachen Form ist natürlich auch ein Aufruf zur Verhinderung von Judenfeindschaft in ihrer physischen, psychischen, strukturellen und kulturellen Form. Denn Jüdinnen und Juden wurden und werden physisch verfolgt und vernichtet, psychisch gemobbt und ausgegrenzt, strukturell als Sündenböcke für politisches Elend haftbar gemacht und kulturell als »entartet« bezeichnet. Und im Sinne eines positiven, warmen Friedens genügt es nicht, das alles aufzuheben; sondern es geht darum, Juden und Jüdinnen in das gesellschaftliche Leben normal einzubinden, sie an allem partizipieren zu lassen, ihrer Religion und Kultur gegenüber respektvoll und tolerant zu sein und ihre Religiosität anzuerkennen. Erst dann wird Antijudaismus oder gar Antisemitismus wirklich verhindert. Ja, Friedenserziehung und Antisemitismus-Prävention gehören schon in ihrer Begrifflichkeit zusammen. Sie sind ein unzertrennliches Geschwisterpaar. Gilt das auch für die Praxis der Friedenserziehung und der Antisemitismus-Prävention?
5 Vgl. Johan Galtung, Frieden mit friedlichen Mitteln. Frieden und Konflikt, Entwicklung und Kultur, Opladen 1998.
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2.
Reinhold Mokrosch
Gibt es bei Kindern und Jugendlichen eine Entwicklung zur Friedensfähigkeit und damit zum Widerstand gegen Antisemitismus?
Die Frage, ob es eine – kontinuierliche oder diskontinuierliche – Entwicklung zur Friedensfähigkeit, d. h. zur gewaltfreien Lösung von Konflikten im Lebenslauf gibt, ist seit Kohlberg höchst umstritten. Sie hängt ab von der Entwicklung der Intelligenz, der Moral, des Sozialverhaltens und der Persönlichkeit.6 Was heißt das konkret? Aus diesen riesigen Gebieten der Entwicklungspsychologie können hier nur Stichworte genannt werden und zwar solche Stichworte, die sich auf die Entwicklung bei Kindern und jungen Jugendlichen beziehen und solche, die auch für die Antisemitismus-Prävention berücksichtigt werden sollten: Hinsichtlich der Intelligenzentwicklung ist man sich einig, dass eine Entwicklung vom konkret-operationalen Denken zum formal-operationalen Denken ein großer Vorteil für Friedensfähigkeit sei.7 Denn konkret-operationale Konflikte haben oft einen formal-operativen Hintergrund. Ein Streit unter Kindern z. B., wer zum Geburtstag eingeladen werden soll, weil er nett, und wer nicht, weil er doof ist, hat ja Hintergründe. Und diese meist formal-operativen Hintergründe zu erkennen und für die Streitschlichtung zu berücksichtigen, ist enorm wichtig. Deshalb ist formal-operatives Denken geradezu eine Voraussetzung für Streit- und Konflikt-Schlichtung. – Ist solche Intelligenzentwicklung durch Erziehung möglich? Piaget meinte, dass formal-operatives Denken im Kindesalter sich altersgemäß und kohortengemäß ›automatisch‹ bilde. Das wird heute bezweifelt. Manche Forscher8 entdecken bei Experimenten, dass formales, abstraktes, evtl. strukturelles Denken bei manchen Kindern schon sehr früh, bei manchen aber gar nicht entsteht. Die streng epigenetische Strukturentwicklung sei selten vorzufinden.
6 Diese Themenbereiche sind eigenständige Disziplinen der Entwicklungspsychologie, nicht aber der Bereich Friedensfähigkeits-Entwicklung im Lebenslauf. Vgl. Rolf Oerter/ Leo Montada (Hg.), Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch, Weinheim 2002; und auch Arnold Lohaus/ Marc Vierhaus/ Asja Maass, Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters, Berlin, 2010, die je ein Kapitel zur Intelligenz-, Moral-, Sozial- und Persönlichkeits-Entwicklung vorhalten. Ich konzentriere mich im Folgenden natürlich auf die Entwicklung bei 6- bis 12-Jährigen. 7 Zur Intelligenzentwicklung im Anschluss an Jean Piaget vgl. Janet Wilde Astington, Wie Kinder das Denken entdecken, München u. a. 2000; Zur Intelligenzentwicklung im Zusammenhang mit Friedensfähigkeit vgl. Martin R. Textor, Zukunftsorientierte Pädagogik, Norderstedt 2012, und Robert Siegler u. a. (Hg.), Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter, Heidelberg 2005, 409–442. 8 Vgl. z. B. Marcel Haldenwang, Kritik am Modell Piagets, Wuppertal 2000, Kap. 2.3.
Friedenserziehung und Antisemitismus-Prävention – ein Geschwisterpaar?
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Welche Bedeutung hat solche Intelligenzentwicklung für AntisemitismusPrävention? Die gleiche wie für Friedensfähigkeit? Schon Kinder sollten kognitiv verstehen, dass jede konkrete Judenfeindschaft und Judenbeschimpfung einen formal-operativen Hintergrund hat. Dass nämlich Juden und Jüdinnen immer wieder als Sündenböcke für Pest, andere Seuchen, Niederlagen und Hungersnöte verantwortlich gemacht wurden und werden, können schon Kinder verstehen. Deshalb ist eine Erziehung der Kinder zum formal-operativen Denken für deren Friedensfähigkeit genauso wichtig wie für deren Stabilisierung gegen Antisemitismus. Wie sieht es mit dem Verhältnis der Moralentwicklung zur Friedensfähigkeit eines Kindes und Jugendlichen aus? Auch hier gibt es keinen Zweifel in der Forschung, dass Friedenswilligkeit und Friedensfähigkeit von der eigenen moralischen Einsicht abhängen.9 Je mehr sich das Kind bzw. der junge Jugendliche zu eigenen moralischen Normen und Werten durchringe, desto friedensfähiger sind sie. – Aber wann und wie vollzieht sich bei Kindern und Jugendlichen solch ein Durchbruch zu moralischer Eigenständigkeit? Nach Lawrence Kohlberg entwickelt sich Moral nach einem Stufenschema.10 Dieses Schema soll hier nur bezüglich der Entwicklung von Gewaltverzicht und Friedensbereitschaft zitiert werden:11 Auf der 1. Heteronomen Straf- und Gehorsams-Ebene würden Kinder, manchmal auch Ältere, nur dann auf Gewalt verzichten, wenn es von ihnen gefordert wird und sie belohnt werden. Auf der 2. Hedonistisch-egoistischen Ebene würden sie nur bei gewaltfreier Gegenleistung auf Gewalt verzichten. Auf der konventionellen 3. Nice boy – nice girl Ebene würden sie Gewaltverzicht üben, wenn sie damit allgemein anerkannt würden. Das sind die Ebenen der Kinder und Jugendlichen. Es folgen die Ebenen Erwachsener: Auf der 4. Konventionellen Law-and-Order-Ebene würde man auf Gewalt verzichten, wenn es gesetzlich verordnet sei. Auf der 5. Sozialkontrakt-Ebene entscheide man sich freiwillig für Gewaltverzicht, wenn es vernünftig erscheine. Und erst auf der 6. Gewissens-Ebene würde man nach eigenen Werten und Prinzipien handeln. Zwar ist diese Stufentheorie in ihrer strikt epigenetischen Abfolge heute weitgehend obsolet geworden, denn Moralentwicklung sei, so die Forschung,12 9 Einen Einblick in die Abhängigkeit der Fähigkeit zu Frieden und Gerechtigkeit von der Moralentwicklung im Kindes- und Jugendalter gibt Georg Lind: Moralerziehung als demokratische Bildung, in: Politisches Lernen 2/1993. Unter »Demokratischer Bildung« versteht er »Bildung zu Frieden und Gerechtigkeit«; insofern bezieht er sich auch auf Friedensbildung. 10 Vgl. Kohlberg, Lawrence, Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt 1996. 11 Vgl. Reinhold Mokrosch, Friedensbildung, in: Ulrike Graf/ Susanne Klinger/ Reinhold Mokrosch/ Arnim Regenbogen/ Sonja A. Struve (Hg), Werte leben lernen. Gerechtigkeit, Frieden, Glück, Göttingen 2017, (Werte-Bildung interdisziplinär 5), 117–135, hier 125. 12 Ralf Gesellensetter fasst die Kritiken, Erweiterungen und Alternativen zu Kohlbergs Theorie gut zusammen: http://paedpsych.jk.unilinz.ac.at/INTERNET/ARBEITSBLAETTERORD/ENT WICKLUNGORD/Gesellensetter.html (Stand 4. 6. 2020).
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abhängig von Gender, Region, Religion, Lebensschicksalen usw. Das gelte auch schon für Kinder. Aber die einzelnen Stufenformen, unabhängig von ihrer streng epigenetischen Reihenfolge, hätten weiterhin ihre Gültigkeit. Sie sollten im Sinne Kohlbergs weiterhin beobachtet, begleitet und gegebenenfalls gefördert werden. Das bedeutet, dass Friedensfähigkeits-Entwicklung nicht nach einem vorgegeben moralischen Stufenschema verläuft, sondern dass sie bestimmte Formen erreicht, die allerdings diskontinuierlich im Lebenslauf eines Kindes oder Jugendlichen auftreten. Zum Beispiel: Es mag sein, dass bereits Kinder mit eigenem Gewissen, also im Sinne der 6. Ebene, Konflikte lösen können. Oder: Es mag sein, dass gebildete Erwachsene lebenslänglich im Sinne von Strafe und Gehorsam Gewalt ausüben. Friedenserzieher*innen sollten deshalb keine festgelegte Friedensentwicklung bei ihren Kindern und Jugendlichen anstreben, sondern sie sollten sie begleiten und betreuen. Sie können besonders sensible Kinder dazu bewegen, sich aus eigenem Gewissen heraus nicht am Mobbing gegen andere angeblich doofe Kinder zu beteiligen. Oder sie können es schon Kindern zutrauen, einen Streit zwischen den Eltern oder anderen Erwachsenen kreativ friedlich zu lösen. Dazu müssen die Kinder nicht ein bestimmtes Alter und eine bestimmte Moralentwicklungsstufe erreicht haben. Was bedeutet das alles für die Antisemitismus-Prävention? Moralische Eigenständigkeit der Kinder und Jugendlichen ist auch in dieser Präventionsarbeit anzustreben. Kinder und junge Jugendliche beteiligen sich manchmal aus eigenem Gewissen heraus nicht an antisemitischer Hetze, sondern sind erstaunlich sensibel gegenüber leichtfertigem antisemitischem Sprachgebrauch, ohne die Stufen der Moralentwicklung durchlaufen zu haben. Lehrkräfte sollten deshalb nicht glauben, dass ihre Kinder und Jugendlichen einen kontinuierlichen Entwicklungsprozess hin zur Verachtung und Bekämpfung von Antisemitismus durchlaufen müssen. Sondern sie sollten sie auf dem oft diskontinuierlichen, beschwerlichen Weg zum Widerstand gegen Antisemitismus begleiten – wie bei der Friedenserziehung. Auf dem Gebiet der Sozialentwicklung wurden und werden hinsichtlich der Friedensfähigkeit von Kindern und Jugendlichen u. a. zwei Themen diskutiert. Zum einen, ob erfahrener Friede in Familie und Freundeskreis eine unabdingbare Voraussetzung sei für spätere Friedensfähigkeit. Zum anderen, ob Fremdenfeindlichkeit angeboren oder ansozialisiert und anerzogen seien.13 – Zum ersten: Kann eine Person, die in der Kindheit mehr Gewalt als Gewaltlosigkeit erlebt hat, friedensfähig werden? Viele Untersuchungen weisen nach, dass das 13 Vgl. zum Folgenden: Reinhold Mokrosch, Gewalt (Arbeitshefte für Ethik-, Religions- und Philosophieunterricht), Donauwörth 2000, bes. 18–36 und 37–45; Bundeszentrale für politische Bildung, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt (Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ) 37/ 2007.
Friedenserziehung und Antisemitismus-Prävention – ein Geschwisterpaar?
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nicht möglich sei: Brutale Jungen, Väter, Soldaten u. a. haben eine brutale Kindheit erlebt. Aber es gibt in der Forschung auch Gegenbeispiele: Jungen, Väter, Soldaten u. a., die brutal aufgewachsen seien, tendierten zu liebevollem, gewaltfreiem Verhalten. Warum? Weil sie zwischenzeitlich in ihrem Leben Zuneigung, Liebe und Zärtlichkeit erfahren oder überzeugend davon gehört hätten. Deshalb seien Gewalterfahrungen in Familie und Freundeskreis kein endgültiges Urteil über eine spätere Unfähigkeit zum Frieden. Eine Bereitschaft zu Frieden und gewaltfreier Kommunikation sei pädagogisch immer wieder möglich im Lebenslauf. Zum zweiten: »Fremdeln« ist fraglos angeboren. Ab dem 8. Lebensmonat reagieren Babys ängstlich gegenüber fremden Gesichtern. Fremdenfeindschaft aber, so zeigt die Forschung,14 ist ansozialisiert und anerzogen: Der Thrill in einer rechtsradikalen Kameradschaft, Asylsuchende aufzumischen, der Mangel an Berufs- und Lebensperspektiven, ein anerzogener Stolz zum ›Deutsch-Sein‹ und ein ideologischer Rassismus der prinzipiellen Ungleichheit von Menschen seien in Lebenssituationen von Sinnverlust und Orientierungslosigkeit willkommene Anker für neuen Lebenshalt. – Kann Friedenserziehung gegensteuern? Es hat sich das Konzept ›Akzeptierender Kinder- und Jugendarbeit‹ durchgesetzt, das fremdenfeindliche Kinder und Jugendliche in ihrer Lebenssituation ernst nimmt. Und auch das Konzept ›Antiaggressivitätstraining‹, nach dem aggressive Kinder und Jugendliche die Aggressivität anderer Kinder und Jugendlicher einzudämmen versuchen, wird ausprobiert. Was bedeutet das für Antisemitismus-Prävention? Lehrkräfte und Erzieher*innen sollten nicht meinen, dass Kinder und Jugendliche, die in gewaltorientierter und evtl. offen judenfeindlicher Familie oder Umgebung aufgewachsen sind, lebenslänglich gewalttätig und antisemitisch ausgerichtet bleiben, sondern sie sollten die Hoffnung nicht aufgeben, dass diese Kinder und Jugendlichen möglicherweise zu friedenstiftender Kooperation mit jüdischen Gemeinden und jüdischen Kindern und Jugendlichen animiert werden können. Dazu wäre es notwendig, zunächst die möglichen Ursachen ihrer oder ihrer Eltern und ihrer Umwelt mögliche antisemitische Einstellungen zu ergründen, ernst zu nehmen und zu verändern. Erst danach sollten ihre möglichen antisemitischen Einstellungen oder jene ihrer Eltern konkret bekämpft werden. – Es zeigt sich wieder: Auch auf dem Gebiet der Sozialentwicklung von Kindern und Jugendlichen gehören Friedenserziehung und Antisemitismus-Prävention wie Geschwister eng zusammen. In der Persönlichkeitspsychologie debattiert man, ob Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl notwendige Grundlagen für friedliche Gesin-
14 Vgl. Lind, 1993, 40–44.
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nung und friedliches Verhalten seien.15 Das alles wird befürwortet. Aber es wird auch zu bedenken gegeben, dass eine selbstbewusste Persönlichkeit auch gewaltorientiert sein kann. Deshalb gehöre die Wert-Überzeugung hinzu, dass Werte wie Versöhnung, Harmonie, Verständigung, Gewaltfreiheit und eben Frieden eine Reifung zur Persönlichkeit besser fördern als die gegenteiligen Werte. Und natürlich würden auch Geschlechtsidentität, Ängste, Wahrnehmungen, Interessen und auch Genetik eine Rolle spielen bei der Entwicklung zu einer verständigen, friedensorientierten Persönlichkeit – schon im Kindes- und frühen Jugendalter. Diese Bedingungen der Persönlichkeitsentwicklung für die Friedenserziehung sollten auch bei der Antisemitismus-Prävention berücksichtigt werden: Widerstand gegen Antisemitismus setzt selbstbewusste, Selbstwert empfindende und gleichzeitig an Harmonie interessierte Kinder und Jugendliche voraus. Beziehungsweise: Antisemitismus-Präventionsarbeit kann zur Entwicklung solcher Persönlichkeit beitragen. Wieder zeigt es sich: Auch auf dem Gebiet der Persönlichkeitsentwicklung gehören Friedenserziehung und Antisemitismus-Prävention wie Geschwister zusammen. Um die Überschrift-Frage dieses Kapitels zu beantworten: Ja, es gibt eine – wenn auch diskontinuierliche – Entwicklung zur Friedensfähigkeit, welche eine Entwicklung zum Widerstand gegen Antisemitismus mit sich führt. Beide aber, die Entwicklung zur Friedensfähigkeit und diejenige zum Widerstand gegen Antisemitismus, sind abhängig von der Entwicklung der Intelligenz, der Moral, des Sozialverhaltens und der Persönlichkeit von Kindern und jungen Jugendlichen.
3.
Gibt es anthropologische Faktoren, welche Friedenserziehung und Antisemitismus-Prävention erschweren oder gar verunmöglichen?
Mit Sigmund Freud glaubten im 20. Jahrhundert viele, dass jeder Mensch einen Aggressions-, ja Tötungstrieb in sich trage, der Friedenserziehung faktisch unmöglich mache. Und seit Konrad Lorenz glaubten viele, dass Menschen ihre Tötungshemmung aus dem Tierreich verloren hätten und deshalb zum prinzi-
15 Vgl. dazu besonders die Beiträge von Martin R. Textor im Kita-Handbuch, bes. Martin R. Textor, Die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen als Herausforderung an Familie und Schule, 1991, https://kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/paedagogik/25 (Stand: 12. 05. 2020).
Friedenserziehung und Antisemitismus-Prävention – ein Geschwisterpaar?
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piell friedlichen Miteinander gar nicht in der Lage seien.16 Diese anthropologischen Einsichten werden heute zwar nicht mehr geteilt. Aber es gibt heute viele Wissenschaftler*innen, welche prinzipielle Gewaltbereitschaft durch andere anthropologische Faktoren verursacht sehen:17 Evolutionsbiologen z. B. stellen fest, dass gewaltfreie Konfliktlösungen meistens nur im Familien-, Freundes-, Sippen- und Verwandtschaftsbereich, nicht aber in nationalen oder gar internationalen Bereichen praktiziert würden; also nur im Nah- und nicht im Fernbereich. Und sie geben deshalb zu bedenken, dass Friedenserziehung vermutlich nur im Nah-, nicht aber im Fernbereich erfolgreich sein könne. – Ethnosoziologen wenden ein, dass ethnisches Clandenken normal und natürlich sei, so dass eine Friedenserziehung, die über die Ethnie hinaus führen möchte, kaum Chancen habe. – Allgemeine Soziologen belegen, dass soziale und ökonomische Verhältnisse viel mehr über Gewaltbereitschaft oder Friedenswilligkeit entscheiden als eine gut gemeinte Friedenserziehung, die in Notzeiten an den Rand gedrängt werde. – Und Religionspsychologen schließlich sind überzeugt, dass Glaube, Religionen und Ideologien Gewaltbereitschaft oder Friedenswilligkeit unter Menschen prägen, so dass Friedenserziehung an sie anknüpfen müsse. – Viele anthropologische Faktoren werden genannt, welche Friedenserziehung erschweren oder erleichtern würden. Hat Friedenserziehung also kaum eine Chance? Die genannten begrenzenden Faktoren müssen ernst genommen werden! Und sie nötigen Friedenserzieher*innen eben, gewaltfreie Konfliktlösungen zunächst im Nahbereich und im eigenen Clan zu versuchen. Für Grundschulkinder ist das sowieso geboten. Und Friedenserziehung sollte sich zunächst auch an den wirtschaftlichen, sozialen und auch religiösen Verhältnissen der Kinder und Jugendlichen orientieren. Erst in einem weiteren späteren Schritt könnte man dann versuchen, besonders mit den Älteren, gewaltfreie Konfliktlösungen auch auf gesellschaftlicher Ebene – z. B. bei ungerechter Arbeitsentlohnung, Erwerbslosigkeit, ungerechten Mietverhältnissen, Migranten- und Flüchtlingsschicksalen, u. a. – gedanklich durchzuspielen und ggf. selbst zu praktizieren. Friedenserziehung muss sich an den begrenzenden Faktoren orientieren. Das gilt auch für die Antisemitismus-Prävention und bedeutet, dass Kinder im Nahbereich Begegnungen möglichst mit jüdischen Kindern und Jugendlichen 16 Vgl. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1930; Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse, 1963. 17 Ich verweise im Folgenden nur auf die einschlägigen Fachdisziplinen: Zur Evolutionsbiologie vgl. Ulrich Kutschera, Evolutionsbiologie, Stuttgart 32008; Zur Ethnosoziologie und zur Allgemeinen Soziologie vgl. Jochen Korte, Sozialverhalten ändern! Aber wie? Ideen und Vorschläge, Weinheim 1995, bes. S. 63ff. und 73ff.; und zur Religionspsychologie vgl. HansJürgen Fraas, Die Religiosität des Menschen, Göttingen 1990 und Bernhard Grom, Religionspsychologie, München 32007.
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und auch mit jüdischen Institutionen haben sollten. Die Good Practice-Beispiele in diesem Band – nämlich »Judentum begreifen«, Besuche im »Lehrhaus für Kinder der Alten Synagoge Essen« und die »Begegnung mit Zeitzeugen« – zeigen, welchen Erfolg das haben kann. In fast jeder Stadt sind solche direkten oder auch indirekten Begegnungen möglich. Aber die Lehrkräfte müssen sich tatsächlich bewusst sein, dass Judentum und erst recht die Shoa für Kinder zunächst weit weg im Fernhorizont und außerhalb des eigenen Alltags liegen, und dass sie diese Themen erst in den Nahhorizont der Kinder rücken müssen, bevor sie mit der Präventionsarbeit beginnen. Was für die Friedenserziehung gilt, gilt auch für die Antisemitismus-Präventionsarbeit.
4.
Fördert eine religiös ausgerichtete Friedenserziehung die Antisemitismus-Prävention in besonderer Weise?
Um diese Frage zu beantworten, muss ich fragen, was das spezifisch Religiöse an einer religiösen Friedenserziehung ist.18 Die Goldene Regel »Verhalte dich anderen gegenüber so, wie du möchtest, dass sie sich dir gegenüber verhalten« findet sich zwar in allen Religionen, aber auch in fast jeder säkularen Ethik. Sie ist nicht spezifisch religiös. Sind aber Werte wie Nächstenliebe, Feindesliebe, Versöhnung oder Vergebung spezifisch religiös? Auch sie befinden sich in der Ethik vieler Religionen. Aber sie kommen eben auch im Hedonismus, Utilitarismus und erst recht im Humanismus vor. In einem religiösen Sinn wird von Frieden erst dann geredet, wenn er von einem gläubigen Menschen religiös gewertet wird, z. B. dass bei einem Friedensschluss göttliche Kräfte mitgewirkt haben, dass die Friedensstifter*innen an den Friedensschluss ›geglaubt‹ haben, dass der Friede ein Geschenk Gottes sei u. ä. Dieser Wertung eines Friedensschlusses gingen in der Regel noch andere gläubige Wertungen voraus, z. B. der Glaube, dass alle Menschen gleichermaßen Geschöpfe Gottes seien und Frieden verdient haben und dass Gott eine Welt im Frieden geschaffen hat, welche die Menschheit aber mit Unrecht und Sünde pervertiert habe. Religiös ist Frieden nicht an sich, sondern er wird es erst durch eine religiöse Wertung. Das bedeutet für eine religiös ausgerichtete Friedenserziehung, dass die religiösen Friedenserzieher*innen ihre Kinder und Jugendlichen dafür sensibilisieren sollten, dass und wie gläubige Menschen einen Friedensprozess religiös werten und deuten. Sie, die Lehrkräfte, können dabei selbst Vorbild sein und sich 18 Vgl. zum Folgenden auch meine Ausführungen in: Reinhold Mokrosch, Religiöse Wertebildung im Pluralismus der Religionen, in: Elisabeth Naurath u. a. (Hg), Wie sich Werte bilden (Werte-Bildung interdisziplinär 1), Göttingen 2017, 43–64, hier 46–49.
Friedenserziehung und Antisemitismus-Prävention – ein Geschwisterpaar?
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selbst als religiöse Bekenner*innen geben, ohne allerdings die Kinder ihrerseits zu religiöser Deutung zu nötigen. Könnte solche religiöse Friedensdeutung eine Antisemitismus-Prävention in besonderer Weise fördern? Sie erleichtert m. E. die Anti-Antisemitismus-Arbeit, die eher im Fernhorizont der Kinder liegt. Denn wenn die Kinder angeleitet werden, dass alle Menschen gleichermaßen als Geschöpfe Gottes angesehen werden sollten, dass Gott mit der Schöpfung einen dauerhaften Frieden habe schaffen wollen und dass verschiedene Religionen verschiedene Wege zu Gott seien, dann rückt diese Antisemitismus-Präventionsarbeit möglicherweise in den Nahhorizont der Kinder und Jugendlichen. Ja, eine religiöse Ausrichtung der Antisemitismus-Prävention auf der Grundlage religiöser Bildung könnte die Arbeit gegen Antisemitismus erleichtern.
5.
Sind Methoden der Friedenserziehung hilfreich für Antisemitismus-Prävention?
Bei den Methoden der Friedenserziehung geht es um eine Aussöhnung von Konfliktpartnern. Bei der bekannten Methode »Gewaltfreie Kommunikation GFK« von Marshall Rosenberg19 z. B. geht es um Schritte, welche die Gefühle, Bedürfnisse, Interessen und Änderungswünsche der Konfliktpartner zum Bewusstsein bringen sollen. Bei den Methoden der Konflikt-Piloten in Schulen und Jugendarbeit geht es sogar um Schuldgeständnisse, Wiedergutmachungsvorschläge und Versöhnungsgesten. Und bei Galtungs Transcend-Methode20 soll ein Konflikt auf die Ebene eines unabhängigen Dritten, der eine dritte Perspektive einnimmt und Lösungen vorschlägt, transformiert bzw. transzendiert werden. Das alles sind Methoden, um einen Konflikt zwischen zwei Parteien gewaltfrei und kommunikativ zu lösen. Was hat das mit Antisemitismus-Prävention zu tun? Auch bei der Antisemitismus-Prävention im Klassenzimmer könnte es um Konflikte gehen: z. B. zwischen einem Nazi und einem Juden bzw. Judenschützer, wenn die Nazizeit besprochen wird. Oder zwischen einem Rassisten und einem Anti-Rassisten, wenn Antisemitismus heute verhandelt wird. Oder zwischen Judenpöblern und Judenschützern auf dem Schulhof, wenn dieser Schulhof-Streit im Klassenzimmer besprochen wird. – In allen diesen – meistens konstruierten – Fällen sind die 19 Marshall Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens, Deutsche Ausgabe, Paderborn 112013. 20 Vgl. Johan Galtung, Konflikttransformationen mit friedlichen Mitteln. Die Methode der Transzendenz, in: Wissenschaft und Frieden 3/1998, 46–51; und ders., Konflikte und Konfliktlösungen, Eine Einführung in die Transcend-Methode, Berlin 2007.
98
Reinhold Mokrosch
genannten Methoden sehr hilfreich. Denn es ist gut, wenn die Streithähne ihre Interessen, Gefühle, Bedürfnisse und Anschuldigungen thematisieren, wie in den genannten Methoden zur Friedenserziehung dargelegt wurde. In der Grundschule wird man allerdings nur sehr elementare Konflikte auf dem Feld des Antisemitismus thematisieren und auch nur sehr elementare Methoden heranziehen.
6.
Zusammenfassung
Es steht also außer Frage: Friedenserziehung und Antisemitismus-Prävention sind ein enges Geschwisterpaar. Die Antisemitismus-Prävention kann von der Friedenspädagogik, besonders von der religiösen Friedenserziehung, profitieren: (Zum 1. Kap.:) Beide gehören schon in der Begrifflichkeit zusammen; denn die pädagogische Aufgabe, Gewalt zu reduzieren und gleichzeitig Gerechtigkeit und Toleranz aufzubauen, involviert den Aufruf, jede z. B. judenfeindlich rassistische Diffamierung aufzugeben und gleichzeitig gesellschaftspolitische Integration z. B. von Juden und Jüdinnen aufzubauen. – (Zum 2.Kap.:) Und inhaltlich sollten Friedenserzieher*innen wissen, dass ihre Schüler*innen eine Entwicklung durchlaufen müssen, bis sie friedensfähig und antisemitisch sensibel werden, – und zwar auf der Basis von deren Intelligenz-, Moral-, Sozial- und Persönlichkeitsentwicklung. – (Zum 3.Kap:) Es gibt anthropologische Faktoren, die Friedenserziehung und Antisemitismus-Prävention erheblich erschweren: z. B. Nahbereichs- und Clandenken der Kinder und Jugendlichen, ideologisch-religiöse Festlegungen und gesellschaftspolitische Faktoren. Aber wenn Friedenspädagogen*innen und Antisemitismus-Präventionsarbeiter*innen diese Faktoren berücksichtigen, können sie zumindest im Nahbereich erfolgreich sein. – (Zum 4.Kap:) Religiös ist Friedenserziehung, wenn sie die Kinder und Jugendlichen anleitet, Friedensprozesse religiös zu deuten. Dabei rücken die Kinder auch ferne Friedensprozesse oft in den Nahbereich. Und genau das könnte Präventionsarbeiter*innen motivieren, das Thema Judentum und Antisemitismus, das eigentlich im Fernbereich der Kinder und jungen Jugendlichen liegt, durch religiöse Deutung in den Nahbereich zu holen. – (Zum 5.Kap:) Und auch die bekannten Methoden der Friedenserziehung sind für die AntisemitismusPrävention hilfreich. – Es steht außer Frage, dass Friedenserziehung und Antisemitismus-Prävention enge, vielleicht sogar unzertrennliche Geschwister sind. Deshalb sollte jede(r), der/die sich pädagogisch gegen Antisemitismus einsetzt, sich gut in der Friedenserziehung auskennen, weil er/sie gleichzeitig ein(e) Friedenserzieher*in ist.
Georg Langenhorst
Trialogisches Lernen – ein didaktischer Weg zur Vorbeugung gegen Antisemitismus
Die pädagogisch begleitete Vorbeugung gegen Antisemitismus muss und kann schon bei Kindern beginnen. Und sie sollte davon ausgehen, dass es Grundformen von judentumsfeindlichen Einstellungen gerade auch bei gläubigen Christen und Muslimen geben kann, sei es unbewusst, sei es in theologiestrategischem Kalkül zur Heraushebung des jeweils eigenen Wahrheitsanspruchs. Das ›trialogische Lernen‹ versucht deshalb, das Von- und Miteinanderlernen von Juden, Christen und Muslimen einerseits auf Gemeinsamkeiten auszurichten, andererseits die bleibenden Unterschiede mit Respekt und Ehrfurcht zu betrachten. Es basiert auf der Überzeugung, dass die von Anfang an miteingebauten Seitenblicke und Begegnungen Vorurteile gar nicht erst entstehen lassen oder sich frühzeitig minimieren. Aus dem trialogischen Miteinander wächst so im Idealfall eine starke Kraft gegen antisemitische Tendenzen. Der Beitrag verdeutlicht Grundlinien dieses Lernmodells.
1.
Die ›Kinder Abrahams‹, präsentiert für Kinder
»Die Söhne Abrahams. Was Juden, Muslime und Christen verbindet«1! Mit dieser Titelstory eröffnet das Kindermagazin »Dein SPIEGEL« 2011 das Kalenderjahr. Als ›SPIEGEL für Kinder‹ im Jahr 2009 gegründet – Zielgruppe sind die Acht- bis Zwölfjährigen – versucht das weit verbreitete Magazin eine Aufbereitung von aktuell relevanten Themengebieten aus allen gesellschaftsprägenden Feldern. Im Januar 2011 also lächeln uns drei etwa zehnjährige Knaben auf der Titelseite an. Alle dunkelhaarig und dunkeläugig, in freundschaftlicher Geste verbunden, der eine durch den Gebetsschal als Jude, der zweite durch das Kopftuch als Muslim, der dritte durch ein Kreuz in der Hand als Christ identifizierbar. Im Hintergrund lässt sich verschwommen der Felsendom von Jerusalem erkennen. 1 Dein SPIEGEL Nr. 1/2011.
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Georg Langenhorst
Die Verbundenheit von Judentum, Christentum und Islam im gemeinsamen Stammvater Abraham schafft es also als Titelstory auf das Frontcover eines der meistverbreiteten Kindermagazine in Deutschland. Auf sechs Text- und Bildseiten wird die Geschichte von Abraham als »Urvater der Religion«2 ausführlich als gemeinsame Grunderzählung präsentiert. Auffällig dabei: Erzählt werden einerseits die Geschichte und Wirkungsgeschichte der Bibel (nicht des Koran), andererseits geht es um die Situation eines jüdischen Mädchens und eines palästinensischen Jungen in Israel heute. Entfaltet wird so zwar ein für deutsche Kinder interessanter Zusammenhang, der aber zweifach von uns entfernt ist: einerseits zeitlich (»der Abraham der Bibel«), andererseits geographisch (»Situation in Israel heute«). Dass die abrahamischen Religionen bei uns, in Deutschland oder in Europa zusammenleben, dass die interreligiösen Gemeinsamkeiten und Unterschiede unser heutiges Alltagsleben mitprägen, wird kaum angedeutet. Religion, so der wahrscheinlich gar nicht bewusst intendierte, aber unterschwellig eindeutige Ton von »Dein SPIEGEL«, hat vorrangig etwas mit einer anderen Zeit und einem anderen Teil dieser Erde zu tun. Ziel des Beitrags ist gleichwohl ein verständnisfördernder und vorurteilsabbauender Blick auf die neu ins Bewusstsein rückende religiös-kulturelle Verbundenheit. Diese Konzeption kann man in Frage stellen, gewiss. Aber entscheidend: Dass dieses Kindermagazin sich des Themas der Verbundenheit in Abraham überhaupt annimmt, zeigt eindrücklich, wie sehr der Gedanke einer ›abrahamischen Ökumene‹ sich im Laufe der letzten Jahre als tragendes Prinzip durchgesetzt hat und weiter vorangetrieben wird. Ohne Übertreibung wird man sagen können: Die neue Betonung des gemeinsamen Ursprungs von Judentum, Christentum und Islam in Abraham gehört zu den wichtigsten und in der Rezeption erfolgreichsten Grundzügen der Theologiegeschichte der letzten 30 Jahre. Dass es dabei auch um einen »Streit um Abraham« geht, um das, »was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint«3, gehört grundlegend zu den Merkmalen dieser Motivgeschichte. Pädagogisch zentral: Diese spannungsvolle Verbundenheit in Abraham ist ein Thema schon für Kinder. In der religionstheologischen Diskussion, aber auch in der Religionspädagogik hat sich für das zugrundeliegende Verständnis der Begriff des ›Trialogs‹, der ›trialogischen Religionspädagogik‹4 etabliert. Beide Begriffe sind umstritten. Deshalb sollen sie kurz charakterisiert werden, bevor die Frage in den Fokus rückt, was und wie trialogische Lernwege zu einer Antisemitismusprophylaxe beitragen können. 2 Ebd., 50. 3 Vgl. grundlegend: Karl-Josef Kuschel, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, München 1994. 4 Vgl. Georg Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik. Interreligiöses Lernen zwischen Judentum, Christentum und Islam, Freiburg 2016.
Trialogisches Lernen – ein didaktischer Weg zur Vorbeugung gegen Antisemitismus
2.
101
›Trialog‹: Konturen von Konzept und Perspektive
›Trialog‹ ist ein zunächst sperrig wirkendes Kunstwort, das sich über etymologische Sprachlogik hinwegsetzt, da ›Dialog‹ als ›Wechselrede‹ ja nichts mit der Zahl zwei zu tun hat, die dann auf drei/›tri‹ erweiterbar wäre. Es bezeichnet jedoch einen Sachverhalt, der in anderen Begriffen nicht gleichwertig erfasst wird. Mit ihm lassen sich die auf Begegnung, Austausch und Annäherung abzielenden Kommunikationen zwischen den drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam präzise benennen. Der Tübinger Judaist Stefan Schreiner hat im Sinne einer Plausibilisierung des Begriffs darauf hingewiesen, dass das Wort ›Trialog‹ in genau dem beschriebenen Sinn bereits mittellateinischen Ursprungs sei. Historisch betrachtet ließen sich »genügend Beispiele finden, die seine Verwendung zur Bezeichnung eines Gesprächs mit drei Beteiligten nicht nur zu belegen, sondern auch zu rechtfertigen geeignet sind«.5
2.1
Begriff
Vor allem im angloamerikanischen Raum findet sich der Begriff Trialog seit Beginn der 1970er Jahre als Fachterminus für die Begegnungen von Judentum, Christentum und Islam. Juden und Muslime bringen den Begriff erstmals ins Spiel. 1973 entwarf der aus Wien stammende New Yorker jüdische Gelehrte Ignaz Maybaum erstmals die Vision eines zeitgenössischen Trialogs zwischen Juden, Christen und Muslimen6. Und wenig später, 1979, kennzeichnet der US-amerikanische Muslim Mahmud Awan den »Trialog der abrahamitischen Glaubensbekenntnisse« als »ein günstiges Beginnen, das ausgedehnt werden muss«7. Spätestens seit den 1990er Jahren findet der Begriff des Trialogs auch im deutschen Sprachraum als inzwischen eindeutig verwendeter Fachterminus seine Verwendung. Schon 1983 konnte der jüdische Theologe Pinchas Lapide zum »brüderlichredlichen Trialog« aufrufen, vor allem im Interesse »unserer heutigen Glaubwürdigkeit«8 als an Gott Glaubende. Der Tübinger Theologe Karl-Josef Kuschel etablierte diesen Begriff in seiner 2007 erschienenen Basisstudie über »Juden 5 Stefan Schreiner, Trialog der Kulturen. Anmerkungen zu einer wegweisenden Idee, in: Clauß Peter Sajak (Hg.), Trialogisch lernen (2010), 18–24, hier 19. 6 Vgl. Ignaz Maybaum, Trialogue between Jew, Christian and Muslim, London 1973. 7 Mahmud Awan, Die Glaubensgemeinschaft und die Weltordnung aus der Sicht des Islam, in: Isma’il Raji al Faruqi (Hg.), Judentum, Christentum, Islam. Trialog der Abrahamitischen Religionen, Frankfurt 1986, 121–137, hier 123. 8 Pinchas Lapide, Das jüdische Verständnis vom Christentum und Islam, in: Martin Stöhr (Hg.), Abrahams Kinder. Juden – Christen – Moslems, Frankfurt 1983, 1–28, hier 26.
102
Georg Langenhorst
Christen Muslime. Herkunft und Zukunft«9 als Leitbegriff und Grundprinzip künftigen theologischen Denkens. Aus Ehrfurcht vor Gott, aus Achtung vor der anderen religiösen Tradition, in Respekt vor den andersgläubigen Menschen, im Wissen um die faktische Pluralität des Nebeneinanderexistierens geht es im Trialog von Judentum, Christentum und Islam darum, einen Weg immer besserer gegenseitiger Kenntnis zu beschreiten. Dabei ist stets beides zu beachten: Verbindendes und Trennendes. Trialog strebt nie eine Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Beteiligten an, sondern die umfassende Beachtung der jeweils beiden Geschwisterreligionen.
2.2
Herausforderung für schulisches Lernen
Wo liegt die Herausforderung des Trialogs von Judentum, Christentum und Islam für die Religionspädagogik? Welche Folgerungen ergeben sich für den schulischen Religionsunterricht? Interreligiöses Lernen heute ist in erster Linie die Verständigung der drei in Nähe und Trennung rätselhaft verbundenen Abrahamsreligionen Judentum, Christentum und Islam. Gerade im Blick auf die weltpolitischen Herausforderungen unserer Zeit stellt sich die Frage in aller Dringlichkeit: Wie können Juden, Christen und Muslime gemeinsam und voneinander lernen? Die Vorbeugung gegen antisemitische Gefühle und Tendenzen ist dabei nicht das Hauptmotiv, wohl aber als Nebenstrang ständig präsent. Im Ziel steht ein besseres Verstehen als Voraussetzung zur friedlichen Konvivenz. Der britische Großrabbiner Jonathan Sacks beschrieb in einem 2002 erschienenen wegweisenden Buch eine Grundhaltung, die derartige trialogische Lernprozesse nicht nur auszeichnet, sondern überhaupt erst ermöglicht. Er hebt grundsätzlich die »Würde der Differenz«10 hervor. Das Fremde und Andere der dialogisch betrachteten Partner ist nichts Defizitäres, nichts Abzuwertendes, vielmehr hat gerade das Trennende eine eigene Würde. Wenn Lernende diese grundlegenden Erfahrungen und Einsichten von früh auf miteinander teilen können, wäre auch ein entscheidender Schritt gegen das Aufkommen und die Verbreitung von Antisemitismus getan. Unter dieser Voraussetzung lassen sich einige allgemeine Eckpunkte trialogischen Lernens markieren: – Religionspädagogisch verantwortbar von Gott reden heißt trialogisch, stets zu bedenken, dass ein und derselbe Gott nicht nur in meiner eigenen Religion, 9 Karl-Josef Kuschel, Juden Christen Muslime. Herkunft und Zukunft, Ostfildern 2007; Ders.: Die Bibel im Koran. Grundlagen für das interreligiöse Gespräch, Ostfildern 2017. 10 Vgl. Jonathan Sacks, The Dignity of Difference. How to avoid the Clash of Civilizations? London/New York 2002.
Trialogisches Lernen – ein didaktischer Weg zur Vorbeugung gegen Antisemitismus
103
sondern in den drei in sich noch vielfach ausdifferenzierten Religionen von Judentum, Christentum und Islam verehrt wird. Dieser grundlegende Gedanke schließt die Einsicht ein, dass die in den drei Religionen ausgebildeten Gottesvorstellungen – trotz aller Gemeinsamkeiten – sehr wohl in vielen Facetten voneinander abweichen. – Religionspädagogisch von Konfession reden heißt trialogisch, den Weg meiner Religion als Heilsweg zu bekennen und zu praktizieren, ohne den abrahamischen Geschwisterreligionen die Möglichkeit eines eigenen, von meinem Weg abweichenden Zugangs zum Heil prinzipiell und kategorisch abzusprechen. Ein gegenseitiges inklusivistisches Verständnis im Gefolge von ›Nostra Aetate‹11 ermöglicht es, die Geschwisterreligionen als von Gottes Wahrheit und Heilswillen erfüllte Dimensionen wertschätzen und respektieren zu können. – Religionspädagogisch von interreligiösem Lernen in trialogischem Geist reden heißt schließlich, sich im Rahmen einer Hermeneutik der wechselseitigen Anerkennung so intensiv wie möglich mit den beiden anderen monotheistischen Religionen zu befassen – ohne dabei die weiteren Weltreligionen auszugrenzen. Ein immer besseres gegenseitiges Kennenlernen, ein vertiefendes Erfahren von Gemeinsamkeiten, eine immer klarere Sicht auf bleibend trennende – in Respekt und Ehrfurcht wahrgenommene – Eigenheiten markieren die Wege eines religionspädagogischen Wegs in die Zukunft. Wie aber können diese allgemein Orientierung gebenden, religionspädagogischen Vorgaben konkret didaktisch umgesetzt werden?
2.3
Nicht ein neues Lernfeld, sondern ein Prinzip
Der Religionsunterricht wird mit (über-)großen Erwartungen konfrontiert. Angesichts der vielfältigen Ausdifferenzierungen der postmodernen Gesellschaft werden von Religionslehrer*innen Kompetenzen erwartet, die weit über die binnentheologische Fachkompetenz und die didaktische Vermittlungskompetenz hinausgehen. Zu all den vielen Kompetenzanforderungen mit dem ›trialogischen Feld‹ noch eine weitere hinzuzufügen, wäre deshalb eine Überforderung, die eher kontraproduktiv wirken könnte. Es geht also nicht darum, zu den bereits vorhandenen Lernbereichen noch einen weiteren hinzuzufügen. Vielmehr soll die trialogische Perspektive verstanden werden als ein Grundprinzip christlichen Denkens, das von vornherein von einer Wertschätzung der Geschwisterreligionen getragen ist. Diese Wertschätzung wirkt als emotionale und kognitive Gegenkraft gegen das Aufkommen 11 Vgl. Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 50–88.
104
Georg Langenhorst
und die Verbreitung antisemitischer Tendenzen. Faktisch gibt es die drei Religionen, die sich ausgehend von der hebräischen Bibel auf den einen Gott beziehen. Schon Schüler*innen der Grundschule wird mehr und mehr bewusst, dass die drei Gruppen sowohl auf der weltpolitischen Ebene wie in unserem Alltag aufeinandertreffen. In der Besinnung auf Gott gilt es so stets mitzubedenken, dass es dieses geschwisterliche Miteinander gibt – in Nähe und Distanz, in Verbrüderung und Streit. Trialogisch denken lernen ist so primär die Aufforderung, sich selbst anders wahrzunehmen, die eigene Identität in Öffnung und Binnenperspektive klarer zu erkennen und zu profilieren. Das kann für Grundschüler*innen im Rahmen ihrer jeweiligen Lebenswelt und auf ihrem Entwicklungsstand heißen: – Trialogisch denken und handeln zu lernen entspringt dem grundsätzlichen Selbstverständnis von Christ*innen: Kinder sind und werden sich immer mehr der Existenz der abrahamischen Geschwisterreligionen bewusst und betrachten sie mit Neugier, Respekt und Achtung. – Trialogisches Lernen betrifft das konkrete, seit Jahrzehnten in den schulischen Lehrplänen fest verankerte Lernfeld ›Weltreligionen‹ oder ›interreligiöses Lernen‹: In ersten Annäherungen erfahren und erkennen Kinder Gemeinsamkeiten und Unterschiede. – Auf einer dritter Ebene geht es zudem im Sinne des Begegnungslernens darum, Kinder aus den drei abrahamischen Religionen – nach den konkreten Möglichkeiten vor Ort – »in ein konstruktives Gespräch über Lebenspraxen zu bringen, das zu Verstehen, Respekt und Wertschätzung führen will«12. Die Bedeutung dieser Lernprozesse für die Antisemitismusprophylaxe liegt auf der Hand. Dabei wird man sich im Blick auf das Begegnungslernen häufig mit medialer Präsentation begnügen müssen. Wo jüdische Kinder als Beziehungspartner fehlen, kann man ihre Perspektiven durch Medien wie die neue Kindertora13 einspielen. Die Präsenz des Judentums – wenigstens über derartige Medien – ist umso wichtiger, weil jüdische Kinder nicht überall vor Ort sein können. Antisemitischen Tendenzen wird man nur begegnen können, wenn das Judentum in interreligiösen Prozessen nicht ausgeblendet wird. Wie kann das konkret umgesetzt werden?
12 Clauß Peter Sajak, Trialogische Religionspädagogik und Komparative Theologie. Strukturelle Analogien – produktive Kollisionen, in: Rita Burrichter/Georg Langenhorst/Klaus von Stosch (Hg.), Komparative Theologie: Herausforderung für die Religionspädagogik. Perspektiven zukunftsfähigen interreligiösen Lernens, Paderborn 2015, 31–48, hier: 45. 13 Vgl. Georg Langenhorst/Elisabeth Naurath (Hg.), Kindertora – Kinderbibel – Kinderkoran. Neue Chancen (inter-)religiösen Lernens, Freiburg 2017.
Trialogisches Lernen – ein didaktischer Weg zur Vorbeugung gegen Antisemitismus
3.
105
Antisemitismus-Prävention in der Praxis
Die besten Chancen für ein religiöses Lernen, in dem das Judentum und jüdische Menschen immer schon einen ganz selbstverständlichen Platz innehaben, liegen gleichwohl in solchen Lernarrangements, in denen es eben ›ganz normal‹ ist, dass es christliche Kinder, jüdische Kinder, muslimische Kinder, andersgläubige Kinder und gar nicht gläubige Kinder gibt. Wenn Kinder in einem auch religiös pluralen Kontext aufwachsen, werden sich viele Vorurteile gar nicht erst aufbauen oder im täglichen Miteinander zumindest leichter abbauen lasen.
3.1
Die ›Drei-Religionen-Grundschule‹
Von diesem Grundsatz ist das trialogische ›Vorzeigemodell‹ überzeugt: die »DreiReligionen-Grundschule«14 in Osnabrück. Sie wurde zum Schuljahr 2012/13 nach langjährigen Vorplanungen als Modellversuch ins Leben gerufen. Organisiert in der Trägerschaft der Schulstiftung des Bistums Osnabrück sollen Juden, Christen und Muslime hier gemeinsam Schule so erleben, dass Kinder aus den drei abrahamischen Religionen – »lernen, über ihre eigene Religion so zu sprechen, dass Menschen anderer Religionen sie verstehen können, – hören und erleben, wie Gleichaltrige der jeweils anderen Religionen leben, wie der Alltag durch Religion geprägt wird und welche religiösen Feste sie feiern, – lernen, die Welt aus der Perspektive der Mitschüler*innen anderer Religionen zu sehen«. Dadurch werden verschiedene Ziele und Kompetenzen erreicht. Die Schüler*innen – »nehmen Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Religionen wahr, – erfahren so, dass nicht alles für alle gleich gültig ist, – üben auf Grund dieser Erfahrung Toleranz ein, die andere mit den als fremd empfundenen Glaubensüberzeugungen akzeptiert, – sind sensibel im Umgang mit Menschen anderer Überzeugung.«15 Das Schulprofil an der »Drei-Religionen-Grundschule« zeigt sich entsprechend in einer Lebens- und Lerngemeinschaft, »die die religiösen Überzeugungen, Lebensweisen und Riten der drei beteiligten Religionen vielfältig zum Thema macht; religiöses Wissen und religiöse Praxis, respektvolle 14 www.drei-religionen-schule.de (Stand: 20. 05. 2020). 15 So in der offiziellen Broschüre »Drei-Religionen-Grundschule«, o. S.
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Begegnung und friedliche Verständigung trotz unterschiedlicher religiöser Überzeugungen sind zentrale Lern- und Erziehungsziele. So sollen Feste der religiösen Jahreskreise in Schulleben und -kultur aufgegriffen werden; die Kinder sollen ihre Religion im eigenen Religionsunterricht kennen- und verstehen lernen und zusätzlich über Feste, Projekttage und im alltäglichen Zusammenleben authentisch gelebte Praxis der ihnen fremden Religionen ihrer Mitschüler*innen erfahren können.«16
Um diese Ziele zu erreichen soll unter anderem im prinzipiell jeweils eigenständigen jüdischen, christlichen und islamischen Religionsunterricht pro Halbjahr ein gemeinsames Thema zeitgleich erarbeitet werden, ausgerichtet auf eine Präsentation vor den Kindern der jeweils anderen Religionen. »Mögliche Themen sind z. B. Gebet, Gebetsräume, die heiligen Schriften. Auf die Erarbeitung im eigenen Religionsunterricht folgt eine Phase des Dialogs, z. B. als Projekttag, wo die Kinder ihre Ergebnisse ihren Mitschüler*innen, die nicht ihrer Religion angehören, vorstellen und erklären«17. Darüber hinaus eröffnen die von allen zusammen gestalteten Lebens- und Lernzeiten außerhalb des Unterrichts die Möglichkeit, Riten, Gebräuche und alltägliche Elemente der anderen Religionen auch abseits von didaktisch geplanten Lernschritten kennenzulernen. Bei gemeinsamen Mahlzeiten machen sich die Kinder etwa mit den Speisevorschriften und -riten der anderen Traditionen vertraut. Aus solcherart geteilten Erfahrungen sollen und können dann erneut Fragen in den Unterricht hinein erwachsen. Wichtig ist gerade auch das Zusammenleben und -lernen von Muslim*innen und Jüd*innen, ist doch Antijudaismus in Deutschland gerade – nicht nur! – ein Problem zwischen den älteren und jüngeren Glaubensgeschwistern der Christ*innen. Wenn christliche Initiativen Raum für derartige Begegnungen schaffen – umso besser!
3.2
Lernen mit der Kindertora
Die Bedingungen dieses vorbildhaften trialogischen ›Leuchtturmprojekts‹ lassen sich nicht an allen Orten vorfinden oder herstellen. Im Normalfall und im Alltag wird man sehr oft auf Medien angewiesen sein. Von 2014–2016 erschien mit »Erzähl es deinen Kindern«18 die erste eigenständige deutschsprachige Kindertora nach der Shoa. Ein trialogischer Idealfall: Erstmals überhaupt liegen 16 Winfried Verburg, Interreligiös Schule machen, in: KatBl 137 (2012), 61–63, hier 62. Vgl. auch Ders., Juden, Christen und Muslime machen Schule. Ein interreligiös ausgerichtetes Experiment im Bistum Osnabrück, in: Stimmen der Zeit 229 (2011), 3–11. 17 Ebd., 62f. 18 Bruno Landthaler/Hanna Liss (Hg.), Erzähl es deinen Kindern. Die Torah in fünf Bänden, Berlin 2014–2016.
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gleichzeitig Kinderbibeln19, Kinderkorane20 und eben diese Kindertora vor. Wie leicht, die Erzählungen über Adam, Abraham oder Mose nebeneinander zu legen und zu vergleichen! Ganz implizit wächst das Wissen um tiefe Gemeinsamkeiten. Aber auch Unterschiede werden deutlich. Das betont Bruno Landthaler, Herausgeber und Übersetzer der Kindertora. Ja, in der »christlichen Welt wurde die Kindertora durchgehend positiv aufgenommen«, erzählt er im Gespräch. Gleichzeitig betont er jedoch, dass christliche Kinder eben auch »Fremdheitserfahrung[en]« machen werden. Die Ästhetik wählt eigene Wege. Hebräische Namen sind näher am Original wiedergegeben: nicht Mose sondern Mosche, nicht Ester, sondern Hadassa. Der Gottesname wird nicht ausgeschrieben, sondern als »G’tt« wiedergegegeben. Durch solche und weitere Variationen wird deutlich: Altes Testament und Hebräische Bibel sind eben nicht identisch. Das Judentum als Geschwisterreligion behält und erhält in der Kindertora sein eigenes Profil. »Auf jeden Fall« lernen Lesende »einiges darüber, wie Judentum, gerade in Deutschland, auch ›ticken‹ kann«21, erklärt Landthaler.
4.
Ausblick
Eine Garantie für gelingende Antisemitismus-Prävention gibt es nicht. Im religionstheologischen Modell des ›Trialogs‹ und in den didaktischen Konzeptionen einer ›trialogischen Religionspädagogik‹ finden sich jedoch Ansätze, die ein friedvolles Miteinander und ein interreligiöses Lernen anzielen und ganz praktisch erschließen. Zurück zu den drei »Söhnen Abrahams« auf dem Titelbild von »Dein Spiegel«. Knapp zehn Jahre später könnte man das Thema wieder aufnehmen und die Entwicklungen aufzeigen. Schon das Titelbild müsste anders aussehen: Da sollten drei Kinder zu sehen sein, gut. Aber bitte nicht nur Söhne, sondern auch Töchter. Und sie spielen miteinander, oder lesen in den kindgerechten Ausgaben ihrer Identität stiftenden Gründungsschriften. In einer Kleidung, die unserer heutigen Mode entspricht. Heute. Und vor einem städtischen Hintergrund in Deutschland. Hier.
19 Vgl. jetzt: Georg Langenhorst/Tobias Kreitschi, Kinderbibel. Die beste Geschichte aller Zeiten, Stuttgart 2019. 20 Für Grundschule perfekt geeignet: Hamideh Mohagheghi/Dietrich Steinwede, Was der Koran uns sagt. Für Kinder in einfacher Sprache, München 2010. 21 Bruno E. Landthaler, in: Kontakt. Informationen zum Religionsunterricht im Bistum Augsburg 15 (2020), 4–9.
Thomas Schlag
Das Recht des Kindes auf Religion ist auch ein Recht auf Antisemitismus-Prävention – ein religionspädagogisches Plädoyer
Einleitung Es klingt ganz selbstverständlich und doch ist die Konkretisierung alles andere als eindeutig, wenn die Süddeutsche Zeitung am 10. Mai 2020 kommentiert: »Antisemitische Parolen gehören, wie in diesen Tagen auf Demos zu sehen, zum Alltag. Auch das war so mal undenkbar. Zu selten gibt es Widerspruch; die Urheber bewegen sich in ihrer von Akzeptanz und Ermunterung geprägten Welt und sind für Fakten nicht zu erreichen. Dennoch braucht man gegen Ressentiments vor allem Aufklärung. Es wird zu wenig getan, um Kinder und Jugendliche zu erreichen, bevor sich bei ihnen ein falsches Weltbild verfestigt.«1
Dass angesichts eines unübersehbar neu aufflammenden Antisemitismus nicht nur höchste politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit, sondern Prävention schon im Kindes- und Jugendalter unbedingt notwendig ist, wird und bleibt hoffentlich unbestritten. Allerdings sind die konkret zu ergreifenden Maßnahmen und zu gehenden Schritte keineswegs schon automatisch klar. Im genannten Kommentarauszug zeigt ein einziges Wort die Brisanz, Notwendigkeit und Komplexität auf beinahe unscheinbare Weise an: Es ist das »bevor«, das hier aufgerufen wird und das doch sehr viel mehr darstellt als nur eine temporale Satzverbindung. Mit der Sensibilisierung für dieses »bevor« kommt ein ganzer Kosmos von Lebensphasen, Prägungen, Bildungserfahrungen und Bildungsaufgaben, Lehrenden und Lernenden in Familie, Gesellschaft, Schule und Kirche in den Blick. Das »bevor« eröffnet einen Raum, in dem das, was nicht sein soll, frühzeitig zu vermeiden und zu unterbinden ist. Und zugleich steckt in diesem »bevor« ein höchst vielfältiges Bedingungs- und Beziehungsgeflecht, das sich immer nur ausschnitthaft erfassen und deshalb zukünftig weder ganz und gar
1 Jens Schneider, Sorgenvolle Mienen reichen nicht, in: Süddeutsche Zeitung, 10. Mai 2020, https://www.sueddeutsche.de/politik/antisemitismus-sorgenvolle-mienen-reichen-nicht-1.49 02895 (Stand 20. 05. 2020).
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Thomas Schlag
entschlüsseln noch im Blick auf seine Prägekräfte und Folgewirkungen monokausal beeinflussen lässt. Wer also Kinder und Jugendliche antisemitismuspräventiv bilden will, muss von Beginn an mit Leerstellen, blinden Flecken, Entzogenheiten und Unverfügbarkeiten2 rechnen. Und zugleich ist darauf hinzuweisen, dass bereits im frühesten Kindesalter unterschiedliche Prägekräfte dafür sorgen können, dass »Kinder in Not« im Jugendalter eine hohe Affinität zu politischen Radikalismen entwickeln. Kinder, die schon in der frühen Lebensphase einer sozialen Realität gegenüberstehen, die sie nicht bewältigen können, sind gezwungen, sich in den Schutz und in die Sicherheit von Autoritäten zu flüchten.3 Oder noch prägnanter formuliert: »Politische Muster sind Kindheitsmuster«.4 Dies bedeutet, dass jegliche Antisemitismuspräventionsarbeit umso wirksamer sein wird, desto umfassender sie die Wahrnehmungs- und Lebensbedingungen des Kindes – und damit den gesamten Bezugsrahmen des individuellen Aufwachsens – in den Blick nimmt. Denn nur dann können die möglichen Ursprungsgründe für Antisemitismus in ihrer Komplexität zumindest annäherungsweise in den Blick kommen. Inwiefern diese Einsichten im Blick auf Antisemitismus-Prävention für religiöse Bildung von herausfordernder Bedeutung sind, soll im Folgenden in mehreren Schritten ausgeführt werden. Eingesetzt sei mit einigen, nur auf den ersten Blick fern erscheinenden Bemerkungen zur Frage, in welchem Bezugsrahmen eine religiöse ausgerichtete Antisemitismus-Prävention zu stehen kommt.
1.
Eine produktive Erinnerung an das »Recht des Kindes auf Religion«
Die Formel vom »Recht des Kindes auf Religion« ist über die vergangenen Jahrzehnte hinweg in der Religionspädagogik nicht nur zum geradezu geflügelten Wort geworden, sondern firmiert bis heute als eine der grundlegenden und wesentlichen Orientierungsmarken religiöser Bildung. In dieser Formel kommt die Einsicht in die Möglichkeiten und Notwendigkeiten subjektorientierter Bildung prägnant zum Ausdruck.5 Die religionspädagogische Intention dieser Si2 Vgl. Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Wien und Salzburg 2018. 3 Vgl. Detlef Oesterreich, Flucht in die Sicherheit. Zur Theorie des Autoritarismus und der autoritären Reaktion, in: Susanne Rippl, Christian Seipel, Angela Kindervater (Hg.), Autoritarismus. Kontroversen und Ansätze der aktuellen Autoritarismusforschung, Opladen 2000, 69–90. 4 Herbert Renz-Polster, Erziehung prägt Gesinnung. Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte – und wie wir ihn aufhalten können, München 2019, 201. 5 Vgl. Friedrich Schweitzer, Das Recht des Kindes auf Religion, Gütersloh 2013.
Das Recht des Kindes auf Religion ist auch ein Recht auf Antisemitismus-Prävention
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gnatur kann dahin gehend zusammengefasst werden, dass Kinder aufgrund ihrer je eigenen persönlichen Fragen, individuellen Entwicklungspotenziale und aufgrund ihrer je eigenen Würde den wesentlichen Ausgangspunkt und Beweggrund für die Legitimation und die Chancen religiöser Bildung darstellen. Werden sie als eigenständige, zur Reflexion fähige und im wahrsten Sinn des Wortes freiheitsbewusste und entdeckungsbereite, gestaltungs- und ausdrucksfähige Wesen wahr- und ernstgenommen, so ist jeglicher Entmündigungs- und Indoktrinationsabsicht durch religiöse Bildung von Beginn an der Boden entzogen bzw. so verbietet sich jegliche religiös konnotierte Überwältigungspraxis unbedingt. Die bis heute aktuelle Bedeutung dieser Formel liegt darüber hinaus darin, dass Religion und religiöse Prägung – im scharfen Gegensatz zu einer jahrhundertelangen unheilvollen Erziehungsgeschichte und die damit verbundenen grundsätzlichen Vorbehalte – nicht als potenzielle Gefahr für das kindliche Bewusstsein, sondern als hilfreiche Ressource für die individuelle Lebens-, Weltund Transzendenzorientierung angesehen wird. Dem liegt ein Verständnis von Religion zugrunde, das von einem durch Religion eröffneten individuellen Freiheitsspielraum ausgeht, und nicht von einem wie auch immer gearteten religiös sanktionierten dogmatischen Lehrgebäude oder moralisch aufgeladenen Forderungskatalog. Zugleich wird mit dieser Formel im Bereich der Schule die Anschlussfähigkeit an die wesentlichen allgemeinbildenden Prinzipien und Zielsetzungen hergestellt: Mit der Betonung des »Rechts des Kindes auf Religion« ist allen Formen einer Funktionalisierung durch staatliche wie kirchliche Autoritäten und Instanzen ein Riegel vorgeschoben.
2.
Antisemitismus-Prävention – Eindeutigkeiten und Problematisierungsbedarf
Diese etwas ausführlicheren Vorbemerkungen sind notwendig, weil sich auf dem Feld der Antisemitismus-Prävention die bildungsbezogenen Intentionen, Zielsetzungen und oftmals die damit verbundenen pädagogischen Strategien und Methoden auf den ersten Blick überaus klar und widerspruchsfrei darstellen. Umso deutlicher – so mag man intuitiv vermuten – liegt die Sachlage vor Augen, wenn im Kontext religionsbezogener und religiöser Bildung Möglichkeiten der Antisemitismus-Prävention sondiert werden. Und ist nicht noch weniger Problematisierungsbedarf, wenn es dabei schwerpunktmäßig um die Kinder bzw. den Grundschulunterricht gehen soll? Tatsächlich kann man sich ja nichts mehr wünschen, als dass sich Kinder so früh und so intensiv wie möglich mit dieser Thematik auseinandersetzen, schon in dieser Lebensphase innere Ressourcen von Sensibilität und Empathie für den
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Thomas Schlag
bwz. die Fremde(n) entwickeln und damit eine thematisch fokussierte religiöse Bildung im Horizont des »Wehret den Anfängen« für diese Altersgruppe entwickelt und entfaltet wird. Darüber hinaus ist festzuhalten: »Auch wenn antisemitisches Denken bei Kindern und Jugendlichen eher fragmentarisch auftritt und nicht als geschlossenes und umfassendes Weltbild bezeichnet werden kann, müssen antisemitische Äußerungen im schulischen Rahmen wahr und ernst genommen werden.«6
Denn natürlich ist der Kontext der Grundschule kein ganz anderer gesellschaftlicher Kontext als die Lebenswirklichkeiten älterer Jugendlicher oder der Erwachsenen – und kann ein Konglomerat verschiedenster Ausdrucksformen des Antisemitismus darstellen. Diese können unterschiedliche Ebenen umfassen: »… latente oder offene antisemitische Äußerungen bei Schülerinnen und Schülern, aber auch bei Pädagoginnen und Pädagogen, die Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden als ›anders‹ und eine damit verbundene Ungleichbehandlung von jüdischen Kindern und Erwachsenen, die Darstellung und Verbreitung antisemitischer Stereotype in Schulbüchern und Bildungsmaterialien sowie eine weitgehende ‹Normalisierung jüdischer Nichtpräsenz’, das heißt die fehlende Wahrnehmung für und Unsichtbarkeit von jüdischen Schülerinnen und Schülern.«7
Zudem ist der pädagogische Impetus auf eine frühe präventive Bildung, die bis in das Jugendalter hinein seine positiven Folgewirkungen zeitigt, unbedingt zu begrüßen. Glücklicherweise haben eine ganze Reihe von kirchlichen Stellungnahmen über die vergangenen Jahrzehnte hinweg8 sowie eine Vielzahl von religionspädagogischen Reflexionen9 hier klar Position bezogen. Wie schon ganz zu Beginn dieses Beitrags gesagt: Dass man sich auf das »Bevor« hin pädagogisch ausrichtet, sollte unbestritten sein. Und doch sind die Dinge komplexer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.
6 Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (Hg.), Umgang mit Antisemitismus in der Grundschule. Alltag von Jüdinnen und Juden in Berlin, Auseinandersetzung mit antisemitischen Vorurteilen, Thematisierung des Holocaust, Berlin 2020, 31. 7 Ebd. 8 Vgl. Friedrich Schweitzer, Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als religionspädagogische Herausforderung und Chance, Gütersloh 2014, 75f. 9 Exemplarisch dazu Thomas Schlag, Das reformatorische Menschenbild und die Bildung des Menschen – Konsequenzen für den interreligiös sensiblen Bildungsdialog, in: ZPT 68 (4/2016), 438–452.
Das Recht des Kindes auf Religion ist auch ein Recht auf Antisemitismus-Prävention
3.
113
Problemanzeigen und politikdidaktische Einsichten
In einem weiteren Zwischenschritt verbinde ich deshalb die oben angestellten Bemerkungen zur Frage des »Rechts des Kindes auf Religion« mit politikdidaktischen Einsichten des Überwältigungs- und Indoktrinationsverbots wie des Kontroversitäts- und Diskursgebots10: Diese sind meines Erachtens für die Thematisierung des Antisemitismus deshalb von besonderer Bedeutung, weil Bildungsprozesse in dieser Hinsicht auf scheinbar besonderes klarem, und zugleich besonders heiklem Terrain angesiedelt sind. Tatsächlich stellen sich eine Reihe von keineswegs leicht zu beantworteten Grundfragen und Grundproblemen, die im Folgenden sicherlich nicht vollständig, aber hoffentlich doch ausreichend problemorientiert und vor dem Hintergrund der genannten politikdidaktischen Einsichten angezeigt werden sollen. So ist in mindestens dreifacher Hinsicht das Folgende zu bedenken: Im Blick auf die entwicklungspsychologisch bedingten spezifischen Wahrnehmungs- und Erlebensvoraussetzungen des Kindes muss kritisch bedacht werden, ob die Thematisierung »des Anderen«, von »Hass« und »Ausgrenzung« eine Schreckensdynamik auslösen kann, der sich Kinder dann kaum zu entziehen vermögen. Dies kann verstörende, im Einzelfall sogar traumatisierende Wirkungen erzeugen. Weiter ist zu fragen, ob in der Perspektive eines »Anti« überhaupt konstruktive Bildung möglich ist oder es nicht von Beginn an sozusagen ein »Pro« braucht, auf das sich Kinder sehr viel leichter einzulassen vermögen. Wenn es richtig ist, dass Kinder Unterrichtsthemen in sehr intensivem Maß über Formen der Narration wahrnehmen, so ergibt sich die weitere Problematik, ob hier nicht bestimmte mit antisemitischen Phänomenen verbundene Geschichten vornehmlich als verstörend erlebt werden, weil sie im Worst Case mit erheblicher, gegebenenfalls emotional hoch belastender Suggestionskraft verbunden sind. Die emotionale Aufladung macht jedenfalls eine direkte Thematisierung von Antisemitismus schwierig und stellt die Beteiligten vor die Herausforderung, Widerstände gegen seine Thematisierung zu überwinden und ein offenes Sprechen über Antisemitismus zu ermöglichen.11 Es ist also erst einmal nicht aus10 Zu erinnern ist allerdings daran, dass diese Grundprinzipien des Beutelsbacher Konsenses selbst inzwischen eine, auch religionspädagogisch debattierte, lebhafte und kritische Rezeption erfahren, vgl. Claudia Gärtner, Jan Hendrik Herbst (Hg.), Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik. Diskurse zwischen Theologie, Pädagogik und Politischer Bildung, Wiesbaden 2020. 11 Vgl. Julia Bernstein (Hg.), »Mach mal keine Judenaktion!«: Herausforderungen und Lösungsansätze in der professionellen Bildungs- und Sozialarbeit gegen Antisemitismus. Im Rahmen des Programms »Forschung für die Praxis«, Frankfurt a.M. 2019, https://www.frank furt-university.de/fileadmin/standard/Aktuelles/Pressemitteilungen/Mach_mal_keine_Juden aktion__Herausforderungen_und_Loesungsansaetze_in_der_professionellen_Bildungs-_und _Sozialarbeit_gegen_Anti.pdf (Stand: 11. 03. 2020).
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zuschließen, dass nicht nur bei der Thematik des Holocaust,12 sondern auch in der Thematisierung des Antisemitismus eine Gefühlsebene angesprochen wird, die produktive Unterrichtsprozesse mindestens erschwert, wenn nicht sogar verunmöglicht. Aufgrund des breiten Altersspektrums der in diesem Band in den Blick genommenen 6- bis 12-Jährigen und den damit verbundenen erheblichen Entwicklungsschritten in diesem Altersspektrum stellt sich ohnehin die ganz grundsätzliche Frage, wie zwischen Bildungsangeboten im Grundschulalter und in den ersten Jahren der Sekundarstufe zu differenzieren ist. Im Blick auf allgemeinpädagogische und politisch konnotierte Zielsetzungen ist zu fragen, wie sich die für die Bearbeitung der Antisemitismusthematik bedeutsamen kognitiven Formen von Wissenserwerb damit verbinden lassen, dass sich Kinder ihre Welt eben in nicht nur kognitiver Weise erschließen. Wenn man folglich von der für kindliche Bildung relevanten Dimension der Erfahrungsorientierung ausgeht, liegt die pädagogische Herausforderung darin, dass Kinder sich mit dieser Thematik so auseinandersetzen können, dass nicht nur diese kognitive und diskursive Dimension angesprochen wird.13 Wenn im Rahmen politischer Bildung das Element des Diskursiven eine maßgebliche Bedeutung für gelingende Unterrichtsprozesse darstellt, muss gefragt werden, wie man sich eine solche diskursive Dimension für die Behandlung des Antisemitismus im Unterricht mit Grundschulkindern vorzustellen hat. Schließlich ist in Hinsicht auf die Frage pädagogischer Nachhaltigkeit kritisch zu beleuchten, inwiefern sich präventive Arbeit so ausrichten lässt, dass die Erfahrungen und Kenntnisse, die Kinder zu dieser Thematik machen bzw. die sie erwerben, etwa im Jugendalter noch relevant sein werden. Immerhin ist hier darauf zu verweisen, dass die in anderen Bildungszusammenhängen konstatierte »kindliche Amnesie« möglicherweise auch für den Bereich der AntisemitismusPrävention mitzuberücksichtigen ist. Nun besteht sowohl im Bereich der Antisemitismus-Prävention wie auch im Blick auf die in diesem Band versammelten Beiträge nur wenig Anhalt dafür, dass die genannten Problemanzeigen nicht bereits angemessen im Blick sind. Vielmehr kann nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Entwicklung einer sehr ausdifferenzierten politischen Bildung in den letzten rund zwanzig Jahren eine erhebliche pädagogische Sensibilität im Blick auf die möglichen Gefahren von Überwältigung, Indoktrination und Entmündigung konstatiert werden. Und natürlich ist schlechterdings nicht zu bestreiten, dass Antisemitismus-Prävention notwendiger denn je ist. Aber gerade weil die Sachlage politisch gesehen 12 Vgl. zur Frage des Erinnerungslernens im Grundschulalter den instruktiven Beitrag von Reinhold Boschki in diesem Band. 13 Dass im Bereich der Kindertheologie-Forschung in faszinierender Weise Möglichkeiten produktiver Diskurse nachgezeichnet werden, soll dem nicht widersprechen.
Das Recht des Kindes auf Religion ist auch ein Recht auf Antisemitismus-Prävention
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eindeutig ist, enthebt dies die Bildungsverantwortlichen nicht vor der Aufgabe, hier mit größtmöglicher entwicklungspsychologischer, pädagogischer und religionspädagogischer Sensibilität auf die Thematik und vor allem auf die Kinder selbst zuzugehen.
4.
Eine empirische Zwischenbeobachtung
Dass dies kein leichtes Unterfangen ist, zeigt sich darin, dass Grundschullehrer*innen des Religionsunterrichts die Antisemitismusthematik offenbar nur sehr zurückhaltend behandeln: So weist die jüngste empirische Studie14 auf, dass Lehrer*innen dieser Schulstufe, wenn sie das Thema »Erinnerung an den Holocaust« im Religionsunterricht unterrichten, Schwerpunkte auf »Grundkenntnisse zum Judentum« (68 %), die Frage der »Beziehung Judentum – Christentum« (55 %) oder das »Lernen aus der Geschichte für heute« (45 %) legen. Die Thematik »Antijudaismus, Antisemitismus in der Geschichte« wird hingegen nur von knapp 15 %, die Thematik »Antisemitismus heute« gar nur von etwas mehr als 12 % als ein möglicher Schwerpunkt innerhalb des Erinnerungslernens mitbehandelt. Daraus kann mindestens indirekt geschlossen werden, dass Zusammenhänge zwischen Erinnerungslernen und Antisemitismus nicht hergestellt werden und folglich Antisemitismus-Prävention im Religionsunterricht der Grundschule nur ein Randthema darstellt. Dies erscheint umso erstaunlicher als die Lehrpersonen zur gleichen Frage angeben, dass sie beim Erinnerungslernen durchaus Schwerpunkte auf »Aktuelle Bezüge: Umgang mit Fremden (z. B. Flüchtlinge) heute« (54 %) und »Verbindung mit den Menschenrechten heute« (34 %) legen. Von daher stellt die folgende Aussage einer Grundschullehrperson eher die Ausnahme dar, wenn sie schreibt: »Es ist immer wieder interessant, wie auch schon SuS in der 3. Jahrgangsstufe dieses Thema immer wieder von selbst einbringen, wie auch Kinder in dieser Altersstufe versuchen zu verstehen, was damals geschehen ist, und warum ›so etwas Schlimmes‹ überhaupt geschehen musste. Als Lehrkraft gilt es hier wach zu sein, aufmerksam, geschichtliches Wissen, ethische Grundhaltungen mitzubringen und eine klare Haltung gegen Antisemitismus zu bezeugen. Widerstände gibt es wenig, eher Nachfragen, Wissen wollen und Unverständnis, was ich als L schätzen und achten möchte.«15 14 Vgl. Forschungsgruppe REMEMBER. Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht. Empirische Einblicke und didaktische Impulse, Stuttgart 2020. 15 Die entsprechende Frage des Fragebogens lautete: »Welche Verbindung stellen Sie zwischen »Erinnerung an den Holocaust« und aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen her (Fremdenfeindlichkeit, »Flüchtlingskrise«, Antisemitismus etc.)?«, vgl. Forschungsgruppe REMEMBER. Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht. Empirische Einblicke und didaktische Impulse, Stuttgart 2020.
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So ist von dort aus noch einmal in einem weiteren Schritt zu bedenken, wie sich religiöse Bildung in dieser Gemengelage aus entwicklungspsychologischen, allgemeinpädagogischen und religionspädagogischen Aspekten sinnvoll als antisemitismuspräventive Sensibilisierung manifestieren und profilieren kann.
5.
Eine Arbeitsdefinition von Antisemitismus in religionspädagogischer Perspektive
Dafür soll in einem nochmaligen Zwischenschritt erörtert werden, was denn über den pädagogisch-präventiven Aspekt hinaus den thematischen Kern des Begriffs der Antisemitismus-Prävention ausmacht. Dafür erscheint eine »Arbeitsdefinition« von Antisemitismus hilfreich, die den Blick über gängige Bestimmungen hinaus ausweitet. Dazu sei angemerkt, dass die bis in den Unterricht hinein fatale Ursprungs-, Entwicklungs- und Verlaufsgeschichte des Antisemitismus nur eine Seite der Medaille darstellt. Bekanntermaßen und ganz zu Recht thematisiert der Religionsunterricht den bereits mit dem Narrativ der »Verurteilung Jesu durch die Juden und damit deren Schuld« einsetzenden, sich über die mittelalterlichen Ghettoisierungen und Pogrome fortsetzenden, durch Luthers theologisch verbrämte Judenfeindschaft sich kulturell festsetzenden und von dort aus bis in die nationalsozialistischen Vernichtungslager hin sich tödlich ausbreitenden Judenhass. Und doch muss gefragt werden, ob durch diese Zugangsweisen schon der gesamte Kernbestand der Antisemitismusthematik in den Blick kommt. Und zu diesem Kernbestand gehört die Tatsache, dass es sich bei den historisch rekonstruierbaren Judenverfolgungen, den Entwicklungen zu indoktrinärem Rassismus, Judenhass und organisierter Massenvernichtung bis hin zum aktuellen »alltäglichen« Antisemitismus nicht nur um »Verbrechen an den Juden« handelte und handelt, sondern in allererster Linie um abgründige Verletzungen und Vernichtungen von einzelnen Menschen. Damit sei weder die Einzigartigkeit des Holocaust bestritten noch sollen aktuelle antisemitische Entwicklungen in irgendeiner Form relativiert werden. Ich halte gleichwohl die »Ausweitung« der Blickrichtung auf die Diffamierung und Vernichtung von Juden als Menschen als des »schutzbedürftigen Verletzlichen«16 für einen wesentlichen Ausgangspunkt aller konkreten pädagogischen und politischen Arbeit. Denn nur dann entgeht man der Gefahr, unter der Hand oder indirekt durch bestimmte Formen der Thematisierung Gründe für die Ausgrenzung eben einer bestimmten religiösen 16 Delphine Horvilleur, Überlegungen zur Frage des Antisemitismus, Berlin 2020, 20.
Das Recht des Kindes auf Religion ist auch ein Recht auf Antisemitismus-Prävention
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Gruppe zu suchen und womöglich sogar zu finden. Damit aber würde dem »schwer quantifizierbaren Fundus diffuser Ressentiments« und dem »dumpfe[n] Groll«17 nur immer wieder neue Nahrung zugeführt werden. Denn dies könnte im Worst Case dazu führen, dass die historische und aktuelle Ausgrenzungs- und Opfergeschichte auf die Blickrichtung der damaligen Verfolger und Vernichter sowie die heutigen Diffamierer verengt wird – so als ob sich hier letztlich doch ein erklärbarer Kern finden ließe, der gerade in einem bzw. »im«(!) besonderen »Sosein« des jüdischen Volkes liege. Dann würde die politisch und rassistisch motivierte Sicht auf ein Kollektiv am Ende doch gewisse »Plausibilität« erlangen und sich das über Jahrhunderte hinweg immer wieder gebrauchte Ausgrenzungs- und Vernichtungsnarrativ am Ende als höchst wirkmächtig erweisen. Vor diesem Problemhorizont ist zu überlegen, wie sich »Gründe« und »Phänomene« des Antisemitismus thematisieren lassen, ohne indirekt genau in die Falle vermeintlich eindeutiger Zuschreibungen zu verfallen. Für unbedingt angezeigt halte ich es, antisemitische Sachverhalte bei allen wichtigen historischen und kontextuellen Eigenheiten in ihrem grundsätzlichen menschenfeindlichen Charakter zu charakterisieren – und dies im Sinn einer doppelten Verneinung: Im Sinn einer ersten Negation ist darauf zu verweisen, dass der Antisemitismus mit der denkbar größten Abwertung von Juden als Gesamtkollektiv verbunden ist. Er stellt einen systematischen »Wahn«18 dar, der sich in uneingeschränkter Weise auf die Abwertung und im Prinzip auf die Vernichtung von Juden aufgrund ihres Judeseins hin ausformt. Im Sinn einer zweiten Negation ist diese Zielsetzung aber nicht nur auf die Juden als Kollektiv oder den einzelnen Juden als Teil dieses Kollektivs, sondern auf den Juden als Menschen auszurichten. Und zwar so, dass Kindern nahegebracht wird, dass und in welchem Sinn Juden das Menschsein auf gleicher Ebene wie anderen Menschen zukommt und jede Infragestellung seiner Menschenwürde eine grundsätzliche Verletzung jeglicher Menschenwürde darstellt.19 Wie gesagt, diese zweite Negation wird hier nicht angeführt, um die erste Negation zu relativieren. Sondern sie ist hier und für alle pädagogischen Zielsetzungen mit einzuführen, weil nur und erst dann die tiefer liegende Fatalität des Antisemitismus in seinem allgemeinen Sinn deutlich wird. 17 Gerd Koenen, Mythen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts, in: Christian Heilbronn, Doron Rabinovici, Natan Sznaider (Hg.), Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte, Berlin 2019, 123. 18 Deborah Lipstadt, Der neue Antisemitismus, Berlin, 20f. 19 Im Übrigen gilt hier auf die schon innerjüdisch programmatische Individualität und Pluralität jeder einzelnen Stimme hinzuweisen, wie in der schönen paradoxen Formulierung deutlich wird: »We Jews are notoriously unable to agree about anything that begins with the words ›we Jews‹«, Amos Oz, Fania Oz-Salzberger, jewsandwords, New Haven & London, 2012, 147, oder wie sie es prägnant fassen: »the Jews, a plural noun with numerous singularities«, 176.
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Diese noch tieferliegende Abwertung des Juden als Mensch ist von weitreichender Bedeutung nicht nur für das Verständnis des Antisemitismus, sondern auch für die von dort aus möglichen religionspädagogischen Einordnungen und religionsdidaktischen Folgerungen.
6.
Religionspädagogische und religionsdidaktische Folgerungen
Von den vorgenommenen empirischen Beobachtungen und politikdidaktischen Einschätzungen aus können erste Folgerungen im Blick auf die Zielsetzungen im Kontext religiöser Bildung bzw. des Religionsunterrichts benannt werden: Es geht im Folgenden also um die sach- und kindgemäße Annäherung an die Frage, in welchem Sinn religiöse Bildung im Grundschul- und frühen Sekundarschulalter auf spezifische Art einen Beitrag zur Antisemitismus-Prävention leisten kann. Von der Rede des »Rechts des Kindes auf Religion« aus lässt sich der Grundgedanke des Menschenrechtsbezugs religiöser Bildung20 für die Zielgruppe von Kindern näher entfalten. In der Sensibilisierung für die Würde, Verletzlichkeit und Gefährdetheit jedes Menschen liegt aus meiner Sicht erhebliches Potenzial für konkrete religiöse Bildung mit Kindern und jüngeren Jugendlichen. Durch eine solche grundsätzliche anthropologische Perspektive lassen sich wesentliche der oben markierten pädagogischen, politikdidaktischen und religionspädagogischen Herausforderungen produktiv aufnehmen. Eindrücklich wird in einem Appell an die Lehrkräfte gefordert: »Beschäftigen Sie sich mit Kinder- und Menschenrechten! Es gibt Kraft, darüber nachzudenken, wie ein gutes Zusammenleben und Schule aussehen – nicht nur darüber, wogegen Sie arbeiten müssen. Sie sind keine »Antwortmaschine«, die auf jede Frage die perfekte Antwort haben und für komplexe Zusammenhänge spontan die einzig richtige didaktische Reduktion aus dem Ärmel schütteln muss!«21
Zudem ist unbedingt zu vermeiden, dass bei einem bestimmten vorgegebenen Agendasetting im Horizont der Antisemitismus-Prävention eine Verengung oder sogar Funktionalisierung religiöser Inhalte auf ethische und noch genauer auf eine politisch recht eindeutig ausgerichtete Bildungsthematik stattfindet. Wenn sich religiöse Bildung, wie anfangs gesagt, primär durch die Eröffnung von Freiheits- und Gestaltungsspielräumen auszeichnet, darf der in der Regel ganz offen zu Tage liegende pädagogische Plan einer Antisemitismus-Prävention 20 Vgl. Jasmine Suhner, Menschenrechte – Bildung – Religion. Bezugsfelder, Potentiale, Perspektiven, Paderborn 2020. 21 Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (Hg.), Umgang mit Antisemitismus in der Grundschule. Alltag von Jüdinnen und Juden in Berlin, Auseinandersetzung mit antisemitischen Vorurteilen, Thematisierung des Holocaust, Berlin 2020, 66.
Das Recht des Kindes auf Religion ist auch ein Recht auf Antisemitismus-Prävention
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dieses Grundprinzip nicht von Beginn an aushebeln. So ist darauf zu achten, dass thematische Bildungsziele und Unterrichtsplanungen nicht allzu schnell einer bestimmten »Agenda« unterliegen, aufgrund derer der »Outcome« von Anfang an mehr oder weniger klar ist. Einzusetzen ist folglich nicht primär mit verstörenden oder betroffen machenden Phänomenen antisemitischer Ressentiments. »Dünnes Eis« ist es auch, vermeintliche »Gründe« für rassistische Ausgrenzung zu rekonstruieren. Indem von Beginn an deutlich gemacht wird, dass sich alle Formen solcher Klischees, Diffamierungen und Vernichtungsabsichten auf jeden einzelnen Juden als schutzbedürftigen und verletzlichen Menschen richten, kann sich der Blick von Beginn an hin zu einem gemeinsamen Lernen in der Perspektive auf die Würde des Menschen weiten.22 Solche Zugangsweisen zeigen sich im Bereich der thematisch fokussierten Grundschularbeit schon längst mindestens implizit durch eine stark biografiebezogene Arbeit, indem Einzelschicksale von jüdischen Kindern nachgezeichnet oder auf heute bezogen das Alltagsleben einer jüdischen Familie dargestellt wird. Tatsächlich eignen sich biografische Ansätze bestens, »um die Erfahrungen und die Identitäten von Jüdinnen und Juden in Geschichte und Gegenwart zu beleuchten, seien es Erfahrungen von selbstbestimmtem Leben, selbstbewusster Identität oder Erfahrungen von Antisemitismus.«23 Allerdings stellt sich die Frage, ob dabei nicht nur die Normalität des Alltagslebens und der jeweiligen Religion, sondern auch das völlig unbestreitbare Menschsein als solches ausreichend deutlich wird. Die anfangs aufgenommene Formel vom Recht des Kindes auf Religion ist hier auf die menschen- und kinderrechtliche Perspektive eines Rechts auf geteiltes Menschsein hin zu konkretisieren. Und damit würde religiöse Bildung beim Kern ihrer eigenen Sache angelangen: So ließe sich überlegen, ob nicht enge Verbindungen der Darstellung jüdischen Alltagslebens mit der biblischen Schöpfungsgeschichte (und nicht, wie häufig, nur mit Exoduserfahrung), mit Segen und Bund (und nicht nur mit dem Verlust von Heimat und Tempel), mit dem Hohelied (und nicht nur mit der Hiobsgeschichte) oder mit Freuden- und Lobpsalmen (und nicht nur mit Klageliedern) zu verbinden sind. So kann bibeldidaktisch gesprochen deutlich gemacht werden, dass die Bibel zu allererst durch die Überlieferung der unverrückbaren Menschenfreundlichkeit Gottes ausgezeichnet ist.24 22 Vgl. Carolin Emcke, Gegen den Hass, Frankfurt am Main 2016. 23 Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (Hg.), Umgang mit Antisemitismus in der Grundschule. Alltag von Jüdinnen und Juden in Berlin, Auseinandersetzung mit antisemitischen Vorurteilen, Thematisierung des Holocaust, Berlin 2020, 13. 24 Oder wie Gerd Theißen formuliert: »Nur durch ihren doppelten Transzendenzbezug, also durch Texttranszendenz, die sowohl auf Gott als auch den Mitmenschen verweist, gewinnt die Schrift Autorität«, Texttranszendenz. Beiträge zu einer polyphonen Bibelhermeneutik, Berlin 2019, 366.
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Es macht das Selbstverständnis jüdischer Tradition aus, dass die abgrundtiefen Erfahrungen dem Menschen als Menschen vor Gott weder das Menschsein absprechen noch die Zukunft versagen. Denn: »Each Man has a name Given to him by God«25 – jede und jeder Einzelne hat einen unvergesslichen Namen. Dass damit zudem alle vermeintlichen Überhöhungen und Überbietungen der alttestamentlichen Überlieferung durch die neutestamentlichen Schriften zu vermeiden sind, sollte eigentlich nicht mehr eigens betont werden müssen. Insofern dürfte es sich lohnen, die für eine antisemitismuspräventive Arbeit in der Grundschule immer wieder benannte Empathie nicht nur in Hinsicht auf die Opfergeschichte des jüdischen Volkes, sondern auch auf das unbedingte Menschsein jedes jüdischen Mitbürgers als Jude bzw. jeder jüdischen Mitbürgerin als Jüdin und als Mensch auszurichten. Staunend kann man immer wieder Potenziale schon bei kleinen Kindern wahrnehmen, im Anderen zuallererst nicht den Angehörigen eines bestimmten Volkes oder einer bestimmten Religion, sondern in diesem zuallererst einen Menschen »wie Du und ich« zu sehen. Ohnehin verfügen sie über ein hohes Maß von Gerechtigkeits- und Verletzlichkeitssensibilität.26 Und dies, um an die Anfangsbemerkungen anzuknüpfen, wirft nochmals die elementare und existenzielle Frage auf, ob Kinder in solchen Umständen aufwachsen können, in denen sie auf den kinderrechtlich garantierten Schutz des Kindeswohls und auf Bildungsgerechtigkeit vertrauen können. Denn, wie gesagt, die Komplexität der Gründe und Ursachen antisemitischer und rechtsradikaler Grundhaltungen und auch die damit verbundenen möglichen langanhaltenden Prägungen bis in das Jugendalter hinein und darüber hinaus haben auch mit den Lebensumständen zu tun, in denen das Recht des Kindes auf Bildung, Sicherheit und Eigenständigkeit gewährt oder eben nicht gewährt wird. Bei Berücksichtigung all dieser Prägekräfte bieten sich beste Chancen für eine politisch wachsame, pädagogische sachgemäße und nachhaltig wirksame religiöse Bildung auch und erst recht im Grundschulalter. Oder wie es wiederum eine Grundschullehrperson prägnant formuliert: »Nächstenliebe als wichtigste Botschaft des Glaubens! Rassismus, Antisemitismus ist das Gegenteil davon, das verhindert werden muss schon in der Grundschule.«27 25 So die jüdische Poetin Zelda, in: Amos Oz, Fania Oz-Salzberger, jewsandwords, New Haven & London, 2012, 188. 26 »Kinder im Grundschulalter haben alle nötigen Potenziale, die für eine Bearbeitung von Antisemitismus gebraucht werden. Sie verfügen über Empathie, Offenheit und ein Gerechtigkeitsempfinden. Sie können einfache Zusammenhänge untersuchen und verstehen«, Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (Hg.), Umgang mit Antisemitismus in der Grundschule. Alltag von Jüdinnen und Juden in Berlin, Auseinandersetzung mit antisemitischen Vorurteilen, Thematisierung des Holocaust, Berlin 2020, 12. 27 Forschungsgruppe REMEMBER. Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht. Empirische Einblicke und didaktische Impulse, Stuttgart 2020.
Michèle Wenger
»Weil die Verfolgung und Missachtung der Rechte der Menschen auch heute genauso vorkommt.« – Antisemitismus-Prävention im Schweizer Religionsunterricht
1.
Antisemitismus in der Schweiz
»Der Anschlag in Halle zeigt: Der Staat muss die Juden besser schützen«1 titelt im Oktober 2019 die Neue Zürcher Zeitung in einem Kommentar und hat dabei vermutlich nicht nur Deutschland im Blick. Antisemitismus ist auch in der Schweiz eine konstant bleibende Alltagsproblematik, obwohl durch die Antirassismusstrafnorm im Artikel 261 des Strafgesetzbuches in der Schweiz Diskriminierungen aufgrund rassistischer Motive als eigene Straftat definiert und verfolgt werden sollen. Der Antisemitismusbericht 2018 weist 42 antisemitische Vorfälle auf, die vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) 2018 registriert wurden.2 Der SIG nimmt dabei Meldungen auf, die in den Medien als antisemitisch motivierte Vorfälle registriert wurden. Die Dunkelziffer der Straftaten mit antijüdischem Hintergrund und die Dunkelziffer von Vorfällen von Alltagsantisemitismus sind wohl wesentlich höher. Da bei der polizeilichen Aufnahme von Straftaten genauere Motive wie Rassismus, Diskriminierung oder Antisemitismus nicht offiziell erfasst werden müssen, kann über die tatsächlichen Zahlen nur spekuliert werden. Das genau bestimmte Tatmotiv fließt allerdings so nicht in die offizielle Statistik ein.3 Nachweisbar und weit beunruhigender sind die Zahlen, wenn man sie mit den antisemitischen Äußerungen im Netz ergänzt. Die sozialen Medien sind be1 Daniel Gerny, Der Anschlag in Halle zeigt: Der Staat muss die Juden besser schützen, in: NZZ (10. 10. 2019), https://www.nzz.ch/schweiz/der-staat-muss-die-juden-besser-schuetzen-ld.151 4395 (Stand: 01. 02. 2020). 2 Vgl. Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG) und Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA), Antisemitismusbericht 2018, https://www.antisemitismus.ch/content/ analyse-antisemitismusbericht-2018 (Stand: 01. 02. 2020). 3 Vgl. Michael Schilliger, Wieso die Schweiz nicht weiß, wie viele antisemitisch motivierte Straftaten jedes Jahr begangen werden NZZ (05. 06. 2018), https://www.nzz.ch/schweiz/wieso-die-schweiznicht-weiss-wie-viele-antisemitisch-motivierte-straftaten-jedes-jahr-begangen-werden-ld.139 0420; (Stand: 01. 02. 2020).
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Michèle Wenger
kanntermaßen nicht nur Plattformen für einen friedlichen und freundlichen Austausch. Gerade wenn es um Hate Speech und Rassismus geht, bieten die Kommentarspalten zu youtube-Videos, Facebook, Twitter & Co., deren Betreiber wenig durch Monitoring kontrollieren, oftmals niederschwellige Gelegenheiten, gerade auch für antisemitische Postings.4 Gerade die Anonymität gewisser Portale, auf denen man sich hinter Nicknamen und Pseudoprofilen verstecken kann, bieten ungewollt großen Raum für diskriminierende Kommentare. Man muss aber nicht auf öffentliche Plattformen oder Profile sozialer Medien eingehen, manchmal reicht schon der Blick in einen WhatsApp-Klassenchat von Schüler*innen.5 Der schweizerische Antisemitismusbericht 20186 nennt einen markanten Anstieg von Antisemitismus im Netz: In der Schweiz waren es 535 Vorfälle und 114 »grenzwertige Aussagen«7. 2017 zählte man 90 Hasskommentare im Internet. Der Anstieg der Zahlen hat sicherlich auch damit zu tun, dass man dem Netz mittlerweile mehr Beachtung schenkt, das heißt, mehr nach solchen Fällen sucht, und die sozialen Medien und Kommentarspalten miteinbezieht, wenn man über Antisemitismus spricht, doch es wird schnell klar: Eine komplette Übersicht über Antisemitismus in der Schweiz zu erhalten, ist nicht möglich.8 Jedoch ist – und das zeigen die jährlichen Statistiken der Antisemitismusberichte seit 1992 – Antisemitismus auch in der Schweiz weiterhin eine besorgniserregende Angelegenheit, derer sich Staat, Kantone und auch der Bildungssektor annehmen muss. Gerade Bildungseinrichtungen wie die Schulen haben die Möglichkeit, Antisemitismus als Thema aufzugreifen und im Unterricht präventiv mit Schüler*innen zu behandeln. Selbstverständlich kann und soll dieses Thema in verschiedenen Fächern aufgegriffen werden, doch eröffnen sich im Religionsun4 S. dazu auch die Studie von Monika Schwarz-Friesel, Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses, Kurzversion, https://www.linguistik.tu-berlin.de/menue/antisemitismus_2_0/ (Stand: 01. 02. 2020) oder Monika Schwarz-Friesel, Judenhass im Internet. Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl, Berlin/ Leipzig 2019. 5 Vorfall vom 30. Dezember 2019 in Zürich aus einer fünften Primarschulklasse, in dem rassistische Äußerungen vorkamen, veröffentlicht von der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA), Vgl. https://chronologie.gra.ch/?fwp_date=2019 (Stand: 12. 05. 2020). 6 Der Antisemitismusbericht 2019 wird ab 25. 03. 2020 online abrufbar sein. 7 Analyse Antisemitismusbericht 2018 des SIG und der GRA. 8 Das liegt auch daran, dass man auf verschiedene Berichte zurückgreifen muss, um einen groben Überblick über antisemitische Vorfälle in der Schweiz zu erhalten. Solche Berichte werden z. B. herausgegeben von der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR), Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB) oder in der Westschweiz durch eine NGO-Organisation Coordination intercommunautaire contre l’antisémitisme et la diffamation (Cicad). Diese verschiedenen Organisationen arbeiten nicht mit derselben Methodik und nicht mit denselben Zahlen, was wiederum für ein uneinheitliches Bild sorgt. Sie können auch nur auf Vorfälle zurückgreifen, die öffentlich wurden oder die ihnen zugetragen wurden. Auch hier ist die Verlässlichkeit für einen Überblick durch die Umstände der Datenerhebung nicht gegeben.
Antisemitismus-Prävention im Schweizer Religionsunterricht
123
terricht durch fachdidaktische Zugänge spezifischere Chancen zur Antisemitismus-Prävention. Welche dieser Chancen genau von Lehrpersonen erkannt und genannt werden, wird in folgenden Ausführungen zur REMEMBER-Studie Thema sein.
2.
REMEMBER-Studie
In der REMEMBER-Studie, die 2016 in Deutschland, Österreich und der Schweiz lanciert und durchgeführt wurde, befragte das Forschungsteam mithilfe eines Online-Fragebogens Religionslehrer*innen in den drei Ländern zu ihrem Unterricht bezüglich Holocaust-Erinnerungsarbeit.9 Ziel war und ist eine erste explorative Bestandsaufnahme zur Frage nach dem Erinnerungslernen im Religionsunterricht und damit eng verknüpft mit der Frage nach Antisemitismus und seiner Prävention. Bei der Beantwortung von 49 Fragen gaben Religionslehrpersonen verschiedener Schultypen und Klassenstufen Auskunft über ihren Umgang mit dem Thema Holocaust im Unterricht.10 Einige Einblicke in die Schweizer Daten und die Antworten von 125 Lehrpersonen (ca. 10 % der Religionslehrpersonen in der Schweiz) werde ich folgend geben können. Von diesen 125 Lehrpersonen unterrichten 39 als Grundschullehrkräfte. Die meisten davon sind Lehrkräfte im kirchlichen Dienst (59 %), staatliche Lehrkräfte oder Pfarrer*innen ( je 12,8 %) oder Diakon*innen (5,1 %). Die Ergebnisse und Antworten der Lehrpersonen in der Studie sind nicht repräsentativ oder generalisierbar, um daraus wirklich aussagekräftige und allgemeingültige Postulate abzuleiten, sie geben aber dennoch Anhaltspunkte für mögliche Interpretationsansätze und Tendenzen, die im Hinblick auf international vergleichende AntisemitismusPrävention weiterführend sind.
2.1.
Fokus Schweizer Religionsunterricht
Der Religionsunterricht in der Schweiz untersteht der Bildungsdirektion der einzelnen Kantone und ist deshalb sehr divers ausgestaltet. Auf der Grundschulstufe gibt es in vielen Kantonen an öffentlichen Schulen einen religions9 Weitere Ergebnisse aus der Gesamtstudie können Sie dem Beitrag von Reinhold Boschki in diesem Band entnehmen. In diesem Beitrag werde ich den Terminus ›Holocaust‹ für die Judenvernichtung im Nationalsozialismus verwenden, weil sich im internationalen Forschungsbereich die Termini ›Holocaust Education‹ und ›Holocaust Remembrance‹ durchgesetzt haben. Die Problematik des Begriffs ist mir trotzdem bewusst. 10 Gesamtpublikation: Forschungsgruppe REMEMBER, Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht. Empirische Einblicke und diaktische Impulse, Stuttgart 2020.
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Michèle Wenger
kundlich orientierten und bekenntnisunabhängigen Religionsunterricht (Religionen, Kulturen und Ethik), an dem alle Schüler*innen der Klasse teilnehmen, egal welchem religiösen, areligiösen oder religiös indifferenten Hintergrund die Kinder zuzurechnen sind. Hinzu kommt in vielen Kantonen das Angebot für kirchlichen Unterricht, der aber meist unabhängig von der öffentlichen Schule erteilt wird. Gerade für die interkulturellen und interreligiösen Dialoge bringt ein solches Setting für Schüler*innen und Lehrpersonen viele Herausforderungen, aber natürlich auch Chancen mit sich.
2.2.
Fokus Schweizer Grundschule
59 % der befragten Schweizer Grundschullehrpersonen unterrichten den Holocaust als Thema und stellen einen Bezug zum Lehrplan 21 her, der in Schweizer Grundschulen gilt. Dabei fällt auf, dass wenige Lehrpersonen mit außerschulischen Institutionen (20,5 %) und anderen Schulfächern (12,8 %) kooperieren, vielleicht auch, weil das Thema ›Erinnerung an den Holocaust‹ von den Lehrer*innen eher nicht als Teil der Schulkultur wahrgenommen wird. Vorwiegend wird die Thematik im Schulzimmer unterrichtet, mithilfe von Biographien, Spielfilmen, Literatur und Recherchearbeiten. Die Lehrpersonen geben größtenteils an, ihre Materialien selbst zusammenzustellen (61,5 %). Lehrpersonen sind der Meinung, dass Schüler*innen trotzdem gut auf die Thematik ansprechbar sind (71,8 %) und damit Interesse zeigen. Aber ab wann genau behandeln die Lehrpersonen die Holocaust-Thematik im Unterricht? Die meisten Schüler*innen sind zwischen 11 und 13 Jahren alt, wenn das Thema Erinnerung an den Holocaust unterrichtet wird, einige der Lehrkräfte unterrichten Schüler*innen aber auch schon zwischen 6 und 10 Jahren in der Thematik. Verständlicherweise sind die Lehrpersonen bei der Holocaust-Thematik vorsichtig, wann sie mit Schüler*innen an sie herantreten. Interessant und aufschlussreich sind die Ergebnisse zur Frage nach Themenschwerpunkten im Unterricht. Folgende Schwerpunkte gaben die Religionslehrpersonen aus der Grundschule als Unterrichtsschwerpunkte in der Erinnerung an den Holocaust an (siehe Grafik auf Seite 125). Die Einordnung der ›Erinnerung an den Holocaust‹ in die Grundkenntnisse zum Judentum wird von 69 % der Grundschullehrkräfte bestätigt. Unter dem Thema Judentum ist in den qualitativen Antworten der Lehrpersonen auch ihr indirekter Bezug zum Lehrplan ersichtlich. Antijudaismus und Antisemitismus in der Geschichte bilden für 33 % einen Themenschwerpunkt, während 23 % den Antisemitismus heute thematisieren. Alle der oben erwähnten Themenschwerpunkte bilden mögliche Anknüpfungspunkte für Antisemitismus-Prävention: Wer Grundkenntnisse zum Judentum vermitteln will, kommt an der Geschichte
125
Antisemitismus-Prävention im Schweizer Religionsunterricht Themenschwerpunkte der Grundschullehrkrä"e Grundkenntnisse zum Judentum
69%
Lernen aus der Geschichte für heute
67%
Biografien von Opfern
56%
Beziehung Judentum - Christentum
54%
Aktuelle Bezüge: Umgang mit Fremden (z.B. Flüchtlinge) heute
54%
Historische Fakten
44%
Verbindung mit den Menschenrechten heute
41%
Widerstand gegen den Na#onalsozialismus
39%
An#judaismus, An#semi#smus in der Geschichte
33%
Biblische Bezüge
28%
Frage nach Go! angesichts des Leidens (Theodizee)
23%
An#semi#smus heute
23%
Biografien von Tätern Kirche im Na#onalsozialismus Klage gegen Go! 0%
10% 8% 5% 10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
der Verfolgung von Juden und Jüdinnen nicht vorbei. Wer sich mit Biographien von Opfern des Holocaust auseinandersetzt, wird auf antisemitische Handlungen und Weltbilder treffen. Auch die Theodizee mit ihren Fragen nach Leid und dem Bösen und einem allmächtigen, allgütigen und allwissenden Gott ließe sich auf Antisemitismus beziehen. Jeder der oben genannten Bezüge bietet eine Plattform, um sich der Antisemitismusthematik anzunähern und sie zu diskutieren oder anders gesagt: Alle Themenschwerpunkte beinhalten die Antisemitismusthematik.
2.3.
Antisemitismus-Prävention im Religionsunterricht: Einblicke in die qualitativen Antworten der Lehrpersonen
Den Religionslehrenden wurde eine Frage gestellt, die wie keine andere Auskunft darüber gibt, inwiefern religionsbezogene Bildung in Prozessen der Antisemitismus-Prävention relevant werden kann, nämlich dann, wenn man sie als Funktion des Religionsunterrichts wahrnimmt. Gefragt wurden die Studienteilnehmer*innen: »Warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, dass sich der Religionsunterricht an der Schule zum Thema »Erinnerung an den Holocaust« einbringt?« Die qualitativen Antworten der Lehrpersonen aus der Schweiz lassen zuerst eine
126
Michèle Wenger
wichtige Erkenntnis zu: Die Religionslehrpersonen sind sich bewusst, dass sie nicht als einziges Fach die folgend genannten Funktionen erfüllen. Sie sprechen sich sehr für ein ›Konglomerat Bildung‹ aus, an dem sie partizipieren und ihren Teil zur Allgemeinbildung beitragen. Dennoch lassen sich für den Schweizer Korpus der Antworten sieben Funktionen ausmachen, die der Religionsunterricht für die in der Studie befragten Lehrpersonen besonders erfüllt: 1. Der Religionsunterricht setzt sich für die Entwicklung eines Geschichtsbewusstseins bei Schüler*innen ein. 2. Der Religionsunterricht wird als besonders wichtig wahrgenommen in seiner Funktion als Präventionsinstrument. 3. Der Religionsunterricht sensibilisiert Schüler*innen in der Thematik der Erinnerung an den Holocaust. 4. Der Religionsunterricht hilft Schüler*innen bei der Entfaltung eines Menschenbildes. 5. Der Religionsunterricht hilft bei der Wissensvermittlung. 6. Der Religionsunterricht hilft bei der Menschrechtsbildung. 7. Der Religionsunterricht kann Staatskritik ausüben. Alle Funktionen sind interessant und sie sind auch nicht trennscharf voneinander unterscheidbar. Allerdings ist in der Fragestellung dieses Bandes speziell die zweite zugeschriebene Funktion, nämlich eine präventive Funktion, beachtenswert. Die Frage stellt sich, ob hier in den Antworten geschrieben wird, wogegen der Religionsunterricht präventive Wirkung erzielen kann. Viele Antworten der Lehrpersonen wiederholen Adornos Credo, dass Auschwitz nicht noch einmal sein dürfe.11 Aus der Geschichte und aus Fehlern soll gelernt werden, damit sie sich nicht wiederholen. Dieses Anliegen, dass »[…] solche Grausamkeiten nie wieder geschehen und zugelassen werden dürfen«12 zeigt sich in mehr als einem Drittel der Antworten und ist damit ein zentrales Desiderat der Lehrpersonen für die Wirkung religionsbezogener Bildung. Auffallend bei der Präventionsfunktion ist der Bezug der Thematik in die Gegenwart hinein. Die Lehrpersonen betonen die Relevanz der Erinnerung für die heutige Zeit: Weil die Erinnerung daran auch fürs Heute wichtig ist. Wie gehen wir heute mit Fremdem um? Wie und wo können wir hinstehen und Zivilcourage zeigen? Wo und wie setzen wir uns für andere ein? Lassen wir uns
11 Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz (1966), in: Kadelbach, Gerd (Hg.), Erziehung zur Mündigkeit, [92–109], Frankfurt am Main 1970, 92. 12 Gesamtpublikation: Forschungsgruppe REMEMBER, Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht. Empirische Einblicke und didaktische Impulse, Stuttgart 2020. Zitat einer Religionslehrerin an einer Grundschule, 51–60, evangelisch.
Antisemitismus-Prävention im Schweizer Religionsunterricht
127
von Schlagworten mitreißen oder hinterfragen wir Meinungen? Stehen wir zu unserer eigenen Meinung?13 Wiederum in einem Drittel aller Antworten zur Frage nennen die Grundschullehrpersonen die heutige Zeit, politische Veränderungen und aktuelle Geschehnisse als Gründe, weshalb sich der Religionsunterricht zum Holocaust äußern solle. Die Lehrpersonen zeigen ein tiefes Bewusstsein dafür, dass die damaligen Mechanismen, die zu den Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg geführt haben, mit ihm nicht einfach beendet, sondern weiterhin in der Welt sind. Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Vorurteile, religiöse Konkurrenz, Kriege, Ausgrenzung, Flüchtlingsthematik und Verfolgung sind nur einige Stichworte, die die Lehrpersonen als Anknüpfungspunkte an die Aktualität nennen. Die Lehrenden betrachten aktuelle weltpolitische Geschehnisse mit Besorgnis und sehen Handlungsbedarf. Ein Wissen über die Vergangenheit, das zeigen die Aussagen der Lehrpersonen, könne eine präventive Wirkung für die Gegenwart und Zukunft entfalten. Vorurteilsbeladene, diskriminierende, intolerante und entmenschlichende Mechanismen können mit einem Wissen, wie sie entstehen und funktionieren, in ihrer Gefährlichkeit erkannt werden. Im besten Fall wird ihnen durch diese Erkenntnis vorgegriffen oder gar entgegengewirkt. Religiöse Bildung nimmt hier die Rolle als Mahnerin gegen das Vergessen, gegen Verdrängung und für ein »Nie wieder« ein, indem sie sensibilisiert und die »Auseinandersetzung mit der Frage ›Was ist gutes Handeln?‹ auch anhand negativer Beispiele«14 ermöglicht. Eine andere Lehrperson formuliert es in der Studie so: »Aufgrund der bisher unvergleichlichen Grausamkeit und systematischen Vernichtung von v. a. Juden darf das Thema nicht in Vergessenheit geraten, auch wenn bald alle Zeitgenossen gestorben sein werden. Damit so etwas oder Ähnliches nicht wieder passiert.«15
Nicht nur die Auseinandersetzung mit der ethischen Frage nach dem guten Handeln, auch die Verbindung zum Christentum taucht an verschiedenen Stellen in Antworten von Lehrpersonen auf: »[…] Das Christentum gäbe es nicht ohne Judentum. Was den Juden während des 2. Weltkrieges angetan wurde, darf nie in Vergessenheit geraten. Dass auch heute noch schlimme Kriege im Namen der Religion geführt werden ebenso. Dieser »Link« ist sehr wichtig. Im Religionsunterricht habe ich viel mehr Zeit und Mittel in die Tiefe zu gehen, als in anderen Fächern. Es wird so auch zu einem »persönlichen« Thema, das auch emotional berührt. […]«16
13 14 15 16
Vgl. Ebd. Ebd. Zitat einer Religionslehrerin an einer Grundschule, 41–50, evangelisch. Ebd. Ebd. Zitat einer Religionslehrerin an einer Grundschule, 31–40, evangelisch.
128
Michèle Wenger
Die Verbindung von Christentum und Judentum als Geschwisterreligionen, aber auch die Rivalisierungen und Konflikte, die ausgetragen wurden und werden, können zur Diskussion um Abgrenzung und Ausgrenzung beitragen. Es gibt religiös motivierten Antisemitismus und er speist sich aus ganz verschiedenen Quellen, die benannt werden müssen. Eine andere Lehrperson wird hier noch dezidierter: »Die Begegnung mit den niederen Instinkten des Menschen und die Folgen für Schwache/Minderheiten gehört m. M. zur spirituellen/religiösen Ausbildung.«17 Für sie ist es sogar spezifisch für religionsbezogene Bildung, dass sie sich mit den negativen Seiten des Menschseins auseinandersetzt. Positiver perspektiviert sehen wir das bei einer anderen Religionslehrerin, die es wichtig findet, »als Christ heute eine achtsame Haltung einzunehmen, aus der Rückschau zu lernen für unser Leben heute […]«18. Sie wünscht sich, dass ihre Schüler*innen »christlich handeln können aus Wissen heraus«19. Gerade die Verbindung zu christlichen Themen wie Nächstenliebe und eine christliche Grundhaltung gegenüber anderen Menschen werden hier erwähnt und für den Religionsunterricht spezifisch wichtig. Schüler*innen sollen eigene und fremde Traditionen miteinander verbinden können und nicht beim Trennenden stehenbleiben. Schüler*innen sollen sich über ihr Menschenbild Gedanken machen können, dies sowohl anhand positiver als auch negativer Beispiele. Zwei Lehrpersonen erwähnen in ihren Antworten Antisemitismus explizit. Die eine Lehrperson spricht von »[…] grassierendem Rassismus/Antisemitismus bereits in der Primarschule«20 als Grund für die Einbringung des Religionsunterrichts zur Thematik, während eine andere die »[…] neuen Formen des Antisemitismus in Europa«21 als Anlass nennt. Antisemitismus als Gesellschaftsthematik wird in beiden Statements evident angesprochen. Selbst wenn Antisemitismus in den Antworten zur Frage nach der Wichtigkeit nicht weiter explizit auftaucht, so ist das Unterrichten der Erinnerung an den Holocaust ohne eine Erwähnung von Antisemitismus als Thema nicht denkbar.
3.
Antisemitismus-Prävention: Ausblick
Der Antisemitismusbericht der Schweiz zeigt Lücken in der Erfassung und Erfassbarkeit antisemitisch motivierter Straftaten und Vorfälle, aber er zeigt mit der aktuellen Erfassungsmethode bereits Handlungsbedarf. Die staatliche und einheitliche Registrierung antisemitisch motivierter Taten – unter Einbezug der 17 18 19 20 21
Ebd. Zitat einer Religionslehrerin an einer Grundschule, 51–60, evangelisch. Ebd. Ebd. Ebd. Zitat eines Religionslehrers an einer Grundschule, 31–40, evangelisch. Ebd. Zitat einer Religionslehrerin an einer Grundschule, 51–60, römisch-katholisch.
Antisemitismus-Prävention im Schweizer Religionsunterricht
129
markant steigenden Anzahl antisemitischer Äußerungen im Netz – wären solche Anhaltspunkte für weitere Handlungsschritte und zeichneten ein klareres Bild von Antisemitismus in der Schweiz. Gerade für Schüler*innen zeigt sich die Antisemitismusthematik in den sozialen Medien als neuer Fokus. Dafür braucht es Pädagog*innen, die die digitale Welt, in der sich Kinder und Jugendliche bewegen, kennen und die für den Unterricht mediendidaktisch auf einem aktuellen Stand sind. Die REMEMBER-Studie und auch der Blick in die Antworten von Grundschullehrpersonen, die Religionsunterricht erteilen, zeigt, dass Antisemitismus für Schweizer Religionslehrkräfte bereits in der Grundschule ein Thema ist, dem sie sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven widmen, sei es als Thema der Menschenrechtspädagogik, als Präventionsthema oder als Thema mit geschichtlichem Fokus. Darauf weist zumindest die Tatsache hin, dass die Grundschullehrpersonen in unserer Studie zu einem Drittel vertreten sind. Wäre Antisemitismus und der Holocaust im Grundschulalter nicht thematisierbar, würden die Lehrpersonen kaum Auskunft darüber geben. ›Erinnern an den Holocaust‹ bedeutet für Lehrpersonen, dass sie Schüler*innen in ihrer pädagogischen Arbeit sensibilisieren, damit sie vereinnahmende, totalitäre Tendenzen erkennen können, aber auch, indem sie mithilfe dieser Erkenntnisse ein Bewusstsein für gefährliche Mechanismen in der Gesellschaft bei den Schüler*innen schaffen. So werden Wissen, Erkennen und Handeln ineinander verknüpft und ermöglichen vertiefte Gesellschaftsbildung junger Menschen, die sie zu verantwortlichen jungen Erwachsenen macht, welche sich aktiv für sich selbst, die Gesellschaft und die in ihr lebenden Menschen einsetzen können. Einen wichtigen Stellenwert erkennen die befragten Religionslehrpersonen in der REMEMBER-Studie im Zugang durch den Religionsunterricht. Er kann (nicht alleine, aber auch) Raum bieten, Themen wie Antisemitismus aufzugreifen und präventiv zu behandeln. Dabei knüpfen die in diesem Beitrag erwähnten Grundschullehrpersonen ihren Unterricht, zumindest beim Thema Erinnerung an den Holocaust, an Themenschwerpunkte wie Grundkenntnisse zum Judentum an, wobei auch die Geschichte der Verfolgung von Jüdinnen und Juden ein Thema sein muss. Antisemitismus, aktuell wie geschichtlich, muss in der Erinnerung an den Holocaust als zentrale Thematik eingebaut werden, dessen sind sich auch die Lehrpersonen bewusst. Allerdings benötigen die Lehrpersonen Hilfestellungen in Form von Fortbildungsmöglichkeiten zur Thematik, denn nur 21,3 % der befragten Grundschullehrpersonen geben an, eine Fortbildung zum Thema besucht zu haben. Auch Lehrmittel, in denen Antisemitismus und die entsprechenden Präventionsmaßnahmen im Fokus stehen, sind gefragt und notwendiger denn je.
130
4.
Michèle Wenger
Konsequenzen für die Antisemitismus-Prävention durch religiöse Bildung in der Grundschule
Antisemitismus und Diskriminierung tauchen nicht erst bei Oberstufenschüler*innen plötzlich auf. Sowohl der Antisemitismusbericht 2018 wie auch die Antworten von Lehrpersonen aus der REMEMBER-Studie bestätigen, dass bereits im Primarschulalter antisemitische Einstellungen vorkommen, die voraussichtlich durch frühe Prävention verhindert werden könnten. Dabei geht es vor allem um die Schulung von Wahrnehmung diskriminierender Tendenzen und darum, Schüler*innen für ihre Aussagen und Handlungen in die Verantwortung zu nehmen sowie die Aufmerksamkeit auf solche systemischen Mechanismen mit ihren Gefahren zu lenken und ihnen Bedeutung zuzumessen. Dieselbe Verantwortung tragen auch Lehrpersonen im schulischen Alltag und die Antworten in der REMEMBER-Studie zeigen ein sehr hohes Bewusstsein der Lehrpersonen für ihre pädagogische Pflicht in der Antisemitismus-Prävention durch religionsbezogene Bildung. Durch die Behandlung von Ausgrenzungsmechanismen kann bereits in der Primarschule so etwas wie citizenship education gefördert werden. Auch wenn Antisemitismus-Prävention stets als interdisziplinäre Aufgabe zu sehen ist, hat religionsbezogene Bildung einen besonderen fachspezifischen Zugang und eine dezidierte Aufgabe, weil sich antisemitische Einstellungen auch aus Ablehnung, Diffamierung und Abgrenzung der christlichen Religion von der jüdischen speisen und sich hartnäckig durch die Geschichte hindurch halten. Dieselben Tendenzen sind auch für muslimischen Antisemitismus ersichtlich. Gerade die interreligiöse Bezugnahme auf Judenhass als Thematik gehört in den Religionsunterricht. In der religionsbezogenen Bildung sollen die Absolutheitsansprüche verschiedener Religionen nicht nur zur Diskussion gestellt werden, sondern auch die Frage nach einer Konstruktion des ›Wir‹ durch ausschließende Abgrenzung der ›anderen‹ muss Raum bekommen. Die Thematisierung von Antisemitismus lässt sich anhand ganz verschiedener religionsbezogener Themenkreise (wie z. B. Nächstenliebe, Goldene Regel, Shalom, Ahimsa oder einem Themenkreis zu Geboten in verschiedenen Religionen, um nur wenige zu nennen) im Religionsunterricht realisieren. Meine Überzeugung ist es, dass ohne Begegnungsmöglichkeiten mit jüdischen Menschen und jüdischem Leben Antisemitismus-Prävention als leeres Theoriekonstrukt im Raum stehen bleibt. Wer kein menschliches Gegenüber hat, mit dem er/sie sich als Mensch verbinden und das Gegenüber als Menschen wahrnehmen kann, der sieht nicht, dass auch das Judentum, wie jede andere Religion und Kultur, vielfältig ist und divers gelebt wird. Die Realität ist komplexer als es stereotype Betrachtungsweisen zulassen und dieser Komplexität kann durch
Antisemitismus-Prävention im Schweizer Religionsunterricht
131
Begegnung Ausdruck verliehen werden. »Das Problem beim Antisemitismus ist, dass er ohne reale Menschen funktioniert.«22, schreibt die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus in ihrer Definition des Begriffs und benennt damit eines der zentralen Probleme, nämlich fehlende Kontakte mit jüdischen Menschen. Erst dadurch werden Projektionen in Form von Judenhass möglich und wahrscheinlicher. Begegnungsmöglichkeiten unter Menschen sind unerlässlich, um zu begreifen, weshalb Antisemitismus-Prävention notwendig und sinnvoll ist. Das Judentum ist kein Phänomen, das in Büchern beschrieben wird und in Abstraktheit stehenbleibt. Jüdisches Leben ist unter uns in all seinen Facetten. Es sind gelebte und lebendige Traditionen und Kulturen, die von Menschen, ihren Biografien und Geschichten mitgestaltet und geprägt werden. Gerade deshalb ist es von äußerster Wichtigkeit, mit jüdischen Institutionen zu kooperieren und diese Begegnungsmöglichkeiten so früh wie möglich zu schaffen.
22 Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG) und Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA), Antisemitismus – Was ist Antisemitismus, https://www.gra.ch/antisemi tismus/was-ist-antisemitismus/ (Stand: 01. 02. 2020).
Michael Kiefer
Antisemitismus – Prävention als Aufgabe interkultureller und interreligiöser Bildung aus muslimischer Sicht
1.
Einleitung
Antisemitische Äußerungen, Übergriffe und mitunter schwere Straftaten, die von Menschen aus muslimischen Sozialisationskontexten begangen wurden, stellen seit nahezu zwei Dekaden ein Problemfeld dar. Als Beleg hierfür sei auf den Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge am 2. Oktober 2000 verwiesen, der nach Aussage der Täter auf die Al-Aqsa-Intifada hinweisen sollte. Im gleichen Kontext verorteten sich auch die Täter, die wenige Tage später die alte Synagoge in Essen bei einer Protestaktion beschädigten. Anzuführen wären ferner Steinwürfe gegen eine jüdische Tanzgruppe in Hannover im Jahr 2010, der Angriff auf einen Rabbi 2013 in Offenbach und schließlich die Vorfälle an Berliner Schulen im Jahr 2018.1 Verübt wurden die aufgeführten Delikte zumeist von jungen Erwachsenen und Jugendlichen. Zwischenzeitlich sind zu dieser Problematik eine Reihe von Studien entstanden, die antisemitische Haltungen bei Jugendlichen fokussieren. Aussagefähig und materialreich ist insbesondere die Arbeit von Jürgen Mansel und Viktoria Spaiser »Ausgrenzungsdynamiken. In welchen Lebenslagen Jugendliche Fremdgruppen abwerten«2 und die Untersuchung von Günther Jikeli »Antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen junger Muslime in Europa«3. Ganz anders stellt sich die Erkenntnislage in anderen Altersgruppen dar. So gibt es derzeit keine Studien, die über antisemitische Haltungen bei Kindern Auskunft geben. Genau dieser Sachverhalt stellt im Hinblick auf die nachfolgenden Überlegungen ein erhebliches Problem dar. Gegenstand dieses Artikels ist die Prävention von Antisemitismus in der Al1 Vgl. Michael Kiefer, Schalom, Salam – Wie antisemitisch ist der Islam? https://www.noz.de/loka les/osnabrueck/artikel/1624827/schalom-salam-wie-antisemitisch-ist-der-islam (Stand: 21. 01. 2019). 2 Jürgen Mansel/ Victoria Spaiser, Ausgrenzungsdynamiken. In welchen Lebenslagen Jugendliche Fremdgruppen abwerten, Weinheim und Basel 2013. 3 Günther Jikeli, Antisemitismus und Diskriminierungserfahrungen junger Muslime in Europa. Ergebnisse einer Studie unter jungen muslimischen Männern, Essen 2012.
134
Michael Kiefer
tersgruppe von sechs bis zwölf Jahre, die von muslimischen Akteuren durchgeführt wird. Folgt man den Ausführungen von Holthusen et al. verlangt Prävention immer einen »Dreiklang an Informationen«4. Hierzu zählt Wissen: – »Über drohende Ereignisse«5 Was kann geschehen? Welche Ereignisse können eintreten? Wo können Ereignisse eintreten? – »Über die bedingenden Faktoren«6 Wie entstehen antisemitische Haltungen? Welche Faktoren spielen eine Rolle? Wie wirken die Faktoren zusammen? – »Über Ansatzpunkte und Gegenstrategien«7 Exakter Pra¨ventionsbegriff, klare Pra¨ ventionsziele, Strategien für die verschiedenen Handlungsfelder, Methoden der Pra¨ ventionsarbeit. Angesichts einer fehlenden empirischen Forschung ist eine wissensbasierte Antisemitismus-Prävention für die genannte Altersgruppe kaum möglich. Aus diesem Grund bewegen sich präventive Maßnahmen ungeachtet ihrer räumlichen Orientierung und methodischen Vorgehensweise – sofern sie überhaupt stattfinden – durchweg in experimentellen Anordnungen, die m. E. keine Wissensbasierung in Anspruch nehmen können.
2.
Prävention gegen Antisemitismus – eine voraussetzungsreiche Angelegenheit
Jedwede Prävention geht davon aus, dass man einem für negativ befundenen Zustand oder einer negativen Entwicklung mit wie auch immer gearteten Maßnahmen zuvorkommen müsse. Die Umsetzung und Akzeptanz von Prävention gestalten sich einfach, wenn der »negative Zustand« von allen Beteiligten auch genau so gesehen wird und die Verhinderung desselben als erstrebenswert angesehen wird. Dies ist z. B. in der Kariesprävention der Fall. Niemand mag schwarze Löcher in Zähnen und damit einhergehende Zahnschmerzen. Folglich finden Präventionsprogramme für gesunde Zähne, die z. B. in Kindergärten und Schulen durchgeführt werden, ungeteilten Zuspruch. Diese ungetrübte Einigkeit ist jedoch nicht in allen Präventionsbereichen gegeben. Zahlreiche Beispiele ¨ ber die Notwendig4 Bernd Holthusen/ Sabrina Hoops/ Christian Lu¨ ders/ Diana Ziegleder, »U keit einer fachgerechten und reflektierten Pra¨vention. Kritische Anmerkungen zum Diskurs«, in: DJI Impulse. Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts. 2/2011, 22–25. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd.
Prävention als Aufgabe interkultureller und interreligiöser Bildung
135
hierfür bietet die derzeit viel diskutierte Radikalisierungsprävention. Große Unsicherheiten sind unter anderem in schulischen Kontexten zu beobachten. Wenn ein Schüler oder eine Schülerin in einer Kollegschule z. B. die Einrichtung eines Gebetsraumes fordert, kann dies Ausdruck seiner/ ihrer Frömmigkeit sein. Denkbar sind aber auch andere Motivlagen, die auf einen islamistischen Hintergrund verweisen können. Grundsätzlich bedarf jeder »Fall« der Einzelprüfung, die sich mitunter schwierig gestalten kann. Darin ist auf den Sachverhalt bezogen stets die Frage zu beantworten: Was ist ein »normales« religiöses Verhalten und wo genau beginnt eine Abweichung, die als problematisch angesehen werden muss und die folglich Gegenstand präventiver Anstrengungen sein sollte? Die gleiche Problematik ist auch in der Prävention gegen Antisemitismus gegeben. Hier stellt sich häufig die Frage: Was ist eine hinnehmbare Meinungsäußerung und wo genau beginnt Antisemitismus? Ausgehend von diesen Überlegungen muss jedwede Prävention gegen Antisemitismus zunächst präzise darlegen, was Antisemitismus ist und in welchen Phänomenen er beobachtet werden kann. Angesichts der Kontroversität, die die wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatte seit Jahrzehnten aufweist, ist dies alles andere als ein leichtes Unterfangen. In der wissenschaftlichen Literatur gibt es eine Vielzahl von Definitionen, die mehr oder weniger große Schnittmengen aufweisen. Im internationalen Kontext häufig zitiert wird die Definition der amerikanischen Historikerin Helen Fein: »Antisemitismus ist ein dauerhafter latenter Komplex feindseliger Überzeugungen gegenüber Juden als einem Kollektiv. Diese Überzeugungen äußern sich beim Einzelnen als Vorurteil, in der Kultur als Mythen, Ideologie, Folklore und in der Bildsprache, sowie in Form von individuellen oder kollektiven Handlungen – soziale oder gesetzliche Diskriminierung, politische Mobilisierung gegen Juden, und als kollektive oder staatliche Gewalt –, die darauf zielen, sich von Juden als Juden zu distanzieren, sie zu vertreiben oder zu vernichten.«8 Da diese Definition nicht den Anspruch erhebt die Verlaufsformen des Antisemitismus zu erfassen, bedarf es weiterer Differenzierungen. Der langjährige Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, unterscheidet vier chronologisch angeordnete Kategorien:9 – Der »christliche Antisemitismus« bezeichnet antijüdische Motive gegen Juden vom Mittelalter bis in die Neuzeit hinein. Wirkmächtig waren hier insbesondere die Narrative vom »Ritualmord«, des »Brunnenvergifters« und des »Wucherers«. 8 Helen Fein, Dimensions of Antisemitism: Attitudes, Collective Accusations and Actions, in: H. Fein (Hg.), The Persisting Question. Sociological Perspectives and Social Contexts of Modern Antisemitism, Current Research on Antisemitism, vol. 1, ed. by Herbert A. Strauss, Werner Bergmann, Berlin, New York 1987, 67. 9 Vgl. Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus?, München 2004, 209–221.
136
Michael Kiefer
– Der »rassistische Antisemitismus«, der sich im 19. Jahrhundert herausbildete, besteht im Kern aus einer bipolaren Wir-Gruppenanordnung, in der die »Juden« als eine »minderwertige Rasse« konstruiert werden, die einer »höherwertigen Rasse« gegenüberstehen. – Der »sekundäre Antisemitismus«, der nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, dient wesentlich der Schuldabwehr. Zentral ist hier das Narrativ: Die Juden und insbesondere Israel instrumentalisierten den Holocaust um systematisch Gefühle der Schuld und der Scham auszulösen. – Schließlich führt Benz den »antizionistischen Antisemitismus« an: Zentral ist auch hier die Schuldabwehr. So wird behauptet, man könne Israel nicht kritisieren ohne den Vorwurf auf sich zu ziehen, antisemitisch zu sein. Ferner wird häufig kolportiert »die Juden« übten eine weitreichende Zensur aus, die – die wie auch immer formulierte – Kritik an Israel unterbinde.10 Auch wenn derartige Systematiken zum Phänomen des Antisemitismus in einer chronologischen Anordnung zur Darstellung gebracht werden, bedeutet dies nicht, dass eine ältere Verlaufsform von einer neueren vollständig abgelöst wurde. Vielmehr sind sukzessive Vermischungen und Transformationen der Narrative zu beobachten. Heutiger Antisemitismus erscheint daher in Anlehnung an Thomas Haury als ein »flexibler Code«, der problemlos in diverse religiös, kulturell und politisch konnotierte Weltanschauungen eingebettet werden kann.11 Überaus deutlich wird dies im zeitgenössischen islamistischen oder islamisierten Antisemitismus, der oftmals in wilden Collagen antisemitische Narrationen verschiedener Herkünfte mischt und neu erzählt. Hierzu zwei Beispiele: Angeführt werden soll zunächst der ehemalige syrische Verteidigungsminister und notorische Antisemit Mustafa¯ Tala¯s, der über meh˙ ˙˙ rere Jahrzehnte ein treuer Gefolgsmann der Baath-Diktatur war. Tala¯s engagierte ˙ sich zeit seines Lebens als antisemitischer Aktivist und verfasste unter anderem das antisemitische Machwerk »Die Matzen von Zion«. Behandelt werden in dieser Schrift die Ereignisse der Damaskusaffäre von 1840. Der Autor stellt unter anderem die Behauptung auf, in Damaskus lebende Juden hätten einen Kapuzinermönch entführt und getötet, um mit seinem Blut Matzen zu backen. Erstaunlich ist hier, dass ein sunnitischer General und Minister die christliche Ritualmordlegende im Kontext des Nahostkonflikts neu verortet. Ähnlich verfährt die iranische Serienproduktion »Sahras blaue Augen«, die 2004 erstmalig vom iranischen Staatsfernsehen ausgestrahlt wurde und die im Jahr 2006 auch in einer türkischsprachigen Version zu sehen war. Erzählt wird hierin die Ge10 Ebd. 11 Michael Kiefer, Islamischer, Islamistischer oder islamisierter Antisemitismus, in: Welt des Islam, Vol. 46, Nr. 3, Leiden 2006, 285.
Prävention als Aufgabe interkultureller und interreligiöser Bildung
137
schichte eines israelischen Generals, der für seinen blinden und im Rollstuhl sitzenden Sohn ein paar neue Augen sucht. Fündig wird er schließlich bei einem palästinensischen Mädchen, dem er die Augen raubt, um sie seinem Sohn implantieren zu lassen. Unschwer kann auch hier erkannt werden, dass das antisemitische Stereotyp des »jüdischen Parasiten« nicht dem islamisch geprägten Kulturraum entnommen wurde. Vielmehr entstammt es dem europäischen Antisemitismus.12
3.
Problemzone Antisemitismus
Bereits in der Einleitung ist deutlich geworden, dass antisemitische Haltungen und hieraus erwachsene Handlungen in den heterogenen muslimischen Zuwanderungscommunities eine mehr oder weniger große Rolle spielen. In diesem Kontext können m. E. drei sperrige Problemfelder identifiziert werden, die auch in der Arbeit mit Kindern (und Jugendlichen) eine Relevanz beanspruchen können.
3.1.
Einseitige Rezeption des Nahostkonflikts
Zunächst muss konstatiert werden, dass es im Nahen Osten, Nordafrika und im Maghreb in den vergangenen sechs Dekaden bis auf wenige Ausnahmen faktisch keine Rezeption des Nahostkonflikts gegeben hat, die multiperspektivisch die Sichtweisen aller Konfliktparteien zu berücksichtigen versucht. Vielmehr sind in der häufig staatlicherseits gelenkten Propaganda simplifizierende Täter-OpferDichotomien zu finden, in denen »die Israelis« stets als aggressive Täter in Erscheinung treten und Palästinenser und Araber eine durchgehende Opferrolle einnehmen. Diese Sicht der Dinge betrifft insbesondere die sogenannte »Nakba« (Katastrophe oder Unglück). Der Begriff steht in der Geschichtspolitik vieler arabischer Staaten für die Flucht und Vertreibung von ca. 700.000 arabischen Palästinensern aus dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet. Ausgelassen wird hierbei insbesondere, dass in den Jahren nach der Staatsgründung Israels ca. 850.000 Juden arabische Länder verlassen mussten. Vorausgegangen waren häufig Verfolgungen und Repression.13 Darüber hinaus hat es in der Vergangenheit kaum eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust gegeben. Omar 12 Michael Kiefer, Antisemitismus und Migration, Baustein 5, Berlin 2017, 27, https://www.schu le-ohne-rassismus.org/wp-content/uploads/2020/03/Baustein-5-Antisemitismus-Migrationweb.pdf (Stand:15. 05. 2020). 13 Vgl. Sarah Stricker, Die jüdische Nakba, https://www.cicero.de/aussenpolitik/israel-palaesti na-palaestinenser-juden-jerusalem-nikba (Stand: 17. 02. 2019).
138
Michael Kiefer
Kamil zeigt in seiner Studie »Der Holocaust im arabischen Gedächtnis« auf, dass viele arabische Intellektuelle sich lange geweigert haben, sich mit dem Holocaust und dem Phänomen des Antisemitismus auseinanderzusetzen. Kamil spricht von einer »Tragik des Missverstehens«.14 Leiderfahrungen von Juden finden keine Anerkennung. Sie sind Teil konkurrierender Erinnerungskonzepte, die durch Krieg und Feindschaft maßgeblich geprägt sind.15
3.2.
Kolportage antisemitischer Narrationen über einen langen Zeitraum
Das zweite Problemfeld bildet das kontinuierliche Vorhandensein bzw. die Normalität antisemitischer Narrationen seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Von herausragender Bedeutung sind in diesem Kontext die »Protokolle der Weisen von Zion«, die seit den fünfziger Jahren in zahlreichen Auflagen verbreitet wurden und nach wie vor im Buchhandel erhältlich sind. Die darin enthaltenen Verschwörungsvorwürfe fanden in den meisten arabischen Staaten viel Zuspruch und sogar Eingang in politische Programme. So bezieht sich z. B. die 1988 erschienene Charta der HAMAS explizit auf die »Protokolle«. Aufgegriffen wurde der in den »Protokollen« enthaltene antisemitische Trash auch von der ägyptischen Unterhaltungsindustrie. Das ägyptische Fernsehen zeigte 2002 eine 41 Teile umfassende Serie mit dem Titel »Faris bila Gawad« (Reiter ohne Pferd), in dem die »Protokolle« eine zentrale Rolle einnehmen.16 Angesichts dieser Kontinuität, die auch anhand anderer Narrationen aufgezeigt werden kann, sind antisemitische Deutungsmuster des Nahostkonflikts ein fester Bestandteil einer Geschichtskonstruktion, die mittlerweile generationsübergreifend geteilt wird.
3.3.
Fehlende zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung bzw. kritische Reflektion antisemitischer Narrationen
Das dritte Problemfeld besteht darin, dass in den arabischen Ländern und im Maghreb bis auf wenige Ausnahmen keine Zivilgesellschaften vorgefunden werden können, die frei von staatlicher Gängelung und Repression sind. Anders formuliert gibt es in den jeweiligen Staaten – verwiesen sei hier nur auf Syrien, Irak, Ägypten, Algerien, Saudi-Arabien – nahezu kein demokratisches Gemein14 Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis. Eine Diskursgeschichte 1945– 1967. Göttingen 2012, 167. 15 Vgl. Ebd. 16 Vgl. Karim El-Gawhary, Tiefes Geläuf im wilden Beritt, TAZ vom 18. 11. 2002; http://www.taz. de/!1077616/ (Stand: 21. 02. 2019).
Prävention als Aufgabe interkultureller und interreligiöser Bildung
139
wesen, welches von freiwilligen Vereinigungen (z. B. Vereine), Stiftungen und weiteren Nichtregierungsorganisationen getragen wird. Eine kritische und offene Debatte von politischen und gesellschaftlichen Themen ist häufig gar nicht oder nur unter Einschränkungen möglich. Das gilt und galt auch für das Themenfeld Antisemitismus und Israel.
4.
Was können Muslime dagegen tun?
Zunächst kann konstatiert werden, dass die Bekämpfung des Antisemitismus eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellt, an der sich möglichst alle relevanten Akteure beteiligen sollten. Muslime – welcher Orientierung oder Denomination sie auch immer angehören – sollten hier selbstverständlich keine Ausnahme bilden. Fokussiert man mögliche präventive Maßnahmen, die sich an die Altersgruppe von sechs bis zwölf Jahre richten, können auf der Mikroebene Familie und das familiäre Umfeld, auf der Mesoebene Gemeinde und Schule als Handlungsbereiche angeführt werden. Im Handlungsbereich Familie und familiäres Umfeld können direkte und indirekte Präventionsformate unterschieden werden. Zu den indirekten Formaten zählen alle Formen von Prävention die z. B. Eltern als Zielgruppe adressieren. Grundsätzlich kommt der Elternarbeit in dieser Altersgruppe eine sehr große Bedeutung zu. Vor allem die Eltern vermitteln in der Erziehung Regeln, Werte und Strukturen, die den Kindern Halt bieten. Sie unterstützen die Kinder, die Welt besser zu begreifen, Ereignisse zu deuten und Reaktionen aus der Umwelt vorherzusehen. Darüber hinaus bieten Eltern, Geschwister und auch andere Familienmitglieder mehr oder weniger bewusst Deutungsmuster, die zur Erklärung von Sachverhalten und Konflikten herangezogen werden. Es muss nicht besonders hervorgehoben werden, dass vieles, was an Küchentischen oder vor den heimischen TV-Geräten ausgesprochen wird, häufig keiner besonderen Reflektion unterliegt. Sofern es um den Nahostkonflikt geht, fallen mitunter durchaus problematische Aussagen zu Israel und den Juden. Gerade hier kann eine Elternbildungsarbeit für antisemitische Narrationen in der Alltagssprache in Familie und familiärem Umfeld sensibilisieren. Leider gibt es derzeit keine muslimischen Organisationen oder Initiativen, die Angebote für Eltern und familiäre Kontexte bereithalten oder Materialien (Broschüren, Handreichungen usw.) anbieten. Gleiches gilt für direkte Präventionsangebote. Auch in diesem Bereich konnten keine Angebote von Gemeinden identifiziert werden. Auf der Mesoebene sind die Handlungsbereiche Schule und Gemeinde anzuführen. In beiden Bereichen bestehen Ansatzpunkte für eine AntisemitismusPrävention. Zunächst kann hervorgehoben werden, dass Moscheegemeinden von Eltern häufig als wichtige Bildungsinstitutionen angesehen werden, die Kindern
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ein umfängliches Wissen über den Islam vermitteln. Nach Ayse Uygun-Altunbas gelten religiöse Bildungseinrichtungen in Moscheen als Orte, »an denen a) Wissensaneignung über den Islam, b) das Einüben von sozialen Fertigkeiten einschließlich religiöser Rituale, c) das Erlernen von moralischen Vorstellungen und d) die Rezitation des Korans auf Arabisch im Vordergrund steht. Auch bieten diese e) Freizeitmöglichkeiten, die für Kinder und Jugendliche einen wichtigen Erfahrungsraum darstellen.«17
Wenn Kinder die Bildungsangebote der Moscheen – insbesondere Koranunterricht – annehmen, verbringen Sie zumeist über einen Zeitraum von mehreren Jahren viel Zeit in den Gemeinden. Sofern die unterrichtenden Imame und Religionspädagog*innen für antisemitische Narrative sensibilisiert wurden und dies auch als eine religionspädagogische Herausforderung betrachten, bestehen durchaus Handlungsoptionen in gemeindlichen Angeboten. Hoffnungsvoll stimmen in dieser Hinsicht die Ergebnisse der Umfrage »Haltungen von Muslimen und muslimischen Organisationen zu Ju¨ dinnen und Juden«, die vom Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus im Jahr 2017 publiziert wurden.18 Die Studie zeigt, dass die befragten 18 Imame, die verschiedenen Verbänden angehören, Antisemitismus unter Muslimen als Problemfeld wahrnehmen. Insbesondere zum Nahostkonflikt seien antisemitische Auffassungen bei Muslimen und folglich auch unter Gemeindemitgliedern beobachtbar. Mitunter als schwierig erweise sich ferner der Umgang mit religiösen Quellen (Koran und Hadith), die von islamistischen Organisationen instrumentalisiert werden. Bekannt sei in diesem Kontext z. B. die Parole »Chaibar, Chaibar, ya, Yahoud«, die auf einen Feldzug Mohammeds gegen die jüdischen Bewohner der Oase Chaibar im Jahr 628 verweist.19 Die jüdischen Stämme unterlagen und mussten fortan die Hälfte ihrer Erträge an Muslime abgeben. Heutige Islamisten nutzen die »Erinnerung« an Chaibar als unverhohlene Drohung gegen Israel und »die Juden« im Allgemeinen. Die befragten Imame wissen um ihre herausragende Position in der Gemeinde und sehen es durchaus als ihre Aufgabe an, antisemitischen Äußerungen und Haltungen entgegenzutreten. Hierbei befänden sie sich aber in einem Spannungsfeld zwischen nichtmuslimischer Mehrheitsgesellschaft und ihren Gemeindemitgliedern. »Auf der einen Seite fordert die Mehrheitsgesellschaft von Imamen – neben dem Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten – auch den Einsatz gegen Antisemitismus. Auf der anderen Seite verlangen einige Ge17 Ayse Uygun-Altunbas, Religiöse Sozialisation in muslimischen Familien. Eine vergleichende Studie, Bielefeld 2017, 68. 18 Vgl. Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/11970, 202ff. 19 Ebd., 205.
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meindemitglieder Engagement fu¨ r Palästina und haben kein Verständnis dafu¨ r, wenn sich der Imam gegen Antisemitismus engagiert.«20 Ein Teil der befragten Imame geht davon aus, dass antisemitische Äußerungen in ihren Gemeinden nicht Ausdruck einer »geschlossenen und manifesten Ideologie« sind. Vielmehr sehen sie in den Äußerungen »unreflektierte antisemitische Stereotype bzw. Ideologiefragmente«, an denen sie als Imame arbeiten müssten.21 Einige setzen hierbei auf Gespräche und Aufklärungsarbeit. Darüber hinaus könne auch der interreligiöse Dialog bei der Bekämpfung von Vorurteilen hilfreich sein. Leider kann den Interviews nicht entnommen werden, ob und welche Maßnahmen konkret in der Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen durchgeführt werden. Vor allem im Koranunterricht bestünde die Gelegenheit, Kindern und Jugendlichen eine mehrdimensionale und reflektierte Lesart des Korans näherzubringen. In Gänze betrachtet zeigt die Untersuchung, dass in gemeindlichen Kontexten der Antisemitismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen als Problemfeld angesehen wird, das von Imamen bearbeitet werden sollte. Dieser Sachverhalt wird auch durch Erfahrungen der langjährigen Imam-Weiterbildung am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück bestätigt.22 Von 2010 bis 2018 haben weit über 100 Imame und Gemeindepädagog*innen an der modularisierten Fortbildung teilgenommen. Im Laufe der Seminare gab es immer wieder Gespräche, in denen deutlich wurde, dass eine Prävention gegen Antisemitismus in der Gemeindearbeit ein wichtiges Desiderat darstellt. Es zeigte sich aber auch, dass vor allem in der gemeindlichen Kinder- und Jugendarbeit bislang keine Konzepte oder Formate vorliegen, die eine altersgemäße Auseinandersetzung mit dem Problemfeld Antisemitismus möglich machen könnten. Dies betrifft auch den Koranunterricht, der nahezu von allen Moscheen angeboten wird. Folglich besteht ein großer Nachholbedarf an gemeindepädagogischen Angeboten, die sich an alle Altersgruppen richten. Angesichts dieser Ausgangslage wäre es wünschenswert, dass muslimische Gemeinden ihre präventiven Anstrengungen verstärken. Wie dies gelingen kann, zeigt bereits seit einigen Jahren die unabhängige Islamische Gemeinde Herne-Röhling-hausen e. V., die im Gemeindeumfeld sehr gut funktionierende Kooperationsbeziehungen aufgebaut hat. So gibt es z. B. eine Partnerschaftsvereinbarung mit dem DRK Kreisverband Herne-Wanne-Eickel. Beide Organisationen unterstützen sich z. B. in der Flüchtlingsarbeit. Zu Antisemitismus und Rassismus bezieht die Gemeinde in ihren Leitlinien eine klare 20 Ebd., 203. 21 Ebd., 207. 22 Der Autor hat über einen Zeitraum von sechs Jahren (2010–2016) als Dozent im Fortbildungsprogramm mitgewirkt. Hierbei gab es Gelegenheit zu zahlreichen Gesprächen, in denen auch über Antisemitismus und Prävention gesprochen wurde.
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Position: »Wir haben keinen Platz und kein Verständnis für Extremismus, Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie und für Ideologien, die die Religion instrumentalisieren oder unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung und die in der Menschenwürde wurzelnden Grundwerte der Verfassung nicht akzeptieren.«23 Deutlich wird diese Positionierung auch in den Gemeindeangeboten. In den vergangenen drei Jahren gab es Bildungsangebote – darunter Vorträge und Exkursionen – zum Judentum und zu Antisemitismus. Diese öffentlich sichtbaren Gemeindeaktivitäten zeigen deutlich, dass Antisemitismus kein Tabuthema darstellt. Vielmehr steht die Moscheegemeinde für einen offenen und wertschätzenden Dialog, der auch schwierige Bereiche nicht ausklammert. Nach Aussagen von Gemeindemitgliedern durchzieht diese Grundhaltung auch die Kinder- und Jugendarbeit. So werde z. B. auch bei Angeboten für Kinder darauf geachtet, dass mit Wertschätzung und Respekt über andere Religionsgemeinschaften gesprochen werde. Ein weiteres wichtiges Handlungsfeld bildet die Schule. Aus muslimischer Perspektive von besonderem Interesse ist hier vor allem der Islamische Religionsunterricht, der seit dem Jahr 2012 in einigen Bundesländern, darunter Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Hessen, angeboten wird. Islamischer Religionsunterricht wird auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 3 als ein bekenntnisgebundener Unterricht erteilt. Dies bedeutet, dass den muslimischen Religionsgemeinschaften bei der Auswahl der Unterrichtsinhalte und der Lehrkräfte Mitspracherechte gewährt werden. Islamischer Religionsunterricht wird ausschließlich von muslimischen Lehrkräften erteilt, die zumeist ein Studium der islamischen Theologie absolviert haben. In zumindest zwei Bundesländern (Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen) wird Islamischer Religionsunterricht in allen Jahrgangsstufen angeboten. Das Unterrichtsangebot befindet sich noch in der Aufbauphase und kann derzeit lediglich von ca. 5 bis 8 Prozent der muslimischen Schüler*innen angenommen werden.24 Sofern der Unterricht angeboten wird, können muslimische Schüler*innen der Altersgruppe sechs bis zwölf durchgehend teilnehmen. Der Islamische Religionsunterricht kann in Bezug auf Antisemitismus in mehrfacher Hinsicht eine wirksame präventive Funktion erfüllen. Islamischer Religionsunterricht soll nicht einfach nur islamische Inhalte vermitteln. Vielmehr soll er reflektierte Zugänge zu den Quellen ermöglichen, Perspektiven für eine Verständigungsbereitschaft öffnen und den religiösen und interreligiösen Dialog fördern. Vorzufinden sind diese Ziele z. B. im nordrhein-westfälischen Kernlehrplan für die Sekundarstufe I. 23 https://ig-ev.de/leitlinien/ (Stand: 10. 03. 2019). 24 Vgl. https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Kultusminister-will-Islam-Unterrichtausbauen,religionsunterricht108.html (Stand: 07. 03. 2019).
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»Dies bedeutet im Einzelnen: – aktive und reflektierte Auseinandersetzung mit der islamischen Religion und Tradition zu ermo¨ glichen und u¨ ber die Geschichte und die Lebenswirklichkeit der Musliminnen und Muslime zu informieren, – innerislamische und gesellschaftliche Pluralita¨ t aufzugreifen und fu¨ r deren Bedeutung und Wert zu sensibilisieren, – zur Entwicklung von Gestaltungskompetenz Perspektiven fu¨ r Versta¨ ndigungsbereitschaft, Offenheit, Toleranz und Respekt zwischen Menschen und Gesellschaften mit verschiedenen Religionen und Weltanschauungen zu ero¨ ffnen und somit ein gelungenes Zusammenleben der Menschen in Gleichberechtigung, Frieden und gegenseitiger Achtung und Zuwendung zu fo¨ rdern, – fachsprachliche Kompetenz der Schu¨ lerinnen und Schu¨ ler besonders auch im Hinblick auf die islamische Kultur und Metaphorik zu fo¨ rdern, – Wissen u¨ ber andere religio¨ se Bekenntnisse zu vermitteln, – die religio¨ se wie auch interreligio¨ se Dialog- und Urteilsfa¨ higkeit zu fo¨ rdern.«25
Von besonderer Bedeutung ist bei den Aufgaben, die der Kernlehrplan aufführt, die »reflektierte Auseinandersetzung« mit der islamischen Religion. Hier geht es vor allem um den Umgang mit Koran und Hadith. Ein reflektierter Islamischer Religionsunterricht hat die Aufgabe den Schüler*innnen zu vermitteln, dass eine ausschließlich literalistische Lesart des Koran, die den Anspruch erhebt von allen Zeitumständen gereinigt zu sein, zu hochproblematischen Ergebnisse führen kann. Belegen lässt sich dies mit einer ganzen Reihe von Versen die seit geraumer Zeit von Islamisten genutzt werden um ein überzeitliches negatives Judenbild zu zeichnen.26 So z. B. die Sure 5:13: »Und weil sie den Bund brachen, haben wir sie verflucht: und wir machten ihre Herzen verhärtet, so daß sie die Worte (der Schrift) entstellten und sie von der Stelle, an die sie gehören, wegnahmen. Und sie vergaßen einen Teil von dem, wozu sie gemahnt worden waren. Und du bekommst von ihnen immer wieder Falschheit zu sehen.« Und Sure 4:44–46: »Hast du nicht jene gesehen, die einen Anteil an der Schrift erhalten haben? Sie erkaufen den Irrtum und wollen, daß du vom Weg abirrst. Aber Gott hat sie für ihren Unglauben verflucht« Die angeführten Verse bedürfen der Kontextualisierung und einer genaueren mehrdimensionalen Betrachtung. Dies bedeutet, dass bei der Interpretation der Verse die damaligen politischen Verhältnisse, die 25 Ministerium für Schule und Weiterbildung in Nordrhein-Westfalen, Kernlehrplan für die Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Islamischer Religionsunterricht, Düsseldorf 2014, 10. 26 Der Theologe und Islamwissenschaftler Johan Bouman hat in seinem Werk »Der Koran und die Juden. Die Geschichte einer Tragödie« (Darmstadt 1990) eine ganze Reihe von Suren zusammengestellt, die das Scheitern der Annäherung von Muslimen und Juden in Medina kommentieren. Zwei Verse aus dieser Auswahl, die Bouman als »Sündenkatalog« (97) bezeichnet, werden hier nachfolgend zitiert. Bouman zitiert nach der Übersetzung von Paret, Rudi, Der Koran, Stuttgart 1966.
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Konfliktverläufe und die damals üblichen Vorgehensweisen (z. B. Regelung und Beilegung von Konflikten) mitberücksichtigt werden müssen. Darüber hinaus arbeitet eine kritisch historische Interpretation auch mit anderen Koranversen, die Aussagen über Juden enthalten. Dies wären z. B. die Sure 29:46, die einen freundlichen Umgang mit anderen Schriftbesitzern anmahnt: »Und setzt euch mit den Leuten der Schrift nie anders auseinander als auf eine möglichst feine Art.« Wohlwollende Worte finden sich ferner in Sure 2:62 : »Siehe, diejenigen, die glauben, die sich zum Judentum bekennen, die Christen und die Sabier – wer an Gott glaubt und an den Jüngsten Tag und rechtschaffen handelt, die haben ihren Lohn bei Ihrem Herrn, sie brauchen keine Furcht zu haben und sollen auch nicht traurig sein!« Selbstverständlich kann in den unteren Jahrgangsstufen keine kenntnisreiche und hochwissenschaftliche Theologie betrieben werden. Eine altersgemäße Näherung, die die kognitiven Möglichkeiten der Altersgruppe im Auge behält, ist natürlich geboten. Jedoch kann m. E. auch Kindern vermittelt werden, dass religiöse Quellen stets verschieden ausgelegt werden können und dass eine strikte Einwertigkeit zu fundamentalistischen Positionierungen führen kann, die ein friedvolles und gedeihliches Zusammenleben verschiedener Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften empfindlich stören können. Neben der Quellenarbeit kann ein Islamischer Religionsunterricht auch einen wichtigen Beitrag zur Dekonstruktion antisemitischer Narrationen leisten. Der bereits angeführte nordrhein-westfälische Lehrplan weist einen Schwerpunkt mit dem Titel »Grundzüge von Judentum und Christentum« aus, der eine vertiefte Auseinandersetzung mit Judentum und Christentum ermöglicht. Der Lehrplan benennt ein ganzes Bündel an Sachkompetenzen, wie zum Beispiel: »Die Schu¨ lerinnen und Schu¨ ler – benennen zentrale Glaubensinhalte und -grundlagen von Judentum und Christentum, – vergleichen Textstellen a¨ hnlichen Inhalts aus den heiligen Schriften von Judentum, Christentum und Islam, – erla¨ utern anhand ausgewa¨ hlter Texte die gemeinsamen Wurzeln von Judentum, Christentum und Islam und deren Bedeutung fu¨ r das Zusammenleben der Religionen, – zeigen Merkmale christlichen und ju¨ dischen Lebens in ihrem Lebensumfeld auf.«27
Durch eine vergleichende Textarbeit, die Betrachtung gemeinsamer Wurzeln und das Aufzeigen des jüdischen Lebens im Lebensumfeld erhalten die Schüler*innen die Möglichkeit sich im Rahmen des Unterrichts vorurteilsfrei mit dem Judentum in Deutschland zu befassen. Die hieraus gewonnenen Kenntnisse und 27 Ministerium für Schule und Weiterbildung in Nordrhein-Westfalen, 25.
Prävention als Aufgabe interkultureller und interreligiöser Bildung
145
darauf aufbauende Haltungen können durchaus einen Schutzfaktor gegen antisemitische Narrationen darstellen. Die ausgewählten Beispiele zeigen, dass die curricularen Grundlagen eines Islamischen Religionsunterrichts eine intensive Auseinandersetzung mit antisemitischen Narrationen, die auch auf Koran und Sunna verweisen, ermöglicht. Doch ein Curriculum alleine bildet keine ausreichende Grundlage für einen guten Unterricht. Hierfür müssen weitere Prämissen erfüllt sein. Anzuführen wären zunächst die Aus- und Weiterbildung muslimischer Lehrkräfte. Die aktuellen Studiengänge, die für künftige muslimische Lehrkräfte unter anderem in Osnabrück, Münster und Frankfurt angeboten werden, befassen sich mehr oder weniger intensiv mit Fragen des interreligiösen Dialogs und dem Umgang mit anderen Religionen. Hierunter fällt auch das Judentum. Der Umgang mit Antisemitismus ist jedoch kein Gegenstand der universitären Lehramtsausbildung. Ähnliches kann auch für den Bereich der Weiterbildung konstatiert werden. Für muslimische Lehrkräfte, die Islamischen Religionsunterricht erteilen, gibt es derzeit nur sehr wenige Fortbildungsveranstaltungen, die konkrete Hilfestellungen für den Unterricht anbieten. Schließlich kann auch nach Materialien für den Islamischen Religionsunterricht gefragt werden. Da es sich hier um ein immer noch neues Fach handelt, werden bei weitem nicht zu allen Unterrichtsgegenständen Materialien angeboten. Daher verwundert es wenig, dass derzeit keine zugelassenen Unterrichtsmaterialien für die Altersgruppe sechs bis zwölf vorliegen, die Phänomene des Antisemitismus zum Gegenstand haben.
5.
Fazit
Die Ausführungen haben gezeigt, dass eine von Muslimen verantwortete Antisemitismus-Prävention, die sich an sechs- bis zwölfjährige Kinder richtet, nur an wenigen Orten vorgefunden werden kann. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zunächst muss problematisiert werden, dass zur fokussierten Altersgruppe keine wissenschaftliche Expertise vorliegt, die auf eine solide Empirie verweisen kann. Es gibt derzeit keine Studien, die über antisemitische Äußerungen und Handlungen bei Kindern in qualitativer oder quantitativer Hinsicht Auskunft geben. Folglich kann es auch keine wissensbasierten Präventionskonzepte geben. Dennoch sind in den Handlungsbereichen teilweise Ansätze für eine präventive Praxis erkennbar, die jedoch einen erheblichen Entwicklungsbedarf aufweisen. Der größte Entwicklungsbedarf besteht in den muslimischen Gemeinden. Die angeführte Umfrage mit Imamen zeigte, dass die meisten der befragten Imame Antisemitismus unter Muslimen als ein Problem betrachten, mit dem sich auch die Gemeinden befassen sollten. Diese Sicht des Problemfelds bedeutet jedoch nicht, dass muslimische Gemeinden in einer größeren Bandbreite Antisemitis-
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mus zum Gegenstand der Gemeindearbeit machen. Bislang sind nur vereinzelte Initiativen zu beobachten. Eine nachhaltige Präventionsarbeit gegen Antisemitismus in gemeindlichen Kontexten sollte mindestens vier Eckpunkte umfassen: 1. Sensibilisierung Antisemitische Äußerungen oder Positionierungen können auch in gemeindlichen Kontexten beobachtet werden. Imame und die Gemeindeführung sollten deutlich machen, dass Antisemitismus in keiner Form geduldet wird. 2. Eltern- und Familienarbeit Solidarität mit Muslimen in Palästina ist in vielen Gemeinden ein wichtiges Thema. Wenn in Gaza oder andernorts Konflikte eskalieren, werden diese medial aufgegriffen und häufig einseitig skandalisiert. Dies betrifft auch in einem hohen Maße Alltagssituationen in Familie, Freundeskreis und Gemeinde. In Bildungsangeboten der Gemeinden kann z. B. darauf hingewiesen werden, dass bipolare Täter-Opfer-Anordnungen häufig mit antisemitischen Narrationen einhergehen. Eltern können erkennen, dass unbedachte pauschale Zuschreibungen von Kindern wahrgenommen und mitunter übernommen werden. 3. Koranunterricht Der vielleicht wichtigste Ort für eine nachhaltige Prävention gegen Antisemitismus ist der Koranunterricht. Bislang beschränkt sich der Unterricht auf das rudimentäre Erlernen der arabischen Sprache und das Rezitieren wichtiger Verse. Der Unterricht kann aber auch ein mehrdimensionales Textverständnis vermitteln, welches den Kindern zeigt, dass eine strikte literalistische Lektüre des Koran zu fragwürden Ergebnissen führen kann. 4. Begegnungsarbeit Schließlich wäre der Bereich des interreligiösen Dialogs anzuführen. Regelmäßige Besuche in jüdischen Gemeinden und gemeinsame Veranstaltungen können einen wichtigen Beitrag zu einem besseren Verständnis des Judentums leisten. Darüber hinaus können regelmäßige Kontakte zum Abbau von Vorurteilen beitragen. 5. Islamischer Religionsunterricht Ferner wurde deutlich, dass der Islamische Religionsunterricht einen wichtigen Beitrag zur Antisemitismus-Prävention leisten kann. Ein Blick in die curricularen Grundlagen des Faches zeigte, dass der Islamische Religionsunterricht vor allem im Hinblick auf die Rezeption von Koran und Sunna wichtige Impulse für eine reflektierte Auseinandersetzung mit problematischen Aussagen leisten kann. Leider erreicht das Unterrichtsangebot bundesweit derzeit lediglich ca. 5 Prozent der muslimischen Schüler*innen. Angesichts der erheblichen präventiven Potentiale wäre ein zügiger Ausbau der Angebote wünschenswert.
Didaktik nach der Shoa als Chance einer Antisemitismus-Prävention in der Grundschule
Elisabeth Naurath
Kriterien einer Didaktik nach der Shoa für den Religionsunterricht in der Grundschule
Im Gespräch mit Religionslehrkräften für Grundschulen überwiegt der Eindruck einer großen Skepsis und Zurückhaltung angesichts der Frage nach einer ›Holocaust-Didaktik‹ bzw. einer Didaktik nach der Shoa1 in ihrem Unterricht. Die Vorbehalte sind zunächst unbedingt einleuchtend, denn die Ängste, Kinder mit der Schwere und Negativität der Shoa sowohl in kognitiver als auch in emotionaler Hinsicht zu überfordern, sind nicht leicht von der Hand zu weisen. Durchaus begründet sind Sorgen angesichts schwer zu beantwortender Fragen der Schüler*innen vor möglicherweise beängstigten Nachfragen der Eltern oder im Kollegium der Schule. Ist nicht im kindlichen Alter noch ein Schonraum geboten, die Auseinandersetzung mit faschistischem, menschenverachtendem, ja sogar menschenvernichtendem Gedankengut zu scheuen und eher Vertrauen und Hoffnung in Welt und Menschen zu stärken als zu destruieren? Diese Einschätzungen und Ängste sind durchaus überzeugend und mahnen ernstzunehmend zur (religions)pädagogischen Zurückhaltung und Vorsicht. Und doch wird im Folgenden auf der Basis dieser einzufordernden Sensibilität dezidiert für eine Didaktik nach der Shoa im Religionsunterricht der Grundschule plädiert. Hierzu sollen Kriterien erarbeitet werden, mit deren Hilfe dieses schwierige Thema nicht nur möglich, sondern sinnvoll, ja gar unerlässlich im Kontext einer altersgerechten religiösen Bildung ist.
1 Stimmiger, weil unmissverständlicher ist der Begriff einer Didaktik (nach) der Shoa. Er soll hier übernommen werden, auch wenn sich im erziehungswissenschaftlichen Diskurs eher der Terminus ›Holocaust-Didaktik‹ etabliert hat. Der hebräische Begriff ›Shoa‹ stammt aus der hebräischen Bibel und bedeutet Unheil, Untergang bzw. Verderben. In der Nachkriegszeit hat sich der Begriff für die Ermordung der europäischen Juden während des Nationalsozialismus etabliert.
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1.
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›Wehret den Anfängen‹ bedeutet auch ›Verpasst nicht den richtigen Zeitpunkt‹! »Wenn die Lehre aus dem Holocaust, dies ›Nie wieder!‹ als zentrale Erfahrung der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts gilt, wenn Frieden und Toleranz nicht nur als vage Begriffe und Worthülsen, sondern im Sinne notweniger Prinzipien den Kindern tatsächlich zu vermitteln sind, dann ist es schwierig, den Holocaust auszusparen. (…) Deshalb kann das Übereinkommen über die Rechte des Kindes im Hinblick auf unsere Frage eher im Sinne einer Ermutigung verstanden werden.«2
Interessanterweise wird hier eine Perspektive eröffnet, die den Bildungsanspruch und die Rechte der Kinder groß schreibt und die kritische Frage stellt, ob man mit dem Aussparen oder der Verheimlichung der Wahrheit pädagogisch auf dem richtigen Weg sei. Gerade Janusz Korczak, der nicht nur mit seiner Vita, sondern auch mit seinen Kinderbüchern und der Magna Charta der Kinderrechte als Vorläufer der Menschenrechtsbewegung für Kinder gelten kann, hätte dem Anliegen einer ›Verheimlichung‹ wohl widersprochen und die Anerkennung von Kindern als ernstzunehmende Gesprächspartner*innen betont. Religionsdidaktisch betrachtet entspricht dieser Haltung der seit 2002 initiierte Perspektivenwechsel zum Theologisieren mit Kindern bzw. der Theologie mit Kindern3, der im Kontext einer jahrhundertelangen christlichen religiösen Erziehung als eher Belehrung oder Vermittlungsdidaktik nun die bisherigen Adressat*innen theologischer Inhalte zu Subjekten werden lässt. Dies bedeutet, dass Kinder nicht länger in einem defizitären Sinn eines ›noch-nicht-Könnens‹ und ›noch-nicht-Verstehens‹ gesehen werden, sondern man ihnen vielmehr zutraut, Wahrnehmungen aus ihrer Sicht vorzunehmen, eigene Deutungen zu finden und eigene Meinungen zu vertreten. Diesem Ansatz einer zeitgemäßen subjektorientierten Religionsdidaktik ist m. E. auch mit Blick auf eine Grundschuldidaktik nach der Shoa Rechnung zu tragen, da sie Bildung als SelbstBildung in einem lebenslangen und in jeder Phase ernstzunehmenden Prozess umzusetzen versucht. Da man davon ausgehen kann, dass Kinder – egal welchen Alters – durch die Medien bzw. durch Zuhören von Erwachsenengesprächen unweigerlich narrative Fragmente vom Holocaust mitbekommen, besteht die Gefahr, dass sie unbemerkt (da unbeachtet) und unbegleitet zu falschen Eindrücken kommen oder gar Vorurteile generieren: »Was nun geschieht ist, daß diese Kinder sich zwar eigene 2 Helmut Schreier/ Janusz Korczak, Die Kinderrechte und das ›Holocaust‹-Thema, in: Jürgen Moysich/ Mattias Heyl (Hg.), Der Holocaust. Ein Thema für Kinder? Hamburg 21998, 23–35, hier 28. 3 Vgl. hierzu die seit 2002 erscheinende Reihe Jahrbuch der Kindertheologie im KohlhammerVerlag; Vgl. Mirjam Zimmermann, Art. Kindertheologie, in: WiReLex (2015), https://www.bi belwissenschaft.de/stichwort/100020/ (Stand: 13. 05. 2020).
Kriterien einer Didaktik nach der Shoa für den Religionsunterricht in der Grundschule 151
Gedanken über das Gehörte und Gesehene machen, ihre Fragen aber oft nicht formulieren können.«4 Gerade das Halbwissen ist erwiesenermaßen ein Nährboden für unbewusste Ängste, Schuldgefühle und Abwehrmechanismen, aus denen antisemitische Haltungen erwachsen können.5 Besonders angesichts eines gesellschaftlich wieder erstarkenden Rechtsextremismus, der mit antisemitischen Haltungen gepaart ist, können informierte und in ihrem Bildungsprozess geförderte Kinder Schutzmechanismen gegenüber faschistischem Gedankengut aufbauen.6 Ähnliche Erkenntnisse finden sich zu einer Ausblendung des Themas Sexualität oder dem Themenbereich ›Tod und Sterben‹, die via Tabuisierung bei Kindern zu einer Verstärkung von Phantasien und Ängsten führen können. Im internationalen Vergleich haben wir daher gerade in Deutschland die paradoxe Situation, dass häufig erst in der 7. bzw. 8. Jahrgangsstufe eine unterrichtliche Erarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus die meisten Schüler*innen erreicht, während beispielsweise in Israel schon Kleinkinder mit dem alljährlichen Gedenken der Opfer des Holocaust am Jom haSho’a durch minutenlange Sirenen vor die gesamtgesellschaftliche Aufgabe gestellt sind, nach der Bedeutung jener Ereignisse zu fragen. Die Vermutung liegt nahe, dass gerade aufgrund der historischen Herausforderung einer konstruktiv-kritischen Aufarbeitung der eigenen Schuldgeschichte besondere Ressentiments, Ängste oder Unbewältigtes im Hintergrund einer ›Verdrängungsdidaktik‹ der Shoa stehen könnte und damit die erwiesenermaßen lebensgeschichtlich möglichst früh zu fördernde Demokratie-, Menschenrechts- und Friedensbildung ins Hintertreffen gerät. So widerspricht aus der Sicht religionspädagogischer Verantwortung eine Ausblendung des Themas Shoa in der Grundschuldidaktik des Religionsunterrichts der bildungstheoretischen Verortung dieses Faches im Fächerkanon – zumal das Thema ›Judentum‹ in allen Grundschullehrplänen für den Religionsunterricht verankert ist. Wie aber können Dialog- und Pluralitätsfähigkeit von klein auf geschult werden, wenn zwar Perspektiven des lebendigen Juden-
4 Judith S. Kestenberg, Warum und wie sollen wir Kleinkindern von der Nazi-Zeit in Deutschland erzählen? In: Jürgen Moysich/ Mattias Heyl (Hg.), Der Holocaust. Ein Thema für Kinder? Hamburg 21998, 68–76, hier 71. 5 Vgl.Elisabeth Naurath, German children and their knowledge of Judaism and the Holocaust, in: Stephen G. Parker/ Rob Freathy/ Leslie J. Francis (Hg.), History, Remembrance and Religious Education, Oxford 2015, 45–54. 6 Vgl. Konrad Schacht/ Thomas Leif/ Hannelore Janssen (Hg.), Hilflos gegen Rechtsextremismus? Ursachen, Handlungsfelder, Projekterfahrungen, Wiesbaden 1995; Ralf Melzer/ Sebastian Serafin (Hg.), Rechtsextremismus in Europa. Länderanalysen, Gegenstrategien und arbeitsmarktorientierte Ausstiegsarbeit, Berlin 2013; Vgl. Angelika Strube, Rechtsextremen Tendenzen begegnen. Handreichung für Gemeindearbeit und kirchliche Erwachsenenbildung, Freiburg 2013; Andreas Zick/ Beate Küpper (Hg.), Wut, Verachtung, Abwertung. Rechtspopulismus in Deutschland, Bonn 2015.
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Elisabeth Naurath
tums heute in Deutschland thematisiert werden sollen, deren historischen Bedingungszusammenhänge jedoch ausgeblendet werden? Insofern sollen im Folgenden Kriterien erarbeitet werden, wie eine kindgemäße Thematisierung der Shoa im Kontext religiöser Bildung für die Grundschule unterrichtlich umgesetzt werden kann.
2.
Kriterien einer kindgemäßen Didaktik nach der Shoa im Religionsunterricht
2.1.
Beachtung der zeitlichen Distanz zur Geschichte des Holocaust
Anders als noch in den 70/ 80er Jahren ist die zeitliche Distanz der heutigen Eltern- und Kindergeneration soweit vom Geschehen des Dritten Reiches entfernt, dass die Selbstverständlichkeit zur zeitgeschichtlichen Erarbeitung dieses Themenbereiches nicht mehr nolens volens gegeben ist. Doch auch wenn jüngere Entwicklungen deutscher Geschichte wie die Wiedervereinigung oder ›Europa und die Flüchtlingskrise‹ näher ins Bewusstsein gerückt sind, besteht gerade angesichts der Herausforderung einer faschismuskritischen Demokratiebildung die Notwendigkeit zur Reflexion dieser zwölf dunkelsten Jahre in der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland. Mit Noa Mkayton folgt hieraus als erstes Kriterium einer adäquaten Didaktik nach der Shoa, dass die Lernenden und nicht der Lernstoff den Ausgangspunkt bilden.7 Dies bedeutet, dass die Didaktik in der Gegenwart – und nicht in der Vergangenheit – anzusetzen hat, d. h. insbesondere beim jeweiligen familiengeschichtlichen Hintergrund der Schüler*innen: »Historische oder familiengeschichtliche Entwicklungen sollen also als identitätsprägende Faktoren wahrgenommen werden – eine Einsicht, die die Neugier auf die Zusammenhänge zwischen ›der Geschichte‹ und ›meiner Geschichte‹ wecken und damit zu identitätsstärkenden Prozessen führen kann«8. Es geht Mkayton darum, »aus der Vielzahl der meist bruchstückhaften Narrative ein eigenes Narrativ, eine Geschichte mit Anfang, Mittelteil und Ende zu konstruieren«9. Ganz bewusst knüpft sie hierbei an die jüdische Lerntradition mündlichen Lernens an. Sehr überzeugend ist die motivationspsychologische Herangehensweise, wenn zunächst Interesse für das eigene Geworden-sein und die biographischen wie familiären 7 Vgl. Noa Mkayton, Holocausterziehung im 21. Jahrhundert – die Nähe zum Entfernten, in: Lernen aus der Geschichte, Magazin zum 13. 10. 2010, 5–10, http://lernen-aus-der-geschichte. de/Lernen-und-Lehren/content/8880 (Stand: 12. 12. 2019). 8 Ebd., 6. 9 Ebd.
Kriterien einer Didaktik nach der Shoa für den Religionsunterricht in der Grundschule 153
Wurzeln geweckt werden und von hier aus dann auch ein Blick in die (im deutschen Kontext nicht selten dunkle) Familiengeschichte geworfen werden kann bzw. diese in den größeren geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext eingeordnet wird. Auf diesem Weg geschieht Werte-Bildung weniger deduktiv als induktiv, wenn deutlich wird, dass beispielweise Lebensschicksale von prosozialen Einstellungen und Haltungen abhingen und auch heute hiervon abhängen. Indem die Konstruktionsarbeit zu Lebensgeschichten anhand kindgerechter Primär- oder Sekundärquellen den Lernenden selbst zugemutet wird10, weitet sich das Komplexitätsverständnis und die Sensibilität vor vorschnellen Urteilen im gegenseitigen Austausch der Perspektiven(übernahmen): »Die Erfahrung zeigt, dass bereits junge Schüler/innen in der Lage sind, den Konstruktionscharakter von Texten und Erzählungen zu reflektieren und damit einen bewussten Umgang sowohl mit historischen Quellen als auch mit eigenen Narrativitätsstrukturen erreichen zu können.«11
2.2.
Beachtung altersgemäßer entwicklungspsychologischer Vorbedingungen
Auch aus anderen Themenbereichen der Religionsdidaktik, die zunächst für Kinder zu schwer oder zu komplex erscheinen, wissen wir, dass die den Kindern entwicklungspsychologisch möglichen Zugänge Prozesse initiieren, die konstruktive Impulse zur Weiterentwicklung des Einfühlens und Verstehens bringen. Ein Beispiel: Da die meisten Kinder frühestens gegen Ende der Grundschulzeit ein realistisches Todeskonzept entwickeln, werden religionsdidaktisch Zugänge zu einer Auseinandersetzung mit den Themen Tod und Trauer lebensgeschichtlich früher befürwortet, im Lehrplan vorgeschrieben und mit einer Fülle an Materialien für eine kindgemäße Didaktik zur Verfügung gestellt. Aus gutem Grund: Kinder begegnen schon früher dem Tod (eines Haustieres, eines Familienangehörigen etc.) und benötigen kompetente Ansprechpartner*innen für ihre Fragen, um ihrem Alter gemäße Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Nur eine sensible und reflektierte Kriteriologie im Umgang mit Bilderbüchern zum Thema Tod ermöglicht es Lehrkräften, falsche Fährten, die eine Entwicklung hin zu einem realistischen Todesverständnis behindern können – wie die Vorstellung, dass die Toten nur schlafen und bestimmt bald wieder aufwachen –, zu reduzieren. Vergleichbar ist es auch für eine Didaktik nach der Shoa notwendig, die jeweiligen Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder im Blick zu haben und 10 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Katharina Müller-Spirawski/ Vanessa Eisenhardt, »Lebendiges Zeugnis erhalten – Die Arbeit des Vereins ZWEITZEUGEN e.V.« in diesem Band. 11 Noa Mkayton, Holocausterziehung im 21. Jahrhundert – die Nähe zum Entfernten, in: Lernen aus der Geschichte, Magazin zum 13. 10. 2010, 5–10, 7; http://lernen-aus-der-geschichte.de/ Lernen-und-Lehren/content/8880 (Stand: 12. 12. 2019).
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einerseits Überforderungen zu vermeiden, andererseits jedoch auch Lernprozesse und damit Entwicklungsschritte zu initiieren. Da in der Rezeption der für die Religionsdidaktik klassisch gewordenen, strukturgenetischen Entwicklungstheorien die Altersangaben zunehmend durch weitere Kriterien wie Geschlecht, Bildungs- und Sprachfähigkeit etc. ergänzt wurden und daher differenzierter als bisher angenommen zu sehen sind, besteht für jede Lehrkraft die Herausforderung im ›forschenden Lehren‹. Dies bedeutet, konkret für die einzelnen Schüler*innen zu erforschen, wo dieses Kind steht und welche Zusammenhänge wie verstanden werden. Die strukturgenetischen Theorien zur kognitiven, moralischen und religiösen Entwicklung bilden hierzu ein wichtiges Gerüst, müssen jedoch mit Blick auf die jeweiligen Kinder auf ihre Angemessenheit geprüft und assimiliert werden. Da die Unterschiede erwiesenermaßen groß sind, bedarf es einer möglichst subjektorientierten Didaktik, die schülernahe begleitende Schritte vorsieht und sich durch eine hohe Sensibilität auszeichnet. Im Folgenden wird eine Empfehlung für die Thematisierung der Shoa in der Grundschule für die 4. Jahrgangsstufe (in selteneren Fällen für die dritte Klasse) damit begründet, dass sich die meisten Schüler*innen hier an einer Schwelle befinden, an der sowohl emotionale wie auch kognitive Kompetenzen besonders gute Voraussetzungen bieten. Wie bereits zur Genese von Vorurteilen in diesem Band beschrieben12, scheint gegen Ende der Grundschulzeit ein äußerst geeigneter Zeitraum, neue Strukturen der sozioemotionalen Einfühlung wie auch des beginnenden Verstehens von komplexeren Zusammenhängen zu generieren. Auch die Entwicklung historischen Verstehens befindet sich hier für viele Kinder in einem Übergang, Zeiträume und zeitliche Abstände vorstellbarer einzuordnen zu können.13
2.3.
Beachtung der Förderung sozioemotionaler Kompetenzen
Da in Deutschland die schulische Thematisierung des Nationalsozialismus und damit auch der Judenverfolgung und -vernichtung üblicherweise erst in den Sekundarstufen vorgenommen wird, stehen kognitive Zugänge, Wissenserwerb und der Versuch des Verstehens komplexer Zusammenhänge (z. B. wie konnte es 12 Verweis auf den Text von Elisabeth Naurath, Antisemitismus als religiöses Vorurteil. Entwicklungspsychologische Vorurteilsprävention in der Grundschule durch religiöse Bildung, in diesem Band. 13 Vgl. Andrea Becher/ Eva Gläser/ Berit Pleitner u. a. (Hg.), Die historische Perspektive konkret. Begleitband zum Perspektivrahmen Sachunterricht, Bad Heilbrunn 2016; Klaus Bergmann/ Rita Rohrbach (Hg.), Kinder entdecken Geschichte. Theorie und Praxis historischen Lernens in der Grundschule und im frühen Geschichtsunterricht, Frankfurt 2001.
Kriterien einer Didaktik nach der Shoa für den Religionsunterricht in der Grundschule 155
dazu kommen?) im Vordergrund. Meist geschieht dies ohne tiefergehende Reflexion dessen, welche emotionalen Gehalte (Ängste, Schuldgefühle, Vorurteile, Abwehrhaltungen etc.) sich in den bisherigen Lebensjahren und -kontexten bei den Schüler*innen schon etabliert haben. Das aber heißt, dass die emotionale Dimension weitgehend ausgeblendet wird und damit in persönlichkeitsbildender Hinsicht in den Hintergrund tritt. Da jedoch mit dem bildungstheoretischen Ziel des Aufbaus zur Empathieförderung der Zusammenhang von Kognition und Emotion unabdingbar ist, ist hier eine wertvolle Phase zur Entwicklung emotionaler Kompetenz – auch hinsichtlich der Prävention antisemitischer Einstellungen – bereits verpasst. Die Konzepte emotionaler Kompetenz zur »Entwicklung einer balancierten Persönlichkeit, die den Erwerb von Beziehungsfähigkeit, Bewältigungskompetenzen und Fähigkeiten zur Selbstregulation einschließt«14 setzen voraus, verschiedene Dimensionen zu berücksichtigen: Empathiefähigkeit basiert auf der Fähigkeit, sich eigener emotionaler Befindlichkeiten bewusst zu sein, Wahrnehmungsfähigkeit hinsichtlich der Gefühle anderer zu schulen und einen konstruktiven Umgang mit sozial problematischen Gefühlen einzuüben. Nach Saarni ist der Faktor der Selbstwirksamkeit entscheidend: »Wenn eine Person auf eine emotionsauslösende soziale Transaktion reagiert und sich erfolgreich ihren Weg durch den interpersonalen Austausch bahnt und dabei gleichzeitig die eigenen emotionalen Reaktionen wirksam reguliert, dann hat diese Person ihr Wissen über Emotionen, Ausdrucksverhalten und emotionale Kommunikation in strategischer Weise angewandt.«15 Die Forschungen zur Entwicklung und Förderung von Mitgefühl im Kontext ethischer Bildung in der Religionsdidaktik16 zeigten, dass Kindern die Fähigkeit zu mitfühlendem und tröstendem Verhalten quasi in die Wiege gelegt ist, jedoch nicht selten aufgrund mangelnder Förderung verkümmert bzw. durch erzieherische Interventionen an vermeintlich Verantwortliche delegiert wird. Insofern ist es evident, diese lebensgeschichtlich schon früh vorhandenen emotionalen Kompetenzen durch geeignete Bildungsprozesse zu fördern. Gerade im Kontext einer friedenspädagogisch begründeten Antisemitismus-Prävention ist es daher relevant, auch emotionale Zugänge in für das Grundschulalter geeignete Lernprozesse einzubinden und in wachsendem Maße – in Abhängigkeit zur Kognitionsentwicklung – auch mit Wissens- und Verstehensprozessen zu verknüpfen. Konkret: Dass jüdische Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus nicht fair und gut behandelt wurden, leuchtet schon mit niedrigschwelligen Zugängen jedem 14 Carolyn Saarni, Die Entwicklung von emotionaler Kompetenz in Beziehungen, in: Maria von Salisch, Emotionale Kompetenz entwickeln. Grundlagen in Kindheit und Jugend, Stuttgart 2002, 3–30, hier 14. 15 Ebd., 10. 16 Vgl. Elisabeth Naurath, Mit Gefühl gegen Gewalt. Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung in der Religionspädagogik, Neukirchen 32010.
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Kind ein. Hierzu bedarf es keiner Konfrontation etwa mit belastendem Bildmaterial oder narrativen Gewalttexten. Vielmehr ist deutlich zu zeigen, dass Menschen so herabsetzend, diskriminierend und ungerecht nicht behandelt werden dürfen, weil sie eben Menschen wie du und ich sind. Kinder haben auf dieser emotionalen Ebene viel Gespür für Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeitsempfinden. Narrative Einblicke in Lebensgeschichten auch und besonders von Kindern im gleichen Alter – wie dies beispielsweise im Projekt Heimatsucher bzw. Zweitzeugen geschieht17 – sind überaus geeignet, prosoziale Fähigkeiten auf der Basis emotionaler Kompetenzen zu schulen, um später mit Wissenszuwachs und komplexeren Hintergrundinformationen zu den Geschehnissen der Shoa Verstehenszusammenhänge aufzubauen, die Fühlen mit Denken wie auch Denken mit Handeln verbinden. Hintergrund dieser These sind emotionspsychologische Erkenntnisse, die gezeigt haben, dass Kinder, die das emotionale Erleben anderer nachvollziehen können, auch sozial kompetenter sind. Prosoziales Verhalten wird da gefördert, wo mitfühlend-empathische Kompetenzen mit zunehmendem Alter (meist mit Ende der Grundschulzeit) mit der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme verbunden werden können. Hierzu bedarf es der Wahrnehmungsschulung von Emotionen, des Aufbaus von Emotionswissen und die Förderung von Kompetenzen zur Emotionsregulation.18 Insofern ist ein evidentes Kriterium für eine Grundschuldidaktik nach der Shoa im Rahmen religiöser Bildung, die Kompetenzorientierung so zu konzipieren, dass eben diese sozioemotionale Förderung im Blickpunkt des unterrichtlichen Handels steht.
2.4.
Beachtung des Schutzes vor Traumatisierungen
Die Konfrontation mit den Schrecken der Shoa ist immer überaus belastend, schockierend und nicht selten massive Ohnmachtsgefühle auslösend. In einem Bild gesprochen fühlt es sich an als wohnte man dem Sündenfall der Menschheit bei und verlöre mit der Kenntnis dessen, was an Gräueltaten verübt wurde, in gewisser Weise selbst die menschliche Unschuld. Aus Angst vor dieser tiefgreifenden Erkenntnis und emotionalen Belastungsprobe wird – wie bereits dargestellt – nicht selten dafür plädiert, eine Didaktik nach der Shoa möglichst spät in die Klassenzimmer zu bringen. Allerdings hat sich erwiesenermaßen gezeigt, dass auch im Grundschulalter diese Erstbegegnung meist schon in familiären 17 Verweis auf den Text von Müller-Spirawski und Eisenhardt ›Lebendiges Zeugnis erhalten – Die Arbeit des Vereins ZWEITZEUGEN e.V.‹, in diesem Band. 18 Vgl. Franz Petermann/ Silvia Wiedebusch, Emotionale Kompetenz bei Kindern, Göttingen 3 2016.
Kriterien einer Didaktik nach der Shoa für den Religionsunterricht in der Grundschule 157
oder medialen Zusammenhängen geschehen ist, d. h. häufig ohne kompetente Anteilnahme oder Begleitung. Insofern ist gerade der Schutz vor Traumatisierung das didaktische Ziel, die Grundschulkinder in ihren Fragen und Gefühlen zum Holocaust ernst zu nehmen. Es empfiehlt sich jedoch – anders als in einer subjektorientierten Didaktik – nicht mit den bereits vorhandenen kindlichen Eindrücken oder Kenntnissen einzusetzen, um nicht bereits in den ersten Minuten alle schon einmal gehörten Schrecken des Nazi-Regimes präsent zu haben. Vielmehr ist es wichtig, sehr strukturiert, leitungsorientiert und sensibel vorzugehen, um eine emotionale Überforderung zu vermeiden. Das heißt sicher auch, manche Kinder, die schon mehr wissen, etwas in ihrem Mitteilungsbedürfnis zu bremsen und eine thematische Beschränkung bzw. Auswahl an Narrationen, Hintergrundinformationen und Wissen als geeignete Wege zu den Schüler*innen zu suchen. In Anknüpfung an die israelische Psychologin und Holocaust-Überlebende Batsheva Dagan geht es zum Schutz vor Traumatisierung der Kinder vor allem um altersgemäße Zugänge, die bestimmte Kriterien erfüllen sollten19: – eine schrittweise Annäherung gemäß dem kindlichen Entwicklungsstand – eine selektive Auswahl an Inhalten, um Traumata zu verhindern – eine Priorisierung personaler Zugänge anstelle von generalisierenden Hinweisen zur Ermordung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden – erst in einem späteren Alter eine systematische Aufarbeitung von historischen, ökonomischen oder psychologischen Faktoren – Rücksichtnahme auf emotionale Befindlichkeiten der Schüler*innen, wo auch immer sich diese gerade befinden. Sehr überzeugend benennt auch Noa Mkayton als pädagogische Mitarbeiterin der Internationalen Gedenkstätte Yad Vashem dies als »eine der diffizilsten Anforderungen an Pädagogen«20. Sie plädiert zu Recht auf den bewussten Verzicht auf Hinweise oder gar Details zu dem eigentlichen Genozid, um empathische Lernvorgänge überhaupt in Gang zu setzen: »Dabei geht es nicht um die künstliche Herstellung einer ›Lightversion‹ des Holocaust, sondern um das bewusste Aussparen von Lerninhalten mit traumatisierendem Potential, ohne je19 Vgl. Batsheva Dagan, Helping Children to Learn about the Holocaust – A Psycheducational Approach – Why, What, How, When (Vortragsskript für die Tagung Rememebering for the Future II), Berlin 1994 (zit. nach: Mattias Heyl, Erziehung nach Auschwitz, Eine Bestandsaufnahme Deutschland, Niederlande, Israel, USA, Hamburg 1997, 289ff.). 20 Noa Mkayton, Holocaustunterricht mit Kindern – Überlegungen zu einer frühen Erstbegegnung mit dem Thema Holocaust im Grundschul- und Unterstufenunterricht, in: Medaon – Magazin für Jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 5. Jg., 2011, Nr. 9, 1–9, 6, https:// www.yadvashem.org/de/education/about-school/learning-materials-by-age.html; (Stand: 13. 05.20).
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Elisabeth Naurath
doch auf eine klare und eindringliche Beschreibung der Verluste, die Menschen zugefügt wurden, zu verzichten.«21 Methodisch sollen narrative Texte eines Überlebenden in der Ich-Perspektive erzählt werden, wobei anschauliches Material (auch Fotos – allerdings ohne Gewaltdarstellungen) verwendet werden sollten, um die Möglichkeit eines differenzierten und kritischen Einfühlens in die subjektiven Deutungen des Erlebens nachvollziehbar zu machen. Sehr überzeugend gehe es nicht darum, den Wahrheitsgehalt authentischer Texte in Frage zu stellen, sondern »in der empathischen Auseinandersetzung mit dem subjektiven Erinnerungstext eines Überlebenden erste Einblicke in den Konstruktionscharakter von Geschichtserzählung zu gewinnen.«22 Interessant ist hierbei, sich auf biographische Texte von Überlebenden zu fokussieren. Dies hat den evidenten Vorteil, dass der positiv gehaltene Ausgang vor radikalen Desillusionierungen schützt und im Gegenteil die Hoffnung weckt, dass auch die Errettung und der Einsatz für das das Gute zielführend und zukunftsweisend sein können. Auch dies schützt wirkungsvoll vor Traumatisierungen.
2.5.
Beachtung einer auf Sensibilität basierenden Didaktik und Methodik
Auch wenn wir heute von Medienkindheit sprechen und schon für Grundschulkinder von einer medialen Gewöhnung an gewalttätige Darstellungen via Fernsehen, Internet, Computerspiele etc. auszugehen ist, bedeutet dies nicht, dass alle Kinder gleichermaßen empfindsam – oder müsste man eher sagen: wenig empfindsam bzw. abgestumpft – sind. Im Kontext einer subjektorientierten Didaktik sind daher die einzelnen Schüler*innen in den Blick zu nehmen und auf der Basis eines prinzipiellen Schutzes der Sensibleren didaktisch wie auch methodisch Rücksicht zu nehmen. Gerade der Religionsunterricht intendiert eine Didaktik der Gewaltprävention23, so dass die Förderung von Dialogund Pluralitätsfähigkeit als mitlaufendes Prinzip einer auf ethische Bildung ausgerichteten Didaktik zu sehen ist: »In besonderer Weise werden im schulischen Kontext die so genannten wertebildenden Fächer wie Religionsunterricht und Ethik als Fachdidaktiken mit hohem persönlichkeitsbildendem Anteil in der Verantwortung zur Bildung prosozialer Kompetenzen gesehen.«24 Schlüssel zur Verständigung und Lösung von Konflikten sind daher konstruktive Strategien, die einerseits auf Gewaltlosigkeit setzen und andererseits dennoch Position und 21 Ebd. 6. 22 Ebd., 7. 23 Vgl. Elisabeth Naurath, Gewaltpräventives Lernen, in: Saskia Eisenhardt, Kathrin S. Kürzinger, Elisabeth Naurath, Uta Pohl-Patalong (Hg.), Religion unterrichten in Vielfalt: konfessionell – religiös – weltanschaulich. Ein Handbuch. Göttingen 2019, 214–222. 24 Ebd., 215.
Kriterien einer Didaktik nach der Shoa für den Religionsunterricht in der Grundschule 159
Haltung beziehen. Ein Lernen an Vorbildern, die im Religionsunterricht zu Leitfiguren für eine religiöse Überzeugung zur Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit werden können, ist ein überzeugender religionsdidaktischer Weg mit langer Tradition.25 Das Lernen an außergewöhnlichen Biografien von Menschen, die für ihre Überzeugung zur Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit eintraten und nicht selten Nachteile, Verfolgung oder den Märtyrertod erleiden mussten, können gerade im Religionsunterricht als Modelle einer konstruktiv gelebten Verbindung von Gottesliebe und Menschenliebe gelten. Mit Blick auf die Shoa wäre es beispielsweise adäquat, die so genannte ›Liste der Gerechten unter den Völkern‹ zu thematisieren, um zu zeigen, dass es Menschen gab, die unter Einsatz ihres Lebens gegen die Verfolgung von Menschen jüdischen Glaubens eintraten. Ein sichtbarer Hinweis auf die ›Allee der Gerechten unter den Völkern‹ mit vielen tausend gepflanzten Bäumen aus aller Welt in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem untermauert dies als Hoffnungszeichen für eine Haltung, der auf lange Sicht Anerkennung und Bewunderung folgen. Methodisch ist es für die Thematisierung der Shoa im Religionsunterricht der Grundschule empfehlenswert, kein Foto- oder Film- bzw. Videomaterial zu verwenden, da die real wirkende Härte von dokumentarischem Material weniger Deutungsräume zulässt als beispielsweise Zeichnungen und Bilder. Dies geschieht, da der Einsatz von Bildern in der Grundschule der konkretisierenden Verdeutlichung von Inhalten dient und aus entwicklungspsychologischen Gründen evident ist, um mittels konkreten Anschauungsmaterials die Vorstellungskraft der Kinder zu motivieren. Wenngleich Fotos in gewisser Weise tatsächliche Ereignisse darstellen, können auch hier Wahrheitsgehalte verzerrt bzw. bewusst manipuliert sein (z. B. Fotos, die Hitler als Tierliebhaber zeigen). Demgegenüber fordert künstlerisches Bildmaterial immer zur Deutung auf und weitet so den Reflexionshorizont. Insbesondere Zeichnungen von jüdischen Kindern, die ihre Eindrücke und Erlebnisse in Bildern zum Ausdruck gebracht haben, sind besonders geeignet, Identifikationsmöglichkeiten zur Förderung mitfühlender Kompetenzen anzubieten. Zu erwähnen wären beispielsweise die Kinderzeichnungen von Helga Hosková-Weissová, die ihre Eindrücke und Erlebnisse in den Konzentrationslagern von Theresienstadt und Auschwitz verarbeitet hat.26
25 Vgl. Hans Mendl, Modelle – Vorbilder – Leitfiguren. Lernen an außergewöhnlichen Biografien, Stuttgart 2014. 26 Vgl. Helga Hosková-Weissová, Zeichne, was du siehst. Zeichnungen eines Kindes aus Theresienstadt, Göttingen 2004; Helga Weiss, Und doch ein ganzes Leben. Ein Mädchen, das Auschwitz überlebt hat, Köln 2013.
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3.
Elisabeth Naurath
Friedenspädagogische Ermutigung als religionspädagogisches Leitmotiv einer Didaktik nach der Shoa
Die Brutalität und Komplexität des Geschehens der Shoa scheint einer Thematisierung in der Grundschule zunächst begründet entgegen zu stehen. Doch zeigte sich sowohl in soziologischer wie auch in entwicklungspsychologsicher Hinsicht, dass eine Erstbegegnung mit dem Thema in der Regel vor der als Ideal gesehenen Erarbeitung im schulischen Unterricht der weiterführenden Jahrgangsstufen geschieht und dies aufgrund der pädagogisch nicht begleiteten Konstruktion von geschichtlichem Halbwissen besonders problematisch ist. Hierbei liegt erwiesenermaßen das Problem nicht nur bei dem Desiderat eines der historischen Komplexität gerecht werdenden Wissens um die Geschehnisse und Verstehens der Zusammenhänge, sondern bei der Konstruktion von Abneigungen, Schuldgefühlen, Vorurteilen oder Feindbildern. Insofern überzeugen Ansätze, die für den kindlichen Bereich die Lerndimensionen weiten. Beispielsweise sind im ›Drei-Punkte-Programm‹ von Ido Abram für den kindlichen Kontext folgende Leitlinien formuliert: – »Erziehung nach Auschwitz bedeutet, Empathie (die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen) und Wärme (eine Atmosphäre von Geborgenheit, Sicherheit und Offenheit) zu fördern. – Erziehung nach Auschwitz bedeutet, Autonomie zu fördern, das heißt, die Fähigkeit zum Nachdenken, zur Selbstbestimmung, zum Nonkonformismus. – Erziehung nach Auschwitz bedeutet, die Empathie mit Tätern, Opfern und Zuschauern zu fördern. Keinem Kind ist eine dieser drei Rollen wirklich fremd.«27
Für diese Weitung plädiert auch Noa Mkayton, wenn sie vorschlägt, »auf der Grundlage dieses Verständnisses, den Holocaustunterricht in der Unterstufe ausdrücklich nicht als reines Geschichtelernen deklariert, weiterzudenken«28. Dies aber bedeutet zusammenfassend, dass eine Didaktik nach der Shoa im Religionsunterricht der Grundschule weder eine biographische Erstbegegnung mit diesem Thema intendiert, sondern vielmehr eine Chance zur begleiteten Reflexion der Eindrücke, Gedanken und Gefühle, die sich schon bei den Kindern quasi unbemerkt fundiert haben. Dann geht es jedoch im Religionsunterricht im Weiteren nicht um eine historische Aufarbeitung der Geschichte des National27 Ido Abram, Holocaust, Erziehung und Unterricht. Vortrag aus Anlass der Gründung der Forschungs- und Arbeitsstelle (FAS) ›Erziehung nach/über Auschwitz‹ am 20. 05. 1998, Amsterdam 1998, 4, http://www.fasena.de/download/grundschule/Abram%20(1998).pdf; (Stand: 11.05.20). 28 Mkayton, Holocaustunterricht mit Kindern, 2.
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sozialismus in Deutschland, die in den weiterführenden Schulen im Verantwortungsbereich anderer Fachdidaktiken wie beispielsweise der Geschichtsdidaktik liegt. Vielmehr geht es um das friedenspädagogische Prinzip religiöser Bildung, sozioemotionale Kompetenzen wie Mitgefühl zu fördern und damit religiöse auch als ethische Bildung zu verstehen. Gerade angesichts des im Grundschullehrplan für den Religionsunterricht vorgesehenen Themenbereichs Judentum ist es neben der unterrichtlichen Fokussierung des so genannten lebendigen Judentums notwendig, die Geschichte des Antisemitismus nicht zu verschweigen. Dass die Shoa der schlimmste und traurigste Höhepunkt dieser – auch christlich bedingten – Geschichte des Antisemitismus war, hat hier in einer kompetenten und kindgerechten Annäherung an das Thema seinen Ort. Um freilich die in diesem Beitrag benannten Kriterien einer Didaktik nach der Shoa im Religionsunterricht der Grundschule schülerorientiert umsetzen zu können, bedarf es einer zukunftsweisenden Professionalisierung von Religionslehrkräften in Studium und Weiterbildung, die bislang noch weitgehend aussteht.29 Last but not least soll Erwähnung finden, dass gerade die emotionale Dimension der Begegnung mit dem Themenbereich der Shoa im Religionsunterricht der Grundschule eines Raumes bedarf, der in seelsorgerlichen und liturgischen Formen einen angemessenen Ausdruck finden kann. Die Formulierung von Gebeten, das Lesen von Psalmen, das Anzünden einer Kerze, das stille Gedenken und die Zusage, dass die Sprachlosigkeit in Gottes Wort aufgehoben sein kann, können Formen sein, die trösten und ermutigen.
29 Vgl.. Art. »Antisemitismus-Prävention als Aufgabe der Lehramtsaus- und fortbildung auch für Grundschullehrkräfte« von Jasmin Kriesten in diesem Band.
Reinhold Mokrosch
»Könnte ich doch meinen Kindern Empathie beibiegen!« – Interviews mit Lehrkräften über Antisemitismus-Prävention in der Grundschule
Ist Antisemitismus-Prävention schon in Grundschulen notwendig und sinnvoll? Und: Gibt es schon in der Grundschule einen unbewussten oder bewussten, verborgenen oder offenen Antisemitismus? Der Beantwortung dieser beiden Grundfragen dienten meine zahlreichen Zusatzfragen: Kommen unter 6- bis 12-Jährigen antisemitische Äußerungen, Schimpfworte oder Gesten vor? Was ist der Grund für den heute wieder aufflammenden Antisemitismus – auch an Schulen? Gibt es einen spezifisch muslimischen Antisemitismus? Welche Art von Antisemitismus-Präventionsarbeit sollte man in der Schule praktizieren? Sollte man dazu schon mit 6- bis 12Jährigen Einzelschicksale der Shoa erarbeiten? Oder sind Kinder damit emotional, moralisch und religiös überfordert? Kann man in ihrem Bewusstsein historisches Erinnern und Gedenken fördern? Und überhaupt: Kann man vorbeugend präventiv einen Schutzwall gegen möglichen späteren Antisemitismus im Herzen dieser Kinder aufrichten? Diese und andere Fragen habe ich an 10 Lehrkräfte gerichtet, um einen Einblick in deren Möglichkeiten und Bereitschaft zur Antisemitismus-Prävention in der Grundschule zu erhalten. Absichtlich habe ich nicht nur Grundschul-Lehrkräfte, sondern auch Lehrkräfte aus dem Sek I-Bereich, die sich allerdings mit Grundschulen gut auskennen, befragt. Außerdem gibt es ja Bundesländer, in denen die Grundschule bis zum 6. Schuljahr reicht. Ich wollte darüber hinaus erkunden, wie es später bei 13- bis 16-Jährigen aussieht. Es handelt sich um folgende Aufteilung aus Osnabrücker Schulen: – Grundschullehrerin Rosenplatzschule Osnabrück (OS) (L 1) – Grundschullehrerin Studienleiterin Grundschule Religion, OS (L2) – Grundschullehrerin Diesterwegschule OS (L 3) – Grundschullehrer Elisabethschule OS (L4) – Hauptschullehrerin bes. 5./6. Schuljahr Hauptschule Wallenhorst (L5) – Hauptschullehrer bes. 5./6. Schuljahr Hauptschule Wallenhorst (L6) – Realschullehrer bes. 5./6. Schuljahr Bertha v. Suttner Realschule OS (L7) – Realschullehrer bes. 5./6. Schuljahr Bertha v. Suttner Realschule OS (L8)
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Oberschullehrer bes. 5./6. Schuljahr Hasbergen Schule am Roten Berg (L9) Gymnasiallehrerin, nur 5./6. Schuljahr Ratsgymnasium OS (L10) Berufsschullehrerin, Berufsschule am Pottgraben OS (L11) Zusätzlich: Sanem Kleff (Internet) KGS »Schule ohne Rassismus«, bes. 5./6. Schuljahr (L12)1
Ich habe allen Lehrkräften den angehängten Fragebogen mit der Bitte um Ausfüllung ausgehändigt und anschließend ein ca. 30- bis 50-minütiges Gespräch darüber mit ihnen geführt. Die Befragung hat also keinen repräsentativen Charakter, sondern gibt nur die Einstellungen dieser interviewten Lehrkräfte wieder.2 Ich zitiere die Antworten und Ausführungen der Interviewten mit der jeweiligen Bezeichnung L1 – L12. Ich gebe sie nicht wortwörtlich wieder, weil ich bei den Interviews kein Tonband mitlaufen ließ. Ich habe protokolliert und den Interviewten dieses Protokoll zur Überprüfung ausgehändigt und von ihnen bestätigen lassen.
Zur Frage: Halten Sie unser Buch-Projekt zur Antisemitismus-Prävention für sinnvoll? »Ja, sehr!« antwortete die Grundschullehrerin L 2 spontan: »Mit 8 Jahren konstruieren Kinder ihr Weltbild. Im Klassenraum sitzen ja Kinder aus verschiedenen Nationen mit verschiedenen Kulturen, Religionen und Ethnien zusammen. Und sie entscheiden, wer ihre Freunde und Freundinnen sind, und wer nicht; und sie fragen sich, ob sie eine Gemeinschaft sind und zusammengehören wollen. Und da kann es schon mal zu rassistischen Gefühlen, Äußerungen oder Gesten kommen. Im Alter zwischen 6 bis 12 Jahre werden doch die Weichen gestellt!«
»Ja, natürlich!« reagierte eine andere Grundschullehrerin L 1: »Im Grundschulalter entwickeln unsere Kinder doch Empathie, Sympathie und Antipathie. Mit schon 6/7 Jahren entstehen soziale Vorurteile, z. B. über die blöden Nachbarn oder über die doofen Jungs bzw. Mädchen; wenn einfach die Gefühle vorherrschen, ohne Kognition. Aber mit 8/9 Jahren fragen dann manche Kinder: Stimmt das wirklich, dass die so blöd und doof sind? Weil die Kinder dann schon vom anderen her denken und fühlen können. Und ab 10 entstehen dann Vorurteile und Urteile, die sich oft verfestigen. Das hängt von den jeweiligen Begegnungen ab. Begegnen unsere Grund1 https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/genau-hinschauen/ (Stand: 12. 4. 2020). 2 Die einzelnen Gespräche mit den Namen der Interviewten können bei mir ([email protected]) abgerufen werden. Aus Datenschutzgründen darf ich sie hier nicht veröffentlichen.
Interviews mit Lehrkräften über Antisemitismus-Prävention in der Grundschule
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schulkinder Juden z. B. in dem Projekt ›Judentum begreifen‹3, dann kann das lebenslänglich vor Antisemitismus bewahren. Haben sie aber überhaupt keinen Kontakt mit Juden, dann verfestigen sich negative Vorurteile. Je weniger Begegnung, desto größer die Vorurteile. Das alles entsteht schon in der Grundschule. Deshalb ist Ihr Buchprojekt sehr sinnvoll.«
Die Lehrerin L 10 wandte allerdings ein: »Präventionsarbeit ist immer gut. Aber Antisemitismus-Prävention steht bei mir z. Zt. nicht auf der obersten Agenda für meine 11/12-Jährigen. An oberster Stelle im Unterricht steht für mich ›Integration von Migranten‹. Denn wenn das gelingt, dann nimmt auch der neue Antisemitismus wieder ab«,
war sie überzeugt. Die befragten Lehrkräfte stuften also Antisemitismus-Präventionsarbeit in die psychische und soziale Entwicklung und Identitätsbildung der Kinder ein. Und sie meinten, dass Vorurteile und Feindbilder in dieser Phase von 6 bis 12 Jahren sich sehr schnell verfestigen könnten. Das bedeutete für sie auch, dass sie Antisemitismus-Prävention mit Anti-Rassismus-Prävention zusammenbringen wollen. Sie halten, das zeigten auch die anderen Interviews, Antisemitismus für eine Art Rassismus. Das trifft allerdings, wie ich ihnen entgegnete, nicht immer zu. Denn ein antiisraelisch orientierter sog. Antisemitismus z. B. sei keineswegs rassistisch motiviert, was Vielen einleuchtete. Kritik z. B. an der israelischen Regierung, so meinten sie, sei zwar antisemitisch, wenn man jeden Juden auf der Welt dafür verantwortlich mache, trage aber keine rassistischen Züge. Fast alle 10 Lehrkräfte fragten mich, was ich bei meiner Untersuchung für Antisemitismus halte und was denn Antisemitismus sei. Daraufhin nannte ich jedem der 10 Interviewten die sechs klassischen Formen von Antisemitismus heute: 1. Der rassistische Antisemitismus (Juden seien eine minderwertige Rasse, die im Sinne einer Ideologie der Ungleichwertigkeit nicht zur Menschheitsgeschichte gehörten und eliminiert werden müssten.) 2. Der sekundäre Antisemitismus (Er hat nichts mit Rassismus zu tun, sondern leugnet Holocaust und Shoa. Das seien perverse Erfindungen von Juden, die Reparationen und Entschädigungen ergaunern und Deutschland ein schlechtes Gewissen machen wollten. Die Juden sind Täter, die Deutschen sind Opfer.) 3. Muslimischer Antisemitismus (Auch er ist nicht rassistisch motiviert. Er wird angeheizt durch Israel- und Zionismus-Kritik, ist damit aber nicht identisch.
3 Vgl. den entsprechenden Aufsatz von Elisasbeth Naurath, Aloys Lögering und Reinhold Mokrosch in diesem Band.
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Er lehnt viele, nicht aber alle Juden ab, so wie der Koran viele, aber nicht alle Juden ablehnt.) 4. Israelkritischer Antisemitismus (Für die Politik Israels bes. gegenüber den Palästinensern werden alle Juden dieser Welt verantwortlich gemacht, auch wenn sie niemals in Israel gelebt haben und vielleicht auch die israelische Politik kritisieren.) 5. Christlicher Antisemitismus (Die Juden haben Jesus Christus ermordet. Sie haben Hostien geschändet, Brunnen vergiftet und christliches Kinderblut getrunken. Und: Sie anerkennen Jesus Christus nicht als Messias.) 6. Verschwörungsorientierter Antisemitismus (Die Juden haben den 1. und 2. Weltkrieg angezettelt. Sie haben 9/11 initiiert und den Syrien-, den JemenKrieg und die Corona-Pandemie vom Zaun gebrochen. Und sie wollen die Weltbank erobern, wie die »Protokolle der Weisen aus Zion« – ein antisemitisches, auf Fälschungen beruhendes Pamphlet von 1903 – es beweisen: Die Juden sind Europas Unglück.) Alle Lehrkräfte reagierten spontan ohne weitere Erklärung: Die 5. und 6. Form von Antisemitismus gäbe es überhaupt nicht an Schulen und auch nicht in ihrem Lehrer-Bewusstsein. Die 2. Form sei eine Seltenheit. Aber die 1., 3. und 4. Form von Antisemitismus sei in unterschiedlicher Weise in Schulen zu finden, weniger an Grundschulen, aber oft in höheren Klassen.
Zur Frage: Beobachten Sie in Ihrer Schülerschaft antisemitische, antijüdische oder antiisraelische Äußerungen, Schimpfworte oder Gesten – sei es im Klassenraum, auf dem Schulhof oder außerhalb der Schule? Die Beobachtungen der Lehrkräfte waren unterschiedlich. Die GrundschulLehrerinnen L 1 und L 2 betonten, dass es früher Schimpfworte wie »Du Jude«, »Du blöder Jude«, »Du gemeiner Jude«, »Du Judensau« gab; dass solche Beschimpfungen aber nachgelassen hätten. »So wie die Kinder sich früher ›Du Spasti‹ angepöbelt hatten«, meinte L 2 »so schrien sie in der nächsten Generation ›Du blöder Jude‹, – ohne zu wissen, was das bedeutet. Aber heute hört man das nicht mehr. Spasti und Jude – fast gar nicht mehr.« Und beide Lehrerinnen betonten, dass es keine Unterschiede zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Kindern gäbe. »Ach doch«, erinnerte sich aber L 2, »ein 9-jähriges muslimisches Mädchen aus Syrien sagte einmal vor der ganzen Klasse: ›Die Juden sind unsere Feinde! Die sind schuld, dass wir hier sind‹. Offensichtlich glaubte sie,
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dass Israel für den Krieg in Syrien verantwortlich sei. Aber das halte ich nicht für Antisemitismus, sondern für Anti-Israel«, meinte die Lehrerin. Differenziert äußerte sich L 10 über ihre 11/12-Jährigen am Gymnasium: »Kinder verrohen heute in ihrer Sprache. ›Ich hasse Dich‹ hört man oft. Oder: ›Es gibt nichts Unsozialeres als Dich‹. Das ist üblich und gebräuchlich unter Kindern heute. Dabei instrumentalisieren sie manchmal auch jüdische Begriffe, wenn sie nachschieben: ›wie ein Jude‹. Sie mobben sich gegenseitig. Sie teilen gerne aus, stecken aber ungern ein.«
Oberschullehrer L 9 berichtete ganz anders: »Unsere muslimischen Jungen, nicht die Mädchen, lehnen Juden als Juden ab, – obwohl sie mit keinem Juden jemals Kontakt gehabt haben. Juden sind für sie Geldspieler. Ja, ›Jude‹ ist das erste deutsche Wort, das sie in Deutschland lernen.« Und als ich ihn nach den nichtmuslimischen Jungen ansprach, reagierte er: »Jüdische Beschimpfung von Einheimischen? Fast nicht. Schon eher später, unter den 15-/16-Jährigen. Aber wenn die ›Du Jude‹ sagen, halten sie schnell die Hand vor den Mund und murmeln ›äh Tschuldigung‹!« Die Haupt- und Realschul-Lehrkräfte L 5 – L 8 bestätigten, dass »Du blöder Jude« nicht mehr vorkomme. Aber ab und zu würden Jungen Hakenkreuze malen, zur Provokation und aus Spaß. Und Lehrerin L 5 teilte mit, dass sie ein 12jähriges Mädchen zu einem 14-jährigen Jungen, der Hakenkreuze gemalt hatte, hätte sagen gehört: »Damit kommst Du bei Mädchen überhaupt nicht an!« Man könne, meinte die Lehrerin, schon unter 12-Jährigen eine Warnung vor einem Missbrauch von Nazi-Symbolen beobachten. »Vielleicht«, ergänzte sie, »ist das ein Erfolg der Behandlung von Nazi-Schicksalen Einzelner schon in der Grundschule!« Und Realschullehrer L 7 erinnerte sich: »Vor Jahren hatte mal ein 11jähriger Junge ne Kippa im Unterricht aufgesetzt, aus Jux, aber nichts Antijüdisches!« Die Lehrerin Sanem Kleff L 12 (Internet »Antisemitismus im Klassenzimmer«) macht noch eine interessante Beobachtung unter Lehrkräften, deren Generation ja heute die Enkel der Täter und Opfer seien: Einige seien höchst sensibel, weil sie befürchten, dass Judenvernichtung wieder möglich sei, und würden übersensibel reagieren, wenn ein Kind auf dem Schulhof schimpfe »Du Jude«, mit: »Was hast du da eben gesagt?« Während andere Lehrkräfte, die glauben, dass sich so etwas niemals wiederholen könne, weniger aktiv reagieren und sagen würden: »Nehm ich nicht so ernst!« Das Echo auf die gestellte Frage ist also geteilt gewesen: Die Mehrheit meinte, jüdische Schimpfworte seien passé. Eine Minderheit aber meinte, dass sie weiterhin virulent seien, besonders unter muslimischen Jungen, weniger unter Mädchen. Aber der Beobachtung, dass Sprache verrohe, stimmten alle zu. Hier
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müsse die Pädagogik ansetzen, wenn sie Antisemitismus verhindern wolle, meinten sie.
Zur Frage: Gibt es nach Ihrer Beobachtung einen spezifisch muslimischen Antisemitismus? »Nein!« war Grundschullehrerin L 1 überzeugt; »in meinen Klassen mit 60 % Muslimen nicht. Auch bei anti-israelischen Eltern sind die Kinder nicht antijüdisch oder gar antisemitisch.« Völlig anders äußerten sich die beiden anderen Grundschullehrerinnen L 2 und L 3: »Unsere muslimischen Rabauken-Jungs äußern sich oft antijüdisch, ja antisemitisch. Aber sie machten bei der Vorführung ›Judentum begreifen‹ gerne mit und bliesen nach Leibeskräften in das jüdische Shofar-Horn. Das Antijüdische richtet sich bei denen gegen Israel. Ein 9-jähriger sagte neulich ›Die Juden sind unsere Feinde.‹ Er meinte die Israelis. Und das hatte er von seinen Eltern.« (L2)
Solche pauschale Ablehnung Israels bestätigten auch andere Lehrkräfte: »Besonders diejenigen muslimischen Migranten, welche besonders unter der deutschen Islamophobie leiden, sind anti-israelisch«, resümierte Oberschullehrer L 9. »Das ist zwar noch lange nicht antisemitisch. Aber wenn sie eben alle Juden auf der Welt für die Politik Israels verantwortlich machen, dann wird die Israel-Ablehnung antisemitisch. Oder wenn jemand meint: ›Durch die Politik Israels werden mir Juden immer unsympathischer‹, dann ist das Antisemitismus.«
Und die Berufsschullehrerin L 11 resümierte: »Die Wut auf Israel wird auf alle Juden ausgeweitet. Neulich sagte ein Schüler zu unserem jüdischen Kollegen: ›Das, was Ihr Präsident gegen die Palästinenser macht, ist das gleiche, was die Nazis gegen die Juden gemacht haben‹, woraufhin der Kollege antwortete: ›Mein Präsident heißt Frank Walter Steinmeier! Was hat der denn gegen Palästinenser verbrochen?‹ Und meine muslimischen Berufsschüler*innen dichten den Juden auch Weltverschwörungen an. Und besonders Aussiedler-Jugendliche meinen: Juden sind geldgierig. Man kann ihnen nicht trauen. Sie halten Israel für die Wurzel des Weltübels, wissen aber nicht einmal, wo Israel liegt.«
Und die beiden Hauptschul-Lehrkräfte L 5 und L 6 bestätigen für die 11- bis 14Jährigen: »Die muslimischen Kinder kopieren ihre Eltern. Sie haben überhaupt kein historisches Wissen, ziehen aber über Israel her. Als ich mal nach Israel reiste, hatten alle Angst, dass ich nicht zurückkäme. Völlig anders ist das bei jesidischen und kurdischen Kindern. Die sind ja pro-israelisch.« Und die gymnasiale Lehrkraft L 10 für das 5./6. Schuljahr beteuerte, dass die wenigen muslimischen Kinder keineswegs antisemitisch ausgereichtet seien. Allerdings gebe es einen
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»Zickenkrieg zwischen Kopftuch- und Nicht-Kopftuch-Trägerinnen.« Das habe aber nichts mit Antisemitismus zu tun. Die Mehrheit der Befragten bestätigte also, dass es einen spezifisch muslimischen Antisemitismus gebe, der allerdings aus der Kritik an Israels Politik hervorgehe. Solche Kritik allein sei keineswegs antijüdisch oder antisemitisch; aber wenn alle Juden auf der Welt dafür haftbar gemacht würden, dann weite sich Anti-Israel-Kritik zum Antisemitismus aus. Nur eine Minderheit der Befragten betonte, dass sie keinen muslimischen Antisemitismus wahrnehmen würden.
Zur Frage: Welche Art von Prävention gegen Antisemitismus schlagen Sie für Grundschulen vor? L 2 nannte eine ganze Skala von Inhalten und Methoden: Mit den Kindern ausprobieren, sich nicht auszugrenzen, abzugrenzen oder zu mobben / Mit Konfliktlotsen lernen Konflikte zu lösen / Die Feste der anderen Religionen mitfeiern / Die Kleidungsvorschriften und Speisegebote austauschen / Die heiligen Gegenstände der anderen Religion betrachten und berühren / usw. – Lehrerin L 1 setzte darauf, dass man mit den Kindern Einzelschicksale des Holocaust und der Shoa erarbeiten solle; und vor allem müsse die Lehrkraft das private, persönliche Umfeld der Kinder wahrnehmen. Lehrerin L 10 zählte ebenfalls viele Themen auf: Antisemitische Schimpfwörter explizit behandeln / Jüdische Folklore und Lieder miteinander singen / Jüdische Gedenktage und Gedenktage für Juden gemeinsam zelebrieren / Synagogen besuchen / Wenn möglich: Gespräche mit Zeitzeugen arrangieren / Stolpersteine erkunden und reinigen / Jüdische Schülerinnen und Schüler in den Unterricht einladen / Theateraufführungen inszenieren / Das Projekt »Judentum begreifen« in die Schule einladen / Einzelne Holocaust-Schicksale erarbeiten / Mit älteren Kindern Gedenkstätten besuchen / u.v.a. Lehrerin L 12 möchte Empathie unter ihren Kindern fördern. »Könnte ich doch meinen Kindern Empathie beibiegen!« klagte sie. Und sie mahnte, dass möglichst gleichzeitig kognitive und emotionale Lernschritte Hand in Hand gehen sollten. Nur Gefühl oder nur Verstand seien auch bei Kindern unzureichend. Zur Behandlung des Holocaust äußerten sich die Lehrkräfte, wie die nächste Frage zeigen wird, unterschiedlich.
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Zur Frage: Behandeln Sie den Holocaust schon in der Grundschule? Oder sind Kinder damit emotional, moralisch und/oder religiös überfordert? »Ja«, antwortete L 10 sehr entschieden, »ich behandle Einzelschicksale des Holocaust schon ab der 4. Klasse, weil die Unkenntnis darüber von Jahr zu Jahr zunimmt. Ich führe den 10–12-Jährigen Einzelschicksale von jüdischen Kindern vor Augen, die Stück für Stück immer mehr ausgegrenzt, isoliert und drangsaliert wurden. Das Buch ›Damals war es Friedrich‹ demonstriert das anschaulich. Man kann es schon im höheren Grundschulalter lesen. Anne Franks Tagebuch würde ich erst ab 8. Klasse erarbeiten. Aber ›Als Hitler das rosa Kaninchen stahl‹ geht auch schon in der Grundschule. Solche Ausgliederungsschicksale sind möglich in der Grundschule; nicht aber Grausamkeiten, obwohl man sie nicht prinzipiell ausschließen sollte.«
Grundschullehrerin L 1 warnte davor, Begriffe wie Holocaust oder Shoa schon in der Grundschule einzuführen. »Ich beginne mit dem Kinderbuch ›Janusz Korszak – ein Held der Kinder‹, wie Janusz mit den Waisenkindern ins Ghetto geht und anschließend in den Tod. Meine Kinder sind unsagbar berührt – und sie fragen und fragen. Danach erarbeite ich Kinderrechte mit den Schülerinnen und Schülern, auch mit Bildern.«
Anders als diese Lehrkräfte warnten die Hauptschul-Lehrkräfte L 5 und L 6 davor, Holocaust-Themen schon vor dem 7./8. Schuljahr, also vor dem 13./14. Lebensjahr zu behandeln. »Man muss den grauenhaften Holocaust lange behandeln, nicht nur kurz mit einem Einzelschicksal. Dazu sind die Kleinen aber noch nicht in der Lage. Und man muss die Shoa auch ein wenig historisch sehen und einordnen, damit die Kinder keine Angst bekommen, dass das morgen wieder passieren könnte. Zu solchem historischen Bewusstsein sind die Kinder aber auch noch nicht in der Lage. Und man sollte auch ein KZ besuchen oder nach Kreisau fahren. Das aber ist erst ab der 10. Klasse mit frühestens 15/ 16 Jahren möglich. Deshalb würden wir erst ab 15/16 Jahren das Holocaust-Grauen thematisieren, – natürlich zur Verhinderung von späterem Antisemitismus!«
Enorm eindrucksvoll berichtete die Hauptschullehrerin L 5 von ihrer Klassenfahrt mit 15/16-Jährigen nach Auschwitz: »Wir sind im Winter hingefahren. Es war kalt und nass. Wir hatten uns monatelang vorbereitet. Wir hatten große Kränze mit der Aufschrift ›Nie wieder! Hauptschule Wallenhorst/Deutschland‹ geflochten. Vor dem Tor zum Lager haben die Jugendlichen die Kränze wie Särge getragen. Behutsam. Während der Führung waren sie erschüttert, verzweifelt. Abends fragte ich ›Haben wir uns genügend vorbereitet?‹ Darauf die Jugendlichen: ›Darauf kann man sich nicht vorbereiten.‹ Manche weinten, aufgestützt auf ihre Arme.«
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Oberschullehrer und Schulrektor L 9 berichtete von einem Zwischenfall auf der Bus-Fahrt mit 9.-Klässlern nach Auschwitz: »Plötzlich stand ein Schüler auf und rief ›Ich fahr Euch heim ins Reich.‹ Wir alle, Lehrkräfte und Schüler/innen waren entsetzt. Woher hatte er das? Wir konnten es nicht herausfinden. An sich wissen die Schüler/innen nichts, – nichts von Hitler, nichts von den Nazis, nichts von der Judenvernichtung. Nur, dass Hitler ein böser Mensch gewesen ist. Woher hatte der Schüler diese Floskel?«
Ich berichtete der Grundschullehrerin L 3 von diesem Zwischenfall und sie meinte spontan: »Das geschieht, wenn man in der Grundschule die Nazi-Zeit meidet. Ne, man sollte mit Kindern lokale Gedenkstätten besuchen, z. B. öffentliche Tafeln mit den Namen der Ermordeten, »Judenhäuser« am Ort, Plätze für den Abtransport, Gefängnisse, u. a. Ich bin da nicht so zurückhaltend mit meinen Kindern.«
Ich fragte alle Lehrkräfte, ob ihre Schüler/innen nicht emotional, moralisch oder gar religiös überfordert seien. Die Antworten waren hier sehr einhellig: Alle stimmten überein, dass KZ-Szenen o. ä. bis zum 14./15. Lebensjahr eine totale Überforderung seien, weil die Kinder die Szenen überhaupt nicht einordnen können und erschüttert vor den Bildern stehen, die sie nicht einmal deuten und erkennen können. Ab 14/15 Jahren würden sie dann aber verstehen, was passiert ist und dass und warum es so grauenhafte Mörder und Schlächter gab und gibt. Unterschiedlich waren die Lehrkräfte nur in der Frage, ob man den Kindern das ganze Grauen oder nur Ausschnitte zumuten dürfte. L 9 und L 11 meinten, man könne den Kindern bzw. Jugendlichen viel zumuten, weil sie ja keine Verwandten mehr unter den Opfern und Tätern hätten. Selbst die Großeltern seien noch zu jung. Grundschullehrerin L 1 beteuerte aufgrund ihrer Erfahrungen allerdings mehrfach: »Grundschulkinder sind oft empathischer und empathiefähiger als Ältere, weil sie die ganze Welt erfassen und erfahren wollen. Deshalb können wir ihnen viel zumuten.« In religiöser Hinsicht seien weder die Kinder noch die Jugendlichen überfordert, meinten die Befragten, weil diese nur noch äußerst selten fragen würden ›Wie kann Gott das zulassen?‹, sondern höchstens ›Wie können Menschen das zulassen?‹. »Die Theodizeefrage wird fast nicht mehr gestellt« behauptete die Gymnasiallehrerin L 10. »Aber, wenn man als Lehrkraft diese Frage in die Klasse einbringt, dann sind alle Kinder höchst interessiert und fragen und fragen«, ergänzte sie.4 Die Mehrheit der Befragten plädierte also dafür, Einzelschicksale des Holocaust den Grundschul-Kindern zuzumuten, besonders wenn diese Einzelschicksale re4 Vgl. dazu meinen Aufsatz »Kinder hören vom Leid in der Shoa – wie reagieren sie?« in diesem Buch.
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gional vor Ort erlebt und erinnert werden können. Allerdings warnten sie alle vor emotionaler Überforderung. Man müsse sehr behutsam vorgehen. Eine Minderheit dagegen plädierte dafür, erst ab dem 15./16. Lebensjahr den Holocaust zu thematisieren, – dann allerdings möglichst umfänglich. Eine religiöse Überforderung erspürten nur sehr wenige.
Zur Frage: Kann man schon in der Grundschule historisches Bewusstsein und Erinnerungskultur aufbauen? Die Grundschullehrerin L 1 bekannte sich zu einem klaren Ja: »Man kann ein historisches Bewusstsein im Empfinden der Kinder aufbauen, wenn man z. B. alte Fotos aus Familien oder aus der Stadt oder evtl. auch aus dem Krieg mit den Kindern anschaut. Man kann dann sogar durch historisches Erinnern mögliche Ängste der Kinder mindern, wenn man ihnen Geschichten erzählt, was damals passiert ist und was heute nicht mehr passiert.«
Diese narrative Seite des Erinnerns betonte auch Grundschullehrerin L 3: »Ich erzähle Geschichten, durch die sich meine Kinder in frühere Zeiten hineinversetzen sollen. Z. B. von der Kindheit und dem Familienleben der 9-jährigen Heidi, die noch kein Handy, keinen PC, ja, keinen Strom, kein fließendes Wasser und kein Auto hatte. Für die Kinder ist das aufregend.«
Sehr engagiert reagierte auch L 10: »Ich versuche, meine Kinder immer wieder zu erinnern, was sie in den vergangenen Tagen und Wochen erlebt, erlitten und evtl. ausgeteilt haben. Sie sollen sich erinnern an diese oder jene Ausgrenzung z. B. auf dem Pausenhof oder beim Sport oder beim Geburtstag. Und natürlich wird Erinnern eher möglich, wenn man regionale Stätten besucht. Das hat größere Wirkung als wenn man mit den Kindern nur Bücher liest.«
Demgegenüber vertrat der Hauptschullehrer L 6 die Ansicht, dass 6- bis 12Jährige auch bei bester Unterrichtung nicht wirklich historisch denken und erinnern könnten. »Historisches Erinnern bedeutet doch, auch Ereignisse zu erinnern, die man nicht selbst erlebt hat. Das aber ist den Kleinen noch nicht möglich. Außerdem fällt ihnen die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart schwer. Man muss ihnen fast alles in der Gegenwart erzählen. Dann aber baut man eben kein historisches Bewusstsein auf. Ne, man kann Kinder wohl sensibilisieren, sich an »früher« zu erinnern. Aber damit hat man noch keinen Schritt zu einem historischen Erinnern oder gar Bewusstsein getan.«
Die Berufsschul-Lehrerin L 11 bemerkte, dass die Art des Erinnerns oft an die Kultur gebunden sei:
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»Die arabisch-muslimische Erinnerungskultur ist viel stärker ausgeprägt als die deutsche. Obwohl die christlich geprägten Jugendlichen ja bei Jesu Abendmahls-Gedächtnis (›das tut zu meinem Gedächtnis‹) erfahren haben sollten, sich zu erinnern. Aber das ist im Islam viel stärker, die Erinnerung an Mohammad. Das merke ich bei meinen muslimischen Berufsschülern*innen. Ich könnte mir denken, dass auch schon muslimische Kinder sich besser erinnern als deutsche Kinder, die ja sowieso nicht mehr christlich sind. Aber das müsste in der Grundschule gefördert werden.«
Einig waren sich also alle Befragten, dass Erinnern notwendig sei, um Antisemitismus früher und heute zu begreifen. Das sei auch wichtig, um Ängste, dass sich das alles wiederholen und morgen wieder passieren könnte, einordnen zu können. Aber uneinig war man sich, ob Ansätze zu einem historischen Bewusstsein schon in der Grundschule oder erst später möglich seien. Immerhin: Die Mehrheit der Befragten meinte, dass lokales Erinnern möglich sei und in der Grundschule gefördert werden müsse.
Zur Frage: Wie sind Ihre Unterrichtseinheiten zur Antisemitismus-Prävention bei ihren Kindern und Jugendlichen angekommen?5 Es war für mich eine Freude, von den meisten Lehrkräften zu hören, dass sie das Gefühl hätten, dass ihre Kinder und Jugendlichen wirklich empathiefähiger geworden seien durch die Präventionsarbeit. »Seitdem ich meine Kinder auf ihre verrohte Sprache hingewiesen und eine Sprache der Solidarität versucht habe, auch im Hinblick auf Judenverunglimpfung, sind sie m. E. viel empathiefähiger geworden«, meinte L 10. »Ich habe, glaube ich, es geschafft, meine Kleinen für den Anderen, für Empathie, zu sensibilisieren«
urteilte L 1 über sich selbst. Und L 2 zeigte sich auch zufrieden: »Wir haben Rollenspiele gemacht, wie es ist, wenn man andere ausgrenzt und mobbt, oder wenn man sie wieder aufnimmt; das hat Empathie geschaffen! Und auf diesem Hintergrund konnte ich dann das Buch ›Damals war es Friedrich‹ in Auszügen lesen und besprechen.« Die Grundschullehrkräfte L 3 und L 4 hatten mit den Kindern lokale Gedenkstätten besucht (Tafeln auf dem Osnabrücker Markt, zwei ehemalige Judenhäuser, Erinnerungsskulptur 20. Juli) und resümierten, dass ihre Kinder das noch später sehr gut erinnert hätten. Und die Lehrkräfte höherer Klassen schätzten sich glücklich, erreicht zu haben, dass ihre Jugendlichen gelernt hätten, 5 Vgl. dazu auch die Beiträge von Reinhold Boschki: »Möglichkeiten und Grenzen des Erinnerungslernens mit 6- bis 12-Jährigen« und von Heide Rosenow: »Antisemitismus-Prävention im christlichen Religionsunterricht« in diesem Buch.
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zwischen Israel und Juden bzw. zwischen Kritik an Israel und Beschuldigung aller Juden auf der Welt zu unterscheiden. »Ob das allerdings auch für den außerschulischen Alltag der Jugendlichen gilt, weiß ich nicht«, ergänzte Oberschullehrer L 9 etwas skeptisch. Die Berichte der Lehrkräfte haben mich überzeugt, dass sowohl indirekte Antisemitismus-Prävention wie Sensibilisierung für andere, Reduzierung einer verrohten Sprache und gewaltfreie Konfliktlösungen als auch direkte Antisemitismus-Prävention wie ›Judentum begreifen lernen‹, jüdische, christliche und muslimische Fest- und Feiertage miteinander gestalten, Speise- und Kleidungsvorschriften austauschen und eben Einzelschicksale des Holocaust erarbeiten, erfolgversprechende Wirkung schon in der Grundschule haben können.
Zur Frage: Was fasziniert Sie persönlich am Judentum und was kritisieren Sie? Und: Was ist Ihrer Meinung nach der Grund für immer wieder aufkommenden Antisemitismus? Ich zähle nur auf, was einige befragte Lehrkräfte am Judentum fasziniert und was sie evtl. kritisieren: »Judentum ist eine gelebte Religion. Sie ist im Alltag und in der jüdischen Gesellschaft verankert. Das fasziniert mich« (L 5) »Das gesamte Brauchtum der Juden bei Festen, Kasualien, bei Speisen und Kleidung und ihre Musik und Gesänge finde ich toll.« (L 10) »Von Juden werden die 613 Gesetze einschließlich der Ritual-, Speise- und Kleidungsgesetze als Freude und Befreiung empfunden. Das geht mir nicht so. aber ich bewundere und akzeptiere da die Juden.« (L 9) »Ich halte es für eine Überforderung, 613 Gesetze einhalten zu müssen. Das kritisiere ich klar am jüdischen Glauben, – für mich, nicht für Juden.« (L 1)
Und zur Frage, warum ihrer Meinung nach immer wieder Antisemitismus aufkomme, antworteten fast alle: Man brauche einen Sündenbock. Der sei zwar austauschbar, aber es hätte sich etabliert, Juden in der Sündenbockfunktion zu missbrauchen. Auf die Frage, warum das so sei, bin ich in den Gesprächen nicht spezifisch eingegangen, weil das viel historisches und soziales Wissen vorausgesetzt hätte. Wichtig war mir aber noch zu sehen, dass wiederum alle Befragten meinten, dass die Kritik an der Regierung Israels ein (z. T. unberechtigter) Baustein für möglichen Antijudaismus und Antisemitismus in der Gesellschaft sein könnte. Erwähnen möchte ich noch, dass natürlich auch manche Lehrkräfte verborgene antisemitische Vorurteile in sich tragen. Gerade die Schuldvereinnahmung aller Juden für die (Palästina-) Politik der israelischen Regierung könnte sich
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antisemitisch auswirken. Und auch manche Stigmatisierung »Typisch jüdisch« könnte antisemitisch gedeutet werden. Deshalb verstehen wir dieses Buch als Möglichkeit, die eigene Position zu überdenken.
Versuch eines Resümees Die Befragten halten unser Buchprojekt »Antisemitismus-Prävention in der Grundschule bei 6- bis 12-Jährigen« aus entwicklungspsychologischen und soziologischen Gründen für sehr sinnvoll. Sympathie, Antipathie, Empathie, Vorurteile und Urteile würden in der Grundschule gebildet werden, weshalb Antisemitismus-Prävention hier ansetzen müsse. Klassischen Antisemitismus und israelkritischen, auf alle Juden ausgedehnten Antisemitismus gebe es in vielen Schulen, weniger allerdings in Grundschulen bzw. muss gesagt werden, dass hier empirische Daten fehlen. Alle anderen Formen von Antisemitismus seien passé. Auch auf Juden bezogene Schimpfworte hätten – besonders in Grundschulen – abgenommen. Einen speziell muslimischen Antisemitismus nehmen viele Grundschullehrkräfte in ihren Klassen nicht wahr. Andere Lehrkräfte behaupteten aber das Gegenteil. Die Beobachtungen waren hier unterschiedlich. Für Antisemitismus-Prävention in der Grundschule nannten die Befragten ein eindrucksvolles Bündel an Maßnahmen und Ideen. Die Behandlung von jüdischen Einzelschicksalen in der Zeit der Shoa, möglichst kontextuell mit Ortsbegehungen verbunden, spielten darunter eine sehr große Rolle. Dabei dürften alters- und charaktergemäß die Kinder nicht emotional, moralisch und religiös überfordert werden. Deshalb bestanden einige darauf: Holocaust erst ab dem Alter von 15/16 Jahren! Diese Minderheit bestärkte sich auch noch in der Überzeugung, dass Kinder noch kein historisches Erinnerungsbewusstsein ausbilden könnten, was für eine Behandlung des Holocaust aber unerlässlich sei. Andere Lehrkräfte dagegen meinten bewiesen zu haben, dass Kinder durchaus historisch erinnern und denken lernen könnten. Auch hier waren die Beobachtungen unterschiedlich. Zudem waren die meisten der befragten Lehrkräfte überzeugt, dass ihre Kinder und Jugendlichen durch die antisemitismus-präventiven Unterrichtsinhalte empathiefähiger als vorher geworden seien. Kurz: Die meisten der befragten Lehrkräfte zeigten großes Interesse, Bereitschaft und Engagement beim Einsatz von Antisemitismus-Prävention schon in der Grundschule bei 6- bis 12-Jährigen.
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»Die Kinder sensibilisieren, nicht überfordern.« – Möglichkeiten und Grenzen des Erinnerungslernens mit 6- bis 12-Jährigen im Religionsunterricht
Hinführung Paul Niedermann war 9 Jahre alt, als eines Morgens sein Klassenlehrer in SAUniform das Klassenzimmer betrat. Nach dem Hitlergruß ließ der Lehrer alle wieder hinsitzen, außer Paul: »Niedermann, aufstehen, du bist Jude, du kannst nicht mit dem nationalsozialistischen Gruß grüßen. Nimm deine Sachen zusammen und verschwinde nach Hause und komm nicht wieder.«1 Viel später sagte der Überlebende und Zeitzeuge Niedermann in zahllosen Vorträgen an deutschen Schulen, wie schwer ihm dieser Heimweg gefallen war. Er wusste instinktiv, dass er nie wieder in die ihm vertraute Schule gehen durfte, dass er seine Klassenkameraden nur noch ausnahmsweise, allenfalls insgeheim in der Freizeit sehen konnte und dass sein Leben von nun an einen völlig anderen Lauf nehmen würde. Genau das war auch der Fall. Eine Zeitlang besuchte Paul noch die jüdische Schule in seiner Heimatstadt Karlsruhe, bis auch sie geschlossen wurde. Für den Jungen war besonders schlimm, nicht mehr ins Freibad oder ins Kino gehen und keine Straßenbahn mehr benutzen zu dürfen, selbst das Fahrradfahren wurde für Juden verboten. Am 9. November 1938 brannte auch in Karlsruhe die Synagoge. Am 22. Oktober 1940 wurden die badischen Juden – auch die Juden von Karlsruhe – deportiert, zunächst in die südfranzösischen Lager Gurs und Rivesaltes am Fuß der Pyrenäen. Da dort die hygienischen Bedingungen, die Ernährung und die medizinische Versorgung extrem schlecht waren, starben zahlreiche Deportierte, auch Kinder, in diesen Lagern. Später wurden die verbliebenen Gefangenen in Viehwagonzügen quer durch Europa in das Todeslager Auschwitz deportiert, die meisten, so auch die Eltern von Paul, wurden dort ermordet. Manche Kinder konnten zuvor von der jüdischen Hilfsorganisation OSE (Œuvre de secours aux enfants), z. B. durch Bestechung des Wachpersonals, aus den südfranzösischen Lagern herausgekauft werden, so auch Paul und sein etwas 1 Paul Niedermann, Auf Hass lässt sich nicht bauen. Erinnerungen, Karlsruhe 2011, 31.
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älterer Bruder Arnold. Beide mussten sich jedoch trennen und Paul versuchte auf abenteuerlichen und gefährlichen Wegen durch Süd- und Mittelfrankreich einen Fluchtweg zu finden. Irgendwann erfuhr er, dass seine Eltern ermordet worden waren. Daraufhin gab er seinen Glauben an Gott auf. Bald danach erreichte er endlich die rettende Schweiz. Das Beispiel dieser komplexen biographischen Erzählung ist geeignet, die Bedeutung und gleichzeitig die Schwierigkeit der Erinnerung an den Holocaust2 für heutige Kinder im Alter von 6 bis 12 Jahren aufzuzeigen: Die Geschichte handelt – zumindest partiell und hier stark verkürzt – vom Aufwachsen, von einer Erfahrung aus der Grundschule, von Freunden, die man nicht mehr wiedersieht, vom verweigerten Fahrradfahren, Freibadbesuch und der Benutzung der Straßenbahn. Bis hierher wäre sie für Kinder heute durchaus verständlich und nachvollziehbar – gewiss mit viel Empathie und Solidarität mit dem betroffenen Jungen und mit zahllosen interessierten Rückfragen. Doch die Geschichte handelt auch von brennenden Synagogen, vom erzwungenen Verlassen der Heimat, von menschenunwürdigen Lagern, von der endgültigen Trennung von den Eltern, von deren Deportation nach und Ermordung in Auschwitz, vom Abbruch des Glaubens an Gott, vom knappen Überleben des Protagonisten. Ist dieser zweite Teil der Geschichte Grundschulkindern zumutbar? Kann so etwas Monströses wie der Holocaust, der keinerlei Anknüpfungspunkte in der Lebenswelt heutiger Kinder hat, mit Kindern überhaupt thematisiert, vermittelt, besprochen werden? Käme das Verschweigen des zweiten Teils des Berichts einer unangemessenen »Verkürzung der Geschichte auf eine Light-Version« gleich?3 Diese und weitere Fragen waren schon vielfältig Gegenstand grundschulpädagogischer Literatur, Forschungen und Unterrichtsversuche.4 Die Argumente des Für und Wider des Unterrichtens zum Thema Holocaust in der Grundschule sollen hier nicht einfach wiederholt, sondern in den Horizont einer religionspädagogischen Perspektive gestellt werden: Inwiefern kann der Religionsunterricht für Kinder von 6 bis 12 Jahren, also auch in den Anfangsklassen weiterführender Schulen, einen Beitrag zum Erinnerungslernen im Kindesalter leisten? Welche theoretischen Grundlagen für das Erinnerungslernen sind gegeben und 2 Ich verwende in diesem Beitrag trotz seiner Problematik den Terminus »Holocaust« als Bezeichnung für die Judenvernichtung im Nationalsozialismus, da sich die Begriffe »Holocaust education« und »Holocaust remembrance« international durchgesetzt haben; siehe Literaturangaben unten. 3 Matthias Heyl, »Nein, aber…« oder Warum?, in: Jürgen Moysich/Matthias Heyl (Hg.), Der Holocaust. Ein Thema für Kindergarten und Grundschule?, Hamburg 1998, 120–141, hier 124. 4 Einige der wichtigsten Studien werden im Laufe des Beitrags erwähnt. Vgl. auch die verschiedenen Beiträge zu dieser Thematik im vorliegenden Band.
Möglichkeiten und Grenzen des Erinnerungslernens
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welche religionspädagogischen Reflexionen können dafür maßgebend sein (Abschnitt 2.)? Danach (Abschnitt 3.) wird ein Einblick in eine empirische Studie unter Religionslehrkräften in Grundschulen geboten, die das Thema Erinnerung an den Holocaust unterrichten. Schließlich (Abschnitt 4.) wird der Begriff der »Sensibilisierung« als Leitbegriff für das Unterrichten des Themas der NS-Verbrechen vorgeschlagen. Am Ende (Abschnitt 5.) werden Konsequenzen gezogen bzw. exemplarische Perspektiven für die Praxis eröffnet.
1.
Erinnern und Erzählen als anthropologisch-pädagogische und theologisch-religionspädagogische Basiskategorien
Erinnern ist keine menschliche Fähigkeit, die man einfach von Natur aus hat. Erinnern kann und muss gelernt werden. Beispielsweise kann man sich familienbiographisch nicht an die Zeit vor der eigenen Geburt erinnern, sondern bekommt von Eltern und Großeltern erzählt, was früher geschah, wo und wie die vorigen Generationen gelebt, was sie erlebt haben, wo sie herkamen und welche Schicksalsschläge sie hinnehmen mussten. Im Laufe der familialen Sozialisation lernt man, sich an Dinge zu »erinnern«, die man selbst nicht erlebt hat und die doch zu einem wichtigen Teil der eigenen Identität werden. Hier geht es in erster Linie um soziale Identität, um Fragen der Zugehörigkeit und um ein kollektives »Wir«. Die eigenen und die sozialen Erinnerungen formen Identität und Persönlichkeit. Der amerikanische Psychologe Daniel L. Schacter geht sogar so weit zu sagen: »Wir sind Erinnerung«.5 Die Art und Weise, wie wir denken, handeln, leben, wie wir uns fühlen, also alles, was uns als Person ausmacht, ist zu einem großen Teil durch Gedächtnisleistungen geprägt. Wir hätten keine Freunde, wenn wir uns nicht an die gemeinsamen Zeiten mit ihnen erinnern würden, wir könnten nicht erzählen »Als ich ein Kind war, habe ich gerne…«, wenn wir nicht prägende Erinnerungen an die früheren Zeiten hätten. Der Zusammenhang zwischen Person, Persönlichkeit und Identität mit Erinnerung und Gedächtnis kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.6 Analoge Mechanismen wie innerhalb der Familie ereignen sich auch im Kontext einer größeren sozialen Erinnerungsgemeinschaft wie einer sozialen Gruppe, religiösen Gemeinschaft, kulturellen oder nationalen Zugehörigkeit. 5 Daniel L. Schacter, Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit, Reinbek bei Hamburg 2001. 6 Vgl. Michael Jungert, Personen und ihre Vergangenheit. Gedächtnis, Erinnerung und personale Identität, Berlin/Boston 2013.
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Auch hier sind Lernprozesse im Zuge der Sozialisation entscheidend.7 Menschen werden, wie man sagt, in eine bestimmte Kultur oder Religion ›hineingeboren‹, das heißt, sie erlernen die kulturellen Codes, die ihnen aus dem kulturellen Gedächtnis der jeweiligen Gemeinschaft oder Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden. Sie werden vorwiegend in der Schule erlernt, aber auch bei der Teilnahme an kulturellen oder religiösen Ereignissen: »Die enge Verschränkung von Gedächtnis, Person und Kultur macht die Gedächtnisfunktion zu einem integralen Moment von Lern- und Bildungsprozessen.«8 Auch für religiöse Erziehung und Bildung stellt das ›erinnern lernen‹ ein zentrales Moment der Weitergabe von Glaubensinhalten und -praktiken dar.9 Insbesondere in der jüdischen und christlichen Tradition – aber gewiss auch im Islam – sind Erinnern und Erzählen Basiskategorien, die eng mit der Identität der Religions- bzw. Glaubensgemeinschaft verbunden sind.10 Am Beispiel der Erstkommunionvorbereitung von ca. neunjährigen Kindern in der katholischen Kirche kann dies besonders anschaulich illustriert werden. Die Kinder werden durch Katechese in einige der zentralen Glaubensaspekte eingeführt, wobei insbesondere Geschichten von Jesus erzählt werden. In der konkreten Vorbereitung auf den Gottesdienst der ersten Teilnahme an der Kommunion wird eine konkrete Erinnerungspraxis eingeübt, die von der zentralen Erzählung des letzten Abendmahls Jesu mit seinen Jüngern geprägt ist: »Am Abend, bevor er dem Leiden ausgeliefert wurde, nahm er das Brot…« Ähnliches kann von der Konfirmation in der evangelischen Kirche oder von jüdischen Lerntraditionen im Zusammenhang mit dem Fest der Bar bzw. Bat Mitzwa im Judentum festgestellt werden. Immer geht es darum, die Kinder oder Jugendlichen in eine Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft einzugliedern. Zentrale Texte, Narrationen und Gedächtnispraktiken spielen eine hervorgehobene Rolle. Auch für den Religionsunterricht in der Grundschule gilt, dass die Narrativität und die damit verbundene Erinnerungsarbeit im Vordergrund stehen. Sollen die bisherigen Überlegungen nun in den Horizont der Erinnerung an den Holocaust gestellt werden, kommen strukturanaloge Lern- und Bildungsprozesse in den Blick. An das schreckliche Ereignis können sich heutige Kinder 7 Vgl. Sabine Krause, Erinnern und Tradieren. Kulturelles Gedächtnis als pädagogische Herausforderung, Paderborn 2014, bes. 165–180. 8 Stephan Sting, Gedächtnis, in: Christoph Wulf/Jörg Zirfas (Hg.), Handbuch pädagogische Anthropologie, Heidelberg 2014, 352–362. 9 Vg. exemplarisch: Astrid Greve, Erinnern lernen. Didaktische Entdeckungen in der jüdischen Kultur des Erinnerns, Neukirchen-Vluyn 1999. 10 Vgl. Edmund Arens, Anamnetische Praxis. Erinnern als elementare Handlung des Glaubens, in: Paul Petzel/ Norbert Reck (Hg.), Erinnern. Erkundungen zu einer theologischen Basiskategorie, Darmstadt 2003, 41–55.
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und Jugendliche nicht selbst erinnern, aber sie können – und müssen – die Erinnerung daran lernen, da sie einen Teil der europäischen und insbesondere der deutschen (aber auch österreichischen) nationalen Identität darstellen.11 Die berühmte Forderung Theodor W. Adornos nach einer ›Erziehung nach Auschwitz‹ hat eine breite pädagogische Debatte nach sich gezogen, wie schulische Realisierungsformen aussehen können und welche Inhalte maßgebend sind. Einigkeit besteht darüber, dass historisches Faktenwissen für schulisches Lernen wichtig ist, dass durch Fakten und Informationen allein aber keineswegs die gewünschten Ziele für die Entwicklung einer bewussten, kritischen und reflektieren Haltung der Schüler*innen im Blick auf den Holocaust erreicht werden können.12 Hinzutreten müssen ethische, soziale und menschenrechtsorientierte Lernprozesse.13 In Zusammenhang mit der Erinnerung an den Holocaust kommt religiöser Bildung und dem Religionsunterricht an Schulen eine besondere Aufgabe zu.14 Aufgrund der anamnetischen Struktur religiöser Bildung insgesamt ist Religionsunterricht in hervorgehobener Weise in der Lage, erinnerungsorientierte Elemente, Geschichte und Erzählungen einzubringen, die mit der Geschichte der Judenverfolgung zu tun haben. Allerdings: In der Tradition einer Theologie des völlig erneuerten Verhältnisses zwischen Christen und Juden, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten allmählich entwickelt wurde, ist religiöse Bildung in der Pflicht, Juden und Judentum, deren religiöses Leben, jüdische Feste und Feiern, insbesondere die jüdische Gegenwart hierzulande und weltweit als Themen zu behandeln. Vom Judentum darf keineswegs nur in der Vergangenheitsform (»Juden lebten…, Juden feierten…«) berichtet werden, im Gegenteil, es muss stets gegenwartsbezogen erzählt und gelehrt werden. Dies erfordert im Unterricht eine schwierige Gratwanderung zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsorientierung. Eine weitere Gratwanderung wird sichtbar: Wer an den Holocaust erinnern will, muss in erster Linie die Geschichte der Opfer erzählen; dennoch müssen 11 Für einen Überblick vgl. Eva Matthes/Elisabeth Meilhammer (Hg.), Holocaust Education im 21. Jahrhundert, Bad Heilbrunn 2015. 12 Vgl. Jakob Beneke, »Erziehung nach Auschwitz«. Theoretische Klärung und Analyse ihrer schulischen Realisierungsmöglichkeiten, in: Matthes/Meilhammer, Holocaust Education, 179–198. 13 Vgl. Umfangreichste Darstellung: Zehavit Gross/Doyle Stevick (eds.), As the Witnesses Fall Silent. 21st Century Holocaust Education in Curriculum, Policy and Practice, New York 2015. 14 Vgl. Reinhold Boschki, Zugänge zum Unzugänglichen. Religionspädagogik nach Auschwitz, in: Ottmar Fuchs/Reinhold Boschki/Britta Frede-Wenger (Hg.), Zugänge zur Erinnerung. Bedingungen anamnetischer Erfahrung. Studien zu einer subjektorientierten Erinnerungsarbeit, Münster 2001, 346–371; Georg Wagensommer, How to teach the Holocaust. Didaktische Leitlinien und empirische Forschung zur Religionspädagogik nach Auschwitz, Frankfurt 2009.
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gleichermaßen die positiven Aspekte jüdischen Lebens in Vergangenheit und Gegenwart zum Leuchten kommen. Es ist fatal, wenn Lernende das Judentum nur in negativen Kontexten – Verfolgung, Leiden, Tod – wahrnehmen lernen. Judentum als positive, lebensbejahende Religion kennen zu lernen, wäre ein wesentlicher Beitrag zur Antisemitismus-Prophylaxe in der Bildungsgeschichte von Kindern und Jugendlichen. Auch Fragen des Glaubens, ethische und menschenrechtspädagogische Fragen können im Religionsunterricht mit 6- bis 12-jährigen einen besonderen Platz erhalten. Aber – um auf die eingangs aufgeworfenen Fragen zurückzukommen – werden Kinder mit all diesen Anliegen, insbesondere mit der Realität des Schreckens im Holocaust, nicht maßlos überfordert? Was sagen erfahrene Religionslehrkräfte in Grundschulen dazu?
2.
Empirische Einblicke: Erinnerungslernen in der Sicht von Grundschullehrkräften
Seit einigen Jahren arbeiten wir in einer internationalen Forschungsgruppe namens REMEMBER in Deutschland, Österreich und der Schweiz an einem gleichnamigen empirischen Forschungsprojekt, das sich mit der Thematik des Unterrichtes der Erinnerung an den Holocaust im Kontext des Religionsunterrichts beschäftigt. Religionslehrer*innen sind, wie aus vielen Gesprächen, Fortbildungen und Selbstauskünften bekannt ist, zu diesem Thema besonders aktiv, einerseits in ihrem eigenen Unterricht, andererseits auf der Ebene der fächerübergreifenden Arbeit und der Schulkultur. Vielfach sind sie Promotor*innen von Unternehmungen und Veranstaltungen auf Schulebene oder sie initiieren interdisziplinäre Projekte. Bislang gibt es keine systematischen Untersuchungen, was genau im Religionsunterricht zum Themenkreis der Erinnerung an den Holocaust gemacht wird und welche schulkulturellen Veranstaltungen von Religionslehrkräften angestoßen oder mitverantwortet werden. Deshalb hat sich die Forschungsgruppe REMEMBER eine Bestandsaufnahme zum Ziel gesetzt. Mithilfe eines OnlineFragebogens wurde die Motivation der Lehrkräfte zum Unterrichten des Holocaust erhoben, ihre Erfahrungen, didaktischen Entscheidungen und verwendeten Materialien untersucht. Gleichzeitig wurde nach den Chancen, aber auch Schwierigkeiten, Hindernissen und Widerständen seitens der Lehrkräfte, der Lernenden, der Kollegien und Elternschaft gefragt.
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In den Jahren 2016 und 2017 haben 1204 Lehrkräfte aus allen Schularten an der Umfrage teilgenommen und den Fragebogen vollständig ausgefüllt,15 vorwiegend waren es Religionslehrer*innen, die auch die eigentliche Zielgruppe darstellen. 13 %, also 142 der Teilnehmenden, gaben an, im Bereich der Grundschule zu unterrichten.16 Der Fragebogen war so konzipiert, dass qualitative Anteile, also offene Fragen, die von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mithilfe eigener Texte beantwortet werden konnten, im Vordergrund stehen. Die Äußerungen speziell der Grundschullehrpersonen wurden für die folgende Kurzzusammenfassung inhaltsanalytisch ausgewertet.17 Die Ergebnisse stellen eine Teilmenge der Gesamtergebnisse des Forschungsprojekts REMEMBER dar und können hier nur kursorisch wiedergegeben werden.18 Lehrer*innen an Grundschulen in Deutschland, an Volksschulen in Österreich (Altersstufen vorwiegend 6–10) und an den sogenannten Primarschulen in vielen Kantonen der Schweiz (Altersstufen 6–12) zeigen ein heterogenes Bild im Blick auf die Frage nach dem angemessenen Alter für Holocaust-Erinnerung. Viele sind der Meinung, dass Grundschulkinder »noch zu jung für dieses Thema«19 seien, weshalb es in der Grundschule noch keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen könne. Insbesondere die »Brutalität des Themas ›KZ‹« könnte »die Kinder emotional überfordern«. Die Sorge ist: »Das Thema könnte angstauslösend sein.« Manche argumentieren damit, dass Kinder »solche Themen noch nicht in Zusammenhängen und im Überblick betrachten« können. Im Gegensatz dazu berichten andere von sehr positiven Erfahrungen beim Unterrichten des Themas der Judenvernichtung im Nationalsozialismus in der Grundschule. »Bisher habe ich keine Schwierigkeiten entdecken können. Die Schüler sind sehr offen und empfinden keine Scham. Sie haben keine Verantwortung für die Täter. Sie empfinden eher Mitleid und Mitempfinden für die Opfer, der Holocaust ist für sie ein schreckliches Geschehen, das sie ablehnen und abscheulich finden.«
Gerade die Offenheit der Kinder und ihr Interesse an diesem Thema, von dem sie nicht selten schon in anderem Zusammenhang gehört oder in den Medien etwas gesehen hatten, werden vielfach betont. 15 Die Daten von 53 weiteren Teilnehmenden wurden ausgefiltert wegen fehlender oder unvollständiger Angaben, die zu einer zu niedrigen Datenqualität führten. 16 Einige der Beteiligten unterrichten gleichzeitig an weiterführenden Schulen. 17 Vgl. Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim 12 2015. 18 Gesamtpublikation: Forschungsgruppe REMEMBER, Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht. Empirische Einblicke und didaktische Impulse, Stuttgart 2020. 19 Alle Originalzitate von Teilnehmenden an der Studie werden in diesem Abschnitt kursiv gesetzt oder als Absatz eingerückt.
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Manche Lehrer*innen differenzieren innerhalb der Altersgruppe der 6- bis 12Jähringen: »Das Thema ist erst in der 4. Klassenstufe Unterrichtsgegenstand, kleinere Kinder halte ich für zu jung, um es im Klassenverband zu unterrichten.« Ab Klasse 4 aber sei es durchaus »ansatzweise« behandelbar. Einigkeit besteht weitgehend darüber, dass das Thema in dieser Altersgruppe nicht in seiner Gänze, insbesondere nicht mit allen grausamen Aspekten der Judenvernichtung, behandelt werden kann. Manche behandeln es »nur indirekt«, »eher am Rande, wenn Fragen der Kinder auftauchen.« Dabei gilt: »Es soll in der Grundschule vor allem um erste Einblicke gehen.« Darunter wird häufig eine gewisse Einführung in die Tatsache verstanden, dass Juden in Deutschland und Europa lebten, dass sie in der Nazi-Zeit vielfachen Einschränkungen und Diskriminierungen unterworfen waren und dass sie schließlich brutal verfolgt und ermordet wurden. Von der Darstellung grausamer Details jedoch sehen die meisten ab. Oft wird das Thema in andere Unterrichtszusammenhänge eingebettet: »Da ich in der Grundschule arbeite, bespreche ich das Thema im Zusammenhang mit dem Thema Judentum. Ich streife das Thema nur kurz […]. Da die meisten Schüler ein Vorwissen haben, geht es um den Austausch. Die Schüler sind sehr interessiert, das Gespräch kann dann auch schon mal 1 bis 2 Stunden gehen. Im Heimat- und Sachunterricht besuche ich mit den Schülern manchmal einen jüdischen Friedhof.«
Religionslehrkräfte berichten häufig, dass sie das Thema Holocaust mit Kindern im Kontext der Behandlung anderer Religionen, insbesondere natürlich des Judentums, unterrichten. Sie möchte, schreibt eine Lehrkraft, »das Thema Israeliten – Juden neutral an die Schülerinnen und Schüler heranbringen und sie durch ›geleitetes Kennenlernen‹ des Judentumes zu einer positiven Einstellung führen.« Insbesondere soll deutlich werden, dass »das Volk der Israeliten heute noch lebt und wir als Christen unsere Wurzeln im Judentum haben«. Dabei achten die Religionslehrer*innen auf kindgerechte Didaktik und Materialien, beispielsweise: »Besonders anhand von Bilderbüchern kann in der Grundschule gut gearbeitet werden. Dies bietet Distanz und Nähe zum Thema zugleich.« Man entscheidet sich bewusst dafür, die Grausamkeiten zu minimieren: »Ich zeige keine Fotos von Toten oder KZs. Aber schon mal ein Bilderbuch über Korzcak.« Auch die Biographie von Anne Frank wird öfter anfanghaft besprochen. Es gibt, so schreiben einige, gute Kinderbücher, um das Thema altersgerecht in die Grundschule einzubringen. Weitere Themenbereiche, innerhalb derer der Holocaust im Religionsunterricht der Grundschule thematisiert wird, sind Umgang mit Fremden, Geflüchteten, Achtung und Toleranz vor dem Anderen, Rassismus bis hin zu Antisemitismus. »Nächstenliebe ist die wichtigste Botschaft des Glaubens! Rassismus, Antisemitismus sind das Gegenteil davon, was verhindert werden muss – schon in
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der Grundschule.« Der Holocaust wird »immer wieder – auch in anderen Klassenstufen der Grundschule – besprochen, wenn es denn thematisiert werden will / muss (wegen aktueller Ereignisse; weil eine Schülerin oder ein Schüler eine antisemitische oder fremdenfeindliche Äußerung macht o. ä.)«. Auffällig ist, dass viele der teilnehmenden Lehrkräfte die »Widerstände der Eltern« als Argument gegen das Behandeln des Holocaust in der Grundschule anführen. Manche Eltern hätten »Ängste«, wenn dieses Thema mit ihren Kindern besprochen würde, sie fürchteten gar eine »Traumatisierung« ihrer Kinder. Ein »blockierendes Elternhaus« wird nicht selten zum Grund, die Thematik lieber nicht aufzugreifen: Es gibt »überforderte Eltern, die angriffig werden, weil sie selbst in den Gesprächen mit ihren Kindern an Grenzen stoßen«. Doch nicht nur das Blockadeverhalten mancher Eltern sei ein Problem, sondern auch deren Meinungen und Haltungen insgesamt. Die »größte Herausforderung sind die Einstellungen der Eltern, welche die Kinder mitbringen«, was soweit gehen kann, dass Grundschüler*innen die »rassistischen Äußerungen von Eltern einfach übernehmen« und ins Klassenzimmer mitbringen würden. Hier entstehe ein Konflikt, denn bisweilen »widerspricht das Bild der Eltern dem der Lehrer«, was sowohl im Blick auf die Holocaust-Erinnerung als auch im Blick auf gegenwärtige gesellschaftliche Probleme wie Migration oder Ausländerfeindlichkeit gelte. Nicht zu unterschätzen sind auch Widerstände mancher Kolleginnen und Kollegen im Lehrerzimmer, wenn sie hören, das Thema Erinnerung an die Judenvernichtung wird in den Grundschulklassen unterrichtet. Weitere Schwierigkeiten bereiten die Heterogenität der Schülerschaft und deren höchst unterschiedliche Voraussetzungen: »Manche wissen fast gar nichts und andere, die gerne schon detaillierte Fragen beantwortet haben möchten, sind oft genervt von der Ahnungslosigkeit ihrer Mitschüler.« Außerdem sind religiöse und kulturelle Verschiedenheiten Hindernisse beim Unterrichten: »Muslimische Schüler könnten mit den Vorurteilen, bzw. Abneigungen ihrer Eltern gegenüber Juden in Konflikte kommen.« Ein Grund mehr, so manche der befragten Religionslehrer*innen, das Thema auf sensible Weise und im Idealfall im Gespräch mit den Eltern auch schon bei Kindern im Alter von 6–12 aufzugreifen.
3.
Religionsdidaktik der Sensibilisierung für die Erinnerung an den Holocaust – auch und gerade im Grundschulalter
Empirische Daten können keine Grundlage für normative Aussagen darstellen, doch sie können Hinweise geben und Tendenzen anzeigen, um normative und schwierig zu entscheidende Fragestellungen zu erhellen. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um Äußerungen von Expertinnen und Experten handelt. Die
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Grundschullehrer*innen sind sich sicher, dass trotz der Schwierigkeiten und/ oder Hindernisse – insbesondere der Problematik des noch jungen Alters der Schüler*innen – der Religionsunterricht einen wichtigen Beitrag leisten kann, um das Thema der Erinnerung an den Holocaust anfanghaft bewusst zu machen. Religiöse Bildung in den Altersstufen 6 bis 12 hat Potentiale und Chancen, die genutzt werden sollten, um Kinder in die komplexe Thematik einzuführen und ihnen angesichts familiärer und gesellschaftlicher Diskurse sowie der Behandlung des Themas in den Medien eine gewisse Orientierung zu bieten. Denn offensichtlich begegnen Kinder dem Thema Holocaust bereits in ihrer Lebenswelt.20 Wenn Kinder dann jedoch nur Erwachsene (Eltern oder Lehrpersonen) vorfinden, die das Thema für zu schwierig und für Kinder nicht altersgemäß halten, die also dem Gespräch darüber ausweichen, bleiben sie mit den Gedanken und besonders mit ihren Gefühlen, gegebenenfalls auch Ängsten, allein. Helmut Schreier stellt diesbezüglich fest: »Aber wir müssen auch damit rechnen, dass Kinder höchst sensibel reagieren, wie wir selbst mit dem Thema umgehen. Unsere Träume und unsere Albträume werden offenbar. Unsere Tapferkeit und Zivilcourage äußert sich in der Bereitschaft, dem Holocaust nicht aus dem Weg zu gehen.«21 Religionsunterricht, der naturgemäß am Thema Religion und Glaube interessiert ist, hat die Aufgabe, erste Kenntnisse des Judentums zu vermitteln sowie eine Offenheit für Begegnungen mit Juden, jüdischem Leben, Spuren jüdischer Existenz in der unmittelbaren Umgebung und konkreten Lebensgeschichten von Jüdinnen und Juden.22 Fragen der Alltagspraxis, der Feste und Feiern, der Gebete und Gottesdienste, der häuslichen, familialen Bräuche können im Unterricht angesprochen werden, was als eine deutliche Prophylaxe gegen Judenfeindschaft gesehen werden kann. Wer Juden und jüdisches Leben kennt, ist weniger bereit, sich Stereotypen und Vorurteilen hinzugeben. Weitere Hinweise aus den Äußerungen der an der Studie Beteiligten geben eine gewisse Richtung an, die für die Didaktik der Erinnerung an den Holocaust hilfreich sein kann: An zahlreichen Stellen ihrer selbst geschriebenen Texte verwenden Grundschullehrer*innen die Begriffe »sensibel sein«, eigene »Sensibilität« für den Umgang mit diesem Thema entwickeln, die »Sensibilität« der Schüler*innen achten. Eine Lehrerin fasst ihre Ziele beim Unterrichten der Erinnerung an den Holocaust wie folgt zusammen: »Die Kinder sensibilisieren, 20 Vgl. Vera Hanfland, Holocaust – ein Thema für die Grundschule? Eine empirische Untersuchung zum Geschichtsbewusstsein von Viertklässlern, Berlin/Münster 2008, 221. 21 Helmut Schreier, Janusz Korczak, die Kinderrechte und das ›Holocaust‹-Thema, in: Jürgen Moysich/Matthias Heyl (Hg.), Der Holocaust, 23–35, hier 35. 22 Wertvolle Hinweise finden sich in: Elisabeth Naurath, Mit Grundschulkindern ins Gespräch kommen, in: Katechetische Blätter, 140 (2015), 2, 108–112; siehe auch ihre Beiträge in diesem Band.
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nicht überfordern; Ihnen genug Antworten bieten bei gleichzeitigem Aushalten des Fassungslosen; Souveräner Umgang mit ›coolen‹ bzw. provokanten Reaktionen bzw. Meinungsäußerungen.« Diese Äußerung kann als kleiner Kompetenzkatalog gedeutet werden, der für Lehrkräfte, die mit Kindern im Alter von 6 bis 12 Jahren das Thema Erinnerung aufgreifen, hilfreich, wenn nicht gar maßgebend ist. Zunächst geht es um die grundsätzliche Kompetenz aller Lehrenden und Erziehenden, »sich selbst zu sensibilisieren, um damit andere zu sensibilisieren« (Elie Wiesel). Wer sich selbst sensibilisieren will, muss sich zunächst mit dem Thema fachlich befassen, womit die Sachkompetenzen gefragt sind, die für jedes Thema, so auch in besonderem Maße für das komplexe Thema der NS-Geschichte notwendig sind. Das Thema impliziert historische Kenntnisse des Nationalsozialismus, der Judenverfolgung aufgrund der staatstragenden Ideologie des Rassenantisemitismus, des Holocaust als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der sich daraus ergebenden Aspekte der Geschichte des Antisemitismus generell, des Lebens der Juden in Europa, der religiösen, kulturellen, sozialen und politischen Aspekte jüdischer Existenz in der europäischen Geschichte, etc. Sensibilisierung bedeutet also keineswegs nur »Gefühle hegen«, sondern sie umfasst kognitive Aspekte. Letztere jedoch stehen in enger Verbindung mit der emotionalen Dimension des Lerngegenstands. Der Holocaust kann in der Bildungsarbeit niemals nur faktenbasiert, quasi »neutral«, unterrichtet werden. Hinter dem sechsmillionenfachen Mord stehen konkrete Menschen, Einzelschicksale und Einzelbiographien. Jede ›Zahl‹ steht für Menschen, die geboren und aufgewachsen sind, die eine Kindheit erlebten, eine Jugendzeit, ein Erwachsenendasein, verbunden mit weitläufigen Beziehungsstrukturen, mit sozialem, kulturellem und religiösem Leben, mit all den Hoffnungen, Träumen und Sehnsüchten, die ein jeder Mensch hat. Wer sich diesen Schicksalen nähert, kann nicht unberührt bleiben. Die Stärke des Sensibilisierungsbegriffs ist, dass er sowohl die kognitiven als auch die emotionalen Aspekte dieses schwierigen Themas umschließt. Der Terminus umfasst eine Sensibilisierung für Geschichte und für Geschichten, für das größere Ganze und das, was sich in einer einzelnen Lebensgeschichte zeigt. Damit steht der Begriff klar gegen Überforderung und Überwältigung der Lernenden, er partizipiert in bildungstheoretischer und -praktischer Hinsicht am Überwältigungsverbot. Ein sensibles und sensibilisierendes Unterrichten geht mit den Schüler*innen einen Weg, den sie mitgehen können, der sie nicht überfordert oder gar traumatisiert, sondern der sie selber sensibel macht für diese wichtige Phase der Geschichte. Die Geschichte ragt für diejenigen, die sich sensibilisieren lassen, in die Gegenwart hinein, in die Identitätskonstruktion einer Gesellschaft »nach Auschwitz« und von Menschen, die in dieser Gesellschaft leben – gleich-
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gültig, ob sie und ihre Vorfahren aus diesem Land stammen oder ob sie zugewandert sind. Sensibilisierung für die Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht hat so Anteil an der Aufgabe, schon mit Grundschulkindern politisches und historisches Lernen zu initiieren.23 Religiöse Bildung hat eine politische Dimension.24 Sie hat im Verbund mit allen anderen Schulfächern die Aufgabe, für demokratische Verantwortung zu erziehen und zu bilden, für Menschenrechte zu sensibilisieren, für Toleranz und Wertschätzung anderer Weltanschauungen, Kulturen und Religionen einzutreten – und nicht zuletzt, sich präventiv gegen Antisemitismus einzusetzen. Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht muss sich in diesem größeren bildungstheoretischen und bildungspolitischen Kontext verorten. Als einer der wichtigsten Lernwege legt sich das Erinnern und Erzählen nahe, das nicht nur als didaktische Entscheidung und methodische Umsetzung gilt, sondern das auch in der anthropologisch-pädagogischen Grundstruktur des Lernens und der Persönlichkeitsbildung tief verwurzelt ist; gleichzeitig stellt es eine Basiskategorie in theologischer und religionspädagogischer Hinsicht dar (siehe oben Abschnitt 2.). Erzählen ist eine Zentralkategorie in der Didaktik der Grundschule, insbesondere im Religionsunterricht. Dies kann auch für eine Didaktik der Erinnerung an den Holocaust genutzt werden, wie viele der Lehrer*innen in der REMEMBER-Studie aufgezeigt haben. Biographien, also konkrete Lebensgeschichten im Umfeld der Judenverfolgung im Nationalsozialismus, spielen dabei eine besondere Rolle. Dazu gibt es zahlreiche Beispiele in der Kinder- und Jugendliteratur.25 Die empirische Untersuchung von Vera Hanfland weist in dieselbe Richtung: Das Ergebnis ihrer Studie »unterstreicht die Bedeutung eines biografischen Zugangs zu dem Thema Menschenrechte im Allgemeinen und zu dem Thema Holocaust im Besonderen. Zur Identifikation sollte bei letzterem Thema eine Opferbiografie ausgewählt
23 Vgl. Alexandra Flügel, »Kinder können das auch schon mal wissen…«. Nationalsozialismus und Holocaust im Spiegel kindlicher Reflexions- und Kommunikationsprozesse, Opladen 2009, 179–202. 24 Vgl. u. a. Judith Könemann/Norbert Mette (Hg.), Bildung und Gerechtigkeit. Warum religiöse Bildung politisch sein muss, Ostfildern 2013; Bernhard Grümme, Religionsunterricht und Politik. Bestandsaufnahme – Grundsatzüberlegungen – Perspektiven für eine politische Dimension des Religionsunterrichts, Stuttgart 2009. 25 Beispielsweise: Julia Bleffert, Maria Kalaitzi, Anne-Maria Lehnhart, Jugend im Holocaust. Wie Schüler den Holocaust durch Kinder- und Jugendliteratur verstehen lernen, München 2016; Julia Bleffert, Kinder- und Jugendliteratur über den Holocaust. Didaktische Aufbereitungsmöglichkeiten in der Grundschule, Hamburg 2012; Claudia Angele/Herbert Rommel, Anne Frank im Religionsunterricht der Grundschule, in: Katechetische Blätter, 135 (2010), Heft 1, 28–31; Beate Vogel, Opa Samuel, was bedeutet es, ein Jude zu sein? Arbeits- und Lesebuch für Kinder, Altensteig 2005.
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werden, um die Empathiefähigkeit und die Anbahnung von Solidarität und Toleranz zu fördern.«26 Kinder können sich mit Biographien vertraut machen und sie zumindest ansatzweise vor dem Hintergrund ihrer eigenen, divergierenden Lebens- und Erfahrungswelt verstehen. Allerdings dürfen historische Hintergrundinformationen nicht ausgeblendet werden.27 Das bedeutet für den Religionsunterricht, dass er nicht einfach die religiösen und ethischen Aspekte einer Lebensgeschichte in den Vordergrund rücken darf, ohne die historischen Aspekte mit zu berücksichtigen. Um in diesem Zusammenhang auf die eingangs zitierte Lebensgeschichte von Paul Niedermann zurück zu kommen: Sein Heimweg nach dem Rauswurf aus der Schule, nur, weil er Jude war, und sein Leiden an der Tatsache, nicht mehr Fahrrad fahren zu dürfen, nicht mehr ins Freibad zu dürfen, nicht mehr Straßenbahn fahren zu können, sind für Grundschüler*innen wichtige Aspekte, um eine empathisch-emotionale Annäherung an die Thematik der Judenvernichtung im Nationalsozialismus zu vollziehen. Das Thema darf allerdings bei diesen emotionalen Aspekten nicht stehen bleiben. Betroffenheit ist kein religionsdidaktisches Ziel der Behandlung des Themas Erinnerung an den Holocaust. Vielmehr geht es um »Sensibilisierung«, was, wie angedeutet, kognitive, informative ebenso wie affektive und schließlich auch ethische und friedenspädagogische, also handlungsorientierte Aspekte umfasst. Im Blick auf die Biographie von Paul Niedermann klingt das so: Zeitlebens blieb er ein Optimist.28 In den zahlreichen Begegnungen mit der jungen Generation in Deutschland hat er immer wieder seine Perspektive der Hoffnung weitergegeben: »Ich spreche heute zu euch, weil ich will, dass ihr versteht, wie alles gekommen ist und wie diese Dinge immer wieder passieren. Ihr könnt heute wirklich dagegen kämpfen, ihr könnt euch engagieren.«29 In diesem Sinne lautet auch der Titel seiner Autobiographie: »Auf Hass lässt sich nicht bauen.« In Zeiten des wiedererstarkenden Rechtsradikalismus, Antisemitismus und der Fremdenfeindlichkeit sind Geschichten wie die des Paul Niedermann mehr als nötig – nicht nur für Kinder in der Alterspanne von 6 bis 12, auch für uns Erwachsene.
26 Hanfland, Holocaust, 220. 27 Vgl. Heike Deckert-Peaceman, Holocaust als Thema für Grundschulkinder? Ethnographische Feldforschung zur Holocaust Education am Beispiel einer Fallstudie aus dem amerikanischen Grundschulunterricht und ihre Relevanz für die Grundschulpädagogik in Deutschland, Frankfurt/M. 2002, 59. 28 Paul Niedermann ist am 7. Dezember 2018 in Paris verstorben. 29 Niedermann, Auf Hass, 133.
Tina Raddatz-Schick
Beispiele für Antisemitismus-Prävention an einer Grundschule in Osnabrück
1.
Antisemitismus-Prävention mit Blick auf Kerncurricula und Bildungspläne
Das niedersächsische Kerncurriculum für das Fach evangelische Religion sieht zwar für die Grundschule für Schüler*innen »[…] die Erschließung der Lebenswirklichkeit im Zeitfluss von der Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft«1 vor, versteht darunter aber an keiner Stelle Themen wie Judenverfolgung oder Holocaust. Unter der Leitfrage »Nach Religionen fragen« wird als Ziel lediglich »Sie [die Schüler*innen] nehmen in Ansätzen wahr, dass die christliche Religion ihre Wurzeln im jüdischen Glauben hat. Die Schüler*innen lernen, Menschen anderer Religionen in Offenheit und Aufgeschlossenheit zu begegnen und mit ihrer Verschiedenheit umzugehen« aufgeführt2. Beim Kompetenzerwerb soll es zunächst nur um »einige Merkmale der christlichen, jüdischen und der islamischen Glaubenspraxis und […] Verbindendes und Trennendes […]«3 gehen. Betrachtet man nun das Programm zur Schulentwicklung Nordrhein-Westfalens, so findet man unter der Leitfrage »Miteinander leben« das Schwerpunktthema »Begegnung mit Judentum, Christentum, Islam« sowie die Kompetenzerwartung zum Ende des 4. Schuljahres »SuS begegnen Menschen anderer Religionen mit Respekt und Toleranz«4. Auch hier wird nicht explizit von Antisemitismus-Prävention gesprochen, doch nähert es sich dem Thema genauer an. Im Lehrplan Mecklenburg-Vorpommerns werden zunächst die zu erlangenden Kompetenzen in Sachkompetenzen, Methodenkompetenzen, soziale und personalen Kompetenzen auf gesplittet. Als Ziel wird dort u. a. gefordert »SuS 1 Niedersächsisches Kultusministerium, »Kerncurriculum für die Grundschule – Schuljahrgänge 1–4«, Evangelische Religion, Hannover 2006, 8. 2 Ebd., 29. 3 Ebd. 4 https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplannavigator-grundschule/evangelischereligionslehre/lehrplan-ev.-religion/kompetenzen/kompetenzen.html (Stand: 22. 09.2019).
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Tina Raddatz-Schick
setzen sich kritisch mit Vorurteilen gegenüber anderen religiösen Wertvorstellungen und Ausdrucksformen auseinander, können die Folgen von Intoleranz beschreiben und sind zu tolerantem Handeln fähig«5. Hierunter lässt sich durchaus das Thema »Holocaust und seine Auswirkungen« einordnen. Doch wie weit bietet sich der Religionsunterricht in besonderer Weise an, um präventiv gegen Antisemitismus tätig zu werden? Schüler*innen in den Klassen 1 und 2 werden zunächst in ihrer Sozialkompetenz und ihrem Teamgeist gefördert. In den Klassen 3 und 4 können Themen spezialisiert werden auf Ausgrenzung, Mobbing und auch wohin Vorurteile und Rassismus führen können. Kinder in diesem Alter verfügen inzwischen über einen Gerechtigkeits– und Ungerechtigkeitssinn und reagieren auch außerhalb ihres Umfeldes empathisch auf Ungerechtigkeiten. Dieses Bewusstsein muss gestärkt werden, damit die Schüler*innen lernen, Verantwortung zu übernehmen. Gerade im Religionsunterricht bietet sich das Thema Neid und Ausgrenzung an und lässt sich auf die heutige Umwelt übertragen. Zum Beispiel mit der Josefsnovelle: Im Alten Testament waren es die Brüder von Josef, die neidisch auf diesen waren, ihn ausgrenzten und schließlich verkauften. Nicht alle Brüder waren damit einverstanden, hatten ein ungutes Gefühl, folgten aber dennoch. Im Dritten Reich schwiegen etliche Menschen gegen den Rassenwahn der Nationalsozialisten, gerade auch bei der Arisierung des akademischen und schulischen Lehrkörpers. Auch heute scheint es von einer rechtsgerichteten Partei die Aufforderung zu geben, Lehrkörper zu denunzieren, wenn sie sich politisch (gegen sie) äußern. Wie lässt sich beispielsweise die Josefsgeschichte auf die heutige Welt der Kinder übertragen? Wie verhalten sie sich heute, wenn in der Klasse oder auf dem Schulhof jemand ausgegrenzt/gemobbt wird? Zugucken oder eingreifen? Ziel der Pädagog*innen muss an der Stelle sein, Kinder zur Mündigkeit und zum Mut zu erziehen: nicht wegschauen, sondern helfen.
2.
Methodische Umsetzung in der Grundschule Rosenplatz (Osnabrück) an praktischen Beispielen
2.1.
Die Rosenplatzschule
Die Rosenplatzschule (RPS) liegt mitten im Zentrum Osnabrücks, einem sogenannten Brennpunktviertel. Die Schule ist dreizügig mit rund 250 Schüler*innen aus über 30 Herkunftsländern. Derzeit nehmen fast 50 % der Schüler*innen am 5 https://www.bildung-mv.de/export/sites/bildungsserver/downloads/unterricht/rahmenplaene_ allgemeinbildende_schulen/Religion/rp-evrel-gs.pdf, 14 (Stand: 22. 09. 2019).
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christlichen Religionsunterricht teil, der konfessionell–kooperativ erteilt wird. Von diesen Kindern ist etwa ein Drittel getauft, zwei Drittel »Konfessionslose« wurden außerdem zum Religionsunterricht angemeldet. Etwa ein Drittel aller Schüler*innen an dieser Schule zählt zum muslimischen Glauben. Die restlichen Kinder gehören anderen Religionsgemeinschaften (Buddhismus, Sikhismus, usw.) an. In den letzten vier Jahren hat die Schule viele syrische Flüchtlingskinder aufgenommen, etliche von ihnen Jesiden, geprägt von traumatischen Kriegserlebnissen. Heterogenität zeigt sich auch in den Familien: Eltern im klassischen Sinne und auch viele alleinerziehende Eltern schicken ihre Kinder zur Rosenplatzschule. Heterogen ist auch der Bildungsstand der Eltern. So wird die »Brennpunktschule« zu einer vielschichtigen, kunterbunten Herausforderung. Die Religionsgruppen umfassen meist weniger als 20 Kinder, so dass ein offener Unterricht – an den Bedürfnissen und Fragen der Schüler*innen orientiert – stattfinden kann. Unterrichtseinheiten zum Thema »Holocaust« habe ich in verschiedenen Klassen unterrichtet und stets dieselbe Erfahrung gemacht: Kinder sind neugierig, wollen ihr »Halbwissen« konkretisieren, saugen auf und reagieren doch sehr empathisch. Oft starten sie mit der Meinung, dass Hitler ein »cooler Typ« war, denn Kriege haben etwas Heroisches6. Dass Deutschland den Zweiten Weltkrieg verlor, bleibt zunächst eher ungeliebtes Faktum. Dass es Millionen Tote gab, ist für viele neu. Sechs Millionen ermordete Juden ist auch für Zehnjährige eine unvorstellbare Tat und eine nicht greifbare Zahl. Wenn jedoch Einzelschicksale in den Vordergrund treten, reagieren die Schüler*innen betroffen. Dennoch muss die Lehrkraft stets im Blick behalten, in welchem Umfang die Thematisierung des Holocaust ihre Schützlinge vertragen können. Es erfordert oft flexibles Reagieren und auch die Korrespondenz mit den Eltern im Vorfeld.
2.2.
Janusz Korczak
Das niedersächsische Kerncurriculum berücksichtigt unter der Leitfrage »Nach der Verantwortung des Menschen in der Welt fragen«7 u. a. die Kompetenz: »Die Schülerinnen und Schüler verstehen biblische Gebote als Wegweiser für ein gelingendes Leben.«8 6 Vgl. Wagensommer, 15, a. a. O. 7 Niedersächsisches Kultusministerium, »Kerncurriculum für die Grundschule – Schuljahrgänge 1–4«, Evangelische Religion, 2006, Hannover, 23. 8 Ebd., 23.
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Darüber hinaus lernen sie gleichzeitig, dass es nicht nur Regeln, sondern auch Rechte wie Menschen- und Kinderrechte gibt. Hier gilt es einen fächerübergreifenden Unterricht zu organisieren. Das niedersächsische Kerncurriculum für Sachunterricht schreibt zum Thema Wertebildung: »Durch die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen, verschiedenen Antworten auf Sinnfragen und unterschiedlichen Lebensweisen erweitern sie ihren Erfahrungshorizont, ihre Bewertungsmaßstäbe sowie ihre Handlungskompetenz und finden zu eigenen, reflektierten Werthaltungen in politischen, religiösen und sozialen Zusammenhängen«9 und fordert u. a. als Kompetenz »Schülerinnen und Schüler reflektieren und diskutieren über Macht und Machtmissbrauch.«10 Die Kinderrechte wurden 1989 in die Resolution der UN aufgenommen. Doch woher kommen sie ursprünglich? Sie wurden bereits 50 Jahre vorher formuliert. Janusz Korczak erarbeitete sie mit seinen Schützlingen im Waisenhaus in Warschau. Dort gab es ein demokratisches Kinderparlament, das über die Bedürfnisse der Kinder diskutierte und Regeln festlegte. Das Buch »Janusz Korczak – Ein Held der Kinder« von Tomek Bogacki11 unterstützt in eindrucksvoller, sensibler Weise die Erarbeitung. Es beschreibt das Leben Korczaks in Warschau um die Zeitenwende des 19./20. Jahrhunderts: Korczaks Kindheitsträume und Erfahrungen als jüdischer Junge, sein Studium der Medizin, die Tätigkeit als Arzt in einem jüdischen Kinderkrankenhaus. Später ist Korczak Leiter mehrerer jüdischer Waisenhäuser, die in der Folge der Machtergreifung der Nationalsozialisten in das Warschauer Ghetto verlegt werden und schließlich die gemeinsame Deportation der Kinder – gemeinsam mit Janusz Korczak nach Treblinka. In der eindringlichen Schilderung stehen plötzlich ganz andere Fragen im Vordergrund: Warum mussten diese Kinder sterben? Was haben sie Falsches gemacht? Wie konnten diese Ungerechtigkeiten überhaupt passieren? In einer Gruppe wollten die Schüler*innen genauer wissen, was in Treblinka geschehen ist. Dazu bietet sich das Buch »Die letzte Reise« von Irène CohenJanca12 an. Die großformatigen Zeichnungen zeigen das Elend, die Trostlosigkeit, aber auch den Mut der Kinder, die mit Stolz in den Tod zogen. Das Buch ist sowohl bedrückend als auch Mut machend. Nun ist es an der Lehrkraft, all die Fragen und Reaktionen zu sortieren und systematisch mit den Schüler*innen zu beantworten. Über einen anonymen Briefkasten, einer Mindmap oder Karteikarten können zunächst Fragen gesammelt und später sortiert werden. Offene Gesprächsrunden können sich an9 10 11 12
Ebd. http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_su_n-line.pdf, 16.; (Stand: 15.05.20). Ebd., 25. Tomek Bogacki, Janusz Korczak Ein Held der Kinder, Knesebeck 2009. Irène Cohan-Janca, Die letzte Reise Janusz Korczak und seine Kinder, Jacoby & Stuart 2015.
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schließen. Wichtige Informationen liefert auch das Kindernachrichtenmagazin des ZDF logo!13. Dort finden sich viele Videos zu den Themata »Holocaust«, »Wie der Zweite Weltkrieg begann«, »Antisemitismus« damals und heute, etc. Diese Videos bieten weitere Sprach– und Klärungsanlässe. Zum Beispiel erzählte ein polnischer Schüler meiner Klasse von seiner Urgroßmutter, die das Konzentrationslager in Polen überlebt hat. Andere Kinder berichteten daraufhin vom Krieg in Jugoslawien zu Beginn der 90er Jahre, bei dem Großeltern umgekommen oder geflohen waren. Auch ich konnte von der Flucht meiner Großmutter 1945 aus dem heutigen Polen erzählen und muss gestehen, dass mich auch schon als Kind diese Geschichten immer interessiert haben. Kein Kind berichtet jedoch, dass einer seiner Vorfahren gerne in der Hitlerjugend war oder begeistert in den Krieg gezogen ist. Diese Details wurden nicht überliefert und/oder sind tabu geblieben. Zweifelsfrei gab es im Dritten Reich auch rassistische Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen, die Schüler*innen meiner Gruppen konnten dies zum Glück nicht mehr nachvollziehen. Sie streiten zwar mal auf dem Schulhof, doch nicht rassistisch, sondern um die Vorherrschaft auf dem Fußballplatz. Gerade Kindern aus Syrien, die Fluchterfahrungen erlebt haben, bietet diese Plattform eine Möglichkeit, mit ihren Klassenkameraden über ihre Erlebnisse zu sprechen. Inwieweit sie sich dabei öffnen, entscheiden sie. Auch die jesidischen Kinder trauten sich nach einiger Zeit über ihre Geschehnisse zu berichten, nachdem sie beobachtet hatten, wie ihre Mitschüler*innen über religiöse Ausgrenzung denken. In diesem Zusammenhang gab es nur ein kurzes Aufflammen von Streitigkeiten zwischen kurdischen und türkischen Müttern, die ihre Vorurteile gegeneinander auf dem Schulhof ausdiskutieren wollten. Ihre Kinder hingegen wollten von diesen Konflikten innerhalb der Schule nichts wissen. Denn in der Schule sind alle Kinder gleichwertig.
2.3.
Spurensuche in Osnabrück – Gedenkstätte für Kinder von Zwangsarbeiterinnen in Osnabrück
Einem Zufall geschuldet sprach mich eine Freundin an, die Mitinitiatorin der Spurensuche in Osnabrück14 ist. Diese private Initiative hat auf dem Heger Friedhof Osnabrück ein Erinnerungsmal, bestehend aus drei großen Grabsteinen, aufgestellt. Hier stehen die Namen von 79 Kindern, die von ausländischen Zwangsarbeiterinnen zwischen 1942 und 1945 geboren wurden und noch am 13 https://www.zdf.de/kinder/logo/ (Stand: 19.05.20). 14 Vgl. https://www.evangelisch.de/inhalte/152446/25-09-2018/gedenkort-fuer-gestorbene-kin der-von-ns-zwangsarbeiterinnen-eingeweiht (Stand: 09. 09. 2019).
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Tina Raddatz-Schick
selben Tag oder kurz darauf starben – oft aufgrund der Unmöglichkeit einer adäquaten (medizinischen) Versorgung, aber auch durch gezielte Tötung. Den Gedenktag an verstorbene Kinder, dem »worldwide candle lighting«15, nahm das Bündnis »Gedenkstätte für die Kinder von Zwangsarbeiterinnen« in Osnabrück zum Anlass, Lichter an der Gedenkstätte zu entzünden. Diese speziellen Laternen wurden durch die Schüler*innen gestaltet und am zweiten Advent 2018 entzündet. Doch bevor die Kinder zu malen beginnen konnten, wurden sie mit Informationen versorgt. Frau A. Groskurt erzählte, wie die Namen der Kinder überhaupt gefunden wurden und warum es dieses Gedenkgrab gibt, denn die eigentlichen Gräber verschwanden schnell. Die Schüler*innen waren interessiert und entsetzt zugleich, dass es auch in Osnabrück Arbeitslager gab, dass hier Gefangene hart arbeiten mussten, um die Fabriken und Betriebe am Laufen zu halten; dass Müttern die Kinder weggenommen wurden, um ihre Arbeitskraft zu erhalten; dass die Säuglinge aufgrund schlechter Versorgung und Krankheiten starben und sich keine deutschen Frauen gekümmert hatten. Am zweiten Advent nahmen viele Kinder meiner Klasse an einem kurzen Gedenkgottesdienst in der Friedhofskapelle teil und anschließend trugen sie ihr Licht zur Gedenkstätte. Im Frühjahr haben die Schüler*innen die Laternen zurückbekommen, für sie als Erinnerung an ihr Engagement, aber auch als Verantwortungsauftrag für ihre Zukunft.
2.4.
Stolpersteine
Seit gut zehn Jahren werden in Osnabrück Stolpersteine nach dem Projekt von Gunter Deming16 verlegt. Diese erinnern an die Opfer der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg. Die Steine aus Messing sind leicht erhöht in den Bürgersteig eingearbeitet. Ihre Inschrift verrät sowohl Namen als auch Todesdatum der getöteten Person und ist vor ehemaligen Wohnungen zu finden. Zu den berühmtesten Osnabrücker Opfern gehören Felix Nussbaum und Lissy Rieke. Nach ihr ist eine Straße in der Nähe des Rosenplatzes benannt und durch einen dort ansässigen Supermarkt den Schüler*innen bekannt. Aber auch direkt neben der Schule ist ein Stolperstein in Gedenken an Johannes Heinrich Laumann (Todesdatum 13. 2. 1941, erschossen wegen Fahnenflucht) und hinter der Schule in Gedenken an Elfriede Jansen (Todesdatum 30. 7. 1943) zu finden. Hier galt es Begriffe wie Fahnenflucht zu klären. Deportiert und erschossen wurden nicht nur Juden, sondern alle, die »unbequem« für den nationalsozia15 https://www.aktion-lichtpunkt.de/aktion-lichtpunkt/aktionshintergrund/candle-lighting/ (Stand: 09. 09. 2019). 16 Vgl. http://www.stolpersteine.eu/ (Stand: 09. 09. 2019).
Beispiele für Antisemitismus-Prävention an einer Grundschule in Osnabrück
197
listischen Staat waren. Auch Elfride Jansen war keine Jüdin. Sie war in einer Heilanstalt und daher gemäß der nationalsozialistischen Rassenideologie nicht mehr »gesellschaftlich tragbar«. Dieses Schicksal löste Entsetzen aus, denn gerade in die Rosenplatzschule werden einige Schüler*innen inklusiv beschult. Schnell war die Frage zugegen, ob diese Schüler*innen damals auch abgeschoben worden wären; der Junge im Rollstuhl, das Mädchen mit Trisomie 21 oder Kinder mit anderen besonderen Merkmalen. Hätten wir an unserer Schule keine Inklusion, würden sie dann heute an Förderschulen »abgeschoben« werden? Dabei bereichern sie doch den Schulalltag und sind größtenteils sehr gut in der Klassengemeinschaft und Lebenswelt ihrer Mitschüler*innen integriert. Eine Karte17 zeigt eine Übersicht über die Vielzahl der Osnabrücker Opfer und ihre meist jüdischen Biographien. Allerdings muss die Lehrperson jedoch genau aufpassen, dass die Menge der Stolpersteine nicht zur Faszination wird, sondern klar ist, dass hinter jedem Viereck auf dem Boden ein exekutierter Mensch steht. Denn auch auf etlichen Ausflügen entdeckten die Schüler*innen immer wieder Stolpersteine. Auch hier kam wieder die Frage auf, wie Osnabrücker Bürger das zulassen konnten.
2.5.
Besuch eines jüdischen Friedhofs
Unweit der Schule existiert der jüdische Friedhof in Osnabrück, den die meisten Schüler*innen der Rosenplatzschule wohl kennen. Ihnen war bislang aber nie klar, warum dieser Teil des Friedhofes vom Rest abgegrenzt ist. Ein Besuch gab Klärungen. Schnell wurden auch die besonderen Rituale in der jüdischen Erinnerungskultur (z. B. Steinchen auf den Grabsteinen) deutlich. Da auf diesem Friedhof auch derzeit noch Beerdigungen stattfinden, wurde noch einmal bewusst, dass 1945 nicht alle Juden ermordet wurden oder nach Israel bzw. die USA ausgewandert sind. Hier galt es noch einmal ganz genau zu klären, dass ›jüdisch‹ eine Religion ist. So war Janusz Korczak ein jüdischer Pole und Felix Nussbaum ein jüdischer Osnabrücker. In jeder Religion gibt es eigene Rituale, auch auf dem Friedhof. Muslimische Tote werden auf den städtischen Friedhof neben Christen begraben, jüdische Tote sind jedoch auch hier noch abgegrenzt (zum Beispiel auf dem Heger Friedhof in Osnabrück).
17 Vgl. https://geo.osnabrueck.de/stolpersteine_karte/#var=start (Stand: 08. 09. 2019).
198
3.
Tina Raddatz-Schick
Fazit
Kinder haben Fragen. Viele Fragen – und sie brauchen Antworten. Viele Antworten erhalten sie zuhause. Aber noch mehr Antworten erhalten sie in der Schule. Hier ist die Plattform Fragen zu dürfen und kompetente Antworten zu erhalten. Allerdings müssen Antworten auch oft selbstständig erarbeitet werden, denn das führt zu mehr Nachhaltigkeit, unabhängig von dem Thema. Antisemitismus ist ein heikles Thema, dem sich nicht jede/r Lehrer*in stellen mag. Es bedeutet professionelle Vorbereitung und adäquate Aufbereitung der Inhalte. Bei Auseinandersetzungen über aktuelle Parteien und deren Wahlprogramme aber auch eine vorgeschriebene Zurückhaltung. Dennoch dürfen/ müssen genau an dieser Stelle Fragen präzise und sachlich beantwortet werden. Ein anderer Aspekt, der dieses Thema für Schüler*innen so wichtig macht, sind (inter)nationale aktuelle Geschehnisse. Kinder interessieren sich zunehmend für das Weltgeschehen. Sie sehen (Kinder)Nachrichten und nutzen selbstverständlich das Internet. Sie lästern über die Frisur von Trump, kennen sich aber auch mit großen Themen wie dem Klimawandel aus und wissen um Kommunal–, Landtags– und Bundeswahlen. Sie werden zu diesen Hochphasen mit Plakaten auf dem Schulweg konfrontiert, lesen die Wahlslogans und fragen auch kritisch nach. So diskutierten wir auch über die in Bielefeld inhaftierte Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck, zu deren 90. Geburtstag im November 2018 »Die Rechte« zu einem Aufmarsch aufgerufen hatte. Um Schüler*innen aktuelle Propaganda zu erklären, braucht es einen Rückblick auf deutsche Geschichte. Dazu bieten sich Biographien an. Janusz Korczak bin ich bereits in meinem Studium zur Grundschullehrerin begegnet. Seine pädagogischen Ansätze haben mir oft geholfen, mit verhaltensauffälligen Schüler*innen zu Recht zu kommen. Aber auch seine für Kinder engagierte Geschichte hat mich immer bewegt. Sein Leben und sein Einsatz für die Kinder gibt Hoffnung. So empfanden es auch die Schüler*innen. Zuerst wurden immer wieder die »Zehn Gebote« mit dem Verbot »Du sollst nicht töten« angewendet. Daraus entstand Empörung und Unverständnis für das Agieren der Nationalsozialisten im Dritten Reich. Die Schüler*innen fieberten mit den Korczak’ Kindern mit und hofften immer noch auf ein gutes Ende. Dadurch wurde ihr Sinn für soziale Gerechtigkeit und ein tolerantes Miteinander gefördert. Die weiteren Praxisbeispiele entsprangen besonders ihrer örtlichen Nähe, sind allerdings nicht auf Osnabrück beschränkt. Mahnmale des Holocaust gibt es in jeder deutschen Stadt, ebenso Friedhöfe mit jüdischen Mitbürger*innen und auch die Stolpersteine. Zudem wirkt Unterricht erfahrungsgemäß nachhaltiger, wenn er als Exkursion außerhalb des Schulgebäudes stattfindet.
Beispiele für Antisemitismus-Prävention an einer Grundschule in Osnabrück
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Auffallend unterschiedliches Verhalten zwischen christlichen, muslimischen und konfessionslosen Schüler*innen gab es nicht. Alle waren sich einig: Der Holocaust ist ein ›No go‹ – niemals wieder. Somit war beeindruckend mitanzusehen, wie sich Verständnis für andere, für andere Religionen, andere Riten, Andersdenkende Menschen aufbaute und zu tolerantem Denken geebnet wurde. Dennoch gibt es auch unterrichtspraktische Grenzen: Hätte die jesidische Schülerin mit den direkten IS–Begegnungen anders auf Verfolgung reagiert, hätte ich als Pädagogin mein Programm abbrechen müssen und diesem Kind andere Hilfe anbieten müssen. Grenzen gibt es auch bei visuellen Darbietungen der NS–Zeit. Bilder bleiben bei Kindern schneller und intensiver haften. Selbst als Erwachsene machen mir diese Bilder von ausgemergelten Häftlingen zu schaffen. Ebenso ausgeklammert habe ich die Frage, warum die Zwangsarbeiterinnen schwanger wurden. Vergewaltigungen und brutalste Gewalt gehören noch nicht in Köpfe von Grundschulkindern. Hier liegen dann die Aufgaben der weiterführenden Schulen.
Georg Wagensommer
Empirische Studien zu Nationalsozialismus und Holocaust aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen und darauf aufbauende Möglichkeiten einer Antisemitismus-Prävention
1.
Die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit
Am 27. Januar 2020 jährte sich die Befreiung der Überlebenden des Konzentrationslagers von Auschwitz zum 75ten Mal. 1945 war damit dem vom deutschen Staat angeordneten Morden in Auschwitz ein Ende gesetzt. Am 08. Mai 2020 jährte sich auch das Kriegsende zum 75ten mal. Die Zeit von Holocaust und Nationalsozialismus liegt also Jahrzehnte zurück und heute leben kaum noch Zeitzeug*innen. Als solche werden jene des Holocaust assoziiert.1 Der damit einhergehende Verlust von Erfahrungen und authentischer Erinnerung kollidiert frontal mit dem Imperativ »Zachor!« (Erinnere Dich!). Für Juden und Jüdinnen aber gelten Verschweigen oder Vergessen als Tabus oder sogar als Akte der Selbstverstümmelung: Sie gefährden den Kern jüdischer Identität. Das Erinnern an vergangenes Leiden ist eine Pflicht. So lautet ein Leitspruch des Rabbi Baal Schem Tov (1700 bis 1760), Gründer des Chassidismus, der über dem Eingang zur Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem steht: »Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Denn das Vergessen verlängert das Exil.« Dieses im Ursprung religiöse Gebot gilt auch für den Holocaust, dem, nach Imre Kertész, ›von Anfang an eine entsetzliche Angst anhaftete: die Angst vor dem Vergessen‹. Folgt man Reinhard Kosellek, so vergrößert sich mit der »aussterbenden Erinnerung« auch die Distanz: »Aus der erfahrungsgesättigten, gegenwärtigen Vergangenheit der Überlebenden wird eine reine Vergangenheit, die sich der Erfahrung entzogen hat.«2 Dennoch sind auf diese veränderte Weise Holocaust und auch Nationalsozialismus in den Lebenswelten auf verschiedenen Ebenen
1 Vgl. Christine Bertram, Lebendige Erinnerung oder Erinnerungskonserven und ihre Wirksamkeit im Hinblick auf historisches Lernen, in: BIOS 28 (2015), 178–199, hier: 178. Bei Bertram findet sich eine Auseinandersetzung mit dem Zeitzeugen-Begriff. 2 Reinhard Kosellek, Nachwort zu Charlotte Beradt, Das dritte Reich des Traums, Frankfurt a.M. 1994, zit. nach Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, 13.
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Georg Wagensommer
gegenwärtig. Exemplarisch kann dies anhand von drei Aspekten deutlich werden: »Medien« (1.1), »Sprache« (1.2) und »Familienbiografien« (1.3).
1.1.
Medien
Nationalsozialismus und Holocaust sind in Medien präsent. Zum einen belegen dies die Dokumentationssendungen, die im deutschen Fernsehen zu sehen sind. Zum anderen können die Internetauftritte der TV-Sender im Allgemeinen und jene der Kinderfernsehprogramme im Besonderen genannt werden: Hier finden sich Themenseiten und Artikelsammlungen zu Nationalsozialismus und Holocaust, die die Dokumentationssendungen flankieren.3 Der Südwestrundfunk (SWR) hat beispielsweise über seine Homepage www.kindernetz.de das Thema »Judenverfolgung in Deutschland« für seine junge Leserschaft aufbereitet. Darüber hinaus hat der SWR federführend in einer internationalen Co-Produktion die Kinderserie »Der Krieg und ich« produziert. Sie war im Laufe des Jahres 2019 zunächst bei KIKA, dem Kinderkanal von ARD und ZDF, und anschließend in der ARD zu sehen. Die Serie will die Themen Krieg und Holocaust für Kinder ab acht Jahren in altersgerechter Form aufbereiten. Auch hier haben die Fernsehsender über die Homepage von »Planet Schule«4, die zum öffentlich-rechtlichen Bildungsangebot von SWR und WDR gehört, eine Internetpräsenz eingerichtet. Seit August 2019 stehen umfangreiche Unterrichtsmaterialien zu »Der Krieg und ich« zur Verfügung. Das Angebot richtet sich an Lehrende und ist frei zugänglich. Desweiteren sind aber auch Hollywoodproduktionen zu nennen. Die stärkste Resonanz hat unzweifelhaft der Film »Schindlers Liste« erfahren5: Er erhielt einerseits zahlreiche Auszeichnungen (Oskars, Golden Globes) und andererseits rief er zahlreiche Kontroversen hervor und wurde mehrfach nachdrücklich kritisiert. Unter anderem befassten sich Wolfgang Benz in der ZEIT6 und Claude Lanzmann in der FAZ7 mit dem Film. Neben diesem in der Öffentlichkeit geführten Diskurs beschäftigte sich auch die wissenschaftliche Fachöffentlichkeit 3 Vgl. hierzu die Internetauftritte der Fernsehsender n-tv und welt.tv, https://www.n-tv.de/the ma/nationalsozialismus und https://www.welt.de/themen/nationalsozialismus/; (Stand: 11. 09. 2019). 4 https://www.planet-schule.de/ (Stand: 10. 09. 2019). 5 Daneben sind die Tragikomödie »Das Leben ist schön« (1997) und »Zug des Lebens« (1998) erschienen. Die zunehmenden komödiantischen Elemente in diesen Filmen markieren auch Veränderungen in den filmischen Bearbeitungen der Holocaust-Thematik. 6 Vgl. Wolfgang Benz, Bilder statt Fußnoten. Wie authentisch muß der Bericht über ein geschichtliches Ereignis sein? Anmerkungen eines Historikers zu »Schindlers Liste«, in: Die Zeit 10/1994, 59. 7 Vgl. Claude Lanzmann, Ihr sollt nicht weinen. Einspruch gegen »Schindlers Liste«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 5. 3. 1994, 27.
Empirische Studien zu Nationalsozialismus und Holocaust
203
mit dem Film.8 Nach 25 Jahren kam »Schindlers Liste«, digital überarbeitet, noch einmal auf die Leinwand: Mehr als 400 deutsche Kinos zeigten ihn – am 27. Januar 2019 – zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Es ist davon auszugehen, dass auch Kinder aufgrund von Filmen, Dokumentationen und Internetauftritten mit Geschichtsfragmenten in Kontakt kommen bzw. ein Wissen über historische Ereignisse im Nationalsozialismus und Holocaust haben. Das heißt, in der Lebenswelt können diese medial vermittelt sein. Die Inhalte sind dem Bewusstsein zugänglich. Dies verhält sich in den folgenden Fällen anders.
1.2.
Sprache
Achtet man auf Sprache und Begrifflichkeiten, die in unserem Alltag präsent sind, so fundieren einige von ihnen in nationalsozialistischer Ideologie. Ein aktuelles Werk zu diesem Thema trägt den Titel »Verbrannte Wörter: Wo wir noch reden wie die Nazis – und wo nicht«. Matthias Heine hat es verfasst; er geht darin Begriffen nach und thematisiert deren Genese und Fundierung in nationalsozialistischer Ideologie. Hierzu gehören u. a. auch Abbreviaturen, die charakteristisch für eine technisierende Sprache sind. So lassen sich Abkürzungsformen zu den Schlagwörtern zählen, die in die politische Sprache der nationalsozialistischen Rhetoren Einfluss gefunden haben. Deren Herkunft und Bedeutung sind einer bewussten Auseinandersetzung oftmals unzugänglich. Das moderne Kurzwort, so lesen wir bei Viktor Klemperer, »[…] stellt sich überall dort ein, wo technisiert und wo organisiert wird. Und seinem Anspruch auf Totalität gemäß technisiert und organisiert der Nazismus eben alles.«9 Über die Philologie hinaus befassen sich weitere Disziplinen mit dem Themenkomplex Sprache und Nationalsozialismus und es sind zahlreiche Studien hierzu erschienen.10 8 Hier kann auf die Befassung der Medienwissenschaft hingewiesen werden. Siehe beispielsweise die Zeitschrift »Augen-Blick. Marburger und Mainzer Hefte zur Medienwissenschaft« und hier das Themenheft »Zur neuen Kinematographie des Holocaust«. Neben dem Film »Schindlers Liste« werden hier weitere Filme kritisch gewürdigt. Günter Giesenfeld/Thomas Koebner (Hg.), Augen-Blick. Marburger und Mainzer Hefte zur Medienwissenschaft, 36 (2004), Zur neuen Kinematographie des Holocaust, http://dx.doi.org/10.25969/mediarep/ 1665; (Stand: 12.09.19). 9 Victor Klemperer, LTI: Notizbuch eines Philologen, nach der Ausgabe letzter Hand herausgegeben und kommentiert von Elke Fröhlich, Stuttgart 2018, 109. 10 Neben Klemperer befasst sich aus philologischer Sicht auch Angelika Breil mit dem Thema. Ihre Arbeit trägt den Titel »Studien zur Rhetorik der Nationalsozialisten« (Fallstudien zu den Reden von Joseph Goebbels), https://d-nb.info/984648100/34 (Stand: 11. 09. 2019). Ein weiteres Werk stammt von Horst Dieter Schlosser, Sprache unterm Hakenkreuz. Eine andere Geschichte des Nationalsozialismus, Köln, Weimar, Wien 2013. Aus psychoanalytischer Perspektive befassen sich Jörg Drews und Werner Bohleber mit dem Thema. Ihr Buch trägt
204 1.3.
Georg Wagensommer
Familienbiografien
Darüber hinaus prägen aber auch Familienbiografien zur Zeit des Nationalsozialismus – so fragmentarisch sie auch erinnert werden mögen – Nachgeborene. Dass das kollektive Gedächtnis sich dabei sehr deutlich vom Familiengedächtnis unterscheiden kann, haben Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall in eindrücklicher Weise thematisiert.11 Diese Aspekte – und es ließen sich weitere nennen – deuten auf eine »nachträgliche Wirksamkeit«12 von Nationalsozialismus und Holocaust hin. Christian Staffa bezeichnet mit diesem Begriff intergenerative Dynamiken.
2.
Intergenerative Dynamiken
Wird der 75. Jahrestag des Kriegsendes wie an den Jahrestagen zuvor als Tag der Befreiung erinnert, so kann dies nur aus der Retrospektive so gesagt werden, es kann gleichsam nur als eine nachträgliche Einsicht gemeint sein. Es ist davon auszugehen, dass dieser Tag, der 08. Mai 1945, für viele Deutsche nicht ein Tag der Befreiung war, sondern vielmehr ein Tag der Niederlage. Hinzu kommt, dass Deutsche wenig bis nichts für diese Befreiung getan haben. Günter Grass beschreibt, wie er diesen Tag als »siebzehnjähriger Dummkopf« erlebt hat. Er habe bis zum Schluss an den »Endsieg« geglaubt: »Also schlug mir nicht die Stunde der Befreiung; vielmehr beschlich mich das dumpfe Gefühl nach totaler Niederlage ein Besiegter zu sein. Als befreit konnten sich allenfalls diejenigen sehen, die den Massenmord in den deutschen Konzentrationslagern überlebt hatten und in einem Zustand waren, der den Gebrauch von Freiheit sogleich wieder einschränkte.«13 Millionen Deutsche haben sich wahrscheinlich in einer ähnlichen Gemütsverfassung wie der jugendliche Günther Grass befunden. So ist durchaus der Feststellung Peter Steinbachs zuzustimmen, dass keine historische Zäsur die Deutschen stärker beschäftige als das Jahr 1945. Es verkörpert eine weltgeschichtliche Zäsur und einen tiefen Lebenseinschnitt.14 Dies hatte Folgen. So dokumentieren psychologische Arbeiten, dass Nationalsozialismus und Holo-
11 12 13 14
den bezeichnenden Titel »›Gift das du unbewußt eintrinkst …‹. Der Nationalsozialismus und die deutsche Sprache«, Bielefeld 1991. Vgl. Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall, »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M. 92002. Christian Staffa/Jochen Spielmann (Hg.), Nachträgliche Wirksamkeit. Vom Aufheben der Taten im Gedenken, Berlin 1998. Günther Grass, Freiheit nach Börsenmaß, in: Die Zeit 19/2005, 1–2, hier 1. Vgl. Peter Steinbach, Von der Anstrengung der Erinnerung. Denken, Gedenken, Denkmal, in: Stefan Rammer, Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus. Dokumentation und Aspekte zur Geschichte des »Dritten Reichs« in Passau (11–26), Passau 1996, hier 19.
Empirische Studien zu Nationalsozialismus und Holocaust
205
caust auf subtile Art und Weise weiterwirken.15 Darüber hinaus belegen auch Studien aus Theologie16, Religionspädagogik17 und Erziehungswissenschaft18, dass diese Vergangenheit aufgrund verschiedener Aspekte eine Dynamik entfaltet, die über die ersten Nachkriegsjahre hinaus bis in die Gegenwart hinein auf individueller, familiärer und gesellschaftlicher Ebene fortwirkt. So stehen auch gegenwärtig noch Kinder und Jugendliche in einem Verhältnis zu Nationalsozialismus und Holocaust. Befunde verschiedener empirischer Studien weisen darauf hin.
3.
Empirische Studien
Im Folgenden werden empirische Befunde, die auf Erhebungen unter Kindern und Jugendlichen basieren, vorgestellt. In einem ersten Schritt geht es um eine Studie, die der Autor in der Sekundarstufe I durchgeführt hat (3.1). In einem zweiten Schritt werden Ergebnisse aus Untersuchungen mit Grundschulkindern vorgestellt (3.2).
3.1.
Rezeption von Nationalsozialismus und Holocaust bei Jugendlichen
Ein Anliegen im Blick auf Nationalsozialismus und Holocaust als Themen des Unterrichts ist sicher die Antwort auf die Frage, wie man das Geschehen selbst zum Gegenstand pädagogischer Vermittlung machen kann, sodass sich die Wirkung des Unterrichts auch als prophylaktisch gegen Rassismus, Antisemitismus und Fanatismus erweist. Die Ergebnisse einer explorativen Studie, die ich 15 Vgl. hierzu Stefan Marks, Warum folgten sie Hitler? – Die Psychologie des Nationalsozialismus, Stuttgart 42017 oder Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München/Zürich 232012. 16 Vgl. beispielsweise Manfred Görg/Michael Langer (Hg.), Als Gott weinte. Theologie nach Ausschwitz, Regensburg 1997 und Christian Staffa, Antisemitismuskritik in Kirche und Theologie heute, in: Meron Mendel/Astrid Messerschmidt (Hg.), Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildungsarbeit in der Migrationsgsellschaft (171–185), Bonn 2018. 17 Vgl. beispielsweise Wilhelm Schwendemann/Marks, Stephan (Hg.), Aus der Geschichte lernen? Nationalsozialismus und Antisemitismus als Unterrichtsthema, Münster/Hamburg/ London 2003. Zur generativen Tradierung vgl. auch Georg Wagensommer, How to teach the Holocaust: Didaktische Leitlinien und empirische Forschung zur Religionspädagogik nach Auschwitz (Übergänge. Studien zur Ev. und Kath. Theologie/Religionspädagogik, Band 12), Frankfurt a.M. 2009, 186–240. 18 Vgl. beispielsweise Konrad Brendler, Identitätsformen von Jugendlichen im Schatten der Schoah. Zur Wirkung der Schoah und den Chancen der Erinnerungsarbeit, in: Ottmar Fuchs/ Reinhold Boschki/Britta Frede-Wenger (Hg.), Zugänge zur Erinnerung. Bedingungen anamnetischer Erfahrung (31–56), Münster/ Hamburg/London 2001.
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unter Schüler*innen der Sekundarstufe I durchgeführt habe, sind eher ernüchternd. Sie basieren auf Interviews und Gruppendiskussionen mit Jugendlichen aus zehnten Klassen, die vor der Mittleren Reife stehen. In ihrer Schulzeit wurden die Themen Nationalsozialismus und Judentum in den Fächern Geschichte, Deutsch und Religionslehre unterrichtet.19 Im Folgenden werden die Auswertungsergebnisse zu den Schülerkognitionen zu Judentum (3.1.1) und Juden (3.1.2) vorgestellt.
3.1.1. Judentum Mit diesem Begriff verbinden die Jugendlichen zunächst eine Religion, Aspekte religiöser Handlungspraxen und jüdische Feste. Dabei überwiegen zwar Gegenwartsbezüge, dennoch scheint das Judentum nicht zur Lebenswelt der Jugendlichen zu gehören. Begegnen sie ihm, geschieht dies über Medien, genauer: über das Fernsehen. Dabei stellen sie aktuelle, gegenwartsbezogene Bezüge zu Israel her. Allerdings sind diese auf den Nahostkonflikt bezogen. Thematisiert werden »Streit um das Heilige Land« und »Palästinenserkrieg«, wie es ein Schüler formuliert. Bei den Jugendlichen sind neben begrifflichen Unschärfen (Juden/ Judentum und Israeliten/Israel) die Assoziationen Krieg und Gewalt wahrnehmbar. Mehrfach ist von einem »Krieg der Juden gegen die Palästinenser« die Rede. Im Zuge der Thematisierung des Nahostkonflikts kommt es aber an keiner Stelle zu Israelkritik, in deren Folge sich israelbezogener Antisemitismus einstellt, wie vielfach belegt wurde.20 In einer Diskussionsgruppe kommt es im Blick auf die Frage der Zugehörigkeit zum Judentum zu einem interaktiven Aushandlungsprozess, im Laufe dessen die Jugendlichen eine gemeinsame Stellungnahme erarbeiten. Diese lautet: »früher« (unbestimmter Vergangenheitsbezug) hätte man jüdische Eltern haben müssen, um Jude zu sein. »Jetzt« (unbestimmter Gegenwartsbezug) könne man ins Judentum eintreten. Desweiteren erinnern die Jugendlichen religions- und theologiegeschichtliche Gesichtspunkte und charakterisieren das Judentum als »die älteste Religion« und in einem gewissen Sinne als eine »Basis des Christentums«, wie es eine Schülerin 19 Zu Anlage, Aufbau und Design der Studie vgl. Wagensommer, Holocaust, 243–288, 365. Zu den Auswertungsergebnissen vgl. ebd., 384–386 und Georg Wagensommer, »Juden kenne ich nur aus dem Fernsehen…« Judentum/Christentum, Nationalsozialismus und Holocaust aus Schülerperspektive. Ein Beitrag empirischer Religionspädagogik, in: Religionspädagogische Hefte. Ausgabe B: Berufsbildende Schulen 2/2009, 10–25. 20 Vgl. Klaus Holz, Die Gegenwart des Antisemitismus, Hamburg 2005 und Monika SchwarzFriesel: Aktueller Antisemitismus. Konzeptuelle und verbale Charakteristika, 2015, http:// www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/211516/aktueller-antisemitismus (Stand: 12. 09. 2019).
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ausdrückt, ohne dies auszuführen. Darüber hinaus verweisen die Befragten auf das Trennende zwischen den Religionen und es kommt zur Bildung des Gegensatzpaares »wir (Christen)/das Christentum versus die Juden/das Judentum«. Die Jugendlichen charakterisieren diesen Gegensatz durch Hinweise auf einen »anderen Glauben«, »anderen Gott« und auf »andere Feste«. Das heißt, es wird ein ungleicher Grad in Bezug auf die genannten Aspekte hervorgehoben, ohne dass dieser entfaltet und verdeutlicht wird. Judentum und Juden unterliegen dabei (mehrheitlich) unterscheidbaren Thematisierungsregeln. 3.1.2. Juden Dass Juden Träger einer Religion sind, tritt in den Daten der Untersuchung erkennbar in den Hintergrund. Die Mehrheit der Textpassagen, in welchen sich Aussagen zu Juden finden, lassen sich unter die Kategorie »Verfolgungen – im Nationalsozialismus und durch Hitler« fassen. In der Aussage eines Jungen dokumentiert sich dieser Umstand sehr deutlich. Er sagt: »das Dritte Reich die Verfolgung (…) also daran denk ich als Erstes, wenn ich an Juden denke.« Diese Assoziationsketten sind die wesentlichen und die Datenauswertung ergibt folgende, zentrale Motive: Bildung von Gegensatzpaaren, Juden in der Opferperspektive, Anonymisierungen, Hitlerismus und nationalsozialistische Terminologie und Ideologiefragmente. Motive »Gegensatzpaare und Opferperspektive« Interessant ist bei der Bildung dieser Paare, dass diese einen ungleichen Grad hervorheben, der zugleich eine negative Symbiose anzeigt. Am stärksten ausgeprägt ist dieser bei dem Gegensatzpaar »Juden versus Hitler«. Hitler, so scheint es, gilt als omnipotenter Herrscher und als solcher machte er auch die Bevölkerung gefügig und instrumentalisierte diese gegen Juden. Der Holocaust scheint durch Hitler persönlich und ausschließlich befohlen und durchgeführt (»er verfolgte/ er vergaste/ er verbrennt Juden«). Als Grund für den Massenmord nennen die Jugendlichen eine persönliche Abneigung Hitlers gegen Juden. Exemplarisch kann hier die Aussage einer Schülerin gelten. Unter Verwendung nationalsozialistischer Terminologie sagt sie: »der Hitler hat die Juden als so Parasiten empfunden«. Weitere Gegensatzpaare sind »Juden versus Nationalsozialisten«, »Juden versus Christen« und »Hitler versus deutsche Bevölkerung«: Mittels Propaganda habe Hitler diese für seine Überzeugungen und »Visionen«, so eine Schülerin, zu gewinnen vermocht. Somit tritt neben das Motiv des Verfolgers jenes des Verführers. Schließlich ist das Gegensatzpaar »gute Rasse versus schlechte Rasse« zu nennen, das als Element nationalsozialistischer Weltanschauung erinnert wird. Juden seien als Teil der »schlechten Rasse« wahrgenommen worden, was in der
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Folge dazu geführt habe, sie »auszulöschen«. Dadurch reinszeniert die Schülerin nationalsozialistische Ideologiefragmente und Sprache. Darüber hinaus ist allen Gegensatzpaaren der Blick auf Juden in der Opferperspektive gemein. Der Fokus liegt stets auf der Zeit des Nationalsozialismus. Schließlich scheinen Judentum und Juden gleichermaßen in einem kausalen Nexus mit Ausgrenzung und Verfolgung zu stehen: Sie gelten als deren überzeitliche Charakteristika.
Motiv »Anonymisierungen« Des Weiteren fallen Anonymisierungen auf: In der Mehrheit nehmen die Jugendlichen Bezug auf Juden beispielsweise durch Pronomina (sie, diese, mehrere) und Artikel (die, der). So erschließt sich zwar aus dem Zusammenhang, dass Juden »das Thema« sind, explizit jedoch wird die Bezeichnung »Juden« nur selten verwendet. Dies kann sprachökonomisch bedingt sein – in der Häufigkeit der Auslassungen in den Daten drängt sich jedoch auch der Gedanke an ein sprachliches Vermeidungsverhalten auf, das einer Anonymisierung gleichkommt. Anonymisierungen reichen jedoch bis in die Zeit des Nationalsozialismus zurück: Menschen wurden mit Zahlen gekennzeichnet und dadurch entindividualisiert. »Einen Menschen zu einer Zahl oder einem Objekt zu machen ist ein Akt der Verachtung; die Eintätowierung von Häftlingsnummern ist ein Beispiel dafür.«21 Neben Opfern werden auch Täter und Unterstützer der Verfolgungs-, Ausgrenzungs- und Vernichtungsvorgänge anonymisiert. Diese tauchen als »die Nazis«, »so Leute« oder schlicht »die« auf. Der Anonymisierung der Täter korrespondiert dabei in einigen Fällen die Anonymisierung der Taten. Das heißt, durch euphemistische Umschreibungen bleiben sowohl der Holocaust als auch die daran Beteiligten unbenannt und so fehlen konkrete Hinweise, das Umschriebene einzuordnen. Am deutlichsten tritt dieser Aspekt in den Stichworten »Verfolgung« und »Verbrennung« hervor, welche in Bezug auf Juden (»die«) genannt werden. Hier wird die Vorgangs- und Handlungsbezeichnung der Verben umgeformt und so ergibt sich ein semantisches Muster aus dem Bereich der Abstrakta. Als Nomen actionis (Tätigkeitsnomen und Verbalabstraktum) bezeichnen »Verfolgung« und »Verbrennung« einerseits zwar ein Geschehen, andererseits werden die an dieser Handlung aktiv Beteiligten anonymisiert. So antwortet eine Schülerin auf die Frage: »Was fällt dir noch so ein, wenn du an Judentum denkst, wenn du an Juden denkst«: »…ähm Verfolgung KZ′s Vertr- ähm die wurden also die Leute dies dann dies sich schon geahnt haben, dass der das ganzen Ju- das ganze Judentum ausrotten will die sind halt in andere Länder geflohn; und dann hat sich das Judentum halt überall verteilt…«. 21 Marks, Warum, 110.
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In den Daten überwiegen Anonymisierungen und Depersonalisierungen und es fallen die fehlenden chronologischen, sozialräumlichen, geografischen und politischen Bezüge auf. Der Holocaust und den Vernichtungsantisemitismus der Nationalsozialisten, der von Deutschland ausgehende Zweite Weltkrieg und die Begeisterung weiter Teile der deutschen Bevölkerung für die nationalsozialistische Ideologie werden von den Jugendlichen euphemistisch umschrieben. Auch wird einer Verantwortungsübernahme der nichtjüdischen deutschen Zeitzeugen insofern entgegengearbeitet, als »die Bevölkerung damals« (ungefragt) entlastet wird: in einem gewissen Sinne habe Hitler diese verführt, so ein Schüler. Motiv »Hitlerismus« Dieses Phänomen ist in der Forschung seit Jahrzehnten nachgewiesen. In den Daten der Studie dokumentiert es sich in der Reduktion des Nationalsozialismus auf die Person Adolf Hitlers und darin, dass dieser eine omnipotente Stellung erhält. Die Schüler*innen beschreiben Hitler als Mann mit Überzeugungen, Visionen und Verführungskünsten – Deutsche (, die nicht explizit genannt werden,) sind dann unschuldig Verführte. Die Mythologisierung und Idealisierung Adolf Hitlers entspricht nationalsozialistischer Weltsicht und es kann gefragt werden, inwiefern sich hier ein Teil dieser Ideologie reinszeniert. All jene, die Hitler verehrt und sich den Nationalsozialismus zu eigen gemacht haben, kommen nicht in den Blick. Hierzu gehören auch Menschen, mit denen wir durch unsere Familienbiografie verbunden sind – Urgroßeltern oder Großeltern. Motive »nationalsozialistische Terminologie und Ideologiefragmente« Die Jugendlichen reden wie selbstverständlich vom »Dritten Reich«, verweisen auf »Judenstern«, »Ariertum« und »Kristallnacht«; sie benutzen Abkürzungen wie »SS«, »SA«, »KZ«. Eine Interviewte sagt, dass Hitler die »reinen Deutschen« gewollt habe und verwendet immer wieder den Begriff »total«. Mit dieser unkritischen Übernahme nationalsozialistischer Begrifflichkeiten reinszenieren die Befragten aber ebensolche Ideologiefragmente. Im Blick auf Abbreviaturen (s. o.) spricht Viktor Klemperer von einem »Gefühlswert der Sonderbezeichnung«, der darin liege, durch ein Sonderwissen aus der Masse herauszuragen. Ähnlich verhält es sich mit Superlativen wie beispielsweise »total« und »unvorstellbar«. Übersteigerte Zahlworte sind wesentliche Elemente nationalsozialistischer Sprache und transportierten Totalitätsansprüche. Es sind Grenzüberschreitungen durch Steigerungen ins Maßlose – eine quasi religiöse Entgrenzung der Dauer.22 Diese Befunde basieren auf den Auswertungen von Daten, die mit Hilfe von Methoden qualitativer Forschung unter Jugendlichen, die die Realschule be22 Vgl. Klemperer, LTI, 245.
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suchten, erhoben wurden. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung waren sie zwischen 15 und 17 Jahre alt. Mittlerweile gibt es auch einige empirische Untersuchungen zum Kontext Holocaust Education in der Grundschule.23 Im Folgenden werden Ergebnisse von drei Studien vorgestellt, deren Daten auf quantitativen (Studie eins und zwei) und qualitativen Erhebungsmethoden (Studie drei) beruhen.
3.2.
Rezeption von Nationalsozialismus und Holocaust bei Kindern
3.2.1. Maya Götz: Was Kinder vom Zweiten Weltkrieg wissen Das Internationale Zentralinstitut für Jugend- und Bildungsfernsehen, kurz: IZI, führt unter anderem empirische Forschungsarbeiten durch. Hierzu gehört eine Studie aus dem Jahr 2018, die das Institut unter 840 Kindern im Alter zwischen sechs und 13 Jahren zu »[…] ihrem Wissen rund um das Thema Zweiter Weltkrieg und Verfolgung während der NS-Zeit«24 durchgeführt hat. Die Auswertung der Studie ergibt, dass ca. jedes zweite Grundschulkind Kenntnis davon hat, dass Deutschland in zwei große Weltkriege involviert gewesen ist: Bei den sechs- bis siebenjährigen Kindern (Klasse 1/2) wissen dies 40 Prozent, bei den Acht- bis Neunjährigen (Klasse 3/4) wissen dies 64 Prozent, bei den Zehn- bis Elfjährigen (Klasse 5/6) wissen dies 84 Prozent und bei den 12 bis 13-Jährigen (Klasse 7/8) steige dieser Prozentsatz gar auf 95 Prozent an. Dass Deutschland den Zweiten Weltkrieg verloren hat, ist 28 Prozent der sechs- bis siebenjährigen Kinder bekannt; dieser Anteil steigt bei den Acht- bis Neunjährigen auf 49 Prozent an. Zu Beginn der Sekundarstufe I, im Alter zwischen zehn und elf Jahren, wissen bereits 73 Prozent davon und bei den 12 bis 13Jährigen haben bereits 87 Prozent Kenntnis davon. Das heißt: Ein Viertel der Grundschulkinder, die wüssten, dass Deutschland in zwei Weltkriege involviert gewesen sei, wisse nicht, wie der Krieg geendet habe, so Maya Götz. Sie schließt daraus, dass dies darauf hindeute, dass die Kinder zwar »[…] innere Bilder vom Krieg und das »Gefühl von Wissen« haben, ihnen aber schon die minimale Kontextualisierung, z. B. dass Deutschland im Krieg besiegt wurde, fehlt.«25 Die Frage nach der zeitlichen Einordnung des Kriegsendes gelinge den Schüler*in-
23 Vgl. hierzu auch Andrea Becher, Erinnerungskultur gestalten. Zugänge zu Holocaust und Nationalsozialismus im (Sach)Unterricht, in: Grundschulunterricht/Sachunterricht 3/2015, 13–17. 24 Maya Götz, Was Kinder vom Zweiten Weltkrieg wissen. In. Televizion, 31 (2018), 47–49, hier 47. 25 Ebd., 47–48.
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nen mehrheitlich erst ab Klasse 7: Hier geben 75 Prozent an, dass dies vor 70 Jahren gewesen sei. Ein Großteil der Kinder kennt den Namen Adolf Hitler: 52 Prozent der Sechsbis Siebenjährigen, 64 Prozent der Acht- bis Neunjährigen, 82 Prozent der Zehnbis Elfjährigen und 96 Prozent der 12 bis 13-Jährigen ist der Name bekannt und er sei potenziell negativ konnotiert, so die Forscherin weiter. Auf die Frage nach Opfergruppen zur Zeit des Nationalsozialismus hätten ein Viertel der sechs- bis siebenjährigen Kinder »Juden« genannt. Im Altersverlauf sei der prozentuale Anteil dieser Antwort auf bis zu 94 Prozent bei den 12- bis 13-Jährigen angestiegen. Indes sei es der Mehrzahl der Kinder nicht möglich, den Begriff »Jude« zu erklären. Auch wüssten erst die 12 bis 13-Jährigen, dass die Gruppe der Juden und Jüdinnen umfänglich verfolgt wurde: 58 Prozent stimmten dieser Aussage zu. Insgesamt, so Götz, sei ein oberflächliches Begriffswissen abrufbar. Begriffe würden in bestimmten Kontexten erkannt, ohne dass diese als fundiertes Wissen oder auch nur als Wissensinseln bezeichnet werden könnten.26
3.2.2. Christina Koch: Wissen von Kindern über den Nationalsozialismus Eine weitere, auf quantitativen Daten basierende Studie legt Christina Koch 2017 vor. Sie fragt nach dem »Wissen von Kindern über den Nationalsozialismus«.27 An der Untersuchung nahmen insgesamt 757 Kinder des vierten Schuljahres aus Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen und auch Lehrkräfte und Eltern teil. Wissensbestände Die Datenauswertung zeigt, dass neun von zehn Kindern die Themen Nationalsozialismus und Holocaust bekannt waren, obwohl diese nur bei der Hälfte der Befragten (56,8 Prozent) unterrichtet worden seien: Zum Ende des vierten Schuljahres bejahten 90,4 Prozent der Kinder, dass sie »schon einmal etwas über 26 Ebd., 49. 27 So der Titel der Arbeit. Koch formuliert drei Forschungsfragen: »Über welches Wissen zu Nationalsozialismus und Judenverfolgung verfügen Kinder«, »Welchen Einfluss haben familiäre Bedingungen auf den Wissensstand der Kinder?« und »Inwieweit verändert sich das Wissen der Kinder über Nationalsozialismus und Jugendverfolgung?« Christina Koch, Wissen von Kindern über den Nationalsozialismus: Eine quantitativ-empirische Studie im vierten Grundschuljahr, Wiesbaden 2017, 107–108. Unter ihrem Geburtsnamen – Klätte – hat Koch bereits Studien zum Thema veröffentlich, siehe Christina Klätte, Frühes historisches Lernen über Nationalsozialismus und Judenverfolgung. Familiäre Bedingungen, Interessen und Wissenserwerb bei Viertklässlern. In: Isabel Enzenbach/Detlef Pech/Christina Klätte (Hg.), Kinder und Zeitgeschichte. Jüdische Geschichte und Gegenwart, Nationalsozialismus und Antisemitismus (85–99), Berlin 2012, http://www.widerstreit-sachunterricht.de/beihef te/beiheft8/beiheft8.pdf (Stand: 12. 09. 2019).
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Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg oder Adolf Hitler gehört und/ oder gesehen haben.«28 71,1 Prozent nannten das Fernsehen als eine Informationsquelle, Familiengespräche nannten 60,3 Prozent der Kinder und 58,7 Prozent hatten ihre Kenntnisse aus Zeitungen oder Büchern. Der Unterricht rangierte danach auf dem vierten Rang. Die Studie fragte neben den Quellen des Wissenserwerbs auch nach dem Interesse der Kinder am Themenkomplex. Über die Möglichkeit des Ratings vorgegebener Items hinaus bot die Studie hier auch die Möglichkeit offener Antworten. Die Frage, welches Interesse sie haben, sich mit den Themen zu befassen, habe viele Kinder automatisch zu einem »Denken an Hitler« geführt, so Koch. So gebe es eine Reihe an Aussagen, die auf eine an Hitler fokussierte Perspektive hinweisen, was darüber hinaus auch beim Thema Konzentrationslager der Fall sei.29 (Auch hier waren offene Antworten möglich.) Im Blick auf die Wissensbestände zeigen die Daten, dass es acht von zehn Kindern möglich ist, Adolf Hitler und das Hakenkreuz richtig zuzuordnen. Auch wüssten 63,4 Prozent der Kinder, dass Deutschland einen Krieg begonnen habe. Dessen Ausgang sei nur 43,3 Prozent der Befragten bekannt. Den Begriff »Diktator« hätten 34,1 Prozent zuordnen können, was Koch als »Spezialwissen« wertet.30 Unter diese Kategorie zählt Koch auch Antworten auf die Fragen zur Ausgrenzung und Verfolgung von Juden: Den Davidstern hätten 55 Prozent der Kinder erkannt und Fragen nach Reichspogromnacht, Ghettos und Ausschwitz hätten weniger als 25 Prozent der Kinder richtig beantwortet.31 Im Blick auf den Fragekomplex »Konzentrationslager« waren auch offene Antworten möglich, das heißt, die Kinder konnten ihr Wissen und ihr subjektives Relevanzsystem darlegen. Für Koch dokumentieren diese Daten ein hohes Maß an Komplexität. Zunächst geht aus diesen hervor, dass 57,4 Prozent der Kinder die Frage »Weißt du schon, was ein ›Konzentrationslager‹ ist und was dort passiert ist?« nicht beantworten konnten. 37,4 Prozent hingegen konnten zutreffende Antworten gegeben. In dieser Gruppe seien Gefängnis, Lager, grausame Behandlungen und tödliche Lebensbedingungen genannt worden. Manche Kinder, so Koch weiter, hätten sogar über Experimente und Folter geschrieben, und die Mehrzahl der Kinder dieser Gruppe, 236 Kinder, wüssten »[…] von der planmäßigen Tötung, nennen Begriffe wie Gas, Gasduschen, Vergasen, Gaskammer und Blausäure.«32 Die meisten Kinder assoziierten Konzentrationslager mit Juden und deren Inhaftierung begründeten sie mit einem Anderssein oder
28 29 30 31 32
Koch, Grundschuljahr, 179. Vgl. ebd., 187–189. Vgl. ebd., 193–195. Vgl. ebd., 266. Vgl. ebd., 209.
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Nicht-Deutschsein. Damit einher ging eine auf Hitler zentrierte Sicht, die ihn als alleinigen Täter in den Blick genommen habe.33 Neben dieser verengten Perspektive haben dennoch mehr als ein Drittel der Kinder zutreffend geantwortet. Hier kommt Koch unter Einbezug der biographischen Daten zu dem Schluss, dass es »vor allem Kinder mit Unterrichtserfahrungen, aus bildungsnahen Familien und mit zwei herkunftsdeutschen Eltern«34 sind, die diese Wissensbestände haben. Wissensdeterminanten Das Kinderantwortverhalten im Blick auf die Frage nach den Konzentrationslagern veranschaulicht zugleich das Problem der Diversität der Wissensdeterminanten: Folgt man Koch, so stehen familiärer Hintergrund, Unterricht, Geschlecht, Interesse und Medienerfahrungen in komplexen und komplementären Verhältnissen zueinander. Die Bedeutsamkeit familiärer Kommunikation hebt die Studie dabei ebenso hervor, wie sich auf die kindliche Motivation beziehende begünstigende Faktoren. Hierzu zählt Koch beispielsweise Interesse und Wertschätzung der Eltern für die Auseinandersetzung der Kinder mit historischen und politischen Phänomenen im Besonderen und elterliche Vorbildfunktion im Allgemeinen.35 Desweiteren hebt sie Medien – und hier insbesondere das Fernsehen – als Informationsquelle hervor. Filme wie »Der Untergang« würden bereits von Kindern gesehen und beeinflussten ihre zeitgeschichtlichen Erkenntnisse.36 Im Blick auf die Frage nach der Bedeutung des Zuwanderungshintergrundes weist Koch darauf hin, dass ihre Daten bei drei Kindergruppen Wissensstände aufwiesen, die unter dem Gesamtmittelwert auflägen: Es handelt sich hier um Kinder mit ausschließlich nichtdeutscher Muttersprache, Kinder mit türkischer Muttersprache und Kinder, deren Elternteile beide im Ausland geboren worden seien.37 Als Determinante für Wissen hebt sie den Unterricht hervor, wobei in Berlin und Brandenburg das Thema Nationalsozialismus im Curriculum fehlt. In Nordrhein-Westfalen findet sich im Lehrplan evangelische Religionslehre in Klasse 3/4 unter dem Thema »Ruf zum Frieden und zur Gerechtigkeit« der Hinweis »Erinnern lernen am Beispiel der Shoah«. Dennoch hat die von Koch in der Studie integrierte Lehrkräftebefragung ergeben, dass nur in »30 von 67 Grundschulklassen im dritten oder vierten Schuljahr eine Thematisierung von 33 34 35 36 37
Vgl. ebd., 210–212. Ebd., 266. Vgl. ebd., 269–270. Vgl. ebd., 289. Vgl. Klätte, Frühes, 90, 94.
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Aspekten der NS-Zeit«38 stattgefunden habe. Diese reicht von einstündigen Unterrichtsgesprächen bis hin zu Projektwochen. Die Lehrkräfte orientierten sich im Blick auf die Themen an Rahmenlehrplänen (NRW), Unterrichtswerken und an Kolleg*innen, die Nationalsozialismus und Holocaust unterrichtet haben. Desweiteren betont die Studie den Aspekt der lehrerseitigen Voraussetzungen: Hierzu zählen neben fachwissenschaftlichen Kenntnissen vor allem individuelle und motivationale Gründe der betreffenden Lehrkraft. Folgt man Koch, dann stehen diese Aspekte unter anderem auch mit der Auswahl von Bildungsinhalten in Zusammenhang.39 Fazit Als Fazit der Studie formuliert Koch, dass Kinder in Erinnerungsdiskurse verstrickt und unabhängig von Unterrichtserfahrungen Wissensbestände vorhanden seien: Familie und Medien werden als wichtige Faktoren identifiziert. In den Daten dokumentieren sich »verharmlosende Vorstellungen, wie die Entlastung der Mehrheitsbevölkerung der Deutschen, und der sogenannte Hitlerismus. […] Zusammen deuten die Ergebnisse auf die frühe Prägung von Geschichtsbildern hin, die sicher noch vor dem vierten Grundschuljahr einsetzt.«40 3.2.3. Andrea Becher: Die Zeit des Holocaust in Vorstellungen von Grundschulkindern Diese Studie basiert auf Methoden qualitativer Forschung. Auf der Ebene des Paradigmas und der Methodologie gleicht sie damit der Studie, deren Sample sich aus Schüler*innen der Sekundarstufe I zusammensetzt (s. o.). Geht jene auf Basis von Problemzentrierten Interviews und dem Gruppendiskussionsverfahren im Zuge der dokumentarischen Methode ihrem Erkenntnis leitenden Interesse nach, forscht Becher auf Basis halbstandardisiert-fokussierter Einzelund Gruppeninterviews.41 »Orientiert am Forschungsparadigma Didaktischer Rekonstruktion rekonstruiere ich Vorstellungen von Grundschulkindern über die Zeit des Nationalsozialismus und über den Holocaust«42, so Becher. 38 39 40 41
Koch, Grundschuljahr, 183. Vgl. ebd., 281. Ebd., 307. Zum erkenntnisleitenden Interesse der Forscherin und Untersuchungsdesign der Studie siehe Andrea Becher, Die Zeit des Holocaust in Vorstellungen von Grundschulkindern: Eine empirische Untersuchung im Kontext von Holocaust Education (Beiträge zur didaktischen Rekonstruktion, Bd. 25), Oldenburg 2009, 18–28, 83–139. 42 Becher, Die Zeit des Holocaust in Vorstellungen von Grundschulkindern. Perspektiven von Kindern und die Thematisierung von Holocaust und Nationalsozialismus im (Sach)Unterricht der Grundschule, in: Isabel Enzenbach/Detlef Pech/Christina Klätte (Hg.), Kinder und Zeitgeschichte. Jüdische Geschichte und Gegenwart, Nationalsozialismus und Antisemitis-
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Die Autorin konnte insgesamt sieben übergreifende kindliche Vorstellungsmuster zu Nationalsozialismus und Holocaust identifizieren. Im Folgenden werden die vier – laut Becher – »für eine fachwissenschaftliche Deutung sowie im Hinblick auf didaktisch-methodische Strukturierungshinweise wichtigsten vier Vorstellungsmuster« beschrieben. Diese beziehen sich auf Hitler, das Familiengedächtnis, Judentum und auf Strukturen und Mechanismen des Holocaust.43 Adolf Hitler Hitler gilt Kindern als Schlüsselfigur. Er hatte die Macht, die deutsche Bevölkerung, ihr Denken und Handeln zu beeinflussen. Diese vermochte sich ihrerseits diesem Einfluss nicht zu entziehen, wenngleich sie mehrheitlich gegen ihn war und auch Attentatsversuche unternommen habe. Letztlich, so ergeben es die Analysen Bechers, sind die Kinder der Meinung, dass eine Verweigerung unmöglich schien und er die Bevölkerung verführt habe. Becher erkennt in den Aussagen der Kinder auch eine Entlastungsfunktion.44 Diese ist eventuell auch aufgrund dessen wichtig, da die Kinder um die (Welt)Herrschaftsbestrebungen wissen und es als übergeordnetes Ziel Hitlers benennen, alle Juden zu verfolgen und zu ermorden, mehr noch: Er gilt ihnen als der alleinige Initiator, Verfolger und Mörder. Als Hauptmotiv nennen die Kinder eine religiös geprägte Antipathie. Hitler scheint alleinverantwortlich und mit seiner Selbsttötung endet für die Kinder auch der Zweite Weltkrieg. Das heißt, dieser ist mit der Person Hitlers eng verbunden.45 Familiengedächtnis Die Familie ist für viele Kinder Quelle für Informationen, sie ist Teilbereich des kommunikativen Gedächtnisses, wie es Becher in Anlehnung an die unter dem Titel veröffentlichte Studie »Opa war kein Nazi« von Harald Welzer u. a.46 formuliert. Erinnert werden Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg sowie fehlende Handlungsoptionen der deutschen Bevölkerung und der eigenen Familie. Folgt man Becher, so nennen die Kinder vor allem die eigene Familie als Wissensquelle. Mediale Konfrontationen oder Erwachsenengespräche seien Anlässe für diese Gespräche. Den Kindern sei dabei bewusst gewesen, dass die befragten Familienangehörigen Zeitzeugen seien. »Der Schwerpunkt der so reproduzierten Familiengeschichten liegt auf den Gefahren des Krieges«47, so Be-
43 44 45 46 47
mus (101–120), Berlin 2012, 101, http://www.widerstreit-sachunterricht.de/beihefte/beiheft8/ beiheft8.pdf (Stand:12. 09. 2019). Zu den Ergebnissen im Gesamten vgl. Becher, Zeit, 140–215. Vgl. Becher, Zeit, 142–148 und Becher, Grundschulkindern, 102. Vgl. Becher, Zeit, 142–149 und Becher, Grundschulkindern, 103. Vgl. Welzer/Moller/Tschuggnall, Opa. Becher, Grundschulkindern, 103.
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cher weiter. Aufgrund des Erzählten wird eine stete, potenzielle Gefährdung aller damals lebenden Menschen abgeleitet. Diese – und hierzu zählen auch die eigenen Angehörigen – werden zu Opfern des Krieges: allgegenwärtige Lebensgefahr und ein Leben in Bunkern werden erinnert. Dabei hätten die Kinder betont, dass ihre Angehörigen zur Zeit des Kriegs noch Kinder gewesen seien, wie sie es heute seien. Becher sieht hierin den Grund, dass in den Erzählungen auch die Notlagen von Kindern nachgezeichnet würden: Kindersoldaten, schlechte Versorgung und Tod der Urgroßväter, die Soldaten gewesen seien, seien die damit verbundenen Themen. In den Texten dokumentiert sich für Becher weder Faszination noch Heroisches. Wahrnehmbar seien vielmehr »Facetten des ›Mythos vom einfachen Soldaten‹«48, der selbst Opfer geworden sei. Die Beteiligung an Kriegsverbrechen bzw. die Möglichkeit, dass Verwandte Täter gewesen sein könnten, ist den Kindern nicht bewusst. Mögliche Taten würden als Selbstverteidigung in kriegerischer Situation qualifiziert. Vom nationalsozialistischen Grauen, so Becher im Anschluss an Welzer, falle kein Schatten auf die eigene Familie. »Dieses Phänomen wird auch in Darstellungen zu nahezu widerständischen Akten von Angehörigen deutlich, bspw. angeblich persönlichen Begegnungen zwischen Hitler und Urgroßvätern, bei denen Möglichkeiten zu Protesten oder gar Attentaten bestanden hätten.«49 Judentum Nach Becher haben sich die Kinder auch mit der Frage befasst, wer Jüdinnen und Juden sind. Ihre Antwort sei, dass diese einer bestimmten Religionsgemeinschaft angehörten und einen bestimmten Glauben hätten. Dieser würde in Abgrenzung zum eigenen wahrgenommen und als »andere Religion eingestuft.«50 Juden und Christen, das geht aus Bechers Studie hervor, werden von den Kindern als verschieden, als »anders« qualifiziert. Die antijüdischen Repressalien zur Zeit des »Dritten Reiches« setzten sie mit ihren Vorstellungen über den jüdischen Glauben in Verbindung und vor diesem Hintergrund suchten sie eine eventuelle Begründung für das Massenmorden. Hierzu gehört auch die Überlegung eines religiösen Antijudaismus Hitlers, den sie als ursächlich für dessen Hass vermuten. Zugleich seien die Kinder davon ausgegangen, dass Jüdinnen und Juden von der ihnen entgegengebrachten Antipathie, dem ihnen zugedachten Status des Andersseins und den damit verbundenen Gefahren gewusst hätten. Ein weiteres, interessantes Ergebnis der Studie ist die Gegenüberstellung von Deutschen und Juden, das heißt: Vorherrschend ist die Vorstellung von Deutschen als Nicht-Juden, bzw. dass Juden eine andere Nationalität hätten. So sind in 48 Ebd., 103. 49 Ebd., 103. 50 Ebd., 104.
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den kindlichen Vorstellungen Juden und (deutsche) Nationalsozialisten Gegenpole. Die Nationalsozialisten hätten dabei die stark ausgeprägte, böswillige antijüdische Feindschaft Hitlers übernommen und Juden verfolgt.51 Strukturen und Mechanismen des Holocaust Unter der Überschrift »eingesammelt, ausgehungert, erschossen, verbrannt«52 geht Becher in ihrer Arbeit auf Strukturen und Mechanismen des Holocaust ein. Für sie ist es interessant, dass die Kinder versucht hätten, sich in Jüdinnen und Juden versucht hinein zu fühlen. In diesem Zusammenhang hätten die Interviewten Diskriminierungs-, Ausgrenzungs- und Angsterfahrungen von Personen, deren Schicksale sie durch Lektüren kannten (Anne Frank und »Damals war es Friedrich«), genannt. Darüber hinaus hätten die Kinder verschiedene Facetten von Verfolgung und Ermordung genannt und bauliche und funktionale Aspekte von Konzentrationslagern geschildert. Der Tod, so sind sie sich sicher, war immer Ergebnis der Verfolgung und Inhaftierung. »Die Kenntnis über Tötungsarten in den Lagern reicht von Hunger, Tod durch Arbeit bis hin zur gezielten Ermordung in Gaskammern.«53 Diese seien als »Bad« getarnt gewesen. Auch ist Kindern bekannt, dass das Hab und Gut von Jüdinnen und Juden weiterverwendet und verkauft worden sei. Als alleinverantwortlich für die Akte der Verfolgung, Täuschung und das Töten gilt den Kindern Adolf Hitler. Er habe aber auch andere gefügig gemacht, ihm hierbei zu helfen – beispielsweise durch Todesandrohung. Ohne eine Chance, sich dem zu entziehen, seien Nationalsozialisten zu seinen Helfern und die Zivilbevölkerung zu Unterstützern geworden.54
4.
Zusammenfassung
Zunächst weisen die zitierten Studienergebnisse darauf hin, dass die Zeit des Nationalsozialismus und der Holocaust von den Kindern und Jugendlichen auch als Ereignisse wahrgenommen werden, zu denen sie in einer Verbindung stehen. Das heißt, einerseits wissen bereits Kinder im dritten und vierten Grundschuljahr etwas über die nationalsozialistische Vergangenheit und andererseits sind auch sie in den Erinnerungsdiskurs involviert.55 Das lässt an Marina Chernivsky
51 52 53 54 55
Vgl. Becher, Zeit, 175–179. Becher, Zeit, 180. Becher, Grundschulkindern, 105. Vgl. Becher, Zeit, 180–188 und Becher, Grundschulkindern, 104–105. Andrea Flügel hat in ihrer empirischen Studie dieses Involviert-Sein eindrücklich herausgearbeitet. Andrea Flügel, »Kinder können das auch schon mal wissen…« Nationalsozialis-
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denken, die aus psychologischer Perspektive darauf hinweist, dass »[u]nsere Biografie […] eine doppelte Abbildung innerer und äußerer Realität [ist]. Sie entsteht nicht nur durch selbst gemachte Erfahrungen, sondern auch durch eine ›Verkettung‹ mit vorangegangenen Generationen, Familiengeschichten, nationalen und sozialen Identitäten, gesellschaftlichen Erinnerungen, religiösen und kulturellen Traditionen.«56 Aufgrund sozialpsychologischer Dynamiken, wie sie beispielsweise in einer Schuldabwehr jener zu sehen ist, die Unterstützter, Mittäter oder schlicht Zuschauer waren, sei der Krieg ohne Verfolgung und Vernichtung zur Chiffre nationalsozialistischer Vergangenheit und eigenes Leid zur kollektiven Deckerinnerung ganzer Generationen geworden, so Chernivsky weiter.57 Forschungen zum Thema belegen dabei, dass Angehörige der ersten und zweiten Generation durch eine Schweigegemeinschaft verwoben sind, Angehörige der dritten und vierten Generation hingegen befassten sich freiwillig mit den Themen.58 Das heißt, der Umgang mit Nationalsozialismus und Holocaust hat auch einen generationsspezifischen Index. Den Begegnungen der Kinder und Jugendlichen mit der nationalsozialistischen Diktatur, deren Verbrechen und dem Zweiten Weltkrieg im öffentlichen Raum (Medien, Schule) stehen familienbiografische Tradierungen von Leid und Machtlosigkeit und der Wunsch nach positiver Identifikation gegenüber – sowohl mit dem eigenen Kollektiv als auch mit der eigenen Familie. So sind auch Kinder darum bemüht, eine »positiv besetzte Herkunft [zu schaffen], die eine Identifikationsfläche bietet und Möglichkeiten für eine positiv besetzte Identität schafft.«59 Damit sind auch die Faktoren der Vermittlung benannt, die sich in den zitierten Studien zeigen: Familie, Schule und Medien. Dabei weisen die Daten Kochs darauf hin, dass Kinder, die Fernseherfahrungen mit Nationalsozialismus angaben, mehr Kenntnisse besitzen. So bewegt sich Unterricht zu Nationalsozialismus und Holocaust in diversen Spannungsverhältnissen und die Ergebnisse der zitierten Arbeiten zeigen exemplarisch, dass Kinder und Jugendliche die eigene Familie und das nationale
56 57 58 59
mus und Holocaust im Spiegel kindlicher Reflexions- und Kommunikationsprozesse. Opladen, Farmington Hills, 2009. Marina Chernivsky, Biografisch geprägte Perspektiven auf Antisemitismus, in: Meron Mendel/Astrid Messerschmidt (Hg.), Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft (269–280), Bonn 2018, hier 269. Vgl. Chernivsky, Biografisch, 272. Vgl. hierzu beispielweise Dan Bar-On, Die Last des Schweigens, Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern. Reinbek 1996 und Wagensommer, Holocaust, 151–240. Alexandra Flügel, Konstruktionen des generationalen Verhältnisses. Kindheit und das Thema Nationalsozialismus im Grundschulunterricht. In: Isabel Enzenbach/Detlef Pech/ Christina Klätte (Hg.), Kinder und Zeitgeschichte. Jüdische Geschichte und Gegenwart, Nationalsozialismus und Antisemitismus (75–84), Berlin 2012, hier 78, http://www.widerstreitsachunterricht.de/beihefte/beiheft8/beiheft8.pdf (Stand: 12. 09. 2019).
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Kollektiv zu entlasten bestrebt sind. Adolf Hitler gilt als für den Holocaust hauptbzw. alleinverantwortlich. Er scheint eine omnipotente Position innezuhaben und Nationalsozialismus wird auf seine Person reduziert. Dieses Phänomen kann als Hitlerzentrismus60 beschrieben werden, entspricht einer mythologisierenden Weltsicht und reproduziert, sofern er nicht aufgearbeitet wird, nationalsozialistisches Denken: z. B. Hitler als von der Vorsehung bestimmten Führer und Verkörperung des Nationalsozialismus. In den Daten dokumentiert sich, dass Adolf Hitler gar als persönlicher Verfolger von Juden gilt. Diese werden mehrheitlich in einer Opferperspektive wahrgenommen. Die Kinder und Jugendlichen bezeichnen Juden als »anders« und stellen sie Deutschen gegenüber, das heißt: Es werden Gegensatzpaare gebildet, die einen ungleichen Grad hervorheben, der zugleich aber auch eine negative Symbiose anzeigt. Damit dominieren Momente der Differenz und Fremdheit die Wahrnehmung. Zugleich werden Opfer, Täter und Zuschauer entindividualisiert und anonymisiert. Dass Jüdinnen und Juden Angehörige einer Religion sind, tritt zum Teil deutlich in den Hintergrund. Wird dies wahrgenommen, wird die Religionszugehörigkeit für eine Differenzkonstruktion verwendet und die Kinder und Jugendlichen unterscheiden zwischen einer Wir-Gruppe und der assoziierten Fremd-Gruppe der Juden. Auf eine lebendige Begegnung mit Jüdinnen und Juden lassen die Daten nicht schließen. Die Studien deuten überdies darauf hin, dass frühe Prägungen von Geschichtsbildern stattfinden. Im Religionsunterricht wird die Lehrkraft mit diesen und den kindlichen Wissensbeständen konfrontiert.
5.
Folgerungen
5.1.
Psychosoziale Dynamiken achten
Lehrkräfte können auf unterschiedliche Weise mit Judentum, jüdischer Geschichte und Anti-Antisemitismus verbunden sein. Hierzu zählen auch die charakterisierten intergenerativen und sozialpsychologischen Dynamiken. Darüber hinaus sollte aber auch die Wirklichkeit der Migrationsgesellschaft mit bedacht werden – sowohl im Blick auf die lehrerseitige Auseinandersetzung61 als auch im Blick auf die Lerngruppen.62 Das heißt, für die Lehrkraft sind auch individual-biografische Faktoren in die Reflexionen mit einzubeziehen, um sich möglichen Abwehr- und Distanzierungswünschen bewusst zu werden und diese – im günstigen Fall – 60 Die Fokussierung auf die Person Adolf Hitlers reicht bis in die 1950er Jahre zurück. Hinweise auf Untersuchungen und Arbeiten zu diesem Thema finden sich bei Wagensommer, Holocaust, 91, 104, 107, 130, 373. 61 Vgl. Chernivsky, Biografisch, 278. 62 Vgl. Klätte, Frühes, 94.
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einer Bearbeitung zugänglich zu machen. Zur Reflexion gehören aber auch Annahmen über die Kompetenzen der Lerngruppe. Unter anderem weist Koch (ehemals Klätte) in ihrer Studie darauf hin, dass beispielsweise Annahmen von Lehrkräften dem nachgewiesenen Interesse von Kindern an Nationalsozialismus und Holocaust als Unterrichtsthema entgegenstünden. Diese Haltungen beeinflussten »mutmaßlich die Entscheidung für oder gegen eine Thematisierung«.63 Darüber hinaus bewegen sich Lehrende und Lernende im Unterricht über Nationalsozialismus, Shoa und Anti-Antisemitismus in einem Milieu, in dem von den Themen Demütigungen, Verletzungen und Entwürdigungen ausgehen und Menschen gleichsam zu Objekten oder Gegenständen gemacht werden. Letzteres kann sich auf Originalfotografien dokumentieren, die Nationalsozialisten angefertigt haben. Mit solchen Bilddokumenten ist im Unterricht sorgsam umzugehen: Sie können in besonderer Weise emotionalisierend wirken und eventuell sekundären Antisemitismus begünstigen. Darüber hinaus reproduzieren sie auch nationalsozialistische Weltsicht und begünstigen die genannten psychosozialen Dynamiken.64 Wenn die Interaktionen zwischen den Schüler*innen und den Lehrkräften dabei unreflektiert bleiben und es Lehrende und Lernende unterlassen, eine Kultur gegenseitiger Achtsamkeit zu entwickeln, wiederholen sich Demütigungen, Herabsetzungen, Nicht-Zulassen von Trauer usw. Daraus entstehende Blockaden werden dann den Unterricht beeinflussen. Möglichkeiten zu schaffen, sich der Emotionen, Einstellungen, Ängste und Assoziationen zur Thematik zu vergewissern und mit den Kindern ins Gespräch zu kommen, befördert für Becher hingegen die Chance authentischer Zusammenarbeit und aktiver Gestaltung von Erinnerungskultur.65
5.2.
Hitlerismus versus Mehrperspektivität
Nationalsozialismus und Holocaust im Unterricht zu thematisieren, bedeutet, die Lernvoraussetzungen der Kinder und Jugendlichen zu beachten. Vor dem Hintergrund der zitierten Studien bedeutet dies auch, Hitlerzentrismus zu vermeiden. Die Fokussierung auf die Person Adolf Hitlers anonymisiert die am 63 Ebd., 98. 64 Vgl. hierzu Georg Wagensommer, Mediale Konfrontationen, in: Wilhelm Schwendemann/ Reinhold Boschki in Zusammenarbeit mit Jürgen Rausch/Vera Schäfer/Georg Wagensommer (Hg.), Vier Generationen nach Auschwitz – Wie ist Erinnerungslernen heute noch möglich? (Erinnern und Lernen. Texte zur Menschenrechtspädagogik, Bd. 4) (135–152), Münster 2008, hier 138–139, 148–150; Andreas Weinhold, Zum Umgang mit Fotografien aus der Zeit des Holocaust im Geschichtsunterricht, https://www.yadvashem.org/de/education/newsletter/5/ photos-in-the-holocaust.html (Stand: 15.09.19). 65 Vgl. Becher, Erinnerungskultur, 17.
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Geschehen beteiligten Individuen und gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen und verhindert eine Kontextualisierung von Begebenheiten. Im Unterricht sollte es indes um eine Erschließung von Tätern, Opfern, Zuschauern, Mitläufern, Erretten und Entkommenen gehen. Raul Hilberg hat verschiedene Gruppen und Individuen in ihrem zum Teil komplexen Beziehungsgefüge beschrieben. Er hat ihr Tun und Unterlassen thematisiert und in Beziehung gesetzt.66 In seinem Werk wird deutlich, wie wichtig es ist, individuelle Entscheidungssituationen und Handlungsspielräume einzelner Menschen zu bedenken und zu erörtern, um Geschichte konkret werden zu lassen. Es geht um konkrete Situationen realer Personen, wie Harald Welzer es formuliert.67 Auch die Geschichte des Holocaust ist von Menschen erfahren, erlitten, erlebt und passiv oder aktiv gestaltet. In der pädagogischen Literatur wird diese Weitung des Blicks vielfach eingefordert68 und auch an dieser Stelle wird diese Forderung erhoben. Es geht in der didaktischen Strukturierung also auch um eine Entdämonisierung Adolf Hitlers und ein Vermeiden von Hitler(zentr)ismus. Es geht um eine Wendung aufs Subjekt und darum, im Grundschulunterricht die »Vielfalt menschlicher Entscheidungsund Handlungsoptionen [zu] erschließen.«69
5.3.
Lebensweltliche Bezüge und Familiengedächtnis
Eine Wendung auf das Subjekt ist in mehreren Dimensionen wertvoll. Im Blick auf die Lernenden sind beispielsweise deren lebensweltliche Bezüge zu achten, was jedoch auch Spannungsverhältnisse zutage treten lässt. So stehen mediale Vermittlung im Freizeitbereich, Familiengedächtnis und schulische Vermittlung in Spannungsverhältnissen zueinander. Das heißt, Lernende sind mit den Spannungen konfrontiert, mit denen auch Lehrende umzugehen haben (s. o.). Kinder mit ihren familienbiografischen Tradierungen zu Wort kommen zu lassen und ihren Wunsch nach positiver Identifikation zu respektieren, spielen dabei eine wichtige Rolle. Gleichwohl bedarf es auch einer autobiografischen Sensibilisierung, wie Becher sie fordert: So ist es sinnvoll, sich mit verschiedenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen auseinander zu setzen. Dabei könnten Fa66 Vgl. Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer: Die Vernichtung der Juden 1933–1945, Frankfurt a.M. 52011. 67 Vgl. Harald Welzer, Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis, in: APuZ, 25–26/2010, 16– 23, hier 21. 68 Vgl. Becher, Erinnerungskultur, 15; Matthias Heyl, »Erziehung nach Auschwitz« und »Holocaust Education«, in: Ido Abram/Matthias Heyl (Hg.), Thema Holocaust. Ein Buch für die Schule (61–164), Reinbek 1996, hier 78; Wagensommer, Holocaust, 374. 69 Andrea Becher, Holocaust und Nationalsozialismus im Sachunterricht thematisieren–Konsequenzen aus einer qualitativ-empirischen Studie zu Vorstellungen von Kindern, 6, http://www. widerstreit-sachunterricht.de/ebeneI/superworte/historisch/vorstell.pdf (Stand: 12.09.19).
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milienerinnerungen als geteilte Gruppenerinnerungen in ihren geschichtlichen Zusammenhang eingeordnet werden. In der Folge könne ein Erkennen und Akzeptieren mehrerer »Wahrheiten« und das Paradox familiärer und kultureller Erinnerungen angebahnt werden, was für Becher in der Forderung mündet, im Grundschulunterricht »Begegnung mit unterschiedlichen lebensgeschichtlichen Narrativen«70 zu ermöglichen. Eine thematische Auswahl, die die Lernenden anregt, eigene Fragen zu stellen und einen Bezug zum Hier und Jetzt herzustellen, ist hierbei von Bedeutung. Wesentlich ist es sicherlich auch, dass man als Lehrperson darauf achtet, dass trotz der Schwere der Thematik das Negative nicht überwiegt und Kinder begleitet werden, mit ihrer Geschichte als Deutsche umzugehen,71 denn: »[…] nirgendwo in der Welt genügt zum Aufbau eines neuen Wertgefühls die Dokumentation des Negativen. Es braucht positive Bilder und positive plakative Formulierungen, die Verbreitung positiver Beispiele und die Weckung positiver Grundstimmungen und Gefühle. […] Und überall, wo die Wassergräben der Entfremdung gezogen wurden, hinter denen dann die Geschütze des Hasses aufgestellt werden, muß man Brücken menschlicher Begegnung schlagen und sich dabei vor einem hüten: einer Generation, die wirklich ›nichts dafür kann‹, ständig Schuldgefühle einzureden.«72 Zudem kann es bei Kindern mit Zuwanderungshintergrund andere Interessen, Wünsche und Lernvoraussetzungen geben. Eventuell ist es wichtig, plurale Perspektiven, Deutungen und Geschichten zu thematisieren. Dass Kinder mit Zuwanderungshintergrund an der Geschichte des Nationalsozialismus interessiert sind, zeigen die Daten der Studie unter Grundschulkindern von Christina Koch (s. o.).
5.4.
Jüdinnen und Juden: Multiperspektivität und Gegenwartsbezüge
In den zitierten Untersuchungen nehmen die Kinder und Jugendlichen Jüdinnen und Juden vornehmlich als »Verfolgte« oder »Andere« wahr. Dass sie Angehörige einer Religion sind, tritt erkennbar in den Hintergrund. Zudem zeigen sich in den Daten keine lebensweltlichen Bezüge zu Religion, Glaubensinhalten und Gläubigen. Ein Jugendlicher dokumentiert diese Wahrnehmung in der Aussage 70 Ebd., 7. 71 Vgl. Eva-Maria Glück/Wilhelm Schwendemann/Georg Wagensommer, »Mein Opa ist geil, mein Opa war Nazi.« Bericht des Freiburger Forschungsprojekts »Antisemitismus und Nationalsozialismus als Themen des Unterrichts«, in: theo-web, Zeitschrift für Religionspädagogik, 3/2004, 120–133, hier 126–127, http://wwwuser.gwdg.de/~theo-web/Theo-Web/theoweb-wissenschaft_04–1.htm; (Stand: 10.09.19). 72 Reinhold Stecher, Anmerkungen zur ›Macht der Bilder‹, in: Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.), Die Macht der Bilder (396–397), Wien 1995, hier 396.
Empirische Studien zu Nationalsozialismus und Holocaust
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»Juden kenne ich nur aus dem Fernsehen…«73 Das heißt, die Auseinandersetzung geschieht über Medien. Neben dem Fernsehen zählen hierzu auch soziale Medien (YouTube u. ä.), deren Posts und Handyvideos rasant verbreitet und dann von vielen konsumiert werden. Werden Jüdinnen und Juden vergangenheits- und gegenwartsbezogen in einer Opferperspektive bzw. in Unterrichtsmaterialien im Blick auf orthodoxe Praxen dargestellt, kann dies dazu führen, dass sie in generalisierter Weise im Opferstatus und als »anders«, »exotisch« und »unheimlich« erinnert werden, so Ruth Ellen Gruber.74 In einem oftmals fehlenden Lebensweltbezug kumulieren diese Aspekte. In der Wahrnehmung stehen damit das Judentum und seine Gläubigen im Kontrast zum Islam und Muslimen. Im Falle des Islam besteht ein konkreter Lebensweltbezug durch beispielsweise Kinder in der Klasse. Grethlein charakterisiert die Situation für die Religionsdidaktik wie folgt: »Der Islam ist in Deutschland von einer sog. Fremdreligion zu einer ›Nachbar-Religion‹ geworden. D. h. religionsdidaktisch: […] die in der Klasse oder Schule durch konkrete Menschen präsenten religiösen Praxisformen (sind) Ausgangspunkt und vorrangiger Gegenstand der Beschäftigung mit dem Islam.«75 Aus religionspädagogischer Perspektive stimmt die Situation im Blick auf das Judentum und Jüdinnen und Juden bedenklich. Unter anderem fehlen bei Kindern und Jugendlichen Kenntnisse über die das Christentum und Judentum verbindenden Elemente. Umso mehr sollte es vermieden werden, Leid und Verfolgung in den Fokus zu rücken. Diese Aspekte bezeichnen immer schon Grenzsituationen, anstatt von der Lebensmitte auszugehen, so Gramm.76 Sinnvoll ist auch hier ein multiperspektivisches Vorgehen, das heißt: Das Leben der Menschen, die auch zu Opfern wurden, in seiner Vielfalt darzustellen – vor 1933 und nach 1945 – so dies möglich ist. Erstrebenswert ist es, Leben und Menschen in den Mittelpunkt zu rücken – hierzu gehören auch alltägliche religiöse Handlungspraxen. Darüber hinaus ist es sinnvoll, Aspekte des Lebens jüdischer Kinder und Jugendlicher gegenwartsbezogen in seiner Alltäglichkeit darzustellen. Ein Stichwort in diesem Zusammenhang ist Biografieorientierung. Angesichts der hohen Relevanz, die lokale Umwelt und Bezüge für Kinder und auch Jugendliche haben, ist hier auf Einbettungen in lokale und regionale Bezüge zu achten, so dies möglich ist. Dies kann auch dazu dienen, den Status von Jüdinnen und Juden als »Fremde(r)«, »Andere(r)« aufzubrechen. In diesem Sinne geht es
73 Wagensommer, Schülerperspektive, 18. 74 Ruth Ellen Gruber, Kitsch-Juden. Erinnerungsbilder im Angebot – ein Marktbericht nach dem Holocaust, in: Hanno Loewy (Hg.), Gerüchte über die Juden. Antisemitismus, Philosemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien (287–300), Essen 2005, hier 289–290. 75 Christian Grethlein, Fachdidaktik Religion, Göttingen 2005, 163. 76 Vgl. Hans-Jochen Gamm, Das Judentum (Reihe Campus Einführungen, Bd. 1096), Frankfurt a.M./New York 1989, 120.
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Georg Wagensommer
auch um Wertschätzung lebensweltlicher Vielfalt und Orientierung am Prinzip wechselseitiger Anerkennung von Verschiedenheiten.
Reinhold Mokrosch
Kinder hören vom Leiden in der Shoa – Wie reagieren sie?
Anmerkungen zur Fragestellung Wie reagieren Kinder, wenn sie an Einzelbeispielen vom Leiden in der Shoa hören? Und: Reagieren sie auf Berichte vom Leiden in der Shoa anders als auf Berichte vom Leiden Unschuldiger heute? Zur Beantwortung dieser Fragen müsste ich auf empirische Daten befragter Kinder zurückgreifen. Aber es gibt keine valide Untersuchung zur Reaktion von Kindern auf Leiden in der Shoa. Zwar gibt es Untersuchungen zu passiver und aktiver Leiderfahrung und Leidverarbeitung von Kindern heute.1 Aber es gibt nichts zur Reaktion von Kindern auf Leiden im Holocaust. Meine Versuche, das 1 Veröffentlichungen in chronologischer Reihenfolge: Ralph Sauer, Kinder fragen nach dem Leid. Hilfen für das Gespräch, Freiburg 1985; Regine Schindler, Was Kinder von Gott erwarten. Gebetstexte von Kindern, Lahr 1993; Reinhold Mokrosch, Kinder und Jugendliche erfahren Leid und fragen nach Gott, in: Manfred Oeming (Hg.), Krankheit und Leid in der Sicht der Religionen, Osnabrück 1994, 69–94; Ders., Kinder erfahren Leid und fragen nach Gott – wie sollen wir reagieren?, in: Religionspädagogische Beiträge 35 (1995), 87–95; Bernhard Dressler, Über die Sinnlosigkeit des Leidens –Religionspädagogische Erwägungen über Sinnsuche und Leiderfahrungen von Kindern und Jugendlichen, in: Loccumer Pelikan 1/1996, 11–18; Ursula Arnold/ Helmut Hanisch/ Gottfried Orth, Was Kinder glauben. 24 Gespräche über Gott und Welt, Stuttgart 1997; Rainer Oberthür, Kinder fragen nach Leid und Gott, München 1998; Werner Ritter u. a., Leid und Gott. Aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen, Göttingen 2006; Reinhold Mokrosch, Christian responds to suffering: A case of children/Youth turning to God for answer, in: Bangalore Theological Forum, 2009, 63–82. Julia Gebler/ Ulrich Riegel, Studie zu Theodizee-Konzepten von Kindern im 4. Schuljahr, in: Petra FreudenbergLötz u. a., Gottesbild im Kindes- und Jugendalter, Stuttgart 2011, 140–156; Elisabeth Naurath, Dem Leid begegnen, in: Entwurf 4/ 2012, 6–9; Eva Stögbauer, Die Theodizee-Frage vor dem Gerichtshof der religionspädagogischen Empirie, in: Entwurf 4/ 2012, 10–13; Mirjam Schambeck, Auschwitz kann man nicht denken, Auschwitz müssen wir erinnern. Holocaust-Education im religionspädagogischen Kontext, in: Konstantin Lindner u. a., Erinnern und Erzählen, Berlin 2013, 377–381; Gerhard Büttner/ Veit-Jakob Dietrich, Die Entwicklung der Frage nach Gott und Leid, in: dies. (Hg.), Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, Göttingen 2013, 172–190; Alexander Loichinger, Sinn des Leids?, in: RelliS, Zeitschrift für katholischen Religionsunterricht 17 / 2015, 10–14; Eva Stögbauer-Elsner, Art. Theodizee, in: WiReLex (2019), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/200651/; (Stand: 22. 05. 2020).
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Reinhold Mokrosch
mit einer eigenen Umfrage unter 6- bis 12-Jährigen zu kompensieren, sind fehlgeschlagen. Denn alle Grundschullehrkräfte, die ich angefragt hatte, haben mit dem Argument abgelehnt, dass ihre Schüler*innen von dieser Zeit keine Ahnung hätten und nach Meinung dieser Lehrkräfte auch noch keine Ahnung haben sollten.2 Von einer Betroffenheits-Pädagogik hielten die meisten Lehrkräfte nichts. Sie hatten vor emotionaler Überwältigung ihrer Kinder Angst. Nur eine einzige Grundschullehrerin erzählte mir, wie sie Einzelschicksale aus der NS-Zeit in einer 3. Klasse erarbeitet hätte. Auf ihre Erfahrungen werde ich mich im folgenden 1. Teil beziehen. Außerdem zitiere ich eine Gymnasiallehrerin. Und ich referiere meine eigenen Gespräche mit 11- bis 13-jährigen Hauptschülern*innen. Im 2. Teil skizziere ich Einsichten aus der Forschung, mit welchen Strukturen ihrer Gefühle Heranwachsende auf alltägliche Leiderfahrungen in der Regel reagieren und beziehe das im 3. Teil auf die beobachteten Reaktionen von Kindern auf Leiderfahrungen in der Shoa. Im 4. Teil gebe ich eine Befragung von vier 12/13-Jährigen zu religiösen Antworten auf die Frage ›Warum gibt es Leid?‹ wieder, die ich z. Zt. der Corona-Pandemie geführt habe. Im 5. Teil schließlich fasse ich die Ergebnisse meiner Beobachtungen zusammen und ziehe didaktische Konsequenzen für den Umgang von Kindern mit Leiderfahrungen.
1.
Reaktionen von Kindern auf Leidsituationen in der Shoa
Im Sommer 2019, also 75 Jahre nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto (April 1943) und dem nationalen Widerstand der Polen gegen die Deutschen (August 1944), entschloss sich die Osnabrücker Grundschullehrerin Tina S. mit ihren Kindern im Religionsunterricht einer 3. Klasse das Grauen des Warschauer Ghettos und den Aufstand der inhaftierten jüdisch-polnischen Bürger*innen zu behandeln. Ihre Kolleginnen hatten sie gewarnt: das sei für 9-Jährige zu früh, zu grauenhaft und auch zu gefährlich, weil die Kinder durch innere Ablehnung möglicherweise gegenüber dem Leiden in der Shoa abstumpfen könnten. Denn mit zu viel emotionaler Betroffenheit könnte man die Kinder überwältigen und Trotzreaktionen hervorrufen. Sie aber beharrte auf ihrem Vorhaben und konzentrierte sich auf Janusz Korczak, der Dutzende jüdischer Waisenkinder in das Ghetto begleitet, dort ein Waisenhaus auf engstem Raum gegründet hatte und schließlich mit ihnen in die Gaskammern von Treblinka gezogen war. Das eindrucksvolle Bilderbuch »Janusz Korczak – ein Held der Kinder« untermauerte
2 Vgl. dazu meine Lehrkraft-Befragung in diesem Band.
Kinder hören vom Leiden in der Shoa – Wie reagieren sie?
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ihre Unterrichtssequenz. Sie berichtete mir3: »Als ich anhand des Korczak-Bilderbuches zeigte, wie Dutzende von Waisenkindern auf Befehl Hitlers im Warschauer Ghetto bei Wasser und Brot zusammengepfercht worden seien, hat ein Junge gerufen: ›Dieser Hitler ist ein großes Arschloch!‹ Und andere Kinder sind eingefallen: ›So was Gemeines!‹ ›Der ist gemein und böse!‹ Ein Mädchen hat gefragt: ›Was haben die Kinder denn Böses getan?‹ Andere: ›Die konnten doch gar nichts dafür!‹ Die Klasse hat sofort die Realität erkannt: Ein blutrünstiger Despot vernichtet unschuldige, liebe Kinder.« »Die Schüler und Schülerinnen«, so die Lehrerin, »hatten den Schuldigen gefunden. Und sie hatten die totale Unschuld der Opfer erkannt. Einige hatten den Kreis der Schuldigen über Hitler hinaus ausgeweitet auf alle, die beim Völkermord mitgemacht hatten. Die Unterscheidung zwischen Bösen und Guten war für sie glasklar.« »Haben die Kinder denn gefragt ›Warum und Wieso konnte so etwas passieren?‹«, unterbrach ich ihren Bericht. »Die ›Warum‹-Frage haben sie«, so ihre Antwort, »erstaunlicherweise nicht gestellt. Zu sehr sind sie von den Fakten des Elends im Ghetto erdrückt gewesen, als dass sie aus Distanz hätten fragen können ›Warum?‹« Ich unterbrach nochmals und fragte Tina S.: »Was hättest Du denn geantwortet, hätten die Kinder die ›Warum‹-Frage gestellt, z. B.: ›Warum sind die jüdischen Kinder da im Lager eingesperrt gewesen?‹ Was hättest Du da geantwortet?« Sie reagierte klipp und klar: »Ich hätte den Kindern ehrlich geantwortet: Sie sind eingesperrt worden, weil viele Menschen damals glaubten, Menschen mit jüdischem Glauben dürfen nicht unter uns wohnen. Ohne Begründung! Punkt, Schluss, Aus! Das hätte ich den Kindern geantwortet.« Tina S. berichtete weiter: »Mit Hilfe des Kinderbuches habe ich dann von dem Aufstand im Ghetto und dessen grauenhafter Niederschlagung durch deutsche Aufseher und Soldaten berichtet. Da hatten sich wieder einige Kinder erregt: ›Warum haben die Aufseher das gemacht?‹ ›Wieso haben die Leute überhaupt das alles mitgemacht?‹ Das war für mich eine schwierige Situation. Hätte ich den Kindern doch vorher erklären sollen, warum die jüdischen Kinder eingesperrt und später sogar ermordet worden sind? Hätte ich erklären sollen, dass damals alle jüdischen Menschen als Sündenböcke für die Weltwirtschaftskrise und vieles andere angesehen wurden? Hätte ich ihnen im Detail erklären sollen, dass Christen Juden bestrafen wollten, weil ihre Ur-, Ur- Urgroßeltern angeblich Jesus Christus ermordet hatten? Usw.? Nein«, rechtfertigte sie sich selbst, »ich enthielt mich weiterhin solcher Erklärungen und blieb bei der unbegründeten Begründung: Die Menschen damals hatten jüdische Kinder ausgegrenzt und gejagt, weil sie angeblich anders gewesen sind. Angeblich! Und das hätte den Kindern vielleicht genügt.«
3 Informationen über die Grundschullehrerin Tina S. an einer Osnabrücker Grundschule können bei mir eingeholt werden: [email protected].
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War das in Ordnung, frage ich mich? Oder hätte sie die angeblich wahren Gründe mit ihren 9-jährigen Kindern lieber doch besprechen sollen? Ich halte es mit Tina S. für sinnvoll, dass den Kindern nur bewusst wird, welche Folgen es hat, wenn angeblich ›Andere‹ gemobbt, ausgegrenzt und gejagt werden. Die vermeintlichen Ursachen der Ausgrenzung müssen sie m. E. nicht gleich mit erfahren. Gerade ursachenlose Ausgrenzung ist ja auch heute noch die größte rassistische und antisemitische Gefahr. Freilich: Später mit 12/13 Jahren müssen sie die sog. Ursachen von Antisemitismus und Rassismus erfahren. Noch nicht aber im 3. Schuljahr. Eine typische Szene hätte sich im Unterricht dazwischen gemischt, berichtete Tina S. weiter: »Als eine Schülerin aufatmete mit dem Satz: ›Zum Glück gibt es das alles heute nicht mehr!‹ hat der 9-jährige Mohammad interveniert: ›Doch!‹ Das Mädchen schaute ihn erstaunt an: ›Wieso?‹ Darauf Mohammad: ›Bei uns war das auch so. Deshalb sind wir geflohen!‹ Mohammad war Kurde und musste deshalb aus Syrien fliehen. Ohne weiteren Grund! Der 9-jährige kurdische Junge«, so Tina S., »hatte genau die Grundlosigkeit der Vertreibung und Verfolgung aufgrund seines ›Andersseins‹ als Kurde begriffen. Hätte ich die Vernichtung der jüdischen Kinder näher begründet, hätte Mohammad vielleicht nicht die Parallele ›Bei uns war das auch so‹ gezogen. Ich bin der Meinung: In der Grundschule ist es sinnvoll, zunächst die Folgen von Mobbing und Ausgrenzung zu beschreiben, bevor man den Kindern die näheren sog. Ursachen der Verfolgung erklärt. »Und noch eine weitere Zwischenszene ergab sich im Unterricht«, berichtete Tina S.: »Ein Junge, der in Warschau geboren war, verkündete: ›Meine Uroma war auch erst im Warschauer Ghetto, dann im KZ; aber sie hat überlebt.‹ Das hatte mich sehr ergriffen. Ich antwortete ihm im Unterricht: ›Zum Glück! Sonst gäbe es Dich heute ja gar nicht.‹ Und der polnische Junge erschrak fast: ›Oh- äh, ja!‹ – Vielleicht wurde ihm bewusst, dass ermordete Menschen keine Nachkommen mehr erzeugen können. Vielleicht erahnte er, dass nicht nur die Menschen damals, sondern auch alle noch-nicht-Geborenen virtuell vernichtet werden. Das wäre eine besonders tiefe Einsicht gewesen«, räsonierte Tina S. – »Als ich dann den Gang von Janusz Korczak in das KZ Treblinka – anhand der Bilderbuchbilder – beschrieb, hat ein Mädchen laut bekannt: ›Toll, dass Korczak die Kinder nicht allein gelassen hat. Die hatten bestimmt riesige Angst. Und er nahm ihnen vielleicht Angst.‹ Sie hatte erkannt, dass eine liebevolle Begleitung selbst in furchtbarsten Situationen Angst mindern kann.« Noch etwas interessiert Dich vielleicht«, ergänzte sie: »Als ich vom Abbrennen der Synagogen am 9. November 1938 erzählte, hat ein Mädchen geäußert: ›Unsere Kirche darf nie abgebrannt werden. Darin bin ich getauft worden.‹ Aber auch über die Progromnacht habe ich nicht weiter den Kindern erzählt. Ich hatte den Eindruck, dass ich sie damit überfordern würde – obwohl sie etwas wissen wollten.« Ich räsonierte: Die Kinder haben also während der Erzählung der Lehrerin viel an sich selbst und an ihre
Kinder hören vom Leiden in der Shoa – Wie reagieren sie?
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eigene Situation gedacht. Solchen Transfer muss man in der Grundschule offensichtlich nicht didaktisch bewusst herstellen, sondern er ergibt sich von selbst. Anders verhielt es sich mit der ›Warum‹-Frage: Die Kinder waren von den furchtbaren Ereignissen im Ghetto derart betroffen, dass sie nicht in Distanz dazu treten und »Warum?« fragen konnten. Erst recht, so Tina S., hätte niemand, kein christliches und kein muslimisches Kind (ein jüdisches Kind gab es in der Klasse nicht), gefragt »Warum hat Gott das zugelassen?«, obwohl fast alle Kinder an Gott glauben. Aber sie würden Gott nicht mit dem Leid der Kinder im Warschauer Ghetto zusammenbringen. Dafür seien Hitler, die Aufseher und die Sympathisanten zuständig. – Ich fragte Tina S., ob sie es für sinnvoll erachten würde, die ›Warum‹-Frage von der Lehrkraft aus in den Unterricht einzubringen. Ihre Antwort: »Auf jeden Fall! Die Lehrkraft sollte von sich aus fragen: ›Warum konnte das alles geschehen?‹ ›Warum haben Hitler, die Aufseher und die vielen anderen Menschen das getan?‹ ›Warum haben sie es zugelassen?‹ Oder auch: ›Warum hat Gott das zugelassen?‹. Das ist eine Chance,« meinte sie, »dass die Lehrkraft die Kinder fragt und die Kinder ihre Gedanken dazu äußern können. Denn die Kinder haben Antworten, von denen wir lernen können«, meinte sie. »z. B. wenn sie antworten: ›Wir wissen es nicht. Vielleicht kann nur Gott selbst es wissen. Aber er teilt es uns nicht mit.‹ Oder: ›Vielleicht will Gott uns mit solchem Leid irgendwas sagen.‹ Oder: ›Gott will, dass wir niemals so böse sind wie Hitler und die Aufseher im Ghetto.‹ Das sind so Ungefähr-Antworten von Kindern,« meinte Tina S., »die ich aus früheren Zeiten, als Kinder noch nach Gott fragten, erinnere. Die Gruppe derjenigen Kinder, die aufgrund dieses Leids ihren Glauben an Gott aufgegeben haben,« so erinnerte sie sich, »ist sehr klein gewesen. Ja«, meinte sie, »man kann über die ›Warum‹-Frage auch mit Grundschulkindern reden, wenn man diese Frage selbst in den Unterricht einbringt.« Die Grundschulkinder, so resümierte ich, wollen also herausfinden, wer der Schuldige am Unglück der Waisenkinder gewesen ist: Hitler, die Aufseher und alle Beteiligten im Ghetto. Das sind konkrete Personen, keine Strukturen. – Und: Sie übertrugen die Situationen von damals schnell auf ihre eigenen Situationen des Ausgrenzens und Mobbens. – Zudem stellten sie die Warum-Frage nicht. Deshalb empfahl die Grundschul-Lehrerin, diese Frage in ihrer säkularen und religiösen Form in den Unterricht selbst einzubringen. Noch ein Blick auf die Gymnasiallehrerin Silke K., die im 5. und 6. Schuljahr Stolpersteine4 besprochen und auch gereinigt und mit ihrer Klasse »Damals war es Friedrich« gelesen hatte5: Sie erwähnte, dass alle Schüler*innen diese Einrichtung von Stolpersteinen hoch gewürdigt hätten, dass aber einige von ihnen 4 Seit 2012 werden in Deutschland Gedenksteine im Straßenpflaster vor der Tür Ermordeter der NS-Zeit installiert, sog. Stolpersteine. 5 Informationen über Silke K. können bei mir eingeholt werden; vgl. Anm.3.
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sich daran gestört hätten, dass die Fußgänger auf diesen Stolpersteinen und damit auf den Ermordeten achtlos rumtrampeln würden. Das widerspreche doch der Würde der Ermordeten. Silke K. meinte dazu: »Das zeigte mir, dass meine 12/ 13-Jährigen vor den damals grundlos inhaftierten und ermordeten Juden eine große Achtung gehabt haben. Aus solcher Achtung heraus haben sie dann auch die Stolpersteine gereinigt.« Von der Reaktion der Schüler*innen auf die Lektüre von »Damals war es Friedrich« erfuhr ich wenig. Silke K. hatte Einzelpassagen im Religionsunterricht vorgelesen. Die Kinder seien mucksmäuschenstill gewesen. Sie hätten geklagt: »Das ist ja schrecklich, was Friedrich alles verboten wurde. Der durfte sich ja bald überhaupt nicht mehr bewegen. Ein Glück stand sein Freund zu ihm – wenn auch nicht dessen Eltern.« Die Kinder waren entsetzt. Aber ob sie die Situation auf Ausgrenzung und Mobbing auf heute bezogen oder gar die ›Warum‹-Frage gestellt hätten, erfuhr ich nicht. Resümee: Die heranwachsenden Gymnasialschüler*innen nahmen das Schicksal der ermordeten Juden voller Respekt sehr ernst und reinigten deshalb gerne die Stolpersteine. Das Schicksal von Friedrich in der NS-Zeit hatte sie sehr berührt, aber sie zogen keine Parallelen zu ihrer Gegenwart. Solcher Transfer hört in diesem Alter offenbar auf. Ich selbst habe sehr berührende Gespräche mit 12- und 13-jährigen Hauptschülern*innen auf einem Friedhof in Osnabrück geführt. Der Anlass war folgender: Durch Zufall hatte im Sommer 2018 eine Friedhofsmitarbeiterin 118 Karteikarten aus dem Jahr 1942 gefunden, die Daten über 118 Säuglinge und Kleinkinder enthielten, die sofort nach ihrer Geburt ihren arbeitenden Müttern entrissen wurden. Daraufhin ließ man sie verhungern oder sie wurden getötet. Zwei Hauptschulklassen aus Osnabrück-Wallenhorst meißelten daraufhin einen Gedenkstein mit den 118 eingravierten Namen und gestalteten um den Gedenkstein herum ein Blumenfeld für die Ermordeten. Bei der Einweihung, die ich mit einer Gedenkrede eröffnete, trugen die Kinder Kerzen, Lichter und Lampen zum Gedenkstein. Nach der Feier redete ich mit einigen von ihnen. Beate, 12 Jahre, wütete ratlos: »Wie kann man Babys verhungern lassen? Ich, ich kann mir das nicht vorstellen. Und der Mama die Babys wegreißen?! Wie haben wir das gut, Heute gibt’s das nicht mehr!« Bernd, 13 Jahre, stand daneben: »Wer hat den Müttern die Babys weggenommen? Wieso mussten die arbeiten? Es gibt doch Mutterschutz. Was mussten die arbeiten? Das ist doch sinnlos! Das ist doch Wahnsinn!« Ich spürte, wie Beate mitlitt. Und ich konnte Bernds verzweifelte Wut mitfühlen. Beide stellten m. E. indirekt, nicht aber direkt, die ›Warum‹-Frage. Wollten sie eine Antwort von mir haben? Ich entschloss mich zu einer Antwort und meinte: »Man hat denen die Babys weggenommen, weil sie keine Deutschen waren. Und sie wurden zur Arbeit gezwungen, weil sie keine Deutschen waren.« »Das ist doch kein Grund«, entgegnete Bernd. Und ich bestätigte ihm: »Nein, das ist kein
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Grund. Aber für die Mörder war das ein Grund.« Es kam der syrische Klassenkamerad Aref, 13 Jahre, dazu. Er hörte gespannt zu. Plötzlich äußerte er: »Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, gleich nach der Geburt zu sterben?« Allgemeines Entsetzen: »Wieso denn das?« Darauf Aref: »Nur Gott weiß, warum das so ist. Wir wissen das nicht. Für uns ist das sinnlos. Aber vielleicht hat es für Allah einen Sinn?!« Er hatte faktisch die Antwort Hiobs gegeben: Gott ist unbegreiflich. Und Leid ist unbegreiflich. Wir können beides nicht begreifen und keine Antwort geben. So endete mein Friedhofsgespräch mit den Kindern. Zusammenfassend haben diese drei nicht repräsentativen Szenen mit Kindern (3. Klasse Grundschule, 5./6. Klasse Gymnasium, 7. Klasse Hauptschule) gezeigt: – Ausnahmslos alle Kinder reagierten auf die Berichte über das Leiden in der Shoa fassungslos und entsetzt. – Niemand aber fragte, wieso Gott das zulassen konnte. Niemand brachte Gott mit diesem grauenhaften Leid in irgendeinen Zusammenhang. Deshalb plädierte die Grundschullehrerin dafür, dass die Lehrkraft diese Frage in den Unterricht einbringen solle. – Die 9-jährigen Grundschulkinder fragten intensiv nach den schuldigen Personen und klagten sie an. Dass dämonische Kräfte im Spiel sein könnten, erwähnte niemand. – Die älteren 12/13-Jährigen hielten die furchtbare Nazi-Zeit für schuldig. Sie sahen in der Gesellschaftsstruktur die Wurzel des Übels. – Sie fragten, wenn auch indirekt, sogar nach dem Grund, warum die Babys der Zwangsarbeiterinnen ermordet wurden und warum Friedrich so brutal ausgegrenzt und verfolgt wurde. – Und schließlich: Irgendeinen, wenn auch nur indirekten Sinn sahen diese Älteren in dem Leiden der Ermordeten überhaupt nicht. Nur der muslimische Junge meinte, dass vielleicht Allah einen Sinn in diesem Grauen sehen könnte.
2.
Strukturen der Reaktionen von Kindern auf Leiderfahrungen im Alltag heute
Mit welchen Gefühlsstrukturen verarbeiten Kinder und junge Jugendliche Leiderfahrungen im Alltag? Auf dieses umfangreiche Gebiet der Emotionspsychologie und der Rezeption derselben durch die Religionspädagogik6 kann ich hier nicht eingehen. Ich möchte nur Stichworte aus der Forschung zur emotio6 Vgl. besonders Elisabeth Naurath, Mit Gefühl gegen Gewalt. Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung in der Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn, 2007, seitdem mehrere Neuauflagen, bes. §5, Teil 3, 124–150; und dies., Dem Leid begegnen, in: entwurf. Konzepte, Ideen und Materialien für den Religionsunterricht 43(4), 6–9.
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nalen Entwicklung von Kindern aufsuchen, um meiner Frage nachgehen zu können, ob Kinder mit den jeweils gleichen Gefühlen auf Leiderfahrungen in der Shoa und auf Leiderfahrungen in ihrem Alltag reagieren. Die in der Literatur (Anm. 1) verzeichneten Gespräche mit Kindern über deren tägliche Leiderfahrungen zeigen, dass Kinder meistens ihrer strukturgenetischen Entwicklung entsprechend Leid erleben und deuten. Deshalb fasse ich im Folgenden die Reaktionen von Kindern nach deren Alterskohorten 6/7, 8/9 und 10/12 Jahre zusammen. Einzelne Kinder zitiere ich pars pro toto7: 6/7-Jährige verbinden mit Leid meistens Krankheit, Schmerz, Isolation, evtl. auch Angst und Verlust. Es ist aber vorwiegend ein Leiden, das körperlich, am eigenen Leib oder bei anderen erfahren wird. Manche Kinder deuten solches Leid animistisch-magisch. Der kleine 5-jährige Stephan z. B. erklärt sich Opas LungenKrebs mit kleinen Monstern, die unverschuldet in Opas Lunge geraten sind. Seine 7-jährige Schwester aber klärt ihn auf, dass es gar keine Monster gebe und dass Großvater selbst aufgrund seines maßlosen Rauchens für seinen Krebs verantwortlich sei. Aber auch sie denkt magisch; denn sie meint, dass auf Rauchen automatisch immer Krebs folge.8 – Größeres Leid erklären sich Kinder in diesem Alter aber weiterhin mit einer bösen Macht. Es gibt für sie böse und gute Menschen. Die bösen sind vom Teufel, die guten von einem Engel besessen.9 Und sogar Naturkatastrophen sind für sie von dämonischen Mächten verursacht. Wie würden diese 6/7-Jährigen, würden sie von leidenden Kindern in der Shoa etwas erfahren, wohl reagieren? Es liegen wie gesagt keine Gesprächsbeispiele vor. Deshalb kann ich nur vermuten, dass nach ihrem Empfinden teuflische Menschen und Dämonen das Grauen verursacht haben. Das aber bleibt eine reine Vermutung. An Gottes helfender und tröstender Macht halten die meisten unter denen, die religiös sozialisiert sind, fest. Gott wird von ihnen nicht mitverantwortlich gemacht für das Leid. Nur wenige klagen Gott an und zweifeln an seiner Macht.10 Mit solchem animistisch-magischem und dualistischem Denken (bei gleichzeitigem Vertrauen auf Gott) vertreten diese 6/7-Jährigen, so die Kinder-
7 Die Gefühls- bzw. Mitgefühlsentwicklung von Kindern und Jugendlichen ist nicht von deren Intelligenzentwicklung abhängig, schon gar nicht von dem Stufenschema Jean Piagets: Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde (1932), das bekanntlich eine Entwicklung vom sensomotorischen über das präoperationale, das konkret-operationale bis hin zum formal-operationalen Denken zeigte; sondern sie ist eine eigenständige, unabhängige Entwicklung im Kind und Jugendlichen. Vgl. auch: Naurath, Mit Gefühl gegen Gewalt, 124–127. 8 Vgl. Mokrosch, Christian responds, 67f. 9 Für Martin Luther war jeder Mensch ein Reittier, das entweder vom Teufel oder von einem Engel geritten wird. Thesen »De homine« 1542. 10 Vgl. meine Beobachtungen in: Mokrosch, Kinder und Jugendliche erfahren Leid, 75–77; und ders., Kinder erfahren Leid, 91–93.
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Psychologen, einen »Naiven Realismus«11. Aber freilich: Das alles trifft nur für manche 6/7-Jährige zu. Keinesfalls für alle. Manche 8/9-Jährige transformieren dann diesen »Naiven« in einen »Kritischen Realismus«.12 Sie hinterfragen kritisch, ob es wirklich Monster in der Lunge geben kann, ob das nicht vielmehr Viren oder Bakterien seien. Sie beginnen, zu reflektieren, nach den Ursachen von Krankheiten und Schmerzen zu fragen, aber auch nach den Ursachen von Isolation, Mobbing, Angst und Verlust. Sie sind neugierig. Und sie halten dann keine metaphysischen Mächte, sondern reale Menschen und Naturvorgänge für verantwortlich für jeweiliges Leid. Für sie sind, wie wir bei Tina S. sahen, Hitler und die Nazis nicht vom Teufel besessen, sondern selbst böse und teuflische Menschen. Sie seien verantwortlich für das Leid und nicht ein Teufel. Manche klagen allerdings Gott an, warum er das nicht verhindere. Sie fordern sein Eingreifen, wie der 8-jährige Bernd, der noch mit seinem Teufelsglauben ringt: »Wenn Gott allmächtig ist, warum macht er dann nicht den Teufel tot; dann tun wir nie mehr was Böses!«13 Aber viele der religiösen Kinder nehmen – wie viele 6/7-Jährige – Gott auch in Schutz: Nicht Gott, sondern allein böse Menschen seien schuld am Leid. Sie suchen immer wieder nach einer immanenten Schuldursache. Ich erinnere, dass beim 1. Golfkrieg Drittklässler eindeutig den Henker von Bagdad Sadam Hussein für schuldig erklärt hatten. Andere hielten den Öl-Bedarf der Amerikaner für die Kriegsursache; und wieder andere meinten, dass es Krieg wohl immer wieder gäbe.14 Sie nahmen Gott in Schutz. Aber einige, so erinnere ich, klagten Gott eben auch massiv an, weil er diesen Krieg zulasse. Ich vermute, dass die Gruppe der Gottesankläger Gott auch angesichts der Ghetto-Kinder und angesichts der Zwangsarbeiterinnen-Kinder angeklagt hätten. Während die anderen Kinder, wie wir in der 3. Klasse von Tina S. sahen, keine transzendenten, sondern nur immanente Mächte anklagen. Bei 10- bis 13-Jährigen entdecke ich einen »Perspektivischen Realismus«. Die Beobachtungen von Elisabeth Naurath bewegen mich dazu15: Denn wenn Kinder bzw. junge Jugendliche dieses Alters, so Naurath, das Leid um sie herum, aber auch das weltweite Leid der Kriege, des Hungers, der Vertreibung und der Flüchtlinge mit Bewusstsein wahrnehmen, dann eröffnet sich ihnen die neue Perspektive, »die Begrenzungen menschlichen Könnens und Wollens anzuerkennen«16. Dieser neue Blickwinkel führt bei manchen der religiös Sozialisierten auch zu der Entdeckung von Gottes Mitgefühl. Sie pochen nicht mehr auf Gottes 11 Helmut Hollenstein, Der nicht kalkulierbare Gott, in: Religion heute 1986, 128ff, zitiert nach Dressler, Über die Sinnlosigkeit des Leidens, 16. 12 Ebd. 13 Sauer: Kinder fragen nach dem Leid, 31. 14 Vgl. Mokrosch: Christian responds, 70. 15 Vgl. Naurath: Mit Gefühl gegen Gewalt, 126.131.156; und dies.: Dem Leid begegnen, 7f. 16 Naurath, Dem Leid begegnen, 7.
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Allmacht, sondern auf Gottes mitfühlende Liebe. »Danke, Gott, Du hast Mitleid mit allen kranken und leidenden Menschen«, betet die 10-jährige Jessica. Und die 11-jährige Karin, die einen riesigen Strom ausgebombter Flüchtlinge im TV gesehen hat, betet: »Gott, ich danke Dir dafür, dass auch diese Menschen in Deiner Hand sind!«17 Viele Kinder dieses Alters entwerfen in ihrem Bewusstsein neue Perspektiven, z. B. die Perspektive, dass menschliches Können begrenzt ist, und die religiöse Perspektive, dass nicht Gottes Allmacht, sondern sein mitfühlendes Mitleid Hilfe wirkt. Deshalb spreche ich ihnen einen »Perspektivischen Realismus« zu.
3.
Treffen diese Gefühlsstrukturen auch auf die Reaktionen der zitierten Kinder auf Leiderfahrungen in der Shoa zu?
Ich stelle fest, dass kein einziges Kind bei Tina S. metaphysische diabolische Kräfte für das grauenhafte Leid in der Shoa verantwortlich machte. Alle Kinder fragten nach schuldigen Menschen, nicht aber nach Teufeln oder Monstern. Das lag freilich daran, dass es sich um 8/9-Jährige und nicht um 6/7-Jährige handelte Ein naiver Realismus war bei den Kindern von Tina S. trotzdem kaum zu finden. Vielmehr stelle ich fest, dass diese Drittklässler intensiv nach den Schuldigen für das Warschauer Ghetto fragten. Sie suchten nach Ursachen, Gründen und vor allem Tätern für das grauenhafte Leid von Korczaks Waisenkindern. Damit entsprachen sie einem »Kritischen Realismus«. Aber sie suchten eben nur nach bösen Menschen, die so etwas Grauenhaftes tun; sie suchten nicht etwa nach Zeitumständen, gesellschaftlicher Situation und schon gar nicht nach irgendwelchen Ideologien wie z. B. prinzipiellen Schuldzuweisungen gegen Juden. Sondern sie sahen nur Personen in der Schuld. Das änderte sich bei den 10/12-Jährigen von Sabine K. und ›meinen‹ Hauptschülern*innen auf dem Friedhof. Diese erkannten die NS-Zeit insgesamt als Nährboden für die grausamen Taten. Sie erkannten das System der Zwangsarbeiterinnen und sie bemerkten an den Stolpersteinen, dass eine ganze Stadt ›judenfrei‹ werden sollte. Sie erkannten gesellschaftspolitische Strukturen. Sie hatten eine neue Perspektive im Bewusstsein und entsprachen damit m. E. einem perspektivischen Realismus. Insofern entsprechen die beschriebenen Reaktionen der Kinder auf Berichte zum Leid in der Shoa den zitierten Gefühlsmustern von Kindern zu Leiderfahrungen im Alltag heute. Ich sehe einen Unterschied in dem Erschrecken aller zitierten Kinder, als sie vom Leiden in der Shoa hörten. Sie alle waren entsetzt, 17 Schindler: Gebetstexte von Kindern, 45.48.
Kinder hören vom Leiden in der Shoa – Wie reagieren sie?
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berührt und fassungslos. Solches Entsetzen entdecke ich bei Kindern angesichts des Leids von Flüchtlingen, Flüchtlingslagern, Krieg und Hungersnöten heute nicht. Diesen Unterschied werde ich in meiner folgenden Untersuchung noch thematisieren.
4.
Acht klassische Fragen an 12/13-Jährige zur Begründung von Leid, am Beispiel der Corona-Epidemie
Ich möchte zum Schluss noch erkunden, wie Kinder auf religiöse Antworten zur Frage »Warum gibt es solches Leid?« reagieren – als Kontrastuntersuchung zu ihren Reaktionen auf Leid in der Shoa. Ich bezog mich dabei auf das Leid von Erkrankten während der Corona-Pandemie. Leider konnte ich mitten in der Corona-Zeit mit Kontaktverboten und Schulschließungen nur 12/13-Jährige aus meiner Umgebung interviewen. Sie heißen Amelie, Max, Elisabeth und Sofia.18 Amelie, 13 Jahre, ist gerade konfirmiert worden; sie glaubt nicht an Gott, sondern an das Schicksal. Max, 12 Jahre, versteht sich dezidiert als nicht-gläubig. Elisabeth, 13 Jahre, ist katholisch-gläubig; und Sofia, schon 15 Jahre alt, glaubt nicht an Gott, kennt sich als Amerikanerin aber in Religionsfragen aus. Ich halte diesen Bezug auf 12–15 Jährige nicht für ungünstig, weil sie einen Kontrast zu den 9Jährigen von Tina S. darstellen. Es wird sich zeigen, ob sie im Sinne eines Perspektivischen oder Naiven oder Kritischen Realismus argumentieren. Ich konnte aufgrund der Corona-Pandemie meine acht Fragen den Probanden*innen nur zumailen; erhielt dann von ihnen schriftliche Antworten und fragte telefonisch nochmals nach. Meine 1. Frage lautete: »Manche Menschen sagen: Dieses furchtbares Leid der Corona-Pandemie ist eine Selbstbestrafung der Menschen, weil wir mit Tieren, Pflanzen und dem Klima grausam umgegangen sind. Wie stehst Du zu dieser Meinung?« Alle vier Befragten lehnten den Begriff der ›Selbstbestrafung‹ entschieden ab. Und Max und Elisabeth lehnten darüber hinaus jeglichen Zusammenhang zwischen menschlichem Verhalten und dem Corona-Leid ab: »Beides hat nichts miteinander zu tun«, erklärten sie kategorisch. Amelie und Sofia dagegen sahen einen Zusammenhang, definierten ihn aber nicht als Selbstbestrafung, sondern als »Folge« und als »Karma«. »Ich finde schon, dass wir selbst daran schuld sind, dass diese Krise ausgebrochen ist, und zwar im Sinne von Karma«, urteilte Sofia. Und Amelie meinte: »Ja, der Virus ist Folge davon, wie wir mit Tieren und Natur 18 Die Unterlagen dieser Interviewgespräche können bei mir eingesehen werden: Reinhold.Mo [email protected].
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umgehen.« Selbstbestrafung wurde als Erklärung also abgelehnt. Aber 50 % redeten von Folge und Karma. Meine 2. Frage lautete: »Einige gläubige Menschen glauben, dass die CoronaEpidemie eine Strafe Gottes über die Menschheit sei, weil die Menschen so entsetzliche Kriege gegeneinander und gegen die Schöpfung führen. Hast Du Verständnis für solchen Glauben?« Alle vier reagierten mit einem rigiden Nein! »Warum sollten unschuldig Leidende von Gott bestraft werden?« empörte sich Amelie. »Gott ist doch nicht rachsüchtig« folgerte Sofia, »deshalb straft er auch nicht!« Und Max und Elisabeth meinten, dass Gott »total ungerecht« wäre, wenn er so strafen würde. – Die Befragten lehnten die Vorstellung von einem strafenden Gott nicht nur aus atheistischen Gründen strikt ab, sondern hielten sie auch innertheologisch für unlogisch und unhaltbar. Meine 3. Frage lautete: »Viele sind der Meinung, dass wir erst aufgrund von Leid wie z. B. dieser schrecklichen Corona-Epidemie aufwachen, um unseren Lebensstil zu ändern und dankbarer zu werden für unser Leben in Gesundheit und Wohlstand. Was sagst Du dazu?« Alle vier stimmten mit einem klaren Ja zu. Aber niemand äußerte, einen verdeckten Sinn darin zu sehen. Sie betonten, dass sie erst jetzt in der Leidenssituation bemerken, wie schön es war, mit den Freuden*innen zu spielen, sich in der Schule zu treffen, Musik und Sport zu treiben u. a. An eine Veränderung des Lebensstils, wie in der Frage erwähnt, dachte niemand. Wie sollten sie auch? Nur die ältere Sofia dankte dafür, »die Privilegien frischer Luft, reiner Natur und gesunden Lebens genießen« zu dürfen. – Die jungen Jugendlichen hatten allein ihren Nahhorizont vor Augen gehabt. Gesellschaftspolitische Bereiche wie Lebensstil-Veränderung lag ihnen fern. Nur die ältere Sofia erweiterte ihren Horizont. Von einem verdeckten Sinn des Leids redete niemand. Meine 4. Frage lautete: »Manche religiöse Menschen glauben, dass Gott uns mit solcher weltweiten Leiderfahrung zeigen will, dass wir anders, nämlich friedlicher und gesünder leben sollen. Was meinst Du dazu?« Aber alle vier lehnten diese Position wieder vehement ab und zeigten überhaupt kein Verständnis für eine solche »Erziehungsmaßnahme Gottes«. Aber dass wir angesichts des Corona-Leidens gesünder, friedlicher, umweltbewusster und mitmenschlicher als vorher leben sollten, begrüßten alle. »Ich glaube zwar nicht an Gott«, meinte Sofia, »aber natürlich finde ich ein gesundes und friedliches Leben, mit oder ohne Anweisung von Gott, erstrebenswert.« Und Amelie wies den Gedanken, dass wir durch Leiderfahrungen erst aufwachen, zurück: »Wir können doch auch ohne Krise gesünder und friedlicher leben«, meinte sie. – Das weltweite Leiden an Corona wurde also von allen Befragten, den gläubigen und den nichtgläubigen, mit Gott überhaupt nicht in Zusammenhang gebracht. Sie wehrten sich massiv dagegen, solchen Zusammenhang zu sehen und lehnten
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jede metaphysische Erklärung ab. Sie wollten alles, was mit Leiden zu tun hat, immanent erklären. Meine 5. Frage lautete: »Einige glauben, dass es teuflische Kräfte sind, welche die Corona-Epidemie in Umlauf gebracht haben. Könnte das Deiner Meinung nach der Fall sein?« Wie erwartet lehnten alle vier Befragten diese Position radikal ab, aber mit verschiedenen Begründungen. Amelie meinte: »Jedes Leid, z. B. Corona, hat ja auch positive Seiten. Deshalb kann es nicht ein Teufel gemacht haben.« Max und Elisabeth argumentierten: »Ich glaube nicht an den Teufel. Den gibt’s nicht!« Und Sofia hielt Teufel für eine Metapher: »Menschen handeln wie Teufel.« – Die vier lehnten jede Vorstellung von Teufeln und satanischen Mächten ab, erst recht als Verursacher von Leid. Meine 6. Frage lautete: »Manche sagen: ›Nur wer selbst einmal gelitten hat, kann mit Kranken, z. B. Corona-Kranken mitleiden. Denn die Fähigkeit, mitzuleiden, setzt voraus, dass man selbst Leid erfahren hat.‹ Stimmt das?« Alle meinten, dass man sich in das Leid anderer hinein fühlen und hineinversetzen könne, auch ohne selbst zu leiden. Mitleidsfähigkeit sei nicht an eigene Leiderfahrungen geknüpft. »Man kann ja auch Mitgefühl haben, auch wenn es einem selber noch nicht passiert ist«, meinte Amelie. Max stellte fest: »Auch wenn es mir gut geht, bin ich traurig, wenn es anderen schlecht geht.« Sofia allerdings räumte ein: »Bis zu einem bestimmten Grad ist zwar jeder Empathie-fähig. Aber bestimmte Sachen kann man nicht nachvollziehen, bis man sie wirklich selbst erlebt hat.« – Die Befragten glaubten also nicht, dass man ähnliches Leid erfahren haben muss, um mit Leidenden mitleiden zu können. Und deshalb sehen sie erst recht keinen möglichen Sinn in einem Leiden wie der Corona-Pandemie. Ja, ich gewann den Eindruck, dass sie sich hüten, in solchem Leid irgendeinen Sinn zu erkennen. Meine 7. Frage lautete: »Viele verzichten auf eine Erklärung, warum Menschen leiden, z. B. unter der Corona-Pandemie, weil sie der Meinung sind, dass es keine Erklärung geben kann. Was meinst Du dazu?« Alle vier Befragten nannten biologische Erklärungen. Sie meinten alle, dass man das Leid durch den Virus biologisch erklären könne. Nur Amelie und Sofia gingen weiter und meinten, dass es auf die Frage »Warum trifft ein solches Pandemie-Leiden die Menschen?« wohl keine Antwort geben könne. Amelie gestand: »Man kann nicht erklären, warum Corona ausgebrochen ist; es gibt keinen bestimmten Grund.« Und Sofia meinte: »Man kann eine Begründung finden, muss es aber nicht.« – Naturwissenschaftliche Erklärungen hielten alle Befragten für möglich, existentielle aber nicht. Die Frage nach dem ›Warum?‹ solchen Leids halten sie für unerklärbar. Mag das der Grund sein, warum Kinder und Jugendliche diese ›Warum‹-Frage gar nicht mehr stellen? Es gibt ja keine
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Antwort darauf. Soll man als Lehrkraft aber darauf bestehen, diese Frage zu stellen? Meine 8. Frage lautete: »Manche religiösen Menschen meinen, dass diejenigen, die leiden und möglicherweise sterben, z. B. an Covid 19, Vorbilder für die Überlebenden sein sollten, künftig vorsichtiger mit Natur, Klima und Menschenleben umzugehen. Insofern hätten Leid und Tod der Erkrankten einen Sinn. Was hältst Du davon?« ›Nein‹ war die einhellige Antwort aller Befragten. »Menschen müssen nicht leiden, erst recht nicht sterben, damit die Überlebenden vernünftiger werden«, meinte Amelie. Und Elisabeth unterstützte das: »Ich finde, der Tod hat niemals Sinn; es ist einfach nur traurig.« Und Sofia urteilte: »Ich finde nicht, dass man das Leiden dieser Menschen einfach akzeptieren sollte, weil es ja angeblich einen Sinn hat. Sondern man muss helfen, um ihnen eine Überlebenschance zu geben.« – Nochmals lehnten es die jungen Jugendlichen entschieden ab, im Leiden irgendeinen Sinn zu erkennen. Die Idee von einem stellvertretenden Leiden lehnten sie alle brüsk ab. Ich fasse meine Ergebnisse, wie die Befragten auf Berichte von Leiderfahrungen während der Corona-Pandemie reagierten, zusammen: – Sie lehnten jeden Zusammenhang zwischen Gott und dem Leid ab, und zwar sowohl gläubige als auch nichtgläubige Jugendliche. – Ebenso lehnten sie jeden Zusammenhang zwischen einer metaphysischen dämonischen Macht und dem Leid ab. – Dass Leiden einen verborgenen Sinn haben könnte, wiesen sie immer wieder entschieden zurück. Die ›Warum‹-Frage stellen sie nicht (mehr). – Allerdings unterstützten alle die Vorstellung, dass Leiden zum Mitleiden, Nachdenken und Besinnung anregen könnte, nicht müsste. Aber das verleihe dem Leid keinen Sinn. Es animiere allerdings zu einem neuen Umgang mit Mitmenschen, Tieren, Pflanzen und Klima. – Das Corona-Leiden hielten zwei Befragte für eine Folge bzw. ein Karma unseres schlechten Umgangs mit Natur und Menschen. Die beiden anderen sahen keinen Zusammenhang zwischen unserem schöpfungsfeindlichen Verhalten und dem Leid.
5.
Ergebnis und didaktische Konsequenzen
Die beiden Untersuchungen (in der Schule mit 9- bis 13-Jährigen und im Interview mit vier 12/13/15-Jährigen) führten zu folgendem – nicht repräsentativem – Ergebnis:
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– Alle Kinder sahen keinen Zusammenhang zwischen Gott und Leid. Weder die Religiösen noch die Nichtreligiösen klagten Gott an, warum er Leid zulasse, oder verteidigten ihn, weil er in Schutz genommen werden müsse. – Ebenso sahen alle Kinder keinen Zusammenhang zwischen metaphysischen dämonischen Mächten und dem Leid. Viele lehnten die Existenz von Teufeln und Dämonen grundsätzlich ab. – Alle Kinder erkannten im Leid keinerlei Sinn. Dass Leid mitleidsfähig macht und zum Überdenken des bisherigen Lebensweges führt, sei möglich, verleihe dem Leid aber keinen Sinn. – 9-Jährige fragten intensiv nach schuldigen Personen. 12/13-Jährige dagegen fragten auch nach schuldigen Strukturen und Verhältnissen. – Und: 9-Jährige zeigten sich entsetzt und erschüttert über das Leiden in der Shoa; während 12/13-Jährige das Leiden in der Corona-Pandemie etwas gelassener hinnahmen. Das lag natürlich auch an der Verschiedenheit des Leids. – Die ›Warum‹-Frage stellte niemand direkt. Nur einige Ältere stellten sie, wie wir sahen, indirekt. Dieses Ergebnis halte ich für erstaunlich. Die 9- bis 12/13-, ja 15-Jährigen reagierten ähnlich auf Berichte von unsäglichem Leid. Metaphysik spielte für sie keine Rolle. Die ›Warum‹-Frage stellte niemand direkt. Und einen möglichen Sinn des Leidens lehnten alle entschieden ab. Den einzigen Unterschied zwischen 9- und 12/13-Jährigen sah ich darin, dass die Jüngeren nach schuldigen Personen, die Älteren dagegen nach schuldigen Strukturen fragten; und dass die Jüngeren sich emotional erschütterter zeigten als die Älteren, was freilich am Unterschied zwischen Shoa-Leid und Pandemie-Leid liegen kann. Für die Thematisierung von Leid in diesen Altersstufen hat dieses – freilich nicht-repräsentative – Ergebnis für mich folgende didaktische Konsequenzen, die natürlich wiederum keinen repräsentativen Charakter tragen: – Obwohl die meisten Kinder nicht im existentiellen Sinn fragen »Warum gibt es dieses Leid?«, sondern nur in naturwissenschaftlichem oder soziologischem Sinn, plädiere ich dafür, diese existentielle Frage an sie heranzutragen. Vielleicht könnte man den Älteren Sinndeutungen anbieten, über die diskutiert werden sollte: »Zufall? Schicksal? Fügung? Naturgesetz? Selbstverschuldung? Schuldverursachung?« – und dies auch im Zusammenhang mit den jeweiligen Gesellschaftsstrukturen. Während man mit den Jüngeren, die nach schuldigen Personen fragen, diese schuldigen Personen nach deren Familie, Charakter und Herkunft hinterfragen und beleuchten könnte. – Sollten Lehrkräfte, Eltern, Großeltern o. a. auch die Transzendenz- und Theodizée-Frage an die Kinder herantragen, obwohl diese solche Fragen gar nicht stellen? Im Religionsunterricht sollten diese Fragen m. E. thematisiert werden. Die Vorstellungen vom strafenden oder belohnenden Gott, von Gottes
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Erziehungsmaßnahmen und von Sühneopfern gegenüber Gott sollten – je nach Altersgruppe – als historisch relevante Vorstellungen vorgetragen werden: So haben Menschen früher geglaubt, z. T. aber auch noch heute. Die Vorstellung von einem mitleidenden und tröstenden Gott dagegen sollte als aktuell und hilfreich eingebracht werden. Freilich: Kinder erwarten Trost, Mitleid und Hilfe von Eltern, Familie, Freunden*innen und gegebenenfalls Ärzten*innen und Pflegern*innen, nicht aber von Gott. Aber manche sind offen für den Glauben: Gott schickt Trost ›durch‹ Eltern, Familie, Ärzte und Pfleger. Die Begleitung der Ghetto-Kinder durch Janusz Korczak bis in den Tod hatte die Schüler*innen fasziniert. – Als ebenfalls historischer Glaube könnte die Vorstellung eingebracht werden, dass Teufel und dämonische Kräfte Leid verursachen. Ob die Lehrkraft erwähnt, dass es diesen Glauben auch heute noch gibt, bleibt ihrem Feingefühl überlassen. – Einen Sinn erkennen alle Kinder im Leiden nicht. Daran sollten sich alle Lehrkräfte und Erzieher*innen halten und nicht versuchen, vielleicht doch einen verdeckten Sinn zu entdecken. Aber dass Leid eine Folge von Verhaltens- und Umgangsformen sein kann und dass wir aufwachen und zu einem anderen Lebensstil bereit sein müssten, sollte allen Kindern klar werden. Das aber verleiht dem Leid, so meinen die Kinder und Jugendlichen, keinen Sinn. – Die Lehrkräfte und Erzieher*innen sollten die Kinder auffordern, so weit wie möglich Leidenden zu helfen, mitzuleiden, mitzufühlen und zu trösten – soweit es in deren Möglichkeiten und Kräften steht. Das könnte im Religionsunterricht sogar eingeübt werden: mit Sprachbildern aus Psalmen, mit geeigneten Bilderbüchern, mit Figuren und Puppen. Ich komme zu der Einsicht, dass 9/10- und 12/13-Jährige ähnliche Reaktionen auf Berichte von schwerem Leid zeigen, und zwar sowohl auf Berichte über schweres Leid in der Shoa als auch auf Berichte über schweres Leid z. B. in der gegenwärtigen Corona-Pandemie. Das sollten Lehrkräfte und Erzieher*innen, welche Einzelschicksale aus der Shoa mit Kindern erarbeiten, didaktisch berücksichtigen. Die beobachteten Reaktionen von Kindern und jungen Jugendlichen auf Leiderfahrungen sind, so bin ich überzeugt, zeitbedingt; denn es gab Zeiten, in denen Kinder intensiv nach Gott und Sinn im Zusammenhang mit Leid fragten. Es bleibt abzuwarten, wie nächste Kinder-Generationen reagieren und besonders, wie sie auf das Grauen der Shoa reagieren. Für eine Antisemitismus-Prävention muss die Erinnerung an die Shoa bei Kindern hochgehalten werden, besonders in der Grundschule.
Religionsdidaktische Impulse einer Antisemitismus-Prävention für die Praxis
Joachim Willems / Ariane Dihle
›Identität‹ als Problem? Judentum im evangelischen Religionsunterricht
1.
Problembeschreibung: Identitätsbildung als Aufgabe von Religionsunterricht? Einblicke in Religionsschulbücher »Einerseits ermöglicht der Religionsunterricht identifikatorisches Lernen und hilft so zur Identitätsbildung; ein konfessionell orientierter Religionsunterricht erlaubt Identifikation. Andererseits fördert die gleichzeitige Öffnung des Religionsunterrichts das Verstehen anderer Auffassungen und die Verständigung mit anderen Menschen.«1
Mit diesen Worten beschrieb die Evangelische Kirche in Deutschland 1994 die doppelte Aufgabe des Religionsunterrichts in der Denkschrift Identität und Verständigung, deren Grundgedanken in einer weiteren Denkschrift 2014 (Religiöse Orientierung gewinnen) aufgenommen, bekräftigt und teilweise weitergeführt worden sind.2 Weitestgehend dürfte dies als Konsens in der deutschsprachigen evangelischen und auch katholischen Religionspädagogik gelten: Schüler*innen erhalten im Religionsunterricht die Möglichkeit, ihre eigenen religiösen (oder ggf. auch säkularen weltanschaulichen) Positionen zu klären und weiterzuentwickeln und in diesem Sinne an ihrer Identität zu arbeiten. Zugleich geschieht diese Identitätsbildung im Miteinander und Gegenüber zu anderen Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen, mit denen eine Verständigung angestrebt wird. Der Religionsunterricht im Allgemeinen und das ökumenische und interreligiöse Lernen im Besonderen verbinden nach dieser Vorstellung also beide Bildungsziele. Das suggeriert ein einigermaßen harmonisches Zusammenspiel von Identität und Verständigung – sei es in der Variante von »Identität vor Verständigung«, wobei davon ausgegangen wird, dass Heranwachsende zunächst eine eigene religiöse Identität ausbilden müssten, damit sie überhaupt mit einer Position in den Dialog gehen könnten, sei es in der 1 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven eines Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1994, 60. 2 Vgl. Ebd.
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Variante von »Identität durch Verständigung«, wobei die Vorstellung ist, dass sich durch den Dialog mit religiös oder konfessionell Anderen eine eigene Position herausbilde.3 In beiden Varianten ist Identität letztlich ein positiv besetzter Begriff. Dem steht ein Blick auf Identität entgegen, der davon ausgeht, dass Identitäten hergestellt werden »innerhalb spezifischer diskursiver Formationen und Praktiken wie auch durch spezifische Strategien« und »auf der Grundlage von Differenz konstruiert« sind. Deshalb könne »die ›positive‹ Bedeutung jeder Bezeichnung – und somit ›Identität‹ – nur über die Beziehung zum Anderen, in Beziehung zu dem, was sie nicht ist, zu gerade dem, was von ihr ausgelassen ist, konstruiert werden«, also »in Beziehung zu dem, was das konstitutive Außen genannt wurde«4. Mit Blick auf den Religionsunterricht stellt sich dann die Frage, ob im Unterrichtsgeschehen, speziell in Unterrichtsmaterialien, Identitätsbildungen durch Abgrenzung nahegelegt werden. In diesem Kontext liegt der Fokus auf dem Judentum sowie Jüdinnen und Juden im evangelischen Religionsunterricht in Deutschland. An Beispielen soll gezeigt werden, wie eine Antisemitismus-Prävention, deren Bedeutung innerhalb der religionspädagogischen Community wohl kaum jemand bestreiten würde, teilweise konterkariert wird durch Unterrichtsmaterialien, die problematische Bilder von Judentum im Gegenüber zum Christentum zeichnen. Wichtig ist uns, dass unsere kritischen Anmerkungen nicht darauf abzielen, den Verfasser*innen der Materialien Antisemitismus zu unterstellen. Wie in anderen Fällen von Diskriminierung, so gilt auch mit Blick auf Antisemitismus: Kategoriale Einteilungen und damit verbundene Zuschreibungen sind als Teil kollektiver Wissensbestände und gesellschaftlich vermittelter Deutungen die Voraussetzung für Diskriminierung.5 Weil auch Menschen, die nicht diskriminierend agieren wollen, an solchen kollektiven Wissensbeständen partizipieren, diskriminieren sie dennoch immer wieder (unter Umständen ohne es zu bemerken). In diesem Sinne betont Judith Butler, dass rassistische Rede zirkuliert und ein Subjekt benötigt, um geäußert zu werden, dass sie aber mit dem Subjekt, das spricht, weder beginnt noch endet.6 Insofern werden Subjekte in Diskursen konstituiert und dabei sozial innerhalb von Dominanzstrukturen positioniert. Antisemitismus-Prävention kann daher nicht alleine Aufgabe der Schule sein, etwa indem Schüler*innen ›richtige‹ Haltung beigebracht oder die ›richtigen‹ Einstellungen 3 Vgl. zu den beiden Formeln von »Identität vor bzw. durch Verständigung« Englert, Rudolf: Religionspädagogische Grundfragen. Anstöße zur Urteilsbildung, Stuttgart 22008, 84. 4 Stuart Hall, Wer braucht ›Identität‹?, in: Stuart Hall, Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg 2004, 171. 5 Vgl. Albert Scherr, Soziologische Diskriminierungsforschung. in: Albert Scherr/Aladin ElMafaalani/Gökcen Yüksel (Hg.), Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden 2017. 6 Vgl. Judith Butler, Köper von Gewicht. Die Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M. 1997, 34.
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›vermittelt‹ werden. Da sich Schule in einem gesellschaftlichen Kontext befindet, strahlt dieser Kontext in die Schule hinein; Schule wäre mit der Erwartung überfordert, durch Unterricht gesellschaftliche Ungleichheiten zu beseitigen. Worum es aber gehen muss, ist, dass Lehrkräfte zum einen im Zusammenleben der Schule diskriminierende Strukturen erkennen und abbauen, und zum anderen, dass sie selbst mit ihren Schüler*innen altersangemessen Formen und Bedingungen von Diskriminierung reflektieren. In diesem Sinne sollen die folgenden Überlegungen vor allem für einen reflektierten Umgang mit Unterrichtsmaterialien sensibilisieren.
2.
Konkretionen
2.1.
Othering – Die vermeintliche Andersartigkeit der Anderen im Gegenüber zum ›Wir‹
Das Phänomen der Bildung einer ›eigenen‹ Identität über die Abgrenzung von ›anderen‹ Identitäten wird in verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Disziplinen als ›Othering‹ beschrieben und kritisiert, also als die Produktion des ›Anderen‹ oder ›Fremden: »Das entscheidende Moment von Othering liegt darin, dass in einer wirkmächtigen Verschränkung und im Zusammenspiel von hegemonialen alltäglichen, fachlichen, wissenschaftlichen und politischen Diskursen und Bildern, mit Mitteln der Zuschreibung, Essentialisierung und Repräsentation eine bestimmte Gruppe erst als solche, dann als Andere diskursiv hervorgebracht und identitär festgeschrieben wird.«7 Dieses »Andere« werde dann »als komplementärer Gegenpart und in binärer Opposition zu einem hegemonialen ›Wir‹ konstituiert«. Dies geschehe »im Kontext von Macht- und Herrschaftsverhältnissen«, so dass über »den Prozess der Konstruktion der Anderen und die damit verbundene Diskriminierung und Abgrenzung […] ebenso eine Selbstvergewisserung und Absicherung einer privilegierten Position sowie der hegemonialen sozialen Ordnung«8 erfolge. Im Blick auf die Tradition des christlichen Antijudaismus kann man es als eine Form des Othering bezeichnen, wenn das Bild ›des Juden‹ als komplementär zum Selbstbild ›als Christ‹ gezeichnet wurde, zum Beispiel mit dem Vorwurf derer, die nach eigenem Verständnis Jesus, dem Christus, nachfolgen, an ›die Juden‹, sie seien als ›Gottesmörder‹ für dessen Tod verantwortlich. Zentrales Anliegen des Antijudaismus ist es, »den Nachweis zu führen, dass das Judentum spätestens 7 Christine Riegel, Bildung – Intersektionalität – Othering. Pädagogisches Handeln in widersprüchlichen Verhältnissen, Bielefeld 2016, 52. 8 Ebd., 53.
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nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 keinerlei Anspruch mehr auf die biblischen Traditionen hat«9. Dies geht mit einer bestimmten Auslegung der Hebräischen Bibel einher, die schon von Tertullian entwickelt wurde. In seiner Schrift »Gegen die Juden« (Adversus Iudaeos) legt er »eine durch ›Ablösung‹ und ›Enterbung‹ gekennzeichnete Geschichtskonzeption vor, nach der laut göttlicher Erwählung das ältere Volk dem jüngeren Volk dienen und das jüngere Volk das ältere übertreffen muss. Tertullian beruft sich dafür auf die Geschichte von der Geburt Esaus und Jakobs (Genesis 25,23), nach der der Ältere dem Jüngeren dienen wird. Die Juden seien in ihrer Abwendung von Gott zu Esau geworden. Weil nun das jüngere Volk der Würdigung der göttlichen Gnade, von der Israel wegen seines Götzendienstes ausgeschlossen ist, teilhaftig wurde, hat es somit das ältere übertroffen. Das jüdische Volk ist deshalb Tertullian zufolge dem der Christen unterworfen. […] Die Kirche hat die Synagoge besiegt und tritt ihr Erbe an.«10 Diese Geschichtskonzeption findet sich in einem verbreiteten Schulbuch für die Klassenstufen 5 und 6 wieder.11 Im Religionsbuch 1 des Cornelsen-Verlags ist das Kapitel, das sich mit der Geschichte Israels beschäftigt, überschrieben mit »Orientierung auf einem langen Weg«12. In diesem Kapitel wird zunächst die Geschichte Israels vom 1800 v. Chr. bis 30 n. Chr. tabellarisch dar- und einem individuellen Lebenslauf unserer Gegenwart gegenübergestellt.13 Dieser Lebenslauf des »11-jährige[n] Marcel aus Dortmund« ist deutlich evangelisch markiert durch die Taufe im Säuglingsalter, das Lieblingsfach »Reli«, »die Pfarrerin« als wichtige Bezugsperson und »die Jugendgruppe in unserer Kirchengemeinde«14. Die Idee dahinter ist offensichtlich, dass die Schüler*innen die Bedeutung vor allem der alttestamentlichen Propheten erschließen sollen, die das Volk Israel so begleitet hätten, wie Heranwachsende durch ihre Eltern, Verwandte, Freundinnen und Freunde u. a. begleitet würden. Besonders deutlich wird das in der älteren Ausgabe von 2001, die zu Beginn des Kapitels ausdrücklich feststellt: »Ein langer Weg durch die Geschichte – begleitet von vielen, vor allem den Propheten.«15 Israel erscheint damit als Quasi-Person mit einer
9 Rainer Kampling, Antijudaismus. in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin/ New York 2010, 10. 10 Matthias Blum, Altes Testament. in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin/ New York 2010, 7f. 11 Vgl. Ulrike Baumann/Michael Wermke (Hg.), Religionsbuch 5/6, Berlin 2001. 12 Ebd., 125. 13 Vgl. Ebd., 126f. 14 Ebd., 127. 15 Ebd., 108.
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Biographie, letztlich durch die Parallelsetzung mit Marcel auch als noch quasi kindlich. Auffällig ist, wie negativ die Geschichte Israels und seine herausgehobenen Protagonisten dargestellt werden. Über David heißt es: »David wird neuer König in Israel; er besiegt die Feinde und gründet die Hauptstadt Jerusalem; er lässt morden und begeht Ehebruch.« Ähnlich einseitig kritisch wird Salomo dargestellt: »er lässt Paläste und den Tempel bauen; er erhebt hohe Steuern und lässt Sklaven arbeiten.« Der nächste König, der erwähnt wird, ist Ahab, der »den BaalKult zu[lässt]«, »seine Paläste erweitern« will und Naboth umbringen lässt. Der vierte König, von dem berichtet wird, ist Josia, der »im Reichtum [lebt]; das einfache Volk wird immer ärmer«. Nach den Niederlagen gegen die Assyrer und die Babylonier sowie die Rückkehr der »Juden […] in ihr Land« und der erneuten Eroberung, nun durch die Römer, endet die Geschichte Israels dieser Darstellung nach mit Johannes dem Täufer, Jesus und dessen Jüngern.16 Diese Darstellung ist schon aus exegetischer Sicht problematisch, weil eine Historizität der biblischen Berichte suggeriert wird, beginnend mit Abraham und Sara, die etwa ins Jahr 1800 v. Chr. datiert werden. Vor allem aber ist das hier entworfene Bild von Geschichte problematisch, weil es mit einer traditionell antijudaistischen Sicht konvergiert: Abwertung der Gestalten der Hebräischen Bibel und ein Ende Israels in dem Moment, in dem Jesus die Bühne der (Heils-) Geschichte betritt, um zu erfüllen und zu überbieten, was die Propheten des ›alten Bundes‹ angekündigt haben. Die entsprechende Überschrift heißt: »Das Reich Gottes ist da – Jesus von Nazareth«17. Erst und nur auf der abschließenden Doppelseite18 kommt Israel als Größe der Gegenwart in den Blick: »Gott in allem respektieren und vertrauen – so könnte man diesen Weg des Glaubens zusammenfassen. Aber – was ist daran eigentlich so wichtig, dass Israel an diesem Weg durch so viel Leid bis heute festgehalten hat? Oder dass Jesus für Gott und sein Reich das Leben gab?«19 Da »Israel« im gesamten Kapitel nicht mit Judentum in Verbindung gebracht wurde, liegt es hier allerdings eher nahe, an die Christen als das ›neue Israel‹ zu denken, das das ›alte Israel‹ in traditionell antijüdischer Lesart überwunden und überboten hat.
16 17 18 19
Vgl. Ebd., 126. Ebd., 136. Vgl. Ebd., 138f. Ebd., 138.
248 2.2.
Joachim Willems / Ariane Dihle
Essentialisierungen und Ausblendung multipler Identitäten
Antisemitismus wie andere Formen von Diskriminierung sind in der Regel verbunden mit essentialisierenden Zuschreibungen, die davon ausgehen, dass es eine klar benennbare innere Natur, eine Essenz einer Person, Kultur oder Religion gebe. Dabei geschieht so etwas wie eine doppelte Homogenisierung: die Gruppe, der eine Person zugeordnet wird (›die‹ Juden, ›die‹ Muslime etc.), wird als in sich homogen imaginiert; die innerhalb der Gruppe bestehenden Unterschiede werden ausgeblendet. Zugleich wird so getan, als könnte man die jeweilige Person einer einzigen Gruppe zuordnen, als sei also jemand ausschließlich ›Jude‹ – und nicht auch noch eine Person mit einem bestimmten Beruf, einer Rolle innerhalb einer Familie und anderen Gemeinschaften, von anderen oder sich selbst zugeschriebenen Identität als Mann oder Frau, eine Person mit bestimmten Hobbys und Vorlieben, deren Vorstellungen und Handlungen durch historische und kulturelle Kontexte geprägt sind. Religionsunterricht steht immer vor der Herausforderung, Personen nicht auf eine Religionszugehörigkeit zu reduzieren und sie gar als »Marionetten« einer Religion zu inszenieren. Als ein »Marionettenmodell von Kultur« beschreibt Rudolf Leiprecht eine Vorstellung, die sich auch auf Religion reformulieren lässt: Gemeint ist dann, dass eine einzelne Person genau einer Kultur bzw. Religion angehöre; ihre Lebensäußerungen würden dann ausschließlich als Ausdruck dieser Kultur oder Religion gelesen, von der sie determiniert sei, an deren Fäden sie also hängen würde. Dass Kulturen oder Religionen in sich heterogen sein könnten und durch das Handeln von Menschen konstituiert und permanent verändert werden, gerät so aus dem Blick.20 Die Ausblendung von heterogenen Identitäten fördert Othering und läuft der Intention von Antisemitismus-Prävention entgegen. In Schulbüchern werden in Kapiteln zum Judentum oftmals kindliche Figuren – sie heißen ›Ruth‹21, ›Elias‹22 oder ›Ben‹23 – eingeführt, die den Schüler*innen 20 Vgl. Rudolf Leiprecht, Alltagsrassismus. Eine Untersuchung bei Jugendlichen in Deutschland und den Niederlanden, Münster 2001, 31. Dies ist etwas, was Kinder im Grundschulalter erst erlernen. Weithin wird angenommen, dass Kinder erst in der formal-operationalen Phase Religion als »soziale Konstruktionen begreifen und nicht in einer biologischen Domäne oder auf einer wie auch immer gearteten ontologischen Ebene ansiedeln […].« (Gerhard Büttner/ Veit-Jakobus Dieterich, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, Göttingen 2016, 216) Der Sprachgebrauch in der Schule hat jedoch prägenden Vorbildcharakter und fördert das Verständnis dafür, dass Religion sozial verfasst ist. 21 Martin Schreiner/Ulrich Gräbig (Hg.), Mitten ins Leben. Religion 1, Berlin 2007, 86. 22 Jasmin Groß/Doris Hohmann/Andreas Nicht/Wolfhard Schweiker, Stark in … Religion 5/6, Stuttgart 2019, 78. 23 Karlo Meyer, Fünf Freunde fragen Ben nach Gott. Begegnungen mit jüdischer Religion in den Klassen 5–7. Göttingen 2008 in: Georg Langenhorst/Elisabeth Naurath (Hg.), Kindertora
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eine lebensnahe Identifikationsmöglichkeit anbieten, eine authentische fiktive Begegnung vermitteln und das Judentum als zeitgenössisch gelebte Religion zeigen sollen. Diese Figuren führen oftmals durch die Schulbuchkapitel und vermitteln Informationen über ihre Religion. Dabei bleiben sie jedoch häufig bis auf ihre Religion ungefüllte Figuren. Sie sind Platzhalter des Judentums und keine beispielsweise Fußballbegeisterte, von ihrem kleinen Bruder genervte, Chemie liebende, reitende 10jährige, die daneben auch noch Jüdin oder Jude sind. Beispielhaft sei dies an dem Kapitel »Weltreligionen: Das Judentum« aus dem Arbeitsbuch »Stark in Religion 5/6«24 illustriert. Hier unterhalten sich die Kinder »Jenni« und »Elias«. »Jenni ist Christin. Elias ist Jude«25. Die Schüler*innen erfahren nichts von Elias über seine Religion hinaus. Er bleibt eine leere Figur. Auch über seine Religion spricht er verallgemeinernd und nicht altersangemessen authentisch. Er klingt nicht wie ein 10- bis 12jähriger, wie es die Zeichnung vermuten lässt, sondern wie ein Religionswissenschaftler, wenn er beispielsweise erklärt: »[…] Das hebräische Wort ›Tora‹ bedeutet Unterweisung. Die Tora enthält die Gebote und Verbote des Judentums. Sie ist die Grundlage des jüdischen Glaubens. Sie ist der Wegweiser für das Leben der gläubigen Juden. In der Synagoge, dem Gebetshaus der Juden, wird regelmäßig aus der Tora vorgelesen. In jeder Synagoge gibt es handgeschriebene Pergamentschriftrollen mit den Texten der Tora. Die Texte der Tora gelten für die Juden als heilig. […]«26.
Die Ausführungen, Sachtexte getarnt in Form eines Pseudo-Dialogs zwischen Kindern, setzen sich in dieser Form fort. Das Schulbuchkapitel ist nicht antisemitisch, doch unterstützt es Othering durch Essentialisierung: Die wenigsten Grundschüler*innen könnten in dieser Form Auskunft über ihre Religion geben. Hierdurch wird zum einen die Bereitschaft zur Perspektiven-Übernahme und Empathie für eine jüdische Sichtweise unwahrscheinlicher. Zum anderen wird durch die allgemein gehaltene und normativ geladene Aussage eine interne Homogenität ›des Judentums‹ suggeriert, die ausblendet, dass es durchaus Jüdinnen und Juden gibt, die den Texten der Tora keine Heiligkeit zuschreiben. Hier wird die Chance vergeben, am Beispiel eines exemplarischen Kindes eine exemplarische Sichtweise zu vermitteln, die aber eben diejenige einer konkreten Person ist.
Kinderbibel Kinderkoran. Neue Chancen für (inter-)religiöses Lernen, Freiburg im Breisgau 2017. 24 Groß u. a., Religion 5/6, 75–86. 25 Ebd., 78. 26 Ebd., 79.
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Ähnliches zeigt sich in dem Schulbuch »Mitten ins Leben Religion 1«27. Hier wird die Figur des Mädchens »Ruth« eingeführt, das Probleme mit der bevorstehenden Klassenfahrt hat.28 Sie ist besorgt, weil sie ausgelacht werde und die Klassenfahrt an einem Samstag beginne: »vielleicht darf ich gar nicht mitfahren. Samstag ist doch unser Feiertag. Meine Mutter sagt, da soll die Familie zusammen sein.«29 Religion wird hier in problematischer Dimension als etwas Einschränkendes, von außen (der Mutter) Aufgezwungenes eingeführt. Wenn »Ruth« dann ›ihre Religion‹ darstellt, spricht sie größtenteils von einem homogenen ›Wir‹: »Wir Juden glauben an einen einzigen Gott«30, »Den Sabbat feiert jede jüdische Familie am Samstag«31, »Sehr gern feiern wir Juden Chanukka, das Tempelweihfest, das auch Lichterfest heißt.«32 Dass es jüdische Familien gibt, die weder den Sabbat noch gerne Chanukka feiern, wird ausgeblendet. Nur an einzelnen Stellen gelingt es dem Text, einen individuelleren Zugang anzubieten, wenn »Ruth« in der Ich-Form spricht und eine bestimmte Praxis als typisch für ihre Familie beschreibt: »Den restlichen Sabbat verbringen wir in der Familie, keiner arbeitet, und ich freue mich ganz besonders darauf.«33 Aufgrund dieser Formulierung ist es umso unklarer, warum auf der Einführungsseite Normen von außen, die die Mutter vertritt, angeführt werden: Vielleicht möchte auch Ruth selbst nicht am Sabbat auf Klassenfahrt fahren – sei es aus religiösen Gründen, aus familiären, weil sie bei dem Familienfest dabei sein möchte oder ganz individuellen, weil sie beispielsweise am Abend eine Fernsehsendung schauen will. Das Schulbuch bietet Religion als einziges Begründungsmuster an. Noch deutlicher aber wird die Essentialisierung zum Ende des Kapitels. Auf einer Doppelseite wird die Klassenfahrt reflektiert, die »sehr gut gelaufen«34 ist. Ein Schüler meldet sich: »Besonders gut gefallen hat mir, dass wir nicht gegrillt haben, sondern Eis gegessen haben, sodass auch Ruth und Fatma mitessen konnten.«35. Im Kontext des Lieds »Herr, gib mir Mut zum Brücken bauen« finden sich dann die Arbeitsaufträge »Welche Brücken kannst du bauen?« und »Welche Brücken sollten muslimische oder jüdische Menschen zu dir bauen?«36. Hier werden zum einen Menschen, die nicht der christlichen (Mehrheits-)Religion angehören, als die ›Anderen‹ markiert, die von einer vermeintlichen Normalität abweichen, durch ihre Religion eingeschränkt und deshalb auf die Rücksicht und Hilfe der 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36
Vgl. Gräbig/Schreiner, Mitten ins Leben, 86–99. Vgl. Ebd., 86. Ebd., 86. Ebd., 88. Ebd., 91. Ebd., 91. Ebd., 90. Ebd., 97. Ebd., 96. Ebd., 97.
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Mitschülerinnen und Mitschüler angewiesen sind. Zum anderen wird der Umgang mit einer vermeintlich homogenen Gruppe aufgrund ihrer Religion zum Problem erklärt und gemacht.
2.3.
Die Frage der Repräsentation: Wer spricht für wen?
Ein zentrales Anliegen von Betroffenen im Kampf gegen gruppenbezogene Diskriminierung ist es, angesichts von gesellschaftlichen Zuschreibungen und Stereotypen zu versuchen, »die verbreiteten Bilder zurück[zu]weisen und stattdessen neue und vor allem eigene Repräsentationen der Gruppe ein[zu]bringen«37. Daran mag man kritisieren, dass der Versuch, Bilder zu korrigieren, mit einer Verschleierung institutioneller Diskriminierung einhergehen kann, und dass die Gefahr besteht, Machtstrukturen innerhalb der jeweiligen Gruppe zu verfestigen, wenn einflussreiche Führungspersonen für die Gruppe als Ganze sprechen, so als sei diese Gruppe in sich homogen.38 Im Blick auf die Repräsentation von Judentum in evangelischen Religionsbüchern wäre es daher wichtig, gerade den Perspektiven von jüdischen Kindern Raum zu geben. Vordergründig geschieht dies, wenn, wie in 2.2 bereits ausgeführt, jüdische Kinder konstruiert werden, die durch die Kapitel führen. Jedoch scheinen hier oftmals eher christliche Religionsbuchautor*innen zu sprechen, als tatsächlich jüdische Schulkinder. Gerade diese Konstruktionen vermeintlicher Perspektiven jüdischer Kinder blenden authentische Perspektiven aus. Diese fiktiven Figuren berichten umfassend über ihre Religion. In Kontrast hierzu berichten Jüdinnen und Juden vielmals jedoch, sich aus Angst vor Antisemitismus nicht als Jüdin oder Jude ›outen‹ zu wollen und schildern die Furcht vor einem Fremd-Outing.39 Diese Furcht zu thematisieren, indem zumindest auch Personen zu Wort kommen, die nicht als Jüdin oder Jude von ihrer Religion berichten oder in einen Dialog treten wollen, wäre im Sinne einer Antisemitismus-Prävention sinnvoll, weil so das Problem des Antisemitismus tatsächlich in den Blick käme.40
37 Nancy Fracer, Zur Neubestimmung von Anerkennung, in: Hans-Christoph Schmidt am Busch/Christopher F. Zurn (Hg.), Anerkennung, Berlin 2009, 203. 38 Vgl. Ebd., 205f. 39 Vgl. Julia Bernstein u. a., »Mach mal keine Judenaktion!« Herausforderungen und Lösungsansätze in der professionellen Bildungs- und Sozialarbeit gegen Antisemitismus, im Rahmen des Programms »Forschung für die Praxis«, Frankfurt am Main 2018, online: www. frankfurt-university.de/antisemitismus-schule (Stand 20. 05. 2020), 107. 40 Eine Ausnahme stellt das Schulbuch »Religion entdecken verstehen gestalten 5/6« dar. Unter der Überschrift »Als Jüdin in Deutschland – ein Mädchen erzählt« thematisiert der abgedruckte Text eines jüdischen Mädchens genau dies. Allerdings lenkt die dazugehörige Auf-
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Im Kontext des interreligiösen Lernens findet jedoch nicht nur die medial über ein Schulbuch vermittelte Begegnung mit (vermeintlich authentischen, tatsächlich aber) fiktiven jüdischen Kindern statt, sondern vielfach wird auch die direkte Begegnung als der »Königsweg«41 des interreligiösen Lernens angestrebt. Auch wenn das Begegnungslernen in einem Teil des religionspädagogischen Diskurses verstärkt kritisch gesehen wird42, finden sich in der Schulpraxis immer wieder Situationen, in denen jüdische Schüler*innen im Unterricht in eine Expert*innenrolle gedrängt und auf eine Repräsentant*innenfunktion reduziert werden.43 So werden sie vor der Klassenöffentlichkeit als Jüdinnen und Juden geoutet – die Folgen kann die Lehrkraft mangels Einblick in außerunterrichtliche Kontexte kaum absehen. Zudem werden sie mit Blick auf ihre Religion ,geothert‹, als ›Andere‹ herausgestellt; und wenn sie als Vertreter*in einer religiösen Gruppe beispielsweise Chanukka fundiert erklären sollen, wird damit oft stillschweigend vorausgesetzt, dass die Perspektive eines Kindes nicht nur exemplarisch, sondern repräsentativ für ›das‹ Judentum sei. Dabei stellt sich die Frage, was denn das Lernziel einer solchen Schilderung im Unterricht sein könnte. Soll ein Kind, das mit Blick darauf, dass in Deutschland nur 0,1 % der Bevölkerung dem Judentum zugeordnet werden, – im Grundschulalter anderen Kindern allgemeines Wissen über eine Religion vermitteln? Das kann eine Überforderung darstellen. Soll es das zuvor im Unterricht allgemein Gelernte anschaulich machen – wie ein Modell?44 Das wäre eine Funktionalisierung. Wie repräsentativ ist dann das Erzählte für die Religionsgruppe? Wie wird dabei möglicherweise mit Differenzen in der Darstellung beispielsweise von Chanukka im Schulbuchtext einerseits und den Schilderungen von Kindern andererseits umgegangen – gegenüber dem Kind und gegenüber der Mehrheitsgruppe? Hier bestünde die Gefahr, dass ein Kind »vom angelernten Wissen der Erzieherinnen gewissermaßen in dem eigenen oder ihm zugeschriebenen Identitätsfeld überfahren wird
41 42
43 44
gabenstellung im Anschluss davon ab, siehe dazu: Gerd-Rüdiger Koretzki/Rudolf Tammeus (Hg.), Religion entdecken verstehen gestalten 5/6, Göttingen 2008. Stephan Leimgruber, Interreligiöses Lernen. Neuausgabe, München 2007,101. Vgl. Claudia Gärtner, Interreligiöses Begegnungslernen – interdisziplinäre Anfragen und ästhetische Spurensuche. In: Religionsunterricht an höheren Schulen 53 (2010), 156; Christoph Gellner/Georg Langenhorst, Blickwinkel öffnen. Interreligiöses Lernen mit literarischen Texten, Ostfildern 2013, 350–352; Miriam Zimmermann, Feste in den Weltreligionen, 43–45. Vgl. Bernstein u. a., Mach mal keine Judenaktion, 107. In Literatur, in der ›jüdische‹ Perspektiven zu Wort kommen, taucht hier der Vergleich zum Zoo oder Museum oftmals auf. Vergleiche weiterführend: Charles Lewinsky, Ein ganz gewöhnlicher Jude, Berlin 2008; Lena Gorelik, Lieber Mischa, … der du fast Schlomo Adolf Grinblum geheissen hättest, es tut mir so leid, dass ich dir das nicht ersparen konnte: Du bist ein Jude, Berlin 2012., 104–108.
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und einerseits als Sonderling isoliert , andererseits von dem seinen religiösen Erfahrungen nicht entsprechenden religiösen Gehalt überwältigt wird«45 droht. Diese Fragen zeigen, dass ein solches Vorgehen eine sowohl inhaltliche als auch emotionale Überforderung der Kinder darstellen kann. Auch interreligiöse Begegnungen einer Schüler*innengruppe mit Erwachsenenvertreter*innen einer Religion wie beispielsweise einem Rabbiner46 sind im Kontext des oben Genannten kritisch zu hinterfragen. Aufgaben in Schulbüchern, die zu einem Kontakt ohne explizite Kontextualisierung und Zielsetzungen auffordern, wie beispielsweise »Vielleicht gibt es eine jüdische Gemeinde in eurer Nähe, zu der ihr Kontakt aufnehmen könnt«47, legitimieren sich nicht aus der Grundannahme der Kontakthypothese aus sich selbst heraus. Eine bessere Aufgabe zur Entdeckung von Religion im Nahraum ohne direkten Dialog findet sich im »Ortswechsel 5/6«: »Suche deine eigene Stadt auf der Karte! Informiere dich über jüdische Einrichtungen in deiner Gegend; ggf. über geschichtliche Zeugnisse! Vielleicht lässt sich ein Spaziergang organisieren.«48 Oder auch im »Moment Mal 1«: »Findet heraus, ob man in eurer Stadt koschere Produkte kaufen kann.«49 Dass jedoch ein Lernertrag bei einer direkt initiierten Begegnung entstehen kann, sei unbestritten. So schildert Elisabeth Naurath aus einem Projekt mit muslimischen und christlichen Grundschüler*innen, in dem drei muslimische Schülerinnen vor ihren Mitschülern Koransuren auf arabisch samt deutscher Übersetzung rezitierten: »Welch ein himmelweiter Unterschied besteht darin, den Schüler*innen als Lehrkraft davon zu erzählen, dass Koranverse arabisch rezitiert werden oder gar ein Beispiel von einem Tonband laufen zu lassen, oder aber von gleichaltrigen Mitschülerinnen live zu erleben, dass und wie sie Texte ›ihrer‹ Heiligen Schrift singen und beten.«50
45 Alfred Bodenheimer, Zwischen religiöser Identität und gleichwertiger Akzeptanz. Interreligiösität und Interkulturalitat in Kindertagesstätten – eine jüdische Perspektive, in: Friedrich Schweitzer/Anke Edelrock (Hg.), Interreligiöse und Interkulturelle Bildung in der Kita. Eine Repräsentativebefragung von Erzieherinnen in Deutschland – interdisziplinäre, interreligiöse und internationale Perspektiven, Münster 2011, 79. 46 Vgl. Zimmermann, Feste in den Weltreligionen, 44. 47 Gräbig/Schreiner, Mitten ins Leben, 91. 48 Ingrid Grill-Ahollinger/Sebastian Görnitz-Rückert/Andrea Rückert (Hg.), Ortswechsel. Evangelisches Religionsbuch für Gymnasien, München 2013, 140. 49 Bärbel Husmann/Rainer Merkel (Hg.), Moment mal! 1 Evangelische Religion, Stuttgart 2013 65. 50 Elisabeth Naurath, Noli me tangere? Interreligiöse Differenzerfahrungen in der kindlichen Begegnung mit den Heiligen Schriften, in: Georg Langenhorst/Elisabeth Naurath (Hg.), Kindertora – Kinderbibel – Kinderkoran. Neue Chancen für (inter-)religiöses Lernen, Freiburg im Breisgau 2017, 181.
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Diese gut gemeinte reale Inszenierung von interreligiöser Begegnung im Klassenzimmer zeigt aber eine typische Perspektive innerhalb der christlichen Religionspädagogik, die eben auch eine typische Perspektive von Mehrheitsangehörigen ist: Bei Dialog und Begegnung darf nicht ausblendet werden, dass sich dieser anders darstellt für Personen, denen eine untergeordnete soziale Position zugewiesen wird oder die aufgrund der ihnen (selbst- und/oder fremd-)zugeschriebenen Religionszugehörigkeit in besonderem Maße verletzbar sind.51
2.4.
Philosemitismus
Auch der Philosemitismus, also eine übertrieben und/oder stereotypisierend positive Bewertung von Jüdinnen und Juden, Judentum und allem Jüdischen kann als Form des Antisemitismus verstanden werden. Denn auch Philosemitismus imaginiert ein in sich homogenes jüdisches Kollektiv, das zum ›Anderen‹ gemacht, ›ge-othert‹ wird. Insofern hat auch Philosemitismus eine Funktion für die Ausbildung einer ›eigenen‹ Identität: ›Das Judentum‹ wird instrumentalisiert, um sich selbst als jemand verstehen zu können, der tolerant sei und aus der Geschichte gelernt habe. Problematisch ist dabei zum einen, dass auch die philosemitische Stereotypisierung nicht die Individualitäten jüdischer Personen anerkennt. Zum zweiten erfüllt Philosemitismus häufig die Funktion, »›tolle‹ jüdische Personen oder Phänomene hervorzuheben, um sich als dem fremdkonstruierten Kollektiv wohlgesonnen darzustellen, um in der nächsten Situation über andere jüdische Personen oder Phänomene herziehen zu können und dabei vermeintlich über jeden Antisemitismusverdacht erhaben zu sein«; zum dritten wird auch durch positive Zuschreibungen ein selbstverständlicher Umgang unmöglich, insbesondere dann, wenn »Juden im Sinnhorizont eines Bemitleidens und Bevormundens entkontextualisiert als Opfer adressiert werden«.52 Schließlich kann Philosemitismus leicht in (andere Formen von) Antisemitismus umschlagen, »wenn Jüdinnen und Juden die an sie gerichteten Erwartungen nicht erfüllen« und dann die vormals positiv zugeschriebenen Eigenschaften ins Negative ge51 Vgl. dazu auch die im Projekt REVIER (REVIER steht für »Religiöse Vielfalt erleben – deuten – bewerten«) interviewten muslimischen Jugendlichen, die häufig einen Laizismus bevorzugen würden, der sie in der Schule vor Gesprächen über Religion schützt, da sie regelmäßig die Erfahrung machen, symbolisch ausgegrenzt und negativen Zuschreibungen ausgesetzt zu sein. Weiterführend beispielsweise: Joachim Willems, »Dann merke ich auch hier, ich bin der Moslem«: Interreligiöse Kompetenz und Differenz, Diversität, Dialogizität, in: Stefan Alkier/ Michael Schneide/Christian Wiese (Hg.), Diversität – Differenz – Dialogizität. Religion in pluralen Kontexten, Berlin 2017, 360–378. 52 Bernstein u. a., Mach mal keine Judenaktion, 39.
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wendet werden: »Aus der Zuschreibung einer einst bewunderten Intelligenz wird plötzlich eine Bedrohung konstruiert, aus der Zuschreibung eines Reichtums ein Empfinden, beraubt worden zu sein.«53 Philosemitische Zuschreibungen begegnen in Schulbüchern zum Teil recht unscheinbar. So heißt es beispielsweise in einem längeren Text im Schulbuch »Ortswechsel 5/6« unter der Überschrift »Lernen in jüdischer Tradition«: »So kommt es, dass Lernen eine besonders wichtige Rolle im Judentum spielt. Juden waren von alters her für ihre Bildung berühmt.«54 Beiläufig wird so das vermeintlich positive Stereotyp des ›gebildeten Juden‹ reproduziert, der durch die unreflektierte Tradierung im Religionsunterricht internalisiert und durch die Vermittlung in der Institution Schule durch ein offizielles Schulbuch an Autorität und Plausibilität gewinnen könnte.55 Dieser kann dann anschlussfähig sein für außerschulische (Verschwörungs-)Theorien über Jüdinnen und Juden, die Schüler*innen im weiteren Leben in anderen Kontexten begegnen. Da dies in der Grundschule nicht metakognitiv reflektiert werden kann, aber über die Grundschulzeit hinaus unterschwellig wirkmächtig bleibt, ist die Sensibilität der Lehrkraft für den eigenen Sprachgebrauch von hoher Relevanz.
3.
Alternativen
3.1.
Verwurzelung im Judentum – Die Reflexion des Verhältnisses von Judentum und Christentum heute
Dass Jesus Jude war, zeigt sich inzwischen in einer Vielzahl von Unterrichtsmaterialien, wenngleich dadurch teilweise eine problematische Kontrastierung zum Judentum zur Zeit Jesu entsteht, durch die antijudaistische Stereotype tradiert werden.56 Die Verwurzelung des Christentums im Judentum zeigt sich also weithin. Die Darstellung der Beziehung zwischen Judentum und Christentum nach Jesu Tod hingegen wird teils nicht thematisiert, teils – wie in 2.1 dargestellt – substitutionstheologisch oder in anderer Weise theologisch problematisch beschrieben. Dieses Verhältnis im Religionsunterricht der Grundschule theoretisch zu thematisieren, wäre eine Überforderung sowohl für Lehrkräfte als auch für Schüler*innen. Jedoch setzt die Behandlung des Judentums im 53 54 55 56
Bernstein u. a., Mach mal keine Judenaktion, 40. Grill-Ahollinger/Görnitz-Rückert/Rückert, Ortswechsel, 124. Weitere in der Schule verbreitete Philosemitismen finden sich z. B. in Richter 1974. So z. B. in Horst Klaus Berg/Ulrike Weber, Benjamin und Julius. Geschichten einer Freundschaft zur Zeit Jesu, Stuttgart/ München.2017. Eine differenziertere kritische Analyse mit Blick auf weiterführende Aspekte findet sich hierzu in Julia Spichal, Antijüdische Vorurteile in Lehrplänen und Schulbüchern für die Grundschule. Theo-Web, 18(1) 2019, 124–133.
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evangelischen Religionsunterricht eine innere, fachwissenschaftlich verantwortete Klärung für die Lehrkraft voraus: Wie ist das Verhältnis der Religionen religionstheologisch in Bezug auf die Wahrheitsfrage zu beschreiben? Und vor allem, wie ist das Verhältnis von Christentum und Judentum zu beschreiben? Grundlegend und für die innerkirchliche Debatte wegweisend ist hier der Beschluss der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland aus dem Jahr 1980, in dem es unter anderem heißt: »Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk und erkennen, dass die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist.«57
3.2.
Differenzsensibilität und Rekategorisierung
Der Religionsunterricht steht im Verdacht, durch die inhaltliche Thematisierung von Unterschieden Differenzbewusstsein zu verstärken oder gar erst aufzubauen.58 Wenn eine Klasse sich beispielsweise nach Augenfarbe aufstellen soll, entstehen andere Gruppen als bei der Aufstellung nach Haarfarbe oder nach Vorlieben oder Geschlecht – jeweils andere Eigen- und Fremdgruppen, die zuvor nicht bestanden, werden konstruiert. Bei der Thematisierung von Differenzen, die zwischen Religionen unbestritten bestehen und die, wenn man diesen Religionen gerecht werden möchte, auch benannt werden müssen, muss dies stets kritisch reflektiert und dekonstruiert werden. Es geht in religiösen Bildungsprozessen nicht darum, bestehende Unterschiede zu leugnen oder zu nivellieren, sondern pädagogisch zu begleiten.59 Hier sehen wir in Hinblick auf Identitätskonstitution vor allem folgende Anknüpfungspunkte: Die Bildung von sozialen Kategorien – zu denen, wie in 2.2 dargestellt auch Religion gehört – ist entwicklungspsychologisch betrachtet komplex und somit fehlerbehaftet. Werden beispielsweise Kategorien vermischt, so »kommt es vor allem im Kindergarten und in der Grundschule zur Vermischung oder zur Verwechslung zwischen Nationalität und Religionszugehörigkeit.«60 Hier sprechen Kinder dann von ›den Juden‹ im Kontrast zu ›den Deutschen‹. Zudem werden identitätsstiftende Kategorien oftmals an äußere Faktoren geknüpft – Kinder begründen im frühen Grundschulalter religiöse Zuordnungen fast biologisch und auf konkrete Handlungen bezogen.61 Daher ist 57 https://www.ekir.de/www/downloads/ekir2008arbeitshilfe_christen_juden.pdf, 98 (Stand: 01. 04. 2020). 58 Vgl. Friedrich Schweitzer, Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als religionspädagogische Herausforderung und Chance, Gütersloh 2014, 116f. 59 Vgl. Ebd., 118. 60 Ebd., 18. 61 Vgl. Dieterich Büttner, Entwicklungspsychologie, 210.
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eine religionspädagogische Begleitung »der Entwicklung von Differenzbewusstsein«62 notwendig. Die Lehrkraft muss die gebildeten Kategorien immer wieder in Frage stellen (z. B. ›Sind etwa Jüdinnen und Juden keine Deutschen?‹) und auf interne Heterogenität und die Individualität derer hinweisen, die diesen Kategorien zugeordnet werden. Dies geschieht etwa in Unterrichtsmaterialien, wenn z. B. beim Feiern jüdischer Feste orthodoxe und säkulare Auffassungen zu Wort kommen.63 Statt Verallgemeinerungen wie ›die Juden‹ oder ›im Judentum‹ zu gebrauchen, sollten Formulierungen gewählt werden, die Differenzen zulassen wie beispielsweise ›viele/einige Jüdinnen und Juden‹ oder ›in einem großen Teil des Judentums‹. Ebenfalls kann auch schon jungen Schüler*innen ein Identitätskonzept nahegebracht werden, dem zufolge ›Identität‹ sich aus verschiedensten Gruppenzugehörigkeiten bildet.64 Entsprechend kontextualisiert sollten die Stellvertreter*innenfiguren in den Schulbüchern eingeführt werden. Bei aller didaktisch legitimen Fokussierung auf Charakteristika einer Religion ist Rekategorisierung eine sinnvolle Strategie, um (religiöse) Identitätsbildung nicht in Abgrenzung im Unterricht voranzutreiben. Rekategorisierung bedeutet die Fokussierung auf die Gemeinsamkeiten mit dem Ziel »[d]as Konfliktschema ›Wir versus die‹ […] in ein gemeinsames ›Wir und uns‹ [zu] überführen [ ]«65. 62 Vgl. Schweitzer, Interreligiöse Bildung, 19. 63 Beispielsweise Grill-Ahollinger/Görnitz-Rückert/Rückert; Ortswechsel, 140; 192 und Husmann/Merkel (Hg.), Moment mal, 64. 64 Für Klassenstufen ab Klasse 3 kann hier Material, das im Kontext des Hamburger Religionsunterrichts für die Sekundarstufe I entwickelt worden ist, adaptiert werden. Eine Darstellung der gesamten Einheit, die von einer differenzierten Wahrnehmung von »Wer bin ich?« über »Wer sind wir?« – im Kontext verschiedener Gruppenzugehörigkeiten verläuft, findet sich bei Mara Sommerhoff/Britta Kolling u. a., Ich, du, wir – Fragen nach Identität und Religion Unterrichtsmaterialien für die Sekundarstufe, Berlin 2017, 32. Insbesondere das Spiel »Wie bin ich?« eignet sich etwas modifiziert auch für Grundschülerinnen und -schüler (Sommerhoff/Kolling u. a., Fragen nach Identität, 37). Für jüngere Schulkinder bietet sich hier ein Positionierungsspiel an, bei dem sich immer neue Gruppen finden: Die Lehrkraft gibt Aussagen vor, wie: ›Wer wohnt unter 5 Minuten Fußweg zur Schule? / Wer mag lieber Leitungswasser als Sprudelwasser? Wer hat zwei große Geschwister / einen kleinen Bruder / Großeltern, die sehr nah wohnen‹. Alternativ können auch Aussagen – ›Ich habe keine/ kleine / kleine und große / große Geschwister‹, die eine Differenzierung nach 4-Ecken erlauben, getroffen werden. Die Kinder positionieren sich hier je nach Zustimmung im Raum. Im Laufe des Spiels werden sie die Erfahrung machen, in kleinen oder größeren Eigengruppen zu stehen, einer Mehrheit oder Minderheit anzugehören, mit unterschiedlichen Mitschülerinnen und -schülern (unerwartet) in einer Gruppe zu stehen– die unterschiedlichen Gefühle – Wie ist es (fast) alleine da zu stehen oder in einer Mehrheit? –können reflektiert werden. Dabei ist festzustellen und bei der Frageauswahl zu berücksichtigen, dass Identität, je jünger die Kinder sind, umso stärker mit konkreten Fähigkeiten und Interessen als mit großen übergeordneten sozialen Kategorien und Rollen verbunden ist. Siehe bei Robert Siegler u. a., Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter, Berlin/ Heidelberg 2016,417). 65 Thomas Kessler/Immo Fritsche, Sozialpsychologie, Wiesbaden 2018, 175.
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Das Kapitel »Verwandt« aus dem Schulbuch »Ortswechsel 5/6« kann hierfür in weiten Teilen als ein sehr gelungenes Beispiel herangezogen werden.66 Mit Blick auf Abraham werden Islam, Christentum und Judentum als »so etwas wie entfernte Cousins und Cousinen – mit vielen Gemeinsamkeiten und charakteristischen Unterschieden« eingeführt und miteinander in Beziehung gesetzt.67 So wird beispielsweise die Geschichte von Hagar und Ismael, zusammengestellt aus dem Koran, mit Gen 21, 8–21 verglichen68, ebenso wie religiöse Töne, Geräusche und Zeichen aus allen drei abrahamitischen Religionen.69 Ebenfalls wird die innerreligiöse Pluralität thematisiert.70 Dabei kommen Koran und Bibel eigenständig zu Wort, Unterschiede werden nicht nivelliert, Gemeinsamkeiten können entdeckt werden. Auch die Gefahr, dass durch Rekategorisierung eine Identität in Abgrenzung zu weiteren Gruppen – beispielsweise den nicht-abrahamitischen Religionen – geschaffen wird71, wird in diesem Kapitel72 zumindest erwähnt, wenngleich auch nicht näher behandelt.
3.3.
Literarisches Lernen als Instrument der Dekategorisierung
Selbst wenn man unsere in 2.3 angeführten Kritikpunkte am Begegnungslernen im interreligiösen Lernen nicht teilt, so stellt sich mit Blick auf knapp 200.000 in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden die Frage, wie authentische Begegnungen möglich sein können. Eine Möglichkeit ist es, mit Kinder- und Jugendliteratur zu arbeiten. Die Idee, Literatur als Medium des interreligiösen Lernens zu nutzen, ist nicht neu. Sie findet sich auch auszugsweise in Schulbüchern.73 Meist wird dabei auf religionskundliche Darstellungen zurückgegriffen, die in eine Rahmenhandlung eingebettet sind. Um Vorurteilen und somit Antisemitismus vorzubeugen, sollte auch eine Einführung in gelebte Religion stattfinden.74 Nach diesen Kriterien ausgewählte Literatur bietet das Potenzial, zumindest ansatzweise Innenan66 67 68 69 70 71 72 73 74
Vgl. Grill-Ahollinger/Görnitz-Rückert/Rückert, Ortswechsel, 177–192. Vgl. Ebd., 180f. Vgl. Ebd., 184f. Vgl. Ebd., 188f. Vgl. Ebd., 192. Vgl. Kessler/Fritsche, Sozialpsychologie, 175. Vgl. Grill-Ahollinger/Görnitz-Rückert/Rückert, Ortswechsel, 177. Siehe Koretzki/Tammeus, Religion entdecken und Husmann/Merkel (Hg.), Moment mal, 58. Vgl. Georg Langenhorst, »(…) als ob sie singen würde (…)« Literarische Welten für in Deutschland lebende jüdische Kinder. Religion im Werk von Eva Lezzi (Außensicht), in: Mirjam Zimmermann/Jana Mikota (Hg.), Doppelinterpretationen – Religion in der Kinderund Jugendliteratur, Baltmannsweiler 2018, 157.
›Identität‹ als Problem? Judentum im evangelischen Religionsunterricht
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sichten einer Religion zu ermöglichen.75 Begegnung kann hier also literarisch vermittelt stattfinden. Durch die durchgängige »Personalität« von Kinderliteratur, also die Fokussierung auf fiktive Protagonist*innen, die zur Identifikation einladen, kann sie die »Lesende in Welten verstricken, mit denen sie allenfalls nur schwer in Kontakt treten […] würden«76. Anders als im begrenzten Seitenangebot eines Schulbuchs können literarische Figuren im Alter der Schüler*innen eingeführt werden. Damit ist mehr Raum für eine komplexe Figurenentwicklung gegeben, und sie sind im Idealfall nicht mehr nur »idealisierte Vertreter ihrer Religion«77, sondern Individuen. Sozialpsychologisch wird hier von Dekategorisierung gesprochen. Dadurch wird Essentialisierung verhindert. Fiktionale Literatur ist immer ›subjektiv‹ – sie hat nicht den Anspruch, ›das Judentum‹ darzustellen. Kindern ist bewusst und sie wissen in der Regel aus ihrer eigenen Lesesozialisation, dass die Romanfiguren nicht idealtypisch für alle gleichaltrigen Mädchen sind. So wird auch deutlich, dass das Verständnis einer Religion und ihre Darstellung im Roman immer »perspektivisch« ist.78 Durch seinen normativen Charakter gerät dies bei einem Schulbuch zum Teil aus dem Blick. Die Begegnung im fiktionalen Raum der Literatur hat im Kontext von Identitätskonstruktion den Vorteil, dass sie Prozesse von Identitätsbildung nicht in Abgrenzung zu, sondern in »Begegnung mit anderen ermöglicht, weil man sich narrativ selbst auch als ›anderer‹ erfährt«79. Beim Lesen konstruiert der bzw. die Lesende mit dem Text eine Welt: »Wer sich auf die Erzählung, ihre Figuren und ihre Welt einlässt, wird selbst in sie hineingezogen und ist auf verdeckte Weise ›Mitspieler‹ des Szenarios.«80 Als besonders geeignet für die Grundschule möchten wir auf zwei Buchreihen hinweisen. Zum einen auf die Beni-Trilogie der Autorin Eva Lezzi, die diese gemeinsam mit der Künstlerin Anna Adam veröffentlicht hat. Insbesondere der Roman »Chaos zu Pessach«81, den Lezzi schrieb, »um jüdischen Kindern (u. a. [ihrem] Sohn) die Möglichkeit [zu] bieten, Aspekte ihrer eigenen Lebenswelt in der Literatur gespiegelt zu finden«, bietet sich für das interreligiöse Lernen an. In ihm wird das Pessach-Fest in der jüdisch-christlichen Familie des Jungen Beni geschildert. »Pessach sollte demnach als lebendiges Familienfest – so spannungsgeladen und konfliktreich wie Familienfeste eben sind – dargestellt werden und nicht einfach als Inszenierungsort religiöser Wissensvermittlung.«82 Jüdi75 76 77 78 79 80 81 82
Siehe Gellner/Langenhorst, Interreligiöses Lernen, 356f. Ebd., 363. Zimmermann, Feste in den Weltreligionen, 41. Vgl. Gellner/Langenhorst, Interreligiöses Lernen, 357f. Zimmermann, Feste in den Weltreligionen, 51. Ebd., 49. Siehe Eva Lezzi/Anna Adam, Chaos zu Pessach, Berlin 2012. Ebd., 146.
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Joachim Willems / Ariane Dihle
sche Aspekte werden beiläufig eingeführt, in der Handlung jedoch nicht erklärt. Dies übernimmt ein Glossar am Ende des Buches. Für Erst- und Zweitklässler*innen lässt sich darüber hinaus mit zwei Bilderbüchern aus dem Ariella-Verlag arbeiten. »Ein Pferd zu Chanukka« zum Chanukkafest sowie »Im Galopp aus Ägypten« zu Pessach, beide geschrieben von Myriam Halberstam.83 Anders als beispielsweise in dem Bilderbuch »Dinah und Levi: Wie jüdische Kinder leben und feiern«84, das eher ein verkapptes Sachbuch ist, wird auch hier nicht umfassend informierend in ein Fest mit seinen möglichen Bräuchen eingeführt, sondern ein subjektiver, punktueller und vor allem emotionaler Einblick in die Bedeutung des Festes mit der Perspektive auf ein junges jüdisches Mädchen gegeben. Etwas stärker didaktisch aufbereitet und auf Informationen fokussiert, bietet sich hier die Arbeit mit »Lena feiert Pessach mit Alma«85 an. Damit das didaktische Potenzial der Bücher zum Tragen kommt, dürfen sie im Unterricht nicht rein zur Wissensvermittlung funktionalisiert werden.86 Die Figur des Beni aus Lezzis »Chaos zu Pessach« bliebe blass, wenn die einzige Aufgabe im Unterricht lauten würde, anhand des Romans Merkmale des Pessach-Festes herauszuarbeiten. Vielmehr bedarf es auch der literarischen Arbeit, wie man sie aus der Deutschdidaktik kennt, mit Aufgaben zur Charakterisierung der Figuren sowie Aufgaben, die Leerstellen zu füllen, um damit zur Identifikation anzuregen. Nur so werden die Figuren nicht lediglich als Repräsentant*innen ihrer Religion dargestellt.
83 Siehe Myriam Halberstam, Ein Pferd zu Chanukka. Berlin 2018 und Myriam Halberstam, Im Galopp aus Ägypten, Berlin 2015. 84 Siehe Alexia Weiss/Friederike Großekettler, Dinah und Levi: Wie jüdische Kinder leben und feiern, Wien/München 2011. 85 Siehe Myriam Halberstam/Julia Späth, Lena feiert Pessach mit Alma, Hamburg 2011. 86 Vgl. Gellner/Langenhorst, Interreligiöses Lernen, 355.
Julia Spichal
Antisemitismus-Prävention: Ein kritischer Blick in Lehrpläne und Schulbücher der Primarstufe
1.
Hinführung
Aus der sozialwissenschaftlichen Studie von Andrea Schäuble zu Alltagsantisemitismen Jugendlicher geht hervor, dass die Befragten unreflektiert judenfeindliche Vorurteile wiedergeben, die sie nach eigenen Angaben im Religionsunterricht als vermeintliches Faktenwissen gelernt haben.1 Um antijüdischen Vorurteilen im christlichen Religionsunterricht entgegenzuwirken, ist ein sensibler Umgang mit dem christlich-jüdischen Verhältnis bereits in der Primarstufe von großer Bedeutung, da Kinder vor allem in den ersten Jahren der Grundschulzeit besonders stark zu ethnischen und rassistischen Vorurteilen neigen.2 Für eine Antisemitismus-Prävention im Religionsunterricht sind die Inhalte der Lehrpläne und Schulbücher von grundlegender Bedeutung, da vor allem erstere den Unterricht steuern. Mehrere Untersuchungen sind allerdings zu dem bedenklichen Ergebnis gelangt, dass diese Lehrmittel ungewollt Vorurteile gegenüber jüdischen Personen fördern.3 Da Überarbeitungen dieser Materialien einige Zeit in Anspruch nehmen, ist es notwendig, Lehrkräfte für problematische Darstellungen zu sensibilisieren und zugleich positive Beispiele hervorzuheben. Dazu möchte der vorliegende Artikel einen Beitrag leisten und fragt deshalb nach den Möglichkeiten einer Antisemitismus-Prävention in ausgewählten Lehrplänen und Schulbüchern des Primarbereichs. Ausgangsbasis der Untersuchung ist die Monografie ›Vorurteile gegen Juden im christlichen Religionsunterricht‹ von 1 Vgl. Barbara Schäuble, »Anders als wir«. Differenzkonstruktionen und Alltagsantisemitismus unter Jugendlichen, Berlin 2012, 392. 2 Vgl. Tobias Raabe/Andreas Beelmann, Development of ethnic, racial, and national prejudice in childhood and adolescence. A multinational meta-analysis of age differences, in: Child development 82 (2011), 1715–1737, hier 1715. Vgl. auch den Beitrag Naurath, Vorurteile in diesem Band. 3 Vgl. Julia Spichal, Vorurteile gegen Juden im christlichen Religionsunterricht. Eine qualitative Inhaltsanalyse ausgewählter Lehrpläne und Schulbücher in Deutschland und Österreich (Arbeiten zur Religionspädagogik, Band 057), Göttingen 2015.
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Julia Spichal
Julia Spichal, die eine Analyse ausgewählter Lehrpläne und Schulbücher auch für den Primarbereich detailliert beschreibt und die Ergebnisse mit früheren Studien vergleicht.4 Im Anschluss daran analysiert er mit demselben Analyseinstrumentarium die neuen Lehrpläne für den Primarbereich in Bayern sowie die darauf abgestimmten Schulbuchreihen ›Die Reli-Reise‹ und ›Spuren lesen‹. Der letzte Abschnitt dieses Beitrags bietet vergleichend didaktische Impulse für den Umgang mit neuralgischen Themen im Hinblick auf das Judentum.
2.
Problemfelder der Lehrmittel
Lehrplan- und Schulbuchanalysen aus den 1980er und 1990er Jahren haben mithilfe eines fachwissenschaftlich gut fundierten Instrumentariums herausgefunden, dass Lehrmittel für den christlichen Religionsunterricht zwar religionskundlich eine angemessene Darstellung des Judentums präsentieren, allerdings bei einigen Themen die eigene christliche Identität auf Kosten des Judentums veranschaulichen.5 So beachten Darstellungen zum ›Alten‹ Testament oftmals nicht, dass es sich dabei auch um die Heilige Schrift des gegenwärtigen Judentums handelt. Sie vereinnahmen es ausschließlich christlich und vermitteln damit den Eindruck, dass das Christentum an die Stelle des Gottesvolkes Israel getreten sei. Ebenso bezeichnet das untersuchte Material die Thora fälschlicherweise als ›Gesetz‹, von dessen strikter Auslegung im Judentum Jesus mit seiner Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes befreit habe. Damit eng verbunden ist die Darstellung ›der‹ Pharisäer, die als Vertreter des gesamten Judentums fungieren und im Gegensatz zu Jesus eine lebensfeindliche Gesetzesobservanz verfolgen. Zudem stellen die analysierten Lehrpläne und Schulbücher einen Kausalzusammenhang zwischen den Auseinandersetzungen Jesu mit Pharisäern und seiner Passion her. Somit wird der Gottesmordvorwurf implizit weiterhin erhoben, auch wenn dieser nicht explizit ausgesprochen ist. Die Darstellung der Geschichte Israels basierend auf dem ›Alten‹ Testament ist in der Regel kein Problem, doch wird die Zeit zwischen der zweiten Tempelzerstörung und der Shoa meist nicht thematisiert, sodass diese Ereignisse ›heilsgeschichtlich‹ als Bestrafung und endgültige Verwerfung des Judentums 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. Peter Fiedler, Das Judentum im katholischen Religionsunterricht. Analysen, Bewertungen, Perspektiven (Lernprozeß Christen, Juden, 1), Düsseldorf 1980; Helga Kohler-Spiegel, Juden und Christen – Geschwister im Glauben. Ein Beitrag zur Lehrplantheorie am Beispiel Verhältnis Christentum Judentum (Lernprozess Christen, Juden, 6), Freiburg im Breisgau 1991; Martin Rothgangel, Antisemitismus als religionspädagogische Herausforderung. Eine Studie unter besonderer Berücksichtigung von Röm 9–11 (Lernprozeß Christen, Juden, 10), Freiburg im Breisgau 21997.
Antisemitismus-Prävention: Ein kritischer Blick in Lehrpläne und Schulbücher
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interpretiert werden könnten. Vor diesem Hintergrund ist es dann unmöglich zu begründen, weshalb Christ*innen für das Existenzrecht des Staates Israels eintreten sollen. Grundlegend steht der christliche Religionsunterricht vor der Herausforderung, zu einer angemessenen Verhältnisbestimmung zwischen Christentum und Judentum zu gelangen. Es gilt, beispielsweise das Judentum zur Zeit Jesu differenziert und positiv darzustellen, um eine kontrastierte Gegenüberstellung der Botschaft Jesu mit ›den‹ Pharisäern zu vermeiden. Mit der Studie von Spichal konnten zwar einige Verbesserungen festgestellt werden, problematische Nuancen konnten jedoch nicht vollständig ausgeräumt werden. Daher wurde auf der Grundlage aktuellerer fachwissenschaftlicher Forschung und dem didaktischen Prinzip der Elementarisierung zu diesen Themen ein neues Analyseinstrumentarium entwickelt.
3.
Methodisches Vorgehen in dieser Analyse
Die genannten Vorgängerstudien haben in ihren Analysen mit der qualitativen Inhaltsanalyse gearbeitet. Gegenwärtig ist die Weiterentwicklung dieser Methode nach Philipp Mayring in der empirischen Forschung verbreitet.6 Sie erfährt aufgrund ihrer regelgeleiteten Vorgehensweise eine hohe Akzeptanz, denn dadurch ist die Analyse wiederholbar, nachvollziehbar und damit überprüfbar. Um eine Vergleichbarkeit mit den früheren Analysen zu gewährleisten, wird in der vorliegenden Untersuchung dasselbe Instrumentarium für die Bewertung der Inhalte verwendet. Dieses Analyseraster beinhaltet die Einschätzungsskala sachgemäß – unausgewogen – tendenziös – sachlich falsch und formuliert Bedingungen, die für die jeweilige Einschätzung gegeben sein müssen. Es wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes anhand einer Fragestellung theoriegeleitet entwickelt, die folgende Annahmen zugrunde gelegt hat: »1. daß dem Judentum das (auch anderen Weltreligionen zugebilligte) Recht zusteht, im katholischen Religionsunterricht sachgemäß dargestellt zu werden. Dies erfordert, es als eigenständige lebendige Größe zur Geltung kommen zu lassen. Das Selbstverständnis des Judentums leitet sich aber nun von der Bibel (christlich gesprochen: vom Alten Testament) her und beansprucht bei allen geschichtlichen Wandlungen eine Kontinuität von den Anfängen bis zur Gegenwart; 2. daß das Christentum in einer exklusiven Beziehung zum Judentum steht, die seine Beziehungen zu anderen (Welt-) Religionen wesentlich übersteigt. Die Behandlung des Judentums im katholischen Religionsunterricht ist für das christliche Selbstverständnis von größter Wichtigkeit: Zunächst ist Jesus als Jude aufgewachsen und öffentlich auf6 Vgl. Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim 12 2015.
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getreten. Das Christentum ist und bleibt darüber hinaus von Ostern an und vom Neuen Testament her an das Judentum als theologische Größe verwiesen.«7
Daraus ergibt sich beispielsweise im Hinblick auf die jüdische Herkunft Jesu folgendes Analyseraster: »1. Sachgemäß ist es zu sagen, a) daß Jesus Jude war und als Jude gelebt hat; b) daß sich Jesu menschliche Entwicklung – wie es die Evangelien noch erschließen lassen – in einer Familie vollzog, die den einfachen, toratreuen Juden Galiläas angehörte; c) daß darin Jesu Vertrautheit mit der heiligen Schrift und mit dem damaligen religiösen Leben seines Volkes gründet (z. B. Psalter als »Gebetbuch«; Sabbat und Feste); d) daß diese ›Sozialisation‹ auch während der öffentlichen Wirksamkeit Jesu in Geltung bleibt (z. B. Teilnahme am Synagogengottesdienst und an der Tempelwallfahrt; Zurückhaltung gegenüber Samaritanern und Heiden, auch wenn Jesus einzelnen half, die sich an ihn wandten). Je nach Zusammenhang ist es 2. unausgewogen oder 3. tendenziös, wenn Aussagen von 1a-d außer Betracht gelassen werden. 4. Sachlich falsch Sind von 1a-d abweichende Aussagen.«8
Obwohl das beschriebene Kategorienraster fachwissenschaftlich gut fundiert ist, stellt sich vor allem für die Primarstufe die Frage nach dem Umgang mit Leerstellen im Untersuchungsmaterial: Wird eine tendenziöse Einschätzung dem Lehrplan oder dem Schulbuch gerecht, wenn Themen ausgespart bleiben, weil sie sich aufgrund der psychologischen Entwicklung der Kinder für den Unterricht noch nicht eignen? Denn Kinder im Grundschulalter befinden sich nach Fowler größtenteils in der Phase des mythisch-wörtlichen Glaubens und sind daher in der Regel nur auf der Objektebene zu tiefergehenden Reflexionen fähig.9 Sie verstehen aus diesem Grund noch keine Gleichnisse oder Metaphern, hören aber gern anschauliche Geschichten. In Bezug auf Jesus sind Schüler*innen der Primarstufe sehr an narrativen Aspekten interessiert, die Jesus in seiner Zeit und Umwelt darstellen. Diesbezüglich ist unbedingt darauf zu achten, dass diese Geschichten Jesu Judesein verdeutlichen, da nur auf diese Weise Differenzen zwischen Jesus und Pharisäern als innerjüdisch und somit angemessen charakterisiert werden können. Dabei handelt es sich um einen unabdingbaren Grundaspekt der christlich-jüdischen Verhältnisbestimmung und sollte daher bereits in der Grundschule vermittelt werden. 7 Fiedler, Judentum, 36. Diese Grundannahmen gelten natürlich entsprechend auch für den evangelischen Religionsunterricht. 8 Fiedler, Judentum, 63–64. 9 Vgl. Gerhard Büttner/Veit-Jakobus Dieterich, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, Göttingen 2013, 206.
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Die besondere Zuwendung Jesu zu Sünder*innen ist eine solche Differenz, die nach dem Lehrplan für bayerische Grundschulen bereits in der ersten Schulstufe thematisiert werden kann und bezieht sich dabei ausdrücklich auf Mk 2,13–17.10 Der erste Band der Reihe ›Wegzeichen Religion‹ erzählt diese Perikope nach und vermeidet dabei den Begriff ›Pharisäer‹, indem der Text diesen durch ›die Leute‹ ersetzt. Eine derartige Darstellung ist für die Grundschule geeignet, da damit ›die‹ Pharisäer als Negativfolie zu Jesu Botschaft ausgespart bleiben, solange die Kinder noch nicht in der Lage sind, die Polemik der biblischen Texte zu reflektieren. Es ist zu erwarten, dass Schüler*innen der Primarstufe aufgrund ihres wörtlichen Verständnisses von Texten, diese Reflexion nicht leisten können. Aus diesem Grund kann eine solche Darstellung als akzeptabel gelten, auch wenn Jesu Judesein nicht unmissverständlich deutlich wird. Im Vordergrund steht stattdessen, welche Bedeutung diese vorbehaltlose Zuwendung Jesu zu den Menschen für den Glauben der Schüler*innen hat. Darin wird die Liebe Gottes spürbar, die sie selbst auch andere spüren lassen können, indem sie sie nicht ausgrenzen, sondern annehmen. Für die Kinder der ersten Jahrgangsstufe sind diese Inhalte erfahrbar und nachvollziehbar, daher ist dieser Aspekt des Verhältnisses Jesu zu Pharisäern sehr gut geeignet für dieses Alter.
Einschätzungsdimension: Jesu Zuwendung zu Sündern Die Darstellung ist als angemessen zu bewerten, wenn einer der folgenden Aspekte zutrifft: 1. Jesu Judesein ist im Kontext seiner Zuwendung zu Sündern ausdrücklich benannt bzw. wird unzweifelhaft verdeutlicht. Dabei ist es irrelevant, ob Pharisäer explizit als Kritiker Jesu auftauchen. 2. Jesu Judesein ist ausdrücklich benannt bzw. wird unzweifelhaft verdeutlicht und das Verhältnis wird differenziert beschrieben, sollten Pharisäer ausdrücklich als Kritiker Jesu aufgeführt sein. D. h. neben den Differenzen ist im Kontext auch mindestens einer der folgenden Punkte benannt: dass nämlich Pharisäer und Jesus wohl nicht immer einer Meinung waren, jedoch Jesus dem Lukas-Evangelium zufolge öfter bei Pharisäern zu Gast war, was auf ein gutes Verhältnis hindeutet; außerdem dass Pharisäer und Jesus sich in Bezug auf das Hauptgebot der Thora und der Hoffnung auf Auferstehung einig waren.
10 Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hg.), Lehrplan für die Grundschule. München 2000, 60.
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Die Darstellung ist als akzeptabel zu bewerten, wenn der folgende Aspekt zutrifft: Jesu Judesein wird zwar nicht verdeutlicht, jedoch fungieren Pharisäer auch nicht als Negativfolie für seine Botschaft, da sie nicht ausdrücklich als Gegner Jesu benannt sind. Die Darstellung ist als unangemessen zu bewerten, wenn der folgende Aspekt zutrifft: Jesu Zuwendung zu Sündern wird als barmherzig dargestellt, während die pharisäische Lehre als ausgrenzend beschrieben ist.
Einschätzungsdimension: Verantwortung für Jesu Tod Die Darstellung ist als angemessen zu bewerten, wenn auf die Auseinandersetzungen Jesu mit Pharisäern nicht unmittelbar die Schilderung seiner Verhaftung und Passion folgt. Dabei ist es irrelevant, ob zuvor Pharisäer konkret als Kritiker Jesu benannt worden sind. Die Verantwortung für Jesu Tod wird ausdrücklich Pontius Pilatus zugeschrieben. Die Darstellung ist als akzeptabel zu bewerten, wenn zwar die Schilderung der Passion Jesu unmittelbar nach seinen Auseinandersetzungen mit Pharisäern folgt, die Hauptverantwortung für Jesu Tod deutlich Pontius Pilatus zugeschrieben wird. Die Darstellung ist als unangemessen zu bewerten, wenn einer der folgenden Aspekte zutrifft: 1. Es erfolgt eine unmittelbare Aneinanderreihung von Jesu Auseinandersetzungen mit Pharisäern und seiner Passion, indem direkt im Anschluss an die Schilderung des Konflikts, ein heimlicher Mordplan ›der Pharisäer‹ gegen Jesus geschildert wird. 2. Zwar erwähnt das Schulbuch einen heimlichen Mordplan ›der Pharisäer‹ nicht, es erfolgt aber dennoch eine unmittelbare Aneinanderreihung der Kapitel bezüglich Jesu Konflikten mit Pharisäern und seiner Passion, ohne die Hauptverantwortung an Jesu Tod ausdrücklich Pontius Pilatus zuzuschreiben. Dieses Raster wird in der vorliegenden Analyse herangezogen, wenn das Material die entsprechenden Themen behandelt. Bei den übrigen Inhalten kommt Fiedlers Instrumentarium zur Anwendung, um einen Vergleich mit den früheren Studien zu gewährleisten. Aufgrund dieser Vergleichsmöglichkeit analysiert der vorliegende Beitrag den neuen Lehrplan für Evangelische Religion an Grundschulen in Bayern und die für Bayern zugelassenen Schulbuchreihen ›Die ReliReise‹ und ›Spuren lesen‹.
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4.
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Darstellung der Analyse
Der neue Lehrplan Plus für Evangelische Religion an Grundschulen in Bayern führt für die erste und zweite Schulstufe unter dem Lernbereich ›Jesus Christus – Gott wird Mensch‹ unter den Inhalten zu den Kompetenzen ausdrücklich auf, dass Jesus Jude gewesen ist und im jüdischen Kontext sozialisiert wurde. Besonders deutlich wird seine jüdische Sozialisation durch die Angabe der zu verwendenden Fachbegriffe Tempel, Synagoge und Thora.11 Nach Fiedlers Kategoriensystem ist diese Darstellung als sachgemäß zu bewerten, wie der oben aufgeführte Ausschnitt aus seinem Analyseinstrumentarium zeigt. Jesu Passion ist als Teil seiner Lebensgeschichte ebenfalls Thema. Allerdings sind die Angaben hierzu so spärlich, dass eine zuverlässige Einschätzung der Textstelle nach dem neuen Kategoriensystem nicht möglich ist. Nach Fiedler wäre diese Leerstelle als tendenziös zu bewerten, da keiner der bei ihm aufgeführten Inhalte genannt wird.12 Es liegt an dieser Stelle in der Verantwortung der jeweiligen Lehrkraft, die angegebene Bibelstelle sachgerecht zu thematisieren ohne den Gottesmordvorwurf ungewollt zu tradieren. Im Lernbereich ›Die Bibel als besonderes Buch entdecken‹ ist kein Verweis darauf zu finden, dass das ›Alte‹ Testament auch die Heilige Schrift des gegenwärtigen Judentums ist. Nach Fiedler ist eine solche Darstellung unausgewogen und sollte daher grundsätzlich verdeutlicht werden.13 Dieses Thema ist erst für die dritte und vierte Schulstufe unter dem Lernbereich ›Mit Menschen anderer Religionen im Dialog sein‹ vorgesehen. Die Darstellung ist nach Fiedler als sachgemäß zu bewerten, da hier deutlich wird, dass die ›Hebräische‹ Bibel dem alttestamentlichen Kanon der Christ*innen entspricht.14 Allerdings tritt hier insgesamt das Judentum als eine andere Religion neben den Islam. Das betrifft auch den Lernbereich ›Beten – tragfähige Worte in der Bibel finden‹, der vorsieht, dass die Schüler*innen das Vaterunser und den Psalm 23 auswendig lernen. Ebenso kommt dieser Grundsatz beim Lernbereich ›Sich Herausforderungen im Zusammenleben stellen‹ zum Tragen, der das Gebot der Nächstenliebe thematisiert. Hierbei ist es von großer Relevanz den Kindern zu verdeutlichen, dass das Gebot der Nächstenliebe keine genuin christliche Idee ist, sondern bereits im ›Alten‹ Testament zu finden ist und eine wichtige Rolle im gegenwärtigen Judentum spielt. Wird dies nicht deutlich, ist die betreffende Textstelle Fiedler
11 Vgl. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München (Hg.), Lehrplan Plus – Grundschule – Evangelischer Religionsunterricht, http://www.lehrplanplus.bayern.de/ (Stand: 22. 10. 2019). 12 Vgl. Fiedler, Judentum, 65–66. 13 Vgl. ebd., 72. 14 Vgl. ebd.
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zufolge je nach Kontext als unausgewogen oder tendenziös zu bewerten.15 Eine tendenziöse Ausrichtung ist in dem betreffenden Abschnitt des Lehrplans nicht auszumachen, daher kann die Textstelle als unausgewogen gelten. Der Lernbereich ›Jesus Christus – Gott zeigt sich‹ beinhaltet den Umgang mit dem Sabbatgebot. Jedoch sind die Ausführungen so wenig konkret, dass eine Bewertung der Inhalte nicht möglich ist. Unter demselben Lernbereich ist darüber hinaus Jesus Christus als der Messias inhaltlich vorgesehen. Dabei ist auch der Begriff ›Messias‹ Unterrichtsgegenstand. In diesem Zusammenhang muss unbedingt berücksichtigt werden, dass diese Vorstellung aus dem Judentum stammt, Jesus selbst Jude war, aber aller Wahrscheinlichkeit nach diesen Titel für sich selbst nicht beansprucht hat. Die entsprechende Lehrplanstelle ist nach Fiedler als unausgewogen zu bewerten, weil diese Aspekte nicht klar benannt sind.16 Die Schulbuchreihe ›Die Reli-Reise‹ ist zurzeit für Bayern als Lehrmittel zugelassen und konkretisiert damit die Lehrplanvorgaben. In dem Kapitel ›Jeder gehört dazu‹ im Band 1/2 sollen die Schüler*innen die Perikope Mk 2, 13–17 nacherzählen.17 Hier tauchen Pharisäer als Kritiker Jesu auf. Die Darstellung des Schulbuchs ist nach Spichals Kategoriensystem als akzeptabel zu beurteilen, da Jesu Judesein zwar nicht ausdrücklich benannt, aber Pharisäer auch nicht als seine Gegner fungieren. Letztendlich hängt es von der konkreten Umsetzung im Unterricht ab, ob mit dieser Perikope Vorurteile tradiert oder ausgehebelt werden. In demselben Band wird den Kindern das Vaterunser vorgestellt und sogar dessen Ursprung thematisiert.18 Der Text verweist an dieser Stelle auf ein vorheriges Kapitel, das Jesus als den Lehrer dieses Gebetes darstellt.19 Nach Fiedlers Kategoriensystem sind diese Abschnitte als unausgewogen oder tendenziös zu bewerten, wenn die Verbindungslinien zur jüdischen Tradition nicht herausgearbeitet sind.20 Da dasselbe Schulbuch einige Seiten weiter das jüdische Gebet sogar zum Inhalt macht, aber nicht die Parallele zum Vaterunser hervorhebt,21 ist die Darstellung als ›tendenziös‹ zu bewerten. Das Kapitel ›Ich begegne anderen Religionen‹ benennt zudem das Judentum als eine weitere Weltreligion neben dem Islam, verdeutlicht dabei aber nicht, dass das Christentum in einer exklusiven Beziehung zum Judentum steht. Aufgrund dieses Gesamteindrucks ist eine Beurteilung als tendenziös gerechtfertigt. Band 3/4 derselben Reihe nimmt das Vaterunser noch einmal auf, verweist aber auch hier nicht auf die Tradition zum 15 Vgl. ebd., 71. 16 Vgl. ebd., 67–68. 17 Vgl. Christian Gauer/Simone Graser, Die Reli-Reise 1/2. Lehrwerk für den evangelischen Religionsunterricht, Stuttgart 2012, 18–19. 18 Vgl. ebd., 82. 19 Vgl. ebd., 74–75. 20 Vgl. Fiedler, Judentum, 70–71. 21 Vgl. Gauer und Graser, Reli-Reise 1/2, 91.
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Judentum, obwohl die Lernenden das Gebet im Judentum bereits kennengelernt haben. Beide Bände der Reihe ›Reli-Reise‹ für die Grundschule führen auch zahlreiche Geschichten aus dem ›Alten‹ Testament auf. Dabei sind sämtliche Darstellungen als unausgewogen zu bewerten, weil nicht erwähnt wird, dass diese Texte auch das Leben des gegenwärtigen Judentum prägen.22 Dies gilt auch für das Thema ›Die Entstehung der Bibel‹ in Band 3/4 in einem eigenen Kapitel.23 Dass die Jesaja-Texte christlich umgedeutet werden, aber dennoch eine bleibende Bedeutung im Judentum haben24, ist ebenso unbedingt zu berücksichtigen wie der jüdische Ursprung der Bergpredigt.25 Die Heilung am Sabbat thematisiert der Band 3/4 unter den Kapiteln ›Jesus gibt Hoffnung‹ und ›Jesus sagt seine Meinung‹. Beide Texte benennen dabei deutlich Pharisäer als Gegner Jesu. Allerdings stellt der Abschnitt des letzteren Kapitels Jesu Auseinandersetzungen mit Pharisäern in seiner Hinwendung zu Ausgestoßenen und der Heilung am Sabbat einen Kausalzusammenhang zu seiner Passion her. Nach dem oben aufgeführten Kategoriensystem von Spichal ist diese Darstellung als unangemessen zu bewerten. In der Selbstvorstellung des Paulus klingt der Gegensatz zwischen dem Glauben an Jesus und der Thoratreue an, die als Werkgerechtigkeit gedeutet wird: »Ich habe mich immer bemüht alle Gebote zu halten und keinen Fehler zu machen.«26 Diese Darstellung ist sachlich falsch, denn Paulus blieb ein thoratreuer Jude trotz seines Glaubens an Jesus Christus.27 Der Band der Schulbuchreihe ›Spuren lesen‹ für das erste und zweite Schuljahr beinhaltet auch Texte aus dem ›Alten‹ Testament. Da das Unterrichtswerk an einer Stelle die Verbindungslinien zur Tradition des Judentums betont, kann es als ein positives Beispiel hervorgehoben werden: Das Kapitel ›Andere Menschen glauben – Juden in der Synagoge‹ stellt nicht nur Lea und Dan als jüdische Kinder dar, sondern führt auch aus, dass die Thora ihre Heilige Schrift ist und die bereits bekannte Geschichte von Abraham und Sara beinhaltet.28 Nach Fiedler ist diese Darstellungsweise sachgemäß.29 Vorbildlich wäre das Kapitel dann, wenn es auch die anderen Texte des ›Alten‹ Testaments einbeziehen würde. Sehr gut gelungen ist auch das Kapitel ›Wer ist Jesus?‹ in demselben Band, da es eine Gegenüberstellung Jesu mit dem Judentum zu seiner Zeit vermeidet: Zum 22 23 24 25 26 27 28
Vgl. Fiedler, Judentum, 72. Vgl. Gauer und Graser, Reli-Reise 3/4, 92–93. Vgl. ebd., 69. Vgl. ebd., 14. Ebd., 86. Vgl. Fiedler, Judentum, 77. Vgl. Ulrike von Altrock/Yvonne Hoppe-Engbring/Petra Freudenberger-Lötz (Hg.), Spuren lesen. Religionsbuch für das 1./2. Schuljahr, Braunschweig 2010, 85. 29 Vgl. Fiedler, Judentum, 72.
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einen führt das Lehrwerk aus, dass Jesus Jude war, zum anderen benennt es Jesu Gegner als ›die Leute‹ und nicht explizit als Pharisäer.30 Ein Kausalzusammenhang mit seiner Passion wird dadurch umgangen, dass das Schulbuch seine Kreuzigung nur in einem Satz im Zusammenhang mit Ostern erwähnt.31 Nach dem Kategoriensystem von Spichal ist diese Darstellung als angemessen zu bewerten, da Jesu Judesein im Kontext verdeutlicht wird. Ebenso gut gelungen ist in Band 3/4 derselben Schulbuchreihe das Kapitel über den Exodus. Hier schildert das Lehrwerk die Erzählung als Glaubenserfahrung auf eine Weise, die für christliche Schüler*innen relevant ist. Zum Abschluss stellt das Kapitel diese Geschichten insgesamt in die Tradition des gegenwärtigen Judentums, indem es das Pessach-Fest und damit verknüpft die Bedeutung dieser Erzählungen für Menschen jüdischen Glaubens beschreibt.32 Darüber hinaus stellt dieses Schulbuch Paulus explizit als Pharisäer vor, der die Frohe Botschaft Jesu Christi verbreitet hat, und bietet somit im Gegensatz zum Lehrwerk aus der Reihe ›ReliReise‹ eine sachgemäße Darstellung.33 Eine weitere Verbindungslinie zwischen der christlichen Botschaft und der Tradition des Judentums stellt der Band 3/4 der Schulbuchreihe ›Spuren lesen‹ her, indem es die Thora in die christliche Botschaft positiv einbindet.34 So ergänzt es dort das Gebot der Nächstenliebe nach Mt 7,12 mit Informationen zur Tora. Auf diese Weise verdeutlicht es, dass das christlich zentrale Gebot der Nächstenliebe bereits in der Thora geschrieben steht. Ebenso ist in diesem Band Jesu Heilung am Sabbat Inhalt eines Kapitels, sein Judesein erwähnt der unmittelbare Kontext allerdings nicht.35 Vermutlich wird hier dieses Wissen vorausgesetzt, da der erste Band dieser Schulbuchreihe dies bereits thematisiert. Da dieser Text Pharisäer nicht konkret als Gegner Jesu benennt, kann die Darstellung nach dem Kategoriensystem von Spichal zumindest als akzeptabel bewerten werden. Zwar vermeidet das Schulbuch einen Kausalzusammenhang mit Jesu Passion, indem es dieses Kapitel nicht direkt anschließt, dennoch kann die Darstellung der Verantwortung für Jesu Tod nicht als angemessen bewertet werden, da das Lehrwerk diese nicht eindeutig Pontius Pilatus, sondern allein den Hohepriestern, Schriftgelehrten und Angesehensten des Volkes zuschreibt. Die Römer finden in diesem Zusammenhang keine Erwähnung.36 Trotz der aufgezeigten 30 Vgl. Altrock et al., Spuren lesen 1/2, 65; 68. 31 Vgl. ebd., 90. 32 Vgl. Petra Freudenberger-Lötz (Hg.): Spuren lesen. Religionsbuch für das 3./4. Schuljahr. Unter Mitarbeit von Ulrike von Altrock, Ulrike Itze, Edelgard Moers, Anita Müller-Friese, Brigitte Zeeh-Silva, Angelica Guckes und Yvonne Hoppe-Engbring. Braunschweig 2012, 46. 33 Vgl. ebd., 68. 34 Vgl. ebd., 66. 35 Vgl. ebd., 65. 36 Vgl. ebd., 69.
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Verbindungslinien zwischen Christentum und Judentum betont derselbe Band die exklusive Beziehung zwischen diesen beiden Religionen in dem Kapitel zum Judentum nicht. Es erscheint hier vielmehr als eine weitere Religion neben dem Islam und dem Christentum.37
5.
Zusammenfassung und Vergleich der Ergebnisse
Die Analyse hat gezeigt, dass der neue Lehrplan für evangelische Religion an Grundschulen in Bayern bei zentralen Themen wie der Nächsten- und Feindesliebe, dem Vaterunser, der Bergpredigt sowie Glaubensgeschichten aus dem ›Alten‹ Testament oder den Zehn Geboten versäumt, die Verbindungslinien zur Heiligen Schrift des gegenwärtigen Judentums herauszustellen. Zudem wird das Judentum nur als eine weitere Religion neben dem Christentum und dem Islam erwähnt. Die exklusive Beziehung zwischen Christentum und Judentum gerät auf diese Weise aus dem Blick. Im Vergleich dazu gestaltet sich der frühere Lehrplan aus dem Jahr 2000 mit seinen inhaltlichen Vorgaben diesbezüglich noch wesentlich umfangreicher, da er ein eigenes Kapitel ›Begegnung mit dem Judentum‹ beinhaltet.38 So sollen Psalmen als gemeinsame Verbindung benannt und der Exodus im jüdischen Selbstverständnis dargestellt werden. Ebenso soll Thema sein, dass die Geschichten des ›Alten‹ Testaments von Gottes Handeln mit den Menschen erzählen. Die genannte inhaltliche Reduktion im neuen Lehrplan führt folglich dazu, dass die wichtigen Verbindungslinien zwischen Judentum und Christentum aus dem Blick geraten. Diese sind aber zentral, um antijüdischen Vorurteilen entgegenzuwirken. Die Schulbuchreihen ›Reli-Reise‹ und ›Spuren lesen‹, die für Grundschulen in Bayern zugelassen sind und somit dem Lehrplan entsprechen, beinhalten ebenfalls viele Texte des ›Alten‹ Testaments sowie das Vaterunser und die Bergpredigt. Jedoch zeigt nur die Reihe ›Spuren lesen‹ die Verbindungslinien zwischen Judentum und Christentum auf, indem die Geschichte über Abaraham und Sara sowie der Exodus auch im Horizont der jüdischen Tradition gedeutet werden. Zudem stellt es Paulus als Pharisäer dar und verknüpft das Gebot der Nächstenliebe mit der Tora. Jesu Judesein ist ein weiterer zentraler Inhalt, der thematisiert werden muss, um antijüdischen Vorurteilen vorzubeugen. Dieser ist im neuen Lehrplan Plus deutlich ausgeführt und seine Zuwendung zu Sünder*innen in diesem Kontext benannt. Seine Passion ist sowohl im älteren als auch im neuen Lehrplan Un37 Vgl. ebd. 100–101. 38 Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hg.), Lehrplan für die Grundschule. München 2000, 164.
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terrichtsinhalt, jedoch wird auch in der neueren Version nicht deutlich, dass die Hauptverantwortung für Jesu Tod bei Pontius Pilatus liegt. Das Lehrwerk ›Spuren lesen‹ schreibt die Verantwortung gar allein den Hohepriestern, Schriftgelehrten und Angesehensten des jüdischen Volkes zu. Der neue Lehrplan sieht den Begriff ›Messias‹ als Inhalt vor, betont Jesu Judesein und sein Selbstverständnis in diesem Zusammenhang jedoch nicht. Der alte Lehrplan hingegen zeigt deutlich, dass die ersten Zeug*innen das Osterereignis im jüdischen Horizont gedeutet haben.39 Leider führt auch an dieser Stelle die inhaltliche Kürzung im neuen Lehrplan dazu, dass ein zuvor ausgeführter wichtiger Aspekt der Antisemitismus-Prävention ausgeklammert wird. Jesu Auslegung des Sabbatgebotes ist im neuen Lehrplan sowie in den untersuchten Lehrwerken Thema. Keine Textstelle betont ausdrücklich, dass es sich dabei um innerjüdische Auseinandersetzungen handelt. Während die Darstellung in der ›Reli-Reise‹ einen Kausalzusammenhang zwischen den Auseinandersetzungen mit Pharisäern und seiner Passion herstellt, vermeidet dies das Buch ›Spuren lesen‹, indem die betreffenden Kapitel nicht direkt aufeinander folgen. Der alte Lehrplan aus dem Jahr 2000 hingegen thematisiert den Konflikt um die Sabbatauslegung nicht. Dies hat vermutlich didaktische Gründe, die das folgende Kapitel abschließend darlegt.
6.
Didaktische Impulse
Um antijüdischen Vorurteilen im christlichen Religionsunterricht bereits in der Primarstufe grundlegend entgegenwirken zu können, sind die Verbindungslinien zur jüdischen Tradition vor allem bei den christlichen Kernthemen herauszustellen: Zentral sind hier die Nächsten- und Feindesliebe, die Bergpredigt, das Vaterunser, die Glaubensgeschichten des ›Alten‹ Testaments, die Psalmen, die Zehn Gebote, der Exodus sowie der Prophet Jesaja. Das Judentum ist eben nicht einfach eine weitere Weltreligion neben dem Christentum und dem Islam, sondern der Wurzelgrund des christlichen Glaubens. Zudem genügt es nicht, Jesu Judesein zu betonen und in einzelnen Details genau zu illustrieren, wenn nicht auch seine Auseinandersetzungen mit Pharisäern als innerjüdische Konflikte dargestellt sind. Diese gehören ebenso zu seiner jüdischen Identität wie das Pilgern nach Jerusalem oder das Feiern des Passamahls. Darüber hinaus ist es dringend zu vermeiden, zwischen diesen Auseinandersetzungen und seiner Passion einen Kausalzusammenhang herzustellen, sei es auch nur durch die direkte Aufeinanderfolge dieser beiden Themen. Um dem Eindruck entgegenzuwirken, allein das jüdische Volk und dessen geistliche Führung seien für Jesu 39 Vgl. ebd., 163.
Antisemitismus-Prävention: Ein kritischer Blick in Lehrpläne und Schulbücher
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Tod verantwortlich, sollte die Hauptverantwortung deutlich Pontius Pilatus als Executive der römischen Besatzungsmacht zugeschrieben werden. Ob es sinnvoll ist, Jesu Konflikte um die Auslegung des Sabbatgebotes bereits in der Grundschule zu thematisieren, bleibt zu diskutieren. Häufig reduzieren Lehrmittel diese theologische Fragestellung darauf, ob es in Ordnung sei, Menschen und Tieren in einer Notlage zu helfen. Jedes Kind wird hier natürlich zustimmen und den Gegnern Jesu eine lebensverachtende rigide Einstellung zum Gesetz vorwerfen. Ein Verständnis für innerjüdische theologische Streitigkeiten kann von Kindern im Grundschulalter noch nicht erwartet werden. Um Jesu Ethik zu verdeutlichen ist es daher zielführender, seine Zuwendung zu Ausgestoßenen der damaligen Gesellschaft darzustellen. Ein berühmtes Beispiel für einen Pharisäer, der trotz seines Christusglaubens den Weisungen der Tora verpflichtet bleibt, ist Paulus. Die sogenannte ›New Perspective on Paul‹ der neutestamentlichen Exegeten Ed P. Sanders und James D. G. Dunn hat der weit verbreiteten Interpretation, dass Paulus mit seinen Äußerungen in Phil 3,1–8 die Thoraobservanz als ›Heilsweg‹ für beendet erkläre, entgegengewirkt, indem sie sie in einen zeitgenössischen jüdischen Kontext rückt: Paulus verkündet seine christliche Botschaft auf der Grundlage seiner jüdischen Tradition, gerät jedoch zunehmend in Konflikt mit neuen Mitgliedern der christlichen Gemeinden ohne jüdischen Hintergrund. Allein auf diese Gruppe sind seine Gegenüberstellungen von Gesetz und Glaube bezogen, denn Paulus möchte betonen, dass Gott auch Heiden annimmt, ohne dass sie sich an den jüdischen ›identity markers‹, d. h. Speisevorschriften und Beschneidung, beteiligen müssen.40 Eine Darstellung, die Paulus’ Damaskuserlebnis als eine Abkehr von seinen jüdischen Wurzeln vermittelt, ist daher sachlich falsch. Wie die Analyse in dem vorliegenden Beitrag gezeigt hat, werden die genannten Aspekte der Antisemitismus-Prävention in dem neuen Lehrplan und den Schulbüchern zwar stellenweise berücksichtigt, größtenteils jedoch nicht beachtet bzw. auch sachlich falsch dargestellt. Grundlegende Überarbeitungen der Schulbücher ist ein langwieriger Prozess, der auch nicht unbedingt zum gewünschten Ergebnis führt. Neue Lehrpläne tendieren dazu, inhaltlich immer weniger auszuformulieren, wodurch viele wichtige Punkte aus dem Blick geraten. Daher liegt es an der Lehrperson selbst diese Aspekte ihn ihren Unterricht einfließen zu lassen. Wichtig ist dabei, die Verbindungslinien zwischen Judentum und Christentum nicht nur gelegentlich zu erwähnen, sondern bei den in diesem Beitrag genannten wesentlichen christlichen Themen zu betonen. Nur auf diese Weise ist es möglich, christlichem Antisemitismus auf lange Sicht entgegenzuwirken. 40 Vgl. James D. G. Dunn, The New Perspective on Paul, Collected Essays, Tübingen 2005. Siehe zu Paulus’ Toraverständnis sowie Jesu Verhältnis zu Pharisäern in der neutestamentlichen Forschung ausführlich: Spichal, Vorurteile. (ein genauerer Verweis wäre hier evtl. sinnvoll).
Roland Biewald
Judentum erleben – Begegnung mit jüdischer Gegenwartskultur als Antisemitismus-Prävention. Unterrichtsbausteine für die Grundschule (Klassenstufe 3–4)
1.
Didaktische Vorüberlegungen
Das Thema Antisemitismus-Prävention bringt im Hinblick auf den Religionsunterricht in der Grundschule mehrere didaktische Herausforderungen mit sich. Allein die Sache ist komplex, denn es verbinden sich mit ihr ethnische, theologische und vor allem historische Sachverhalte, die bei Grundschüler*innen – selbst wenn man nur an die Klassenstufen 3 und 4 denkt – nicht vorausgesetzt werden können. Außerdem ist ein Lebensweltbezug nur selten direkt gegeben, da jüdische Gemeinden hierzulande nur in den Großstädten präsent sind. Und auch dort sind antisemitische bzw. antijüdische Haltungen glücklicherweise nicht alltäglich. Das soll jetzt keineswegs eine Verharmlosung der latenten und immer wieder auftretenden antisemitistischen Einstellungen und Aktionen sein, sondern lediglich die lebensweltlichen Wahrnehmungen durch Grundschüler*innen ausloten. Sie bekommen Derartiges im Wesentlichen durch Medien und durch »aufgeschnappte« Gespräche im Familien- und Bekanntenkreis mit. Das werden die Kinder in den seltensten Fällen reflektieren und für sich thematisieren, so dass daraus schon eine Positionierung entstünde. Das Thema wird also für die allermeisten Kinder im Unterricht an sie herangetragen, es hat mit ihrer Lebenswelt nicht viel zu tun. Daher müssen wir auf eine tiefere Ebene gehen und nach den Nährböden für Antisemitismus suchen. In Anlehnung an das Elementarisierungskonzept nach F. Schweitzer wären die elementaren Zugänge also dort zu suchen, wo Grundschulkinder Vorurteilen, Ausgrenzungen, Beschimpfungen und Beleidigungen gegenüber Jüdinnen und Juden begegnen. Wenn diese über Bezugspersonen – sowohl Erziehungsautoritäten als auch gleichaltrige Freunde – vermittelt werden, dann können sich unreflektiert entsprechende Einstellungen ausbilden. Dieser Prozess ist zunächst noch unabhängig von religiösen oder ethnischen Inhalten. Statistisch gesehen werden sich solche unsozialen Haltungen in den wenigsten Fällen zum Antisemitismus ausbilden, aber sie liefern den Nährboden dafür. Das Anliegen der Antisemitismus-Prävention im Religionsunterricht der Grundschule, das da-
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Roland Biewald
hinter liegende Ursachen bearbeitet, hat daher einen breiteren Bezugsrahmen: Die Prävention gegenüber Ausgrenzungen überhaupt, z. B. auch Mobbing in der Schulklasse, weil es hier um dieselben Mechanismen geht. Wenn also bei lebensweltlichen Erfahrungen aus dem sozialen Umfeld der Kinder hinsichtlich der Entstehung von Ausgrenzungsmechanismen angesetzt wird, dann bietet sich folgender didaktische Weg an: Erstens: Wahrnehmen, Bewusstmachen und Reflektieren von Aussagen, Verhaltensweisen und Handlungen, durch die andere Kinder in irgendeiner Weise »abgestempelt«, mit Vorurteilen belegt und ausgegrenzt werden, z. B. anhand von Schimpfwörtern, Beleidigungen, Spielen oder bzgl. des Sozialverhaltens (Gruppendynamiken). Zweitens: Kennenlernen der Lebensgeschichte (Schulzeit) eines jüdischen Mädchens, das in einer zunehmend antisemitisch eingestellten Umwelt die Ausgrenzung erlebte (Dresden 1930–1945) und Entdecken von Ähnlichkeiten zwischen bereits festgestellten Ausgrenzungsmechanismen und den Lebenserfahrungen dieses Mädchen: Präsentation der Lebensgeschichte, Spielerische Unterhaltung mit dem Mädchen, Festhalten von Erkenntnissen. Drittens: Entdecken von Gründen, warum gerade Jüdinnen und Juden ausgegrenzt wurden und werden: Besonderheiten der jüdischen Religion, die bei Unkenntnis der Hintergründe Vorurteile schüren können (Sabbatheiligung, Synagoge, hebräische Schrift und jiddische Sprache, Speisevorschriften in exemplarischer Auswahl; eventuell ein aktuelles Beispiel aus den Medien). Viertens: Ein Beispiel für eine Begegnung mit jüdischer Gegenwartskultur: Teilnahme an einem jüdischen Fest (z. B. Chanukkafest), Einübung in einen Dialog: Wie gehe ich damit um, wenn mich an einem anderen etwas stört oder wenn mir etwas fremd vorkommt?
2.
Kompetenzorientierte Ziele für die Klassenstufen 3 und 4
Die Schüler*innen sind in der Lage, verschiedene Wirkmechanismen für Ausgrenzungen anhand ihrer Lebens- und Erfahrungswelt zu identifizieren und haben Perspektivübernahmen von Ausgrenzenden und Ausgegrenzten geübt. Sie haben spielerisch geübt, wie Ausgrenzungen vermieden werden können und wie eine Gemeinschaft mit Menschen, die irgendwie »anders« sind, gestaltet werden kann. Sie sind mit der Ausgrenzung von Menschen aufgrund ihrer Religion am Beispiel von jüdischen Menschen bekannt gemacht worden und wissen sinngemäß, was Antisemitismus ist und dass es diese Form der Ausgrenzung und Anfeindung auch heute noch gibt. Außerdem haben sivon Begegnungsmöglichkeiten mit Menschen jüdischen Glaubens erfahren und sind in der Lage,
Begegnung mit jüdischer Gegenwartskultur als Antisemitismus-Prävention
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selbst an Begegnungen teilzunehmen und dadurch mit dem jüdischen Leben und Glauben besser bekannt zu werden. Dies befähigt sie dazu, möglichen Formen des Antisemitismus (abwerten, beschimpfen, lächerlich machen, anfeinden, ausgrenzen von Jüdinnen und Juden) kritisch zu begegnen und darüber mit erwachsenen Bezugspersonen zu sprechen.
3.
Unterrichtsbausteine
Die in den folgenden Bausteinen vorgestellten thematischen Zugänge, Themen und methodischen Ideen können je nach der zur Verfügung stehenden Zeit konsekutiv oder alternativ realisiert werden. Selbstverständlich ist eine Konkretisierung im Hinblick auf die jeweilige Lerngruppe notwendig. Vor allem dann, wenn lokale Bezüge zu einer jüdischen Gemeinde oder Synagoge in der Nähe möglich sind, sollten diese genutzt werden.
3.1.
Baustein: Mechanismen der Ausgrenzung
3.1.1. Schimpfwörter können verletzen Schimpfwörter sind im Alltag der Grundschulkinder präsent, denn sie werden von allen Altersgruppen gebraucht und werden auch durch die Medien in die Kinderzimmer transportiert. Die Häufigkeit und Deftigkeit variiert je nach sozialem Milieu und ethischer Orientierung. Man könnte einwenden, ob die Beschäftigung mit Schimpfwörtern nicht zu riskant ist, so dass sich womöglich gegenteilige Effekte einstellen könnten, indem die Kinder diese erst lernen. Erfahrungen zeigen jedoch, dass alle Kinder bestimme Erfahrungen damit gemacht haben und es gerade darauf ankommt, diese zu thematisieren und sowohl sachlich wie auch ethisch verantwortlich zu reflektieren. Ziel ist eine Sensibilisierung für den Schaden, den Schimpfwörter bei den betroffenen Personen anrichten können sowie die Einübung von Umgangsformen, die das Austragen von Konflikten ohne Diffamierungen und Ausgrenzungen ermöglichen. Methodische Anregungen Brainstorming: Welche Schimpfwörter habt ihr schon gehört? Wer verwendet sie? Welche verwendet ihr selbst? Wen meint ihr damit? Warum verwendet ihr gerade dieses Wort für jene Person? Wie geht es euch, wenn ihr selbst mit einem bestimmten Schimpfwort belegt werdet?
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Roland Biewald
Eine Liste von Schimpfwörtern wird visualisiert und nach ihrer Herkunft geordnet, z. B. Tiere (»Schwein«), körperliche Defizite von Menschen (»Brillenschlange«; »Spasti«), Gruppen von Menschen (»Schwuchtel«, »Penner«, »Assi«). An dieser Stelle wird sich zeigen, ob das Wort »Jude« als Schimpfwort auftaucht. Das ist im Grundschulalter erfahrungsgemäß selten der Fall. Sollte es auftauchen, wird es markiert und als Brücke zur nächsten Einheit verwendet. Taucht es nicht auf, wird in der zweiten Einheit in der Eröffnungsphase ein Beispiel dafür präsentiert, dass manche Menschen auch »Jude« als Schimpfwort verwenden. Diese Phase ist nicht ganz unproblematisch, denn die Sammlung wird zunächst Belustigung auslösen. Schon bei der Zuordnung der Wörter sollte die/der Unterrichtende die Problematik ganz knapp kommentieren. Anschließend wird jedes Schimpfwort genau unter die Lupe genommen. Welche Eigenschaften verbinden sich damit? Was soll über den betreffenden Menschen damit ausgesagt werden? Aus welchen Gründen drücken Menschen etwas Negatives oder Abstoßendes damit aus? Was sage ich über mich selbst aus, wenn ich bestimmte Schimpfwörter benutze? Sollte »du Jude« bereits als Schimpfwort genannt worden sein, muss es hier auch inhaltlich thematisiert werden. Vermutlich werden Grundschulkinder ratlos sein, weil sie den Ausdruck vom Hörensagen übernommen haben. Es kann nun das Interesse der Kinder geweckt werden, sich in den folgenden Unterrichtseinheiten näher damit zu beschäftigen. In dieser Phase wird sich für manche Kinder erst einmal der sprachliche Bedeutungshintergrund des einen oder anderen Wortes erschließen. Erfahrungen zeigen, dass Kinder teilweise falsche Assoziationen mit einem Wort verbinden. Z. B. wurde das Schimpfwort »Spasti« als »kleiner Vogel«, assoziiert mit »Spatzi« interpretiert. Auch für gängigere Schimpfwörter, z. B. diejenigen aus dem Tierreich, werden sich für die Kinder klarere Vorstellungen ausbilden, um welche Eigenschaften es eigentlich geht, die man auf bestimmte Menschen überträgt. Unterrichtsgespräch: Was stört mich an bestimmten Menschen? Warum? Wie kann ich damit umgehen, ohne den anderen zu verletzen? Ergebnissicherung: Darstellung der kritischen Reflexion zu bestimmten Schimpfwörtern, z. B. mit einem Arbeitsblatt (Anlage M 1). 3.1.2. Arbeit mit der Zachäus-Geschichte. Die Zachäus-Geschichte (Lk 19, 1–9) ist in den meisten Lehrplänen für den Religionsunterricht in der Grundschule vorgesehen (z. B. Lehrplan für Sachsen, Klasse 3, Lernbereich 3). Mit einer vertiefenden Methode, z. B. Rollenspiel, wird sie in den thematischen Zusammenhang eingebettet. Sie liefert zugleich eine Perspektive zur Überwindung von Ausgrenzungen.
Begegnung mit jüdischer Gegenwartskultur als Antisemitismus-Prävention
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Da es zu dieser Geschichte schon unzählige Unterrichtshilfen und -ideen gibt, sollen hier nur einige didaktische Anmerkungen stehen. Zächaus kann eine Identifikationsfigur für Kinder sein, die ausgegrenzt oder von anderen quasi an den Rand gedrängt werden. Die biblische Figur des Zöllners Zachäus ergibt sich aber nicht in sein Schicksal, sondern ergreift die Initiative und klettert auf einen Baum. Dort wird er von Jesus gesehen, angesprochen und eingeladen. Der eigentliche Hintergrund seiner Ausgrenzung, dass er als Jude mit der römischen Besatzungsmacht kollaboriert und diese Position ausnutzt, um für sich unrechtmäßig etwas Geld abzuzweigen, wird bei der Behandlung der Geschichte in der Grundschule meistens vernachlässigt. Auf diese Hintergrundgeschichte sollte man aber nicht verzichten, denn sie ermöglicht eine Auseinandersetzung mit einer exemplarischen Lebensgeschichte, die in die Ausgrenzung geführt hat. Dabei könnte allerdings der Gedanke aufkommen: Er ist ja selbst schuld. Wäre er nicht Zolleinnehmer geworden, würde er von den anderen nicht angefeindet und ausgegrenzt. Daher sollte seine Geschichte nicht klischeehaft, sondern differenziert eingeführt werden. Man kann sich dabei eines Klassikers bedienen: Walter Neidhart hat dazu in seinem Erzählbuch sehr ausführlich und sorgfältig eine Lebensgeschichte konstruiert.1 Das erste Ziel ist es also, dass die Kinder verstehen, wie ein Mensch in die Situation einer Ausgrenzung gelangen kann. Das zweite Ziel ist es dann, dass sie entdecken, welche Umstände dazu beitragen, dass Zachäus in eine Gemeinschaft integriert wird. Das ist zunächst seine Eigeninitiative. Er klettert auf den Baum, er will Jesus sehen, d. h. er will an einem Ereignis teilhaben, von dem ihn andere ausschließen wollen. Schließlich ist es das Handeln Jesu, das ihn in die Gemeinschaft integriert. Im Kontext des biblischen Kerygmas ist das ›Heilshandeln‹, denn die soziale Integrität wird geheilt. Dazu gehört weiterhin eine Gemeinschaft, die bereit ist, ihn anzunehmen. Einige grummeln und ärgern sich, aber auch das gehört zur Realität menschlicher Gemeinschaften. Die Nörgler sind am Ende draußen. Die Ausgrenzung kehrt sich um. Soweit sollte man mit der Interpretation hier aber nicht gehen. Es genügt, das Bild der Gemeinschaft einschließlich der finanziellen Wiedergutmachung durch Zachäus am Ende stehen zu lassen. Das ist zugleich eine geeignete Überleitung zum nächsten Methodenvorschlag.
1 Vgl. Neidhart, Walter und Hans Eggenberger (Hg.): Erzählbuch zur Bibel. Theorie und Beispiele, Zürich/Einsiedeln/Köln 3. Aufl. 1979, 34–55.
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3.1.3. Spielerisches Ausprobieren und Einüben von Verhaltensstrategien gegenüber ausgegrenzten Menschen Diese Methode bildet einen Zwischenschritt, mit dem bereits an dieser Stelle Wege der Überwindung von Ausgrenzungen spielerisch dargestellt und eingeübt werden. Sie kann durchaus auch an das Ende der Unterrichtseinheit gesetzt werden. Sinnvoll ist sie hier, weil sie sich zunächst nur auf die allgemeinen Mechanismen von Ausgrenzungen bezieht. Das Thema Judenfeindlichkeit/Antisemitismus wird erst mit dem nächsten Baustein eingeführt und am Schluss anhand einer Begegnung in der jüdischen Gemeinde reflektiert und vertieft. Insbesondere eignen sich hier Rollenspiele, aber auch Brettspiele, Interaktionsspiele2 oder Kooperationsspiele. Bei der Auswahl der Spiele muss darauf geachtet werden, dass sich Kinder in die Rolle eines Ausgegrenzten versetzen können (Einübung in die Perspektivenübernahme) und dass nicht zu schnelle und einfache Lösungen gefunden werden. Die Gründe derer, die das Kind ausgrenzen, sollten genau reflektiert werden. An Lösungen muss »gearbeitet« werden. Als Lösung genügt auch ein Ausblick auf Wege zur Überwindung und Vermeidung von Ausgrenzungen. In den Spielesammlungen gibt es dazu zwei Grundtypen von Spielen. Der erste ist der Typ »Einer muss raus«. Dabei wird eine Situation konstruiert, die es erfordert, dass eine Person die Gruppe verlassen muss. Die Teilnehmer müssen mehrheitlich zu einer Entscheidung kommen, wer das ist. Hier ist Vorsicht geboten, dass nicht ein Kind hinausgeworfen wird, das sowieso schon Außenseiter ist oder gar gemobbt wird. Daher muss das Spiel so angelegt werden, dass die Spieler*innen zuvor Rollen zugeteilt bekommen, die mit bestimmten Eigenschaften verbunden sind. Diese Rollen dürfen sie sich nicht aussuchen, sie sind sozusagen Schicksal. Dieser Spieltyp ermöglicht die Identifikation mit Ausgeschlossenen. Umgekehrt gibt es den Spieltyp »Lasst mich rein!«, wobei ein Kind versucht, in eine bestehende Gruppe zu gelangen.3 Diese Gruppe schottet sich aber ab. Es gibt dann verschiedene Varianten, den Zugang zu erlangen, vom Anbiedern über Fähigkeiten, die die Gruppe brauchen könnte, bis hin zum ›Sich-Einkaufen‹. Wichtig ist dabei die Reflexionsphase, in der über die Gründe nachgedacht wird, aus denen eine Person (wieder) integriert wird: Sind sie nur vorgeschoben oder materieller Art oder geht es um die Person?
2 Vgl. Klaus W. Vopel, Interaktionsspiele für Kinder (8–12-Jährige), Teil 1–4, Hamburg 1978. 3 Ein Klassiker: Vgl. Hans Frör, Spiel und Wechselspiel, Kommunikationsspiele für Gruppen. Material und Methodik, München 1974. Hier z. B. »Ich will zu euch gehören« (S. 133).
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Es bietet sich an, je ein Spiel eines der beiden Spieltypen durchzuführen, gegebenenfalls auch mit Rollenwechsel, so dass sich mehrere Kinder in die Lage des Ausgegrenzten versetzen können.4 Die Wahrnehmung und Reflexion von Gefühlen zur Erfahrung hinausgeworfen zu werden, lässt sich auch mit klassischen Brett- und Würfelspielen erreichen. Rollenspiele, bei denen zuvor »Schicksalskarten« ausgeteilt werden, die den Spielern eine bestimmte biografische Situation zuteilen, z. B. Armut, Reichtum, geringe oder gute Bildungschancen, Gesundheit, Krankheit, Behinderung, Aussehen) eignen sich, um sich mit Ausgrenzungsmechanismen auseinanderzusetzen, die vom Ausgegrenzten nur schwer zu beeinflussen sind, aber in einer bestimmten sozialen Gruppe wirken. Ein Klassiker ist das Spiel »Glück«5. Das müsste jedoch für das Alter der Grundschulkinder entsprechend modifiziert werden. Alle diese Spielvorschläge sind nur mit einer altersgemäßen Reflexionsphase sinnvoll. Diese ist in den meisten Spielanleitungen auch vorgesehen.
3.2.
Baustein: Henny – ein fröhliches Mädchen in einer dunklen Zeit
3.2.1. Überleitung zur Lebensgeschichte von Henny Brenner In jener Zeit, als jüdische Menschen hier verfolgt wurden, lebte in Dresden ein Mädchen, das diese Ausgrenzung und Verfolgung miterlebt hat. Sie und ihre Eltern haben überlebt, aber all ihr Eigentum verloren. Später, als sie eine erwachsene Frau war, schrieb sie diese Geschichte auf.6 Henny erzählt uns, wie Ausgrenzungen und Anfeindungen in ihrer Schulzeit begannen und wie sie darunter litt. Sie wusste gar nicht, warum Menschen so etwas tun. Wir schauen uns einen Teil ihre Lebensgeschichte, die Schulzeit an. Dabei wollen wir entdecken, warum Jüdinnen und Juden verfolgt wurden, wie es zu dem Schimpfwort Jude kam und was wir für uns heute daraus lernen können. Der Textauszug »Schulwechsel« (Anlage M 2) wird entweder abschnittweise gelesen, vorgelesen oder nacherzählt. Das Lesen kann jeweils durch Erklärungen von Sachverhalten unterbrochen werden. Hierfür ist entsprechend viel Zeit einzuplanen. Es ist zugleich auch eine Leseübung für die Kinder. Wegen der 4 Einige für die Grundschule geeignet Spiele finden sich zum Beispiel in: Landesinstitut BerlinBrandenburg (Hg.), TeamSozialesLernen / LISUM, Auswahl an Übungen zum Sozialen Lernen, (Seminar 2006), https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/schule/Schulen_ in_Berlin_und_Brandenburg/schulformen_und_schularten/schulformen_berlin/hauptschule/ Uebungen_zum_Sozialen_Lernen.pdf (Stand: 28. 05. 2020). 5 Frör, Spiel und Wechselspiel, 138. 6 Henny Brenner ist im Mai 2020 im Alter von 95 Jahren verstorben.
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Länge des Textes muss die verwendete Methode im Hinblick auf die Lerngruppe gut überlegt werden. Die Nacherzählung spart Zeit und kann notwendige Erklärungen integrieren und schwierige Sätze in kindgerechter Sprache formulieren. Das Vorlesen spart noch mehr Zeit, setzt aber eine gute Aufmerksamkeit der Kinder voraus. Unabhängig von der Methode werden Bilder (Anlage M 3) angeschaut. Die Lehrperson sollte das gesamte Büchlein gelesen haben, um in den familiären Rahmen von Henny einführen zu können. Dass es sich bei den Eltern von Henny um eine Mischehe ( jüdische Mutter und christlicher Vater) handelt, muss hier nicht erwähnt werden. Es können auch weitere Sachverhalte aus der Lebensgeschichte eingebaut werden, die zum Thema passen, z. B. aus dem nachfolgenden Kapitel »Ausgegrenzt«. Die Grundschüler*innen werden die Zusammenhänge dieses historischen Ausfluges in die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus nur bruchstückhaft erfassen können. Daher ist es hilfreich und im Rahmen dieses Themas pädagogisch angebracht, einen Ausblick auf das Überleben der Familie Brenner zu geben. Für die Erarbeitungsphase A (Partnerarbeit) werden Leitfragen zum Text auf einem Arbeitsblatt ausgeteilt. Auch wenn die Geschichte nacherzählt wurde, sollte den Kindern eine Textfassung vorliegen. Beispiele für die Leitfragen: Versucht einmal, euch in die Lebensumstände der Henny hinein zu versetzen. Sprecht über eure Gefühle. Tragt zusammen, welche Benachteiligungen und Ausgrenzungen Henny in der Schule erlebt. Tauscht euch über das Erlebnis Hennys aus, als die von einer Lehrerin als »deutsches Mädel« vorgeführt wurde. Wie hättet ihr in diesem Fall reagiert? Vergleicht das, was Henny erlebte, mit Ausgrenzungen, Spott und Anfeindungen, die ihr selbst erlebt habt. Was ist ähnlich, was ist anders? Diskutiert darüber, warum Menschen auf den Gedanken kommen, jüdische Menschen auszugrenzen und zu beleidigen. Es folgt die Erarbeitungsphase B (Gruppengespräch). In zwei Gruppen stellen sich die Schüler*innen ihre Ergebnisse vor und tauschen sich darüber aus. Sollte die Lerngruppe von vornherein klein sein, kann das auch im Plenum geschehen. Abschließend erfolgen eine Präsentation der aus der Geschichte gewonnenen Erkenntnisse sowie die Ergebnissicherung. Diese kann z. B. in Form einer Wandzeitung gestaltet werden. Neben den durch die Geschichte vermittelten Sachverhalten soll deutlich werden, welche allgemeinen Mechanismen der Anfeindung und Ausgrenzung auf aktuelle Beispiele übertragen werden können. Am Schluss steht ein Ausblick: Heute gibt es in Deutschland nur wenige Menschen jüdischen Glaubens. Jüdische Gemeinden mit Synagogen (Gotteshäusern) gibt es fast nur in Großstädten. Aber auch heute werden Jüdinnen und Juden auch noch angefeindet und ausgegrenzt.
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Hausaufgabe: Erkundige dich, wo die nächste Synagoge/ Jüdische Gemeinde ist. Frage deine Eltern und Bekannten, ob es in letzter Zeit Meldungen über Anfeindungen gegenüber jüdischen Menschen und Synagogen in den Medien gegeben hat.
3.3.
Baustein: Jüdisches Leben und jüdischer Glaube – Neugier statt Befremden
Der dritte Baustein macht die Kinder mit ausgewählten Sachverhalten des jüdischen Alltagslebens, das von religiösen Regeln bestimmt ist, bekannt. Hierbei kann auch auf bereits in den vorangehenden Klassenstufen behandelte Themen zurückgegriffen werden. Ziel ist es, das was in einem christlichen oder entkirchlichten Kontext als Eigentümlichkeit des Judentums erkennbar ist, nicht als befremdlich erscheinen zu lassen, sondern die Neugier der Kinder dafür zu wecken. Warum haben Jüdinnen und Juden einen anderen wöchentlichen Feiertag? Wozu brauchen sie Synagogen? Warum tragen Männer manchmal eine Kopfbedeckung? Warum halten sie bestimmte Speisegebote ein? Welche Rolle spielt die hebräische Schrift und Sprache? Den Schüler*innen soll deutlich werden, dass Besonderheiten einer anderen Religion und Kultur dann als befremdlich und vielleicht angstmachend erscheinen, wenn man die Hintergründe nicht kennt. Dann führt das, wie beim Beispiel der Henny, zu Ausgrenzungen und im schlimmsten Fall zu Anfeindungen und Verfolgungen. Wenn man sich aber dafür interessiert, mit den Menschen ins Gespräch kommt und vielleicht auch an einem Fest oder Gottesdienst teilnimmt, dann lernt man die Menschen und ihre Religion verstehen. Das fördert das Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft. Die beiden Themen dieses Bausteins sind als Anregungen zu verstehen, die in Auswahl behandelt werden können. Bei jedem Thema sollte einerseits ein Bezug zur Henny-Geschichte hergestellt werden und andererseits deutlich gemacht werden, wie die Beschäftigung mit Sachverhalten aus dem jüdischen Leben Ausgrenzungen vermeiden und ein freundschaftliches Miteinander fördern kann. Da diese und weitere Themen (z. B. jüdische Feste, Speisegebote) Teil einer »Einführung ins Judentum« sind, wie sie in den Grundschullehrplänen vorgesehen ist, sollen hier einige Anregungen genügen.7 7 Weitere ausgearbeitete Ideen finden sich z. B. in der Arbeitshilfe »Judentum erleben«, die von der Dresdener Bildungs- und Begegnungsstätte für jüdische Geschichte und Kultur Sachsen e. V. »HATIKVA« herausgegeben wurde und über folgenden Link abrufbar ist: https://hatikva. de/index_htm_files/Judentum%20erleben%20gesamt.pdf (Stand: 09. 06. 2020).
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Hierbei sind Übungen zum Schreiben des eigenen Namens in Hebräisch motiverend: So würde mein Name aussehen, wenn er im Alten Testament stünde. Vielleicht haben einige Kinder einen Namen mit alttestamentlichem Ursprung, dessen Bedeutung dann erklärt werden kann. Zentral ist hierbei, dass ein Bezug zu den heiligen Schriften und zu den jüdischen Gemeinden in aller Welt hergestellt wird. Möglicherweise kann auch ein Synagogenbesuch sinnvoll sein, um Besonderheiten der Synagoge gegenüber einer christlichen Kirche kennenzulernen sowie Bauformen und ihre symbolische Wirkung im städtischen Umfeld zu sehen. Als Beispiel ist Dresden gezeigt (Bilder s. Anlage 3–3): Die Alte Synagoge (1938 zerstört) war einer Kirche ähnlich; die Neue Synagoge ist auffällig, erinnert an Tempel (außen), Stiftszelt (innen), aber auch an die Zerstörung der alten.
3.4.
Baustein: Zusammenleben statt Ausgrenzung
Einige jüdische Gemeinden laden oft Gäste zu bestimmten Festen ein, z. B. an einem Tag des Chanukkafestes oder des Laubhüttenfestes (Sukkot). Das ist eine ganz besondere Gelegenheit für eine Lerngruppe im Religionsunterricht, jüdische Bräuche kennenzulernen und jüdischen Kindern zu begegnen. Freilich sind die Kapazitäten der Gemeinden dafür sehr begrenzt und für weiter entfernte Schulen wird das schwer zu organisieren sein. Daher ist es einfacher, im Unterricht einen Erfahrungsbericht von einer solchen Begegnung zu verwenden. Dieser kann die authentische Begegnung nicht ersetzen, wird aber einiges von dem vermitteln, worauf es ankommt: Gespräche und Kontakte zu suchen, ein wenig Zusammenleben zu praktizieren, um Vorurteile in Beurteilungen und Befremdliches in Bekanntes zu ändern. Wenn tatsächlich eine Einladung zur Teilnahme am Chanukkafest vorliegt, wird der Besuch in einer Unterrichtsstunde vorbereitet. Falls die jüdischen Feste im Jahreslauf bereits behandelt wurden, kann darauf zurückgegriffen werden. Jetzt kommt es besonders darauf an, neben dem Wissen zum Ursprung und Thema des Chanukkafestes die Bedeutung der Bräuche für das aktuelle jüdische Leben aufzuzeigen. Zwei Aspekte sollten dabei im Vordergrund stehen: Das Entzünden des Lichtes am Chanukkaleuchter und das fröhliche Miteinander von Gemeindemitgliedern und Gästen, die miteinander reden, essen und trinken, Musik kören und vielleicht eine Darbietung der Kinder- und Jugendgruppe sehen. Der erste Aspekt führt erfahrungsgemäß in ein Gespräch über jüdische und christliche Festtraditionen, weil die Chanukkalichter eine Assoziation zu den Advents- und Weihnachtslichtern nahelegen. Also werden diesbezügliche Fragen und Gesprächsthemen mit den Kindern vorbereitet.
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Der zweite Aspekt ist im Grunde einer, der bei allen Festen zu beobachten ist: Man kann nur gemeinsam feiern. Es ist ein fröhliches Fest, die Gemeinde erinnert sich an ein freudiges Ereignis: Der Tempel konnte nach längerer Zeit wieder benutzt werden und ein Wunder begleitete die Einweihung. Auch wenn der Tempel heute nicht mehr steht, wirkt dieses Ereignis bis heute nach. Die Freude darüber bewegt die Gemeinde immer noch. Sie öffnet ihre Türen für Gäste. Hier schließ sich gut ein Gespräch über die scheinbare Abgeschlossenheit der jüdischen Gemeinde und die Offenheit nach außen an, über Erfahrungen der Ausgrenzung oder des Miteinanders im täglichen Leben. Darauf bereiten sich die Kinder ebenfalls vor. Als weitere Vorbereitung auf die Teilnahme am Chanukkafest sollte auch ein Geschenk angefertigt werden. Wenn es sich um etwas »Essbares« handelt – an diesen Abenden werden Speisen und Getränke von den Teilnehmenden mitgebracht –, dann ist vorher abzuklären, ob nur koschere Speisen oder auch andere, entsprechend gekennzeichnet, akzeptiert werden. In der folgenden RU-Stunde wird der Besuch nachbereitet. Dazu können folgende Gesprächsimpulse dienen: – Wie habe ich den Abend erlebt? – Was ist mir am Judentum deutlicher geworden? – Durch welche Erlebnisse ist es mir nähergekommen? – Was habe ich über Ausgrenzungen, Anfeindungen gehört? – Was habe ich über den Alltag des Miteinanders von Jüdinnen und Juden und Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen gehört? Als Abschluss wird eine Präsentation gestaltet, zu der jedes Kind etwas selbst Gewähltes beiträgt, z. B. Bericht in Form eines Briefes, kommentierte Fotos, eigene Gestaltung, Wunschliste für die weitere Beschäftigung mit dem Judentum, Ideen für eine Einladung jüdischer Kinder. In den meisten Religionsunterrichtsgruppen wird nur schwer eine unmittelbare Begegnung mit jüdischen Kindern zu realisieren sein. Dann kann ein schriftlicher Erlebnisbericht (Anlage M 4) für die Unterrichtsstunde zugrunde gelegt werden. Dieser »Bericht« beruht auf einem tatsächlich stattgefundenen Besuch mit Lehramtsstudierenden am 5. Tag des Chanukkafestes im Gemeindezentrum der Dresdener Synagoge. Er wurde aber nicht von den Schüler*innen, sondern vom Autor verfasst. Die erwähnten Kinder Joshua, Oskar und Adnan sind authentisch. Interviews mit ihnen wurden im Rahmen eines anderen Projektes mit Zustimmung der Eltern aufgezeichnet. Einzelne Aussagen werden hier verwendet. Anhand der Schilderung der Begegnung anlässlich des Chanukkafestes durch Julia und Lukas denken die Schüler*innen über die Frage nach, aus welchen
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Gründen Menschen heute Jüdinnen und Juden ausgrenzen oder sogar anfeinden. Die Kinder werden keine Gründe entdecken und daher ihr Unverständnis artikulieren. Da die Gründe für Antisemitismus und Antijudaismus im Wesentlichen historisch bedingt sind, zeigt sich an dieser Stelle das didaktische Problem, den Sachverhalt nicht gründlich behandeln zu können. Es genügt daher, wenn die Kinder zu der Erkenntnis kommen, dass Menschen, die Jüdinnen und Juden ausgrenzen und anfeinden, etwas tun, was anderen Schaden zufügt. So handeln auch Schüler*innen, die Mitschüler*innen ausgrenzen und mobben. Im Anschluss daran können Ideen entwickelt werden, wie man mit jüdischen Gemeinden in Kontakt kommen kann, um die Menschen und ihre Bräuche besser kennenzulernen. Das schon durch den Erlebnisbericht erzeugte Unverständnis für Ausgrenzungen gegenüber Jüdinnen und Juden soll dadurch verstärkt und die Begegnung als Mittel der Überwindung von Vorurteilen und Befremden gefördert werden.
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M 1 Ergebnissicherung: Kritische Auseinandersetzung mit Schimpfwörtern Schimpfwort:
Kreuze an:
"Habe ich schon mal gehört ! Habe ich schon mal benutzt
" !
" ! " ! " !
" !
Das geht (gar) nicht, weil…
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M 2 Henny, ein jüdisches Mädchen, lebte früher in Dresden. Sie erzählt aus ihrem Schulalltag Auf dem Weg zur Grundschule kam ich regelmäßig an einem Pferdewagen vorbei, der Milch ausfuhr. Der Gaul wieherte immer schon von weitem, denn er wusste, dass ich ihm meine Butterbrote gab, die meine Mutter mir für die Schulpause mitgab. Sie wollte, dass die Mondscheinprinzessin ein bisschen zunehme, und hatte die Brote dick mit Butter bestrichen. Ich konnte das nicht leiden, freute mich aber, wenn es dem Pferdchen schmeckte. Und meine Mutter war sehr glücklich, dass ich nie etwas mit nach Hause zurückbrachte; sie lobte mich, dass ich so gut aufgegessen hatte. Ich erinnere mich an keinerlei Unterscheidung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Schülerinnen vor 1933, weder von Seiten der Lehrer noch der Mitschüler. Benachteiligungen hatte ich nicht zu erfahren; meine Freundinnen waren jüdisch und christlich. Der einzige Unterschied war, dass ich frei hatte, wenn die anderen den Religionsunterricht besuchten, und ich dafür einmal in der Woche nachmittags in die jüdische Religionsschule ging. Dort unterrichtete uns anfangs Frau Dr. Stein, dann Herr Anschel und schließlich Herr Blum. Wir lernten biblische Geschichte und Hebräisch lesen, ohne aber zu verstehen, was wir eigentlich lasen. Meine Mutter konnte fließend hebräisch lesen, aber auch sie verstand nicht mehr, was sie las. Sie hatte ihre Bat Mitzwa bei dem damals schon nicht mehr ganz jungen, zu meiner Zeit aber noch immer amtierenden Rabbiner Dr. Jakob Winter gemacht. Winter, der 1886 als junger Rabbiner nach Dresden gekommen war, verstarb 1940 mit dreiundachtzig Jahren und blieb somit vor der bevorstehenden Deportation bewahrt. In traditionellen jüdischen Verhältnissen in der Slowakei groß geworden, war er nicht nur durch sein fundiertes jüdisches Wissen und seine Religiosität bekannt, sondern auch wegen seiner Allgemeinbildung hoch angesehen. So sagte er noch in hohem Alter die Oden des Horaz in lateinischer Sprache auf. Er war der Prototyp des »Doktor-Rabbiners«, wie er sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte. Meine Mutter war immer stolz darauf, noch bei ihm gelernt zu haben, und bewahrte den zu ihrer Bat Mitzwa von ihm erhaltenen Sidur (Gebetbuch) in dunkelrotem Leder mit Goldverschluss und einer Widmung sorgfältig zu Hause auf. Er fiel auch dem Bombenangriff zum Opfer. Zu den Feiertagen ging ich mit meiner Mutter in den Tempel, denn so nannte man damals in Deutschland die liberalen Synagogen. Die Dresdner Synagoge war nicht irgendein Bauwerk. Mit Stolz verwiesen wir Dresdner Juden darauf, dass sie vom gleichen Architekten stammte wie die Oper, von Gottfried Semper. Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut, am Zeughausplatz stehend, war sie vom Elbufer aus zu sehen und gehörte ebenso zum Stadtbild wie der andere, berühmtere Semperbau.
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Der Gottesdienst wurde, wie damals in liberalen Synagogen üblich, mit Orgel und Chor festlich gestaltet. Eine gewisse Zeit lang besuchte ich auch den Kindergottesdienst samstagmorgens. Wir Mädchen saßen auf der Empore, und es wäre übertrieben zu sagen, dass wir uns durch besondere Aufmerksamkeit auszeichneten. Wir machten uns einen Spaß daraus, kleine Papierkügelchen auf die Jungs unten hinunterzuschießen. Eine Bat Mitzwa gab es für uns allerdings nicht mehr. Als die Nazis an die Macht kamen, war ich gerade acht Jahre alt. Erinnerungen habe ich daran nicht. Meine Eltern vermieden es, vor mir über die politische Entwicklung zu sprechen. Sie meinten ja sowieso, der Spuk gehe bald vorbei. Ein Jahr später allerdings, als mein Wechsel von der Grundschule aufs Gymnasium bevorstand, ließ sich dieses Thema nicht mehr umgehen. Die staatlichen wie auch die städtischen höheren Schulen nahmen zwar noch jüdische Schüler auf, allerdings nur eine sehr begrenzte Zahl. So war die Auswahl also gar nicht einfach. Ich kam schließlich auf die Blasewitzer Höhere Mädchenschule. Neben mir waren noch zwei jüdische Schülerinnen in der Klasse: Doris Freibusch und Ursula Friedmann. Im Unterricht und Alltagsleben begann sich die Ausgrenzung bereits merkbar zu machen. Im Turnen war ich gut, durfte aber an Wettkämpfen plötzlich nicht mehr teilnehmen. Zweimal konnte ich noch mit ins Schullandheim fahren, dann musste ich, wie auch meine jüdischen Schulkameradinnen, zu Hause bleiben. Auch die Teilnahme am Schwimmunterricht wurde uns untersagt. Also eigentlich all das, was Kindern Spaß macht. Außerdem wollte man uns ebenso darstellen, wie man sich die Juden aus dem »Stürmer« vorstellte: unsportlich, schwach und feige. Dies einem zehnjährigen Mädchen klarzumachen, war gewiss nicht einfach. Es gab Lehrer, denen diese Behandlung leidtat, aber sie haben zumeist ebenso weggesehen wie alle anderen, denen es egal war. Anfangs waren einige zu uns besonders nett. Das ging aber bald nicht mehr. Beim Aufstehen in der Früh begann das Theater schon. Alle mussten »Heil Hitler« brüllen. Wir jüdischen Kinder hoben natürlich nicht den Arm und sagten es nicht. Wir empfanden das durchaus nicht als Privileg, sondern als Ausgrenzung. In Biologie hatten wir eine Lehrerin vom Typ einer BdM-Führerin, die nur von der deutschen Rasse faselte. Sie hatte ihr Haar zum Knoten gesteckt und trug eine runde Brosche mit Hakenkreuz an der Bluse. Sie eignete sich sicherlich gut zum neuen Rassekundeunterricht. Allerdings beherrschte sie die Theorie wohl etwas besser als die Praxis, denn gleich zu Beginn blamierte sie sich fürchterlich. Als sie zum ersten Mal in die Klasse kam und noch nicht recht über die Zusammensetzung der Klasse Bescheid wusste, holte sie mich nach vorne und verkündete laut: »Hier seht ihr ein Beispiel für ein arisches deutsches Mädchen.« Schließlich war ich blauäugig mit langen blonden Locken. Im Gegensatz zu meinen Mit-
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schülerinnen, die ich schon grinsen sah, war mir gar nicht zum Lachen zumute. Doch blieb mir nichts anderes übrig, als etwas schüchtern zu antworten: »Ich hin Jüdin.« Von da an war für mich die Hölle los, sie konnte mir das nicht verzeihen. Unser Mathematiklehrer war genauso schlimm. Er sah aus wie aus der Leibstandarte von Hitler, groß und blond, und immer in SS-Uniform mit Totenkopfinsignien. Er schikanierte uns drei jüdische Schülerinnen und hat mir für immer den Appetit an Mathematik verdorben. Ich konnte noch so fleißig sein, doch schlechte Noten waren mir ebenso sicher wie meinen beiden jüdischen Mitschülerinnen. Um 1938 mussten wir die höhere Schule verlassen. Nicht etwa, weil wir schlecht gewesen wären, sondern einfach aus dem Grund: Jude. Schließlich hatte bereits 1933 der Kommissar für das Preußische Kultusministerium, Bernhard Rust, verkündet, die deutschen Schulen »von allen Nichtdeutschen […] mit aller Brutalität der Pflicht« reinigen zu wollen. Nun durften uns nur noch Privatschulen, die viel Geld kosteten, aufnehmen. Ich kam also in die Elisabethschule in der Nähe der Nürnberger Straße, das war eine reine Mädchenschule. Sie lag sehr weit entfernt von zu Hause und ich musste jeden Morgen einen langen Weg mit der Straßenbahn zurücklegen. Warum das alles sein musste, habe ich mit meinen vierzehn Jahren nicht begriffen. Meine Schulfreundinnen von früher durfte ich nicht mehr sehen. Wenn sie mich auf der Straße sahen, blickten sie plötzlich in die andere Richtung oder wechselten die Straßenseite. Es war ein schreckliches Gefühl, als meine besten Freundinnen an mir einfach vorbeischauten. Wahrscheinlich hatten ihre Eltern es ihnen so eingebläut. Ich hatte damals zu Nichtjuden selbstverständlich gar keinen Kontakt mehr. Doch es sollte schlimmer kommen. Nach ein paar Monaten mussten wir auch diese Schule verlassen, denn Rust, der inzwischen zum Reichsminister avanciert war, erließ am 15. November eine Anordnung mit folgenden Worten: »Nach der ruchlosen Mordtat von Paris kann es keinem deutschen Lehrer […] mehr zugemutet werden, an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, dass es für deutsche Schüler unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen.« Nun gab es für uns nur noch das jüdische Gymnasium in der Fröbestraße, in das alle jüdischen Schüler zu gehen hatten. Hier unterrichteten durchaus gute Lehrer, die früher an anderen Gymnasien gelehrt hatten, wie mein Mathematiklehrer, Herr Pinkowitz, und mein Deutschlehrer, Herr Höxter. Doch sie verließen nach und nach die Schule, um zu emigrieren oder wurden ins Ausland deportiert wie die polnischen Juden in der Aktion vom Oktober 1938. Aus der jüdischen Oberschule ist mir nur ein Bild übriggeblieben. Es zeigt uns mit unserem Englischlehrer Robert, genannt Bobby Kronenthal, den wir alle sehr gerne hatten. Er war mit einer nichtjüdischen Frau verheiratet, die ihn aber nicht beschützen konnte. Eines Tages wurde er abgeholt, und wir sahen ihn nie wieder, hörten auch
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nie wieder etwas von ihm. Es hieß, er habe BBC auf seinem Radio gehört, was während des Krieges strengstens verboten war. Die Nachbarn hätten ihn angezeigt und dies bedeutete sein Todesurteil. Das Schicksal meiner Klassenkameraden auf dem Foto spiegelt ganz gut die noch verbleibenden Alternativen jener Zeit wider. Meine Freundin Steffi Cohn, die auf dem Bild zu sehen ist, hat nicht überlebt. Sie ging auf Hachschara, das heißt landwirtschaftliche Vorbereitung für die Auswanderung nach Palästina, und bat mich mitzukommen. Ich wollte nicht von meinen Eltern fort und auch nicht nach Palästina. Dieses Hachschara-Lager in Steckelsdorf bei Berlin wurde aber bald aufgelöst, die Jungen und Mädchen kamen nicht nach Palästina, sondern in Konzentrationslager. Auf dem Bild sind auch noch die Geschwister Kurt und Irmgard Nattowitz zu sehen, die noch rechtzeitig emigrieren konnten. Der hübsche Junge hinter mir ist Heinz Meyer, der Schwarm vieler meiner Freundinnen einschließlich mir. Er stammte aus einer sehr musikalischen Familie und war selbst trotz seiner Jugend schon ein hervorragender Geiger. Sein Bruder Fritz spielte Klavier. Beide wurden in das »Hellerberg-Lager« gebracht und nach Auschwitz deportiert. Unter den schrecklichsten Umständen hat Heinz überlebt, unter anderem mußte er an der Rampe in Auschwitz mit dem Häftlingsorchester Geige spielen. Doch davon habe ich erst 50 Jahre später erfahren, als er unter dem Namen Henry Meyer bereits eine bedeutende Karriere als Geiger im Lassalle-Quartett hinter sich hatte. Henny Brenner: Das Lied ist aus. Ein jüdisches Schicksal in Dresden, Goldenbogen Dresden, 2. Aufl. 2013, S. 39–45. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Goldenbogen-Verlages Dresden. Die Orthographie wurde der Neuen Rechtschreibung angepasst.
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M 3.1 Bilder zur Geschichte von Henny
Henny mit Vater in Dresden (1929)
Henny: Mein erster Schultag
Schulausflug (1939), Henny vorn rechts
Quelle: Henny Brenner: Das Lied ist aus. Ein jüdisches Schicksal in Dresden, Goldenborgen Dresden 2. Aufl. 2013, S. 27, 40, 44. Der Abdruck der Bilder erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Eigentümers Michael Brenner.
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M 3.2 Bilder zur Geschichte von Henny Diese »Kennkarte« musste Henny ab 1939 bei sich tragen, um als Jüdin erkannt zu werden.
Quelle: Henny Brenner: Das Lied ist aus. Ein jüdisches Schicksal in Dresden, Goldenborgen Dresden 2. Aufl. 2013, S. 47. Der Abdruck der Bilder erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Eigentümers Michael Brenner.
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M 3.3 Alte und Neue Synagoge Dresden
Die Alte Synagoge in Dresden wurde 1938 von den Nationalsozialisten in Brand gesetzt und anschließend zerstört.
Gemeindezentrum (vorn) und Neue Synagoge (hinten) in Dresden.
Die Neue Synagoge in Dresden wurde 1998–2001 erbaut. Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Neue_Synagoge_(Dresden) (Stand: 09. 06. 2020)
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M 4 Erlebnisbericht über einen Besuch zum Chanukkafest Julia und Lukas erzählen von ihrem Besuch in der jüdischen Gemeinde. Die Religionsgruppe war am Abend des fünften Tages des Chanukkafestes eingeladen. Sie treffen Joshua, Oskar und Adnan, die zusammen in die Schule gehen und ebenfalls hier zum Fest sind. Als wir im Gemeindezentrum der jüdischen Gemeinde ankamen, war es schon dunkel. Es ist ja Adventszeit, da hat man immer schon so schöne Weihnachtsgefühle. Aber Weihnachten feiern Juden ja nicht, das wissen wir. Es soll aber auch ein Licht an einem Leuchter angezündet werden. Da waren wir gespannt. In dem Raum waren schon viele Leute und es spielte Musik. An der Seite waren Tische aufgebaut, auf denen Speisen standen. Es war viel Bewegung unter den Menschen, sie schwatzten fröhlich miteinander. Einige Männer trugen die typische Kopfbedeckung, eine Kippa. Ein paar Kinder kamen auf uns zu. Sie wussten ja, dass wir kommen. Da waren wir ganz froh, denn sonst wären wir uns etwas verloren vorgekommen. Das waren drei Jungen (haben die hier kein Mädchen??), aber sehr nett. Sie gehen zusammen in eine Klasse, aber nicht an unsere Schule. Außerdem schon in die sechste. Der eine heißt Joshua, er gehört zur jüdischen Gemeinde. Der andere heißt Oskar. Er sagte, dass er katholisch ist. Und der dritte ist sogar ein Muslim und heißt Adnan. Weil sie Freunde sind, haben sie sich schon viel über ihre Familien und über ihre Religion erzählt. Da hatten wir gleich prima Gesprächspartner. Wir haben uns erst einmal einiges von den leckeren Speisen schmecken lassen. An einem Tisch stand ein Schild »koscher«. Joshua erklärte uns, dass das Speisen sind, die genau nach den jüdischen Speisevorschriften zubereitet wurden. Auf diesem Tisch gibt es auch nicht, was irgendwie mit Milch zu tun hat. Aber er meinte auch, dass viele Gemeindemitglieder das nicht so genau nehmen. Ganz viele kommen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion und sprechen Russisch. Sie haben wenig Geld. Koscheres Fleisch ist teuer. – Jetzt wurde uns auch klar, warum wir einige von den Erwachsenen nicht verstanden. Sie unterhielten sich auf Russisch. Joshua hat uns viel von der Gemeinde erzählt. Er hat einen dort auch Religionsunterricht und lernt Hebräisch lesen, weil die Tora im Gottesdienst immer nur auf Hebräisch vorgelesen wird. Wir fragten ihn natürlich auch, wie das so in der Schule und unter den Freunden ist. Fällt er das nicht auf, weil es o wenige jüdische Kinder gibt? Oder haben einige sogar dumme Bemerkungen zu ihm gemacht? Nö, sagte er. Viele wissen das gar nicht. Und seine Freunde sind ganz unterschiedlich. Manche gehören gar keiner Religion an, einige sind Christen, Adnan ist Muslim. Kein Thema. Nur an eine Sache hat sich Joshua erinnert. Da kam in den Nachrichten, dass in Berlin ein Mann auf der Straße beschimpft und angegriffen wurde, weil er eine Kippa trug. Danach hat an der Schule so ein doofer Junge zu Joshua »Eh, du Jude!« gesagt. Das hat aber eine Lehrerin gehört.
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Sie hat sofort mit dem Jungen gesprochen. Am nächsten Tag hat sie beide, den Jungen und Joshua zu einem Gespräch gebeten. Sie haben darüber gesprochen, wer Juden sind, was sie glauben, wie sie leben. Und sie haben auch darüber gesprochen, was Juden in der Vergangenheit hier bei uns Schreckliches durchmachen mussten. Der Junge hat sich dann entschuldigt. Er habe das gar nicht so gemeint. Er fand das nur cool, mal jemanden zu ärgern. Wir haben dann noch darüber gesprochen, warum die Menschen eigentlich nicht friedlich zusammenleben können. Joshua hat sich darüber schon viele Gedanken gemacht. Er sagte: »Was haben die für ein Problem mit anderen Religionen? Was haben die für Gedanken? Ich glaube, sie denken gar nicht nach, was sie dagegen haben. Früher haben sie vielleicht mal schlechte Erfahrungen gemacht, dann wollten sie Rache oder so und nun machen sie weiter Anschläge auf Leute aus anderen Religionen. Sie müssten sich mal vorstellen, wenn denen das selbst passiert. Ich glaube, sie wissen gar nicht, was sie da machen und warum sie das machen.«
Da haben wir ihm zugestimmt. Wenn man wirklich mehr voneinander weiß und sich richtig kennengelernt hat, dann kann man doch auch miteinander auskommen. Unter den drei Freunden geht es doch auch. Oh je, beinahe hätten wir noch das Anzünden des Lichts am Chanukkaleuchter verpasst! Das durfte ein Junge aus der Gemeinde machen. Acht Tage lange wird immer eine Kerze mehr angezündet, bis alle Lichter am Leuchter brennen. Jedes Mal ist ein anderes Kind dran. Da wurde die Stimmung richtig feierlich. Danach haben wir uns noch mit ein paar andern Leuten unterhalten. Die waren alle sehr freundlich und haben sich erkundigt, wer wir sind und woher wir kommen. Jetzt können wir uns das viel besser vorstellen, wenn wir in Reli etwas über das Judentum lernen. Leute, die etwas gegen Juden haben oder sie sogar beschimpfen, leben wahrscheinlich hinter dem Mond. Sie haben überhaupt keine Ahnung, wie das wirklich ist.
Georg Langenhorst
Antisemitismus-Prävention durch literarisches Lernen
In seiner damals strukturell neuartigen »Einführung« in die »Interkulturelle Literaturwissenschaft« schrieb der Germanist Michael Hofmann 2006: Es gibt eine »besondere Affinität von Literatur zu Problemen und Möglichkeiten interkultureller Begegnung«1. Der Befund lässt sich aus heutiger Sicht bestätigen: Diese Affinität gibt es sicherlich. Aber sie erstreckt sich auch auf den spezifischen Bereich interreligiöser Begegnung. Ganz ohne einseitige Verzweckung2 lässt sich zeigen, dass Lesen und über-Gelesenes-ins-Gespräch-Kommen ganz besonders reizvolle Möglichkeiten interreligiösen Lernens darstellen.3 Überprüfen wir dieses Postulat anhand eines Blicks auf die Darstellung des Judentums in zeitgenössischen Werken der Kinder- und Jugendliteratur: Lassen sich dort Texte finden, die sich zur Antisemitismus-Prävention eignen?
1.
Judentum in der Kinder- und Jugendliteratur unserer Zeit
Wenn in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur allgemein vom Judentum die Rede ist, dann weiterhin häufig im Kontext der Shoa. Das gilt auch für den Bereich der Kinder- und Jugendliteratur.4 Ungezählt sind all die teils auf authentischen Erfahrungen beruhenden, teils rein fiktionalen Bücher über Anne Frank und Janusz Korczak, über das Leben und Sterben oder Überleben jüdischer Kinder und Jugendlicher in den Jahren zwischen 1933 und 1945. Das ist 1 Michael Hofmann, Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Paderborn 2006, 13. 2 Vgl. Georg Langenhorst/Eva Willebrand (Hg.), Literatur auf Gottes Spuren. Religiöses Lernen mit literarischen Texten des 21. Jahrhunderts, Ostfildern 2017, 9–31. 3 Vgl. Christoph Gellner/Georg Langenhorst, Blickwinkel öffnen. Interreligiöses Lernen mit literarischen Texten, Ostfildern 2013. 4 Vgl. Georg Langenhorst, Mehr als eine Glaubensfrage. Kinder- und jugendliterarische Darstellungen des Judentums aus religiöser Perspektive, in: Jana Mikota/Claudia Maria Pacher/ Gabriele von Glasenapp (Hg.), Literarisch-kulturelle Begegnungen mit dem Judentum. Beiträge zur kinderliterarischen Fachöffentlichkeit. Baltmannsweiler 2016, 49–64.
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nachvollziehbar: Von der Shoa, von ihrer bis heute prägenden Geschichte immer wieder neu zu erzählen, gehört zu den grundsätzlichen Auseinandersetzungen mit der deutschen Geschichte. Der Blick auf das Schicksal jüdischer Menschen in dieser Zeit kann und muss dazu verhelfen, die deutsche Geschichte gerade aus der Perspektive dieser Opfer sehen zu lernen. Aus pädagogischer Sicht zeichnen sich in der Konzentration auf die Shoa jedoch zwei Gefahren ab: Zunächst fördert diese Konzentration im Blick auf das Judentum ungewollt den Eindruck, das Judentum in Deutschland sei primär eine Dimension der Vergangenheit. Das für die nichtjüdische Mehrheit religiös und kulturell Fremde bleibt so eben auch historisch fremd, rückt zumindest zeitlich nicht nahe. Zum Zweiten wird jedoch die Tendenz deutlich, das Judentum seiner spezifisch religiösen Bedeutung zu entkleiden. In weit verbreiteten Büchern wie Myron Levoys Bestseller »Der gelbe Vogel« (1977), aber auch in Henning Pawels »jüdischen Geschichten« »Schapiro & Co« (1992) oder Monika Helfer und Michael Köhlmeiers Erzählung »Rosie und der Urgroßvater« (2010) – um nur herausragende Beispiele zu benennen – bleibt die spezifisch religiöse Dimension fast unerwähnt. Einige neuere Kinder- und Jugendbücher setzen dagegen einen bewusst anderen Schwerpunkt, der aus interkultureller wie religionspädagogischer Perspektive besonders reizvoll wird. Ihnen geht es um die explizite Sichtbarmachung eines heute hier im deutschen Sprachraum gelebten Judentums, das sich zumindest auch religiös definiert. Eine ganz einfache erste Ursache für die Produktion dieser Bücher liegt darin, dass im deutschen Sprachraum lebende Jüdinnen und Juden die Beobachtung machten, dass für ihre eigenen Kinder keinerlei Bücher vorlagen, in denen ihre spezifische Lebenswelt auch nur am Rand auftauchte. Darum also geht es: Im deutschen Sprachraum lebenden jüdischen Kindern eine literarische Welt zu schaffen, in der ihre eigene Existenz sich widerspiegelt. Dass diese Bücher dann eine hervorragende Basis gerade auch für interkulturelles und interreligiöses Lernen stiften sollten, ergab und ergibt sich auf einer zweiten Ebene wie von selbst.
2.
Die ›Beni-Trilogie‹
Die bislang eigenständigsten Beiträge zu dieser noch jungen Tradition zeitgenössischer deutschjüdischer Kinder- und Jugendbücher liefert die in Berlin lebende Judaistin und Literaturwissenschaftlerin Eva Lezzi. Der Lebensweg der in New York geborenen, in Zürich aufgewachsenen und seit vielen Jahren in Berlin lebenden habilitierten Germanistin verbindet gleich mehrere Zentralstationen heutigen Judentums. Als Projektleiterin im Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk für jüdische Begabtenförderung ist sie zudem mit der internationalen akade-
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mischen Welt bestens vertraut. Sie selbst hat mehrere kultur- und literaturwissenschaftliche Studien und Sammelwerke publiziert. In ihren Kinderbüchern konzentriert sie sich jedoch ganz auf die kleine Welt einer in Deutschland lebenden Familie. In drei zusammen mit der Fotografin Anna Adam publizierten Foto-Textbüchern folgen wir dem zunächst achtjährigen Beni und seiner Familie durch die sich anschließenden Kindheitsjahre: »Beni, Oma und das Geheimnis« (2010), »Chaos zu Pessach« (2012) sowie »Beni und die Bat Mitzwa« (2015). Inzwischen liegt eine Gesamtausgabe unter dem Titel »Beni-Bücher«5 vor. Perfekt geeignet für Kinder ab sechs Jahren – also für das Grundschulalter – nehmen sie uns hinein in das Leben des jüdischen Jungen Beni, der mitten im Alltagschaos einer westlichen Großstadt mit seiner realitätsnah und sympathisch dargestellten Familie lebt wie andere Kinder auch, nur eben als religiös praktizierender Jude. Die jüdischen Traditionen sind dieser Berliner – so wird es spätestens im dritten Band klar – Familie umso wichtiger, als dass die in derselben Stadt lebende Großmutter eine Überlebende der Shoa ist, und gerade deshalb die Beachtung der rituellen und religiösen Traditionen immer wieder einfordert. Dabei ist die porträtierte Familie – wie viele andere auch – ›gemischtreligiös‹: Mutter, Tochter und Sohn sind jüdisch, der Vater nicht. Derartige Konstellationen haben Eva Lezzi auch wissenschaftlich beschäftigt. 2013 erschien unter dem Haupttitel »Liebe ist meine Religion!« eine umfangreiche Studie über »Eros und Ehe zwischen Juden und Christen in der Literatur des 19. Jahrhunderts«. Auf ganz unterschiedlichen Ebenen ergeben sich aus dieser Konstellation ganz offensichtlich Spannungen, Spiegelungen und Anfragen in der Mischung aus Binnensicht und Außensicht auf beide Religionen. Hier, im Kinderbuch, liefert diese Konstellation zentrale Impulse, um die Handlung voranzutreiben. Beni findet hinein in die zentralen jüdischen Bräuche und Traditionen, erlebt bei den Großeltern einen klassisch zelebrierten Schabbat, feiert Pessach im Familienkreis, schildert im dritten Buch die ›Bat Mitzwa‹ seiner älteren Schwester Tabea. Durch seine Augen werden Kinder, Jugendliche und erwachsene Leser*innen perspektivisch mit hineingenommen in eine Welt, die einerseits ganz alltäglich ist, sich andererseits aber eben doch durch eine ganz eigene religiöse Prägung und historische Verwurzelung auszeichnet, in welcher über das Schicksal der Oma die Shoa durchaus mitthematisiert wird. Der Blick in die Vergangenheit steht aber nicht im Mittelpunkt. Unaufdringlich wird all das lebendig, humorvoll – und gänzlich ohne pädagogisch-didaktische Aufdringlichkeit – erzählt und bebildert, was ein jüdisches Leben in Deutschland heute auszeichnen kann.
5 Eva Lezzi, Beni-Bücher, Berlin 2015.
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Anna Adams collagierte Fotos bebildern diese Erzählungen nicht nur, schaffen in ihrer spielerischen Verfremdung vielmehr eine noch einmal ganz eigene Vorstellungswelt. Vor allem die anspruchsvolle, witzige und kreative Zusammenfügung von Text und Bild zeichnet diese drei in sich als Serie (ab-) geschlossenen Bücher aus. Eva Lezzi ließ 2016 den eher für ein frühjugendliches Lesepublikum ab zwölf Jahren geeigneten, das interreligiöse Miteinander thematisierenden Roman »Die Jagd nach dem Kidduschbecher« folgen. Auffällig: Wie in manchen jüdischen ›Erwachsenen-Romanen‹ auch weisen die ›Beni-Bücher‹ ein an die Erzählung angehängtes ausführliches Glossar religiöser Fachbegriffe auf, das auf die bewusst verständnisfördernde Intention – für jüdische wie nicht-jüdische Lesende – schließen lässt. Andere für Kinder verfasste Bücher über das Judentum oder jüdische Protagonisten greifen zu dem gleichen Mittel, etwa aus jüngster Zeit Marina B. Neubert in »Bella und das Mädchen aus dem Schtetl« (2015), aber auch schon zuvor Peter Sichrovsky in »Mein Freund David« (1990), Noemi Staszewski in »Mona und der alte Mann. Das Kinderbuch zum Judentum« (1997) oder Ruth Weiss in »Sascha und die neun alten Männer« (1997). Ohne aufdringlich vermittlungsdidaktisch zu wirken, wollen diese – in sich durchaus unterschiedlich konzipierten – Bücher nicht nur ein Verständnis für das Judentum wecken, sondern auch hineinführen in ein jüdisch geführtes Leben. Die bloße Notwendigkeit der Aufnahme von Glossaren verweist umgekehrt auf die vorgängige, bewusst einkalkulierte Erwartung von Fremdheit und Andersartigkeit der erzählerisch präsentierten Welt. Diese Entscheidung ist nicht alternativlos. Andere deutschjüdische Kinderbücher greifen zu einem anderen Verfahren. Myriam Halberstams Sachinformationsbilderbuch »Lena feiert Pessach mit Alma« (2010) lässt mit Lena ein Berliner Mädchen Pessach in einer neu zugezogenen jüdischen Nachbarfamilie erleben. Das in die Reihe »Kinder dieser Welt« aufgenommene Büchlein baut die fremden Begriffe und Bräuche in die Handlung ein, druckt jüdische Fachbegriffe kursiv und hebt sie dadurch hervor, lässt ihre Bedeutung aber aus der Handlung selbst einsichtig werden. So wie Lena lernen auch wir Leser*innen die neue, verständlich und sympathisch erschlossene und wenn nötig in der Handlung selbst erklärte Welt kennen. Holly-Jane Rahlens wählt in ihren im Original auf Englisch erschienenen, jedoch in Deutschland spielenden und hier weit rezipierten Kinder- und Jugendbüchern wie »Prinz William, Maximilian Minsky und ich« (2002) oder »Stella Menzel und der goldene Faden« (2013) vergleichbare Verfahren. Vom – auch religiös geprägten – Judentum kann man also heute im Kinderbuch ganz unterschiedlich erzählen: erinnerungsbezogen, ernst, alltäglich, witzig, heiter, humorvoll, verschmitzt, realistisch, verfremdet. In den ›Beni-Büchern‹ finden sich Elemente all dieser Erzählstrategien: Dass dabei eine ›fremde‹ Welt
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präsentiert wird, zeigt die Anfügung der Glossare. Welche Signalwirkungen allein schon dadurch erfolgen, wäre eine detaillierte Leserezeptionsstudie wert.
3.
Literarisch-religiöse Lernchancen
Welche Chancen bietet das literarisch vermittelte Begegnungslernen, das über all die genannten Bücher möglich werden kann? In den facettenreichen Spiegelungen des Judentums in der Kinder- und Jugendliteratur lässt sich zeigen, dass und wie Literatur ein eigenständiger Ort, eine eigengeprägte, chancenreiche Form interreligiösen Lernens darstellen kann. Gegenwärtig wird in der Didaktik interkulturellen Lernens eine durchaus berechtigte Trendumkehr angemahnt: weg von quasi objektiver Aufklärung ›über‹ Andere hin zur subjektiven Einfühlung ›in‹ fremde und andere Welten, weil nur so Wissen durch Erfahrung erweitert und vertieft werden kann. Gerade in der neueren religionspädagogischen Diskussion mehren sich Plädoyers für ein religiöses Lernen, das mehr ist als nur ein Reden ›über‹ Religion: Um die Eigenart von Religion erfassen zu können, braucht es Formen punktueller Partizipation, die es ermöglicht der Innenseite gelebter Religion zu begegnen. So unverzichtbar Daten und Fakten sind, so wenig können bloße Sachinformationen letztlich das vermitteln, was eine Religion im Kern ausmacht. Kenntnisse über Geschichte, Glaubensaussagen und Selbstverständnis des Judentums sind gewiss wichtig, ja: unerlässlich. Und doch ist für ein tieferes Verstehen das Vertraut-Werden mit spirituellen Grunderfahrungen und eine – zumindest ansatzweise versuchte – Einfühlung in die glaubende Welt- und Lebenssicht heute bei uns lebender Jüdinnen und Juden weitaus bedeutsamer. Genau in diese Lerndimensionen fügt sich der Einsatz literarischer Texte in interreligiösen Lehr- und Lernprozesse ein. Für Grundschüler*innen gilt es, alters- und milieuspezifische Konkretionen der unten aufgeführten, didaktischen Stichworte zu finden. Dichtung steht nie unter dem Anspruch, objektives Wissen über historische Ereignisse oder die real existierenden Religionen vermitteln zu wollen, das dann etwa auf seine Validität hin überprüft werden müsste. Vielmehr wird literarisch ein bewusst subjektiver Blick auf diese Phänomene ermöglicht, der vor allem der ästhetischen Stimmigkeit verpflichtet ist. Erstes didaktisches Stichwort also:
3.1.
Subjektivität
So wie letztlich jeder Lesende seine ganz eigenen politischen und religiösen Überzeugungen hat, so entfalten auch die Autor*innen von Kinder- und Jugendbüchern ihre eigene Sicht auf das Phänomen Religion, in diesem Fall auf das
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Judentum. So wenig wie ein Glaubender das ganze System seiner Religion überschaut und rational durchdringt, so wenig wahrhaftig ist auch ein Blick von außen auf rein ›objektive Daten‹ einer Religion. Religiöses Leben ist stets subjektive Erfahrung ganz konkreter Begegnungen, Gedanken, Auseinandersetzungen. Und Dichtung gibt nie vor, anderes geben zu können. Kinder- und Jugendliteratur zum Judentum spiegelt stets sehr persönliche, nie repräsentative Erfahrungen. Daraus ergibt sich der zweite didaktische Eckpunkt:
3.2.
Perspektivität
Es gibt schlicht keinen objektiven Zugang zu religiösen Traditionen. Jede Beschäftigung mit dem Judentum ist perspektivisch durch die eigene Prägung und das eigene Erkenntnisinteresse geprägt. Will ich für das Judentum werben? Für welches: das orthodoxe, das liberale, das religionslose? Betrachte ich die jüdische Religion vorrangig unter der Vorgabe, wie ein weltweites Zusammenleben mit anderen in Frieden möglich sein kann? Will ich Trennendes zur Profilierung des Eigenen hervorheben? Will ich jüdischen Kindern die Chance einer auch literarisch vermittelten Beheimatung geben? Will ich nichtjüdische Kinder informierend und verständniswerbend an das Judentum heranführen? Literatur ermöglicht das perspektivische Hineinschlüpfen in verschiedene existentielle und moralische Standpunkte. Die Beschäftigung mit Literatur macht so deutlich, dass jeder einzelne Zugang durch perspektivische Vorgaben geprägt ist. Spielerisch erlesene Perspektivenwechsel bieten vor allem älteren Kindern eine Überprüfung von Vorwissen und Vorurteilen.
3.3.
Alterität
Bei aller Einfühlung, die über Leseprozesse möglich wird, bei aller perspektivischen Rollenübernahme ›auf Zeit‹, wird der Umgang mit Literatur auch immer zu Grenzerfahrungen führen. Gerade aus der angelesenen Nähe heraus wird das Fremde fremd blieben, wird das zunächst indifferent neugierig Betrachtete möglicherweise sogar erst fremd werden. Das gilt auch für eine nichtjüdische Annäherung an das Judentum. Hier gilt es schlicht die bleibende Fremdheit zu erkennen und zu respektieren. Alterität ist somit beides zugleich: Grenze und Chance zur realistischen Einschätzung der Möglichkeiten und der Reichweite des perspektivischen Lernens über andere Lebensformen, Religionen und Lebensentwürfe. Der Umgang gerade mit solchen Grenzen gehört zu den zentralen Lernaufgaben in einer pluralistischen Gesellschaft.
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3.4.
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Authentizität
Die pädagogische Annäherung an das Judentum durch Nichtjuden und -jüdinnen steht vor einem Dilemma: Lehrende stellen eine Religion vor, die sie selbst persönlich nur zum Teil kennen, deren Überzeugungen sie nur zum Teil existentiell teilen und kaum praktizieren. ›Objektives Wissen‹ ist so zwar vermittelbar, subjektive Einfühlung aber nur zum Teil. Lernende spüren häufig diese mangelnde Authentizität und fragen sie an. Durch Werke der Kinder- und Jugendliteratur kann eine solche Authentizität im Blick auf das Judentum indirekt zugänglich werden.
3.5.
Personalität
Um ein Sich-Hineinversetzen in andere Traditionen und Lebenswelten zu ermöglichen, wählen die Autor*innen von Kinder- und Jugendbüchern fast stets den Zugang über wenige zentrale Zugangsfiguren, etwa Beni, Stella Menzel oder Nelly Sue Edelmeister. In der freiwilligen, im Bereich der Phantasie verankerten Identifikation mit diesen Personen wird die fiktionale Welt, in der sie leben, ästhetisch erfahrbar: fühlbar, schmeckbar, spürbar. Als Personen in einer eigenen realen Lebenswelt öffnet sich für Lesende in einer im Idealfall auf Zeit und Probe erfolgenden Identifikation mit literarischen Personen ein tieferer Zugang zur Wirklichkeit des gelebten Judentums, als er durch jegliche ›Information über‹ möglich wäre.
3.6.
Reflexivität
Religiöse Aspekte, Dimensionen und Prozesse werden in der Kinder- und Jugendliteratur freilich nicht nur darstellend thematisiert, die Werke sind vielmehr auch ein Medium, in dem Religion kritisch reflektiert wird. Kinder- und Jugendliteratur ist demnach einer von mehreren möglichen Reflexionsräumen von Religion, wobei die spezifisch literarische Form eine eigene Art der Reflexivität darstellen kann. In literarischen Spiegelungen wird das Judentum ganz eigen erfahren: freier, offener, subjektiver, phantasiebetonter als in Lernformen, die thematisch eng auf Information setzen.
304 3.7.
Georg Langenhorst
Expressivität
Die damit angedeuteten Prozesse verlaufen über – vorgelesene, selbst erlesene, in Austausch und Deutung diskursiv angewendete – Sprache. Vielen Kindern fehlt heute eine differenziert entfaltete Ausdrucksfähigkeit, schon im Blick auf religiöse Erfahrung und Reflexion der eigenen Tradition, mehr noch im Blick auf andere Religionen wie das Judentum. Der Umgang mit Werken der Kinderliteratur kann dazu beitragen, dass die Sprachkompetenz gerade in Sachen Religion angeregt und gefördert wird. Nur so ist Selbsterkundung, Ausdruck, Austausch, Dialog und Verständigung möglich.
4.
Ausblick
Ein kleines Fazit: Texte der Kinder- und Jugendliteratur geben auch im Blick auf das Judentum keine ungebrochen-ungefilterte Glaubenszeugnisse, keine unmittelbaren Selbstzeugnisse existentiell gelebten Glaubens. In ihnen nähern wir uns dem Judentum durch den Filter ästhetischer Darstellung in all seiner Pluralität und seinem Perspektivenreichtum. Der Mehrwert literarisch vermittelten Begegnungslernens liegt so vor allem in der fiktional durchgespielten Authentizität und Einladung zur Annäherung, vielleicht zur (Teil-)Identifikation auf Zeit. Gerade so wird es möglich, das Judentum überhaupt erst einmal ausschnittsweise kennenzulernen, sich vielleicht in die Protagonisten hineinzuversetzen, spielerisch die Perspektive der Anderen einzunehmen und neue Blickwinkel auszuprobieren. Eine »genuine Aufgabe von Literatur« besteht dem deutschen Schriftsteller Thomas Lehr zufolge darin, »den Blickwinkel zu öffnen«6. In diesem Sinne kann literarisch vermitteltes Begegnungslernen das interreligiöse Feld auf einzigartige Weise bereichern. Kinder- und Jugendbücher sind eine hervorragende Möglichkeit, sich gerade dem Judentum auf besondere Weise anzunähern. ›Von innen‹ – erlesen – werden Zugänge möglich, die auf ihre Weise Antisemitismus-Prävention leisten, ohne sich in dieser Funktion zu erschöpfen.
6 Thomas Lehr, Embedded Poet. Thomas Lehr im Gespräch mit Schau ins Blau, Ausgabe 10.1 (2010), www.schauinsblau.de (Stand: 28. 05. 2020).
Benigna Schönhagen
Synagogenpädagogik als Antisemitismus-Prävention am außerschulischen Lernort
1.
Einleitung
»Wann bist Du endlich fertig? Ich will Dir doch noch die Synagoge zeigen.« Lisa schiebt sich das letzte Stück Latkes, das traditionelle Festgebäck zum jüdischen Lichterfest in den Mund. Ungeduldig wartet sie darauf, dass Ihr Vater sein Gespräch beendet. Mit anderen Eltern steht er am Büffet, zu dem das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben seine Vernissage-Gäste eingeladen hat.1 Sie kosten Gebäck aus der Küche der Kultusgemeinde und reden über das, was sie gerade erlebt haben, eine von ihren Kindern gestaltete Ausstellungseröffnung zu Chanukka, dem jüdischen Lichterfest. Vierundzwanzig neun- bis zehnjährige Grundschulkinder wuseln durch den Festsaal der jüdischen Gemeinde, der gleichzeitig als Veranstaltungsraum des Museums fungiert. Mit großer Selbstverständlichkeit bewegen sie sich durch das Museum und die Synagoge, die sie im Rahmen eines Kooperationsprojekts von Schule und Museum ausgiebig erkundet haben. Das Projekt ist Teil des pädagogischen Angebots des Museums. Intensität und ganzheitliche Erfahrung unterscheiden es von den ebenfalls angebotenen Synagogenführungen. Beide sollen im Folgenden vorgestellt und ihre Chancen wie Grenzen bei der Antisemitismus-Prävention diskutiert werden.
2.
Das Museum in der Synagoge – ein besonderer außerschulischer Lernort
Antisemitismus-Prävention verlangt neben einer Sensibilisierung für die unterschiedlichen Facetten des Antisemitismus und einem Empowerment der Betroffenen notwendig auch Wissen und Kenntnisse über das Judentum, über jü1 Das Museum hat seinen Namen geändert, seit 2018 heißt es nur noch »Jüdisches Museum Augsburg Schwaben«. Der Erfahrungsbericht bezieht sich auf die Zeit davor, weshalb der traditionelle Museumsname weiter verwendet wird.
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Benigna Schönhagen
dische Religion und Kultur, Geschichte und Gegenwart. Gerade weil das jahrhundertelang religiös tradierte Feindbild gegen Jüdinnen und Juden, seine Stereotypisierung zum »Anderen« schlechthin noch immer wirkt, bedarf es der Dekonstruktion dieser negativen Judenbilder durch Bildung.2 Die Forschung ist sich mittlerweile einig, dass Bildungsprozesse immer dann effektiv verlaufen, wenn sie sich nicht auf die kognitive Ebene beschränken, sondern ganzheitlich angelegt sind, d. h. wenn sie neben dem Verstand auch Emotionen einbeziehen und möglichst viele Sinne ansprechen.3 Als ein probates Mittel für eine solch ganzheitliche, positive Lernerfahrung gilt der Besuch außerschulischer Lernorte.4 Solche Lernräume außerhalb der Schule knüpfen an die Lebenswelt der Schüler*innen an, machen mit Unbekanntem vertraut, erschließen neue Kontakte und ermöglichen selbsttätiges, entdeckendes Lernen, frei von schulischen Zwängen. Deshalb empfiehlt die Kultusministerkonferenz zusammen mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland unisono mit internationalen jüdischen Einrichtungen und antisemitismuskritischen Initiativen den Besuch einer Synagoge oder einer anderen Einrichtung gegenwärtigen jüdischen Lebens zur Antisemitismus-Prävention.5 Der Besuch soll Begegnung mit aktuellem oder historischem Judentum eröffnen, Gemeinsamkeiten wie Unterschiede 2 Vgl. Christian Wiese, Zur Kontinuität antijüdischer und fremdenfeindlicher Weltbilder und Denkweisen, in: Die Abwertung der Anderen. Beiträge der mehrjährigen Tagungsreihe Perspektivwechsel Plus, hrsg. von Marina Chernivsky für die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, Frankfurt am Main 2015, 14–19. Vgl. auch die vom Baden-Württembergischen Ministerium für Kultus, Jugend und Sport zusammen mit der Landeszentrale für politische Bildung und dem Zentrum für Schulqualität herausgegebene Handreichung zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen, https://www.schule-bw.de/themen-und-impulse/extremismusp raevention-und-demokratiebildung/extremismuspraevention/antisemitismus (Stand: 01. 12. 2019). 3 Vgl. Antonio R. Damasio, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. 5 München 2000. 4 Außerschulische Lernorte sind definiert als »didaktisch-pädagogisch ergiebige Informations-, Erfahrungs- und Tätigkeitsorte, die außerhalb der Klassenräume ein aktives Erkunden und Lernen ermöglichen«, A. Hopf, Grundschularbeit heute – didaktische Antworten auf neue Lebensverhältnisse, München 1993, 186 (zit. n. Johanna Schockemöhle (Hg.), Tagungsband 1. Fachtagung der Wissenschaftsinitiative zum Lernort Bauernhof 2010 Wissenschaftliche Fundierung des Lernens auf dem Bauernhof, http://www.baglob.de/wissenschaft/tagungs band_wi_10.pdf#page=149; (Stand: 20. 05. 2020). 5 Gemeinsame Erklärung der Kultusministerkonferenz und des Zentralrats der Juden in Deutschland zur Vermittlung jüdischer Geschichte, Religion und Kultur in der Schule vom 8. Dezember 2016, https://www.kmk-zentralratderjuden.de/gemeinsame-erklaerung (Stand: 20. 5. 2020). Siehe auch den Aktionsplan des American Jewish Committee zur Bekämpfung des Antisemitismus, https://ajcberlin.org/de/media/meldungen/ajc-berlin-stell-aktionsplan-zurbekaempfung-des-antisemitismus-vor (Stand: 10. 12. 2019). Der Bayerische Lehrplan empfiehlt den Besuch einer Synagoge wie den einer Moschee oder Kirche nicht nur im Religionsunterricht, sondern auch im Sach-, Geschichts- und Kunstunterricht für alle Schularten, von der Förderschule an, https://www.lehrplanplus.bayern.de/ (Stand: 10. 12. 2019).
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erfahrbar machen, Vorurteile abbauen helfen und Differenz entdämonisieren. Zudem wirkt die Begegnung mit lebendigem, gegenwärtigem Judentum der Verengung jüdischer Geschichte auf eine Verfolgungsgeschichte, insbesondere auf den Holocaust entgegen, sondern zeigt sie als Teil der deutschen und europäischen Gegenwart.6 Das Jüdische Museum Augsburg soll hier als Beispiel für einen außerschulischen Lernort besonderer Art dienen: Sein Standort in den Räumen einer jüdischen Gemeinde prädestiniert es zu einem Ort der Begegnung.7 Die Koexistenz von Kultusgemeinde und Museum unter einem Dach bildet ein Alleinstellungsmerkmal unter den jüdischen Museen. Sie sind überwiegend in eigens errichteten Gebäuden oder in renovierten, aber ihrer Gemeinde beraubten Synagogen untergebracht.8 In Augsburg eröffnet der Synagogenstandort des Museums dagegen die Chance, jüdische Religion als lebendig und gegenwärtig zu erleben. Dazu gehört die Begegnung mit vorübergehenden Gemeindemitgliedern im Synagogenhof ebenso wie das Passieren einer Sicherheitsschleuse, die die permanente Bedrohungssituation erfahrbar macht, in der jüdische Menschen in Deutschland leben. Das Ermöglichen von Begegnung war ein Hauptmotiv bei der Gründung des Museums. Als es 1985 als erstes jüdisches Museum in der Bundesrepublik eröffnet wurde, erklärte sein Gründer, der damalige Gemeindepräsident Julius Spokojny (1923–1996) den von den Beschädigungen der NS-Zeit befreiten Kultraum zum zentralen Ort des Museums. Der in alter Pracht wiederhergestellte Synagogenraum von 1917 war vierzig Jahre nach der Shoa nur noch eine leere Hülle, viel zu groß für die kleine, überalterte Kultusgemeinde. Deshalb bestimmte Spokojny: »Nachdem die Zahl unserer Gemeindemitglieder im Dritten Reich dezimiert wurde, wir also die Synagoge nicht mehr füllen können, soll dieser prächtige Bau zwar noch zu Gottesdiensten an Feiertagen benutzt werden, ansonsten aber haben wir ihn als Hauptexponat in ein Museum eingebracht, das unseren Mitmenschen die Kultur der jüdischen Religion näherbringen soll. Museum und Synagoge stehen für die gesamte Bevölkerung des In- und Auslands offen, wobei wir uns besonders wünschen, dass sich
6 Vgl. dazu LBI-Kommission für die Verbreitung deutsch-jüdischer Geschichte (Hg.), Deutschjüdische Geschichte im Unterricht. Eine Orientierungshilfe für Schule und Erwachsenenbildung, 3Frankfurt a. M. 2015 sowie Deutsch-israelische Schulbuchkommission (Hg.), Deutschisraelische Schulbuchempfehlungen (Eckert. Expertise, Bd.5). Göttingen, 2015/2017. 7 Vgl. Benigna Schönhagen, Ort der Begegnung und des Lernens. Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben, in: Museum 32, Fakten, Tendenzen, Hilfen, hrsg., von der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen beim Landesamt für Denkmalpflege, München 2007, 26–30. 8 Vgl. Felicitas Heimann-Jelinek, Gotteshäuser – Leerstellen – Gedenkstätten, in: Wiederhergestellte Synagogen. Indikatoren der Erinnerungskultur, hrsg. von Benigna Schönhagen, Berlin 2016, 20–30.
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Benigna Schönhagen
die Jugend aller Völker in aufgeschlossenem Verstehen für die Kultur und Religion der Juden interessieren möge.«9
Mit dem Ermöglichen von Kontakt und eigener Anschauung hatte der Holocaustüberlebende ein Prinzip formuliert, das zu einem Grundsatz der Holocaust Education werden sollte. Insofern markiert das Eröffnungsdatum des Museums einen erinnerungskulturellen Wendepunkt. 1985 war nicht nur der Beginn einer Gründungsphase von jüdischen Museen in der Bundesrepublik, sondern auch der Beginn eines neuen Interesses an jüdischer Kultur und an der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit auf breiterer Ebene.10
3.
Führungen durch Museum und Synagoge
Das Museum eröffnet jedem Besucher von der Frauenempore aus, den Innenraum der Synagoge zu erleben. Die Begegnungsmöglichkeit mit dem Kultraum einer aktiven Gemeinde hat dazu geführt, dass von Anfang an Religionslehrer*innen in großer Zahl mit ihren Klassen das Museum besuchten. Noch immer machen Führungen für Religionsklassen den größten Anteil der rund 600 Führungen pro Jahr aus.11 Unter den sechs Themenführungen, die das Museum anbietet, rangierte das Angebot »Das Band der jüdischen Tradition« im betrachteten Zeitraum an erster Stelle.12 Während die Dauerausstellung von 1985 mit den Ritualgegenständen aus der Judaica-Sammlung des Museums vor allem die Schönheit des jüdischen Kultus zeigen wollte, bietet die aktuelle, 2006 erneuerte Dauerausstellung verschiedene Perspektiven auf die jüdische Geschichte und Kultur der Stadt.13 Sie thematisiert die religiöse Praxis der schwäbischen Juden im Wandel der Zeit und präsentiert jüdische Geschichte als Abfolge von Integration, Ausgrenzung und Vertreibung. Sie ermöglicht den Besucher*innen, den Synagogenraum historisch einzuordnen und jüdische Geschichte nicht als ferne Historie, sondern als Teil der eigenen Stadtgeschichte wahrzunehmen. Hands-on-Bereiche wie eine Station zur hebräischen Schrift, das ausgestellte Fragment einer Tora-Rolle oder diverse Bei9 Julius Spokojny, Vorwort, in: B[aruch] M. Ansbacher, Zeugnisse Jüdischer Geschichte und Kultur. Jüdisches Kulturmuseum Augsburg, Augsburg 1985. 10 Vgl. Michael Brenner, Jüdisches Leben in Bayerisch.-Schwaben nach 1945, in: Michael Brenner, Sabine Ullmann [Hg,), Die Juden in Schwaben. (Studien zur Jüdischen Geschichte und Kultur in Bayern, Bd.6), München 2013, 287–296. 11 842 Führungen 2015, 630 Führungen 2016, 585 Führungen 2017, Jahresberichte des Jüdischen Kulturmuseums 2016 und 2017, Besucherstatistik. 12 2015 machte diese Führung 49 Prozent aller Führungen aus, Statistische Angaben aus den Jahresberichten des Museums von 2007–2018, hier: 2015. 13 Die aktuelle Dauerausstellung wurde im November 2006 eröffnet, s. Benigna Schönhagen, Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben 2006–2018, Lindenberg 2018.
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spiele von Tora-Schmuck sprechen ebenso wie spezielle Kinderstationen, etwa zu den jüdischen Speisegesetzen oder dem jüdischen Haus, mit einer Mischung aus historischen und aktuellen Alltagsobjekten gezielt die jungen Besucher an. Bei Führungen hören und sehen sie nicht nur etwas von der Schönheit des jüdischen Ruhetags. Sie können den Duft des Schabbat auch an den Kräutern der BesominBüchse selbst riechen oder den ehrfurchtsgebietenden Klang des Schofar ausprobieren. So vorbereitet und eingestimmt besuchen die Schüler*innen im zweiten Teil des Museumsbesuchs den Kultraum selbst. Dabei tauchen sie in die besondere Atmosphäre der (Augsburger) Synagoge ein und erleben mit allen Sinnen einen Kultraum, den eine jüdische Großstadtgemeinde 1917, auf dem Höhepunkt ihrer Integration errichtet hat. Beim Aufsetzen der Kippot haben sie zuvor am eigenen Leib etwas von der jüdischen Ehrfrucht vor dem Wort Gottes spüren können. Wenn sie dann auf den Bänken der Frauenempore ihren Platz gefunden haben, nehmen sie die eindrucksvolle Größe und Pracht des überkuppelten Raumes wahr. Während sie dem Klang des Eingangsgebets »Ma Towu …« (Wie schön sind deine Zelte Jakob, deine Wohnungen, Israel…) in einer Vertonung von Louis Lewandowski lauschen, haben sie Zeit, sich auf den Raum einzulassen und Bekanntes wie Unbekanntes zu entdecken. Im anschließenden Gespräch geht es vor allem um ihre Fragen. Meist purzeln sie nur so: »Warum gibt es hier auch ein Ewiges Licht?«, »Wo ist denn die Tora?«, »Warum gibt es hier so viele Löwen?«, »Warum ist die Synagoge so dunkel?« … Die Neugier hilft, den jüdischen Gebetsraum genauer kennen zu lernen. Die Ausstattung wird im Detail betrachtet, der Ablauf eines jüdischen Gottesdienstes beschrieben, die religiöse Praxis der liberalen Augsburger Vorkriegsgemeinde erläutert. Alle Besucher*innen nimmt die besondere Atmosphäre des Raums gefangen. Grundschüler*innen beeindruckt vor allem die Größe und kostbare Ausstattung mit Mosaiken und goldener hebräischer Schmuckschrift: »Was heißt das?«, »Ist das echt Gold?«… Besonderes Interesse gilt der Beschaffenheit und Materialität herausragender Ausstattungsstücke. So gibt es nahezu keine Klasse, die nicht nach dem Material, dem Gewicht und den Kosten der großen Menora fragt, die über der Tora-Nische thront. Da sie nicht zur Originaleinrichtung gehört, sondern erst als Folge des Holocaust für die dort ursprünglich stehende Orgel angebracht wurde, geben solche Fragen Gelegenheit, die Wahrnehmung behutsam auf die religiöse Bedeutung und historischen Zusammenhänge zu lenken. Beim Kennenlernen des Kultraums kommen automatisch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur eigenen Religion zur Sprache. Besondere Momente interkulturellen Lernens entstehen bei solchen Dialogen, wenn muslimische Schüler von ihrer Moschee erzählen. Erstaunt hören manche christlichen Schüler*innen dann, dass Speisegebote Gegenwart sind. Doch zum Alltag der Syn-
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Benigna Schönhagen
agogenführungen gehört auch die Erfahrung, dass viele mit sakralen Räumen nicht mehr vertraut sind und dass religiöse Erfahrung für sie keineswegs selbstverständlich ist.
4.
Ausstellungseröffnungen als besonderes Angebot für Grundschulen
Es hat sich erwiesen, dass es für Grundschullehrer*innen offenbar mit besonders vielen Hindernissen und Schwierigkeiten verbunden ist, einen Synagogenbesuch von 75 Minuten in den Unterrichtsalltag einzubauen. Die Nachfrage der Gymnasien und Realschulen ist deutlich höher.14 Um hier Abhilfe zu schaffen und interreligiöse Verständigung auch in der Grundschule zu fördern, hat das Museum 2008 ein museumspädagogisches Angebot speziell für Grundschulkinder entwickelt. Möglich wurde das, weil die Konzeption der aktuellen Dauerausstellung einen jährlich wiederkehrenden Wechsel der Ausstellungen zu den jüdischen Jahresfesten vorsieht.15 Die Ausstellungsreihe, die dem jüdischen Festkalender folgt, umfasst fünf Installationen, jeweils im Frühjahr eine zu Purim (Erinnerung an die Rettung der persischen Jüdinnen und Juden), im späten Frühjahr und Sommer eine zu Pessach (Erinnerung an den Auszug aus Ägypten) und Schawuot (Wochenfest; Erinnerung an die Übergabe der Tora) sowie zu Rosch ha-Schana (Neujahrsfest) und Jom Kippur (Versöhnungstag) und im Herbst und Winter eine zu Sukkot (Laubhüttenfest) oder zu Chanukka (Lichterfest; Erinnerung an die Befreiung des Tempels durch die Makkabäer und das damit verbundene Lichterwunder). Da die letzten zwei dicht aufeinander folgen, wird immer nur eine davon präsentiert. Die Eröffnungen werden mit einer Schulklasse zusammen gestaltet.16 Da das Curriculum in Bayern im Religionsunterricht in der 3. und 4. Jahrgangsstufe die Behandlung der monotheistischen Weltreligionen vorsieht, sind es in der Regel Viertklässler, die die Ausstellung eröffnen. Seit 2016 sind auch Schüler*innen einer Übergangsklasse in die Eröffnungen einbezogen. Deren heterogene Her-
14 Die Zahl der Führungen für Grundschüler bleibt seit 2002 deutlich unter zehn Prozent. Statistisches Material für die Jahresberichte 2002–2018. 15 Vgl. Schönhagen, 2018, 104–117. 16 Die Kooperation bei den Eröffnungen der Ausstellungen des jüdischen Feiertagskalenders begann 2008 mit der Franz von Assisi-Schule in Augsburg, einer staatlich anerkannten Privatschule in Augsburg-Haunstetten. Seit 2016 kooperiert das Museum mit der St.-Georg Grund- und Mittelschule in der Augsburger Innenstadt. Mit ihr wurde 2017 ein offizieller Kooperationsvertrag geschlossen mit dem Ziel »auf mehreren Ebenen die interkulturelle Begegnung und den interreligiösen Dialog zu fördern«, Kooperationsvertrag vom 8. 3. 1917.
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kunft regt in besonderem Maß zum Austausch über unterschiedliche Religionen und Bräuche an.17 Vier Module haben sich als feste Bestandteile des Projekts herausgebildet: Zur Einführung besucht die Museumspädagogin die beteiligte Klasse und gestaltet zusammen mit der Klassenlehrerin eine Doppelstunde, in der sich die Schüler über die Feste ihrer Religion und die zugehörigen Bräuche austauschen, bevor sie mit dem jeweiligen jüdischen Fest vertraut gemacht werden.18 In der Regel haben sie es bereits im Unterricht besprochen. Darauf folgen ein dreistündiger Workshop im Museum und eine Übungsphase in der Schule, schließlich die öffentliche Vernissage mit Eltern und Museumsbesucher*innen in der Synagoge. Im Zentrum des Museumsworkshops stehen zwölf der in der Ausstellung präsentierten Objekte.Sie machen die mit dem Fest verbundene religiöse Praxis und ihren Wandel im Lauf der Zeit konkret. Erzählungen, Fotografien und Abbildungen helfen, die Handlungen zu veranschaulichen. Nun geht es darum, sich mit den Objekten genauer zu befassen. Mit weißen Baumwollhandschuhen zum Schutz der Objekte versehen, erkunden die Schüler*innen die unbekannten Gegenstände. In der Regel stammen sie aus dem frühen 18. und 19. Jahrhundert, immer gibt es aber auch Referenzobjekte aus der Gegenwart. Die Schüler*innen inspizieren Chanukka-Leuchter und Seder-Teller, Elias-Becher und Esther-Rollen, Haggadot und andere Ritualobjekte ebenso wie mit dem Fest verbundene Alltagsgegenstände, z. B. ein Matzen-Rilleisen, moderne Dreidel oder einen zeitgenössischen Chanukka-Kalender und aktuelle Purim-Masken. Sie messen die Größe der Objekte, ermitteln deren Gewicht, lernen deren Funktionen und religiöse Bedeutung sowie ihr Alter kennen, fragen, wer sie genutzt hat. Staunend nehmen sie die Ästhetik der Ritualobjekte wahr und vergleichen deren unterschiedliche Formen. Behutsam angeleitet suchen sie nach Worten für die Gefühle, die die Ästhetik in ihnen auslöst, machen ihre eigenen Beobachtungen. »Uns fällt besonders die Schrift auf, weil das anders geschrieben ist«, notiert eine Schülerin zur Esther-Rolle. So begreifen die Schüler im wahrsten Sinn des Wortes Bestandteile jüdischer Rituale. Da jede Ausstellung auch auf die aktuelle Festpraxis eingeht, erleben die Schüler*innen Judentum nicht nur als historisches Phänomen, sondern als gelebte Religion, eine der wesentlichen Grundsätze bei der Vermittlung des Ju-
17 Übergangsklassen werden in Bayern für Quereinsteiger mit rudimentären oder gar keinen Deutschkenntnissen angeboten, https://www.km.bayern.de/ministerium/schule-und-ausbil dung/foerderung/sprachfoerderung/ (Stand: 1. 11. 2019). 18 Bis 2018 war Monika Müller für die Workshops zuständig, seitdem ist es Frank Schillinger. Ihm und Alexandra Knöll von der St. Georg-Schule danke ich für die zur Verfügung gestellten Unterlagen.
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dentums, nicht nur im Religionsunterricht.19 Gleichzeitig entdecken sie einige Gemeinsamkeiten der drei monotheistischen Religionen und erfahren etwas über die wechselseitigen kulturellen Einflüsse, wenn sie erklärt bekommen, dass die silbernen Kultobjekte in der Regel von christlichen Goldschmieden geschaffen wurden, da Jüdinnen und Juden bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts von der Mitgliedschaft in der Zunft der Goldschmiede wie in den anderen Zünften ausgeschlossen waren. Besonders beeindruckt die Acht- und Neunjährigen aber das Alter und der Wert der Objekte.20 Für die Eröffnung suchen sich die Schüler*innen ein Objekt aus, das sie im Tandem vorstellen. Ein von der Museumspädagogin erstelltes Arbeitsblatt hilft dabei: »Überlegt, was die Gäste der Ausstellungseröffnung über das Objekt wissen müssen. …Besprecht, was euch besonders auffällt.« Das Einüben der Texte für die Präsentation findet in der Schule statt. Erstaunlich viele Schüler*innen der Übergangsklassen beteiligen sich bereits mit eigenen Texten, andere gestalten ihre Auseinandersetzung mit dem Fest in einem Bild.
Das Schütteln des Feststraußes an Sukkot, für eine Ausstellungseröffnung gemalt; Jüdisches Kulturmuseum Augsburg-Schwaben.
19 Vgl. Bernd Schröder, Judentum als Thema christlich verantworteter Bildung, in: WiReLex (2016), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100072/ (Stand: 10. 10. 2019). 20 Vgl. Fragebogen für die beteiligten Lehrerinnen, 12. 10. 2019.
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Im Laufe der Zeit wurden die Schüler*innen bei den Präsentationen zunehmend freier, hielten sich weniger an die Arbeitsblätter, fanden neue Formen. Das ermöglichte neue Erfahrungen und damit das Entdecken bisher unerkannter Talente unter den Schüler*innen. Eine Klasse stellte die Purim-Geschichte sogar szenisch dar. Den Abschluss der Präsentation bildet immer ein hebräisches Feiertagslied, das die Lehrerin mit der Klasse zuvor einstudiert hat. Zur Eröffnung werden die meisten Kinder von ihren Eltern und Geschwistern begleitet. Manchmal kommen auch Großeltern oder Freunde der Familie mit und nutzen die Gelegenheit, die Synagoge kennenzulernen.21 Nach einer kurzen Generalprobe nehmen die Schüler*innen in den vordersten Reihen Platz. Aufregung liegt in der Luft. Die Museumsleiterin begrüßt sie und die anderen Gäste, dann stellen die Kinder dem Publikum das Fest und ihr Objekt vor. Selbstbewusst stehen sie als Expert*innen mit Mikrophon auf der Bühne, während die Objekte an die Wand projiziert werden. Die Schüler*innen beschreiben, was ihnen aufgefallen ist und was sie gelernt haben. Einigen gehen nicht nur die Texte, sondern auch die hebräischen Bezeichnungen überraschend leicht von den Lippen, andere buchstabieren mühsam. Doch das Beschreiben der typischen Festspeisen und -spiele bereitet allen spürbar Freude. Die Anwesenheit des Rektors unterstreicht vor allem für die Eltern die Bedeutung der Kooperation. Das Staunen über die hebräisch singenden Kinder ist groß. Zum Abschluss erhält jede und jeder Beteiligte ein kleines, zum Fest passendes Geschenk, einen Kreisel bei Chanukka oder eine Rätsche bei Purim. Einen besonderen Höhepunkt bedeutete es, als der Kantor der Kultusgemeinde sich an der Eröffnung beteiligte.22
5.
Resümee
Die Förderung interkultureller Bildung durch den Erwerb religiösen Wissens war und ist das Ziel des Kooperationsprojekts von Museum und Schule. Die reale Begegnung mit der Synagoge, der direkte Umgang mit den Objekten sowie die wertschätzende Atmosphäre bei der Eröffnung haben sich dabei als entscheidende Momente erwiesen. Da es eine Evaluation bislang nicht gibt, sollen abschließend die Erfahrungen der beteiligten Lehrerinnen sowie eigene Beobachtungen die Chancen und Herausforderungen des Projekts zusammenfassen.23 Den entscheidenden Pluspunkt bildet der außerschulische Lernort. Die Begegnung mit der Synagoge hinterlässt bei den Führungen wie den Ausstellungser21 Vgl. Ebd. 22 Das war allerdings nur möglich, solange die Gemeinde einen Kantor hatte. 23 Vgl. Fragebogen zum Kooperationsprojekt Schule-Museum. Dort auch die folgenden Zitate.
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öffnungen den nachhaltigsten Eindruck. Wie eine Lehrerin berichtet, hat kaum einer der Schüler*innen vorher etwas über jüdisches Leben in seiner bzw. ihrer Stadt gewusst. Die Dauer und besondere Atmosphäre bei der realen Begegnung mit dem Lerngegenstand wie seine lokale Veranschaulichung schlagen eine Brücke von Bekanntem zu Unbekanntem. Die als besondere Wertschätzung erlebte Einladung in die Synagoge und die Erfahrung, bei der Eröffnung die Hauptrolle einzunehmen, verankert das Neue positiv. »Die feierliche Situation (der schöne Saal, Publikum, musikalische Begleitung) zur Ausstellungseröffnung blieb vielen Schülern nachhaltig im Gedächtnis.« Die intensive eigene Beschäftigung mit der Synagoge und die sinnliche Erfahrung beim Umgang mit den Ritualobjekten in der Gruppe helfen, »Anknüpfungspunkten zur eigenen Religion (Ähnlichkeiten der Feste, ein Gott, Gotteshaus…)« zu entdecken und sich darüber auszutauschen. Die meist kostbaren Objekte in die Hand nehmen zu dürfen, wirkt motivierend und verankert das Wissen sinnlich. Gleichzeitig erlaubt der Umgang mit den Objekten einen Blick hinter die Kulissen eines Museums und eröffnet kulturelle Teilhabe. Eindrucksvoll ist das Selbstverständnis, mit dem die Schüler*innen sich nach dem Workshop in Museum und Synagoge bewegen. Die Räume sind ihnen vertraut geworden. Wenn sie diese ihren Eltern nach der Präsentation zeigen, sind sie die Experten. Das ist eine positive Lernerfahrung, die bei vielen lange in Erinnerung bleibt, wie die Lehrkräfte feststellten. Unerlässlich für das Gelingen des Projekts ist allerdings eine gute Vorbereitung auf Museums- wie Schulseite. Klare Informationen über die gegenseitigen Rahmenbedingungen und Ziele sind eine weitere Voraussetzung. Nicht die perfekte Präsentation der Ausstellung für die Museumsgäste soll das Ziel sein, sondern die positiven Erfahrungen der Schüler*innen beim Kennenlernen einer anderen Religion und ihrem ersten Austausch darüber. Angesichts der heterogenen Zusammensetzung der Projektgruppen ist deshalb eine kindgerechte Erschließung der Objekte ebenso erforderlich wie der wertschätzende Umgang mit ihren Texten und Bildern. Der Applaus nach jedem Beitrag gehört unbedingt dazu und wird angesichts des Eifers der Kinder auch gerne gegeben. Als Herausforderung und auch Grenze des Projekts erwies sich, dass ältere, meist muslimische Schüler*innen der Übergangsklassen »diffuse Ängste« vor dem Betreten des Gebäudes zeigten. Einige muslimische Eltern hatten erhebliche Vorbehalte gegenüber einer Teilnahme, berichteten die Lehrer*innen. Wenn sie die Ängste im Gespräch abbauen konnten, was entsprechende Sprachkenntnisse voraussetzt, bot die Ausstellungseröffnung dann aber die Chance, dass sie sich als respektierter und gleichberechtigter Teil einer kulturell vielfältigen Gruppe erleben.24 24 »Wer Ängste hatte, konnte erleben, dass von der Teilnahme am Projekt keinerlei ›Gefahr‹
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Auch wenn es bei dem Projekt im weitesten Sinne um Antisemitismus-Prävention geht, steht Antisemitismus nicht im Zentrum. Doch Judenhass und Judenverfolgung werden nicht ausgespart. Denn bei nahezu jedem Fest spielen sie eine Rolle, etwa bei Purim, Pessach oder Chanukka. Und die Frage, wem die Objekte einmal gehört haben, führt fast immer zum Holocaust. So wird die Shoa nicht tabuisiert, aber auch nicht ausführlich thematisiert.25 Denn bei den Synagogenführungen wie dem Ausstellungseröffnungsprojekt stehen der Reichtum und die Vielfalt jüdischen Lebens und gelebte jüdische Praxis im Mittelpunkt. Sie kennenzulernen hilft vielleicht nicht, Vorurteile abzubauen, trägt aber dazu bei, ihre Genese zu verhindern.
ausging (Eltern)«, heißt eine Antwort auf die Frage, ob im Verhalten der beteiligten Schülerinnen nach dem Projekt Veränderungen festzustellen waren, Fragebogen zum Kooperationsprojekt. 25 Dafür hat das Museum eigens Workshops mit dem Zeitzeugen Ernst Grube oder mit videografierten Zeitzeugenberichten ehemaliger Augsburger Jüdinnen und Juden entwickelt. Die Lebensgeschichten sind in acht Bänden LEBENSINIEN- Deutsch-jüdische Familiengeschichten, hrsg. von Benigna Schönhagen, Augsburg 2008–2015 dokumentiert und stehen zum Nacharbeiten teils auch auf CDs zur Verfügung, siehe https://www.jkmas.de/vermitt lung/lebenslinien-ein-zeitzeugenprojekt/ (Stand: 28. 05. 2020).
Heide Rosenow
Biographiebezogene Lernformen gegen Ausgrenzung und Antisemitismus bei Grundschulkindern – eine christliche Perspektive
1.
Prolog
Wir leben in einer Zeit, in der der Antisemitismus und andere Formen der Ausgrenzung zugenommen haben. Präventionsarbeit wird somit immer wichtiger. Das christliche Menschenbild verpflichtet uns dazu, dieser Aufgabe im Religionsunterricht gerecht zu werden. Präventiv im Sinne von sozialem Lernen wurde in den Schulen in den letzten 30 Jahren immer schon gearbeitet. Eine Lücke weist allerdings die Grundschule auf. Die Herausforderung an die Unterrichtenden liegt darin, Ausgrenzung und Antisemitismus im Alltagsleben der Kinder, somit auch in der Grundschule, seitens der Lehrkräfte zu erkennen, zu thematisieren und für den Unterricht aufzubereiten. Der Kreativität sind dabei zunächst keine Grenzen gesetzt. Der folgende Beitrag will mit Anregungen, eigenen Erfahrungen und Sichtweisen anhand der Biographie einer Holocaustüberlebenden im Religionsunterricht in der Grundschule dazu beitragen dieses Desiderat in kindgerechter Weise zu füllen.
2.
Lernen aus der Perspektive des Grundschulkindes
Im Religionsunterricht im 4. Schuljahr sagte Ayse zu mir: »Ich hasse Juden. Sie sind unsere Feinde.« Meine Frage: »Kennst du jüdische Menschen?« verneinte sie und sagte: »Meine Mutter hat das gesagt.« Nachdem Ayse während des Projekttages in der 4. Klasse: ›Judentum begreifen‹1 ein jüdisches Geschwisterpaar kennengelernt hatte, änderte sie ihre Einstellung und sie zeigte sich begeistert von dem Projekt und auch von den eingeladenen jüdischen Gästen. Das Beispiel 1 Vgl. Art. »›Judentum begreifen‹ – ein Projekt in West-Niedersachsen« von Aloys Lögering in diesem Band; s. auch: Heide Rosenow, Judentum begreifen – ein dialogisches interreligiöses Projekt für alle Schulformen in Osnabrück, in: Saskia Eisenhardt/Kathrin S. Kürzinger/Elisabeth Naurath/ Uta Pohl-Patolong (Hg.), Religion unterrichten in Vielfalt, Göttingen 2019, 271–275.
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Heide Rosenow
zeigt, wie wichtig die Begegnung und der Dialog mit Menschen jüdischen Glaubens sind, um eine vorgefasste Meinung infrage zu stellen oder sogar aufzulösen. Antisemitische Vorurteile dieser Art werden oft schon im Grundschulalter von anderen unreflektiert übernommen und festigen sich, falls das Grundschulkind keine eigenen Erfahrungen mit positiven Begegnungen machen kann. Das Kennenlernen, das gemeinsame Lernen, das Abbauen von Fremdheit anhand des Dialogs mit jüdischen Gläubigen über die jüdische Religion, wie es das Projekt ›Judentum begreifen‹ beinhaltet und den Kindern aller Religionen gemeinsam an einem Schulvormittag angeboten wird, ist dazu geeignet, Kenntnisse zu erwerben, Vertrauen zu entwickeln und Vorurteile zu beseitigen. Warum ist Prävention schon in der Grundschule aus meiner Sicht als Grundschullehrkraft so wichtig? Voll Neugier starten die Sechsjährigen in der Schule. Sie wollen lernen, lesen, schreiben, rechnen. Aber sie wollen auch Freundschaften schließen. Manche Kinder sind anders als sie selbst: vom Aussehen her, in der Sprache, in der Religion oder im Verhalten. So wie es im Sprichwort gesagt wird – Gleich und gleich gesellt sich gern – so entscheiden sich Kinder für bestimmte Freundschaften, bilden kleine Gruppen und schließen damit andere Kinder aus. Das ist nicht neu. Da alles im Kleinen beginnt, ist die Lehrkraft gefordert, solche Gruppendynamik in der Klasse wahrzunehmen und schon hier mit der Präventionsarbeit gegen Ausgrenzung zu beginnen, denn Antisemitismus ist m. E. eine vor allem ethnisch bedingte Form der Ausgrenzung. Das Kerncurriculum für den Religionsunterricht in der Grundschule zeigt den Freiraum auf für das Kennenlernen der Kinder untereinander, für christliche Werteerziehung in den Klassen 1 bis 4 und darüber hinaus das Kennenlernen anderer Religionen – insbesondere der abrahamitischen Religionen in den Klassen 3 und 4, sowie 5 und 6. Wichtige religionspädagogische Schwerpunkte, die die Andersartigkeit der Kinder in der Klasse bzw. in der Schule thematisieren und verständlich machen, sollten den Blick auf die Grundbedürfnisse wie das Essen und die Kleidung, aber auch auf die Religion lenken. Ein gemeinsames Frühstück in der Klasse könnte eine Vorlage bieten. Dazu können die Kinder selbst als Expert*innen auftreten und über ihr Essen bzw. über Speisevorschriften sprechen, ggf. können die muslimischen Kinder über die Speisevorschriften während des Ramadan, die jüdischen Kinder über die Speisen an Pessach und die christlichen Kinder über die Speisen an Ostern sprechen. Die Kinder werden nicht über alle Speisevorschriften im Detail sprechen können, doch für einen ersten Schritt die anderen Essgewohnheiten kennen zu lernen, zu probieren und zu verstehen, wird es reichen. Zumindest ist damit ein Weg geöffnet, Fremdheit abzubauen und das gegenseitige Verstehen zu fördern. Der Lehrkraft obliegt es, entsprechend ihrer Lerngruppe in didaktischer Reduktion vertiefend tätig zu werden und die entsprechenden Inhalte zu festigen. Oft lassen
Biographiebezogene Lernformen gegen Ausgrenzung und Antisemitismus
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sich Eltern für die Zubereitung kleiner Probierspeisen gerne einbinden. Grundlegende Speiseverbote für Muslime und Juden, wie das Verbot von Gelatine und Schweinefleisch sind selbstverständlich für die Gabe von Probierspeisen zu berücksichtigen. Nach meiner Erfahrung zeigen sich die Kinder im 1. und 2. Schuljahr offen für diese kleinen Projekte. Dies hilft, dass sie sich gegenseitig kennen und schätzen lernen. Es werden auf diese Weise häufig Grundlagen für Freundschaften gelegt. In den Schuljahren 3 und 4 bzw. 5 und 6 wird das soziale Lernen vertieft und gefestigt. Die zu erwerbenden Kompetenzen in den Kerncurricula befassen sich nun ausführlicher mit den abrahamitischen Religionen2. Weiterhin ist es notwendig, im Rahmen der Werteerziehung Mitgefühl, Verständnis, Respekt, Toleranz, Rücksichtnahme und Gerechtigkeit der Altersgruppe entsprechend im Religionsunterricht und darüber hinaus zu lehren, zu erlernen und zu üben. Zur Vertiefung bietet sich im 4. Schuljahr für alle Schüler*innen der schon genannte Projekttag ›Judentum begreifen‹3 an, der immer von allen teilnehmenden Religionslehrer*innen, Schüler*innen und Akteur*innen als bereichernd und erhellend wahrgenommen wird. An diesem Projekttag erhalten die Viertklässler*innen anhand des Films ›Was glaubt man, wenn man jüdisch ist?‹ aus der Fernsehreihe ›Willi will’s wissen‹ von Ralph Wege auch einen kurz gehaltenen Einblick in das Thema Holocaust – dokumentarisch und auszugsweise. Das Holocaust-Thema wird als Teil der jüdischen Geschichte vorgestellt. Die Schüler*innen der 4. Klasse wissen schon mit unterschiedlichem Vorwissen über den Holocaust als Teil der jüngeren deutschen Geschichte Bescheid. Sie möchten Antworten auf ihre Fragen erhalten. Ein nicht unproblematisches Beispiel: So fragte ein Neunjähriger im Religionsunterricht: »Warum hat Hitler die Juden getötet? Warum konnte er das tun?« Die Religionslehrkraft empfindet, der Junge benötige sofort eine Antwort und reagiert spontan: »Weil die Menschen damals eine Antwort als Erklärung für die große Arbeitslosigkeit und für den Hunger suchten. Und da mussten Bürger*innen jüdischen Glaubens als Sündenbock herhalten. Die Menschen waren nicht kritisch genug und glaubten Hitler, der überall in seinen Reden schrie: Die Juden sind an allem schuld.« Die Frage des Schülers Paul zeigte, dass er sich die Welt erschließen wollte. Die spontane Antwort der Lehrkraft entspricht nicht dem Vorwissen und Denken der Grundschulkinder und hilft dem neunjährigen Paul nicht altersgemäß, Erklärungen für diese ungeheuerlichen Geschehnisse zu finden. Die Medien lassen 2 Vgl. Christiane Lohmann/ Ulrike Zimmerer, Schalom! Das Judentum in der Grundschule. Kindgerechte Unterrichtsmaterialien für die Klassen 3/4, Augsburg 2018; Vera Krause, Salam! Der Islam in der Grundschule: Lern-Bausteine für Regelunterricht und Freiarbeit in den Klassen 3 und 4, Augsburg 52016. 3 Vgl. Art. »›Judentum begreifen‹ – ein Projekt in West-Niedersachsen« von Aloys Lögering in diesem Band.
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Grundschüler*innen keine Entwicklungszeit. Sie bringen alle Themen auch das o. g. ins Wohnzimmer einer jeden Familie. Oft haben Eltern oder Großeltern zu wenig Zeit oder Offenheit, für ihre Kinder bzw. Enkelkinder eine kindgerechte Antwort auf diese oft schwierigen Fragen zu finden. Deshalb müssen Lehrkräfte, vorrangig Religionslehrkräfte einspringen, um eine kindgerechte Antwort z. B. auf Pauls Frage zu finden. Dieser Anforderung im Religionsunterricht gerecht zu werden, bedarf es einer besonders reflektierten Grundschuldidaktik. Nach einem Aufenthalt in Yad Vashem, der Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust in Jerusalem, entschied ich mich behutsam mit der Präventionsarbeit gegen Antisemitismus in der 4. Klasse der Grundschule zu beginnen. Zwei Fragenkomplexe waren und sind je nach der Lerngruppe immer zu klären: Welches Vorwissen bringen die Kinder mit? Welche kindgemäßen Antworten können für die Altersgruppe gegeben werden? Welche Bezüge lassen sich zum Beispiel zum lokalen oder regionalen Kontext finden? Hierzu ein Beispiel: Bezüglich des Vorwissens stellte ich fest, dass die Kinder die Stolpersteine des Künstlers Demnig schon hier und da kennengelernt hatten. Eine Schülerin hatte mit ihrer Mutter das Felix-Nußbaum-Haus in Osnabrück besucht, das die weltweit größte Bildersammlung des jüdischen Malers Felix Nußbaum beheimatet, der in Auschwitz umgebracht wurde. Manche Kinder wissen auch schon etwas über Anne Frank. Und viele Kinder stellen hierzu sehr grundlegende Fragen, z. B. Warum werden Juden nicht gemocht? Wer ist ein Jude? Warum haben die Leute damals weggeschaut? Ich rate meinen Kollegen*innen zu recherchieren: Welche Antworten hält meine Stadt für Grundschüler*innen bereit? Es gibt verschiedene außerschulische Lernorte, die für Kinder relevant sein können: die jüdische Gemeinde mit der Synagoge, jüdische Friedhöfe bzw. jüdische Gräber auf Friedhöfen, Gedenktafeln anlässlich des Holocausts und die Begegnung mit Zweitzeugen, die über das Leben von verstorbenen jüdischen Zeitzeugen berichten, wie der Verein Heimatsucher e. V. für Schulklassen anbietet.4 Darüber hinaus gibt es neue Kinderliteratur, die Geschichten z. B. über die Rettung von jüdischen Menschen enthalten5. Und es gibt Erinnerungsliteratur an die Verfolgung der Juden während der Nazizeit. Formen der Erinnerung beinhalten auch die o. g. Stolpersteine, das Tagebuch der Anne Frank und Berichte über Janusz Korczak. Das Lernen 4 Vgl. Art. »Lebendiges Zeugnis erhalten – Die Arbeit des Vereins ZWEITZEUGEN e.V.« von Katharina Müller-Spirawski/Vanessa Eisenhardt in diesem Band; https://heimatsucher.de; (Stand: 31. 07. 2019), bes. Heimatsucher e. V., Heimatsucher-Methoden für die Bildungsprojekte; (Stand: 09.07. 2019), https://heimatsucher.de/heimatsucher-methoden-fuer-die-bildungs projekte; (Stand: 31. 07. 2019). 5 Vgl. Inge Deutschkron/ Lukas Ruegenberg, Papa Weidt. Er bot den Nazis die Stirn, Kevelaer 3 2006; Naomie Morgenstern, Gern wäre ich geflogen – wie ein Schmetterling. Die Geschichte von Hannah Gofrith, übersetzt ins Deutsche von Kathrin Volkmann, Jerusalem 2000.
Biographiebezogene Lernformen gegen Ausgrenzung und Antisemitismus
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anhand von Biographien durch die lebendige Begegnung mit der Zeitzeugin Erna de Vries6 und eine Ausstellung des Vereins Heimatsucher über Interviews mit Holocaustüberlebenden in Israel7, sowie der Besuch der Synagoge und die Begegnung mit dem Rabbiner bzw. Kantor der Gemeinde bieten Möglichkeiten mit Grundschulkindern jüdische Geschichte kennenzulernen.
3.
Lernen anhand von Biographien in der Grundschule
Ein Lernen anhand von Biographien mit lebendigen Zeitzeugen*innen ist aufgrund meiner Erfahrungen besonders wirkungsvoll. Gerne berichte ich von einer solchen Begegnung mit meinen 10-jährigen Schüler*innen: Nachdem meine Viertklässler*innen an einem Vormittag die jüdische Religion anhand der Festsymbolik und die Begegnung jüdischer Gläubiger während des Projekttags ,Judentum begreifen’ mit allen Sinnen kennengelernt hatten und sich nun weiter mit dem Thema Holocaust befassen wollten, lud ich die Zeitzeugin Erna de Vries in die Grundschule ein. Die Absprache mit allen Verantwortlichen dazu war notwendig. Es bedurfte neben der Bereitschaft der Kinder, die Zeitzeugin kennenlernen zu wollen, auch der behutsamen Heranführung an die Begegnung mit ihr. Dabei stellte ich fest, dass die Kinder selbst in der Lage waren, zu formulieren, worüber sie im Vorfeld Bescheid wissen bzw. wie sie sich auf das Gespräch mit dem Gast vorbereiten wollten. Anders als in der weiterführenden Schule sollte das Gespräch mit der Zeitzeugin nicht frontal, sondern im Kreisgespräch mit maximal 20 Schüler*innen stattfinden. Während des Gesprächs erzählte die Zeitzeugin über ihr Leben, über ihre Eltern, ihre Zeit als Schülerin und ihre Ausbildung zur Krankenschwester, ihre Verfolgung und die Verbote, die sie in dieser Zeit durch die Nazis erleiden musste, über ihre Zeit in Auschwitz mit ihrer Mutter und wie sie überleben konnte. Aber sie erzählte auch über ihr Leben heute. Die Kinder reagierten sehr mitfühlend, sie stellten aber zugleich interessierte und neugierige Fragen: »Sind deine Beine heute wieder ganz geheilt?« – »Wie viele Menschen mussten in einem Stockbett schlafen?« Immer beantwortete Erna de Vries alle Fragen der Kinder dem Alter angemessen – auch die Frage nach der eintätowierten Zahl auf ihrem Arm. Ja, selbst die 6 Vgl. Erna de Vries, Der Auftrag meiner Mutter. Eine Überlebende der Shoah erzählt, Berlin 2011. 7 Vgl. Projekt Zeitlupe e.V., Erna de Vries. Ich wollte noch einmal die Sonne sehen, Filmdokumentation, http://www.projektzeitlupe.de/de/ernadevries/film/; (Stand: 28. 04. 2020); Ingolf Seidel, Lernen mit Biographien. Ziele, Möglichkeiten und Grenzen der pädagogischen Arbeit mit Lebensgeschichten und biografischen Fragmenten von ehemaligen NS-Verfolgten, 27. 06. 2018, in: Lernen aus der Geschichte (Online–Magazin), http://lernen-aus-der-geschichte.de/ Lernen-und-Lehren/content/14066; (Stand: 17. 06. 2019)
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Theodizee-Frage richteten die Kinder an Frau de Vries. Sie antwortete: »Ich habe zunächst gar nicht so fest an Gott geglaubt, aber in der Stunde, kurz bevor ich sterben sollte, habe ich zu Gott gebetet und mir gewünscht: ich möchte noch einmal die Sonne sehen. Ja, ich glaube fest an Gott«, antwortete sie den Kindern. Dieser Ausspruch von Erna de Vries wurde in meinem Unterricht formuliert. Das Projekt Zeitlupe e. V. hat eine DVD mit Erna de Vries unter dem Titel ›Ich wollte noch einmal die Sonne sehen‹ erstellt, die von der Homepage des Vereins herunter ladbar ist. Im Nachhinein habe ich von den Eltern erfahren, dass ihre Kinder sehr beeindruckt waren und noch lange über die Begegnung mit der Holocaust-Überlebenden in der Familie gesprochen haben. Nach diesem besonders berührenden Kreisgespräch bedurfte es der ausführlichen Nachbereitung in der Schule, um den Kindern Zeit zu geben, diese intensiven emotionalen Eindrücke zu verarbeiten. Meiner Meinung nach hat diese Begegnung den Schüler*innen die Gelegenheit gegeben, sich entsprechend ihrer persönlichen Reife und entsprechend ihrer altersgemäßen Möglichkeiten mit dem Holocaust zu befassen, die Zeitzeugin zu befragen, Anteil zu nehmen, zu ergründen und sich im Gespräch zu vergegenwärtigen, was geschehen ist. Da die Zeitzeugin überlebt hat und authentisch von sich erzählen kann, ist sie zugleich auch ein hoffnungsvolles Beispiel für das Engagement für den Frieden. Diese Frau strahlt eine positive Grundeinstellung aus, weil sie keine Bitterkeit und keinen Hass auf ihre Vergangenheit empfindet, sondern zur Versöhnung beitragen möchte. In gewisser Weise kann man sagen: Hier sprach nicht das geschriebene Wort aus dem Geschichts- oder Religionsbuch zu den Kindern. Dem lebendigen Wort, der Lebensgeschichte der Zeitzeugin wurde Raum gegeben. Darum war die Begegnung für die Kinder der 4. Klasse so beeindruckend. Wenn genügend Zeit im Schuljahr bleibt, kann der Besuch der jüdischen Gemeinde z. B. ein Zusammentreffen mit dem Kantor oder mit dem Rabbiner in der Synagoge einen guten Abschluss für die Begegnung mit dem lebendigen Judentum bilden.
4.
Wenn es keine Zeitzeugen*innen (mehr) gibt?
Der Verein Heimatsucher e.V. gründete sich auch wegen der immer älter werdenden Zeitzeugen, die eines Tages nicht mehr selbst Zeugnis ablegen können. Er interviewte Zeitzeugen, Holocaust-Überlebende in Israel und entwickelte anhand der Interviews die Biographien über die Interviewten auf beeindruckende Weise. In einer eindrucksvollen Ausstellung des Vereins kommen alle Interviewten zu Wort. Auf Anfrage bietet der Verein in Foren, Universitäten und Schulen diese Ausstellung mit den Biographien der Holocaustüberlebenden an, die aufbereitet auch für Grundschüler*innen kindgerecht angeboten und me-
Biographiebezogene Lernformen gegen Ausgrenzung und Antisemitismus
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thodisch ansprechend durch die Kinder erarbeitet werden können. Die Auswertung der Biographie-Erarbeitung erfolgt spielerisch als Rollenspiel im Kreisgespräch, in das die Schüler*innen mit Hilfe des Teams des Vereins geführt werden. Vertiefend im Anschluss an das Rollenspiel wird den Schüler*innen angeboten, einen Brief mit Wünschen, Gedanken, Gefühlen an die Person zu richten, über deren Leben sie gearbeitet haben. Ich habe erlebt, wie ernsthaft und froh die Kinder dieses Angebot aufgegriffen haben, ein paar Worte an ›ihre‹ Person formulieren zu dürfen. Diese Briefe werden dann von dem Heimatsucher Team an die noch lebenden Holocaustüberlebenden weitergeleitet.
5.
Epilog
In Israel heulen einmal im Jahr am Morgen des Holocaust-Gedenktags um 10 Uhr für zwei Minuten die Sirenen. Alle Menschen, junge und alte, gedenken der 6 Millionen Holocaust-Opfer. Auch für die Kleinsten werden Worte gefunden, um ihnen das Heulen der Sirenen zu erklären. Im Gegensatz hierzu nehme ich wahr: In Deutschland nimmt der Rechtsextremismus zu und leider auch der Antisemitismus. Das Judentum ist inzwischen wieder ein Teil von Deutschland geworden. Deshalb ist es dringend notwendig, Grundschüler*innen entsprechend ihrer Entwicklung kindgerecht und präventiv Antworten auf ihre berechtigten Fragen zum Judentum und zur Geschichte zu geben. Das sollte sich auf die Bräuche, Traditionen bzw. Ausdrucksweisen des Judentums beziehen, aber auch das Thema Holocaust nicht aussparen. Auf diese Weise kann man frühzeitig präventiv gegen neu aufkommende antisemitische Tendenzen schon in der Grundschule aufklären und wirken. Es ist allerdings nicht leicht, Raum zu finden für die notwendige präventive Arbeit beginnend in der 1.Klasse. Mit einem aufmerksamen Ohr und einem wachen Blick werden Lehrer*innen und Erzieher*innen Hinweise für die Notwendigkeit der Präventions-Arbeit wahrnehmen. Die Schüler*innen werden es einmal danken, wenn ihre nach Orientierung suchenden Fragen beantwortet werden. Dazu bietet der Religionsunterricht die biblischen und theologischen Grundlagen. Denn im Kern der biblischen Botschaft, der die von Jesus Christus formulierte Nächstenliebe beinhaltet, liegen die relevanten christlichen Aussagen, die im Niedersächsischen Kerncurriculum für das Fach Evangelische Religion8 in 6 Leitfragen für die Grundschüler*innen zum Ausdruck gebracht werden. Hervorzuheben sind besonders die Leitfragen ,Nach Jesus Christus fragen’ und ,Nach der Verantwortung der Menschen in der Welt fragen’ und auch ,Nach 8 Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.), Kerncurriculum für die Grundschule, Evangelische Religion, Hannover 2006.
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Religionen fragen’ Die Aussagekraft der uns überlieferten Gleichnisse Jesu liegt m. E. in dem Ziel mit warmem, annehmendem, liebevollem Herzen auf den/die Mensch*en zu schauen und ihnen einen Neubeginn oder eine Existenz zu ermöglichen oder/und ihnen aus der Not zu helfen (Lk10,29–37, Lk13,10–17, Lk15,4–6, Lk15,11–32, Mt20,1–16). Die beispielhaft aufgeführten Gleichnisse gelten in den Schuljahren 1 bis 4 als fakultativ. Darauf fußend werden wesentliche Aspekte des christlichen Menschenbildes erarbeitet und formuliert. Aus theologischer Sicht liegt der Kern des christlichen Glaubens in der Nächstenliebe, wie sie uns durch die Evangelisten überliefert wurde. Vermittelt man den Schüler*innen das christliche Liebesgebot, so gibt man ihnen eine klare Orientierung für die Erkundung der Welt. Daher ist ein wesentlicher Beitrag des Religionsunterrichts, Menschen mit anderem Glauben eingeschlossen in der Verantwortung als Menschen im Sinne eines christlichen, humanen und friedlichen Zusammenlebens aller Kinder und Mitarbeiter*innen in der Grundschule zu wirken, die alltägliche Ausgrenzung und den Antisemitismus sozusagen mit den Kindern zu thematisieren und in kindgerechter Weise auch anhand von biographischem Lernen nahezubringen und verständlich zu machen. Dies gebietet unser christlicher Glaube und darin spiegelt sich der Kerngedanke der christlichen Nächstenliebe m. E. wider. Im Verbund mit anderen Unterrichtsfächern kann daher ein Schulkonzept zur Antisemitismus-Prävention entwickelt werden. Der Gegenstand des Konzepts sollte es sein, das Miteinander, die Integration und den Zusammenhalt durch Akzeptanz, Respekt und Toleranz, der zu Freundschaften untereinander führt und dadurch einen besonderen Beitrag gegen Antisemitismus leisten kann, zu fördern. Der Kreativität sind dabei kaum Grenzen gesetzt, ob es sich nun um die Gestaltung eines Schulfestes handelt, um das in Niedersachsen bekannte Streitschlichterkonzept für Grundschüler*innen, um ein Projekt einer 3. Klasse mit dem Titel ›Unsere Klasse wünscht sich eine Welt ohne Rassismus‹9oder um das Butterfly-Projekt der bewegten Grundschule in Cottbus, bei dem bemalte Keramik-Schmetterlinge an das Schicksal jüdischer Kinder erinnern10. Jede Stadt und auch die Landkreise bieten anhand entsprechender Erinnerungskultur Möglichkeiten oder Projekte an, die von der Lehrkraft für Grundschüler*innen erfahrbar und nutzbar gemacht werden können. Im sensiblen Wahrnehmen, Aufgreifen und Integrieren von Kinderfragen in den Religionsunterricht und durch die Entwicklung einer Fragekultur mit den Kindern liegt eine große Chance und Aufgabe von Religionslehrer*innen und Pädagogen mit Hilfe der 9 Felix Westhoff, Osnabrücker Schulklassen malen Plakate gegen Fremdenhass, in: Neue Osnabrücker Zeitung (NOZ) 13. 03. 2019, 23. 10 Vgl. Iris Wußmann, Bemalte Schmetterlinge erinnern an Schicksale jüdischer Kinder, 11. 12. 2018, https://www.rbb24.de/studiocottbus/beitraege/2018/12/butterfly-projekt.html (Stand: 28. 04. 2020).
Biographiebezogene Lernformen gegen Ausgrenzung und Antisemitismus
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gefundenen Antworten, den Grundschulkindern Orientierungshilfen zu geben und sie zu stärken, gemeinsam und in friedlichem Miteinander zusammen zu leben.
Selcen Güzel
Antisemitismus-Prävention im islamischen Religionsunterricht mit Praxisbeispielen
In den vergangenen Jahren haben in Deutschland antisemitische Vorfälle in diversen gesellschaftlichen Kontexten in unterschiedlichem Ausmaß zugenommen. Zahlreiche bekannt gewordene Vorfälle wie der Übergriff auf jüdische Schüler*innen an einer Berliner Schule1 haben diese Problematik auch auf den Schulhof getragen. So wird durch den Einfluss der Medien auch verstärkt über einen »muslimisch geprägten« Antisemitismus berichtet. Auch wenn Studien2 belegen, dass Antisemitismus nicht alleine aus der Religionszugehörigkeit abgeleitet werden kann, sondern Faktoren wie Bildung, Sozialisation oder der Medienkonsum einen starken Einfluss auf die Einstellung der Menschen haben, gibt es die Annahme, dass in Deutschland ein auf reine Religionszugehörigkeit reduzierter muslimisch geprägter Antisemitismus existiere. Expertenberichten3 zufolge könne dies nicht nachgewiesen werden. Ungeachtet davon seien durchaus antisemitische Einstellungen verbreitet, allerdings mehrheitlich auf den Nahostkonflikt bezogen. So wird die Ablehnungshaltung gegenüber dem Staat Israel auf Jüdinnen und Juden im Allgemeinen übertragen. In diesem Kontext sollte zwischen einem religiös begründeten Antisemitismus und der politischen Ablehnungshaltung gegenüber dem Staat Israel unterschieden werden. Für eine gezielte Antisemitismus-Prävention bedarf es pädagogischer Maßnahmen, die sich an junge Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit und mit unterschiedlichen Weltanschauungen richten. Der konfessionelle Religionsunterricht bietet dafür einen guten Rahmen, denn darin werden eigene re1 Vgl. dazu: https://archiv.berliner-zeitung.de/berlin/religioeses-mobbing-zweitklaesslerin-vonmitschueler-mit-dem-tode-bedroht-29916888; (Stand: 13. 12.2019). 2 Vgl. dazu die Publikation Bausteine 5 »Antisemitismus und Migration« aus dem Jahre 2017 von Michael Kiefer, herausgegeben durch Aktion Courage e.V., http://www.schule-ohne-rassis mus.org/fileadmin/Benutzerordner/PDF/Publikationen__als_pdf_/SORSMC-Baustein5-LoResWeb.pdf; (Stand: 01. 12. 2019). In Kapitel 1.3 (S. 30–47) werden die Ergebnisse verschiedener Studien vorgestellt; vgl. auch die im Auftrag der Bundesregierung durchgeführte Studie des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus (UAE) aus dem Jahre 2017, https://dip21.bun destag.de/dip21/btd/18/119/1811970.pdf; (Stand: 13. 12. 2019). 3 Vgl. Ebd.
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ligiöse Werte und Traditionen eingeübt, mit anderen Bezugssystemen verglichen, reflektiert, aber auch hinterfragt. Ein erster Blick auf die Lehrpläne des Islam-Unterrichts4 der Grundschule in den verschiedenen Bundesländern Deutschlands zeigt, dass der Themenbereich »Judentum und jüdisch glaubende Menschen« stets verbunden mit Themen wie »andere abrahamitische Religionen«, Prophetengeschichten oder als interreligiöser Vergleich bei Themen wie Glaubensinhalte oder religiöse Praxis wiederzufinden ist. Ähnlich wie die Lehrpläne des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts sind die Lehrpläne des Islam-Unterrichts so aufgebaut, dass die Lerninhalte spiralförmig aufeinander aufbauen.5 Nachdem Schüler*innen in den ersten Jahren ein Basiswissen über die eigene Religion als Orientierungshilfe erlangt haben, werden in der dritten und vierten Jahrgangstufe die Weltreligionen Christentum und Judentum im Kontext »Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen« erarbeitet.6 Hierbei geht es um die erste Begegnung mit der fremden Religion in ihrer jeweiligen religiösen Tradition. Dieser Rahmen bietet Lehrkräften des Islam-Unterrichts die Möglichkeit, das Thema Judenfeindlichkeit7 aktiv zu erarbeiten. Dabei kann auch der Bezug zum gemeinsamen Leben in Deutschland hergestellt werden. Insbesondere in der letzten Jahrgangsstufe der Primarstufe sind Schüler*innen durchaus in der Lage über das Thema Fremdenfeindlichkeit zu sprechen und dies reflexiv und kritisch zu beurteilen. Der folgende didaktische Beitrag ist aus der Unterrichtspraxis einer IslamStunde entstanden. Er soll einen Einblick in den schulischen Islam-Unterricht aus der Perspektive der Antisemitismus-Prävention geben sowie eine Hilfestellung für die pädagogische Arbeit mit muslimischen Kindern leisten.
1.
Der Kontext
Montag früh, 8.00 Uhr im Religionsunterricht an einer Grundschule in Süddeutschland. Während konfessioneller katholischer und evangelischer Unterricht stattfindet, können die muslimischen Schüler*innen dieser Grundschule statt Ethik auch einen Islam-Unterricht besuchen. Die Lehrkraft für Islam-Un4 Für das Schulfach Islamischer Religionsunterricht und Islam gibt es in den Bundesländern je nach Konzeption unterschiedliche Bezeichnungen. In diesem Artikel wird die allgemeine Bezeichnung »Islam-Unterricht« verwendet. 5 Vgl. dazu als Beispiel den Lehrplan (GS) für den Modellversuch Islamischer Unterricht in Bayern, https://www.isb.bayern.de/download/12719/islamunterricht_gs.pdf; (Stand: 12.12. 2019). Der Aufbau der Lehrpläne für Islam-Unterricht in den verschiedenen Bundesländern ist vergleichbar. 6 Ebd. 7 In diesem Beitrag wird der Begriff Judenfeindlichkeit synonym zu Antisemitismus verwendet.
Antisemitismus-Prävention im islamischen Religionsunterricht mit Praxisbeispielen
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terricht8 ist neu an der Schule und kennt die Schüler*innen erst seit wenigen Wochen. Umso überraschender ist es, als plötzlich eines Morgens eine muslimische Schülerin der vierten Jahrgangsstufe aufgeregt vor dem Klassenzimmer steht und dringend etwas loswerden möchte: »Sie haben uns was Falsches gegeben!« ruft sie der Islam-Lehrerin zu und berichtet, dass ihr Vater Zuhause ein von ihr gemaltes Mandala-Bild zerrissen hat. Sie berichtet Folgendes: »Mein Vater hat sehr geschimpft, dass wir Judenzeichen in Islam malen. Er war so sauer, dass er mein schönes Bild zerrissen hat. Ich soll ihnen sagen, dass ich nicht mehr in Islam kommen darf, wenn wir sowas machen. Wir dürfen keine Judensachen machen. Juden töten in Palästina Muslime. Er hat gesagt, das müssen sie in den Müll werfen, dieses Mandala ist nicht gut für unsere Religion!«
Es folgt ein Schweigen. Viele Schüler*innen haben aktiv oder passiv mitbekommen, worum es geht. Neugierige Blicke richten sich auf die Lehrkraft, welche den dringenden Handlungsbedarf erkennt. Bei dem erwähnten Mandala geht es um ein Ausmalbild, auf dem verschiedene Formen, u. a. auch Dreiecke und Vierecke ineinander zu sehen sind – ein Kreisbild mit einem Zentrum. Ohne irgendeine religiöse Bedeutung, zumindest von der Lehrkraft nicht beabsichtigt. Das Mandala-Ausmalen sollte eine kreative Übung für besonders schnelle Schüler*innen sein. Mit viel Mühe ist es tatsächlich möglich, in der Zeichnung einen Stern zu sehen, welches mit viel Fantasie als Davidstern interpretiert werden kann. Das Anliegen der Schülerin bzw. ihres Vaters ist aber weit entfernt von einer einfachen Zeichnung mit Interpretationspotential. Bei der Islam-Lehrkraft verstärkt sich der Verdacht, dass das »Mandala-Problem« auf eine mögliche antisemitische Haltung hindeuten könnte. In einigen muslimischen Kreisen ist aufgrund einer Solidarisierung mit dem palästinensischen Volk eine sehr emotional aufgeladene, auf Israel bezogene politische Ablehnungshaltung anzutreffen, die sich möglicherweise auf Jüdinnen und Juden und jüdische Traditionen übertragen lässt.9 Daraufhin wird dieses Ereignis zum Anlass genommen, um das Thema Vorurteile und Fremdheitsgefühle gegenüber dem Judentum und Jüdinnen und Juden in dieser Klasse – eingebettet in einen interreligiösen Kontext – zu erarbeiten. So wird aus der darauffolgenden Islamstunde eine interreligiöse Sensibilisierungsstunde mit dem Schwerpunkt Antisemitismus-Prävention.
8 Verfasserin dieses Beitrags. 9 Vgl. die Publikation Bausteine 5 »Antisemitismus und Migration« aus dem Jahre 2017 von Michael Kiefer, herausgegeben durch Aktion Courage e.V. In Kapitel 1.3 (S. 30–47) werden die Ergebnisse verschiedener Studien vorgestellt.
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2.
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Das Konzept
Baustein 1: Visualisierung des Vorwissens der Schüler*innen – Schüler*innen setzen sich mit einer für sie fremden Religion – dem Judentum – auseinander, – bringen ihre persönliche Sichtweise und Erfahrungen zu Judentum und zum jüdischen Leben zum Ausdruck (individuelle Reflexion) – und sind sensibel für den Zusammenhang zwischen dem Judentum als Religion und dem jüdischen Leben »früher« und »heute«. Die im Beitrag erwähnte Unterrichtsstunde startete damit, das Wissen und die eigenen Erfahrungen der Schüler*innen aufzugreifen und das Interesse für den Themenbereich zu wecken. In der Klasse wurde das Thema Judentum in den Vorjahren nur im Kontext von Festen und dem Leben der im Koran erwähnten Propheten David und Moses erarbeitet. Die Klasse bildete einen großen Sitzkreis in Form eines Halbmondes. Auf ein großes Bodenbild (Plakatpapier) wurde JUDENTUM geschrieben, daneben lagen Figuren als Symbol für Jüdinnen und Juden und ein Buch symbolisch für die Tora. Sofort wurde erkannt, dass es sich hierbei um jüdische Menschen sowie das heilige Buch »Tora« handelt. Einige Schüler*innen durften das Bodenbild erweitern und schmücken. Nachfolgend bekamen die Schüler*innen den Auftrag, alles, was ihnen zu dem Bodenbild einfällt, auf kleine Handzettel zu notieren, jede Information auf einen neuen Zettel. In einem weiteren Schritt erweiterte die Lehrkraft das große Bodenbild mit zwei Wortkarten: FRÜHER und HEUTE. Dies sollte verdeutlichen, dass es sich nicht nur um ein historisches Thema handelt, sondern dass jüdische Menschen Teil der heutigen Gesellschaft sind. Darauf folgend legte die Lehrkraft einen eigens geschrieben Zettel mit der Aufschrift: »Wie in vielen anderen Ländern gibt es auch in Deutschland Menschen jüdischen Glaubens« auf das Bodenbild und stellt den Bezug zum Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft her.10 In einem nächsten Schritt durften alle nacheinander ihre Handzettel auf das Bodenbild legen: je nach persönlicher Einschätzung, von der Ausrichtung her bei FRÜHER, HEUTE oder dazwischen. Dabei sollten sie ihre eigene Notiz laut vorlesen und begründen. Mit Ausnahme der Prophetennamen Moses und David sowie der Exodusgeschichte wurden alle Karten mittig oder in die Nähe von HEUTE gelegt.
10 Falls ein Hinweis zur NS-Zeit durch die Schüler*innen kommt, kann dies in dem Zusammenhang angebracht bzw. ausführlicher erläutert werden. Erfahrungsgemäß kennen sich muslimische Schüler*innen im Grundschulalter nicht mit dieser Thematik aus.
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Auszug aus der Ideensammlung11: »Glauben an Gott«, »Die haben ihre Religion falsch gemacht«, »Machen Krieg mit Moslems«, »Ich kenne keine Juden«, »Essen kein Schwein«, »Juden sind eine andere Religion«, »Es gibt jüdische Feste«, »Haben eine andere Bibel«, »Israel und Palästina«, »Prophet Musa«, »Juden haben auch Propheten gehabt«, »Pharao hat die jüdischen Kinder ermorden lassen«, »Lichterfest«, »Die haben wie wir ein anderes Buch«, »Juden leben nicht in Deutschland so viele«, »Juden schießen in Palästina auf Muslime und so alle zusammen« (mehrmals Zeichnung von Krieg oder Waffen), »Judenzeichen ist ein Dreieck Stern«, »Wir dürfen keine Juden als Freunde haben«, »Moses und David«, »Nazis haben Juden getötet«, »Tora«, »Juden essen halal Fleisch, kein Schweinefleisch«, »Die essen nicht alles, haben sowas anderes.« So entstand ein buntes Bodenbild, auf dem die Ideen und Meinungen der muslimischen Schüler*innen im Alter von ca. zehn Jahren zum Thema Judentum/ Jüdinnen und Juden und jüdisches Leben sichtbar wurde. Neben einigen Kommentaren, welche annehmen lassen, dass diese Positionen aus passiven Familiengesprächen, Gesprächen aus dem sozialen Umfeld sowie aus Nachrichten in der Muttersprache der Eltern stammen, waren auch sachkundige Beiträge dabei, die ein fundiertes Vorwissen zum Judentum aufzeigen.
Baustein 2: Brainstorming zum Vorwissen und Sensibilisierung durch Selbstreflexion – Schüler*innen stellen ihren Mitschüler*innen sachkundig ihre eigene Position dar, – diskutieren untereinander kontrovers, – lernen dabei andere Sichtweisen kennen, – sind gefordert, mit kontroversen Meinungen umzugehen – und reflektieren dabei im Austausch ihre eigene Position. Nach einem kurzen inhaltlichen Austausch und gemeinsamer Betrachtung des Bodenbildes durften die Schüler*innen die liegenden Handzettel schriftlich kommentieren. So stand neben dem Begriff Krieg beispielsweise als Kommentar: »Finde ich auch«, »Es gibt auch Gute«, »Das ist ungerecht« oder »Krieg ist scheiße«. Einige Schüler*innen gerieten aufgrund von Meinungsunterschieden 11 Die Aussagen der Schüler*innen wurden an einigen Stellen sprachlich sowie grammatikalisch korrigiert.
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Selcen Güzel
in eine diskursive Auseinandersetzung. Im Anschluss an diese interaktive (Selbst-)Reflexionsrunde entstand eine durch die Lehrkraft moderierte kontroverse Klassendiskussion, in der die wichtigsten Schülerimpulse aufgegriffen und gemeinsam kritisch analysiert wurden. In dieser Phase konnten die unterschiedlichen Meinungen, Fragen, aber auch Emotionen der Schüler*innen direkt und konkret anhand der von den Schüler*innen angebrachten eigenen Beispiele sowie Argumente kritisch reflektiert werden. Dabei waren die Offenheit sowie Dialogbereitschaft der Schüler*innen unterschiedlich. Während einige sehr offen über ihre Meinung, bestehendes Vorwissen sowie Abneigungen und Ängste (wie: »Ich darf als Muslim oder Muslimin nicht mit Jüdinnen und Juden befreundet sein, z. B. weil sie Krieg machen!«) sprachen, hielten sich manche sehr zurück und bevorzugten eher das passive Zuhören. Es gab keine direkten antisemitischen Äußerungen, aber bei einigen wenigen Schüler*innen zeigte sich eine klare Abneigungshaltung gegenüber Jüdinnen und Juden, welche während der Diskussionen immer wieder aufgegriffen und gemeinsam reflektiert wurde. Nachfolgend wurde die Diskussion durch die Lehrkraft bewusst auf das Thema Judentum als eine von Gott offenbarte Religion gelenkt.
Baustein 3: Basiswissen zum Judentum als eine von Gott offenbarte Religion – Schüler*innen nehmen durch Wissenserwerb und die Visualisierung von Zusammenhängen das Judentum als eine von Gott offenbarte Religion neben dem Christentum und Islam wahr, – sie werden für den Zusammenhang zwischen den Glaubensgrundsätzen des Islam und den gemeinsamen Propheten (wie Moses/ David) sowie den heiligen Büchern des Judentums (wie Psalmen/ Tora) sensibilisiert. Nach der Sensibilisierungsübung und Reflexionsrunde (in Baustein 2) folgte eine kurze thematische Einheit der Lehrkraft zum Judentum anhand eines Schaubilds:12 GOTT (Allah) Judentum – Christentum – Islam 12 Das Thema Judentum und Weltreligionen (kennenlernen) findet sich in den verschiedenen Bundesländern mit unterschiedlichen Bezeichnungen in den Lehrplänen des Islam-Unterrichts der Grundschule. In Bayern ist es das Themengebiet »Menschen verschiedener Religionen leben zusammen« (3.8 sowie 4.8) des Lehrplans für den Modellversuch Islamischer Unterricht (Grundschule), vgl. https://www.isb.bayern.de/schulartspezifisches/lehrplan/mo dellversuch-islamischer-unterricht/lehrplan/1259/ (Stand: 15. 12. 2019).
Antisemitismus-Prävention im islamischen Religionsunterricht mit Praxisbeispielen
333
Das Schaubild wurde mit den jeweiligen Prophetennamen aus islamischer Sicht (Moses/David, Jesus und Mohammed), den heiligen Büchern (Tora/Psalmen, Evangelium/Bibel und Koran) sowie mit der Überschrift »Wir glauben an die Propheten und die heiligen Bücher« ergänzt. Dabei war es wichtig, dass die Schüler*innen erkennen, dass neben dem Glauben an Gott (Allah) der Glaube an die im Koran namentlich erwähnten Propheten und die ihnen gesandten heiligen Bücher zwei der wichtigsten Glaubensgrundsätze des Islams sind. Kontroverse Diskussionen zu diesem Themengebiet gab es nicht. Durch das Tafelbild konnten die Schüler*innen erschließen, dass sich die Religionen und die Angehörigen dieser Religionen trotz ihrer Unterschiede sehr nah sind. Diese Erkenntnis war sehr wichtig, um das Judentum als Religion sowie Jüdinnen und Juden als gläubige Menschen besser zu verstehen.
Baustein 4: Differenzierung zwischen religiösen und politischen Themen im Kontext des Judentums – Schüler*innen ordnen ihre eigene Position bzw. Aussage zu Themengebieten und erlernen somit zwischen religiösen und politischen Themen im Kontext des Judentums zu differenzieren. – Sie gehen im Rahmen dieses Handlungsprozesses kritisch und tolerant mit kontroversen Meinungen ihrer Mitschüler*innen um. In einem weiteren Schritt wurden die Begriffe Religion und Politik in diesem Kontext eingeführt und gemeinsam definiert. Anschließend wurden die Schüler*innen aufgefordert, die ursprünglich geschriebenen Handzettel zunächst in Kleingruppen, danach im Plenum zwei neuen Themenbereichen zuzuordnen: RELIGION und POLITIK. Dafür wurden zwei unterschiedliche Bereiche des Klassenzimmers bestimmt. So nahmen die Handzettel mit Themen wie Gewalt, der Palästinakonflikt oder der Staat Israel auf der Seite der Wortkarte POLITIK und Themen wie Glaube, Prophet oder Heiliges Buch auf der Seite von RELIGION ihren Platz. Einige Karten konnten nicht genau zugeordnet werden, wurden dennoch kurz besprochen und anschließend sichtbar zur Seite gelegt.
Baustein 5: Förderung der Reflexionsfähigkeit – Schüler*innen reflektieren die eigene Haltung gegenüber dem Judentum und jüdischen Menschen,
334
Selcen Güzel
– sie erkennen, dass das persönliche Umfeld beim Entstehen von Vorurteilen und Fremdheitsgefühlen prägen kann. – Sie diskutieren sachkundig, kritisch und tolerant über ihren eigenen Standpunkt und sind offen bzw. gestärkt für Vielfalt. Durch die visuelle Darstellung und das selbstständige Zuordnen der Schüler*innen war es für sie möglich, ihre eigene Meinung und ihre Ideen immer wieder im Austausch untereinander zu reflektieren. Bei Uneinigkeiten wurden auch gemeinsame Änderungen vorgenommen. Teilweise wurde unter den Schüler*innen kontrovers diskutiert, da bei der Zuordnung mancher Begriffe zu Religion und Politik Unstimmigkeiten herrschte.13 Anschließend daran konnten offene Fragen, u. a. auch die Frage zum »Mandala«, welches als jüdisches Zeichen eingestuft wurde, in einer dialogischen Abschlussrunde besprochen werden. Durch Leitfragen14 der Lehrkraft konnten existierende Vorurteile und Stereotypen im Kontext »Judentum und Jüdinnen und Juden« aufgegriffen und kritisch hinterfragt werden. In diesem Zusammenhang wurde auch die Wirkung von Umfeld (u. a. Familie, Gemeinde, Medien) bezogen auf die Entstehung eines Feindbildes thematisiert. Schüler*innen berichteten darüber, dass sie in ihrem sozialen Umfeld (auch verstärkt durch Nachrichten in der Muttersprache der Eltern) immer wieder über eine subjektiv wahrgenommene Unterdrückung von Muslim*innen im Nahen Osten mitbekommen würden. Auf die Frage eines Schülers, wieso er als Muslim jemand Jüdisches mögen solle und warum das Teil des (islamischen) Religionsunterrichts sei, antwortete eine Schülerin mit folgenden Worten: »Na weil die auch von Gott sind!« Die Unterrichtseinheit wurde mit Gebeten und Friedenswünschen für eine Welt ohne Krieg und für ein besseres Miteinander der Menschen abgerundet.
3.
Erfahrungen und Reflexion
Zwar lernen Schüler*innen des Islam-Unterrichts in der Primarstufe das Judentum in ihren Grundzügen als eine abrahamitische Religion kennen, allerdings steht es im pädagogischen Ermessen der Lehrkraft, inwieweit in der Umsetzungspraxis die Auseinandersetzung und tiefere Reflexion über mögliche antisemitische Einstellungen erfolgt. Wie dieses Praxisbeispiel gezeigt hat, tragen die Heranwachsenden potentiell kritische Haltungen ihres persönlichen Umfelds 13 Z. B. bei: »Pharao hat die jüdischen Kinder ermorden lassen«. 14 U. a. wie: Wie siehst du das? Woran erkennen wir Vorurteile? Wie können wir mit Vorurteilen umgehen? Ist das deiner Meinung nach fair? Was sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Muslim*innen und Jüd*innen?
Antisemitismus-Prävention im islamischen Religionsunterricht mit Praxisbeispielen
335
mit in den Lebensraum Schule. Im Rahmen dieser Unterrichtseinheit konnten die Unsicherheiten, Fremdheitsgefühle und bestehenden Vorurteile der Schüler*innen für sich selber und die Gesamtgruppe sichtbar gemacht werden. Durch einen friedenspädagogischen Ansatz und in einem wertungsfreien Umfeld wurde das hochsensible Thema sowohl auf emotionaler als auch kognitiver Ebene unter der didaktischen Verantwortung der Religionslehrkraft erarbeitet. Neben der Feststellung, dass sich Juden- und Muslimfeindlichkeit sehr ähneln, wurde seitens der Schüler*innen auch die Erkenntnis gewonnen, dass sich in diesem Kontext religiöse Themen mit aktuellen politischen Themen vermischen. Dies war durch gezielte Leitfragen (Anregung zu einem Perspektivenwechsel) der Lehrkraft, u. a. mit Fragen wie: »Wie ist es, wenn man muslimisch ist?« oder »Wie fühlt es sich an, wenn jemand sagt, dass er oder sie nicht mit dir spielen darf, nur weil du muslimisch bist?« möglich. Ein weiterer (in diesem Rahmen nicht erprobter) möglicher Ansatz für die Vertiefung der Thematik sind Rollenspiele mit anschließender Reflexion. Diese könnten muslimischen Schüler*innen helfen, jüdische Menschen sowohl auf kognitiver als auch auf emotionaler Ebene durch einen inszenierten Perspektivenwechsel besser zu verstehen. Es war und wird in einer Unterrichtseinheit nicht möglich sein, alle bestehenden Vorurteile abzubauen und jede bzw. jeden einzelnen zur Reflexion anzuregen. Dennoch ist es ein sehr wichtiger friedenspädagogischer Beitrag, dass Schüler*innen sich aktiv mit dieser Thematik im Rahmen des Islam-Unterrichts auseinandersetzen. So kann eine in den Islam-Unterricht eingebettete Sensibilisierung zum Thema Fremdenfeindlichkeit gegenüber Menschen jüdischen Glaubens muslimische Schüler*innen darin fördern, das Judentum und jüdische Menschen nicht nur in einem historischen oder politischen Kontext, sondern auch als Teil unserer heutigen Gesellschaft wahrzunehmen. Durch das aktive Anstoßen eines interreligiösen Lernprozesses können potentielle Konfliktthemen rund um das Thema Judentum aufgegriffen und in Reflexionsgesprächen aufgearbeitet werden. Aus einem Perspektivenwechsel hinaus können somit unreflektierte Einstellungen hinterfragt und bestehende Vorurteile abgebaut werden, denn Respekt und ein besseres Verständnis füreinander sind unverzichtbare Grundsätze einer multireligiösen und demokratischen Gesellschaft.
Jasmin Kriesten
Antisemitismus-Prävention als Aufgabe der Lehramtsaus- und fortbildung – auch für Grundschullehrkräfte
Antisemitismus-Prävention bedeutet, Judenfeindlichkeit und aufkommendem Hass gegen Angehörige der jüdischen Religion vorzubeugen. In der Primarstufe besteht dabei die Chance, Vorurteile und Stereotypisierungen gar nicht erst Eingang in die Wertvorstellungen der Kinder finden zu lassen. Begegnen den Schüler*innen der Grundschule bestimmte Begrifflichkeiten oder antisemitische Handlungen in ihrer Lebenswelt, ist es an den Lehrkräften, adäquat auf diese Vorkommnisse zu reagieren und im Sinne der Antisemitismus-Prävention auch a priori zu agieren. Zum einen beinhaltet die Prävention auch intervenierende Momente, wenn beispielsweise Aussprüche wie »Du Jude« auf dem Schulhof verwendet werden.1 Zum anderen bietet die Beschäftigung mit dem gelebten Judentum in Deutschland die große Chance, den Heranwachsenden die Begegnung zur noch fremden Religion zu eröffnen, sie von Vornherein hinsichtlich der herrschenden Vorurteile zu sensibilisieren und ein wertschätzendes und tolerantes Miteinander und Zusammenleben zu ermöglichen. Diese Aufgaben fordern ein großes Engagement und die Expertise der Lehrer*innen, welche sie innerhalb des Studiums aufbauen können.2 Besonders hinsichtlich präventiver Handlungsweisen, in welchen die Vorbeugung von Antisemitismus mit der Vermittlung christlicher Werte und friedenspädagogischer Kompetenzen einhergeht, müssen die Religionslehrkräfte hinreichend ausgebildet sein. Dies beinhaltet ein hohes Maß der Selbstreflexion3 sowie die Kompetenz, geeignete Methoden für den Grundschulunterricht zu finden. Im Zuge dessen sollte An1 Vgl. Juliane Wetzel, Antisemitismus als Herausforderung für die schulische und außerschulische Bildung, in: Theo-Web 18/1 (2019), 35–49, hier 35f. 2 In diesem Aufsatz wird vor allem die erste Ausbildungsphase des Lehramtsstudiums betrachtet, wobei die Anregungen ebenfalls für Fortbildungsmaßnahmen geltend gemacht werden können. 3 Vgl. Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus (Hg.), Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen, 2017, https://www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/ge sellschaftlicher-zusammenhalt/expertenkreis-antisemitismus/expertenkreis-antisemitismusartikel.html (Stand: 20. 04. 2020), 218.
338
Jasmin Kriesten
tisemitismus-Prävention explizit Eingang in das Hochschul- oder Fachstudium angehender Religionslehrkräfte, Religionspädagog*innen und Katechet*innen finden. Die Notwendigkeit der Etablierung weiterer Maßnahmen zur Antisemitismus-Prävention in der universitären Lehre wird im Folgenden ausgehend von theologischer wie kirchlicher Seite und unter Einbezug der Bedürfnisse der Studierenden angesichts der herrschenden Desiderate aufgezeigt. Darüber hinaus werden Kompetenzen herausgestellt, welche die Studierenden in der Ausund Weiterbildung zur nötigen Expertise verhelfen können. Die praktische Umsetzung dieser Herangehensweise wird anhand eines Seminars der Universität Augsburg betrachtet. Aus diesem werden Methoden als Bausteine für den Religionsunterricht in der Grundschule – entwickelt von Studierenden – vorgestellt und erläutert.
1.
Relevanz einer adäquaten Aus- und Weiterbildung der Religionslehrkräfte zur Antisemitismus-Prävention
1.1.
Theologische Notwendigkeit
Die Erweiterung der universitären Aus- und Weiterbildung von Religionslehrkräften in Hinblick auf Antisemitismus-Prävention begründet sich zunächst aus dem christlich-theologischen Verständnis der Begegnung und der Beziehung zur jüdischen Religion. Zugrunde liegt die gemeinsame Tradition, die Christentum und Judentum in einer Art verbindet, »die sich von ihrem Verhältnis zu allen anderen Religionen grundlegend unterscheidet«4. Allgemein lässt sich festhalten, dass in den christlichen Grundlegungen, die sich durch religiöse und weltanschauliche Pluralität auszeichnen, ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat, nach welchem intensiv für Dialog und wertschätzende wie respektvolle Begegnung argumentiert wird. Die größere Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen, die sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland entwickelt hat, führte in der Vergangenheit zu »sehr unterschiedlichen Reaktions- und Verarbeitungsweisen«5, von denen in drastischen Fällen auch Aggressivität und Gewalt gegenüber Gläubigen anderer Religionen festzustellen sind. Diese »Selbstbehauptung durch Abwertung anderer«6 in Form von antisemitischen Handlungen wird auf theologischer und kirchlicher Seite vehement abgelehnt, da sie den 4 Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Antisemitismus. Vorurteile, Ausgrenzungen, Projektionen und was wir dagegen tun können, 2017, https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/2017_ Antisemitismus_WEB.pdf; (Stand:07. 04. 2020), 20. 5 Evangelische Kirche in Deutschland, Religiöse Orientierung, 56. 6 Ebd.
Antisemitismus-Prävention als Aufgabe der Lehramtsaus- und fortbildung
339
Grundsätzen christlicher Lebensführung widerspricht. Die hebräische Bibel, die als Heilige Schrift des Judentums und des Christentums fungiert, begründet in der Gottesebenbildlichkeit (Gen 1,6) der Menschen die Würde einer jeden Person.7 Zudem manifestiert sich im hebräischen Friedensbegriff Schalom des Alten Testaments die Unversehrtheit, Ganzheit und das Wohlergehen anderer.8 Erhalten werden kann die schöpfungstheologisch begründete Würde und Unversehrtheit aller Menschen vor allem durch das friedvolle Zusammenleben und die Erhaltung der »Freiheit […] zur Subjektwerdung«9. Diesem Postulat widersprechen antisemitische Haltungen und Handlungen drastisch, weshalb gegen diese vorgegangen werden muss. Weiterhin wird die pädagogische Notwendigkeit der Thematisierung von Antisemitismus im Unterricht auch im Leben und Wirken Jesu Christi begründet. Dessen im Neuen Testament überlieferte Begegnung und Beziehung zu Angehörigen anderer Religionen und die stetige Aufforderung zur Nächstenliebe, welche in der Bergpredigt/ Feldrede ihren Höhepunkt findet, gelten bis heute als »wesentliche Wurzel von christlicher Toleranz«10. Die hieraus erwachsenden ethischen Konsequenzen lassen die Notwendigkeit der Etablierung religionsdidaktischer Prinzipien gegen Antisemitismus und für eine bewusste pädagogische Anbahnung der Prävention von Handlungen gegen die jüdische Religion erkennen. Vermittelt werden sollten dabei Kompetenzen, die auf theologischer Basis den Grundsätzen entsprechen, die das Judentum und das Christentum gemeinsam durchziehen. Hierzu zählen vor allem die biblischen Gebote der Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Gastfreundschaft und ein gemeinsames Leben in Gerechtigkeit und Frieden.11 Die (evangelische) Kirche bietet hierfür bereits Ansätze zur Reform und Umsetzung in der Bildung von Kindern und Jugendlichen und somit auch für die entsprechende Ausbildung der Religionslehrkräfte.
7 Vgl. ebd., 59. 8 Vgl. Burghard Affeld, Art: Friede, in: Helmut Burkhardt/ Fritz Grünzweig/ Fritz Laubach/ Gerhard Maier (Hg.), Das große Bibellexikon, Bd. 2, Wuppertal 2004, 542–546, hier 543. 9 Evangelische Kirche in Deutschland, Religiöse Orientierung, 59f. 10 Ebd., 58. 11 Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, Antisemitismus, 14.
340 1.2.
Jasmin Kriesten
Kirchliche Grundlegung
Die christlichen Kirchen sprechen sich aktiv gegen Antisemitismus und für den Dialog zwischen religiösen Institutionen des Christentums und Judentums aus.12 Interkonfessionell und in Zusammenarbeit mit jüdischen Gemeinschaften werden Konzeptionen und Aspekte einer wertschätzenden Zusammenarbeit und Begegnung entwickelt. Bezüglich der evangelisch-religionspädagogischen Bildung zeigt sich dieses Ziel beispielsweise in der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 2014, welche die Pluralitätsfähigkeit für religiöse Bildungsprozesse in den Vordergrund rückt.13 Darunter wird die Begegnung zu anderen Religionen mit der Entdeckung und Stärkung von Gemeinsamkeiten verstanden. Dennoch sollten Unterschiede ebenfalls konstruktiv bewusst gemacht und kritisch reflektiert werden.14 Dieser Prozess kann nur gelingen, indem Gespräche und persönliche Begegnungen den oben genannten christlich-ethischen Prinzipien gerecht werden und sich stets durch Wertschätzung und gegenseitigen Respekt auszeichnen. Das Phänomen des Antisemitismus zeichnet sich dabei in der aktuellen Gesellschaft durch verschiedene Faktoren aus, von welchen vor allem die Stereotypisierung und die Verbreitung diskriminierender Inhalte in den sozialen Medien vermehrt auftauchen.15 Demnach wird zur Eindämmung dieser Faktoren empfohlen, das nötige Wissen über die jüdische Religion zu vermitteln, dabei die Vorurteile und zugehörigen Motive kritisch zu hinterfragen und sich gegenseitig kennenzulernen.16 Bezüglich der Antisemitismus-Prävention kann also davon ausgegangen werden, dass der christliche Religionsunterricht ebenfalls diesen Postulaten folgen muss, um von Vornherein gegen Vorurteile und Stereotypisierungen vorgehen zu können und diese abzubauen. Die mit dem Bildungsziel der Pluralitätsfähigkeit erreichten Kompetenzen geben den Schüler*innen notwendige Werkzeuge mit, Gläubigen der jüdischen Religion voller Wertschätzung und weitab antisemitischer Haltungen zu begegnen. Hierzu müssen allerdings die Lehrer*innen ausgebildet werden, um den Aufgaben der Wissensvermittlung und des Vorurteilabbaus gerecht zu werden und die Bereitschaft zum Dialog mitzubringen, um Begegnungen anbahnen zu können. 12 Vgl. beispielsweise https://www.dbk.de/presse/aktuelles/meldung/deutsche-bischofskonferenz -gibt-stellungnahme-zu-juedisch-orthodoxen-erklaerungen-zum-christentum-ab/detail/ oder auch https://www.ekd.de/kirche-und-judentum-30984.htm; (Stand: 04. 05. 2020). 13 Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh ²2014, 12. 14 Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, Religiöse Orientierung, 11f. 15 Vgl. Wetzel, Antisemitismus als Herausforderung, 37. 16 Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, Antisemitismus, 6.
Antisemitismus-Prävention als Aufgabe der Lehramtsaus- und fortbildung
1.3.
341
Bedürfnisse der Akteur*innen im Studium
Bevor herausgearbeitet werden kann, wie eine entsprechende Aus- und Weiterbildung der Religionslehrkräfte aussehen kann, werden die Studierenden und Lehrer*innen in den Blick genommen. Dabei ist von Bedeutung, welche Kompetenzen diese bereits mit in das Studium einbringen und welche Aspekte eine adäquate Aus- und Weiterbildung zur Antisemitismus-Prävention enthalten muss, um den Akteur*innen auch gerecht zu werden. In einer internationalen Studie, welche die Bedeutung des Themas Antisemitismus und der Erinnerung an den Holocaust im Unterricht untersuchte, stellte sich heraus, dass die Lehrkräfte davon ausgehen, »dass antisemitische Einstellungen in unserer Gesellschaft nach wie vor vorhanden sind«17. Die Befragten erachten außerdem die Rolle des Religionsunterrichts als besonders relevant, um beispielsweise Kenntnisse über die jüdische Religion weitergeben zu können.18 Es zeigt sich zudem, dass sich, laut vieler Lehrer*innen, vorhandene didaktische Materialien »meist zu oberflächlich mit […] der Antisemitismus-Prävention befassen«19. Belegt wird außerdem ein großes Engagement der Lehrkräfte zur Beschäftigung mit diesen Themen.20 Diesem Engagement kann bereits im Studium begegnet werden, indem geeignete Herangehensweisen an das Phänomens Antisemitismus und Möglichkeiten zur didaktischen Erschließung angeboten werden. Wird darüber hinaus die Studienmotivationen von Religionslehramtsstudierenden betrachtet, wie sie in Baden-Württemberg erhoben wurden, wird auch der Wunsch nach der Förderung »interreligiöser, interkultureller Dialogfähigkeit«21 laut. Die Chance, die im Studium bereits eröffnet werden kann, liegt also zum einen darin, die Religionslehrkräfte ausreichend darin auszubilden, Wissen über das gelebte Judentum zu vermitteln und geeignete Methoden zu finden, um Antisemitismus präventiv begegnen zu können. Zum anderen kann dem Interesse und der Notwendigkeit interreligiöser Bildung nachgegangen werden, wodurch in der Praxis Vorurteilen vorgebeugt werden kann.
17 Reinhold Boschki, Der Beitrag religiöser Bildung zur Antisemitismus-Prävention. Bericht aus einem internationalen Forschungsprojekt, in: Theo-Web 18/1 (2019), 62–74, hier 69. 18 Vgl. Ebd. 19 Ebd., 71. 20 Vgl. ebd. 21 Andreas Feige, Religionsunterricht von morgen? Studienmotivationen und Vorstellungen über die zukünftige Berufspraxis bei Studierenden der ev. und kath. Theologie/Religionspädagogik. Ergebnisse einer empirisch-standardisierten Umfrage an Baden-Württembergs Hochschulen, Ostfildern 2007, 40.
342
2.
Jasmin Kriesten
Desiderate im Bereich der Ausbildung von Religionslehrkräften
Konzentration auf weiterführende Schularten Mit Blick auf die Hochschullehre wird deutlich, dass für die weiterführenden Schulen bereits einige weiterbildende Projekte und Maßnahmen in Gang gebracht wurden, die intervenierend und präventiv diskriminierenden Handlungen gegen jüdische Mitbürger*innen begegnen. So ist beispielsweise in Bayern ein neues Fortbildungsprogramm für Gymnasiallehrkräfte entwickelt worden, das einen besonderen Fokus auf die politische Bildung legt.22 In dieser Hinsicht gilt es zu untersuchen, ob Pendants für die Grundschule etabliert werden können, die auch explizit Adressat*innen der Religionspädagogik ansprechen. Eine besondere Rolle kommt hierbei der interreligiösen Bildung zu, die auf christlicher Grundlage den Dialog mit dem Judentum fördert, weshalb auch entsprechende Angebote von religionspädagogischer und theologischer Seite aus geschaffen werden sollten.
Lückenhaftes Wissen über das Judentum und aktuelle Formen von Antisemitismus Es ist zudem festzustellen, dass in der schulischen und universitären Bildung vor allem der Fokus auf der Auseinandersetzung mit den Themen Nationalsozialismus und Holocaust liegt. Dies zeigt eine 2018 durchgeführte Studie, die außerdem belegt, dass auch hierzu vergleichsweise wenige Lehrveranstaltungen angeboten wurden23, sodass auch in diesen Aspekten eine Erweiterung sinnvoll wäre. Zudem wird deutlich, dass Angebote des Lehramtsstudiums, die sich beispielsweise mit der Shoa beschäftigen, eher in den Fächern Geschichte und Sozialkunde angesiedelt sind.24 Zu kurz kommen, auch und vor allem im (religions-)pädagogischen Bereich, Angebote, die auf die »Phänomene des aktuellen Antisemitismus vorbereite[n]«25. Hierzu ist es notwendig, »neue Formate, Methoden und Zugänge für den schulischen und außerschulischen Kontext zu entwickeln«26. Eine Möglichkeit der Prävention von Antisemitismus ist außerdem die Beschäftigung mit der gelebten Religion des Judentums, die der Genese 22 Vgl. https://www.km.bayern.de/lehrer/meldung/6846/neue-fortbildungsinitiative-staerktdie-antisemitismuspraevention.html (Stand: 15. 04. 2020). 23 Vgl. Verena Nägel/ Lena Kahle, Die universitäre Lehre über den Holocaust in Deutschland, Berlin 2018, 100. 24 Vgl. ebd., 103. 25 Wetzel, Antisemitismus als Herausforderung, 36. 26 Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus, Antisemitismus in Deutschland, 206.
Antisemitismus-Prävention als Aufgabe der Lehramtsaus- und fortbildung
343
von Vorurteilen vorgreifen kann.27 Indem das Wissen über jüdische Traditionen vermittelt wird, gelten die Angehörigen dieser Religion nicht mehr als ›Fremde‹, sodass Antisemitismus im besten Fall gar nicht erst aufkommt. Es müssen also vermehrt Lehrveranstaltungen angeboten werden, die sich mit dem Judentum als gelebter Religion und den aktuellen Formen von Antisemitismus auseinandersetzen.28 Dabei ist die besondere Rolle des religionspädagogischen Fachgebietes herauszustellen, da hier die Grundlagen für die Anbahnung religiöser Bildungsprozesse im Grundschulunterricht gesetzt werden können. Fehlende Methoden und Herangehensweisen Im Fokus auf die weiterführenden Schularten lässt sich feststellen, dass die Auseinandersetzung mit dem Judentum und mit Antisemitismus-Prävention für die Grundschule große Desiderate in der religionsdidaktischen Methodik aufweist. Fehlende Lehrveranstaltungen in diesem Bereich bedingen die Problematik, dass die Studierenden nicht darauf vorbereitet werden, adäquate Unterrichtsmethoden und -materialien zu entwickeln, die altersgemäß und inhaltlich angemessen für die Schüler*innen der Primarstufe aufbereitet sind. Es zeigt sich also, dass trotz der Notwendigkeit der Thematisierung von AntisemitismusPrävention Lücken in der religionsdidaktischen Ausbildung der Grundschullehrkräfte auszumachen sind, die es den Studierenden erschweren, konkreten Vorkommnissen begegnen zu können sowie präventiv tätig zu werden. Auf welche Weise diesen Desideraten begegnet werden kann, zeigen die folgenden Ausführungen.
3.
Inhalte und Kompetenzbereiche der Ausbildung
Die Aus- und Fortbildung der Religionslehrkräfte, die angestrebt werden sollte, muss also im Einklang mit den Kompetenzen des (Grundschul-)Lehramtsstudiums in Deutschland dahingehend erweitert werden, die vorhandenen Desiderate mit Lehrveranstaltungen zu beseitigen. Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus-Prävention empfiehlt hierbei den Fokus auf Angebote zu setzen, die schwerpunktmäßig die inhaltliche Qualifikation, Selbstreflexion der Erwachsenen und Erstellung multiperspektivischer und antisemitismuskritischer Arbeitsmaterialien aufnehmen.29 Unter Rückgriff auf die Vorschläge der EKD zur interreligiösen Bildung sollten folgende Kompetenzen besonders ausgebildet 27 Vgl. Wetzel, Antisemitismus als Herausforderung, 41. 28 Vgl. Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus, Antisemitismus in Deutschland, 265. 29 Vgl. Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus, Antisemitismus in Deutschland, 218f.
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und gestärkt werden: Die Vermittlung religionswissenschaftlicher Inhalte zur jüdischen Religion, die Lehre der Pluralitätsfähigkeit im Religionsunterricht und im Zuge dessen die adäquate Anbahnung von christlich-jüdischen Dialogen. Darüber hinaus sollten im Zusammenhang mit der Didaktik nach der Shoa ebenfalls Kompetenzen zielführend sein, welche die Lehrkräfte darauf vorbereiten, christliche und historische Aspekte von Antijudaismus und Antisemitismus adäquat vermitteln und didaktisch aufbereiten zu können.
3.1.
Religionswissenschaftliche Inhalte vermitteln können
Um dem lückenhaften Wissen über das Judentum und aktuellen Formen des Antisemitismus begegnen zu können, sollten in Lehrveranstaltungen mit dem Ziel der Antisemitismus-Prävention religionswissenschaftliche Hintergründe geklärt werden. Den Studierenden sollten die Traditionen und Grundlegungen des gelebten Judentums bekannt sein. Vor allem die Beschäftigung mit dem Facettenreichtum der jüdischen Religion können verdeutlichen, dass es ›das‹ Judentum nicht gibt, was Vorurteilen vorgreifen kann.30 Über die Erinnerungskultur des Holocaust hinaus sollten aktuelle Formen des Antisemitismus den Weg in die religionsdidaktische Lehre nehmen, um davon ausgehend kindgerechte Methoden und Herangehensweisen für den Unterricht finden zu können. Zur Vermittlung der religionswissenschaftlichen Inhalte gehört zudem die Beschäftigung mit der christlich-theologischen Grundlage, mit ethischen Zusammenhängen und den aktuellen kirchlichen Aussagen zur Beziehung zwischen Christentum und Judentum. Mit diesem Wissen erhalten die Religionslehrkräfte die nötigen Voraussetzungen, religiöse Bildungsprozesse im Unterricht in Gang zu bringen und die Grundschüler*innen mithilfe theologischer Prinzipien wie beispielsweise der Nächstenliebe für Wertschätzung und Respekt gegenüber Angehöriger der jüdischen Religion zu schulen.
3.2.
Prinzipien einer Didaktik nach der Shoa kennen und anwenden können
Unter Einbezug der geltenden Aspekte einer Didaktik nach der Shoa31, müssen die Lehrkräfte auch die Kompetenzen erlangen, im Religionsunterricht der Grundschule historische Begebenheiten, welche Antijudaismus und Antisemitismus beinhalten, sensibel und kindgerecht zu vermitteln. Dies beinhaltet vor 30 Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, Antisemitismus, 6. 31 Vgl. den Beitrag von Elisabeth Naurath zu Kriterien einer Didaktik nach der Shoa in diesem Band.
Antisemitismus-Prävention als Aufgabe der Lehramtsaus- und fortbildung
345
allem adäquate Zugänge zu der schwierigen Thematik zur Zeit des Nationalsozialismus, indem Fragen und Themen der Schüler*innen mit alters- und entwicklungsgemäßen Methoden aufbereitet werden können.32 Darüber hinaus müssen im Studium auch relevante Aspekte des Christentums, die sich durch Antijudaismus kennzeichnen, thematisiert werden. Ausreichendes Wissen über die Judenverfolgungen in der Geschichte und über schwerwiegende (falsche) Vorwürfe gegen Angehörige des Judentums, wie beispielsweise die sogenannte ›Brunnenvergiftung‹ und deren Folgen, muss Ergebnis der Lehramtsausbildung sein. Nur so können Zusammenhänge zu heutigen Formen von Antisemitismus hergestellt werden, um somit geeignete Mittel zur Prävention zu erarbeiten. Darüber hinaus kann der Weg, den beispielsweise die christliche Kirche hin zum Dialog und zur friedlichen und wertschätzenden Beziehung zum Judentum beschritten ist, besser nachvollzogen werden.
3.3.
Pluralitätsfähigkeit lehren
Die EKD beschreibt die Pluralitätsfähigkeit als Bildungsziel aller Schularten und als »Querschnittsaufgabe aller Lehrkräfte«33, welche aber die Religionspädagogik in besonderer Weise berührt. Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik ist dabei nicht nur für die Schüler*innen eine große Herausforderung, sondern bildet auch für die Lehrkräfte einen »langfristigen Lernprozess«34, der spätestens im Studium einsetzen sollte. Pluralitätsfähigkeit, die sich zentral mit der Feststellung von Gemeinsamkeiten und dem konstruktiven Umgang mit Unterschieden zwischen Religionen beschäftigt, bietet die Chance, von Vornherein eine wertschätzende und respektvolle Atmosphäre zwischen Angehörigen des Christentums und Judentums zu schaffen. Diese Herangehensweise bietet Möglichkeiten zum Umgang mit antisemitischen Vorurteilen und Stereotypisierungen, so dass in dieser Hinsicht ausgebildete Lehrkräfte aktiv gegen entsprechende Vorkommnisse vorgehen oder ihnen bereits vorgreifen können.
3.4.
Möglichkeiten zur Begegnung und zum Dialog schaffen
Die interreligiöse Perspektive und Ausbildung zur Pluralitätsfähigkeit hat zur Folge, dass, auch bei vorhandenem Wissen, weiterhin Methoden herausgebildet werden müssen. Eine empfohlene Maßnahme ist der interreligiöse Dialog. Dabei 32 Vgl. ebd. 33 Evangelische Kirche in Deutschland, Religiöse Orientierung, 113. 34 Ebd.
346
Jasmin Kriesten
ist von Bedeutung, den Fokus nicht nur auf die Bereitschaft zur Begegnung zu legen, sondern die Lehrkräfte hinsichtlich der Anbahnung eines konstruktiven Dialogs weiterzubilden. Dies beinhaltet auch einen angemessenen Umgang mit Konflikten35 und im Lichte der Antisemitismus-Prävention die Herausbildung von Mitteln zur Vorbeugung von Vorurteilen. Besonders diese Kompetenz erfordert die Fähigkeit der Selbstreflexion der Lehrenden, da tief verankerte Stereotypisierungen nicht den Eingang in den Dialog nehmen dürfen, sondern von Vornherein bewusst gemacht und aufgebrochen werden müssen.
4.
Praktische Impulse auf der Basis eines Seminarbeispiels
Die Ausführungen zeigen, dass in der Lehramtsausbildung vor allem im Fach Religionspädagogik zusätzliche Veranstaltungen und Weiterbildungsmöglichkeiten zur Antisemitismus-Prävention etabliert werden sollten. Es muss gewährleistet werden, dass Grundschullehrkräfte ab der ersten Ausbildungsphase die beschriebenen Kompetenzen und somit die notwendige Expertise erlangen, die für die Prävention und Intervention aktueller antisemitischer Phänomene relevant ist. Dabei bieten sich konkrete Lehrveranstaltungen der Religionsdidaktik an, die sich mit der Thematik auseinandersetzen. Empfehlenswert sind darüber hinaus interdisziplinäre Angebote, die historische Begebenheiten, theologische Grundlegungen, interreligiöse Bildungsaspekte und pädagogischdidaktische Herangehensweisen über die Fakultätsgrenze hinaus behandeln. Somit kann ein mehrperspektivischer Diskurs geschaffen werden, der umfassend verschiedene Facetten von Antisemitismus aufgreift und den Studierenden die nötigen Werkzeuge mitgibt, in den Grundschulen Wissen zu vermitteln, die Kompetenz der Pluralitätsfähigkeit in den Blick zu nehmen und interreligiöse Dialoge anzubahnen. Eine Lehrveranstaltung, die sich explizit mit Antisemitismus-Prävention im Religionsunterricht beschäftigt, wurde an der Universität Augsburg im Zuge des »Zertifikats für Interreligiöse Mediation« (ZIM) entwickelt. Das ZIM ist ein Studienfach, das zur Professionalisierung aller Student*innen, Referendar*innen und Lehrer*innen im Sinne der interreligiösen Bildung angeboten wird.36 35 Vgl. Ebd., 115. 36 Für weitere Informationen: Elisabeth Naurath, Zusatzqualifikation Interreligiöse Mediation. Ein Angebot für alle Lehramtsstudierenden an der Universität Augsburg, in: Saskia Eisenhardt/ Sebastian Hasler/ Kathrin S. Kürzinger/ Elisabeth Naurath/ Uta Pohl-Patalong (Hg.), Religion unterrichten in Vielfalt. Konfessionell – religiös – weltanschaulich, Göttingen 2019, 330–333. Oder auch: Jasmin Kriesten, Zusatzqualifikation Interreligiöse Mediation an der Universität Augsburg. Professionalisierung der Lehramtsstudierenden im Sinne interreligiöser Bildung, in: Kontakt 14 (2019), 79–83.
Antisemitismus-Prävention als Aufgabe der Lehramtsaus- und fortbildung
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Das Seminar ist inhaltlich und methodisch so konzipiert, dass die notwendigen Kompetenzen zur Antisemitismus-Prävention vermittelt und von den Studierenden aufgebaut werden können. Ergebnis des Seminars ist die Entwicklung didaktischer Bausteine durch die Studierenden, welche unter Einbezug der erarbeiteten wissenschaftlichen Hintergründe und Herangehensweisen konkrete Maßnahmen und Methoden für den Religionsunterricht der (Grund-)Schule liefern können.
4.1.
Herangehensweise
Im Folgenden wird ein Kurzabriss zur inhaltlichen Struktur des Seminars gegeben. Dabei soll aufgezeigt werden, inwiefern der Ablauf die Kompetenzen der Studierenden zur Professionalisierung im Sinne der Antisemitismus-Prävention stärken kann, bevor daraufhin ausgewählte didaktische Bausteine der Teilnehmenden dargestellt werden.
Begriffliche und inhaltliche Klärungen Der Seminarbeginn zeichnet sich durch Methoden aus, die den Studierenden die Möglichkeit zur Selbstreflexion und Erkundung ihrer eigenen Beziehung zu verschiedenen Religionen eröffnen. Dieser subjektorientierte Einstieg wird außerdem durch konkrete Nachfragen zum vorhandenen Wissen und Erfahrungen mit Antijudaismus und Antisemitismus unterfüttert. Selbstreflexion und persönliche Weiterbildung durchziehen dabei mithilfe von Methoden wie regelmäßigen Fragebögen und Diskussionsrunden alle Seminareinheiten. Der erste Teil des Seminars setzt weiterhin sich mit Antisemitismus als aktuelle gesellschaftliche Herausforderung auseinander. Dabei wird besonderes Augenmerk auf das Finden von Informationen zu möglichen Definitionen von Antisemitismus und davon ausgehend auf den Begriff der Antisemitismus-Prävention gelegt. Auch begriffliche Feindifferenzierungen zwischen Antijudaismus und Antisemitismus oder verschiedenen Erscheinungsformen und Kategorien werden in den Blick genommen. Besonders relevant ist in den Sitzungen zu dieser Thematik die Klärung neuer, aktueller Formen von Antisemitismus und deren Untersuchung im medialen und gesamtgesellschaftlichen Diskurs. Stets im Mittelpunkt steht auch hier der pädagogische Bezug, indem beispielsweise die Schwierigkeiten von Reaktionen auf Antisemitismus in den Schulen betrachtet werden. Dieser Seminarteil bietet einen ersten Überblick zur aktuellen Situation und bildet die Studierenden gemäß des ›Ist-Standes‹ innerhalb der Gesellschaft weiter.
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Christentum und Judentum: Die Geschichte einer schwierigen Beziehung Der zweite Block nimmt die christlich-jüdische Beziehung in den Blick, wobei im theologischen Bezug vor allem die historische Entwicklung von Antijudaismus und Antisemitismus im Fokus steht. Zunächst wird dabei auf biblischer Grundlage herausgearbeitet, ob und in welcher Form Antijudaismus Teil der biblischen Schriften ist und inwiefern Auslegungen negative Auswirkungen auf die Geschichte der Beziehung zwischen Christentum und Judentum hatten. Von Bedeutung ist ebenfalls die Untersuchung biblischer Spuren, aufgrund derer theologisch für eine positive Begegnung zwischen Christentum und Judentum plädiert wird und die den Schluss zulassen, dass, wie die EKD argumentiert, Antisemitismus stets zu verneinen ist. Die Beziehungsstruktur zwischen der christlichen Kirche und jüdischen Gemeinschaften wird dennoch auch auf die negativen Aspekte in der Geschichte hin untersucht, indem beispielsweise kritisch auf Berichte des Mittelalters und die judenfeindliche Einstellung des späten Luthers Bezug genommen wird. In der Historie von Christentum und Judentum ist außerdem der wohl prägnanteste Einschnitt in der NS-Zeit zu sehen, welcher ebenfalls in der Thematisierung der Shoa einen Teil dieser Seminareinheit bildet. Ausgehend hiervon erarbeiten die Studierenden auch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, indem die christliche Aufarbeitung des Holocaust genauer untersucht wird. Mit der historischen Zusammenschau von Antisemitismus aus Sicht des Christentums wird wiederum gewährleistet, dass die Lehramtsstudierenden die Entwicklung der Strukturen und Stereotypisierungen dieses Phänomens fassen und darüber hinaus die aktuellen kirchlichen Bemühungen zu interreligiösem Dialog in ihrem Zusammenhang erschließen können.
Antisemitismus-Prävention Im Anschluss beschäftigt sich der dritte Block des Seminars mit der Prävention von Antisemitismus und steigt tiefer in die didaktischen Prinzipien ein. Zunächst werden auch diesbezüglich unter Rückgriff auf die Begriffsklärungen des Seminars Definitionen von Antisemitismus-Prävention erarbeitet. Außerdem wird die Interdisziplinarität der Vorbeugung antisemitischer Phänomene diskutiert und klargestellt, wobei der Fokus neben einem internationalen und pädagogischen Blick vor allem auf der trialogischen, also christlich-, jüdisch-, muslimischen Beziehung liegt. Zur religionspädagogischen Erarbeitung von Antisemitismus-Prävention werden verschiedene Maßnahmen betrachtet. Thematisiert werden beispielsweise die Herangehensweisen von erinnerungsdidaktischen Ansätzen, Kriterien einer Didaktik nach der Shoa sowie Möglichkeiten der Bibelund Kirchengeschichtsdidaktik. Angelehnt an den aktuellen Diskurs sind auch Ansätze der interreligiösen Bildung fester Bestandteil der Lehrveranstaltung und
Antisemitismus-Prävention als Aufgabe der Lehramtsaus- und fortbildung
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werden beispielsweise durch die didaktischen Bausteine der Studierenden mit methodischen Ideen gestützt.
4.2.
Didaktische Bausteine der Studierenden
Die Ergebnisse des Seminars sind didaktische Bausteine, welche die Studierenden für ihre jeweilige Schulart entwickelten. Von diesen werden im Folgenden fünf Beispiele, die für die 3./4. Klasse der Primarstufe konzipiert wurden und unterschiedlichen pädagogischen Herangehensweisen folgen, vorgestellt. Das Judentum als gelebte Religion kennenlernen (Ludmila Dzubina) Der Ansatz einer Studentin konzentriert sich auf religionswissenschaftliche Aspekte und deren Vermittlung in der Grundschule. Für die 3. und 4. Klasse wurden Arbeitsblätter entwickelt, die sich zunächst mit allgemeinen Informationen zum Judentum beschäftigen. Dabei werden Begrifflichkeiten wie ›Kippa‹, ›Bat/Bar Mizwa‹ und ›Synagoge‹ eingeführt, welche durch geeignete Bilder und Materialien unterstützt sind. Zudem hat die Studentin eine Kurzgeschichte aus Sicht eines jüdischen Jungen verfasst, der sich mit Vorurteilen konfrontiert sieht. Mit konkreten Fragen zu dem Text können die Schüler*innen lernen, eine andere Perspektive einzunehmen und auch Parallelen zu Situationen ziehen, die sie selbst bereits erlebt haben. Eine solche Herangehensweise eignet sich in dem Sinne, dass sie lehrplangemäß in ersten Schritten die Begegnung zum Judentum ermöglicht und die gelebte Religion bereichernd vermittelt. Pluralitätsfähigkeit schulen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Judentum und Christentum kennenlernen (Linus Schäfer) Ein anderer didaktischer Baustein bedient sich des Ansatzes der Pluralitätsfähigkeit, indem Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Christentum spielerisch Thema des Unterrichts werden. Dabei soll das Verständnis für die gemeinsamen Wurzeln der Religionen vertieft werden, indem ein Kartenspiel mit Kernelementen der jüdischen und christlichen Religion entwickelt wird. Teil dieser Karten sind beispielsweise Bräuche, Feste sowie die jeweiligen Heiligen Schriften. Dabei gibt es auch Karten, die sich beiden Religionen zuordnen lassen, so z. B. ›In dieser Religion glauben die Mitglieder an nur einen Gott‹ oder ›Die fünf Bücher Mose spielen in dieser Religion eine zentrale Rolle‹. Das Ziel hierbei ist es, dass die Kinder miteinander ins Gespräch kommen und über die Zugehörigkeit der jeweiligen Karten diskutieren. Dabei wird deren
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Vorwissen aktiviert und zudem können die Aspekte, die beide Religionen miteinander verbinden, herausgearbeitet werden. Friedenspädagogischer Ansatz: Kinderbuch »Der Friedenssucher« von Rainer Oberthür (Jasmin Kriesten) Ein weiterer Vorschlag zeichnet sich durch die Arbeit mit einer Lektüre aus, die grundschulgerecht eine Geschichte zu verschiedenen Religionen erzählt und auch explizit Antisemitismus miteinbezieht. Das Buch »Der Friedenssucher«37 thematisiert anhand einer Erzählung von Tieren unter anderem Antisemitismuserfahrungen und beschreibt gleichzeitig eine Diskussion der Protagonisten des Buches38, die im Unterricht aufgegriffen werden kann. Eingebettet in verschiedene Textpassagen, welche allgemein Frieden betreffen, kann eine solche Geschichte dazu dienen, in die schwierige Thematik einzuführen und auf die vermeintlichen Gründe für verschiedene Formen des Antisemitismus aufmerksam zu machen. Es ist zudem möglich, das Buch als Unterrichtslektüre im Gesamten einzubinden oder auch in eine Unterrichtseinheit aufzunehmen, die sich im Besonderen mit dem (gelebten) Judentum sowie dessen Tradition und interreligiösem Dialog beschäftigt. Spuren der Geschichte vor Ort als außerschulischer Lernort: Eine Stadttour entlang der Stolpersteine (Daniela Hartmann) Eine weitere Möglichkeit ist eine Exkursion im Stadt- oder Ortsgebiet der Schule, welche mit den Kindern durchgeführt wird. Vorgeschlagen wurde von einer Studentin ein Ausflug entlang der sogenannten ›Stolpersteine‹, welche als Gedenksteine an die Shoa erinnern und in vielen Städten in Deutschland zu finden sind. Gemeinsam mit den Kindern können diese Steine poliert werden und gegebenenfalls auch Rosen oder andere Zeichen des Respekts und Gedenkens von den Schüler*innen niedergelegt werden. Eventuell kann auch eine Führung entlang der Steine durch ein Mitglied des zuständigen Vereins organisiert werden. Von Bedeutung ist bei einem derartigen außerschulischen Lehrgang die Expertise und Sensibilität der Lehrkraft, welche angemessen die Geschichten hinter den Steinen vermitteln und deren Hintergründe grundschulgemäß aufbereiten kann.
37 Rainer Oberthür/Barbara Nascimbeni, Der Friedenssucher, München 2018. 38 Ebd., 34.
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Antijudaismus in der christlichen Geschichte: Betrachtung antijudaistischer Motive des (mittelalterlichen) Christentums (Jasmin Kriesten) Eine weitere Möglichkeit zur Umsetzung im Unterricht ist die Thematisierung der schwierigen jüdisch-christlichen Beziehung. Die Geschichte des Christentums zeichnet sich durch antijudaistische Motive und Symbolisierungen aus, wie sie beispielsweise anhand der sogenannten ›Judensau‹ noch heute in Kirchen zu finden sind. Dabei kann bereits in der Grundschule ein Zugang gewährt werden, indem derartige vorurteilsbehafteten und judenfeindlichen Darstellungen betrachtet oder auch besucht werden. Thematisiert werden können zudem die falschen Anschuldigungen gegenüber Angehörigen des Judentums, wie beispielsweise der Vorwurf der Brunnenvergiftung. Mit einer Geschichte aus der Sicht eines jüdischen Mädchens dieser Zeit kann ein persönlicher und altersgemäßer Zugang geschaffen werden. Zur Aufarbeitung dieser Erfahrungen und schwierigen Thematiken kann auf emotionaler Ebene ein Perspektivwechsel angestrebt werden, indem die Schüler*innen dazu aufgefordert sind, Gefühle und Gedanken angesichts falscher (selbst erlebter) Anschuldigungen zu äußern. Somit kann eine Annäherung an die negative Wirkung antijudaistischer Vorurteile auf die Betroffenen geschaffen werden, um die Kinder idealerweise hinsichtlich solcher Begebenheiten in der Geschichte, aber auch in aktueller Zeit zu sensibilisieren.
5.
Ausblick
Das skizzierte Seminar zeigt eine geeignete Herangehensweise an das für viele Lehrkräfte häufig als schwierig und problematisch wahrgenommene Thema der Antisemitismus-Prävention auf und schult die Studierenden in didaktischer Hinsicht unter gleichzeitigem Einbezug (inter-)religiöser und aktueller Hintergründe. Es kann als Modell der Aus- und Weiterbildung der Religionslehrer*innen dienen und zeigt verschiedene Möglichkeiten auf, aktuellen Formen des Antisemitismus zu begegnen – auch in der Grundschule. Schüler*innen der Primarstufe sind die Strukturen historischer antisemitischer Begebenheiten meist fremd und sie müssen im Laufe der Schulzeit aufgebaut werden. Doch nur mit der nötigen Expertise können die Lehrer*innen dieser Aufgabe gerecht werden und selbstreflektiert, mit dem nötigen Wissen und mit einer respektvollen und wertschätzenden Einstellung gegenüber der jüdischen Religion Vorurteilen und antisemitischen Vorkommnissen vorgreifen. Mit geeigneten Materialien und Methoden wird den Lehrer*innen die Aufgabe erleichtert, Antisemitismus in konstruktiver Weise begegnen zu können und somit präventiv tätig zu werden. Doch hierzu müssen in Zukunft weitere Angebote für die Aus- und
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Weiterbildung von Religionslehrkräften entwickelt werden, die auch explizit die Primarstufe in den Blick nehmen.
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Unterrichtsideen zum Coverbild dieses Bandes
Arbeit mit Bildern im Religionsunterricht1 Grundsätzliche Überlegungen, die der Arbeit mit künstlerischen Darstellungen im Religionsunterricht vorausgehen sollten, sind nebst jenen zur Rezeptionsästhetik, die vor allem das Kunstwerk als solches in den Mittelpunkt stellen und würdigen, solche zur Entwicklungspsychologie und Religionsdidaktik. Hierbei stellt sich immer die Frage nach der Instrumentalisierung von Kunst im Religionsunterricht. Jedoch widersprechen interpretative Ansätze, die ein Kunstwerk sui generis würdigen und gleichzeitig rezeptionsästhetische Zugänge zulassen, einer kunsthistorisch-wissenschaftlichen Herangehensweise keineswegs und würdigen nebst dem Kunstwerk auch die Subjektorientierung an den Schüler*innen im Religionsunterricht.2 Entwicklungsbezogene Positionen beziehen sich in ihrer Kritik auf Studien zum Verstehen und Beurteilen von Kunst, die in Anlehnung an entwicklungspsychologische Stufenmodelle an Kindern bis zum Alter von sechs Jahren rein subjektive Vorzugswahlen etwa von Farbe und Motiv beobachten, die im Grundschulalter durch die Wertschätzung realistischer Abbildlichkeit abgelöst werden. In der späten Kindheit und im Übergang zum Jugendalter findet sich dann zunehmend zunächst eine Beachtung der expressiven Qualitäten von Bildwerken und erst nach der Pubertät ein ästhetisches Urteil, das stilistische Eigenarten und formale Eigengesetzlichkeiten positiv wahrnehmen kann.3
Entwicklungspsychologische, rezeptionsästhetische und religionsdidaktische Fragen sind ebenfalls bedeutsam, wenn es darum geht, sich für eine der im 1 Mehr Informationen: Burrichter, Rita. »Bilder«, in: WiReLex (2015), https://www.bibelwissen schaft.de/stichwort/100025/ (Stand: 27. 05. 2020). 2 Vgl. das Modell der Bilderschliessung nach Lange, Günter, Aus Bildern klug werden, in: Müller, Wolfgang Erich/Heumann, Jürgen (Hg.), Kunst-Positionen, Stuttgart 1998, 149–155. 3 Vgl. Parson, Michael J., How we understand art. A cognitive developmental account of aesthetic experience, Cambride 1987, zitiert in: Burrichter, Rita, »Bilder«, in: WiReLex (2015) https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100025/ (Stand: 27. 05. 2020).
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folgenden vorgestellten Unterrichtsideen zu entscheiden. Den Unterrichtsideen werden Hintergrundinformationen zum Bild vorangestellt.
Informationen zum Bild Der Künstler malte das Bild, das er »Hoffnung« taufte, 1997 aufgrund einer Statue der israelischen Künstlerin Ilana Goor.4 Die Statue entstand 1972 und stand 1997 im Garten der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem5 in Israel. Sie wurde im Katalog der Gedenkstätte 1997 auf Deutsch mit »Die Hoffnung« betitelt.
Abbildung 2: Bronzestatue »Never Again« von Ilana Goor (2.45 m Höhe) im Garten von Yad Vashem
Auf der Webseite der Künstlerin Ilana Goor finden sich folgende Informationen zu ihrer Statue: »A sculpture full of pathos depicting a monumental faceless figure holding in her arms the body of a child, perhaps dead or perhaps injured, as if expecting salvation on the one hand, and on the other acknowledging that he is a victim. This powerful iconography evokes the scene of ›the Pieta‹ from the New Testament, in which Maria, Christ’s mother, 4 Mehr Informationen zu Ilana Goor und ihrer Kunst: https://www.ilanagoormuseum.org/en/ (Stand: 27. 05. 2020). 5 Mehr Informationen über Yad Vashem: https://www.yadvashem.org/de.html (Stand: 27. 05. 2020).
Unterrichtsideen zum Coverbild dieses Bandes
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holds him when he is leaning on her lap when taken down from the cross. There is also a Jewish evocation in the sculpture for the Sacrifice of Isaac when he leads his only son who he dearly loves as a sacrifice to God. The sculpture refers to the test of strength and faith that existed in the Holocaust in preparation for a new state. The name of the sculpture ›Never Again‹ also indicates the need for the resurrection of the nation in the Land of Israel after the catastrophe.«6
Ideen für die Arbeit mit und am Bild Die folgenden Zugänge sind als ideengebende Bausteine gedacht, um mit dem Coverbild im Unterricht arbeiten zu können. Zielformulierungen sollen den Schüler*innen und dem eigenen Unterrichtskonzept angepasst werden. Eine einführende Bildbetrachtung und -entdeckung7 kann dabei sinnstiftenderweise einigen anderen Methoden vorangehen. Die beschriebenen Methoden können nicht allumfassend und abschliessend dargelegt werden.8 Mögliche Themen, zu denen das Bild verwendet werden kann, finden sich in der Vorlage von Ilana Goors Statue und ihrem Ort und Sitz im Leben: Holocaust Education9, Leid, Antisemitismusprävention, Pieta, Opfer, Hoffnung, u.v.m.. Das Bild kann dabei je nach methodischer Verwendung zum Einstieg, zur Sammlungs- oder Sicherungsphase einer Unterrichtseinheit dienen.
1.
Kognitive Zugänge
Bildbetrachtung und -entdeckung Die Lehrperson legt das Bild auf und fragt nach den Eindrücken (Farben, Motiv, Organisation der Bildfläche, Ausdruck, Gefühle, Bedeutung des Bildes). Für die kontextuelle Einordnung benötigen Schüler*innen Zusatzinformationen, zu denen sie auch weitere Recherchen durchführen könnten. Die Bildbetrachtung ist ebenfalls in Partner- oder Gruppenarbeiten denkbar. Eine Erweiterung der
6 https://www.ilanagoormuseum.org/en/sculptures/never-again-2/ (Stand: 27. 05. 2020). 7 Vgl. das Modell der Bilderschliessung nach Lange, Günter, Aus Bildern klug werden, in: Müller, Wolfgang Erich/Heumann, Jürgen (Hg.), Kunst-Positionen, Stuttgart 1998, 155. 8 Weiter Methodenbeschreibungen z. B. in Troue, Frank, Arbeit mit Bildern im Religionsunterricht 1–4 (und 5–10), Augsburg 2015. 9 Yad Vashem hat für die Grundschulstufe und für den deutschen Sprachraum bereits Arbeitsmaterialien hergestellt, die unter folgendem Link zugänglich sind oder bestellt werden können: https://www.yadvashem.org/de/education/educational-materials/lesson-plans.html (Stand: 27. 05. 2020).
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Aufgabe wäre die Bildbetrachtung durch angeleitete Fragestellungen der Lehrperson oder Schüler*innen.
Bildtitel besprechen »Hoffnung« und »Nie wieder« als Titel lassen sich gut in eine Diskussion integrieren. Dabei soll eine rezeptionsästhetische Perspektive auf das Bild unbedingt eine Rolle spielen: Das Bild dient als Diskussionsgrundlage und wird aufgelegt, zuerst ohne den Titel des Bildes zu nennen. Schüler*innen können ihre eigenen Schlüsse ziehen und dem Bild einen eigenen Titel geben. Danach kann die Lehrperson mit Schüler*innen zum Thema Hoffnung im Bild und auch in der Statue von Ilana Goor diskutieren und sie in Bezug setzen. Leitfragen können dabei jene sein, die nach den Bezügen der Titel mit den Werken fragen und nach Begründungen der Schüler*innen, weshalb sie einen Titel als passend oder unpassend empfinden.
Reizwortaufgabe Das Bild wird kommentarlos aufgelegt und die Lehrperson schreibt ein oder mehrere Interpretationsstichworte an die Tafel. Die Schu¨ ler*innen erhalten den Auftrag, in begrenzter Zeit einen Text zu schreiben, der Relationen herstellt zwischen dem Reizwort und dem Bild.
2.
Gestalterische Zugänge
Neukontextualisierung Bei der Neukontextualisierung wird das Bild als Vorlage auf ein grösseres weisses Papier gelegt. Schüler*innen können nun etwas dazumalen und durch Malen, Kleben und andere Bearbeitungsformen neue Bildelemente einfügen und die Bildaussage verändern.
Unterrichtsideen zum Coverbild dieses Bandes
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Motivverfremdung Im Verbund mit einer Diskussion zum Bildtitel und Kontextualisierung kann das Bildmotiv ausgeschnitten werden und in eine neue Umgebung gesetzt werden. Dabei soll zur Sprache kommen, weshalb die neue Bildumgebung gemalt, geformt, gewählt worden ist.
Bilderpuzzle Besonders geeignet für das Bild aufgrund seiner Formen ist ein Bilderpuzzle, das Schüler*innen zusammensetzen können. Das Kunstwerk als Fragment und die Fragmentarität an sich sind dabei gleichzeitig bildhaft für Geschehenes und Abgebildetes.
3.
Narrativer, vergleichender Zugang
Religiöse Motive »Hoffnung« bietet eine Möglichkeit zur Verbindung mit anderen religiösen Motiven aus der Kunst (Literatur, Malerei, Musik, usw.). Die Opferung Isaaks, die Opferung/Zurücklassung Ismaels, die Pieta, der Exodus, aber auch die Hoffnung auf Rettung bieten zentrale religiöse Motive, die verbindende Elemente zu anderen Erzählungen schaffen. Vergleichende Methoden bieten hier spannende Grundlagen für Betrachtungsweisen von Kindern und Jugendlichen.
Storytelling Ein Bild zu einer erzählten Geschichte aufzulegen, stimuliert als visuellen Reiz das Gehörte und lenkt dabei die Aufmerksamkeit auch bildlich auf die erzählte Handlung. Dabei können Leidensgeschichten mithilfe des Bildes grundsätzlich in den Fokus rücken, erzählt und bearbeitet werden.
Verzeichnis der Autor*innen
Dr. Reinhold Boschki, Professor für Religionspädagogik an der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Tübingen. Dr. Roland Biewald, Professor em. für Religionspädagogik der Philosophischen Fakultät der TU Dresden. Ariane Dihle, M. Ed., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Universität Oldenburg. Vanessa Eisenhardt, M. Ed., Doktorandin am Institut für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum. Selcen Güzel, M.A., Doktorandin am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik der Universität Augsburg, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und christlich-muslimische Bildungsreferentin bei der Eugen-Biser-Stiftung in München, Lehrbeauftragte an der Forschungs- und Koordinierungsstelle für Interreligiöse Bildung der Universität Augsburg. Dr. Hanspeter Heinz, Professor em. des Lehrstuhls für Pastoraltheologie an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Augsburg. Dr. Michael Kiefer, Islam- und Politikwissenschaftler; Vertretung der Professur Soziale Arbeit und Migration an der Universität Osnabrück. Darüber hinaus ist er bei einem Träger der Jugendhilfe in Düsseldorf tätig und befasst sich dort mit Projekten und Maßnahmen zur Radikalisierungsprävention. Jasmin Kriesten, Doktorandin am Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Augsburg.
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Verzeichnis der Autor*innen
Dr. Georg Langenhorst, Professor für Didaktik des Katholischen Religionsunterrichts und Religionspädagogik der Universität Augsburg. Aloys Lögering, bis 2008 Schulrat im Bistum Osnabrück und Beauftragter des Bistums Osnabrück für den Interreligiösen Dialog; Gründer und Vorsitzender des Vereins »Judentum begreifen« e.V. in Osnabrück. Dr. Reinhold Mokrosch, Professor em. für Praktische Theologie / Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie der Universität Osnabrück, seit 2007 pensioniert. Katharina Müller-Spirawski, M.Ed., Geschäftsführende Vorsitzende von ZWEITZEUGEN e.V. in Essen. Dr. Elisabeth Naurath, Professorin für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Augsburg. Tina Raddatz-Schick, Grundschul-Lehrerin und Fachleiterin im Fach Religion an der Rosenplatzschule in Osnabrück; Lehrbeauftragte für Ev. Religion an der Universität Osnabrück. Heide Rosenow, bis 2016 Lehrerin mit den Fächern Evangelische Religion, Deutsch, Geschichte an der Grundschule Diesterweg in Osnabrück; Seminarleiterin des Faches Evangelische Religion der Schulformen Grund-, Haupt- und Realschule am Studienseminar Osnabrück. Dr. Thomas Schlag, Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Dr. Benigna Schönhagen, Honorarprofessorin der Universität Tübingen, Institut für Geschichtliche Landeskunde. Von 2001 bis 2018 war sie Leiterin des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg-Schwaben. Dr. Ludwig Spaenle, Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe. Dr. Julia Spichal, Universitätsassistentin Post-Doc, Institut für Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Verzeichnis der Autor*innen
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Martina Strehlen, Stellvertretende Leiterin für die Sammlungen (Archiv und Bibliothek) der Alten Synagoge Essen. Dr. Georg Wagensommer, Professor für Religionspädagogik an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Michèle Wenger, Doktorandin und Assistentin am Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich, Gymnasiallehrerin für Religionen und Ethik und Deutsch. Dr. Dr. Joachim Willems, Professor für Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie der Universität Oldenburg.
Werte-Bildung interdisziplinär Band 7: Susanne Müller-Using
Band 3: Kathrin S. Kürzinger
Ethos und Empathie
»Das Wissen bringt einem nichts, wenn man keine Werte hat«
Interkulturelle Vergleichsstudie zur LehrerInnenbildung an der Universität Osnabrück und der Universidad de Costa Rica
Wertebildung und Werteentwicklung aus Sicht von Jugendlichen
2018. 277 Seiten, gebunden € 45,– D / € 47,– A / € 37,99 E-Book ISBN 978-3-8471-0857-3
2014. 337 Seiten, gebunden € 55,– D / € 57,– A / € 44,99 E-Book ISBN 978-3-8471-0396-7
Band 6: Michael Winklmann
Band 2: Caroline Teschmer
Moralische Kompetenz Wertebildung im Horizont christlich gelebter Moral 2018. 295 Seiten, kartoniert € 40,– D / € 42,– A / € 32,99 E-Book ISBN 978-3-8471-0856-6
Band 5: Ulrike Graf / Susanne Klinger / Reinhold Mokrosch / Arnim Regenbogen / Sonja Angelika Strube (Hg.)
Werte leben lernen Gerechtigkeit – Frieden – Glück 2017. 325 Seiten, gebunden € 45,– D / € 47,– A / € 37,99 E-Book ISBN 978-3-8471-0694-4
Mitgefühl als Weg zur Werte-Bildung Elementarpädagogische Forschung zur Beziehungsfähigkeit als emotional-soziale Kompetenzentwicklung im Kontext religiöser Bildungsprozesse 2014. 465 Seiten, gebunden € 70,– D / € 72,– A ISBN 978-3-8471-0142-0
Band 1: Elisabeth Naurath / Martina Blasberg-Kuhnke / Eva Gläser / Reinhold Mokrosch / Susanne Müller-Using (Hg.)
Wie sich Werte bilden Fachübergreifende und fachspezifische Werte-Bildung 2013. 297 Seiten, kartoniert € 45,– D / € 47,– A / € 37,99 E-Book ISBN 978-3-8471-0130-7
www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com