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German Pages 615 [616] Year 2016
Handbuch Sprache in der Bildung HSW 21
Handbücher Sprachwissen
Herausgegeben von Ekkehard Felder und Andreas Gardt
Band 21
Handbuch Sprache in der Bildung Herausgegeben von Jörg Kilian, Birgit Brouër und Dina Lüttenberg
ISBN 978-3-11-029588-7 e-ISBN [PDF] 978-3-11-029635-8 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-039394-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Typesetting: fidus Publikations-Service GmbH, Nördlingen Printing and binding: CPI books GmbH, Leck ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die Rolle der Sprache in der Bildung und für die Bildung wird seit der Antike als bedeutsam erachtet. Das gilt für Sprache im Allgemeinen wie für Einzelsprachen im Besonderen. Die Auseinandersetzungen über Latein und/oder die jeweiligen Vernakularsprachen als Wissenschafts-, Lehr- und Lern- bzw. Unterrichtssprachen in der Frühen Neuzeit spiegelt diese Anerkennung der Bedeutsamkeit der Sprache in der Bildung ebenso wider wie aktuelle wissenschaftliche Auseinandersetzungen zum Deutschen als Wissenschaftssprache, aktuelle wissenschaftliche Erkundungen zur Konzeption der bzw. einer „Bildungssprache“ sowie aktuelle Konzeptionen für einen „sprachsensiblen Fachunterricht“ und eine „durchgängige Sprachbildung“. Das „Handbuch Sprache in der Bildung“ ist Teil der mehrbändigen Reihe „Handbücher Sprachwissen (HSW)“, die im Rahmen des Forschungsnetzwerks „Sprache und Wissen“ konzipiert wurde und von Ekkehard Felder und Andreas Gardt herausgegeben wird. Es versammelt 27 Beiträge, in denen die Aushandlung, sprachliche Konstruktion und Konstitution von gesellschaftlich für relevant erachtetem und bildungspolitisch normiertem Wissen untersucht und dargestellt wird. Es greift die verschiedenen Perspektiven auf die Rolle der Sprache in der Bildung auf, die in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen eingenommen werden, und ist bestrebt, den aktuellen Forschungsstand zu dokumentieren und zur weiteren, insbesondere interdisziplinären, Forschung anzuregen. Den Schwerpunkt legt das Handbuch auf den Bereich der institutionell gesteuerten Bildung in Schule und Universität. Es orientiert sich indes nicht an den fachlichen und disziplinären Strukturen der Bildung in diesen institutionellen Kommunikations- und Praxisbereichen, sondern an der jeweils besonderen Perspektive auf die Leistungen, Möglichkeiten und Grenzen von Sprache zur Erzeugung, Vermittlung und Archivierung von Wissen – individuell bei jedem Einzelnen, kollektiv bei allen Mitgliedern der Sprachgesellschaft. Den Autorinnen und Autoren sagen wir auch auf diesem Wege noch einmal unseren herzlichen Dank für ihre Beiträge zu unserem Handbuch. Namentlich danken möchten wir darüber hinaus Leonie Spitzer (Kiel), Lena Eismann (Kiel), Merle Ullmann (Kiel) und Christina Sandfort (Braunschweig) für die sorgfältige Einrichtung der Texte und die kompetente Unterstützung bei der Herstellung der Druckfassung. Stets für uns erreichbar und in allen Fragen der Veröffentlichung unterstützend war Daniel Gietz vom Verlag de Gruyter, dem wir hiermit ebenso herzlich danken. Kiel und Braunschweig, im Herbst 2015 Jörg Kilian, Birgit Brouër, Dina Lüttenberg
Inhaltsverzeichnis Jörg Kilian/Birgit Brouër/Dina Lüttenberg Zur Einführung XI
I
Die Rolle der Sprache in der Wissenskonstitution
Sabine Weinert 1. Natürliche Sprache(n) und Formelsprache(n) in der Bildung
3
Wilhelm Köller 2. Sprachliche Bildung und entwicklungspsychologische Grundlagen
25
Heike M. Buhl/Sabrina Wiescholek 3. Zur sprachlichen Bildung aus der Perspektive der Pädagogischen Psychologie 48 Wolfgang Steinig 4. Sprache, Bildung und soziale Herkunft
68
İnci Dirim/Alisha Heinemann 5. Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit und der Erwerb sprachlich gebundenen Wissens und Könnens 99 Marijana Kresić 6. Sprache und Identität
122
Steffen-Peter Ballstaedt 7. Sprache im multikodalen Kontext als Parameter der Bildung
II
141
Historische Entwicklungen der sprachlichen Konstitution von Bildung
Peter Kuhlmann 8. Zur Rolle der Sprache in der Bildung von der griechisch-lateinischen Antike bis zur Frühen Neuzeit 163
VIII
Inhaltsverzeichnis
Jürgen Oelkers 9. Sprache und Schule seit der Reformation
183
Hans-Rüdiger Fluck 10. Zur Rolle der Sprache in der Bildung im Zuge der Etablierung technischnaturwissenschaftlicher Fächer an Universitäten und Schulen 205 Ina Karg 11. Die Rolle der Sprache in Bildungstheorien und Vermittlungspraxis
229
Walter Herzog 12. Die Sprache als Mittel der politisch-ideologischen Einflussnahme auf das Bildungssystem 253 Harro Müller-Michaels 13. Diskurse über Bildung 2000 – am Beispiel der Didaktik
III
272
Grundlagen der sprachlichen Wissenskonstitution in der Praxis
Angelika Redder 14. Theoretische Grundlagen der Wissenskonstruktion im Diskurs
297
Claudia Osburg 15. Sprache und Begriffsbildung: Wissenserwerb im Kontext kognitiver Strukturen 319 Eveline Wuttke/Jürgen Seifried 16. Formen, Funktionen und Effekte sprachlicher Instruktion und Interaktion am Beispiel von Fragen und Feedback 346 Katja Koch 17. Schulartenspezifische Aspekte der Sprache in der Bildung
362
Ingrid Kunze 18. Ansätze und Methoden der Bewertung sprachlicher Leistungen als Indikatoren von Bildung und Wissenserwerb 380
Inhaltsverzeichnis
IX
Ulrike M. Lüdtke Sprachliche Konstruktion von Bildung in Sonderpädagogik und 19. Inklusion 400
IV
Empirische Ansätze und Befunde zur sprachlichen Wissenskonstruktion
Jens Siemon 20. Sprachliche Konstruktion gesellschaftlich relevanten Wissens für die berufliche Bildung an ausgewählten Beispielen 421 S. Kristina Gebauer/Anna C. M. Zaunbauer/Jens Möller 21. Sprachliche Konstruktion gesellschaftlich relevanten Wissens für die Bildung in der Schule am Beispiel des Immersionsunterrichts 444 Sandra Nitz 22. Sprachliche Konstruktion gesellschaftlich relevanten Wissens am Beispiel des Biologieunterrichts 462 Ingrid Gogolin/Joana Duarte 23. Bildungssprache 478 Drorit Lengyel 24. Umgang mit sprachlicher Heterogenität im Klassenzimmer
500
Stefan Schipolowski/Oliver Wilhelm/Ulrich Schroeders 25. Sprachliche Fähigkeiten und Intelligenz 523 Renate Valtin 26. Lese-Rechtschreibschwierigkeiten
544
Rüdiger Vogt 27. Unterrichtskommunikation – gesprächsanalytisch rekonstruiert Sachregister
595
564
Jörg Kilian/Birgit Brouër/Dina Lüttenberg
Zur Einführung
1 Begriffsbestimmung und Gegenstandskonstitution Der Titel „Handbuch Sprache in der Bildung“ fokussiert einen gesellschaftlichen Kommunikations- und Praxisbereich und markiert Grenzen zu den übrigen gesellschaftlichen „Wissensdomänen und Handlungsfeldern“, die im Rahmen der „Handbücher Sprachwissen“ in Bezug auf die in ihnen wirkende wissenskonstitutive Kraft der Sprache beschrieben werden. So offensichtlich dies durch das Titelstichwort Bildung gegeben zu sein scheint, so durchlässiger werden diese Grenzen indes, wenn das Stichwort Bildung selbst enzyklopädisch-semantisch zu erklären ist. Denn sobald Bildung in Beziehung gesetzt wird zu Gegenständen und Inhalten der Bildung, rücken die übrigen „Wissensdomänen und Handlungsfelder“ in den Blick; die vermeintlichen Grenzen müssen dann überschritten werden. Sprache in der Bildung ist dann zu beziehen auf die Sprache in der Bildung der Medizin, des Rechts, der Wirtschaft; der Mathematik, der Naturwissenschaften, der Technik; der Kunst, der Literatur, der Religion, der Politik und anderer Wissensbereiche mehr. In jedem dieser Bereiche wird das bereichsspezifische Wissen und Können zu einem großen (wenn nicht gar: dem größten) Teil diskursiv sprachlich konstruiert, konstituiert und jeweils in Handlungsrahmen der Bildung von Lehrenden und Lernenden (re)konstruiert und (re)konstituiert. Sprache in der Bildung berührt daher grundsätzlich jede der anderen gesellschaftlichen Wissensdomänen und greift mehr als jede dieser anderen Wissensdomänen aus auf grundsätzliche (Er-)Klärungen des Verhältnisses von Sprache und Erkenntnis (vgl. Felder/Gardt 2015b) sowie auf das von Sprache und Wissen (vgl. Konerding 2015). Um das weite Feld, das mit dem Titelthema Sprache in der Bildung eröffnet wird, abzugrenzen, sind für das Handbuch möglichst weit gefasste Perspektiven erarbeitet worden. Der Hauptfokus liegt auf der natürlichen Sprache, die die Grundlage der menschlichen Kommunikation und somit auch der Wissensvermittlung darstellt. Die historisch geprägten Varietäten werden in literaten Gesellschaften von einer explizit normierten und kodifizierten Standardsprache überdacht, die den Wissenstransfer vor allem in der institutionell organisierten Bildung prägt. Unter Bildung wird Konstruktion, Konstitution und Transfer kulturell geprägten Wissens und Könnens verstanden (zur Geschichte des deutschen Bildungsbegriffs und Differenzierung der Begriffe Bildung, Education, Literacy, Erziehung, Ausbildung s. Brouër/Kilian/Lüttenberg 2015). Dabei umfasst die Begriffsbedeutung sowohl den Prozess als auch das Produkt dieser Wissensformung und -übergabe.
XII
Jörg Kilian/Birgit Brouër/Dina Lüttenberg
Die Rolle der Sprache in der Bildung wird in diesem Band seit der Antike über das Mittelalter, die frühe Neuzeit und vor allem die „Sattelzeit“ der Aufklärung verfolgt. Aus der Geschichte ergeben sich auch Fragen für und an die Gegenwart, so z. B.: – die Frage nach der Rolle der Sprache in der Wissenskonstitution und der sprachlichen Gebundenheit von Bildung, Wissen und Können aus der Perspektive einzelner Disziplinen, – die Frage nach der sprachlichen Vermittlung von Wissen und Können in Theorie und Praxis institutioneller Bildung sowie – die Frage nach der Diagnose und Förderung sprachlich gebundener Kompetenzen. Diese Begriffsbestimmung und Gegenstandskonstitution konzentrieren für das Handbuch das Verhältnis von Sprache und Bildung auf die Erkundung der Rolle der Sprache in der institutionell gesteuerten Bildung im deutschsprachigen Raum. Das Handbuch berührt zwar das weite Feld der erkenntnistheoretisch-sprachphilosophischen Beschäftigung mit den Zusammenhängen zwischen Sprache und menschlicher Erkenntnis, doch sollen Betrachtungen zur anthropologischen Funktion von Sprache für die „Entwicklung des menschlichen Denkens“ (Tomasello 2002) sowie Betrachtungen zu sprachphilosophisch, erkenntnistheoretisch und kognitionspsychologisch begründeten Funktionen von Sprache für die kognitive und geistige Entwicklung des Menschen lediglich einen Rahmen bilden für diese konzentrierte Erkundung der Rolle der Sprache in der institutionell gesteuerten Bildung im deutschsprachigen Raum. So wird sprachphilosophisch und kognitionspsychologisch die Weitergabe – genauer: der Impuls zur (Re)konstruktion – von Wissen von einem Menschen an den anderen an Sprache – wiederum genauer – an dialogische Sprache, geknüpft. Schon in Platons „Kratylos“ stellt Sokrates in seinen Fragen an Hermogenes die belehrende, mithin bildende Funktion von Sprache heraus (388B/C): Lehren wir etwa einander etwas und sondern die Gegenstände voneinander, je nachdem sie beschaffen sind? […] Der Name ist also ein belehrendes Werkzeug, [C] und ein das Wesen unterscheidendes und sonderndes. (http://www.opera-platonis.de/Kratylos.html)
Karl Bühler formuliert es in seiner „Sprachtheorie“ aus dem Jahr 1934 dann so: Ich denke, es war ein guter Griff Platons, wenn er im Kratylos angibt, die Sprache sei ein organum, um einer dem andern etwas mitzuteilen über die Dinge. (Bühler 1978 [1934], S. 24)
Im Zuge der Benennung werden die Dinge also unterscheidbar, kognitiv erfassbar und dialogisch mitteilbar; die sprachlich-symbolischen Repräsentanten der Dinge werden, wie Herder es notiert, zum „Merkwort für mich“ und zum „Mittheilungswort für Andre“ (vgl. Kilian 2009, 6). Diese bildende Funktion der Sprache wird sprachphilosophisch, sprachtheoretisch und sprachdidaktisch seither mit verschiedenen Wertungen in Bezug auf die Leistung von Sprache reflektiert, mal eher idealistisch-
Zur Einführung
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zusprechend mit einem Begriff von Sprache als Werkzeug („organum“) zur kreativen Welt(re)konstruktion (etwa bei Herder und Humboldt), mal eher skeptisch-abgeneigt mit einem Begriff von Sprache als trügerischem Abbild, das wahre Welterkenntnis verhindere (etwa bei Nietzsche und Mauthner). Die in einer Sprachgesellschaft institutionell gesteuerte Bildung nimmt ihren Ausgang grundsätzlich von der idealistischzusprechenden Sicht auf die Leistung von Sprache für die Bildung des Menschen – ohne die sprachkritischen Aspekte zu leugnen. Einige Grundgedanken dazu wurden in dem konzeptionellen Beitrag zu diesem Handbuch im ersten Band dieser Handbuchreihe entfaltet (vgl. Brouër/Kilian/Lüttenberg 2015). Das darin – und demzufolge im vorliegenden Handbuch – zugrunde gelegte Konzept des Sprachwissens ist dem der Handbuchreihe verpflichtet (vgl. Felder/Gardt 2015a; Felder 2009).
2 Thematische Schwerpunkte Da das Forschungsfeld Sprache in der Bildung jede der anderen gesellschaftlichen Wissensdomänen, überdies jeden gesellschaftlichen Kommunikations- und Praxisbereich, berührt, kann grundsätzlich jede Versprachlichung gesellschaftlichen Wissens, die dessen (fach-)sprachlicher Konstitution und Kommunikation dient, aus der Perspektive der Sprache in der Bildung betrachtet und untersucht werden. Für die unterschiedlichen Kommunikations- und Praxisbereiche innerhalb einer Sprachgesellschaft sind im Laufe der Sprach- und Bildungsgeschichte dieser Sprachgesellschaft grundsätzlich bestimmte Wissensbestände als gesellschaftlich relevantes und erwartetes Wissen konstituiert worden. Zum überwiegenden Teil handelt es sich dabei um sprachlich konstruiertes und repräsentiertes Wissen und Können. Die Erzeugung und Vermittlung dieses Wissens sowie die Verfügung darüber laufen, wie erwähnt, im Begriff der Bildung zusammen (vgl. Brouër/Kilian/Lüttenberg 2015). Die Wissensbestände, Themen, Inhalte, Gegenstände, die in einer Sprachgesellschaft zu einer bestimmten historischen Zeit zur institutionell gesteuerten Bildung gezählt werden, stellen allerdings nur einen Teil des gesamten Wissens der jeweiligen Sprachgesellschaft dar, zudem mit unterschiedlichen Gewichtungen innerhalb dieses für die institutionell gesteuerte Bildung normierten Teils. So zählen im deutschen Bildungssystem der Gegenwart die Wissensbestände der Gewerbe und Handwerke weniger zur schulisch-institutionell gesteuerten Bildung als Wissensbestände geistes-, natur-, technik- und kunstwissenschaftlicher Disziplinen, und innerhalb derselben stehen wiederum die geistes- und kunstwissenschaftlichen Wissensbestände dem gegenwärtigen Begriff der Bildung näher als die natur- und technikwissenschaftlichen. Für sie alle aber gilt, dass dort in Bezug auf Wissensbestände und Wissenstransfer diskursive Aushandlungen stattfinden. Trotzdem scheint es, einerseits, feste Bestände dessen zu geben, was als Bildung, als wertvolles Wissen gilt; der Begriff des Allgemeinwissens bzw. der der Allgemeinbil
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Jörg Kilian/Birgit Brouër/Dina Lüttenberg
dung suggerieren dies zumindest. Darüber hinaus sind zahlreiche Wissensbestände in ihrem Bezug zum Begriff der Bildung auch umstrittener als andere, namentlich in jüngerer Zeit, in der im institutionellen Kontext der Begriff der Kompetenz zum Begriff der Inhalte in Konkurrenz gesetzt scheint (vgl. Kilian/Lüttenberg 2009). In beiden Fällen, dem der Wahrung eines festen Bestandes wie dem der strittigen Bestände, wird Bildung gleichwohl sprachlich konstituiert. Im Handbuch wird diese sprachliche Konstitution von Bildung an ausgewählten Beispielen für einzelne Disziplinen bzw. Fachbereiche/Fächer nachgezeichnet (z. B. für das Schulfach Biologie, für die Fachsprache der Technik, für die berufliche Bildung). Die thematischen Schwerpunkte sind indes nicht entlang dem schulischen Fächerkanon oder entlang den dominanten Wissenschaftsdisziplinen oder Berufsfeldern gesetzt; es ist überdies nicht das Ziel des Handbuches, die spezifischen Fachsprachen im Rahmen der institutionell gesteuerten Bildung zu beschreiben und kritisch zu bewerten. Die thematischen Schwerpunkte des Handbuches sind viel mehr auf einer Ebene über den einzelnen Fächern, Disziplinen, Berufen, über den Inhalten und Wissensbeständen einzelner Wissensdomänen und deren fachsprachlichen Inventaren angesiedelt insofern, als nicht das Sprachwissen selbst, sondern die verschiedenen Akteure, wissenschaftlichen Zugriffe, gesellschaftlichen und bildungspolitischen Rahmungen, die an der Aushandlung, sprachlichen Konstruktion und Konstitution von gesellschaftlich für relevant erachtetem und bildungspolitisch normiertem Wissen mitwirken, untersucht und dargestellt werden. Das Handbuch bietet auf diese Weise, zum einen, eine theoretische Grundlegung der sprachlichen Konstruktion und Konstitution von Bildung und eine Nachzeichnung der ideengeschichtlichen Rolle, die der Sprache in der Bildung zugewiesen wird. Es befasst sich, zum anderen, mit Ansätzen, Methoden und Ergebnissen der Erforschung praxisnaher Probleme, die u. a. aufgrund unterschiedlicher Versprachlichungsformen und Gegenstandskonstitutionen entstanden sind. Das methodische Vorgehen wird in jedem Beitrag gesondert zu begründen sein; es wird jedoch versucht, stets eine interdisziplinäre Perspektive mit einem Erkenntnisinteresse in Bezug auf die Sprachlichkeit von Bildung als Prozess oder/und als Produkt einzunehmen.
3 Aufbau Auf der Grundlage dieser Konzeption sind die vier Kapitel des Handbuches als Zugriffe zu verstehen, die gewählt werden, um Antworten auf die oben formulierten Fragen zu erhalten. Dabei war der jeweilige Forschungsstand relativ zur Konzeption des Handbuches zu respektieren. Mit einigen Fragen befasst sich die Forschung sowohl innerhalb einzelner Disziplinen wie auch – allerdings leider noch eher selten – interdisziplinär bereits seit Längerem; mit anderen erst seit Kürzerem. Die unterschiedliche Gewichtung der Kapitel sowie Unterschiede im Umfang einzelner Beiträge sind
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grundsätzlich derart unterschiedlichen Forschungsständen geschuldet. Sie spiegeln in keinem Fall Gewichtungen der Herausgeberinnen und des Herausgebers. Der synchronisch-gegenwartsbezogene Zugriff auf die Rolle der Sprache in der Wissenskonstitution in Kapitel I trägt den aktuellen Stand der Forschung zu Zusammenhängen zwischen Sprache und Bildung im Allgemeinen, zwischen Einzelsprache(n) und fachspezifischer Bildung im Besonderen aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen und deren jeweiligen Perspektiven zusammen. Das Feld ist weit: Es schließt die vorsprachliche und außersprachliche Bildung ebenso ein wie die sprachlich gebundene und sprachlich ungebundene Intelligenz; die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ebenso wie die Wirkung verschiedener Sprachen auf die Wissenskonstitution. Kapitel II nimmt eine historisch-gegenwartsbezogene Perspektive ein und bietet Beiträge zur historischen Entwicklung der sprachlichen Konstitution von Bildung. Diese Rolle ist nicht erst in Zeiten von epistemologischem und lernpsychologischem Konstruktivismus erforscht und kritisch hinterfragt worden (vgl. auch Brouër/Kilian/Lüttenberg 2015, 541 ff.). Und sie ist nicht in jedem Fall ausschließlich aus der Perspektive der Aufwertung dieser Rolle heraus betrachtet worden. Der Blick in die Geschichte zeigt sehr deutlich, dass und wie Sprache für die Bildung – als Prozess und als Produkt – geformt, mitunter aber auch gegen eine Verbreitung von Bildung instrumentalisiert wurde. Die Geschichte der Sprache in der Bildung ist daher stets auch eine Geschichte der diskursiven Auseinandersetzungen über Sprache und Bildung in einer Gesellschaft. Vor dem Hintergrund dieser Kapitel fokussiert Kapitel III das zu bildende Individuum und stellt Grundlagen der sprachlichen Wissenskonstitution in der Praxis dar, die die individuelle sprachliche Entwicklung und seine Förderung im Rahmen der institutionell gesteuerten Bildung beschreiben und erklären. Der institutionell gesteuerte Bildungs-Weg des Individuums, das zeigen die Beiträge auf, wird in Form des oben erwähnten gesamtgesellschaftlichen Sprachspiels der sprachlich-diskursiven Wissenskonstitution vorab festgelegt. In Kapitel IV wird abschließend das Feld des gegenwärtig dominanten Forschungsparadigmas, das Feld der empirischen Bildungsforschung, betreten, um empirische Ansätze und Befunde zur sprachlichen Wissenskonstitution zusammenzutragen. Die Rolle der Sprache in der Bildung, theoretisch fundiert, historisch erkundet, in ihrer Bedeutsamkeit für das Individuum dargestellt und in ihrer institutionellen Formung beschrieben, wird in den Beiträgen dieses Kapitels aus der Perspektive ausgewählter empirischer Ansätze, Methoden und Ergebnisse kritisch erörtert. Den Gang der Darstellung in diesem Handbuch zunehmend konkretisierend rücken konkrete monologische und dialogische didaktisch-methodische Grundtypen des Lehrens und des Lernens in den Blick, die in Bezug auf die ihnen lerntheoretisch zugewiesenen didaktischen Wertigkeiten zum Zweck der Wissenskonstitution, aber auch zur Rekonstruktion und Erkenntnis des Wissenserwerbs zur Darstellung kommen.
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Jörg Kilian/Birgit Brouër/Dina Lüttenberg
4 Beschluss Das Handbuch steckt das weite Feld der Erforschung der Sprache in der Bildung ab. Es erhebt nicht den Anspruch, den aktuellen Forschungsstand des gesamten Feldes erschöpfend darzustellen, sehr wohl aber den Anspruch, die wesentlichen Parzellen des Feldes zu beleuchten und der weiteren Forschung dadurch Wege zu eröffnen. Diese Wege können zu einzelnen sprachlichen Grundfertigkeiten (hören, sprechen, lesen, schreiben) und ihrer je besonderen Rolle im Rahmen der Bildung führen; oder vertiefend zur Betrachtung des Zusammenspiels von Sprachen und Sprachvarietäten. Sie können zu einzelnen Wissensbereichen (Schulfächern, Handwerken, Gewerben, Wissenschaftsdisziplinen) und deren je besonderer Sprachlichkeit führen oder auch noch konkreter zu einzelnen Mustern des Sprachgebrauchs in der Bildung. Sie können die hier vornehmlich für den deutschen Sprachraum vorgelegten Ansätze, Methoden, Ergebnisse im Rahmen internationaler Studien fortführen oder auf weitere Wissensdomänen und Wissensbereiche erstrecken, die bislang noch nicht zum Bestand der institutionell gesteuerten Bildung zählen. Wenn die weitere Forschung dieses weite Feld künftig zunehmend interdisziplinär bestellt, hat dieses Handbuch ein wichtiges Ziel erreicht.
5 Literatur Brouër, Birgit/Jörg Kilian/Dina Lüttenberg (2015): Sprache in der Bildung. In: Felder/Gardt, 539–556. Bühler, Karl (1978): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Frankfurt a.M. [zuerst 1934]. Felder, Ekkehard (2009): Sprachliche Formationen des Wissens. Sachverhaltskonstitution zwischen Fachwelten, Textwelten und Varietäten. In: Felder/Müller, 21–77. Felder, Ekkehard/Marcus Müller (Hg.) (2009): Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes „Sprache und Wissen“. Berlin/New York. Felder, Ekkehard/Andreas Gardt (Hg.) (2015): Handbuch Sprache und Wissen. Berlin/Boston (Handbücher Sprachwissen, 1). Felder, Ekkehard/Andreas Gardt (2015a): Einleitung. In: Felder/Gardt, IX-XII. Felder, Ekkehard/Andreas Gardt (2015b): Sprache – Erkenntnis – Handeln. In: Felder/Gardt, 3–33. Kilian, Jörg (2009): Wie der Mensch seine Sprache (er)findet: Herders „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“. In: Deutschunterricht extra, Heft 4, 4–7. Kilian, Jörg/Dina Lüttenberg (2009): Kompetenz. Zur sprachlichen Konstruktion von Wissen und Können im Bildungsdiskurs nach PISA. In: Felder/Müller, 245–278. Konerding, Klaus-Peter (2015): Sprache und Wissen. In: Felder/Gardt, 57–80. Platon: Kratylos. (De recta nominum ratione.) Nach der Übersetzung von Friedrich E. D. Schleiermacher. In: Platons Werke. Zweiten Teiles zweiter Band, dritte Aufl. Berlin 1857, bearbeitet. http://www.opera-platonis.de/Kratylos.pdf (3.8.2015). Tomasello, Michael (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Aus dem Englischen von Jürgen Schröder. Frankfurt a.M.
I Die Rolle der Sprache in der Wissenskonstitution
Sabine Weinert
1. Natürliche Sprache(n) und Formelsprache(n) in der Bildung
Die Bedeutung von Sprache/Sprachen für Entwicklungs- und Bildungsprozesse ist vielfach betont und empirisch belegt worden. In der Schule ist Sprache Lerngegenstand, Lernumwelt, Medium und Mittel des Lernens. Schon vor Schuleintritt gilt sprachliche Bildung als wichtiges Ziel von Bildungsprozessen, nicht zuletzt, weil Sprache und Spracherwerb bedeutsame Bedingungen und Einflussvariablen für vielfältige andere Entwicklungs- und Bildungsprozesse darstellen. Sprache ist ein besonders effizientes Codier- und Kommunikationsmittel; sie nimmt Einfluss auf den Konzepterwerb, auf Gedächtnisleistungen und Gedächtnisentwicklung, auf Problemlösungen, den Erwerb von Selbststeuerung und den Aufbau unterschiedlichster Wissensbestände, die von inhaltlichem Wissen über Problemlösewissen bis hin zu metakognitivem Wissen und Wissen über mentale Zustände im Sinne einer intuitiven Psychologie reichen. Sprache beeinflusst damit schon frühzeitig die kognitive, sozialkognitive und kommunikative Entwicklung von Kindern sowie schulische und außerschulische Bildungsprozesse und lebenslanges Lernen. Sprachliche Einschränkungen gelten als zentrale Erklärung und Vermittlungsvariable für soziale Disparitäten in Bildung und Bildungskarrieren mit bedeutsamen Implikationen für gesellschaftliche und politische Teilhabe. Vor diesem Hintergrund werden im vorliegenden Beitrag der Erwerb von Sprache(n) als Ziel und Folge von Entwicklungs- und Bildungsprozessen und als wichtige Bedingungs-/Einflussvariable diskutiert. 1
Einführung: Sprache(n) und sprachliche Bildung als Ziel, Folge und wichtige Einflussvariable in der Bildung 2 Sprache(n) und Bildung: Einige Begriffsklärungen 3 Exkurs: Beziehungen zwischen Entwicklungsbereichen – zur Domänenspezifität von Entwicklungs- und Bildungsprozessen 4 Sprachliche Bildung: Der Erwerb von Sprache(n) als Ziel und Folge von Bildungsprozessen 5 Bedeutung und Effekte von Sprache(n) auf Entwicklungs- und Bildungsprozesse 6 Fazit 7 Literatur
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Sabine Weinert
1 Einführung: Sprache(n) und sprachliche Bildung als Ziel, Folge und wichtige Einflussvariable in der Bildung Der Erwerb und die Nutzung von Sprache(n) gehören zu den wichtigen Fähigkeiten des Menschen mit besonderer Bedeutung für vielfältige Entwicklungs- und Bildungsprozesse – sowohl in der Schule wie auch in informellen und non-formalen Lernkontexten, in der frühen Bildung wie für das lebenslange Lernen. Nicht zuletzt wachsen Kinder über Sprache in die Kultur ihrer Gesellschaft und werden selbst durch diese geformt (vgl. Nelson 1996). In der Schule ist Sprache Lerngegenstand, Lernumwelt, Medium und wichtiges Kommunikations- und Codiermittel. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist sie bedeutsam für zahlreiche bildungsrelevante Entwicklungs- und Erwerbsprozesse. Sie beeinflusst die kognitiv-konzeptuelle und sozial-emotionale Entwicklung ebenso wie die Entwicklung des Lernens und der Selbststeuerung einschließlich des Erwerbs allgemeiner und spezifischer Wissensbestände und metaprozeduraler Fähigkeiten und Fertigkeiten (vgl. Weinert 2008). Sie ist wichtiger Prädiktor für den Erwerb eines intuitiven psychologischen Verständnisses von und Wissens über mentale Vorgänge, wie sie im Rahmen der so genannten „Theory-of-Mind“- und Metakognitionsforschung beschrieben werden. Diese beschäftigen sich mit dem sich entwickelnden Verständnis davon, dass und in welcher Weise mentale Zustände – wie Glauben, Wissen, Wünsche, Überzeugungen usw. – handlungsleitend sind und wie eigene Kognitionen und jene anderer Menschen ‚funktionieren‘, also z. B. welche Aufgaben-, Person- und Strategievariablen die Lösung von Aufgaben und Problemen beeinflussen. Dieses Verständnis und Wissen gilt als bedeutsam sowohl für die kognitive und schulische als auch die soziale und kommunikative Entwicklung (vgl. z. B. Ebert 2011; Weinert 2014). Die Ausbildung von sprachlichen Kompetenzen und die Reflexion über Sprache ist sowohl selbst Ziel von Bildungsprozessen (sprachliche Bildung) als auch Bedingung/Einflussvariable und – zumindest in Teilen – Folge unterschiedlicher Bildungsprozesse. Im Folgenden werden im Anschluss an einige kurze Begriffsklärungen verschiedene Aspekte sprachlicher Bildung sowie die vielfältigen Effekte von Sprache(n) auf Entwicklungs- und Bildungsprozesse anhand von Beispielbereichen illustriert und diskutiert.
2 Sprache(n) und Bildung: Einige Begriffsklärungen Die meisten Menschen erwerben im Laufe ihres Lebens mehrere Sprachen – ungesteuert in alltäglichen Kommunikationskontexten oder im Rahmen gesteuerter, z. B.
Natürliche Sprache(n) und Formelsprache(n) in der Bildung
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schulischer, Lehr-Lern-Kontexte. Spracherwerb stellt dabei vorzüglich den Erwerb formaler und bedeutungsbezogener Regularitäten einschließlich ihres kommunikativen Gebrauchs dar. Einzelsprachen unterscheiden sich sowohl in ihren formalen und bedeutungsbezogenen phonologischen (lautbezogenen), morpho-syntaktischen (auf Wort- und Satzbildung bezogenen), lexikalisch-semantischen (auf die Bedeutungsstruktur des Wortschatzes und die Satzbedeutung bezogenen) und ihren pragmatischen Regularitäten der Sprachnutzung. An den spontanen Erwerb oral- oder auch gebärdensprachlichen Wissens einer oder mehrerer natürlicher Erstsprachen in kommunikativen Kontexten schließt sich in vielen Bildungssystemen der Schrift spracherwerb und der Ausbau reflexiven Sprachwissens sowie der – mehr oder weniger gesteuerte – Erwerb von Fremd- und Formelsprachen an. Unter natürlichen Sprachen, die als Erst-, Zweit-, Dritt- usw. oder als Fremdsprachen erworben werden können, versteht man die von Menschen gesprochenen oder gebärdeten Einzelsprachen, die aus einer diachronen, historischen Entwicklung entstanden sind. Formelsprachen, wie man sie z. B. in der Mathematik, Informatik, Chemie usw. findet (etwa die algebraische Formelsprache), beruhen auf der Idee der Formalisierung: Das Operieren mit Gegenständen, Begriffen und Gedanken wird ersetzt durch das Operieren mit Zeichen, die an die Stelle dieser Gegenstände, Begriffe und Gedanken treten. (HefendehlHebeker 2008, 69)
Bei formalen Sprachen (z. B. der Mengenlehre, Algebra), wie sie auch Computersprachen darstellen, steht weniger die kommunikative Verwendung als die (mathematisch) präzise, die Vagheiten natürlicher Sprachen vermeidende, Beschreibung und Ableitung/Operation im Vordergrund. Dabei gibt es auch Versuche, natürliche Sprachen (speziell deren Syntax – also die Regeln der hierarchischen Gliederungsstruktur und Wortordnung im Satz) mit Hilfe formaler Sprachen zu modellieren. Sowohl der Erwerb natürlicher Sprachen als auch der Erwerb von Formelsprachen stellt in vielen Gesellschaften ein wichtiges Ziel von Bildung dar. Der Erwerb von Sprache(n) ist – wie bereits erwähnt und im Weiteren zu zeigen sein wird – zugleich wichtige Bedingung/Einflussvariable als auch (in wichtigen Aspekten) Ziel und Folge von Bildung und Bildungsprozessen. Was aber versteht man unter Bildung? Eine psychologische Annäherung an den (deutschen) Bildungsbegriff und die hiermit verbundenen theologischen, philosophischen und später pädagogischen Debatten ist nicht einfach und kann im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden. Bildung wird im Folgenden sehr breit verstanden und soll in Übereinstimmung mit vielfältigen Diskussionen in der pädagogischen Literatur weder auf Wissensvermittlung und -aneignung, noch auf Lernen und Erziehung im engen Sinne reduziert werden, auch wenn es hier jeweils wichtige Überschneidungen gibt. Der Begriff Bildung meint sowohl einen (Ziel-)Zustand als
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Sabine Weinert
auch die Gestaltungs- und Konstruktionsprozesse, die zu diesem Ziel führen (Gold/ Dubowy 2013, 15). Nach Gold und Dubowy (2013, 15) vollzieht sich [die Bildung des Menschen] im Wesentlichen über die Entwicklung seiner geistigen, religiösen, kulturellen, moralischen, persönlichen und sozialen Kompetenzen in der Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Welt.
Dabei „bedürfen [Bildungsprozesse] der Eigentätigkeit des Individuums“ (ebd., 15). Der in der empirischen Bildungsforschung heute übliche Kompetenzbegriff geht dabei über rein kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus und schließt auch soziale Kompetenzen und Motivationen mit ein. Im Vergleich zu spezifischen inhaltlichen Wissensbeständen einerseits und dem hoch-abstrakten, relativ bereichsübergreifend-generellen und kontextfreien Konzept fluider Intelligenz andererseits werden unter Kompetenzen domänenspezifische, bildungs- und anforderungsabhängige Leistungsdispositionen einer mittleren Abstraktionsebene verstanden (z. B. Lesekompetenz; mathematische, naturwissenschaftliche, soziale Kompetenz), wobei auch die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können,
einbezogen werden (F. E. Weinert 2001a, 27 f.; 2001b). Bildung soll entsprechend eine verantwortungsvolle gesellschaftliche und politische Teilhabe und persönliche Autonomie ermöglichen. Im Deutschen wird Bildung oftmals von Erziehung abgegrenzt (im Englischen gibt es diese Unterscheidung nicht). Während dem Bildungsbegriff eine stärkere Selbsttätigkeit des Menschen innewohne, fokussiere Erziehung stärker die Verhaltensweisen und Einstellungen der Erziehungspersonen und damit externe Wirkvariablen. Der Entwicklungsbegriff betont im Vergleich zum Bildungsbegriff vor allem alterstypische Phänomene, Prozesse und deren Veränderung. Er bezieht gezielt Lern-, Sozialisations- und Bildungsprozesse mit ein. Passive und aktive Lernvorgänge – also die Veränderung von Verhalten, Verhaltensmöglichkeiten und kognitiven Strukturen aufgrund von Erfahrung und Übung einschließlich der Effekte von Anleitung, Instruktion und Unterweisung – werden ebenso berücksichtigt wie aktiv-konstruktive Selbstgestaltungsprozesse. Im Unterschied zum Bildungsbegriff sind es aber speziell die Beschreibung und Erklärung von alterstypischen Möglichkeiten für Lern- und Bildungsprozesse und deren Beitrag zu weiteren (alterskorrelierten) Veränderungen, die hier thematisiert werden. Überschneidungen bei teilweise unterschiedlichem Fokus sind damit – insbesondere aus Sicht einer Entwicklungspsychologie der Lebensspanne – impliziert. Bezogen auf Bildung wird oftmals zwischen formalen, informellen und nonformalen Bildungskontexten unterschieden. Mit formalen Bildungskontexten ist spe-
Natürliche Sprache(n) und Formelsprache(n) in der Bildung
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ziell das (staatliche) Bildungssystem von der Grundschule bis zur Universität, einschließlich spezieller Programme zur technischen und beruflichen Bildung gemeint. Informelle Bildungsprozesse beziehen sich auf lebenslange Lernprozesse, in denen Menschen Fähigkeiten und Fertigkeiten, Wissen, Haltungen und Werte durch Einflüsse und Quellen der eigenen Umgebung und aus der täglichen Erfahrung (Familie, Nachbarn, Medien, Arbeit, Spiel etc.) erwerben und übernehmen. Unter non-formalen (außerschulischen) Bildungskontexten werden Programme subsumiert, die außerhalb des formalen (schulischen) Curriculums der persönlichen und sozialen Bildung und dem Auf- und Ausbau bestimmter Fähigkeiten und Kompetenzen dienen. Formale, non-formale und informelle Bildung ergänzen einander und unterstützen wechselseitig den lebenslangen Lernprozess.
3 Exkurs: Beziehungen zwischen Entwicklungs bereichen – zur Domänenspezifität von Entwicklungs- und Bildungsprozessen Auch wenn Personen durch das einzigartige Zueinander/Zusammenspiel von Eigenschaften, Motiven, Zielen, Kompetenzen (Laux/Renner 2011, 212) und durch „die komplexe Organisation von Kognitionen, Emotionen und Verhalten, die dem Leben der Person Richtung und Zusammenhang“ geben (Pervin 2002, 414), charakterisiert sind, unterliegen einzelne Entwicklungsbereiche und ihr Zueinander in vielen Fällen einer durchaus eigenen, spezifischen Entwicklungsdynamik und stellen jeweils spezielle Anforderungen an das sich entwickelnde Kind. Betrachtet man beispielsweise die Beziehungen zwischen Sprach- und Denkbzw. Kognitionsentwicklung (einschließlich des Erwerbs kommunikativer Intentionen), so erweisen sich einseitig deterministische und reduktionistische Sichtweisen, die den Spracherwerb als einfache Folge der kognitiven oder kommunikativen Entwicklung oder die kognitive Entwicklung als sprachdeterminiert sehen, als empirisch nicht haltbar (vgl. zusammenfassend Weinert 1998; 2000). Hierfür sprechen sowohl Befunde zu typisch verlaufenden Entwicklungsprozessen als auch Entwicklungsdissoziationen bei gestört verlaufender Entwicklung. So gibt es Personen mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten, die dennoch elaborierte sprachliche Fertigkeiten entwickeln, wie es auch umgekehrt Personen gibt, die trotz Spracheinschränkungen komplexe kognitive Leistungen erbringen. Entwicklung erweist sich als bereichs- bzw. domänenspezifisches Geschehen mit jeweils bereichsspezifischen Anforderungen. Zugleich zeigen sich aber auch wichtige wechselseitige Einflüsse zwischen verschiedenen Bereichen/Domänen der Entwicklung. Dabei muss zwischen aktualgenetischen und ontogenetischen Zusammenhängen sorgfältig unterschieden werden: Aus Beziehungen zwischen Sprache und Denken im Verlauf einer konkreten Aufga-
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benbearbeitung, Problemlösung oder Kommunikationssituation kann nicht darauf geschlossen werden, in welcher Weise kognitive Voraussetzungen und Fortschritte den Erwerb formaler und bedeutungsbezogener sprachlicher Strukturen einschließlich deren Nutzung bestimmen, noch kann umgekehrt auf die Bedeutung sprachlicher Kompetenzen und Fortschritte für die Veränderungen im Bereich der kognitiven Entwicklung (des Denkens, Problemlösens, Lernens, der Begriffsbildung, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses usw.) geschlossen werden. Sprache und Kognition können sich wechselseitig beeinflussen, ohne dass hierdurch ein Fort schritt in dem einen oder anderen Entwicklungsbereich bewirkt wird (vgl. ausführlich Weinert 2000; 2014). Insbesondere können sich die Entwicklungsbeziehungen zwischen Bereichen alters- bzw. entwicklungstypisch verändern: Während z. B. Vorläufer einer intuitiven Psychologie (z. B. die Herstellung eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus [joint attention]; die Interpretation kommunikativer Absichten) wichtig für den frühen Wort- und Spracherwerb sein dürften (vgl. Tomasello 2001; Weinert 2006 für einen Überblick), ist es später die Sprache, die bedeutsame Effekte auf Fortschritte in der Entwicklung einer Theory-of-Mind (ToM) zeigt, wie z. B. Befunde von Ebert (2011) nahelegen (vgl. ausführlich Weinert 2014). In ähnlicher Weise ist es zunächst die Kapazität des phonologischen Arbeitsgedächtnisses, die wichtig für den Wortschatzzuwachs zu Beginn des Erwerbs einer Erst- oder Zweitsprache ist; später kommt insbesondere dem bereits erworbenen sprachlichen Wissen eine wichtige Funktion für Leistungsfortschritte im Bereich des phonologischen Arbeitsgedächtnisses zu (vgl. Gathercole/Baddeley 1989; Gathercole u. a. 1992; für einen Überblick vgl. Weinert 2010; 2014). Dabei sollte aus Sicht lebenslangen Lernens und eines die Lebensspanne umfassenden Bildungskonzepts nicht übersehen werden, dass bereichs- bzw. domänenspezifisch erworbene Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensbestände zu späteren Entwicklungszeitpunkten fach- und bereichsübergreifende Grundfähigkeiten für weitere und spätere Entwicklungs- und Bildungsprozesse darstellen können (Weinert u. a. 2011, 69).
4 Sprachliche Bildung: Der Erwerb von Sprache(n) als Ziel und Folge von Bildungsprozessen Entgegen streng nativistisch-modularen Auffassungen erfolgt selbst der frühe Erwerb einer oder mehrerer Erstsprachen keineswegs vollständig universell und weitgehend unabhängig von der sprachlichen Umwelt. Bereits im Alter von nur drei Jahren zeigen sich deutliche soziale Disparitäten nicht nur im Wortschatz, sondern auch in der Grammatik – in einer unserer eigenen Studien sogar in gleichem Ausmaß (vgl. Weinert/Ebert 2013). Unbestritten stellt die Familie eine zentrale Bildungs- und Sozia-
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lisationsinstanz dar, die – wie eine Reihe von Befunden belegt – trotz einiger Universalien und auf der Basis angeborener, primärer Sprachlernfähigkeiten auf Seiten der Kinder auch bereits frühzeitig Einfluss auf den frühkindlichen Spracherwerb nimmt. So zeigen und belegen Studien zu frühen sozialen Disparitäten bedeutsame Unterschiede in quantitativen und qualitativen Merkmalen des Sprachangebots sowie der sprachlichen Interaktionen und deren Effekte auf den Spracherwerb der Kinder (vgl. Fernald/Weisleder 2011; Hoff-Ginsberg 2000; Vasilyeva/Waterfall 2011). Dass neben dem Elternhaus auch die frühkindlichen Bildungsinstitutionen Einfluss auf den Erwerb der Sprache nehmen, zeigen u. a. Befunde von Huttenlocher und Kollegen, nach denen die sprachliche Anregung im Kindergarten (hier: die grammatische Komplexität der Erziehersprache) mit dem Zuwachs im Sprachverständnis der Kinder über ein Jahr zusammenhängt (vgl. Huttenlocher u. a. 2002). In Übereinstimmung mit den bereits angesprochenen Ergebnissen anderer Studien (vgl. auch Weinert/Ebert/Dubowy 2010; Weinert/Ebert 2013) variierten auch in dieser Untersuchung die sprachlichen Ausgangsleistungen der untersuchten vierjährigen Kinder in Abhängigkeit von familiären Hintergrundvariablen (familiärer sozioökonomischer Status, SES); der Grammatikzuwachs im folgenden (Kindergarten-)Jahr wurde jedoch durch Merkmale der Erziehersprache beeinflusst und erwies sich als unabhängig vom familiären Hintergrund (SES) der Kinder (für einen Überblick vgl. Vasilyeva/Waterfall 2011). Hervorzuheben ist, dass sprachliche Bildung nicht erst in der Schule, sondern auch in den Bildungsplänen früher Bildung als wichtiges Ziel betont wird (vgl. z. B. Gold/Dubowy 2013). Unter sprachlicher Bildung verstehen Schneider und Kollegen (2012, 23) „alle durch das Bildungssystem systematisch angeregten Sprachentwicklungsprozesse“ und grenzen sie von Sprachförderung und Sprachtherapie ab. Sprachfördermaßnahmen richten sich insbesondere an Kinder und Jugendliche mit diagnostisch ermitteltem besonderen Förderbedarf der allgemeinen sprachlichen Fähigkeiten, etwa des Wortschatzes oder der Grammatik, und sind von gezielten Förderungen der Fähigkeiten des Lesens und Schreibens abzugrenzen (Schneider u. a. 2012, 23). Allgemeine sprachliche Fähigkeiten werden sowohl im Mündlichen als auch im Schriftlichen benötigt und sind, wie noch zu zeigen sein wird, von besonderer Bedeutung für vielfältige Entwicklungs- und Bildungsprozesse. Sprachtherapie dagegen gehört nicht zu den Aufgaben von Erzieher/-innen und Lehrkräften, sondern erfordert spezielle (sprach-)therapeutische Fachexpertise. Zwar hat die wissenschaftliche Erforschung früher sprachlicher Bildungsprozesse und deren Anregung in frühkindlichen Bildungsinstitutionen wie dem Kindergarten, Kindertagesstätten usw. in der Folge der Befunde internationaler Vergleichsstudien wie PISA, TIMSS und IGLU deutlich zugenommen. Diesen Studien verdanken wir eine Vielzahl an Erkenntnissen, die hier nicht im Einzelnen erörtert werden können (für einen Überblick vgl. z. B. Weinert/Lockl 2008). Jedoch sind die genauen Bedingungen, Mechanismen und effektiven Implementierungen einer zielführenden sprachlichen Bildung für alle Kinder und einer speziellen sprachlichen Förderung von Kindern mit
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eingeschränktem Sprachstand bislang nicht ausreichend aufgeklärt. National wie international verweisen Evaluationen von Sprachbildungs- und Fördermaßnahmen darauf, dass die Bemühungen in der Praxis oft deutlich hinter den Erwartungen und wissenschaftlich für möglich erachteten Erträgen zurückbleiben (vgl. z. B. Dickinson/ Freiberg/Barnes 2011; Preschool Curriculum Evaluation Research Consortium 2008; Roos/Polotzek/Schöler 2010). (Frühe) Sprachliche Bildung im Sinne systematisch oder inzidentell angeregter Sprachentwicklungsprozesse erweist sich keineswegs als trivial, sondern als eine Herausforderung, deren wissenschaftliche und praktische Bewältigung aus der Perspektive der Bedeutung von Sprache für Bildung, Bildungschancen und Bildungskarrieren als besonders wichtig eingeschätzt wird (s. auch Ebert u. a. 2013; Weinert/Ebert 2013; Weinert u. a. 2012). Mit Eintritt in die Schule gewinnt die so genannte Bildungssprache gegenüber der Alltagssprache zunehmend an Bedeutung. Bildungssprache, so Gogolin (2008, 26) ist dasjenige Register, dessen Beherrschung den ‚erfolgreichen Schüler‘ auszeichnet. Es unterscheidet sich von der ‚Umgangssprache‘ durch die Verwendung fachlicher Terminologie und die Orientierung an syntaktischen Strukturen, Argumentations- und Textkompositionsregeln, wie sie für schriftlichen Sprachgebrauch gelten.
Während die lexikalisch, grammatisch und textbezogen einfacheren alltagssprachlichen Fertigkeiten (in der Terminologie von Cummins [1984] „basic interpersonal communication skills“, BICS) in vielfältigen Alltagssituationen, in denen das Sprachverständnis kontextbezogen durch nonverbale mimische, gestische oder paralinguistische Hinweise erleichtert wird, kommunikativ ausreichend sind, werden in (formalen) Bildungskontexten vor allem bildungssprachliche Kompetenzen (in der Terminologie von Cummins [1984] „cognitive academic language proficiency“, CALP) als besonders wichtig erachtet (vgl. für einen einführenden Überblick Berendes u. a. 2013; Uesseler/Runge/Redder 2013). Vorliegende Befunde deuten darauf hin, dass sowohl Kinder aus ‚(schul-) bildungsferneren‘ Familien als auch viele der Kinder mit nicht-deutschsprachigem Familienhintergrund, die Deutsch als Zweitsprache erwerben, Schwierigkeiten bei den komplexeren bildungssprachlichen Anforderungen der Schule aufweisen (vgl. z. B. Berendes u. a. 2013; Eckhardt 2008; Uesseler u. a. 2013). Bildungsrelevante Spracheinschränkungen auf Seiten der Kinder sind dabei oftmals ‚verdeckt‘ in dem Sinne, dass sie weder offensichtlich noch einfach beobachtbar sind (vgl. Knapp 1999). So hebt z. B. Koch (2008, 44) hervor, dass in der Schulpraxis lange Zeit nicht erkannt wurde, dass Migrantenkinder bei der Einschulung häufig nicht in der Lage sind, dem Unterricht sprachlich zu folgen: Da sie auf dem Kommunikationsniveau von BICS mithalten konnten, ging man davon aus, dass ihre Deutschkenntnisse ausreichen, um auch den komplexeren Ansprüchen der Schulsprache entsprechen zu können.
Dabei wissen wir noch nicht sehr viel darüber, welche Merkmale und Aspekte von Bildungssprache eine spezielle Hürde für Kinder aus ‚(schul-) bildungsferneren‘ Fami-
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lien sowie für Kinder mit Migrationshintergrund und Deutsch als Zweitsprache darstellen. Nicht übersehen werden sollte in diesem Zusammenhang, dass gerade auch jene Charakteristika des bildungssprachlichen Wortschatzes (bzw. der alltäglichen Wissenschaftssprache; vgl. Ehlich 1999) und der grammatischen, textbezogenen und pragmatischen Strukturen, die im Unterricht implizit vorausgesetzt, nicht aber explizit erläutert und vermittelt werden, für Kinder, die mit diesen Zuhause nicht konfrontiert werden, besonders problematisch sein können (Schleppegrell 2012). Allerdings fehlt noch viel Forschung zu Merkmalen und Effekten von Bildungssprache in unterschiedlichen Bildungsinstitutionen, ihrem Zusammenspiel mit bildungssprachlichen Kompetenzen auf Seiten der Kinder einschließlich ihrer Messung und ihrer Bedeutung für Bildungsprozesse und Bildungskarrieren. Über generelle und bildungssprachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten einschließlich der Reflexion über Sprache, Texte und Textsorten hinaus ist vor allem die Vermittlung der Schriftsprache, also der Erwerb des Lesens und Schreibens, Gegenstand des Schulunterrichts. Allgemeine sprachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten von Kindern erweisen sich hier als besonders bedeutsam und stehen sowohl auf direktem als auch auf indirektem Weg mit dem Leseerwerb und insbesondere dem Leseverständnis in Beziehung (vgl. z. B. Dickinson u. a. 2003; Ebert/Weinert 2013; Sénéchal/Ouelette/ Rodney 2006). Mit zunehmender Klassenstufe und steigender Beherrschung der grundlegenden Lese- und Schreibprozesse gewinnen vor allem lexikalisch-semantische, grammatische und textbezogene Fertigkeiten und Wissensbestände an Bedeutung für die Lesekompetenz und das Verständnis sowie die Produktion (anspruchsvoller) schriftlicher Texte (vgl. u. a. Ebert/Weinert 2013). Über die Mehrheits-/Unterrichtssprache hinaus stellen auch der Erwerb von Fremd- und Formelsprachen wichtige (formale) Bildungsziele dar. So betonen z. B. Köller und Kollegen (2006, 240): „Vertiefte Kenntnisse in Englisch als Weltsprache […] zählen zu den Basisqualifikationen im Hinblick auf die Bewältigung beruflicher und gesellschaftlicher Anforderungen“ (s. auch Tenorth 2001; KMK 1995). Fragen der Didaktik des Fremdsprachenerwerbs sowie des Erwerbs von Formelsprachen in den Naturwissenschaften nehmen entsprechend einen wichtigen Platz in Forschung und Unterrichtspraxis ein (vgl. z. B. Bausch/Christ/Krumm 2011; Becker-Mrotzek u. a. 2013).
5 Bedeutung und Effekte von Sprache(n) auf Entwicklungs- und Bildungsprozesse Trotz des Nachweises einer weitreichenden Domänenspezifität von Entwicklungsveränderungen (s. oben; vgl. Weinert 2000) ist die Bedeutung von Sprache(n) für die kognitive, soziale und schulische Entwicklung von Kindern vielfach und überzeugend empirisch belegt (zusammenfassend z. B. Weinert 2008). Sprache ist ein hoch effizi-
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entes Codier-, Kommunikations- und Selbststeuerungsmittel mit besonderer Bedeutung für vielfältige Bildungsprozesse. Sie ist zentral für den Wissenserwerb in den verschiedensten schulischen und außerschulischen Kontexten (vgl. Weinert 2008) sowie für gesellschaftliche und politische Teilhabe generell. Sprache begünstigt und beeinflusst Gedächtnisleistungen und Gedächtnisentwicklung (vgl. z. B. Weinert 2010 für einen Überblick), die Bildung von Konzepten (vgl. z. B. Weinert 2004a für einen Überblick) einschließlich des Erwerbs einer intuitiven Psychologie (Theory-ofMind, vgl. z. B. de Villiers 2000) und eines metakognitiven Verständnisses/Wissens (vgl. z. B. Ebert 2011). Darüber hinaus konnte die Funktionalität von Sprache für den Erwerb von Selbststeuerung (vgl. z. B. Diaz/Berk 1992; Neubauer 2009) und für sozialkommunikative Prozesse und Entwicklungen nachgewiesen werden (zusammenfassend vgl. Weinert 2008). Unterschiede in sprachlichen Kompetenzen können somit gravierende Konsequenzen für die kognitive und sozial-kommunikative Entwicklung einschließlich schulischer Leistungen und Leistungsentwicklungen nach sich ziehen, ohne diese jedoch zu determinieren. Auf verschiedene Wirkmöglichkeiten und Zusammenhänge wird im Folgenden etwas ausführlicher eingegangen.
5.1 Sprache(n) und Intelligenz Es sind vor allem umschriebene Störungen der Entwicklung, die darauf verweisen, dass Intelligenztestleistungen und sprachliche Kompetenzen separierbare Phänomene darstellen und relativ weit auseinandertreten können, wie beispielsweise bei Kindern, die trotz alterstypischer (nonverbaler) Intelligenztestleistungen gravierende Schwierigkeiten beim Spracherwerb aufweisen, oder umgekehrt bei Personen, die trotz deutlich eingeschränkter Intelligenztestleistungen vergleichsweise gute sprachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgebildet haben (Weinert 2000 für einen Überblick). Betont werden muss allerdings, dass es sich hierbei keineswegs um vollständige Dissoziationen von Sprache und Kognition handelt: Die Profile erweisen sich stets als heterogen, indem bestimmte kognitive und/oder sprachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten eingeschränkt, andere aber vergleichsweise besser ausgebildet sind. So sind beispielsweise bei Kindern mit spezifischer Sprachentwicklungsstörung zwar die nonverbalen Problemlösefähigkeiten, wie sie in Tests zur Messung von Reason ing-Fähigkeiten bzw. fluider Intelligenz verlangt werden, alterstypisch entwickelt; Einschränkungen zeigen die Kinder aber z. B. im phonologischen Arbeitsgedächtnis (Pseudowortreproduktion). Kinder mit Williams-Beuren-Syndrom weisen weder vollständig eingeschränkte kognitive Fähigkeiten auf (z. B. verfügen sie über gute Fähigkeiten der Gesichtserkennung und -unterscheidung bei eingeschränkten räumlichvisuellen Fähigkeiten) noch ist ihr Spracherwerb vollständig unbeeinträchtigt (z. B. deutliche Verzögerungen zu Beginn des Spracherwerbs; zusammenfassend Weinert 2000). Schon diese Befunde deuten darauf hin, dass die Beziehungen zwischen ver-
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schiedenen Aspekten der Intelligenz- bzw. Kognitionsentwicklung und Subbereichen der Sprachentwicklung und sprachlichen Bildung verschieden sind. Globale Beziehungen sind nicht zu erwarten, wohl aber spezifische (siehe 5.2). In der Tat stellen weder Sprache noch Intelligenz einheitlich-homogene Konstrukte dar. So wird z. B. im Intelligenzbereich zwischen fluider und kristalliner Intelligenz (Cattell 1971; Horn 1982) oder zwischen kognitiver Mechanik und intellektueller Pragmatik (Baltes/Lindenberger/Staudinger 1998) oder zwischen Fähigkeiten und Fertigkeiten (Kaufman/Kaufman 1983) unterschieden. Während sich die kognitive Mechanik (verwandt, aber nicht identisch mit dem Konzept der fluiden Intelligenz) eher auf die grundlegende kognitive Architektur sowie auf stark genetisch bzw. durch biologische Prozesse geformte, vergleichsweise bildungsunabhängige Aspekte der Intelligenz bezieht, sind mit intellektueller Pragmatik oder kristalliner Intelligenz die kultur- und bildungsabhängigen Wissensbestände und Fertigkeiten gemeint (z. B. Baltes u. a. 1998). Die im vorliegenden Zusammenhang ebenfalls wichtige Unterscheidung zwischen verbaler und nonverbaler Intelligenz ist damit nicht identisch. Operational werden hier in der Regel diejenigen Leistungen unterschieden, die in verbalen und nonverbalen Intelligenztests erbracht werden. Während nonverbale Intelligenztests auch ohne Sprache bearbeitet und gelöst werden können, stellen verbale Subtests selbst Anforderungen an sprachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten – beim Verständnis der Instruktion und der Bearbeitung der Aufgabe (z. B. Begriffserklärungen, verbale Analogieaufgaben usw.). Dabei sollte nicht übersehen werden, dass auch so genannte nonverbale Intelligenztestaufgaben durch Sprache begünstigt und potenziell sprachlich gelöst werden können – beispielsweise, wenn die Lösung von Reason ing-Aufgaben durch verbale Codierung von (relevanten) Merkmalen erleichtert oder durch verbale Selbststeuerung begünstigt werden (vgl. z. B. deShon/Chan/Weissbein 1995).
5.2 Sprache(n) und ihre Effekte auf die kognitiv-konzeptuelle Entwicklung Vielfältige Studien zeigen eine Fülle von aktualgenetischen Effekten von Sprache/ Sprachstand auf aktuelle Konzeptbildungen. Sprache lenkt die (kindliche) Aufmerksamkeit auf Objekte und Objektkategorien einschließlich deren hierarchischer Organisation. Dies gilt schon in sehr jungem Alter. Bereits bei neun, möglicherweise sogar bei sechs Monate alten Kindern erleichtern sprachliche Benennungen (Wörter und Phantasiewörter) den Zugriff auf und die Neubildung von kategorialen Unterscheidungen (vgl. zusammenfassend Weinert 2003; 2004a). Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich sind Aufmerksamkeitslenkungen auf Objekte und Kategorienbildungen auch ohne sprachliche Benennungen möglich. Sprache stellt aber ein besonders effizientes Mittel dar und ist z. B. Zeigegesten (vgl. Baldwin/Markman
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1989) und nicht-sprachlichen Tönen in ihrer Funktionalität überlegen (vgl. zusammenfassend Weinert 2006). Wie bereits angesprochen, werden die Annahmen eines weitreichenden Sprachdeterminismus den komplexen Befundmustern zu Beziehungen zwischen sprachlicher und kognitiv-konzeptueller Entwicklung nicht gerecht (vgl. zusammenfassend Weinert 1998; 2000). Doch haben sich sowohl in der Folge der Sapir-Whorf-Hypothese, nach der unterschiedliche Sprachen eine unterschiedliche Weltsicht implizieren, wichtige Einflüsse der sprachlichen Umwelt und des Spracherwerbs auf die kognitiv-konzeptuelle Entwicklung nachweisen lassen (vgl. zusammenfassend Weinert 1998; 2000). Nicht zuletzt zeigen quasi-experimentelle Studien, in denen z. B. gehörlose Kinder mit eingeschränkten (oral- und gebärdensprachlichen) Sprachkompetenzen mit hörenden Kindern verglichen wurden, spezifische Entwicklungsunterschiede, die als Sprachwirkungen interpretiert werden (vgl. Oléron 1977). Kulturvergleichende Studien belegen zwar keine generellen, wohl aber spezifische Zusammenhänge zwischen kognitiven und sprachlichen Fortschritten. Insbesondere Befunde der Arbeitsgruppe um Gopnik und Meltzoff stützen die so genannte Spezifitätshypothese des Zusammenhangs von Sprach- und Konzepterwerb, indem sie hochspezifische Zusammenhänge zwischen umschriebenen sprachlichen und umschriebenen kognitiven Fortschritten in der Entwicklung nachweisen (vgl. z. B. Gopnik/Meltzoff 1993; 1997). So gibt es einen engen Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt des Benennungsspurts, also des schnellen Anwachsens des (nominalen) Wortschatzes im 2. Lebensjahr, und der Fähigkeit, Objekte erschöpfend in Kategorien zu ordnen; der Erwerb der Fähigkeit, Mittel-Zweck-Aufgaben einsichtsvoll zu lösen, ist in der Entwicklung eng mit dem Erwerb von Wörtern, die sich auf Erfolg und Misserfolg beziehen, verbunden. Kultur- und sprachvergleichende Studien zeigen entsprechende hochspezifische Zusammenhänge zwischen dem Erwerb sprachlicher Bedeutungen und kognitiv-konzeptuellen Entwicklungen. Spracheffekte werden vor allem dadurch nahegelegt, dass sich darüber hinaus Unterschiede in der kognitiven Entwicklung in Abhängigkeit von der jeweils erworbenen Muttersprache und hiermit verbundenen Unterschieden in sprachlichen Interaktionen zeigen. Während beispielsweise koreanischsprachig aufwachsende Kleinkinder englischsprachig aufwachsenden sowohl beim Erwerb der Fähigkeit, Aufgaben zu lösen, die Einsicht in Mittel-Zweck-Zusammenhänge erfordern, als auch beim Erwerb von Erfolgs- und Misserfolgswörtern in der Entwicklung voraus sind, sind englischsprachig aufwachsende Kinder koreanischsprachig aufwachsenden sowohl in der Fähigkeit, Objekte exhaustiv zu klassifizieren, als auch mit Blick auf den Zeitpunkt des Benennungsspurts überlegen (vgl. Gopnik/Choi/ Baumberger 1996). Dies verweist darauf, dass nicht nur komplexe, sprachlich vermittelte Konzepte im späteren Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, sondern auch frühzeitige sprachliche Aufmerksamkeitslenkungen und Sprachmerkmale die kognitiv-konzeptuelle Entwicklung und Bildung von Kindern beeinflussen.
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5.3 Sprache(n) und der Erwerb allgemeiner und spezifischer Wissensbestände Unbestritten ist Sprache/sind Sprachen ein wichtiges Mittel der Wissensvermittlung und der Codierung/Speicherung von Informationen. Die Bedeutung von Vorwissen für verschiedenste Aufgabenlösungen und kognitive Leistungen kann kaum überschätzt werden. Dabei sind es nicht nur spezifische Wissensbestände (spezielles Wissen über Dinosaurier, Geographie usw.), sondern auch generelle Wissenssysteme und intuitive Theorien, die nach heutigem wissenschaftlichem Erkenntnisstand in bedeutsamer Weise durch Sprache und Spracherwerb beeinflusst werden. Ein besonders viel diskutierter Bereich ist der Erwerb einer so genannten Theory-of-Mind (ToM), einer intuitiven Psychologie im Sinne des Verständnisses eigener mentaler Zustände/ Kognitionen und jener anderer Menschen und eines Verständnisses, dass Wünsche, Absichten, Ziele, Überzeugungen, Wissen – also mentale Zustände/Kognitionen – handlungsleitend sind. So versteht beispielsweise ein dreijähriges Kind noch nicht, dass es selbst und andere Personen falsche Überzeugungen haben können. Zeigt man jungen Kindern, dass sich in einer Smartiespackung keine Smarties, sondern ein Stift befindet, so glauben sie, dies schon immer gewusst zu haben, und dass auch Freunde, die noch nie in die Packung geschaut haben, den tatsächlichen Inhalt kennen (vgl. Perner/Leekam/Wimmer 1987). Erst vierjährige Kinder beginnen zu verstehen, um ein weiteres empirisches Beispiel zu nennen, dass Maxi dort nach einer Schokoladentafel suchen wird, wo er sie zuletzt gesehen hat, nicht aber dort, wo die Mutter sie zwischenzeitlich ohne Maxis Wissen, aber für die Kinder sichtbar, hingelegt hat (vgl. Wimmer/Perner 1983). Fähigkeiten in der ToM gelten als bedeutsam sowohl für die kognitive und metakognitive als auch für die sozial-kognitive und kommunikative Entwicklung. Mit Blick auf die Zusammenhänge zwischen Sprache und ToM-Entwicklung zeigt z. B. Ebert (2011) auf der Basis von Daten der Längsschnittstudie BiKS-3-10, dass sich die sprachlichen Kompetenzen der Kinder im Alter von 3;2 Jahren als prädiktiv erweisen – sowohl für den Entwicklungsstand der ToM im Alter von 3;8 Jahren als auch für die Leistungsfortschritte der Kinder in der ToM-Entwicklung in den folgenden zwei Jahren. Dies konvergiert mit Befunden, die belegen, dass sich ein sprachliches Training positiv auf den ToM-Erwerb auswirkt (vgl. Lohmann/Tomasello 2003) und dass oralsprachlich aufwachsende gehörlose Kinder hörender Eltern ein Defizit im Bereich der ToM-Entwicklung aufweisen (vgl. de Villiers 2000 für einen Überblick). Sprache, so kann theoretisch und empirisch begründet vermutet werden, ist ein wichtiges Repräsentationsmittel (z. B. sprachliche Konstruktionen wie „wissen, dass…“; „denken, dass…“; „glauben, dass…“) und erlaubt den kommunikativen Austausch über unterschiedliche Sichtweisen und mentale Zustände (vgl. Ebert 2011) und ist – last, not least – ein wichtiges Mittel der Selbststeuerung (vgl. Neubauer 2009; Dubowy 2010; s. auch 5.4).
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Dabei ist es durchaus wahrscheinlich, dass sich die Entwicklungsbeziehungen zwischen ToM-Entwicklung und Spracherwerb entwicklungstypisch verändern. Wie bereits erwähnt, dürften zunächst Vorläufer der ToM-Entwicklung Einfluss auf den frühen Sprach-, insbesondere den frühen Worterwerb nehmen: Das Herstellen gemeinsamer Aufmerksamkeit, die Beachtung und Interpretation kommunikativer Intentionen und der Blickrichtung des Gesprächspartners stellen frühe ToM-Fähigkeiten dar, die bedeutsam für den Erwerb von Wortbedeutungen im 2. Lebensjahr sind (zusammenfassend Weinert 2006; vgl. auch Weinert 2014). Später, so belegen u. a. die Befunde von Ebert (2011; vgl. auch de Villiers 2000), sind es die Sprachkompetenzen, die Einfluss auf den weiteren Erwerb der ToM, insbesondere das Verständnis falscher Überzeugungen nehmen. Für schulische Bildung und Selbststeuerung ist besonders interessant, dass frühe allgemein-sprachliche Kompetenzen zudem wichtige Prädiktoren und vermutlich Einflussvariablen auf den Erwerb so genannten metakognitiven Wissens z. B. über gedächtnisrelevante Person-, Aufgaben- und Strategievariablen sind (z. B. das Wissen, dass es leichter ist, wenige als viele Dinge zu lernen, oder dass die verfügbare Lernzeit wichtig sein kann usw.). Entsprechendes Wissen gilt als bedeutsam für die Entwicklung schulischen Lernens und speziell für den Erwerb und die spontane Nutzung effizienter Lern- und Gedächtnisstrategien. Ebert (2011) zeigt in ihrer Dissertation, dass sich die sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten von Kindern vor allem indirekt über die ToM-Entwicklung auf den Zuwachs des Metagedächtniswissens auswirkt (vgl. Ebert 2011; 2014). Zudem zeigen sich spezifische Zusammenhänge zwischen Sprache und Metagedächtnis, die einem entwicklungstypischen Wandel unterliegen. So ist nach den Befunden von Ebert (2011) ein grundlegendes Metagedächtniswissen zunächst prädiktiv für den Erwerb eines differenzierten Verständnisses von Verben/Verbbedeutungen, die sich auf mentale Zustände beziehen, wie etwa wissen, glauben, denken; ist ein etwas fortgeschritteneres Verbverständnis erreicht, so scheint dieses den weiteren Zuwachs des Metagedächtniswissens zu beeinflussen. Die dominante Wirkrichtung des Zusammenhangs von sprachlicher Bildung und schul- und lernrelevantem Metawissen scheint sich also entwicklungstypisch zu verändern: Während zunächst (meta-)kognitive Leistungen den Erwerb entsprechender Verbbedeutungen begünstigen, sind es dann die spezifischen sprachlichen Fähigkeiten und Wissensbestände, die den weiteren Erwerb metakognitiven Wissens begünstigen.
5.4 Sprache(n) und der Erwerb von Selbststeuerung Über den Aufbau von deklarativem metakognitivem Wissen hinaus (vgl. 5.3) beeinflusst Sprache auch den Erwerb von prozeduraler Metakognition, d. h. den Erwerb von Fähigkeiten der Überwachung und Steuerung der Informationsverarbeitung. Wie bereits erwähnt, werden selbst so genannte nonverbale Problemlösungen
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durch verbale Selbststeuerung beeinflusst (vgl. deShon u. a. 1995). Insbesondere Wygotski (1978) hat betont, dass Kinder die in der Gesellschaft entwickelten sozialen Steuerungsmittel (Sprache[n], mathematische Symbolsysteme und Formelsprachen) schrittweise aktiv übernehmen und als Mittel der Selbststeuerung verwenden. Zunächst sind es kompetente Andere, die die kindliche Aufmerksamkeit, die kindliche Gedächtnissuche, das kindliche Problemlösen durch sprachliche oder andere sozial-kulturelle Mittel steuern und in der Zone der proximalen Entwicklung anleiten. Indem das Kind diese Mittel sozialer Steuerung als Mittel der Selbststeuerung übernimmt, entstehen höhere geistige Funktionen, wie die bewusste Aufmerksamkeit, das bewusste Gedächtnis und die bewusst-gesteuerte Problemlösung. Einen wichtigen Zwischenschritt stellt hierbei die selbstbezogene Sprache dar. Diese erweist sich in Längsschnittstudien als prädiktiv, z. B. für den Zuwachs in mathematischen Leistungen im Grundschulalter (vgl. Bivens/Berk 1990). Experimentelle Studien mit Vorschulkindern als Probanden verweisen zudem auf ihre Funktionalität für den Transfer von Problemlösungen im Kontext nonverbaler Problemlöseaufgaben, wie sie in Intelligenztests gestellt werden (vgl. Neubauer 2009; zusammenfassend Weinert 2006; 2008).
5.5 Sprache(n), sprachliche Kommunikation und sozial- emotionale Entwicklung Die Bedeutung von Sprache(n) als Kommunikationsmittel kann kaum überschätzt werden. Sprache ermöglicht es, Fragen zu stellen und Meinungen auszutauschen, Konflikte verbal zu lösen und sich über Gründe, Motive, Absichten, Erwartungen, Ziele zu verständigen, einschließlich der Möglichkeit zu lügen und – wie bereits dargelegt (vgl. 5.3) – Fehlrepräsentationen/falsche Überzeugungen zu verstehen, um nur einige Aspekte zu nennen. Dabei legt z. B. eine Studie von Grimm (1994) nahe, dass sich Gesprächspartner in der Interaktion und sprachlichen Kommunikation vor allem an den produktiven Sprachfähigkeiten (hier: von Kindern) orientieren – nicht nur mit Blick auf das sprachliche, sondern auch bezogen auf das kognitive Anregungs- und Komplexitätsniveau der Interaktion. Dies zeigte sich daran, dass sich die untersuchten Mütter in der kognitiven Komplexität ihrer Anregungen an dem eingeschränkten Sprachstand und nicht an dem altersgemäßen kognitiven Entwicklungsstand ihrer Kinder orientiert haben. Die möglichen Folgen für die kognitive Entwicklung und Bildung liegen auf der Hand. Auswirkungen sprachlicher Kompetenzen auf die sozial-emotionale Entwicklung werden durch unterschiedlichste Befundmuster nahegelegt; u. a. dadurch, dass Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen hoch anfällig für die Ausbildung sozialemotionaler Folgeprobleme sind, die bis in den psychiatrischen Bereich reichen. Die Vermittlungswege dürften hier vielfältig und komplex sein (vgl. Weinert 2005 für einen kurzen Überblick).
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5.6 Mehrsprachigkeit und Bildung Die Beherrschung von mehr als einer Sprache gilt als wichtiges Bildungsziel. Zugleich wird die Frage nach den Effekten von Mehrsprachigkeit auf Bildung und Bildungsprozesse breit diskutiert. Die Fülle an Facetten dieses Problembereichs kann hier nur angedeutet werden. Diese betreffen z. B. (a) Fragen im Zusammenhang mit Bilingualismus in der Bildung, d. h. der Beherrschung von zwei sprachlichen Kenntnissystemen in einem Ausmaß, das […] gestattet, mit monolingualen Sprechern der einen oder anderen Sprache in einem ‚monolingualen Modus‘ zu kommunizieren (Tracy/Gawlitzek-Maiwald 2000, 497);
(b) Fragen des simultanen Erwerbs mehrerer Erstsprachen und/oder des sukzessiven Erwerbs einer oder mehrerer Zweit- und Fremdsprachen einschließlich der Frage nach alterstypischen Unterschieden, nach potenziellen Transfereffekten zwischen Sprachen, nach Lernprozessen und didaktischen Folgerungen (Klein 2000). (c) Sie schließen auch Fragen des Immersionsunterrichts ein, in dem das Unterrichtsgeschehen in einer anderen Sprache (z. B. Englisch) als der sonst üblichen Mehrheits-/Schulsprache stattfindet (vgl. z. B. Zaunbauer/Möller 2010). Und schließlich geht es (d) um Effekte von Mehrsprachigkeit auf das Lernen weiterer Sprachen, auf metasprachliche und kognitive Fähigkeiten/Leistungen und (e) – z. B. im Zusammenhang mit Migration – um Effekte auf Bildungschancen und Bildungskarrieren, um nur einige Facetten zu erwähnen. Bilingualismus und Mehrsprachigkeit wurden dabei zunächst als Risiko für ein schwächeres Kompetenzniveau in beiden Sprachen und die kognitive Entwicklung (Cummins 1976; 1979), später als Chance für beide Sprachen einschließlich Aspekten der kognitiven Entwicklung, und schließlich heute oftmals aus insgesamt ‚neutralerer‘ Perspektive gesehen (vgl. z. B. Tracy/Gawlitzek-Maiwald 2000). An dieser Stelle können nur einige wenige Aspekte aufgegriffen werden. Heute wird i. d. R. breit betont, dass Kinder im Grundsatz gute Sprachlerner und in der Lage sind, simultan mehr als eine Muttersprache zu erwerben. Auch beim sukzessiven Zweitspracherwerb, bei dem der Erwerb einer zweiten Sprache erst dann beginnt, wenn die Erstsprache bereits in zentralen Aspekten beherrscht wird, erweisen sich Kinder mit Blick auf das langfristig erreichte Leistungsniveau speziell im phonologischen und grammatischen Bereich als kompetente Lerner. Während bei erwachsenen Lernern der (ungesteuerte) Zweitspracherwerb im Bereich der Phonologie und Grammatik oftmals bereits in einem vergleichsweise frühen Stadium ‚fossiliert‘, erreichen viele Kinder nach vorliegenden Studien ein der Muttersprache vergleichbares Endniveau (vgl. Birdsong 1999; Weinert 2004b für einen zusammenfassenden Überblick). Dies führen einige Forscher auf eine sensible Phase des Spracherwerbs zurück; andere argumentieren, dass es die kognitiv-lernpsychologischen, sozial-motivationalen und kommunikativen Bedingungen sind, die Kindern langfristig und mit Blick auf formale Sprachmerkmale einen entsprechenden Vorteil
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verschaffen (vgl. zusammenfassend Weinert 2004b). Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Befunden, die nahelegen, dass Erwerb, Verfügbarkeit und Gebrauch von mehr als einer Sprache positive Wirkungen ausüben, sowohl auf das Erlernen weiterer Sprachen und metasprachlicher Bewusstheit als auch auf bestimmte Aspekte der Kognition, wie etwa die kognitive Flexibilität und bereichsübergreifende, zentral-exekutive Funktionen (speziell: zentral-exekutive Kontrollprozesse bei Konfliktaufgaben; vgl. z. B. Bialystok 2009a; b). Überblicksarbeiten zu Leistungsstärken und -schwächen bilingualer Personen im Vergleich zu monolingualen Vergleichsgruppen zeigen ein komplexes Befundmuster/Leistungsprofil, das sich weder als generell ‚besser‘ oder ‚schlechter‘, noch als ‚indifferent‘ kennzeichnen lässt – dies gilt auch bei guter Beherrschung beider Sprachen und regelmäßiger Nutzung (vgl. Bialystok 2009a; b). Die Befundlage ist darüber hinaus auch deshalb kompliziert, weil Kinder mit Migrationshintergrund, die z. B. Deutsch als Zweitsprache erwerben, oftmals keine für eine angemessene Bildungsbeteiligung ausreichenden Sprachkenntnisse in der deutschen Mehrheitssprache erwerben und in vielfältigen schulischen und bildungsbezogenen Kontexten Schwierigkeiten aufweisen (vgl. Stanat/Rauch/Segeritz 2010). Welche Rolle hierbei die Erwerbskontexte, die individuellen Lernervoraussetzungen (inklusive der Rolle der Erstsprachkompetenzen) sowie Merkmale der jeweils zu erwerbenden Sprachen einschließlich der gesellschaftlichen oder subgruppenbezogenen Wertschätzung derselben spielen, kann trotz wichtiger Befunde sicher noch nicht als aufgeklärt betrachtet werden.
6 Fazit Konzepterwerb, der Erwerb von inhaltlichem und metakognitivem Wissen und die Ausbildung von Fähigkeiten der Selbststeuerung sind wichtige Ziele von Bildung, sowohl von schulischer Bildung als auch des frühen und lebenslangen Lernens. Sprache, Spracherwerb und sprachliche Kommunikation stellen wichtige Einflussvariablen auf entsprechende Entwicklungs- und Bildungsprozesse dar und werden selbst durch diese beeinflusst. Vorliegende Daten verweisen auf die große Bedeutung von Sprache(n), ohne dass einseitige Determinierungen den komplexen Zusammenhängen gerecht werden. Sprachliche Bildung und Förderung werden vor diesem Hintergrund als wichtiges Bildungsziel gesehen, deren effektive Anregung und Umsetzung aber nach wie vor eine Herausforderung für Forschung und Praxis darstellen.
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2. Sprachliche Bildung und entwicklungspsychologische Grundlagen Abstract: Die Untersuchung hat das Ziel, auf Faktoren aufmerksam zu machen, die entwicklungspsychologisch gesehen in sprachlichen Bildungsprozessen eine konstitutive Rolle spielen. Dabei wird heuristisch davon ausgegangen, dass es zwischen individuellen und kulturellen Sprachentwicklungsprozessen eine aufschlussreiche Analogie gibt. In diesem Denkrahmen werden zunächst einige grundsätzliche Aspekte des Bildungsbegriffs erörtert, bevor näher auf die entwicklungspsychologischen Sprachkonzepte von Bühler, Piaget, Wygotski und Bruner eingegangen wird. Auf dieser Basis lassen sich dann anschließend recht gut charakteristische Entwicklungsstrukturen der lexikalischen, grammatischen und textuellen Sprachkompetenz herausarbeiten. 1 Der Problemzusammenhang 2 Der Bildungsbegriff 3 Entwicklungspsychologische Bildungskonzepte 4 Die Ausbildung des kindlichen Sprachvermögens 5 Die Entwicklung der lexikalischen Sprachkompetenz 6 Die Entwicklung der grammatischen Sprachkompetenz 7 Die Entwicklung der textuellen Sprachkompetenz 8 Literatur
1 Der Problemzusammenhang Seit Aristoteles hat man sich die Entwicklungsgeschichte von wandlungsfähigen Phänomenen lange mit Hilfe des Substanz- und des Entelechiegedankens vergegenwärtigt. Dieser Denkansatz besagt, dass entsprechende Phänomene eine natürliche Zweckbestimmung in sich tragen, die gewährleistet, dass die in ihnen angelegten Möglichkeiten auch zu konkreten Wirklichkeiten werden können. Seit wir nun aber in der Tradition von Vico und Herder historisch und in der von Darwin evolutionär denken, ist der Entelechiegedanke als Erklärungskonzept an seine Grenzen gestoßen, da er weitgehend ausblendet, dass Veränderungsprozesse auch zu ganz neuartigen Ordnungszusammenhängen führen können. Das neue Denken legt dagegen nahe, dass Entwicklungsprozesse in Kultur und Natur nicht nur als Entfaltungsprozesse im Hinblick auf ein schon vorgegebenes Ziel zu verstehen sind, sondern auch als Konstitutionsprozesse von ganz neuartigen Ordnungsstrukturen und Ordnungsgestalten.
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Gerade wenn man Natur und Kultur nicht als völlig getrennte Bereiche ansieht, was im Hinblick auf Sprache ja naheliegt, dann sind ganz andere Erklärungskonzepte für Veränderungsvorgänge gefragt. So haben wir bei der Entwicklung der menschlichen Sprachfähigkeit und von flexibel nutzbaren Sprachsystemen sicherlich mit interdependenten evolutionären Prozessen zu rechnen, in denen sich zugleich sowohl bestimmte neuronale als auch sprachliche Ordnungsstrukturen herausgebildet haben. Insbesondere wenn man die Kultur als eine zweite Natur der Menschen ansieht, ohne die diese im Gegensatz zu den Tieren gar nicht überlebensfähig wären, dann kommt man nicht umhin, die Entwicklung der Sprachfähigkeit nicht nur als ein individuelles Entfaltungsgeschehen zu betrachten, sondern zugleich auch als ein gattungsbezogenes Evolutionsgeschehen. Sicherlich ist das gegenwärtige menschliche Sprachvermögen in vielen Hinsichten genetisch verankert, was auch bedeutet, dass der individuelle Spracherwerb ganz bestimmte natürliche Entwicklungsphasen durchläuft. Ebenso sicher ist aber auch, dass wir diesen Entfaltungsprozess unangemessen verstehen, wenn wir ihn nicht auch im Kontext von gattungsbezogenen Evolutionsprozessen betrachten, bei denen man seine Aufmerksamkeit auf alle Faktoren zu richten hat, die bei der Ausbildung des menschlichen Sprachfähigkeit und der konkreten Nutzung von Sprache eine konstitutive Rolle spielen. Vor rund 150 Jahren hat der Biologe Ernst Haeckel das sogenannte biogenetische Grundgesetz formuliert, wonach die Individualgeschichte von Lebewesen (Ontogenese) ihre jeweilige Stammesgeschichte (Phylogenese) in einem Schnellverfahren rekapituliere. Da diese These schon bald heftig umstritten war, spricht man heute nur noch sehr viel vorsichtiger von einer biogenetischen Grundregel oder von einer Rekapi tulationstheorie und versteht beide Konzepte eher als brauchbare heuristische Hypothesen und weniger als gefestigte Theorien. Als Erläuterungsmodell für bestimmte kulturelle Entwicklungsprozesse wie etwa den Spracherwerb hat sich die Analogisierung von Phylogenese und Ontogenese im Sinne eines Echophänomens durchaus bewährt, weil sich durch sie recht gut auf die Interdependenzen von unterschiedlichen Einflussfaktoren in Entwicklungsprozessen aufmerksam machen lässt. Bei der Evolution des Sprachvermögens kann das dann etwa die Interdependenzen zwischen anatomischen bzw. neuronalen und sprachlichen Ordnungsstrukturen betreffen. So hat beispielsweise die anatomische Absenkung des Kehlkopfes beim Menschen und die damit gesteigerte Möglichkeit, sehr unterschiedliche Laute zu artikulieren, nicht nur einen erheblichen Einfluss auf die evolutionäre Entwicklung von Lautsprachen gehabt, sondern auch auf die evolutionäre Entwicklung des Gehirns bzw. von neuronalen Strukturen zur semantischen Verarbeitung von Sprachzeichen. Auch das evolutionär entwickelte Prinzip der Prägung hat sicherlich eine erhebliche Wirkung auf die phylogenetische und ontogenetische Entwicklung des Sprachvermögens gehabt. Mit dem Begriff Prägung bezeichnet man in der Biologie den Umstand, dass bei höher entwickelten Lebewesen nicht alle Regelungsnotwendigkeiten genetisch vorprogrammiert werden müssen, sondern nur die grundlegenden. Für alle
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anderen müssen genetisch nur entsprechende Dispositionen angelegt sein, die dann über ganz bestimmte frühe Erfahrungen von Lebewesen inhaltlich konkretisiert und neuronal stabilisiert werden. Bei der Entwicklung des Sprachvermögens spielen sicherlich neben bestimmten genetisch fixierten Anlagen auch solche frühen Prägungsprozesse durch den Kontakt von Kindern mit sprechenden Menschen eine ganz wesentliche Rolle. Jedenfalls sprechen die Erfahrungen mit sprachlich vernachlässigten Kindern und insbesondere mit Kindern, die isoliert in der Wildnis aufgewachsen sind (Wolfskinder), dafür, dass die Entwicklung der normalen Sprachfähigkeit irreversibel geschädigt wird, wenn Kinder in den ersten Lebensjahren keinen intensiven Sprachkontakt hatten bzw. nicht der Notwendigkeit ausgesetzt waren, mit kulturellen Zeichen umzugehen. Unter diesen Umständen wird die Chance unwiderruflich vertan, über Prägungsprozesse diejenigen synaptischen Vernetzungen von Neuronen im Gehirn herzustellen, die unabdingbare Voraussetzungen für ein differenziertes Sprachvermögen sind. Diese Hinweise haben vielleicht verdeutlicht, dass der Relationsgedanke im Entelechiekonzept nicht so umfassend berücksichtigt wird wie im Evolutionskonzept, da in ihm Variations-, Interaktions-, Rückkoppelungs-, Präge- und Selektionsrelationen nicht so beachtet werden, wie sie es prinzipiell verdienen. Außerdem ist vielleicht klar geworden, dass das Phänomen der sprachlichen Bildung eher in einem funktionalen als in einem substanziellen Sinne verstanden werden sollte und dass ein Wissen um die Phylogenese der Sprache dabei hilft, auch ihre Ontogenese besser zu verstehen und umgekehrt. In beiden Fällen spielt nämlich die Frage nach der pragmatischen Funktionalität der Sprache immer eine viel wichtigere Rolle als die Frage nach ihrem Systemcharakter bzw. dessen allmählicher Ausgestaltung in kontinuierlichen Wachstumsprozessen. Anders ausgedrückt: Das Interesse an der sprachlichen Bildung lässt sich auch aus der These ableiten, dass der Mensch als ein Produkt seiner Produkte angesehen werden kann. Diese These muss nicht unbedingt in einem rein materialistischen Sinn verstanden werden, sondern lässt sich auch evolutionär und entwicklungspsychologisch verstehen. Dann besagt sie, dass der Mensch durch die Entwicklung seiner Sprache bzw. seiner Werkzeuge sich in immer wieder neue Relations- und Funktionszusammenhänge mit der Welt bringen kann und sich gerade durch die damit verbundenen neuen Strukturierungsaufgaben als Mensch konstituiert. Durch ständig neue Analyse- und Syntheseanforderungen bzw. durch ständig neue Differenzierungs- und Integrationsprozesse kann er sich deshalb nicht nur ontogenetisch, sondern auch phylogenetisch weiterentwickeln. Alle Überlegungen zum Phänomen und Begriff der sprachlichen Bildung sollten immer eine individual- bzw. kulturgeschichtliche, eine funktionale bzw. pragmatische und eine biologische bzw. neuronale Orientierung haben, die sich gut über die Frage nach den Prämissen und den Konsequenzen des Sprachgebrauchs konkretisieren lässt. Dabei ist natürlich auch zu berücksichtigen, dass individuelle und kulturelle Entwicklungsprozesse sicherlich viel schneller ablaufen als biologische Evolutions-
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prozesse, die in der Regel nur die Ausbildung von sehr fundamentalen Ordnungsstrukturen betreffen. Die Frage nach der sprachlichen Bildung in entwicklungspsychologischer Sicht ist deshalb nicht nur in einem rein sachsystematischen Sinne zu beantworten, sondern immer auch in einem individual- und kulturpsychologischen. In diesem Zusammenhang ist dann auch zu klären, was wir unter dem Begriff der Bildung zu verstehen haben, welche entwicklungspsychologischen Analysekonzepte wir zu Rate ziehen können und auf welche sprachlichen Einzelkompetenzen wir unser Hauptinteresse richten sollten.
2 Der Bildungsbegriff Da unser Bildungsbegriff vielfältige pragmatische, historische, sprachliche und entwicklungspsychologische Implikationen hat, lässt er sich nicht auf befriedigende Weise normativ definieren. Auf jeden Fall ist offensichtlich, dass wir ihn nicht nur über die Menge des jeweils erworbenen Gegenstandswissens bestimmen sollten, sondern auch über die Fähigkeiten, mit diesem im Sinne eines operationalen Handlungswissens auf fruchtbare Weise umzugehen. Deshalb kann Bildung zu unterschiedlichen Zeiten und bei unterschiedlichen Menschen auch ganz unterschiedliche Strukturen haben. Überlegungen zum historischen und kulturellen Wandel von Bildungsvorstellungen erscheinen auf den ersten Blick etwas randständig für die hier zu behandelnde Problematik zu sein. Sie sind es aber nicht, wenn man bedenkt, dass man komplexe Phänomene nur dann versteht, wenn man auch ihre Genese kennt. Das gilt umso mehr, wenn man annimmt, dass Kinder in ihrem individuellen Entwicklungsprozess den historischen der Menschheit noch einmal in einem Schnellverfahren durchlaufen. In diesem Zusammenhang muss man nicht unbedingt den Fortschrittsoptimismus Hegels teilen, dass im begrifflichen Wissen die höchste Stufe des menschlichen Wissens erreicht werde, auf der dann alle anderen Wissensinhalte und Wissensformen im mehrfachen Sinne des Wortes aufgehoben würden, nämlich beseitigt, bewahrt bzw. hochgehoben (Hegel 1986a, 114). Es genügt zu akzeptieren, dass neues Wissen immer irgendwie an schon vorhandenes Wissen anknüpfen muss, dass es altes Wissen in bestimmten Hinsichten zu differenzieren oder zu akzentuieren versucht und dass in sprachlichen Formen die Ergebnisse der geistigen Anstrengungen früherer Generationen so abgespeichert sind, dass spätere diese als eine Art vorgetaner Arbeit nutzen können. Um sich die verborgenen Schichten unserer Bildungsvorstellungen zu verdeutlichen, ist es hilfreich, sich die etymologischen Hintergründe unseres Bildungsbegriffs zu vergegenwärtigen. Historisch geht unser Terminus Bildung auf das ahd. Verb biliden (einer Sache Gestalt geben) bzw. auf das ahd. Substantiv bilidi (Muster, Vorbild, Urbild, Gottesbild) zurück. In der Mystik ist auf dieser Grundlage dann das
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Verbalsubstantiv bildunge geprägt worden. Dabei folgte man dem Muster, über das Wortbildungsmorphem -unge das Resultat eines Prozesses zu benennen, was sich auch heute noch in Wortprägungen wie Schöpfung, Heilung oder Führung dokumentiert. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nun auch, dass in der Mystik mit dem Wort bildunge insbesondere die resultativ orientierte Anstrengung von Menschen bezeichnet wurde, sich ein Vorstellungsbild von Gott zu machen bzw. sich in Gott zu versenken. Der Prozess der Annäherung an bzw. der Integration in eine höhere Instanz wurde dabei dann auch durch das Verb înbilden thematisiert. Diese Genese des Bildungsbegriffs verdeutlicht einerseits, dass man Bildungsprozesse ursprünglich immer als zielorientierte Prozesse verstanden hat, und andererseits, dass sie immer mit ganz bestimmten Normvorstellungen verbunden waren bzw. mit der Intention, Kontakt mit anderen Seinsdimensionen herzustellen, um sich eben dadurch selbst neue Existenzweisen zu ermöglichen. Die Säkularisierung des Bildungsbegriffs in der Neuzeit hat dessen integrative und normative Grundorientierung nicht aufgehoben, sondern nur von einer religiösen auf eine anthropologische Ebene verlagert, auf der die Ausprägung der Individualität einer Person im Mittelpunkt des Interesses stand. Das exemplifiziert nicht nur Goethes „Wilhelm Meister“ sehr schön, sondern auch ein Aphorismus von Lichtenberg: „Die Welt ist nicht da, um von uns erkannt zu werden, sondern uns in ihr zu bilden“ (Lichtenberg 2005, 779, 898). Auf diese Weise ist im Zeitalter der Aufklärung der Bildungsbegriff zu einem anthropologischen Leitbegriff geworden, insofern durch ihn alle Prozesse und Inhalte zusammengefasst wurden, die den Menschen zu dem machten, was er prinzipiell sein konnte. Insbesondere Herder hat dann nachdrücklich betont, dass die Ausbildung und Aneignung von Sprache als der grundlegende Faktor des Bildungsgeschehens bzw. der Selbstwerdung des Menschen anzusehen sei. Für ihn ist der Mensch im Vergleich mit den Tieren auf konstitutive Weise durch den Mangel an Instinkten geprägt, weshalb er gezwungen sei, sich Kulturordnungen und insbesondere Sprache auszubilden, um seine Defizite an angeborenen Handlungsdispositionen auszugleichen. Dadurch werde er dann zu einem weltoffenen Lernwesen, das sowohl durch eine Lust als auch durch einen Zwang zum Lernen geprägt sei (Herder 1964, 19–29). Auch Hegel hat seinen Begriff der Bildung sehr eng mit dem der Sprache verknüpft, aber darüber hinaus auch in sehr aufschlussreicher Weise mit den Begriffen Entfremdung und Arbeit. Dadurch bekommt der Begriff der Bildung bei ihm eine ganz spezifische Charakteristik, weil er sowohl mit Abstraktions- und Negations- als auch mit Gestaltungsprozessen verknüpft wird. Sein Bildungsbegriff beinhaltet die Fähigkeit, sich geistig von den unmittelbaren Anschauungen, Erfahrungen und Situationen zu lösen, sich Alternativen vorzustellen und nach den Ursachen und Implikationen des faktisch Gegebenen zu fragen. Da für Hegel der Bildungsbegriff unmittelbar mit dem Vermögen des Menschen zu Transzendierungs- und Sinnbildungsprozessen zusammenhängt, wird die Sprache
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für ihn zu einem zentralen Bildungsfaktor, weil sie eine Distanz zu den unmittelbaren Erfahrungen ermöglicht. „Die Sprache ist Ertötung der sinnlichen Welt in ihrem unmittelbaren Dasein […]“ (Hegel 1986b, 52). Das Phänomen der Entfremdung wird für ihn im Hinblick auf das Bildungsgeschehen insbesondere deshalb so wichtig, weil dadurch Konflikte im menschlichen Denkvermögen erzeugt werden, die dazu führen, dass der Mensch von einem Naturwesen zu einem Kulturwesen werden kann. „Der Geist hat seine Wirklichkeit nur dadurch, daß er sich in sich selbst entzweit […]“ (Hegel 1986c, 344). Den Entfremdungsbegriff sieht Hegel eng mit dem Arbeitsbegriff verknüpft, weil auch die Arbeit den Menschen aus seinem unmittelbaren Weltbezug herauslöse, insofern er in ihr über Vorsorgehandlungen die Zukunft antizipiere. Deshalb bestimmt er die Arbeit auch als „g e h e m m t e Begierde“, durch die der Mensch zu sich selbst kommen könne bzw. sich bilde (Hegel 1986d, 153). Die Sprache hat nach Hegel für das Bildungsgeschehen bzw. für den menschlichen Selbstherstellungsprozess aus zwei Gründen eine ganz fundamentale Bedeutsamkeit. Zum einen sei in ihren lexikalischen, grammatischen und textuellen Formen die schon getane Arbeit früherer Generationen hinterlegt, die dann genutzt und fortgeführt werden könne. Zum anderen sei die Sprache nicht nur eine Ursache von Entfremdungsprozessen, weil sie dem Einzelnen ja die Wahrnehmungsperspektiven seiner Vorfahren aufzwinge, sondern immer auch ein Mittel, solche Entfremdungsprozesse durch neue sprachliche Perspektivierungs- und Sinnbildungsprozesse zu überwinden. Das bedeutet, dass es für Hegel letztlich auch unfruchtbar ist, eine wissenschaftliche Idealsprache zu entwickeln, in der es keine Entfremdungs- und Arbeitserlebnisse mehr gibt und in der der produktive Geist eben deshalb dann auch leicht verkümmern kann. „Die Sprache der Zerrissenheit aber ist die vollkommene Sprache und der wahre existierende Geist dieser ganzen Welt der Bildung“ (Hegel 1986e, 384). Deshalb kommt er schließlich auch zu folgendem Schluss: „Der Geist der Entfremdung seiner selbst hat in der Bildung sein Dasein;“ (Hegel 1986e, 391). In diesem Zusammenhang wird nun auch verständlich, warum für Hegel der Gebrauch der Buchstabenschrift und der Grammatikunterricht ganz hervorragende Bildungsmittel sind. Die Buchstabenschrift führe den Geist vom sinnlich Konkreten zur Welt der repräsentierenden Formen, in denen sich ständig Analyse- und Syntheseprozesse konkretisieren könnten (Hegel 1986f, 276). Für den Grammatikunterricht gilt Ähnliches, weil er dazu zwinge, die Sprache von außen zu betrachten und sich von ihrem unmittelbaren kommunikativen Gebrauch zu entfremden. Die Grammatik hat nämlich die Kategorien, die eigentümlichen Erzeugnisse und Bestimmungen des Verstandes zu ihrem Inhalte; in ihr fängt also der Verstand selbst an, gelernt zu werden (Hegel. 1986b, 322)
Typisch für Hegels Bildungsvorstellung ist, dass das Bildungsgeschehen für ihn auf ganz bewussten Anstrengungen beruht. Er zieht kaum in Betracht, dass Bildungsvorgänge auch spielerische Implikationen besitzen. Gerade darauf haben dann aber
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im Kontext ästhetischer, kultureller und sprachpragmatischer Überlegungen Schiller, Huizinga und Wittgenstein hingewiesen. Alle drei betonen, dass im sprachlichen und anthropologischen Bildungsgeschehen das spielerische bzw. das experimentelle Denken eine ganz zentrale Rolle bekomme (Köller 2012, 567 ff.). Diese Überlegungen zu den Dimensionen des Bildungsbegriffs hatten die Funktion, in einer phylogenetischen bzw. anthropologischen Denkperspektive plausibel zu machen, wie sehr der Begriff der Bildung mit dem des Lernens verwachsen ist. Ohne Lernprozesse, die irgendwo zwischen Arbeits- und Spielprozessen einzuordnen sind, und insbesondere ohne sprachliche Lernprozesse können Menschen nicht zu dem werden, was sie potentiell sein können. Um das Problem der Bildung hinsichtlich seiner zentralen Aspekte für didaktische Überlegungen zu strukturieren, hat man zwischen materialen, formalen und kate gorialen Bildungskonzepten unterschieden (Blankertz 1975, Klafki 1975). Das materiale Bildungskonzept will die objektiven Bildungsinhalte einer Kultur erfassen und als verwendbares Arbeitswissen vermitteln, wozu sicherlich auch das implizite und explizite Wissen über Sprache gehört. Dabei stellt sich dann allerdings das Problem, wie man dieses methodisch vermitteln kann, ob sich dabei Inhalte und Methoden klar voneinander trennen lassen und ob ein Lernen auf Vorrat möglich und sinnvoll ist. Dagegen interessiert sich das formale Bildungskonzept weniger für die materialen Lerninhalte selbst, sondern eher für die geistigen Kräfte, die man wie geistige Muskeln an ihnen entwickeln und schulen kann. Auch in diesem Bildungskonzept stellen sich natürlich immer wieder Motivationsprobleme, weil auch hier auf Vorrat gelernt wird und das Lernen nicht immer mit einer unmittelbaren Funktionslust verbunden ist. Das kategoriale Bildungskonzept, das insbesondere von Klafki entwickelt worden ist, stellt in Abgrenzung zu den beiden anderen die Lernprozesse selbst in den Mittelpunkt des Interesses. In diesen sollen die Schüler nämlich die Spannungen zwischen unabweisbaren Objekterfahrungen und gesellschaftlichen Wissensnotwendigkeiten auf der einen Seite mit subjektiven Wissbegierden und Handlungsbestrebungen auf der anderen Seite in ein Fließgleichgewicht bringen. Das bedeutet, dass man sich auch mit der Genese von Wissensinhalten zu beschäftigen hat, weil es ja im Prinzip immer um die Ausarbeitung von Schlüsselbegriffen für den Zugang zu realen und geistigen Welten geht. Damit bekommt das kategoriale Bildungskonzept eine genuine Nähe zu entwicklungspsychologischen Fragestellungen, weil Lernprozesse und insbesondere sprachliche Lernprozesse keine kontinuierliche lineare Verlaufsstruktur haben, sondern auf den verschiedenen Alterstufen von unterschiedlichen Sinnbildungsinteressen geprägt werden können. Zwar ist die Grundfunktion der Verwendung von sprachlichen Zeichen bei Erwachsenen und Kindern recht ähnlich, weil es immer darum geht, Unterscheidungen zu treffen und anderen etwas mitzuteilen bzw. andere zu beeinflussen, aber die dabei wirksamen Faktoren können sich doch erheblich voneinander unterscheiden. Deshalb lohnt es sich, unterschiedliche entwicklungspsychologische
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Bildungskonzepte näher ins Auge zu fassen, die diese Grundproblematik zu strukturieren versuchen.
3 Entwicklungspsychologische Bildungskonzepte Die Thematisierung unterschiedlicher entwicklungspsychologischer Bildungs- und Sprachverwendungskonzepte hat das Ziel, auf Faktoren aufmerksam zu machen, die in phylo- und ontogenetischen Sprachentwicklungsprozessen Einfluss ausüben können. Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als ob die Musterung entsprechender Konzepte von Bühler, Piaget, Wygotski und Bruner nur additiv erfolgt, da sie nicht in eine umfassende Theorie integriert werden. Auf den zweiten Blick kann dann aber deutlich werden, dass diese Konzepte das Interesse zwar auf recht unterschiedliche Merkmale von Sprache bzw. von sprachlichen Bildungsprozessen richten, dass sie aber alle dennoch in einem gemeinsamen Erklärungszusammenhang miteinander stehen. Insofern gleicht die Musterung dieser Konzepte dem Rundgang um eine Skulptur, bei dem man durch seine Eigenbewegung perspektivisch zwar immer neue Aspekte eines Gegenstandes sieht, ohne aber dabei dessen Identität wirklich in Frage stellen zu müssen. Der Psychologe Karl Bühler, der die zentralen Erkenntnisziele der Gestaltpsychologie teilt, interessiert sich für die Sprache nicht als System wie etwa de Saussure, sondern als Werkzeug bzw. genauer als „geformter Mittler“ (Bühler 1965, XXI). Dieses pragmatische Interesse an der Sprache, das zugleich auch ein anthropologisches ist, konzentriert sich darauf, die Sprache als ein Mittel zu thematisieren, mit dem der eine dem anderen etwas über die Dinge miteilen kann. Deshalb ordnet er ihr dann auch eine Ausdrucks-, Appell- und Darstellungsfunktion zu. Phylogenetisch bzw. kulturgeschichtlich hat die Darstellungsfunktion zweifellos ein immer größeres Gewicht bekommen, was der fachsprachliche und wissenschaftliche Sprachgebrauch sehr klar dokumentiert. Aber schon der metaphorische, spielerische, ironische und rhetorische Sprachgebrauch zeigen, dass auch die anderen Funktionen weiterhin wirksam geblieben sind. Die Tatsache, dass die Darstellungsfunktion der Sprache oder gar ihre Abbildungsfunktion eine phylogenetisch relativ späte Verwendungsfunktion von Sprache ist, zeigt sich auch, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die verbale Kommunikation evolutionär aus der gestischen hervorgegangen ist und dass sprachliche Repräsentationshandlungen sich erst nach und nach aus sprachlichen Zeigehandlungen entwickelt haben. Das offenbart der kindliche Sprachgebrauch sehr klar. Erst allmählich erweitern die Kinder ihr Zeichenrepertoire so, dass mit Hilfe der Sprache eigenständige Vorstellungswelten objektivierbar und vermittelbar werden und dass neben dem dialogischen auch der monologische Sprachgebrauch ein immer stärkeres Gewicht bekommt. Das wird dann insbesondere durch die Erfindung und Nutzung der Schrift
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phylogenetisch und ontogenetisch sehr nachhaltig befördert. Popper hat im Hinblick auf diese kulturhistorische Entwicklung dann auch vorgeschlagen, die drei Bühlerschen Sprachfunktionen durch eine Argumentationsfunktion zu ergänzen, durch die der darstellende Gebrauch von Sprache unter die regulative Idee der Wahrheit gestellt werde (Popper 1974, 263). Auf einer noch fundamentaleren Ebene als Bühler setzt Piaget in seinem funktionsorientierten entwicklungspsychologischen Denken an. Er interessiert sich vor allem für die biologischen Grundlagen des Denkens bzw. für die Genese von Wahrnehmungs- und Verständigungsprozessen aus den Interaktionsprozessen eines Organismus mit seiner Umwelt. Kognitive Prozesse versteht er deshalb im Prinzip als eine Fortführung von biologischen Anpassungsprozessen, in denen ein Gleichgewicht zwischen den jeweiligen Subjekt- und Objektwelten hergestellt werden soll. Bei der Analyse von sprachlichen Objektivierungsprozessen macht er weder die vorgegebene Außenwelt noch das strukturierende Subjekt zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen, sondern die möglichen Interaktionsbeziehungen zwischen beiden Instanzen. Deshalb sind für Piaget prinzipiell alle Verfahren interessant, über die Subjekte mit der Welt der Objekte Kontakt aufnehmen können, da er der festen Überzeugung ist, dass beide Größen erst in Interaktionsprozessen ihre spezifische Gestalt bzw. ihr fassbares Profil bekommen. Für die Aufklärung der Interaktionsprozesse zwischen Subjekt- und Objektwelten hat der ehemalige Biologe Piaget nicht zufällig auf die biologischen Analysebegriffe Assimilation und Akkommodation zurückgegriffen, weil er der Meinung ist, dass das geistige Leben im Prinzip als eine evolutionäre Fortentwicklung des biologischen zu betrachten sei. Mit dem Begriff der Assimilation, der ursprünglich die selektive Aufnahme und die funktionelle Einverleibung fremder Inhaltsstoffe in einen Organismus thematisiert, bezeichnet Piaget die spezifische Aufnahme und Verwertung von neuen Wahrnehmungs- und Wissensinhalten in das geistige Leben eines Individuums. Dieser Prozess sei dadurch geprägt, dass nur das erfasst und verwertet werde, was irgendwie in das schon vorhandene Wissen integriert werden könne. Assimilationsvorgänge haben deshalb einerseits immer eine selektive Grundfunktion, weil sich ein Organismus nur das einverleibt, was seinen Bedürfnissen entspricht, und andererseits eine konservative Grundfunktion, weil alles andere ausgeschlossen bzw. marginalisiert wird. Mit dem Begriff der Akkommodation bezeichnet Piaget demgegenüber geistige Prozesse, die entwicklungsgeschichtlich erst dann einsetzen, wenn die ursprünglichen Assimilationsprozesse nicht mehr reibungslos funktionieren bzw. wenn eine lebenspraktische Notwendigkeit oder ein spielerisches Bedürfnis besteht, sie zu ergänzen, zu verändern oder gar zu transzendieren. Das bedeutet, dass Akkommodationsprozesse im Prinzip Umstellungsprozesse sind, um mit veränderten Rahmenbedingungen oder neuen Bedürfnissen mental fertig zu werden. In ihnen verändern Individuen ihre Wahrnehmungsschemata und Wahrnehmungsstrategien, um wieder ein Gleichgewicht zwischen alten Erfahrungen und neuen Umständen bzw. Wissens-
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bedürfnissen herzustellen. Für Piaget greifen deshalb in allen Lebensvorgängen Assimilations- und Akkommodationsprozesse ständig auf dialektische Weise ineinander. „Jede Eroberung der Akkommodation wird also Material für Assimilationen, die sich jedoch unaufhörlich wieder neuen Akkommodationen widersetzen“ (Piaget 1974, 340). Der operative Antagonismus zwischen Assimilationen und Akkommodationen ist sicherlich ein entscheidendes Überlebensprinzip in allen Evolutionsprozessen, der verhindert, dass bestimmte biologische, kulturelle und individuelle Lebensformen erstarren. Die Sprache spielt in solchen Prozessen immer eine ganz entscheidende Rolle, insofern sich in ihren lexikalischen, grammatischen und textuellen Formen ein intersubjektiv verständliches, aber auch transformierbares Wissen angesammelt hat. Das rechtfertigt es dann auch, die Sprache als ein universales Sinnbildungsverfahren zu qualifizieren, in dem man von „endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch“ machen kann (Humboldt 1903a, 99). Zu Piagets Strukturierungskonzept von Assimilation und Akkommodation passt auch die zunächst etwas merkwürdige These des Gehirnforschers Roth, dass das Gedächtnis als „unser wichtigstes Sinnesorgan“ anzusehen sei (Roth 1997, 261). Diese These wird erst dann höchst plausibel, wenn man die in sprachlichen Formen konkretisierten Gedächtnisinhalte als Wissensinhalte betrachtet, die in einem ständigen Interaktionsverhältnis nicht nur mit konkreten praktischen Erfahrungen stehen, sondern auch mit variablen Interpretationsweisen von sprachlichen Objektivierungsformen. So gesehen lässt sich deshalb sowohl der Spracherwerb als auch der Sprachgebrauch prinzipiell als ein Problemlösungs- und Gleichgewichtsbildungsprozess verstehen. Die dabei konkret anfallenden Probleme können onto- und phylogenetisch dann allerdings sehr unterschiedlich ausfallen. Auf jeden Fall lässt sich aber sagen, dass im Rahmen des Assimilations- und Akkommodationskonzeptes Entfremdungs-, Arbeits- und Gedächtnisprozesse immer eine ganz zentrale Rolle spielen. Erst wenn Kinder erfassen, dass ihr unmittelbares Sprachverständnis und ihr unmittelbarer Sprachgebrauch veränderungsfähig und veränderungsbedürftig sind, sind sie auch in der Lage, perspektivisch zu denken und ihren intellektuellen Egozentrismus zu überwinden, was sicherlich auch als ein konstitutives Merkmal sprachlicher Bildung zu werten ist. Obwohl Wygotski das egozentristische Sprechen des Kleinkindes im Gegensatz zum frühen Piaget nicht als Ausdrucksform eines egozentristischen Denkens ansieht, sondern als eine Vorstufe eines inneren Sprechens bzw. des Denkens, so teilt er doch dessen Ansichten von verschiedenen Entwicklungsstufen der kindlichen Denkformen und des kindlichen Sprachgebrauchs. Er nimmt nämlich sehr unterschiedliche Typen von Begriffsbildungsprozessen im Laufe des Spracherwerbs an (Wygotski 1971, 119 ff.; Köller 2004, 144 ff.). Auf der Stufe des synkretistischen Denkens fassten Kinder beispielsweise alle Erfahrungsphänomene unter einem Begriffsmuster zusammen, die für sie dieselbe subjektive Relevanz hätten, obwohl sie für Erwachsene ganz unterschiedlichen
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Seinskategorien angehörten. Beispielsweise kann so gesehen ein Kleinkind alles mit dem Wort burtsa (Geburtstag) zusammenfassen, was ihm angenehm ist. Auf der Stufe des komplexen Denkens könnten Kinder dagegen alles unter einem Begriffsmuster zusammenfassen, was ihnen zeitlich, örtlich oder funktional als zusammengehörig erscheine. Beispielsweise lässt sich dann mit dem Wort öf sowohl ein reales Schwein, das Bild von einem Schwein oder der Stift benennen, mit dem ein Schwein gezeichnet worden ist, weil all diese Phänomene für das Kind in einen Erlebniszusammenhang gehören, obwohl es sie faktisch durchaus zu unterscheiden weiß. Erst auf der Stufe des begrifflichen Denkens orientieren sich die Kinder nach Wygotski an den Objektivierungs- und Differenzierungskriterien, die auch für die Erwachsenen maßgeblich seien. Bruner unterscheidet im Anschluss an Piaget auf modellhaft vereinfachte Weise drei Formen der Weltbegegnung und Weltobjektivierung bei Kindern. Diese drei Formen sind für ihn zugleich drei unterschiedliche Weisen des Hineingleitens von Kindern in die Welt bzw. drei unterschiedliche Manifestationsweisen des Gebrauchs von Sprache. Diese drei Objektivierungsformen bezeichnet er als enaktiv bzw. aktional, als ikonisch bzw. bildlich und als symbolisch bzw. begrifflich. Sie folgten entwicklungspsychologisch zwar aufeinander, sie höben sich aber nicht auf, sondern ergänzten sich vielmehr (Bruner/Oliver/Greenfield 1971, 21 ff.; Bruner 1973). Als enaktive bzw. aktionale Repräsentation von Welt im Denken und Sprechen bezeichnet Bruner eine Kontaktaufnahme von Kindern mit der ihnen begegnenden Welt, die dadurch bestimmt sei, dass die Einzeldinge ihre Gegenständlichkeit erst mit und durch die Handlungen gewönnen, in denen sie erfahren würden, so dass sie gleichsam immer als Bestandteile von Handlungen wahrgenommen würden. Dementsprechend ist dann ein Stein das, was man werfen kann, und ein Vogel das, was fliegen kann. Das ist auch plausibel, weil sowohl Kleinkinder als auch frühe Kulturen sich die Welt nicht kontemplativ über statische Eigenschaftskategorien erschließen, sondern vielmehr aktional über dynamische Handlungskategorien. Deshalb sind für beide dann auch Märchen und Mythen ganz fundamentale und natürliche Formen der sprachlichen Weltobjektivierung. Die ikonische bzw. bildliche Repräsentation von Welt ist für Bruner als zweite Entwicklungsstufe der Weltwahrnehmung dadurch charakterisiert, dass die typisierten visuellen Erfahrungen von Welt im Vordergrund des Interesses stünden. Auf diese Strukturierung der sprachlichen Weltobjektivierung hat ja auch die psychologisch orientierte semantische Prototypentheorie aufmerksam gemacht, nach der für uns eine Amsel eher den Begriff des Vogels exemplifiziert als ein Pinguin. Die ikonische Repräsentation von Welt betrifft dabei nicht nur statische Einzelvorstellungen, sondern auch anschauliche Typisierungen von Handlungsabläufen, wie sie uns beispielsweise in Märchen, Fabeln oder Anekdoten begegnen. Die symbolische Repräsentation von Welt als dritte Stufe der kognitiven Entwicklung von sprachlichen Objektivierungsformen ist nach Bruner dadurch bestimmt, dass Phänomene mit Hilfe von begrifflichen Mustern vergegenständlicht würden, die
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im Rahmen von ganz bestimmten kulturellen Abstraktionsinteressen gebildet worden seien. So lassen sich beispielsweise eine Säge, ein Hammer und ein Bleistift unter der abstrakten Kategorie Werkzeug zusammenfassen, obwohl ihre phänomenalen und funktionalen Merkmale sehr unterschiedlich sind. Diese Verhältnisse lassen sich auch sehr gut an der Entwicklung unseres Naturbegriffs demonstrieren. Dieser deckt sich bei Aristoteles noch weitgehend mit dem, was sinnlich erfahrbar ist, aber in der Neuzeit mehr und mehr mit dem, was sich mit abstrakten Naturgesetzen erfassen lässt. Gerade wenn wir den Prozess der sprachlichen Bildung als einen Vorgang betrachten, in dem sich bei der sprachlichen Objektivierung der Welt die Aufmerksamkeit für die Welt recht erheblich verschieben kann, dann wird zweierlei klar. Einerseits können dieselben sprachlichen Formen für Kinder und Kulturen in unterschiedlichen Entwicklungsphasen auch sehr unterschiedliche Sinnbildungsfunktionen haben. Andererseits kann im Verlauf von Entwicklungsprozessen die Notwendigkeit steigen, neue Sprachformen auszubilden, um neuen kognitiven und kommunikativen Sinnbildungsintentionen adäquaten Ausdruck zu geben.
4 Die Ausbildung des kindlichen Sprachvermögens Zuweilen wird angenommen, dass die Entfaltung des kindlichen Sprachvermögens vom Gebrauch einzelner Wörter über den Gebrauch von Sätzen bis zum Gebrauch von Texten ein vorprogrammierter Prozess sei, der weitgehend den Wachstumsprozessen von biologischen Organismen entspricht. Dieses Denkmodell hat sicherlich hinsichtlich von bestimmten zerebralen Reifungsprozessen eine gewisse Berechtigung. Insgesamt ist es aber zu einfach, weil es die Interdependenzen zwischen biologischen, semiotischen, pragmatischen und kulturellen Einflussfaktoren auf sprachliche Bildungsprozesse nicht angemessen berücksichtigt. Es darf nicht übersehen werden, dass die Sprache ein System von Zeichen ist, das auf intersubjektiv verständliche Weise dazu dient, Sinn zu konstituieren und zu vermitteln, und dass aus eben dieser kognitiven und kommunikativen Funktion bestimmte Postulate für den Spracherwerb, die Sprachentwicklung und den Sprachgebrauch resultieren. Aus diesem Grund wurde schon darauf verwiesen, dass weder das Entelechiekonzept noch die Annahme eines genetisch vorprogrammierten sprachlichen Entwicklungsprozesses das Phänomen der sprachlichen Bildung zureichend strukturieren. In beiden Denkansätzen wird weder der Einfluss von Prägungen noch von pragmatischen Motivationsfaktoren auf sprachliche Bildungsprozesse befriedigend berücksichtigt. Auf jeden Fall lässt sich festhalten, dass sich das Sprachvermögen von Kindern nicht so problemlos entwickelt wie eine Pflanze aus einem Samenkorn und dass pragmatische Einflussfaktoren nicht nur als Auslösefaktoren in Erscheinung treten, sondern auch als Gestaltungsfaktoren. Ein umfassendes Sprachvermögen ent-
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wickelt sich nur auf der Basis eines vielschichtigen Interaktionsverhaltens zwischen einem Individuum und dessen Erfahrungen mit der Welt, mit anderen Individuen sowie mit Kognitions- und Sprachstrukturen. Deshalb ist unter den Spracherwerbstheoretikern wohl auch nicht den Nativisten, sondern eher den Konstruktivisten ein Vorzug zu geben (Szagun 2013, 310 ff.). Im Prinzip haben wir zu beachten, dass das Denken immer eine logische Stufe höher anzusiedeln ist als die Mittel, mit denen es operiert. Diese Struktur zeigt sich deutlich in der Entwicklung sprachlicher Kompetenzen auf der Wort-, Satz- und Text ebene, obwohl zugleich auch gilt, dass etablierte Sprachstrukturen gerade im alltäglichen Sprachgebrauch wiederum das Denken kanalisieren. Semiotisch gesehen kommt dieses Stufungsmodell auch darin zum Ausdruck, dass es in der Sprache immer zwei Typen von Zeichen geben muss, nämlich, wie Humboldt es formuliert, Wörter, „welche die Materie, den Gegenstand, und solche, welche die Form, die Thätigkeit des Denkens betreffen“ (Humboldt 1903b, 438 f.). Etwas abstrakter formuliert lässt sich sagen, dass ein lebendiger Sprachgebrauch von Einwortäußerungen bis zu durchstrukturierten Texten dadurch bestimmt ist, dass es in ihm Grundinformationen gibt, die bestimmte Basisvorstellungen vermitteln, und Interpretationsinformationen, die den kognitiven und kommunikativen Stellenwert dieser Grundinformationen qualifizieren. Dabei kann dann offen bleiben, ob die jeweilige Metainformation durch explizite Interpretationssätze, durch Kommentarwörter, durch grammatische Instruktions-, durch intonatorische und gestische Zusatzzeichen oder durch situative Rahmenbedingungen objektiviert und vermittelt werden. Auf jeden Fall gehört es zur sprachlichen Bildung, dass man diese konstruktive Korrelation von logisch unterschiedlichen Typen von Informationen so rezeptiv und produktiv zu nutzen weiß, dass die Sprache dadurch in einem sehr hohen Maße zu einem autonomen Mittel der Sinnbildung und Sinnvermittlung werden kann.
5 Die Entwicklung der lexikalischen Sprachkompetenz Die Frage nach der Entwicklung der lexikalischen Sprachkompetenz darf nicht auf die Frage nach der Vergrößerung des Vokabulars reduziert werden. Sie sollte vielmehr als Frage nach der Entwicklung von differenzierten Inhaltsvorstellungen angesehen werden, bei der lexikalische Zeichen sehr unterschiedlich akzentuierte Objektivierungsfunktionen übernehmen können. Während Wörter am Ende des kindlichen Spracherwerbsprozesses meist als Repräsentanten von konventionellen Denkmustern bzw. Begriffen in Erscheinung treten, die dann als Bausteine von Aussagen verwendbar sind, dienen sie am Anfang dieses Prozesses eher als Mittel der Aufmerksamkeitslenkung in bestimmten Kommunikationssituationen. Dabei haben Wörter dann primär keine Darstellungs- oder gar Abbildungsfunktion, sondern eher eine
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Zeigefunktion, weshalb für sie auch die Metapher des Lichts aufschlussreicher ist als die des Spiegels. Das bedeutet, dass die Semantik von Wörtern sowohl in einer phylogenetischen als auch in einer ontogenetischen Betrachtungsweise zunächst eher in einem physiologischen und dialogischen Denkrahmen zu bestimmen ist als in einem anatomischen und monologischen, da wir sonst ihre elementaren pragmatischen Funktionen leicht aus den Augen verlieren. Der kategorisierende Gebrauch von Wörtern ist uns heute sicherlich unverzichtbar geworden, aber er ist ursprünglich nicht der anthropologisch wichtigste gewesen, da zunächst nicht die sprachliche Funktion der Darstellung im Mittelpunkt des Interesses stand, sondern eher die Funktionen des Hinweisens, Unterscheidens, Interpretierens und Bewertens. Aus diesen Überlegungen ergeben sich dann mindestens drei fundamentale Konsequenzen für die Beschreibung des Inhalts bzw. der pragmatischen Funktionen von lexikalischen Einheiten: 1. Der semantische Gehalt von Wörtern der natürlichen Sprache darf prinzipiell nicht nur in der Objektsphäre der Welt verankert werden, sondern muss immer auch die Differenzierungs- und Objektivierungsinteressen berücksichtigen, die aus der Subjektsphäre und der Struktur der jeweiligen Kommunikationssituation resultieren. Deshalb hat Bühler auch von einem „empraktischen“ Sprachgebrauch gesprochen (Bühler 1965, 155), und Wittgenstein hat folgende These formuliert: „Und der Begriff ist deshalb im Sprachspiel zu Hause“ (Wittgenstein 1984, 363). Auch der Biologe Lenneberg hat betont, dass Wörter eigentlich als Indizien für ganz spezifische Sinnbildungsanstrengungen anzusehen seien. Wörter sind nicht die Namen für früher einmal abgeschlossene und eingelagerte Begriffe; sie sind die Namen für einen Kategorisierungsprozeß oder eine Familie solcher Prozesse. (Lenneberg 1972, 407)
2. Wenn Wörter als Indizien für menschliche Sinnbildungsanstrengungen Menschen- und Kulturwerk sind, dann dürfen wir bei der Bestimmung einer Wortbedeutung nicht mit einem statischen Klassenbegriff (forma formata) arbeiten, sondern allenfalls mit einem dynamischen Typisierungsbegriff (forma formans), der erst im konkreten Gebrauch seine semantische Schärfe bzw. konkrete Objektivierungsfunktion bekommt. Die semantische Unschärfe von vorgegebenen Wörtern ist so gesehen eine konstitutive Voraussetzung ihrer flexiblen kognitiven und kommunikativen Nutzung, was der metaphorische Sprachgebrauch schlagend exemplifiziert. Begriffsbildungen müssen sich wie Münzen im intersubjektiven Tauschverkehr bewähren, was immer gewisse Vagheiten voraussetzt, aber auch funktionsgerechte Normierungen keineswegs ausschließt. 3. Der Namenhunger von Kindern ist kein bloßer Benennungshunger, sondern letztlich auch ein Wahrnehmungs- und Wissenshunger, insofern Namen als Erinnerungsmarken für Kategorisierungsprozesse bzw. als Überschriften für Erklärungsgeschichten dienen können, in denen man das jeweils Benannte kennenlernen bzw.
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sich dauerhaft vergegenwärtigen kann. Deshalb bevorzugen Kinder im Spracherwerb auch Wörter, die Begriffsmuster mittleren Abstraktionsgrades repräsentieren (Hund), weil diese im Gegensatz zu sehr abstrakten Klassenbegriffen (Säugetier) oder sehr speziellen Unterbegriffen (Pudel) einen Kompromiss zwischen konkreter Anschaulichkeit und semantischer Flexibilität beinhalten, der ihren polyfunktionalen Gebrauch begünstigt. Nur wenn die Semantik von Wörtern nicht absolut konventionalisiert bzw. normiert ist, sondern sich in einem Fließgleichgewicht befindet, hat sie eine wirkliche Bildungsfunktion, weil sie flexible Denkprozesse anregt und das Denken nicht vorschnell kanalisiert. Ein solches hermeneutisches Sprachverständnis ist nun keineswegs eine späte Kulturleistung, sondern eine Leistung, die sowohl frühen Kulturen als auch Kindern kraft ihres kontextgebundenen Sprachverständnisses und ihres intuitiven Sprechens möglich ist. Gerade weil Kinder ein eingeschränktes Vokabular haben, sind sie gezwungen, dieses auf flexible Weise aktiv und passiv zu nutzen, da sie sonst von ihren endlichen Sprachmitteln keinen unendlichen Gebrauch machen könnten. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für einen flexiblen sinnkonstituierenden Sprachgebrauch in Situationen der Ausdrucksnot hat der Physikdidaktiker Wagenschein überliefert. In einer Unterrichtsstunde zum Problem der Schwerkraft hat sich der neunjährige Bernhard folgendermaßen zu einem Experiment mit herabfließendem Wasser in einer Rinne geäußert: „Da fließt’s allein mit dem Gewicht, wie’s auch im Bach fließt, weil alles Wasser nach unten will.“ Der Lehrer fragt: „Weil’s nach unten will?“ Bernhard: „Ja, ich sag’s halt so. Ich weiß, daß das Wasser nicht denkt. ‒ Wir sagen halt so, weil’s so halt leichter zum Denken ist.“ (Wagenschein 1972, 83)
Die Rechtfertigung des eigenen Sprachgebrauchs durch den neunjährigen Bernhard ist sowohl entwicklungspsychologisch als auch sprachtheoretisch höchst aufschlussreich, weil sie zeigt, dass Kinder schon früh ihr Denken und Sprechen metareflexiv begleiten können bzw. ihre Sprache unter Vorbehalt zu nutzen wissen. Über die Brücke von Analogien bzw. über ein metaphorisches Sprechen können sie Denk- und Vorstellungsinhalte sprachlich objektivieren, für die sie noch keine etablierten lexikalischen Formen haben. Die Antwort Bernhards auf die Kritik seiner sprachlichen Darstellungsweise ist einfach genial („Wir sagen halt so, weil’s so halt leichter zum Denken ist.“). Sie zeigt, dass sprachliche Bildung nicht aus einem umfangreichen Inventar von begrifflichen Schemata besteht, sondern in der Fähigkeit zum flexiblen Umgang mit vorhandenen sprachlichen Formen. Das verdeutlicht auch, dass alles Begreifen immer auch ein Produzieren beinhaltet. Diesen Tatbestand hat Boeckh schon im 19. Jahrhundert in seinen Überlegungen zu Hermeneutik klar herausgearbeitet, als er betonte, dass der Sprechende nicht nur „Organ der der Sprache selbst“ sei, sondern die Sprache „zugleich auch Organ der
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Sprechenden“ (Boeckh 1886, 125). Gerade die relative Armut von konventionalisierten lexikalischen Formen scheint Kindern die Chance zu eröffnen, Sprache kreativ zu gebrauchen und sich von ihrem determinierenden Einfluss leichter lösen zu können als Erwachsene. Für sie ist die Sprache ebenso wie für Poeten weniger ein Werk, sondern eher eine Tätigkeit, nämlich „die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen“ (Humboldt 1903c, 47).
6 Die Entwicklung der grammatischen Sprachkompetenz Wenn man die Thesen Bühlers und Humboldts ernst nimmt, dass die Sprache ein „geformter Mittler“ sei und dass sie sowohl sachthematische als auch reflexionsthematische Zeichen besitzen muss, um zu einem relativ autonomen und situationsunabhängigen Sinnbildungsinstrument zu werden, dann spielt natürlich die Ausbildung und Nutzung grammatischer Zeichen in sprachlichen Bildungsprozessen eine ganz zentrale Rolle. Deshalb ist auch danach zu fragen, welche Funktionen sie bei der Konstitution komplexer sprachlicher Sinngestalten haben. Dieser Denkansatz ist nicht ganz so harmlos, wie er auf den ersten Blick erscheint. Er verbietet es nämlich, die Analyse grammatischer Zeichen auf eine bloße Formenlehre zu beschränken, und macht es erforderlich, sie grundsätzlich als Funktionslehre zu konzipieren. Dabei ist dann davon auszugehen, dass sowohl grammatische als auch lexikalische Zeichen uns Instruktionen darüber geben, wie wir unsere Vorstellungsbildungen zu gestalten und zu akzentuieren haben, wobei dann allerdings ganz unterschiedliche Typen von Instruktionen wirksam werden können. Das Inventar grammatischer Zeichen hat sich ebenso wie das lexikalischer evolutionär erst nach und nach ausgebildet und kann deshalb auch in einzelnen Sprachen und bei einzelnen Personen recht unterschiedlich ausfallen. Die morphologische Erscheinungsweise von grammatischen Zeichen kann sehr vielfältig sein. Sie können sich in Form von prosodischen Intonationskurven, von unselbständigen Flexionsmorphemen, von selbständigen Wörtern, von syntaktischen Stellungsmustern usw. repräsentieren. Gemeinsam ist ihnen aber allen, dass sie als Organisationszeichen eine metainformative Interpretationsfunktion für lexikalische Nennzeichen einfacher und komplexer Art haben und dass sie im Gegensatz zu diesen relativ geschlossene Teilmengen bilden, deren Mitglieder eine recht hohe Gebrauchsfrequenz haben. Das berechtigt zu der These, dass grammatische Zeichen funktionell eine Art Skelett bilden, das dem Fleisch der lexikalischen Formen Zusammenhalt und Erscheinungsflexibilität ermöglicht. Die Grammatik wirkt so gesehen in der Sprache auch wie der Stamm bei Bäumen, insofern sie es gestattet, sehr variable lexikalische Kronen auszubilden.
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Dabei ist davon auszugehen, dass grammatische Formen ebenso wie lexikalische letztlich psychologisch und nicht ontisch zu rechtfertigen sind. Deshalb hat Hermann Paul in sprachhistorischer Sicht grammatische Kategorien auch auf psychologische zurückgeführt. Jede grammatische Kategorie erzeugt sich auf Grundlage einer psychologischen. […] Die grammatische Kategorie ist gewissermaßen eine Erstarrung der psychologischen. Sie bindet sich an eine feste Tradition. (Paul 1975, 263, § 180)
Spitzer hat das in einer stilistischen Denkperspektive ganz ähnlich gesehen: „Syntax, ja Grammatik sind nichts als gefrorene Stilistik“ (Spitzer 1961, 517). Die Ähnlichkeit grammatischer Ordnungsmuster quer durch alle Sprachen muss man nicht unbedingt auf angeborene grammatische Universalien zurückführen, was manche Anhänger Chomskys zuweilen nahelegen. Es genügt, sie als pragmatisch motivierte sprachliche Organisationsuniversalien anzusehen, die aus der Ähnlichkeit von grundlegenden kognitiven und kommunikativen Bedürfnissen quer durch alle Kulturen resultieren und für deren Gebrauch sich dann auch evolutionär ganz bestimmte neuronale Strukturen herausgebildet haben. So gibt es in allen Sprachen sicherlich die Notwendigkeit, grammatische Zeichen für die Kennzeichnung von Satztypen und Satzgliedern auszubilden bzw. solche für Negations-, Kausalitäts-, Modalitäts- und Mengeninstruktionen, um die Sprache pragmatisch und ökonomisch sinnvoll nutzen zu können. Aus dieser Sachlage resultiert dann auch, dass in verschiedenen Alterstufen, Kulturen und Sprachen die Grenze zwischen Grammatik und Lexik durchaus anders verlaufen kann. Was in der einen Sprache durch obligatorische grammatische Zeichen zum Ausdruck gebracht wird, das kann in einer anderen durch fakultative grammatische Zeichen oder durch eigenständige metainformative Aussagen kenntlich gemacht werden. Deshalb hat Jakobson auch die folgende These vertreten:„Sprachen unterscheiden sich im wesentlichen durch das, was sie mitteilen m ü s s e n und nicht durch das, was sie mitteilen k ö n n e n“ (Jakobson 1974, 159). Grammatische Muster sind daher auch keine Naturformen der Sprache, sondern ebenso wie lexikalische Muster Kulturformen für bestimmte pragmatische Differenzierungsnotwendigkeiten und Differenzierungsintentionen. Sie haben sich allerdings konventionell stärker verfestigt als lexikalische Muster. Wenn Schaff betont, dass die Sprache als „kondensierte Praxis“ (Schaff 1964, 173) anzusehen sei, dann gilt das nicht nur für das lexikalische, sondern auch für das grammatische Formeninventar einer Sprache. Beide Formtypen müssen zu pragmatischen Bedürfnissen passen wie der Huf des Pferdes auf die Steppe. Die Geburtsstunde von Lexik und Grammatik ist phylo- und ontogenetisch dort anzusetzen, wo in einer sprachlichen Äußerung unterschiedliche Typen von Einzelzeichen fassbar werden, die in einer ganz bestimmten konstruktiven Sinnbildungsrelation zueinander stehen. Das exemplifiziert sich sehr schön, wenn Kinder von
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Einwortäußerungen, die mit gleichem Recht als Einwortsätze oder als Satzwörter angesehen werden können, zu Zweiwortäußerungen übergehen. Dann ergibt sich nämlich die Notwendigkeit, zwischen dem Ganzen und seinen Teilen zu unterscheiden und danach zu fragen, wie sich die Teile konstruktiv zu einem Ganzen zusammenfügen, das ja immer mehr ist als eine bloße Summe von Teilen. Sowohl im Hinblick auf die synthetisierende Sprachproduktion als auch im Hinblick auf die analysierende Sprachrezeption müssen die spezifischen Sinnbildungsrollen von Einzelzeichen deutlich markiert sein. Ein gutes Beispiel dafür, dass einzelne Wörter hinsichtlich ihres kommunikativen Sinns extrem kontextbedürftig sind und dass Wortkombinationen kommunikative Intentionen sehr viel eindeutiger zum Ausdruck bringen können als Einzelwörter, habe ich bei Spracherwerb meiner Tochter beobachten können. Im Alter von knapp zwei Jahren stand sie vor einem verschlossenen Schrank und sagte in einem klar fordernden Tone: „Haben!“. Als ich Unverständnis simulierte, wählte sie die folgende schon viel eindeutigere Variante: „Keks haben.“ Als auch das nichts fruchtete, ging sie zu einer recht eindeutigen Formulierung über: „Elisabeth Keks haben.“ Obwohl auch diese Variante grammatisch noch nicht völlig durchstrukturiert ist, wird doch deutlich, dass die einzelnen Wörter durch ihre Reihenfolge schon deutlich mit den Sinnbildungsrollen eines Subjekts, eines Objekts und eines Prädikats in Verbindung gebracht werden können. Je eindeutiger und je wirksamer Äußerungen werden sollen, desto klarer müssen lexikalische und grammatische Zeichen konstruktiv aufeinander bezogen werden. Wortkombinationen müssen beispielsweise als Prädikationen oder als Attributionen verstanden werden können. Substantive müssen mit Kasusmorphemen versehen werden, um ihre jeweiligen Satzgliedrollen zu kennzeichnen. Verben müssen mit Tempus-, Modus- und Genusmorphemen angereichert werden, um die pragmatische Funktion von Aussagen zu präzisieren, und Einzelaussagen müssen durch Konjunktionen verbunden werden, um ihren jeweiligen pragmatischen Stellenwert zu qualifizieren. Der faktische Gebrauch von konventionell schon etablierten grammatischen Zeichen unterliegt dabei allerdings altersspezifischen Relevanzkriterien. So brauchen Kinder beispielsweise aktiv den Konjunktiv II eher als den Konjunktiv I. Das liegt wohl daran, dass der Konjunktiv II morphologisch besser fassbar ist als der Konjunktiv I und dass er ihnen pragmatisch als grammatisches Signal für eine gänzlich andere Vorstellungswelt auch wichtiger ist als der Konjunktiv I als Signal für die Welt eines anderen bzw. für bloß referierte Informationen. Aus ähnlichen Gründen verwenden Kinder erklärende Kausalkonjunktionen auch früher als intentionale Finalkonjunktionen. Wie grundlegend das grammatische Formeninventar unsere sprachlichen Kommunikationsmöglichkeiten prägt und determiniert, hat Hans Joachim Schädlich auf sehr eindringliche Weise in seiner Geschichte vom Sprachabschneider verdeutlicht (Schädlich 1980; Köller 2006, 429–474). In dieser Geschichte wird erzählt, in welche kommunikativen Turbulenzen ein kleiner Junge gerät, der leichtfertig seine Präposi-
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tionen, bestimmten Artikel und grammatischen Verbmorpheme einem kleinen Männchen überantwortet, das ihm dafür seine ungeliebten Hausaufgaben macht. Auf diese grammatischen Zeichen glaubt der kleine Paul nämlich verzichten zu können, weil er mit ihnen ohnehin keine konkreten Sachvorstellungen verbinden kann, weshalb er sie dann auch für ziemlich überflüssig hält. Erst als er diese Formen nicht mehr verwenden darf, stellt er fest, wie sinnvoll und wie unverzichtbar sie für den Gebrauch von lexikalischen Zeichen bzw. für alle kommunikativen Prozesse sind.
7 Die Entwicklung der textuellen Sprachkompetenz Je mehr lexikalische und grammatische Zeichen zur Verfügung stehen, desto mehr Möglichkeiten gibt es natürlich, komplexe Satz- und Textformen mit einem spezifischen Sinnrelief herzustellen, bei dem Vordergrunds- und Hintergrundsinformationen unterschieden werden können bzw. unterschiedliche pragmatische Funktionen von einzelnen Zeichen. Grundsätzlich ist die Verbindung von Sätzen zu Texten nämlich nicht durch das Additions-, sondern durch das Gestaltungsprinzip geprägt, das strukturell darauf hinausläuft, einen Text immer auch zum Repräsentanten eines Textmusters zu machen, an das wir ganz bestimmte Sinnerwartungen knüpfen. Daraus resultieren dann zugleich spezifische textuelle Normierungstendenzen, die kulturgeschichtlich und entwicklungsgeschichtlich variabel in Erscheinung treten können, insofern sie Ausdruck ganz bestimmter Differenzierungs- und Integrationsanstrengungen sind. Die intuitive und bewusste Kenntnis von Textmustern gehört deshalb ebenso zur sprachlichen Bildung wie die Kenntnis von lexikalischen und grammatischen Sprachmustern. Wenn wir einen Text nicht als eine Manifestation eines bestimmten Texttyps (Fiktion, Argumentation, Gesetz, Satire usw.) wahrnehmen, dann kann es zu erheblichen kognitiven und kommunikativen Missverständnissen kommen. Natürlich sind Texttypen als Kulturformen ständigen Wandlungsprozessen unterworfen, weil sie Antworten auf unterschiedliche sprachliche Objektivierungsbedürfnisse sind. Das Verstehen von Texten beginnt ebenso wie das Verstehen anderer Sprachformen nicht auf einer Nullstufe, sondern ist immer schon von einem bestimmten Vorwissen bzw. von bestimmten Sinnerwartungen geprägt. Deshalb können dieselben Texte von unterschiedlichen Personen bzw. in unterschiedlichen Zeiten auch als Manifestationen von ganz unterschiedlichen Sinnbildungsanstrengungen verstanden werden. Zur sprachlichen Bildung gehören demzufolge dann auch immer hermeneutische Fähigkeiten, die es ermöglichen, konkrete Verstehensbarrieren zu überwinden, fruchtbare Wahrnehmungsperspektiven zu konkretisieren und Hypothesen darüber zu entwickeln, auf welche Fragen Texte Antworten zu geben versuchen.
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Die mit Texten verbundenen historischen und strukturellen Verstehensprobleme kommen exemplarisch besonders gut zur Erscheinung, wenn wir uns mit dem Unterschied zwischen mündlich und schriftlich manifestierten Texten beschäftigen bzw. mit den strukturellen Unterschieden zwischen oralen und literalen Kulturen. Dann zeigt sich nämlich, dass die Schrift nicht nur ein technisches Verfahren ist, um den Gebrauch von Sprache von der Ebene des Hörsinnes auf die des Sehsinnes zu verlagern, sondern dass sie die Sprache zu einem Sinnbildungswerkzeug anderen Typs mit ganz eigenen Kompetenzanforderungen machen kann. Die Besonderheit des schriftlichen Sprachgebrauchs hat schon Platon in seinem berühmten Theut-Mythos über die Erfindung der Schrift im Phaidros-Dialog eindringlich thematisiert (Köller 2006, 158–189). In oralen Kulturen spielt prinzipiell der dialogische Sprachgebrauch eine dominierende Rolle. Das bedeutet, dass alles Sprechen in einem ganz erheblichen Maße situationsverschränkt ist und immer durch gestische, mimische und prosodische Begleitzeichen unterstützt wird. Die Gültigkeit von Mitteilungen wird unter diesen Umständen außerdem in einem hohen Maße durch die konkret sprechende Person legitimiert. Lexikalische und grammatische Sprachformen sind in oralen Kulturen in der Regel spontan verständlich, weil alle Beteiligten über ein recht ähnliches Sprachund Sachwissen verfügen. Etwaige Verstehensprobleme lassen sich durch Nachfragen relativ leicht überwinden. Wenn in oralen Kulturen die Sprache in Mythen und Epen monologisch verwendet wird, dann werden die jeweils verwendeten Denk- und Sprachformen laufend den jeweiligen Bewusstseins- und Wissensständen angepasst, so dass es zu keinen gravierenden sprachlichen Fremdheitserlebnissen kommt, die Assimilationsprozesse erschweren. Die mündlich tradierten Epen sind unter diesen Umständen zugleich immer umfassende Wissensspeicher, in denen sich das ganze geschichtliche, religiöse und naturkundliche Wissen einer Kultur manifestiert und repräsentiert. In literalen Kulturen bekommt dagegen der monologische Sprachgebrauch ein immer größeres Gewicht, so dass sich durchaus die Auffassung vertreten lässt, dass die geschriebene Sprache als eine eigene Ausprägungsform von Sprache neben der gesprochenen anzusehen ist. Diesbezüglich lässt sich insbesondere geltend machen, dass die schriftlich gebrauchte Sprache sowohl aktiv als auch passiv immer zeitgedehnt gebraucht werden kann, was ganz erhebliche Implikationen hat. Sprachliche Äußerungen lassen sich in schriftlicher Form nämlich sehr sorgfältig planen und variabel interpretieren. Schriftlich manifestierte Texte können auch einen vergleichsweise sehr hohen Grad an semantischer Autonomie gewinnen, weil sie von ihren jeweiligen Produzenten und situativen Kontexten relativ unabhängig werden. Das Gesagte kann sich deshalb tendenziell auch leichter als eigenständige Größe vom Vorgang des Sagens emanzipieren. Daher hat Wygotski auch betont, dass die schriftlich gebrauchte Sprache viel situationsabstrakter sei als die mündlich gebrauchte. „Es ist eine auf maximale Verständlichkeit für andere Personen gerichtete Sprache. Alles muß darin bis zu Ende gesagt werden“ (Wygotski 1971, 227 f.).
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Während die mündlich verwendete Sprache in faktischen Kommunikationsprozessen in der Regel spontan erlernt wird, eignet man sich die schriftlich verwendbare weitgehend über den schulischen Unterricht an, der einen mit ihren spezifischen Form- und Gebrauchsnormen bekannt macht. Schriftlich fixierte Äußerungen unterliegen üblicherweise einem erhöhten Geltungs- und Wahrheitsanspruch, weshalb historisch zunächst auch vornehmlich Gesetze und Verträge schriftlich fixiert worden sind, deren Wortlaut man dauerhaft sichern wollte. Während mündlich formulierte Denkinhalte Skulpturen ähneln, die man in unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven und Beleuchtungsverhältnissen auch unterschiedlich wahrnehmen kann, gleichen schriftlich fixierte Denkinhalte eher gemalten Bildern, die von vornherein festlegen, in welchen Perspektiven und Beleuchtungen man das jeweils Dargestellte wahrzunehmen hat. Die schriftliche Fixierung von Denkinhalten wirft nun allerdings auch spezifische Probleme auf, weil die jeweiligen Texte in späteren Zeiten wegen des historischen Sprachwandels oft nicht mehr unmittelbar verständlich sind und deshalb zu Verfremdungserlebnissen führen, die wiederum hermeneutischen Reflexionen erzwingen. Die Interpretation schriftlich fixierter Texte kann deshalb auch als exemplarisch für die Interpretation kultureller Formen aller Art betrachtet werden. Dabei wird nämlich ein bestimmter Habitus eingeübt, der auf die Schulung von analytischen und synthetischen Denkfähigkeiten ausgerichtet ist bzw. auf die Einübung des experimentellen Denkens. Im schriftlichen Sprachgebrauch werden wir in einem viel höherem Maße als im mündlichen dazu gezwungen, uns selbst geistig zu bewegen und spontane Assimilationen durch reflektierte Akkommodationsanstrengungen zu ergänzen. Deshalb ist es auch verständlich, dass im ästhetischen Sprachgebrauch von literalen Kulturen die Sprache selbst immer wieder zu einem mitlaufenden Thema von Sinnbildungsprozessen geworden ist. Das hat dann auch zur Konsequenz gehabt, dass die semantische Vagheit bzw. metaphorische Doppelbödigkeit von Sprachformen oft eher positiv als negativ beurteilt worden ist, insofern sich gerade dadurch das kreative Sinnbildungsvermögen der Leser anregen lässt. Im Kontext der Frage nach den phylogenetischen und ontogenetischen Implikationen der sprachlichen Bildung ist schließlich noch auf einen Umstand aufmerksam zu machen, den insbesondere Bruner und Olson thematisiert haben. Sie unterscheiden nämlich zwischen einem Wissen, das man im direkten Umgang mit der Welt (1. Praxis) erwerben kann, und einem Wissen, das man sich im Umgang mit kulturellen Zeichensystemen und insbesondere mit schriftlich fixierten Texten (2. Praxis) aneignen kann (Bruner/Olson 1974, 306–321). Über die Deuteropraxis fließe den Menschen ein Wissen zu, dass ihnen in ihrer unmittelbaren Erfahrungspraxis üblicherweise weder quantitativ noch qualitativ zugänglich sei. Dabei stellt sich ihnen dann freilich immer auch das bildungstheoretisch nicht unerhebliche Problem, qualifizierend abschätzen zu müssen, wie weit man seinem Wissen aus der 1. und aus der 2. Praxis trauen kann und darf. Don Quichotte ist deshalb vielleicht auch als eine Gestalt zu
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verstehen, an der exemplarisch gezeigt wird, wie sehr das aus Büchern angelesene Wissen, die Wahrnehmung von Welt nicht nur ergänzen, sondern auch gefährden kann.
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3. Zur sprachlichen Bildung aus der Perspektive der Pädagogischen Psychologie Abstract: Der Beitrag stellt pädagogisch-psychologische Perspektiven auf sprachliche Bildung dar. Um zu einem Verständnis der Disziplin zu gelangen, werden methodische Zugänge der Psychologie als empirischer Wissenschaft sowie ihr Blick auf Bildung, Sprache und sprachliche Bildung dargestellt. Es kristallisiert sich heraus, dass der Begriff der Bildung in der Pädagogischen Psychologie selten verwendet wird, seine Inhalte aber in Form von Kompetenz, z. B. Lesekompetenz, wie auch von Literacy Gegenstand der Pädagogischen Psychologie sind. Zwei Teilaspekte der Thematik werden vertieft: Zum einen wird sprachliche Bildung als Wissenserwerb anhand von Texten betrachtet. Herangezogen wird dabei ein kognitionspsychologischer Zugang zum Textverstehen, ergänzend werden die Lesemotivation wie auch Lesestrategien berücksichtigt. Zum anderen wird aus einer sozialisationstheoretischen Perspektive betrachtet, wie Kinder den Zugang zu Sprache finden. Wir fokussieren dabei v. a. auf den Kontext der Familie und betrachten Family-Literacy-Programme. In allen Teilbereichen werden Konzepte der Beschreibung und Erklärung um Interventionsansätze ergänzt. 1 Perspektiven der Pädagogischen Psychologie auf Sprache und Bildung 2 Sprachliche Bildung als Wissenserwerb 3 Sozialisation im Umgang mit Sprache und Schrift 4 Fazit und Ausblick 5 Literatur
1 Perspektiven der Pädagogischen Psychologie auf Sprache und Bildung 1.1 Zugang der Pädagogischen Psychologie Das Verhältnis von Sprache und Bildung als Gegenstand der Pädagogischen Psychologie ist grundsätzlich ein zweiseitiges: Einerseits geschieht Bildung sprachlich, andererseits ist Sprache das Ergebnis von Bildung. Mit der ersten Perspektive blicken wir auf den Aufbau von Bildung im Sinne von Lernen und Wissenserwerb, mit der zweiten darauf, wie Menschen an den Umgang mit geschriebener und gesproche-
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ner Sprache herangeführt werden. Nach einer einleitenden Vorstellung der Pädagogischen Psychologie werden diese Wege und ihre Elemente Sprache, Bildung und sprachliche Bildung im Folgenden dargestellt. Gegenstand der wissenschaftlichen Psychologie sind das Erleben und Verhalten von Menschen und ihre inneren und äußeren Bedingungen (Imhof 2013). Die Pädagogische Psychologie fokussiert dabei auf die „psychische Seite von Erziehung“ (Krapp/ Prenzel/Weidenmann 2006, 24), wie auch von Unterricht. Typische Akteure der Pädagogischen Psychologie sind damit Lerner, Lehrer, Erzieher/-innen, aber auch Medien. Neben diesen intentionalen Einflussnahmen berücksichtigt die Pädagogische Psychologie auch die Sozialisation, die Persönlichkeitsbildung in Auseinandersetzung mit der Umwelt (Hurrelmann/Erhart/Ravens-Sieberer 2010), wie auch bidirektionale Einflüsse. Nicht nur die Erziehenden beeinflussen das Kind, auch das Verhalten des Kindes hat Wirkung auf die Erziehenden bzw. ihr Verhalten, ebenso wie beide von Umgebungsfaktoren beeinflusst werden (Bronfenbrenner 1981). Viele dieser Einflussnahmen geschehen sprachlich. Der Zugang der wissenschaftlichen Psychologie, so auch der Pädagogischen Psychologie, zu ihrem Gegenstand ist in aller Regel ein empirischer. Weit weniger als die Nachbardisziplin der Pädagogik orientiert sich die Pädagogische Psychologie an ihren philosophischen, oft normativen, Wurzeln. Während die Frage der Pädagogik darin liegt, wie erzogen werden soll, beschreibt und erklärt die Pädagogische Psychologie, wie erzogen wird und zu welchem Ergebnis dies führt. Als Anwendungsfach verfolgt die Pädagogische Psychologie darüber hinaus auch das Ziel, optimierend einzugreifen (vgl. Gudjons 2008). Für die genannten Ziele stellt die Psychologie eine Vielzahl empirischer Zugänge zur Verfügung, die als Forschungsstrategien unter anderem hinsichtlich ihrer Untersuchungspläne beschrieben werden können (Bortz/Döring 2009; Klauer 2006). Um einen Ist-Zustand zu beschreiben, können zu einem Messzeitpunkt Daten über den Gegenstand gesammelt werden. Wer etwas über die Lesekompetenz der 15-Jährigen in verschiedenen Ländern erfahren möchte, entwickelt ein Instrument, das möglichst kulturfair Lesekompetenz erfasst, wählt eine repräsentative Stichprobe, die alle Schulformen und Regionen eines Landes berücksichtigt, und organisiert eine groß angelegte Datenerhebung und entsprechende Auswertungen. Dies ist das Vorgehen von PISA (z. B. Prenzel u. a. 2013). Es erlaubt Beschreibungen in Form von Aussagen über Leistungsniveaus, Vergleiche zwischen Ländern, Regionen, Geschlechtern, sozioökonomischem Status der Eltern, Migrationsgruppen etc. Um im nächsten Schritt zu Erklärungen zu gelangen, bedarf es weitergehender Informationen und Analysen: Jungen lesen schlechter als Mädchen. Warum? Gerade das Geschlecht ist eine faszinierende Variable mit hohem gesellschaftlichem Wert. Wenn man sich aber nicht damit zufrieden gibt zu konstatieren, dass Jungen und Mädchen nun mal verschieden sind, gilt es Variablen zu finden, die den Zusammenhang zu erklären vermögen, z. B. unterschiedliche Sozialisation im Elternhaus, Lesemotivation etc. (McElvany/ Becker/Lüdtke 2009). Dabei ist selten eindeutig, welche Variablen ursächlich sind. So
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kann sowohl die Lesemotivation die Lesekompetenz wie auch die Lesekompetenz die Lesemotivation beeinflussen, so dass korrelative Querschnittsanalysen keine kausalen Schlüsse erlauben. Der Königsweg zu methodisch abgesicherten Erklärungen ist daher das Experiment: Eine unabhängige Variable wird kontrolliert manipuliert, um festzustellen, ob sie auf eine abhängige Variable Einfluss nimmt. Um beispielsweise die Hypothese zu prüfen, dass die Lesehäufigkeit die Lesekompetenz positiv beeinflusst, lassen sich zwei Gruppen von Schülerinnen und Schülern bilden, von denen die eine im Unterricht zusätzliche Lesezeit erhält. Führt dies zu einer Verbesserung der Lesekompetenz, ist die Hypothese bestätigt. Damit lässt sich im nächsten Schritt vorhersagen, dass es Kindern, die im Grundschulalter wenig lesen, in der weiterführenden Schule schwerer fallen wird, Wissen aus Sachtexten zu entnehmen. Um dies zu prüfen, ist eine Längsschnittstudie optimal, die Kinder in der Grundschule nach ihrer Lesehäufigkeit befragt und einige Jahre später ihre Lesekompetenz erfasst. Auf der Grundlage erfolgreicher Beschreibung, Erklärung und Vorhersage ist es dann möglich zu optimieren, in diesem Fall anhand von Präventionsprogrammen, die die Freude am Lesen und die Lesehäufigkeit steigern sollen. Nach dem Selbstverständnis der Pädagogischen Psychologie müssen auch diese Programme wiederum empirisch auf ihre Wirksamkeit hin geprüft, d. h. evaluiert, werden. Dies erfordert ein experimentelles Prä-Post-KontrollgruppenDesign mit mindestens zwei Gruppen, wobei eine Gruppe am Präventionsprogramm teilnimmt, die andere als Kontrollgruppe nicht teilnimmt und über mehrere Messzeitpunkte geprüft wird, ob die Programmgruppe sich stärker in ihrer Lesekompetenz verbessert als die Kontrollgruppe. Auf diese Verfahren werden wir im Folgenden zurückkommen, vorab aber die Perspektive der Pädagogischen Psychologie auf Bildung, Sprache und sprachliche Bildung beleuchten.
1.2 Der pädagogisch-psychologische Blick auf Bildung, Sprache und sprachliche Bildung Entgegen der möglichen Erwartung, dass für eine Disziplin, die sich mit Erziehen, Unterrichten und Sozialisation befasst, Bildung ein zentraler Gegenstand ist, ist diese relativ selten explizit behandelt worden. Es wird daher beleuchtet, welchen Blick die Pädagogische Psychologie auf Bildung, auf Sprache und auf sprachliche Bildung hat.
1.2.1 Bildung „Bildung“ kommt in der Pädagogischen Psychologie häufig als Kompositum vor: Bildungsauftrag, Bildungsberatung, Empirische Bildungsforschung, Bildungsstandards, Bildungsqualität, Bildungsverläufe, Bildungssprache etc., findet sich aber als
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eigenständiger Eintrag weder im gängigen Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (Rost 2010) noch in Standardlehrbüchern wie dem von Hasselhorn/Gold (2013). Offensichtlich wird der Bildungsbegriff aus anderen Disziplinen, wie der Erziehungswissenschaft und der Soziologie, dem Alltagsverständnis und der durch sie geprägten Politik an die Pädagogische Psychologie herangetragen, während die Disziplin selbst sich von dem dem Bildungsbegriff zunächst inhärenten geisteswissenschaftlichen Verständnis von Bildung eher abgrenzt (Gräsel/Gniewosz 2011; vgl. aber Bromme/ Kienhues 2008). Dabei ist Bildung, von Brouër/Kilian/Lüttenberg (2015) als „Prozess des Erwerbs von Wissen, Können und Kompetenzen“ wie auch als Produkt in Form von „kulturell als höherwertig angesehene[m] Wissen“ definiert, als Kompetenzerwerb, Wissenserwerb, Lernen etc. ein zentraler Gegenstand der Pädagogischen Psychologie. Nun ist dieser Rückbezug auf den Kompetenzbegriff zwar allgegenwärtig, oft wird auch Bildung durch Kompetenz ersetzt, erfordert aber gerade aufgrund dieser Omnipräsenz wiederum Klärung. Weinert definiert Kompetenz als die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. (Weinert 2001, 27)
Zentral ist: Kompetenzen sind erlernbar, sie bestehen aus kognitiven, motivationalen und sozialen Komponenten. Hinzu kommt, dass Kompetenz, anders als Intelligenz, bereichsspezifisch ist (Grabowski 2014). Die Verschränkung von „Bildung“ und „Kompetenz“ kommt auch in den nationalen Bildungsstandards zum Ausdruck: Bildungsstandards greifen allgemeine Bildungsziele auf. Sie legen fest, welche Kompetenzen die Kinder oder Jugendlichen bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe mindestens erworben haben sollen. Die Kompetenzen werden so konkret beschrieben, dass sie in Aufgabenstellungen umgesetzt und prinzipiell mit Hilfe von Testverfahren erfasst werden können. […] Kompetenzmodelle konkretisieren Inhalte und Stufen der allgemeinen Bildung. (Klieme u. a. 2007, 9)
Bildung wird hier also durch die Formulierung von Kompetenzen operationalisiert und so erfassbar gemacht. Diesem, weil empirischen, typisch psychologischen Anliegen der Messbarmachung von Bildung und Lernerfolg, oft einhergehend mit einer Produktorientierung, wird der Literacy-Begriff gerecht, der durch die internationalen Schulvergleichsuntersuchungen in Deutschland an Einfluss gewonnen hat. Anders als im deutschen Ideal höherer Bildung ist hier eine Grundbildung angesprochen, neben Literacy i.e.S. (Lese- und Schreibfähigkeit) auch in Form von mathematical literacy (Alltagsmathematik), scientific literacy (naturwissenschaftlicher Grundbildung) etc. (Klieme u. a. 2007). Aufgrund des sprachlichen Fokus des Beitrags arbeiten wir im Folgenden mit dem Literacy-Begriff im engeren Sinne. Dieser inkludiert sowohl
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die Grundfertigkeiten des Lesens und Schreibens wie auch Vertrautheit mit Sprache, Schrift und Büchern, Erfahrungen mit diesen und damit einhergehende positive Affekte wie die Freude am Lesen (Panagiotopoulou & Carle 2008).
1.2.2 Sprache Sprache spielt im Setting der Pädagogischen Psychologie zum einen als Medium eine Rolle, z. B. in Form eines Lehrvortrages oder eines Lehrtextes. Zum anderen ist der Umgang mit Sprache ein Ziel des Bildungsprozesses, im Sinne der Bildungsstandards also eine Kompetenz, wie Lesekompetenz oder Schreibkompetenz. Bei der Betrachtung des Kompetenzerwerbs fällt die Asymmetrie von Produktion und Rezeption auf (vgl. Herrmann/Grabowski 1994): Der eindeutig größte Anteil der Forschung entfällt auf die Rezeptionsseite, v. a. bei schriftlicher Modalität mit dem Blick auf die Lesekompetenz. Diese umfasst sowohl die Leseflüssigkeit, die Fähigkeit Buchstaben zu dekodieren (Schneider 2010), wie auch das Leseverstehen, die Sinnentnahme aus dem Text (Schnotz 2010). Im Medium der Mündlichkeit ist die vergleichbare Kompetenz das Hörverstehen, das ebenfalls noch eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich zieht (z. B. Marx/Roick 2012). Dagegen ist der Bereich der Sprachproduktion weniger beleuchtet. Hier spielt wiederum das Medium eine entscheidende Rolle: Thematisiert wird die Schreibkompetenz und als Antwort auch die Schreibdidaktik (Becker-Mrotzek 2014; Kruse/Jakobs/Ruhmann 2003). Dagegen konnte die in der allgemeinen und kognitiven Psychologie in Form von Sprachpsychologie oder Psycholinguistik beheimatete Betrachtung mündlicher Sprachproduktion (Herrmann/Grabowski 1994) jenseits der Instruktionspsychologie mit Sprache als Medium keinen nennenswerten Eingang in die Pädagogische Psychologie finden. An ihre Stelle tritt die übergeordnete kommunikative Kompetenz, die Menschen in die Lage versetzt „in verschiedenen Situationen der mündlichen wie schriftlichen Kommunikation […] handlungsrelevant und zielführend kommunizieren zu können“ (Stahl/Zahn/Seidel 2007, 39). Dies impliziert, innerhalb einer bestimmten Gruppe oder Beziehung angemessen zu interagieren, es erfordert Kreativität und erlaubt, z. B. in Arbeitskontexten, zu Problemlösungen zu gelangen (Erpenbeck/von Rosenstiehl 2007; für eine kritische Analyse des Begriffs siehe Efing 2014).
1.2.3 Sprachliche Bildung Sprachliche Bildung, die Ausbildung von Literacy, der Erwerb von gesprochener und geschriebener Sprache, im weitesten Sinne auch von kommunikativer Kompetenz, geschieht in sehr unterschiedlichen pädagogischen Settings, die sich u. a. im Grad ihrer Formalisierung unterscheiden. Die früheste und stärkste informelle Sozialisationsinstanz ist die Familie. Weitere informelle Sozialisationskontexte sind Peers und
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Medien (Artelt u. a. 2007; Hurrelmann 2004). Schon Anfang der 1980er Jahre betonte Jerome Bruner (1983) mit seinen interaktionstheoretischen Ausführungen zum Spracherwerb die Kommunikationsprozesse in der Familie und setzte damit erste Impulse, dass Spracherwerb kulturgebunden ist. In starker Abhängigkeit von ihrer eigenen Bildungsnähe stellen Eltern Bildungsangebote zur Verfügung (Buhl & Hilkenmeier, in Druck). Im Rahmen des häuslichen Anregungsgehalts in Form von kulturellen Aktivitäten, der Ausstattung mit Büchern, Spielzeug etc. wie auch schulnahen Aktivitäten fördern Eltern ihre Kinder direkt und indirekt (Wild/Lorenz 2010). Dies führt zu den bekannten Leistungsunterschieden in den Schulvergleichsuntersuchungen in Abhängigkeit vom Berufsstatus und dem Ausbildungshintergrund der Eltern (z. B. für PISA Müller/Ehmke 2013). Um den Anforderungen der hochindustrialisierten Gesellschaft gerecht zu werden, braucht es weitere formelle Bildungskontexte. Hier ist primär an Schule zu denken, aber auch der Elementarbereich der Bildung in Kindertagesstätten sowie die tertiäre Bildung an (Fach-)Hochschulen und Berufsakademien rücken allmählich in das Bewusstsein und die Diskussion (z. B. Roßbach 2005). Für alle formellen Bildungskontexte steht das Verhältnis zum familialen Hintergrund zur Debatte. Viele Bildungsangebote zielen dabei auf eine Kompensation fehlender Angebote des Elternhauses ab. Dies wird besonders im vorschulischen und schulischen Setting, z. B. im Aufbau von Ganztagsangeboten, deutlich. Aber auch für den universitären Bereich spielt der Kompensationsgedanke zumindest noch eine Rolle, wenn von der zunehmenden Heterogenität der Studierendenschaft die Rede ist, mit der die Notwendigkeit für Schreib- und Orthografiezentren etc. begründet wird. Im Folgenden wird anhand von zwei Beispielen das Verhältnis von Schriftlichkeit und Bildung aus der Sicht der Pädagogischen Psychologie beleuchtet, zum einen der Erwerb von Bildung in der Auseinandersetzung mit Sprache, hier eingegrenzt auf den Aufbau von Wissen aus Schrift, zum anderen Sprache als Ergebnis von Bildung, am Beispiel von Sozialisation im Umgang mit Sprache und Schrift.
2 Sprachliche Bildung als Wissenserwerb Den Erwerb von Wissen aus geschriebenen oder auch gesprochenen Texten betrachtet die aktuelle Pädagogische Psychologie in Fortsetzung der kognitiven Perspektive als individuelle Wissenskonstruktion. Leser wie auch Hörer bauen auf der Grundlage ihres Vorwissens, ihrer Ziele und Interessen etc. eigenständig Wissen auf (vgl. Köller, Art. 2 in diesem Band). Diese konstruktivistische Perspektive überwindet die mit dem „Nürnberger Trichter“ verbundene Perspektive auf die Lernenden als passive Rezipienten und macht damit zugleich Lehrende zu Lernbegleitern (Reinmann/Mandl 2006; vgl. Osburg, Art. 15 in diesem Band). Die Psychologie betrachtet dabei einige
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für den Bildungsprozess relevante Aspekte, von denen im Folgenden die kognitiven Grundlagen in Form des Textverstehens, die motivationalen Grundlagen mit Blick auf die Lesemotivation und die metakognitiven Grundlagen mit Blick auf Lern- und Lesestrategien dargestellt werden.
2.1 Textverstehen Die Pädagogische Psychologie interessiert sich für das Lesen aus verschiedenen Perspektiven heraus und mit unterschiedlichen Schwerpunkten: Lesefertigkeit, Leseverständnis und Textverstehen. Die Betrachtung der Lesefertigkeit gilt der Dekodierfähigkeit, der Versprachlichung von Schriftzeichen. Betrachtet wird v. a. der Erwerbsprozess der Lesefertigkeit im Kindesalter sowie Formen des kompetenten Lesens (Landerl 2008; Schneider 2010). Was in dieser Form gelesen, also zunächst nur entziffert wird, ist damit noch nicht verstanden. Weitere Zugänge zum Lesen befassen sich daher mit dem Leseverstehen, dem Aufbau von Wissen aus dem gelesenen Text heraus. Gegenstand eines der Psychome trie verpflichteten Ansatzes ist das Leseverständnis, das als Produkt des Leseprozesses erfasst wird. In dieser Tradition stehen psychologische Tests v. a. im Schulleistungsbereich wie beispielsweise der Leseverständnistest ELFE (Lenhard/Lenhard/Schneider 2009), aber auch die Erfassung von Lesekompetenz in empirischen Lernstands erhebungen (Artelt u. a. 2001). Vorgegeben werden Wörter, Sätze, Texte oder auch Abbildungen und Tabellen, deren Verstehen anhand von offenen und geschlossenen Aufgaben geprüft wird. Der dritte Zugang widmet sich dem Prozess des Textverstehens aus einer kognitionspsychologischen Perspektive. Anhand von psychologischen Experimenten wird untersucht, welche Schritte für den Aufbau einer mentalen Repräsentation des Textes erforderlich sind (Schnotz/Dutke 2004). Dieser letzte Zugang gilt also genuin dem Prozess des Wissenserwerbs aus Texten und Abbildungen heraus. Modelle des Textverstehens gehen von verschiedenen Repräsentationsebenen aus, die beim Textverstehen durchlaufen werden (Kintsch 1998; Schnotz 2010): 1) Textoberfläche: sprachliche Details des Textes, 2) Textbasis: semantischer Gehalt des Textes, 3) mentales Modell: mentale Repräsentation des Textgegenstandes, 4) Kommunikationsebene: pragmatischer kommunikativer Kontext, 5) Genreebene: Textsorte und ihre Funktion. Wer also beispielsweise einen Lehrbuchtext liest, hat im ersten Schritt den Text wörtlich repräsentiert, möglicherweise ohne ihn verstanden zu haben. Im zweiten Schritt verblasst die wörtliche Formulierung. Es bleiben Sinneinheiten erhalten, die als Propositionen gedacht werden. So entfallen einzelne Details ebenso wie die Satzstruktur
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(aktiv oder passiv, Reihenfolge der Wörter im Satz, „Wasser“ oder „H2O“). Im dritten Schritt wird der Text mit dem Vorwissen verbunden, so dass der Leser/die Leserin versteht, was er/sie gelesen hat. Es resultiert ein Vorstellungsbild, die mentale Repräsentation dessen, was vom Text verstanden wurde. Hier greift, dass Wissenserwerb eine aktive Konstruktion des Lerners selbst ist, so dass als mentale Repräsentation möglicherweise nicht exakt das, was mit dem Text ausgesagt werden sollte, aber das, was verstanden wurde, resultiert. Die Kommunikationsebene berücksichtigt die Intention des Autors, was auch durch die Genreebene erleichtert wird. So verbindet sich mit dem Genre Werbung eine andere Intention als mit dem Genre Lehrbuch. Wem der Werbecharakter entgeht, läuft Gefahr, die Intention fälschlicher Weise als „Informieren“ statt „Überzeugen“ wahrzunehmen. Aufschluss über den Leseprozess bieten Experimente, welche die Repräsenta tionsebenen separieren. So finden sich überzeugende Evidenzen für mentale Modelle in Reaktionszeitexperimenten: Wenn z. B. beide Objekte syntaktisch denselben Status im Satz haben, dauert es länger, Auskunft über ein Objekt zu geben, von dem sich der Protagonist einer Erzählung entfernt hat, als über ein ihm näher gelegenes Objekt (Rinck/Bower 1995). Zur Frage, was zum verstehenden Lesen erforderlich ist, verweist eine solche kognitionspsychologische Perspektive auf die Übersetzungsprozesse in die jeweils höhere Stufe. Auf den ersten Stufen ist eine schnelle und exakte Worterkennung erforderlich. Im Weiteren braucht es Vorwissen und Inferenzen, die sowohl Elemente des neu zu lesenden Textes untereinander wie auch mit dem Vorwissen verbinden. „Ich hatte heute früh meinen Schirm vergessen und bin ganz nass geworden“, lässt unter Beachtung auch des Vorwissens schlussfolgern, dass es geregnet hat. Die Notwendigkeit von Inferenzprozessen beim Lesen führt auf der Suche nach interindividuellen Unterschieden dazu, dass Intelligenz bzw. „Kognitive Grundfähigkeit“ in PISA sich als Prädiktor für die Leseleistung herausstellt (Artelt u. a. 2001).
2.2 Lesemotivation Die Ausbildung der Motivation lässt sich in der Tradition von Erwartungs-WertModellen konzeptualisieren (v. a. Atkinson 1957, zitiert nach Rheinberg 2006): Motivation für eine Handlung, hier zum Lesen eines Textes, liegt vor, wenn einerseits die Erwartung besteht, die Aufgabe erfüllen zu können, sprich den Text zu verstehen, und andererseits die Aufgabenerfüllung einen Wert hat, sprich es einen Gewinn bringt oder aber Spaß macht, den Text zu lesen. Erwartung und Wert beeinflussen die Lesemotivation. Dabei kann unterschieden werden zwischen intrinsischer und extrinsischer Lesemotivation. Intrinsische Lesemotivation kann sich aus dem Inte resse am Gegenstand speisen („Ich lese alles über Pferde“), wie auch aus der Freude am Tun des Lesens tätigkeitsbezogen sein. Extrinsische Lesemotivation resultiert aus äußerem Druck, aber auch aus dem Bedürfnis nach Anerkennung oder dem Wunsch
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im sozialen Vergleich zu bestehen. Sie ist also instrumentell auf ein Ziel ausgerichtet. Beispiele dafür sind: Um gebildet zu sein, muss man „Die Räuber“ gelesen haben oder gut mit Sachtexten in Schule und Studium umgehen können. In Anlehnung an das erweiterte Erwartungs-Wert-Modell von Eccles (z. B. Eccles/ Wigfield/Schiefele 1998) formulieren Möller und Schiefele (2004) ein ErwartungsWert-Modell der Lesemotivation. Die bemerkenswerte Erweiterung im Verständnis von Motivation liegt darin, dass weitere Kognitionen berücksichtigt werden, welche Erwartung und Wert beeinflussen. Direkten Einfluss v. a. auf die Wert-Komponente nehmen naturgemäß das Interesse und die eigenen Ziele, aber auch das Leseselbstkonzept als Teil des akademischen Selbstkonzepts („Ich kann gut lesen“, Schaffner/ Schiefele 2007). Wie erwartbar hängen diese motivationalen Überzeugungen vom sozialen Hintergrund und den eigenen Erfahrungen mit dem Lesen ab. Das erweiterte Modell der Motivation ermöglicht damit auch einen Brückenschlag zur Lesesozialisation (vgl. Abschnitt 3). Diese Zusammenhänge wurden bislang selten in ihrer ganzen Komplexität, jedoch zahlreich in einzelnen Schritten gezeigt. So sehen die PISA-Untersuchungen einen Zusammenhang von Lesekompetenz und Leseselbstkonzept (Lüdtke u. a. 2002): Wer gut lesen kann, hat auch ein gutes Selbstkonzept, schätzt sich also als guten Leser ein. Dabei zeigen sich die Grenzen solcher korrelativer Querschnittsuntersuchungen, da sowohl frühere Leistungen das Selbstkonzept beeinflussen (man spricht vom Skill Development-Ansatz) als auch das Selbstkonzept vermittelt über die weitere Anstrengung etc. die Leistung beeinflusst (Self-Enhancement-Ansatz, Wigfield/Eccles 1992). Um die Stärke der gegenseitigen Beeinflussung festzustellen, bedarf es längsschnittlicher Analysen, in denen das Selbstkonzept wie auch die Lesekompetenz zu mehreren Messzeitpunkten erhoben werden. Auf diese Weise fanden Kammermeyer/ Martschinke (2006) heraus, dass in der ersten Klassenstufe vorrangig das Selbstkonzept die Leistung beeinflusst, während in der dritten und vierten Klassenstufe das Selbstkonzept von den vorangegangenen Leistungserfahrungen beeinflusst wird. Auch die im Modell angenommene Wirkung der Lesemotivation auf die Lesekompetenz vermittelt über die Lesehäufigkeit konnte längsschnittlich von der dritten zur sechsten Klassenstufe bestätigt werden (McElvany/Kortenbruck/Becker 2008).
2.3 Lern- und Lesestrategien Aus den vorangegangenen zwei Teilkapiteln lassen sich bereits wesentliche Voraussetzungen verstehenden Lesens ableiten: Worterkennungsprozesse, Intelligenz, Vorwissen sowie motivationale Variablen wie Interesse und ein positives Leseselbstkonzept (zusammenfassend Richter/Christmann 2002; Streblow 2004; Schaffner 2009). Als weitere Voraussetzung lassen sich u. a. geeignete Lern- und Lesestrategien identifizieren (Artelt u. a. 2001). Diese spielen in pädagogischen Settings eine besondere
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Rolle, da sie erfolgreich gefördert werden können und daher neben der Motivation einen geeigneten Ansatzpunkt für Interventionsprogramme bieten. Voraussetzung für den Einsatz geeigneter Strategien sind Metakognitionen, d. h. das Wissen um diese und die Kontrolle der eigenen Denk- und Gedächtnisprozesse. Beim Lesen und Lernen aus Texten spielt v. a. die prozedurale Komponente von Metakognitionen eine Rolle, das metakognitive Strategiewissen. Dieses ermöglicht es Leser/-innen, relevante metakognitive Aktivitäten durchzuführen: den Lesezweck verstehen; das Wichtigste identifizieren; die Aufmerksamkeit auf das Hauptthema lenken; den eigenen Verständnisprozess beobachten; Korrekturhandlungen bei Verständnisprozessen vornehmen; Zielerreichung prüfen; […]. (Rost/Buch 2010, 511)
Die Relevanz gerade des „Monitorings“ des eigenen Leseprozesses wird daraus ersichtlich, dass schwache Leser/-innen oft keine Verstehenskontrolle durchführen und daher nicht nachbessern können, wenn sie etwas nicht verstanden haben. Die Bedeutsamkeit der Lesestrategien für das Textverstehen und das Lernen aus Texten kann nicht nur über korrelative Studien (Artelt 1999), sondern auch über PräPost-Kontrollgruppendesigns gezeigt werden. Die genannten Lesestrategien sind häufig Teil von Programmen zur Förderung der Lesekompetenz. (Einen Überblick über Förderprogramme geben Streblow 2004 sowie McElvany/Schneider 2009.) Zu ihrer Evaluation wird neben einer trainierten Gruppe auch eine untrainierte Kon trollgruppe vor und nach dem Training untersucht, um Verbesserungen ursächlich auf das Interventionsprogramm zurückführen zu können. Auf diese Weise wurde beispielsweise das im deutschen Sprachraum verbreitete Förderprogramm „Wir werden Textdetektive“ (Gold u. a. 2004) in seiner Wirksamkeit bestätigt. Das Programm dient dem Aufbau von kognitiven und metakognitiven Lesestrategien. Es kann bei Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe im Klassenverband eingesetzt werden. Die Lesestrategien werden anhand von sieben „Detektivmethoden“ vertieft: Überschrift beachten, bildlich vorstellen, Verstehen überprüfen, Wichtiges unterstreichen, Behalten überprüfen etc. Die Evaluation zeigt, dass das Training sowohl eine Verbesserung des Strategiewissens wie auch des Leseverständnisses bewirkt (zusammenfassend Gold/Trenk-Hinterberger/Souvignier 2009). Dieser positive Effekt ist zugleich experimenteller Beleg dafür, dass Lesestrategien das Leseverständnis beeinflussen. Während dieses Programm stark kognitiv orientiert ist und primär die Schülerinnen und Schüler im Blick hat, gehen andere Fördermaßnahmen darüber hinaus und berücksichtigen das Gesamtsetting der Lesesozialisation.
3 Sozialisation im Umgang mit Sprache und Schrift Wie oben schon als Gegenstand der Pädagogischen Psychologie dargestellt, meint die Sozialisation die „Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängig-
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keit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt“ (Geulen/ Hurrelmann 1980, zitiert nach Hurrelmann 1999, 15). Aufbauend auf dieser Grundannahme heißt es für die Lesesozialisation, sie sei die Aneignung der Kompetenz zum Umgang mit Schriftlichkeit in Medienangeboten unterschiedlicher technischer Provenienz (Printmedien, audiovisuelle Medien, Computermedien) und unterschiedlicher Modalität (fiktional-ästhetische und pragmatische Texte). Dabei geht es nicht nur um den Erwerb der Fähigkeit zur Dekodierung schriftlicher Texte, sondern zugleich um den Erwerb von Kommunikationsinteressen und kulturellen Handlungen. (Hurrelmann 1999, 112)
Mit dem Erwerb kultureller Handlungen und Kommunikationsinteressen ist zugleich ein zentraler Aspekt des oben schon angesprochenen Literacy-Gedankens erwähnt: Die Ausbildung zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt. Aus pädagogisch-psychologischer Sicht werden im Folgenden Aspekte der sozialen Umwelt, ihr Einfluss auf den Lesekompetenzerwerb und die damit einhergehenden Möglichkeiten für Interventions- und Präventionsmaßnahmen in den Blick genommen.
3.1 Familiäre Faktoren und Bildungserfolg Seit den ersten Ergebnissen von PISA und IGLU in den Jahren 2000 und 2001 rückt die Familie als zentrale Einflussvariable auf die Lesekompetenz immer mehr in den Vordergrund. Ein hoher Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft wurde mehrfach nachgewiesen (Müller/Ehmke 2013). Unter Beachtung dieser Befunde scheint es insbesondere in Bezug auf die Förderung der sprachlichen Bildung wichtig, sich den Einfluss familiärer Faktoren auf die sprachliche Bildung genauer anzuschauen. Familie ist, wie schon angedeutet, die sowohl früheste als auch wirksamste Instanz in der Lesesozialisation des Kindes (Hurrelmann 2004). In den vergangenen Jahren wurde die Familie bzw. die soziale Umwelt mehrfach explizit in Modelle zur Erklärung von Bildungserfolg (Helmke/Weinert 1997), Textverstehen (Schaffner 2009) und Lesemotivation (Möller/Schiefele 2004) einbezogen. Dabei wird häufig zwischen Struktur- und Prozessmerkmalen unterschieden, wobei die Strukturmerkmale indirekten Einfluss auf den Kompetenzerwerb vermittelt über die Prozessmerkmale nehmen (vgl. McElvany u. a. 2009). So lassen sich unter den Status- und Strukturmerkmalen u. a. der sozioökonomische Status, der Migrationshintergrund, die Familienkonstellation oder die Berufstätigkeit der Mutter zusammenfassen. Dieser steht im positiven Zusammenhang mit dem Buchbesitz, mit den von den Kindern wahrgenommenen lesebezogenen Einstellungen der Eltern und mit der selbst berichteten Kompetenz von Eltern bezüglich der Förderung ihrer Kinder (McElvany u. a. 2009). Unter Prozessmerkmalen versteht man also Faktoren wie den Besitz von Kulturgütern (Buchbesitz), die Bildungsressourcen, die kommunikative und soziale Praxis sowie den Erziehungsstil und die familiäre Lernumwelt. Insbesondere im Hinblick
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auf den Buchbesitz konnte ein Zusammenhang mit dem Wortschatz und der Lesekompetenz von Kindern gezeigt werden. Lesebezogene familiäre Aktivitäten und Kommunikation erscheinen prädiktiv sowohl für die Lesemotivation als auch für das Leseverhalten (McElvany u. a. 2009). Das Vorlesen sowie das gemeinsame Lesen als prä- und paraliterarische Kommunikationsformen in der Lesesozialisation sollen hier noch einmal besonders herausgegriffen werden. In Bezug auf das Vorlesen lassen sich Zusammenhänge mit den Sprachfertigkeiten, der phonologischen Bewusstheit und der späteren Leseleistung des Kindes finden (Evans/Shaw 2008; Sénéchal u. a. 1998). Auch im Bereich der Lesemotivation gibt es deutliche Zusammenhänge mit dem Vorlesen (Richter/Plath 2005), aber auch zwischen dem gemeinsamen Lesen mit den Eltern und elterlichen Einstellungen zum Lesen wurden Zusammenhänge mit der Lesemotivation gefunden (Baker/Sher/Mackler 1997). Ein weiteres wichtiges Prozessmerkmal ist die Kooperation zwischen Elternhaus und Schule. Forschungsergebnisse diesbezüglich sind überwiegend im angelsächsischen Sprachraum zu finden. Ein positiver Zusammenhang zwischen der Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule und dem Leistungszuwachs der Schulkinder ließ sich hier bestätigen (Barnard 2004). Für die Hausaufgabenbetreuung zeigen die Forschungsbefunde, dass sich ein warmes, strukturierendes elterliches Verhalten positiv auf motivationale Variablen des Kindes auswirkt (vgl. Lorenz/Wild 2007). Dieser Einblick in die empirische Befundlage familiärer Einflussfaktoren zeigt, dass der Bildungserfolg von Kindern vom familiären Umfeld, in dem sie aufwachsen, beeinflusst wird. Anhand der Kenntnis von Prozessmerkmalen eröffnen sich im nächsten Schritt insbesondere bei lesebezogenen familiären Aktivitäten und der familiären Kommunikation Möglichkeiten für Prävention und Intervention.
3.2 Family Literacy Genau diese beiden Aspekte, die Kommunikationsprozesse und die lese- bzw. literacy-bezogenen Aktivitäten in der Familie, sind zentral in dem Konzept von Family Literacy. Das Konstrukt Family Literacy wurde zum ersten Mal Anfang der 1980er Jahre von Taylor (1983) benutzt. In ihrer Beobachtungsstudie beschreibt sie die literalen Kommunikationsprozesse in der Familie. Heute wird Family Literacy aus drei Perspektiven beschrieben (vgl. Wasik/van Horn 2012): 1) Family Literacy als die Beschreibung des Gebrauchs literaler Praktiken in der Familie, 2) Family Literacy als die Beschreibung der Zusammenarbeit von Schule und Elternhaus, 3) Family Literacy als generationsübergreifende Interventionsprogramme.
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Im Folgenden wollen wir uns dem Konzept mit seinen Potenzialen zur Prävention und Intervention widmen und dazu die Perspektive von Family-Literacy-Programmen in Deutschland anhand von vier zentralen Unterscheidungskriterien darlegen. Family-Literacy-Programme machen sich die positive Wirkung einer Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule zunutze. Sie integrieren sowohl die Familie als auch die Schule als Sozialisationsinstanzen in ihr Förderkonzept und schaffen somit eine generationsübergreifende Intervention. Zu Family-Literacy-Programmen gibt es mehrere theoretische Überlegungen, die mehr oder weniger nebeneinander stehen. Die Überlegungen stammen überwiegend aus dem angelsächsischen Sprachraum, in dem Family Literacy im Gegensatz zu Deutschland schon weitgehend in der Bildungspolitik verankert ist. So wurde zum Beispiel 2001 in den USA im No Child left behind Act (P. L. 106–110) die rechtliche Grundlage für Family-Literacy-Förderung festgelegt und unter anderem festgehalten, was unter Family-Literacy-Förderung verstanden werden soll (zitiert nach Wasik/van Horn 2012, 7): A: Interactive literacy activities between parents and their children B: Training for parents regarding how to be the primary teacher for their children and full partners in the education of their children C: Parent literacy training that leads to economic self-sufficiency D: An age-appropriate education to prepare children for success in school and life experiences.
Das Modell der Basic Skills Agency, das Anfang der 1990er Jahre in Großbritannien entstand, sieht folgende drei Punkte in der Family-Literacy-Förderung (vgl. Hannon/ Brooks/Bird 2007, 17 f.): Elterntreffen, in denen diese ihre eigenen Lese- und Schreibkompetenzen verbessern [können] und [lernen], ihre Kinder in der Schule zu unterstützen, Kindertreffen (zeitgleich mit den Elterntreffen), in denen ein hochwertiger Vorschulunterricht statt[findet] und die Kinder insbesondere im Schreiben, Sprechen und Lesen gefördert [werden]; und gemeinsame Sitzungen, in denen Eltern die zuvor geübten Aktivitäten mit ihren Kindern ausprobieren [können] und unmittelbar Rückmeldung von den Mitarbeitern [erhalten].
In Deutschland ist das Konzept von Family Literacy v. a. im Elementarbereich verbreitet. Programme an Grund- bzw. weiterführenden Schulen sind rar. Neben Programmen wie HIPPY (Westheimer 2007) und Rucksack (RAA 2012), die insbesondere den frühen Spracherwerb fokussieren, gibt es nur ein größeres Family-Literacy-Programm, das dem Modell der Basic Skills Agency folgt: FLY (Family Literacy) aus Hamburg (Elfert/ Rabkin 2007).
3.2.1 Formen von Family Literacy Zusammenfassend können vier allgemeine Unterscheidungskriterien von FamilyLiteracy-Programmen festgehalten werden: der konzeptuelle Grundgedanke, der Ort,
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die Art und Weise der Förderung und die Zielgruppe. Konzeptuell unterscheiden sich Family-Literacy-Programme dahingehend, ob sie dem Defizit-Ansatz oder dem Enrichment-Ansatz folgen. Dem Defizit-Ansatz folgend herrscht in Programmen der Grundgedanke, Familien mit sozioökonomisch niedrigem Status verfügen gleichzeitig über defizitäre Literacy Praktiken, über wenig ausgebildete Elternkompetenz sowie über ein unzureichendes Wissen bezüglich der effektiven Förderung ihrer Kinder (Caspe 2003). Es gilt hier in den entsprechenden Programmen, diese Defizite auszugleichen. Innerhalb des Enrichtment-Ansatzes besteht die Grundannahme darin, das Wissen, die kulturelle Verankerung und die häusliche literale Praxis der Familien zu verstehen, sie zu akzeptieren und auf den schon bestehenden Kompetenzen aufzubauen und diese zu fördern (Rodriguez-Brown 2011). Hinsichtlich des Ortes kann unterschieden werden, ob Family-Literacy-Programme zu Hause (home-based) oder in Institutionen (center-based) stattfinden. Zum Bespiel begleiten bei HIPPY (Home Instruction for Parents and Preschool Youngsters) semiprofessionelle Mitarbeiterinnen Familien, indem sie wöchentlich bei Hausbesuchen Lernmaterial zur Verfügung stellen (Westheimer 2007). Hingegen kommen die Eltern mit ihren Kindern bei dem Hamburger Projekt FLY in die Schulen. Wird die Art und Weise der Family-Literacy-Förderung betrachtet, kann zwischen einer breit aufgestellten und eher unsystematischen Förderung und einer sehr gezielten systematischen Förderung unterschieden werden. Das eben angesprochene Projekt FLY folgt in dem Sinne einem sehr weit gefassten Leitgedanken. Ziel ist die „Sprach- und Literalitätsförderung unter starker Einbeziehung persönlichkeits- und handlungsorientierter Konzepte“ (Elfert/Rabkin 2007, 34). Im Gegensatz dazu werden im Berliner Eltern-Kind-Leseprogramm gezielt Lesestrategien von Drittklässlern gefördert. Dies geschieht anhand eines systematischen Aufbaus und einer gezielten Abfolge von bestimmten Lesestrategien entsprechenden Fragen, welche die Eltern den Kindern stellen, nachdem ein Text zusammen gelesen wurde (McElvany 2008). In Bezug auf die Zielgruppe unterscheiden sich Programme in der Hinsicht, ob Eltern und Kinder zusammen, getrennt voneinander oder in einer Kombination aus beidem gefördert werden. Abschließend stellt sich die Frage, ab welchem Alter der Kinder die Family-Literacy-Förderung ansetzt. So existieren Family-Literacy-Programme, die schon im Kleinkindalter beginnen, es existieren Programme, die speziell im Kindergarten angesiedelt sind, sowie Programme, die explizit die Phase des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule begleiten. Andere Programme beginnen erst in der Grundschulzeit. Das Programm „LIFE – Lesen in Familie erleben“ begleitet Kinder und deren Eltern im ersten Schuljahr. Vorrangiges Ziel ist die Stärkung der Zusammenarbeit von Schule und Elternhaus im Schriftspracherwerb ab Schulbeginn (Wiescholek/Hilkenmeier/Buhl in Vorb.). Insgesamt ist hier zu beobachten, dass die Dichte der existierenden Family-Literacy-Programme nicht nur in Deutschland, sondern international mit dem Alter der Kinder abnimmt.
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3.2.2 Wirksamkeit von Family Literacy Zur Frage nach der Wirksamkeit von Family-Literacy-Förderung können mittlerweile einige Metaanalysen herangezogen werden. Metaanalysen bieten die Möglichkeit, eine Sammlung von – in unserem Falle – Evaluationsstudien über Family-LiteracyProgramme unter bestimmten Fragestellungen zusammengefasst zu betrachten. Meist legen die Autoren von Metaanalysen bestimmte Kriterien fest, nach welchen sie die (Evaluations-)studien auswählen. Metaanalysen zur Wirksamkeit von FamilyLiteracy-Förderung weisen sehr unterschiedliche Effekte auf die sprachlichen und schriftsprachlichen Kompetenzen nach. So finden van Steensel u. a. (2011) eher einen kleinen Effekt von Family-Literacy-Förderung auf die allgemeinen Literacy Fertigkeiten. Kleine Effekte finden sie ebenfalls in Bezug auf die Verstehensleistungen und die Dekodierfähigkeit. Sénéchal/Young (2008) unterscheiden in ihrer Metaanalyse Family-Literacy-Programme nach der Interaktion, die zwischen Eltern und Kind stattfindet. Insgesamt finden sie einen starken Effekt auf den Lesekompetenzerwerb. Weitere starke Effekte zeigen sich, wenn Eltern ihren Kindern beim Vorlesen zuhören oder wenn Eltern ihre Kinder in bestimmten Lesefertigkeiten schulen. Keinen bedeutsamen Effekt finden Sénéchal/Young (2008), wenn Eltern ihren Kindern vorlesen. Richten wir den Blick wieder zurück auf deutsche Family-Literacy-Programme, so wird sehr schnell ersichtlich, dass bei vielen Programmen Evaluationen formativer Art vorliegen. Beispielweise ergeben sich aus FLYs formativer interner Evaluation, die aus teilnehmender Beobachtung, Interviews und Befragungen von Eltern, Pädagogen und Schulleitung besteht, Ergebnisse zur Implementierung des Programms. So wurde das Projekt aus Sicht der Eltern mit großem Interesse angenommen und Pädagogen stellten einen regelmäßigeren Kontakt mit den teilnehmenden Eltern fest (May/ Eickmeyer 2007). Effekte hinsichtlich der Förderung sprachlicher und schriftsprachlicher Kompetenzen im Sinne einer summativen Evaluation, also einer Überprüfung der Wirksamkeit mit Blick auf die Leseleistung, sind jedoch rar. Es gilt für FamilyLiteracy-Programme das, was ohnehin bei vielen Sprachförderprogrammen bemängelt wird: Besonders über die Effektivität der Förderung und die zugrunde liegenden Wirkprozesse ist wenig bekannt (Redder u. a. 2011; Stanat/Felbrich 2013).
4 Fazit und Ausblick Die Pädagogische Psychologie befasst sich in verschiedenen Forschungsfeldern mit sprachlicher Bildung als Prozess und als Produkt. Dargestellt wurde dies am Beispiel von Lesekompetenz und Family Literacy. Dabei wachsen in den letzten Jahren verschiedene zuvor getrennt verlaufende Forschungsstränge stärker zusammen. Dies gilt beispielsweise für die Forschung zu Lesemotivation und -sozialisation oder zu Textverstehen und Lesekompetenz. Einige Forschungsfragen wie auch der Begriff der
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Bildung selbst werden dabei an die Psychologie von der Soziologie und der Erziehungswissenschaft sowie von Gesellschaft und Politik herangetragen. Der Beitrag der Psychologie zu der hieraus resultierenden Empirischen Bildungsforschung ist v. a. ein empirischer. Die Psychologie trägt mit ihren Forschungsmethoden zur Operationalisierung relevanter Konstrukte wie auch zur Beschreibung, Erklärung und Vorhersage von Phänomenen wie z. B. der Lesemotivation bei. Dies erlaubt ein tieferes Verständnis von Prozessen und in einem nächsten Schritt die Ableitung von Fördermaßnahmen. Diese setzten an Punkten an, die sich als relevante Prädiktoren im Bildungsprozess herausgestellt haben. Dementsprechend konnten im Kapitel bereits einige Präventionsprogramme vorgestellt werden. Nichtsdestotrotz ist der Blick auf Prävention und Intervention in der Pädagogischen Psychologie noch nicht selbstverständlich. Dies führt einerseits dazu, dass Programme im Bildungsbereich theoretisch oft wenig fundiert sind, andererseits dass ihre Wirksamkeit empirisch nicht gut evaluiert ist. Als Beispiel wurden im Kapitel „Family-Literacy“-Programme vorgestellt. Als Gegenmaßnahme wird beispielsweise mit der Bund-Länder-Initiative „Bildung durch Sprache und Schrift“ zur Sprachförderung, Sprachdiagnostik und Leseförderung derzeit versucht, einige der zahlreichen Fördermaßnahmen, die nach PISA 2000 und IGLU 2001 durch viele einzelne Institutionen entstanden sind, aufeinander abzustimmen und systematisch zu evaluieren (vgl. Schneider u. a. 2012). Ein weiteres Forschungsdesiderat wurde ebenfalls bereits kurz angesprochen. Die Forschung fokussiert derzeit, vermutlich auch aus pragmatisch-messmethodischen Gründen, auf Lesekompetenz. Hier wäre gerade unter dem Gesichtspunkt von Literacy als Grundbildung eine stärkere Öffnung hin zu mündlicher Kommunikation als Hör- und Sprachkompetenz wünschenswert. Mit Blick auf die verschiedenen Bildungskontexte wurde im Beitrag ausführlicher auf die Familie eingegangen, die allerdings erst in der neueren Diskussion überhaupt als Bildungskontext gesehen wird. Weitere informelle Bildungskontexte, die noch stärkerer Berücksichtigung bedürfen, sind Medien und Peers. Hinsichtlich formeller Bildungskontexte ist schulische Bildung sowie verstärkt im Rahmen von Bildungsplänen auch die Elementarbildung als solche präsent. Der Bereich der Erwachsenenbildung hinkt hier noch hinterher. Eine Vorreiterrolle nimmt dabei die universitäre Bildung ein, die sich verstärkt auf eine heterogene Studierendenschaft einstellt. Zusammenfassend kann die Pädagogische Psychologie einen essenziellen Beitrag zur Untersuchung sprachlicher Bildung leisten. Voraussetzung und Anforderung an die Disziplin ist es dabei, sich auf komplexe Anwendungskontexte einzulassen, dabei einerseits feinkörnige Mechanismen zu untersuchen und andererseits die gesellschaftlichen Anforderungen im Blick zu behalten.
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4. Sprache, Bildung und soziale Herkunft Abstract: Neben der epistemischen und kommunikativen Funktion wird die Signalfunktion bildungssprachlichen Verhaltens in Geschichte und Gegenwart erörtert. Menschen aus unterschiedlichen sozialen Milieus und Familienwelten partizipieren an dieser Form der Kommunikation quantitativ wie qualitativ in unterschiedlicher Weise. Erfahren Kinder von ihren Eltern Akzeptanz und Unterstützung, sich erzählend, kommentierend und argumentierend an Gesprächen mit Erwachsenen zu beteiligen, können sich bildungssprachliche Kompetenzen entwickeln. In Familien, in denen in geringerem Maße mit Kindern über Gegebenheiten gesprochen wird, die nicht im Wahrnehmungsraum der Sprecher liegen, kann sich ein dekontextualisiertes Sprachverhalten als Basis bildungssprachlicher Kommunikation schlechter ausprägen. Da unterrichtliche Kommunikation einen abstrahierenden, konzeptionell schriftlichen Modus erfordert, ist eine erfolgreiche Beteiligung für Kinder wahrscheinlicher, die an sprachlich ähnlichen Routinen in ihren Familien anknüpfen können. Sie erfahren zwischen familialer und unterrichtlicher Kommunikation eine größere Passung. Kinder, die kaum bildungssprachliche Erfahrungen vor Schulbeginn machen können, benötigen im Unterricht eine einfühlsame, gesichtswahrende lehrerseitige Unterstützung, um sich einen bildungssprachlichen Modus aneignen zu können. 1 Einführende Bemerkungen 2 Bildungssprachliche Kommunikation 3 Andere Zeiten, andere Kulturen, andere Entwicklungen, andere Bildung 4 Sprachlich differenzierende Sozialisation 5 Fazit und Ausblick 6 Literatur
1 Einführende Bemerkungen Sprache, Bildung und soziale Herkunft sind dynamische Konstrukte, die sich ständig in wechselseitigem Bezug zueinander verändern. Der stetige Wandel und die zwischenzeitlichen Ergebnisse dieses Prozesses müssen immer wieder analysiert werden, um zu erkennen, in welche Richtung eine Gesellschaft steuert. Sprache wandelt sich ständig, ist in Varietäten und Registern ausdifferenziert und muss in jeder Gesprächssituation angepasst werden. Was wir unter Bildung verstehen, wird immer wieder neu austariert. Und die soziale Herkunft beruht auf Faktoren wie Beruf, Einkommen,
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Besitz, Schulbildung, Prestige, Lebensstil und Wertorientierung, die ebenfalls einem ständigen Wandel unterliegen und jedes Gespräch beeinflussen. Mit einem kategorialen Zugriff wird man der Dynamik wechselseitiger Bezüge nicht gerecht. Auch der Begriff ‚Bildungssprache‘ führt nur scheinbar weiter, denn er setzt voraus, dass es eine gut beschreibbare sprachliche Wirklichkeit gäbe, die sich dahinter verbirgt. Doch mit Definitionsversuchen und Merkmalslisten läuft man in ähnliche Aporien wie bei dem Versuch in den 1970er Jahren, den von Basil Bernstein (1972) geprägten Begriff ‚elaborierter Code‘ zu fassen. Die Bildungssprache gibt es nicht, aber es lassen sich Phänomene beobachten, die man, abhängig vom jeweiligen Kontext, als bildungssprachlich bezeichnen kann. Ich versuche hier, Phänomene, Entwicklungen und wechselseitige Wirkungen von Sprache, Bildung und sozialer Herkunft zu beschreiben, um so eine Basis für mögliche didaktische Entscheidungen zu gewinnen. Denn das muss im Zentrum didaktisch motivierter Analysen stehen: Möglichkeiten zu erkennen, wie man das Niveau von Sprache und Bildung im Kontext nicht immer günstiger sozialer und kultureller Einflüsse anheben kann. Bildungssprachliches Handeln wird dabei einerseits als ein kommunikativ funktionales Sprachverhalten gesehen, das für Bildungsprozesse förderlich ist, andererseits als ein Mittel, mit dem man Bildung signalisieren kann, um Einfluss und Prestige zu erlangen. Um diese Fähigkeit entwickeln zu können, bedarf es eines didaktischen Kontextes, in dem sie aktiv gefördert wird, zum anderen einen durch die soziale Herkunft geprägten Kontext, in dem sie geschätzt wird und sich als bildungssprachlicher Habitus entwickeln kann.
2 Bildungssprachliche Kommunikation Die Art und Weise, wie man spricht, ist Ausdruck von Individualität und Persönlichkeit. Ob und wie ‚gebildet‘ man ist, lässt sich am Sprachverhalten erkennen. Mit bestimmten Wörtern und Formulierungen lässt sich Bildung signalisieren. In bestimmten Situationen verleihen sprachliche Bildungssignale Äußerungen mehr Gewicht, Autorität und Ansehen. An welche Situationen würde man denken? Vielleicht an Gespräche unter Touristen auf einer Bildungsreise, die sich über die Fundstücke einer Ausgrabung unterhalten, vielleicht an Gäste auf einer Vernissage, die sich über die ausgestellte Kunst äußern, oder an Smalltalk auf einer Party, in denen es um Theater, Film, Museen, Literatur oder um ‚anspruchsvolle‘ Fernsehsendungen geht, aber eher nicht über Politik, Technik oder Fußball. Es kommt offenbar auf Themen und Situationen an, die mit Bildung in Verbindung gebracht werden. Wenn wir uns an solche Gespräche erinnern, dann waren sie meist nur kurz und nicht besonders tiefgründig, aber mit den passenden Wörtern und Formulierungen
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konnte man meist rasch erkennen, mit wem man es zu tun hatte, welches Bildungsniveau ein Gesprächspartner mit seinen Bemerkungen signalisieren konnte. Wem es an fachlichem Wissen mangelt, um inhaltlich mithalten zu können, verfügt doch meist, wenn er zur Gruppe der Gebildeten gehören möchte, über kommunikative Strategien, mit denen Wissenslücken geschickt überspielt werden können, sei es durch Hinweise auf ein ähnliches Thema, durch Themenwechsel, durch interessiertes Nachfragen oder einen anspruchsvollen Scherz. Neben der Signalwirkung, die sich an bildungsaffinen Themen und einer fachlich geprägten Wortwahl festmachen lässt, zeigen sich weitere Merkmale bildungssprachlichen Verhaltens besonders in längeren monologischen Sequenzen, in denen ein komplexeres Geschehen, eine längere Erklärung oder ein Argument formuliert werden müssen. Antworten auf Interviewfragen fallen bei Angehörigen aus höheren sozialen Milieus meist länger, ausführlicher, systematischer und sprachlich differenzierter aus. In der klassischen soziolinguistischen Studie von Schatzman/Strauss (1955), in der amerikanische Bürger einem Reporter nach einer Feuerkatastrophe Auskunft geben sollten, zeigte sich, dass Augenzeugen aus der gebildeten Mittelschicht den Hergang so darstellen konnten, dass sich ein Außenstehender ein klares Bild machen konnte, während Zeugen aus der Unterschicht voraussetzungsloser und emotionaler darüber sprachen, als hätte der Interviewer die Katastrophe selbst miterlebt. Sich in den Kenntnisstand eines Fremden hineinzuversetzen und sprachlich damit adäquat umzugehen, ist offenbar eine Fähigkeit, die von Menschen besser beherrscht wird, die es gewohnt sind, öfter mit Fremden zusammenkommen, eine größere kommunikative Reichweite haben und sich in der Öffentlichkeit artikulieren müssen. Menschen aus unteren sozialen Milieus sind in ihrer Arbeit und Freizeit vorwiegend auf Gesprächskonstellationen beschränkt, in denen sich alle Beteiligten gut kennen, man von gemeinsamen Erfahrungen und Kenntnissen ausgehen kann und deshalb seltener die Notwendigkeit besteht, explizit, deutlich artikuliert und ausführlich zu informieren. Deshalb ist auch in diesen Milieus dialektales Sprechen stärker verbreitet, da in Situationen sozialer Zugehörigkeit und Nähe die Standardsprache als überregionaler Sprache der Distanz weniger funktional wäre. In der vertrauten Atmosphäre können Sprecher aus der Unterschicht mit ihren Arbeitskollegen, Bekannten und Freunden ungeschützt, ohne Vorbereitung und Anstrengung gewissermaßen so sprechen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Die Öffentlichkeit und die damit verbundenen Erfordernisse öffentlichen Sprechens werden eher gemieden, da man befürchtet, den Anforderungen an eine gewählte Ausdrucksweise nicht zu genügen. Das Handicap, sich zu blamieren, weil man die Erwartungen an ein öffentlich adäquates Sprechen nicht erfüllen könnte, wird als unkalkulierbar eingeschätzt. Bildung zahlt sich für ein Individuum nur aus, wenn sie kommunikativ zu einem individuell geprägten sprachlichen Ausdruck kommen kann. Nur dann kann Bildung zum symbolischen Kapital werden (vgl. Bourdieu 2013). Kann Bildung weder mündlich noch schriftlich zum Ausdruck gebracht werden, bleibt sie statisch und trägt
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weder gesellschaftlich noch individuell Früchte. Nur eine im kommunikativen Austausch aktivierte Bildung kann für die kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft und die kognitive eines Individuums förderlich sein und seine Geltung steigern. Wissen, das in unserer Gesellschaft mit Bildung verbunden wird, kann nicht nur als deklaratives Wissen gespeichert werden, sondern muss angemessen kommuniziert werden, um Wirkung erzeugen zu können – aus egoistischen wie altruistischen Motiven. Mit Bildungswissen können Ich-Botschaften gesendet werden, die einen als gebildeten, verantwortlich denkenden und handelnden Bürger erscheinen lassen, der über die Begrenztheit des Hier und Jetzt hinausschauen und bedeutsame Bezüge herstellen kann. Altruistisch gewendet können Zuhörer oder Leser kognitiv angeregt werden, diese gesponnenen Fäden aufzunehmen, um eigenständig zu Erkenntnissen zu kommen. Bildungssprachliches Verhalten wäre somit im doppelten Sinne funktional: Es dient der Selbstdarstellung mit möglichem Prestigegewinn und regt Bildungsprozesse bei Rezipienten an, die sich auf dieses Sprachverhalten einlassen. Bildungssprachliche Formulierungen implizieren auch, dass mit ihnen Strategien des Denkens ermöglicht werden: ein problemlösendes und kritisches Denken, mit dem Erkenntnisse in Frage gestellt und begründbare Einschätzungen und Wertungen abgeben werden können. Hinzu kommen kommunikative Strategien, die man vom Habitus eines gebildeten Bürgers auch erwarten kann: reflexive, metasprachliche und selbstironische Bemerkungen, Distanz zur eigenen Rolle und Biographie, das Überspielen fehlenden Wissens durch geschickten Themenwechsel oder das Setzen witziger Pointen im Rahmen einer flexibel einsetzbaren Smalltalk-Kompetenz. Bildung ist schließlich auch ein ‚soziales Spiel‘. „Im geselligen Verkehr unterstellt jeder dem anderen, dass er gebildet ist, und der andere unterstellt, dass ihm das unterstellt wird“ (Schwanitz 1999, 395). Man sollte ungefähr wissen, was zum Bildungswissen gehört und was nicht. Da dies aber keiner genau weiß, fragt man nicht nach, wenn man etwas nicht kennt oder verstanden hat, sondern tut so, als ob es einem bekannt wäre. Schwanitz (1999, 396) formuliert deshalb pointiert: „Bildungswissen besteht aus Kenntnissen, nach denen man nicht fragen darf.“ Es gebe einen unausgesprochenen Konsens, der ähnlich funktioniere wie in einer Glaubensgemeinschaft, zu der man entweder gehört, weil einem die bedeutsamen Inhalte zumindest einigermaßen vertraut sind, oder von der man ausgeschlossen bleibt. Ein Austausch von Informationen finde in einem Bildungsgespräch nicht statt. Es komme vielmehr darauf an, so aufeinander einzugehen, dass die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Gebildeten nicht in Frage steht. Beherrscht man dieses Spiel jedoch nicht, wird man rasch als ungebildet eingeschätzt. Man reagiert peinlich berührt und wird in Zukunft den weiteren Kontakt mit dem ‚Banausen‘ vermeiden. Hinter bildungssprachlichem Verhalten verbirgt sich offenbar ein ganzes Bündel von Strategien und Taktiken, die man nicht im Unterricht lernen kann. Ein hoch entwickelter bildungssprachlicher Habitus wird anhand vielfältiger Erfahrungen in akademisch geprägten Familien gehobener sozialer Milieus erworben. In der Schule lässt sich dieser Habitus kaum erlernen, allenfalls in privaten Internatsschulen, in
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denen die meisten Schüler ihn von ihren Familien her gewohnt sind und die wenigen Schüler aus unteren sozialen Milieus, die in diesen Schulen Aufnahme finden, ihn sich mit einigem Aufwand aneignen können, allerdings auf die Gefahr hin, sich vom familialen Herkunftsmilieu zu entfremden. Soziale Aufsteiger, die versuchen ihn zu imitieren, fehlt in der Regel die Leichtigkeit. Ihre Performanz wirkt oft angestrengt und bemüht. „Bildung ist“, wie Schwanitz (1999, 394) schreibt, „die Fähigkeit, bei der Konversation mit kultivierten Leuten mitzuhalten, ohne unangenehm aufzufallen.“ Und das gelingt Menschen nur selten, die diese Fähigkeit nicht in ihrer Familie erworben haben. Was man hingegen bei Schülern aus bildungsfernen Familien vielleicht mit einigem didaktischen Aufwand erreichen kann, sind bildungssprachlich geprägte Ausdrucksformen: konzeptionell schriftliche Formulierungen in Gespräch und Rede mit einem entsprechend höheren Anteil an abstrakten Begriffen, differenzierte Formen des Erklärens, Argumentierens und Kommentierens mit nachvollziehbaren Begründungen und die Fähigkeit, Fragen zu stellen, die erkennen lassen, dass man über Hintergrundwissen verfügt und bereits viel verstanden hat, aber noch mehr wissen und verstehen möchte, wobei man aber immer darauf achtet, das Gesicht des Befragten nicht zu verletzen.
3 Andere Zeiten, andere Kulturen, andere Entwicklungen, andere Bildung Was unter Bildung zu verstehen ist, wandelt sich in und mit der Kultur. Und auch die sprachlichen Ausdrucksformen, die mit Bildung einhergehen, verändern sich ständig. Wenn man vom Begriff der Bildung ausgeht, wie er vom deutschen Bürgertum als neuhumanistisches Konzept der Erziehung und Haltung zur Welt in der Aufklärung und Klassik entwickelt wurde, dann lässt sich erkennen, dass die ursprünglich damit verbundene Empfindsamkeit, Innerlichkeit, Belesenheit und auch das gute Benehmen heute kaum noch mit Bildung assoziiert werden, stattdessen wird der Begriff heute zunehmend in die Nähe einer Kompetenz gerückt, mit der Individuen auszustatten sind, damit sie den Anforderungen der Wirtschaft entsprechen. Bildung wird so als Imperativ verstanden, sich in einer Wissensgesellschaft als unternehmerisches Selbst im Prozess lebenslangen Lernens zu verwirklichen (vgl. Bröckling 2007). Mit der Ökonomisierung des Bildungsbegriffs rückt stärker ein Sprachgebrauch in den Vordergrund, der seinen Ursprung im Wirtschaftsleben hat (vgl. Alidusti 2014, 241). Wenn man das Wort und den Begriff Bildung von seinem neuhumanistischen Ursprung abstrahieren und genereller fassen möchte, dann wird man auf den sprachlichen Umgang mit kulturellem Wissen rekurrieren müssen, das zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften bedeutsam und mit bestimmten Verfahren und Modalitäten des Repräsentierens, Bewahrens und Tradierens verbunden ist. Hüter und Bewahrer
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dieses kulturell bedeutsamen Wissens sind Menschen mit herausgehobener Stellung und Herkunft. In primär oralen Gesellschaften sind dies ‚weise‘ Männer, manchmal auch Frauen: Schamanen, Propheten, Rhapsoden oder ‚Big Men‘ mit hohem Prestige und besonderen rhetorischen Fähigkeiten. Ihr Wort hat Geltung in ihrer Gemeinschaft. Ihre Erzählungen, Erklärungen, Kommentare und Ratschläge beruhen auf Erfahrungen, die in ihrer Kultur verankert sind, aber auch innovative Elemente enthalten können. Die hohe Stellung dieser Weisen wird in der Regel von einem oder mehreren Nachkommen übernommen. Der sprachliche Ausdruck ihrer Weisheit unterscheidet sich jedoch fundamental von der Sprache Gebildeter einer literalen Kultur. Sie beruht wesentlich auf der Kenntnis metrisch gebundener Sprache, in der das bedeutsame kulturelle Wissen einer Stammesgesellschaft tradiert wird. Der israelische König Salomon, der als außergewöhnlich weise galt, verfügte über die Kenntnis zahlloser Spruchweisheiten, die er situationsadäquat äußern und so Handlungen beeinflussen und steuern konnte (vgl. Osmer 2008, 87). In literalen Gesellschaften ist die Kenntnis sprichwörtlicher Wendungen zwar noch rudimentär vorhanden. Ihre ursprüngliche Funktion, Probleme in Gesprächen zu bearbeiten, zu weisen Entscheidungen zu gelangen und Einfluss zu gewinnen, ging jedoch verloren. Als Bildungswissen haben diese oral geprägten Kenntnisse heute keine Geltung mehr. Auch die am Hofe Ludwigs XIV. unter Adeligen hoch geschätzte Methode, seine Bildung durch schlagfertig geäußerte Bonmots zu signalisieren, hat mit dem Aufkommen des Bürgertums seine Wirkung eingebüßt. Bürgerliche konnten mit ihren Äußerungen nur Ansehen gewinnen, wenn sie belesen waren und ihre Buchkenntnisse in geeigneter Form einbringen konnten. Je umfangreicher das Wissen, desto höher das Prestige. Diderot hat mit seiner Enzyklopädie dafür den Standard gesetzt. Höfische Gewitztheit in Form von Bonmots wurde dagegen als maniriert empfunden. Ohne ein intensives Studium von Sachliteratur war man kein Homme de lettres. Zunächst stellten Adelige diese Schriftkundigen ein, um sich selbst die Mühe des Buchstudiums zu ersparen. Aber mit dem weiteren Erstarken des Bürgertums und dem Machtverlust des Adels setzte sich die Verfügbarkeit über ein breit gefächertes Textwissen als prestigehaltiges Bildungsziel durch. In Deutschland wurde, wesentlich stärker als in Frankreich oder England, die Kenntnis klassischer Sprachen und belletristischer Literatur zum Ausweis von Bildung; eine Akzentuierung, die vor allem auf Wilhelm von Humboldt zurückzuführen ist. Als preußischer Bildungsreformer hat er versucht, die ständisch geprägte Bildung durch eine „allgemeine Menschenbildung“ zu ersetzen, die allen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, zugute kommen soll. In seinem Rechenschaftsbericht an den König schreibt er: Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach auf-
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geklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hierzu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschieht, von einem zum andern überzugehen. (Humboldt 1809, 218)
Humboldt versteht unter Bildung keine fachlich geprägte Ausbildung, sondern eine Gesinnungs- und Charakterbildung, die sich am ästhetischen Ideal der griechischen Antike orientiert. Im humanistischen Gymnasium als Vorbereitung auf ein Studium soll diese Schulung des Geistes durch das Erlernen des Altgriechischen und Lateinischen in besonderer Weise gefördert werden, also von alten Sprachen, die für ein erfolgreiches Handeln im Alltag kaum Relevanz haben. Der Bedarf an ‚realer‘ Bildung als Vorbereitung auf berufsbildende Bildungsgänge wurde von den parallel zum Gymnasium entstehenden Realschulen, Realgymnasien und Mittelschulen gedeckt, die eine naturwissenschaftlich-technische oder wirtschaftlich-gesellschaftskundliche Ausrichtung bekamen. Die fachliche, am beruflichen Alltag ausgerichtete Bildung an diesen Schulen hat ein deutlich niedrigeres Prestige als die humanistische Bildung mit ihren alltagsfernen Vorstellungen einer idealisierten hellenistischen Kultur, die Schülern trotz aufwändiger und mühsamer Übersetzungen des Altgriechischen letztlich fremd bleiben mussten. Aber genau dieser hohe sprachliche und literarische Aufwand, sich mit schwer verständlichen Texten aus einer versunkenen Kultur über lange Zeit auseinanderzusetzen, signalisiert einen zweckfreien Luxus, der als Ausweis hoher Bildung gelten konnte, da er schwer zu erreichen ist. Der „Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann“, den Humboldt geradezu generös erwähnt, soll „ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger“ werden, aber klassische Bildung mit seinen altsprachlichen Handicaps wurde ihm dann doch vorenthalten, damit die Standesunterschiede gewahrt blieben. Bauern und Tagelöhner werden von Humboldt nicht erwähnt. Bildung war offenbar für diese Menschen nicht vorgesehen. Die enge Verbindung von sozialer Herkunft und Bildung bleibt mit der preußischen Schulreform bestehen, ja wird noch verstärkt, da das humanistische Bildungsideal klassische Sprachen und die damit verbundenen grammatisch anspruchsvollen Übersetzungen ins Deutsche und das Interpretieren literarischer Texte nach einem reflexiven, standardsprachlichen, konzeptionell schriftlichen Sprachduktus verlangen, den die Schüler mit der entsprechenden Herkunft bereits im Elternhaus erwerben und im altsprachlichen oder später auch im neusprachlichen Gymnasium weiter entwickeln können. Die mit den PISA-Studien hierzulande ermittelten außergewöhnlich großen sozial bedingten Unterschiede lassen sich m. E. auf ein gegliedertes, selektives Schulwesen zurückführen, in dem die Zugänge zu höherer Schulbildung stark von diesen bildungssprachlichen Fähigkeiten abhängen. Die Naturwissenschaften hingegen, die etwa in Großbritannien (als ‚science‘) höchstes Ansehen genießen, spielen seit den von Humboldt durch Sprache und Kunst (‚arts‘) geprägten Bildungsvorstellungen immer noch eine vergleichsweise geringere Rolle. Wer in Deutschland nur über wenig mathematische oder naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügt,
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kann dennoch als gebildet gelten, wenn er sich über Gerhard Richter oder Franz Kafka sprachlich differenziert äußern kann. ‚Doing gebildet‘, sich als ‚gebildet‘ darstellen, ist kultur- und kontextabhängig. In bestimmten sozialen Situationen (Vernissage, Party) mit bestimmten Gesprächsteilnehmern (Akademiker und Künstler) und in bestimmten Räumen (Museum, Theater) wird erwartet, in einem gebildeten Duktus zu interagieren. Die Regeln für die Abläufe derartiger Gespräche sind von Kultur zu Kultur unterschiedlich. In England wäre es auf einer Party beispielsweise nicht sinnvoll, über einen knappen, oft witzig geprägten Austausch hinaus, mit dem man seine Bildung auch im Sinne eines humorvollen, gesellschaftlich akzeptierten Weltbürgers signalisiert, in ein längeres, vertieftes, durch Bildungswissen geprägtes Gespräch einzutreten. In Deutschland würde man hingegen als besonders gebildet gelten, wenn man länger beim Thema bleibt und es intensiv erörtert. Mit dieser Strategie könnte man sich auf einer englischen Party rasch als ein penetranter Deutscher outen, den man kaum als gebildet akzeptieren würde. Wieder wird deutlich: Deklaratives kulturelles Wissen ist nutzlos, wenn man nicht weiß, in welchen Situationen es wie zur Sprache gebracht werden kann. Während zum westlichen Bildungsideal, besonders in Deutschland, der scharfsinnige Dialog, das Ringen um Wahrheit in der Debatte, aber auch im Streit gehört, also das Ideal einer Streitkultur, wie sie in der griechischen Antike in rhetorisch geschulten Formen entwickelt wurde, ist das asiatische Bildungsideal, insbesondere das von Konfuzius geprägte chinesische, am Konsens orientiert. Nicht die scharfsinnige Auseinandersetzung, in der sich jeder Einzelne durch geschliffene rhetorisch geformte Argumente auszeichnen kann, ist dort gefragt, sondern das gemeinsame Bemühen um Harmonie in der Gemeinschaft. Migranten mit einer fremdkulturellen Herkunft haben oft nicht das kulturspezifische Wissen, um zu erkennen, welche Inhalte in welchem Darstellungsmodus erwartet werden, um von autochthon Gebildeten akzeptiert und geschätzt zu werden. Dietrich Schwanitz (1999, 476–483) weist auf Wissensbereiche hin, die man besser nicht wissen sollte, um nicht als ungebildet zu gelten. Beispielsweise würde ein Wissen über aktuelle Beziehungen in europäischen Fürstenhäusern stigmatisierend wirken. Ähnlich negative Signalwirkung hätte das Wissen über Fernsehunterhaltung, besonders Soaps, Musikshows oder Pöbel-Talkshows, es sei denn, sie haben Kult-Status bekommen oder man nimmt ironisch distanzierend darauf Bezug. Migranten und Menschen aus unteren sozialen Milieus sollten um die stigmatisierenden Wirkungen dieser Bereiche wissen, aber das würde sie keineswegs davon abhalten, diese Formen der Unterhaltung zu goutieren. Seit Beginn des Privatfernsehens haben sie sich stark ausgeweitet. Fernsehunterhaltung prägt immer stärker die Informationsaufnahme in unserer Gesellschaft. Sie verändert den Umgang mit Wissen fundamental. Es wird zunehmend schwieriger zu erkennen, was als Bildungswissen nützlich und wertvoll ist. Das Fernsehen als Medium versucht jegliches Wissen in Unterhaltung zu transformieren (vgl. Postman 1985). Dadurch geht die Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit der Informationsaufnahme, die für die Kultur des Lesens prägend ist, verloren.
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Der vom Medium Fernsehen vorgegebene Modus der Unterhaltung führt auch dazu, dass Wissen anhand besonders interessanter Beispiele aufbereitet und so fraktioniert wird. Es entsteht eine Art Quiz-Wissen, das partiell durch bildmächtige Filmsequenzen angereichert wird, ohne dass Zusammenhänge konstruiert und langfristig gespeichert werden können. Hinzu kommt die ständige Verfügbarkeit isolierter Wissensbestände durch das Internet, das die herkömmliche Vorstellung einer durch Buchwissen geprägten Kultur, sich Bildung durch gründliches Lesen einer Vielzahl anspruchsvoller Bücher erwerben zu müssen, immer mehr in den Hintergrund gedrängt wird. Schulische Bildung hat gegenwärtig unter dem Eindruck einer durch Fernsehen und Internet veränderten Unterhaltungsszenerie einen schweren Stand. Wie will sie Kindern und Jugendlichen vermitteln, dass der Erwerb von Bildung auf dem alten mühsamen und wenig amüsanten Weg des Lesens, Verstehens und Argumentierens tatsächlich noch zu Erfolg und Anerkennung führt, wenn man doch im Fernsehen erleben kann, dass man in einem Show-Format rascher und spektakulärer erfolgreich sein kann? Postman (1985, 179) formuliert: „Der wesentliche Beitrag des Fernsehens zur Bildungstheorie besteht in dem Gedanken, dass Unterricht und Unterhaltung untrennbar miteinander verbunden sind.“ Dementsprechend soll Bildung voraussetzungslos, ohne Rekurs auf notwendiges Vorwissen präsentiert werden und den Rezipienten nicht durch vertiefende Erörterungen irritieren. Bildung in leicht und lustvoll zu konsumierenden Häppchen zu bekommen, anstatt sie sich in mühevoller, systematischer Arbeit anzueignen, kommt sicherlich Menschen entgegen, die ihre Bedürfnisse kurzfristig befriedigen möchten und sie nicht in der Hoffnung auf einen später erreichbaren höheren Erfolg aufzuschieben. In der Forschung zu diesem Muster der späteren Gratifikation (deferred gratification pattern) wurde deutlich, dass Menschen nur dann ihre unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zurückstellen, wenn sie sich relativ sicher fühlen, mit einem größeren Aufwand zu einem späteren Zeitpunkt einen größeren Gewinn zu erzielen (vgl. Schneider/Lysgaard 1953; Lepsius 2009). Menschen, die in schlecht bezahlten, prekären Arbeitsverhältnissen leben, werden an einem langfristigen Nutzen einer aufwändigen Investition in Bildung eher zweifeln und dementsprechend auch ihre Kinder nicht dabei unterstützen, unser Bildungssystem mit dem Ziel zu durchlaufen, einen möglichst hochwertigen Abschluss zu erreichen. Die Vorstellung, Bildungsziele auf unterhaltsame Weise zu erzielen, hat unsere Unterrichtswirklichkeit zunehmend beeinflusst. An der Bedeutung der sog. ‚Motivationsphase‘ zu Beginn des Unterrichts und spielerischer Aktivitäten lässt sich dieser Trend beobachten. In den reformerischen Bemühungen der 1970er Jahre mit dem Ziel, mehr Chancengleichheit für Kinder aus unterprivilegierten Schichten zu ermöglichen, hat man darauf gesetzt, die bildungsbürgerlich geprägte Literalität schulischer Kommunikation im fragend-entwickelnden Unterricht wie in den zu lesenden und schreibenden Texten zugunsten einer Kommunikation in einem konzeptionell stärker mündlichen Sprachduktus zu verändern, um es Kindern aus der sozialen
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Unterschicht, die in einem sog. ‚restringierten Code‘ (vgl. Bernstein 1972) sprechen, leichter zu machen. Dementsprechend wurden auch die Schulbuchtexte einfacher, kürzer und mit visuellen Elementen ansprechender gestaltet. Anstatt größere Chancengleichheit zu bewirken, haben sich die herkunftsbedingten Unterschiede jedoch seit den 1970er Jahren vergrößert. Denn ein Unterricht, der in seinen Bemühungen nachlässt oder sich gar verweigert, bei Kindern aus bildungsfernen Schichten ein ‚elaboriertes‘ sprachliches Ausdrucksvermögen einzufordern und sie dabei zu unterstützen, führt dazu, dass Kinder, die dieses Sprachverhalten aufgrund ihrer sozialen Herkunft mitbringen, sich noch deutlicher abheben können. Eine vermeintlich unterschichtfreundliche Bildungspolitik, die im Sinne der von Norbert Dittmar (1975) propagierten ‚Differenz-Theorie‘ der sog. ‚Sprache der Unterschicht‘ einen erhaltenswerten, Identität stiftenden Eigenwert sah, führte dazu, dass sich die Bildungschancen von Kindern aus unteren sozialen Milieus deutlich verringert haben (vgl. Steinig u. a. 2009). Heute lässt sich diese Fehlentwicklung nur schwer korrigieren, da mit der hohen Verbreitung und Akzeptanz von Fernsehen und Internet als Unterhaltungsmedien und ihrer konzeptionell mündlichen Modi der Kommunikation einer schulischen Kommunikation, die auf ein konzeptionell schriftliches, bildungssprachliches Verhalten setzt, immer geringere Chance lässt, vor allem bei den Eltern und Schülern, die weder erkennen noch akzeptieren möchten, dass die Sprache dieser Unterhaltungsmedien in irgendeiner Weise einem konzeptionell schriftlichen, schulischen Sprachduktus unterlegen sein sollte. Die in privaten Fernsehformaten und Chaträumen als Jugend- und Unterschichtsprache stilisierten, oft witzigen und anzüglichen Äußerungen haben eine hohe Attraktivität und erscheinen, gerade weil sie nun in der medialen Öffentlichkeit präsentiert werden können, als wirkmächtig und prestigehaltig. Merkmale konzeptioneller Schriftlichkeit in der Mündlichkeit (Koch/Oesterreicher 1994) zeigen sich in der Struktur der Äußerungen sowie in Grammatik und Lexik. Die Äußerungen werden stärker geplant, so dass sie – auch im Kontext von Gesprächen – eher als kurze oder längere Reden erscheinen, als Redebeiträge im Rahmen von Diskussionen. Sie erscheinen somit inhaltlich geschlossener und formal kompakter, oft mit einer einführenden und abschließenden Rahmung versehen. Die Kohärenz wird mit grammatischen Mitteln präziser markiert. Ein höherer Anteil hypotaktischen Satzbaus lassen die Beiträge elaborierter und komplexer erscheinen (vgl. Günther 1993). Charakteristische Merkmale gesprochener Sprache findet man auch hier, aber Sprecher versuchen sie stärker einzuschränken, also Elisionen, Heckenausdrücke, Hörersignale (ja, woll, gell), gefüllte Pausen (äh) oder Satzabbrüche zu vermeiden. Mit der ersten PISA-Studie (Baumert u. a. 2001) geriet zunächst der Begriff der ‚Bildung‘ durch die Begriffe ‚Literalität‘ und ‚literale Kompetenz‘ in den Hintergrund oder wurde, wenn er denn verwendet wurde, eng an die Bedeutung dieser Begriffe gerückt. Er verlor damit in Teilen seinen bildungs- und weltbürgerlichen, humanistischen, literarischen und aufklärerischen Bedeutungshof, insbesondere dann, wenn er, wie seit einiger Zeit üblich, in den Komposita ‚Bildungssprache‘ und ‚Bildungs-
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plan‘ erscheint. Mit ‚Literalität‘ wird stattdessen der Bezug zur Schriftlichkeit deutlicher und mit ‚literaler Kompetenz‘ die Fähigkeit, Texte nicht nur lesen und verstehen, sondern sie in ein literal geprägtes kulturelles Wissen einordnen und Entscheidungen und Konsequenzen für das eigene Handeln ableiten zu können. Die PISA-Aufgaben basieren auf diesem Literalitätsbegriff. Die Aufgabenformate werden so konfiguriert, dass die literale Kompetenz von Schülern damit messbar wird. Das angelsächsische Konzept der Literalität scheint nicht nur für die PISA-Studie, sondern auch für den curricularen Aufbau von Lehrplänen bzw. Bildungsplänen geeigneter zu sein, weil es besser operationalisierbar ist. Mit Literalität verbindet man eher eine auf die Zukunft gerichtete Handlungskompetenz in einer schriftsprachlich geprägten Wissenskultur, während man Bildung mit einer privilegierten sozialen Herkunft verbindet, mit einem gebildeten Elternhaus, in dem sich ein gebildeter Habitus entwickeln konnte. Und mit Literalität lässt sich eher eine didaktisch begründbare Hoffnung verbinden, dass sich die damit verbundenen Einstellungen und Fähigkeiten in der Schule günstig beeinflussen und entwickeln lassen, während Bildung eher mit der Vorstellung verbunden ist, dass sich eine bildungsferne vorschulische Sozialisation später schulisch nur mit erheblichem Aufwand so beeinflussen lässt, dass man von einer ‚Bildungskarriere‘ sprechen kann. Schließlich ist der Bildungsbegriff immer noch eng mit Büchern als Leitmedium verbunden, mit der Vorstellung Marshall McLuhans von einer „Gutenberg-Galaxis“ (1962), die mit dem Aufkommen elektronischer Medien und der Vernetzung der Gesellschaften zu einem „globalen Dorf“ zu Ende gehe. Anstatt einer auf Buchwissen basierenden Bildung, die seit Beginn des Buchdrucks das Denken von Schriftkulturen prägte, befinden wir uns seit der Verbreitung von Telefon, Radio, Fernsehen und schließlich dem Computer in einer Umbruchsituation. Nach Bolz (2008) sind wir ans Ende der Gutenberg-Galaxis gekommen, in der das Buch als Leitmedium ausgedient hat und durch den Computer als ein symmediales Leitmedium (Frederking/Krommer/ Maiwald 2012, 35 ff.) abgelöst wird. Wenn man dieser Sicht folgt, dann wird eine buchbasierte Bildung nicht mehr ausreichen, sich in einer medialen veränderten Kultur zu orientieren und sie produktiv handelnd zu nutzen. Anstatt an Bildung müsste man sich dann wohl eher eine mediale Literalität (media literacy) wünschen, eine Kompetenz, die es erlaubt, sich in den Netzwerk-Strukturen dynamischer Bild- und Textwelten zu orientieren. Oder aber die Semantik von Bildung müsste sich verändern – ein Prozess, der seit ein paar Jahren zu beobachten ist. Anstatt „Medienkompetenz“ findet man nun öfter „Medienbildung“, da Kompetenz zu stark an den Umgang mit der Technik des Mediums und seinen vielfältigen Möglichkeiten erinnert, während Bildung eine tiefergehende Erfahrung mit neuen Medien und die Einbindung in einen kulturellen Wandel impliziert. Der vom Fernsehen und Computer vorangetriebene kulturelle Wandel muss notgedrungen die vom Medium Buch und der Praxis des Lesens geprägte Vorstellung von Bildung verändern, wenn wir denn an diesem Begriff festhalten möchten. Falls
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McLuhans Dictum „the medium is the message“ (1964) stimmt, wenn also die Form des Mediums die Botschaft in einer Weise enthält, dass sie den Rezipienten zu einer bestimmten Rezeption nötigt, dann wird sie notgedrungen auch seine Bildung in einer durch das Medium bestimmten Weise steuern. Postman (1985) hat dies für das Medium Fernsehen gezeigt und Bolz (2008) für den Computer. Die vom Fernsehen beeinflussten Bildungsprozesse führen zu einem Unterhaltungsmodus, durch den sich Bildung als fraktionierte, passiv erlebte bildmächtige Events konstituieren kann. Computer und Internet führen zwar zu einem aktiveren Verhalten, das aber aufgrund der Komplexität und Unübersichtlichkeit nichtlinearer, hypertextueller Strukturen als chaotisch erlebt werden kann. Die neuen Medien stellen uns vor die Aufgabe, in dieser Unübersichtlichkeit eine Orientierung zu finden und selbstbestimmt eine Handlungskompetenz zu gewinnen, die es erlaubt, die fraktionierte Unübersichtlichkeit gestalthaft so zu ordnen, dass sie als eine neue kulturelle Qualität die Persönlichkeit bereichern kann. Diese durch die neuen Medien geprägte Persönlichkeit wäre dann eine deutlich andere als eine, die durch die Rezeption von Buchwissen geprägt wurde. Sie wäre beispielsweise fähig, ihr Wissen im Rahmen eines Powerpoint-Vortrags einem Publikum zu präsentieren, sollte sich dabei aber bewusst sein, dass die mediale Form dieser Aufbereitung des Wissens die eigene Verarbeitung wie auch seine Rezeption in einer bestimmten Weise beeinflusst. Dieser aktive, selbstbestimmte Umgang mit neuen Medien wäre ein wünschenswertes Ziel, das entsprechend didaktisch gefördert werden sollte. Es scheint mir aber nur erreichbar zu sein, wenn das alte Medium Buch nicht verloren geht, da es durch seine Abgeschlossenheit und Linearität – von Satz zu Satz, von Kapitel zu Kapitel und von der ersten bis zur letzten Seite – im Prozess der Enkulturation Heranwachsenden die Erfahrung von Sicherheit, Orientierung und Struktur bietet. Diese strukturbildende Erfahrung, die sich vor allem beim Lesen von Märchen, Erzählungen und Romanen entwickelt, bietet Menschen textbasierte Muster, mögliche und irreale Welten zu begreifen und sich darin zu orientieren. Sie schützt davor, sich in der Unübersichtlichkeit neuer Medien zu verlieren oder sich ihnen ungeschützt, zwanghaft oder suchtähnlich auszuliefern. Dies führt auch zu der grundsätzlichen Einsicht, dass alte Medien wie das Buch, das Telefon oder das Radio nicht gänzlich verschwinden und durch neue ersetzt werden, sondern dass sie in mehr oder weniger veränderter Form bestehen bleiben und eine spezifischere Funktion bekommen. Bildung muss deshalb auch bedeuten, die Funktionen und Wirkungen aller Medien zu erkennen und reflektiert nutzen zu können. Dass dieser Anspruch mit einer sozialen Differenzierung einhergeht, kann nicht verwundern, da bereits der Erwerb neuer medialer Technik den finanziellen Rahmen für einen Teil der Bevölkerung übersteigt. Soziale Unterschiede führen aber nicht nur zu einer ‚digitalen Spaltung‘ (digital divide), sondern auch zur ‚digitalen Ungleichheit‘ (digital inequality), die auf einer anderen Nutzung des Internet durch Gruppen mit unterschiedlicher Schulbildung beruht. In einer empirischen Studie der „Bundesinitiative Jugend ans Netz“ (Iske/Klein/Kutscher 2004) über „Nutzungsdif-
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ferenzen von Jugendlichen im Internet“ ließ sich zeigen, dass sich Jugendliche mit gymnasialer Bildung deutlich von Gleichaltrigen aus Haupt- und Sonderschulen unterscheiden. Sie nutzten etwa doppelt so oft das Internet zur gezielten Suche nach Informationen. Noch höher ist der Unterschied, wenn es um politische Informationen oder um die Suche nach neuen und weiterführenden Informationen geht. „Sehr häufig“ und „häufig“ zum Spielen wird hingegen das Internet von 52 % der Haupt-/ Sonderschüler benutzt, bei Gymnasiasten nur von 28 %. Interessant ist auch, dass 95 % der Gymnasiasten auf Veränderungen in ihrem Nutzungsverhalten verweisen konnten, während 32 % mit niederer Bildung keine Veränderungen bemerkten (vgl. Iske/Klein/Kutscher 2004). Die Prozesshaftigkeit medialer Bildung, die von Gymnasiasten als Teil der Persönlichkeitsentwicklung erlebt wird, kommt hier zum Ausdruck. Die Befunde stützen die Hypothese einer wachsenden Wissenskluft (vgl. Tichenor/Donohue/Olien 1970), wonach Menschen mit höherem sozioökonomischen Status von einem größeren massenmedialen Informationsfluss stärker profitieren. Seit 1970, als diese Hypothese erstmals empirisch belegt werden konnte, hat sich die Menge und Vielfalt an öffentlich zugänglichen Informationen mit dem Internet exponentiell erweitert. Dies führte aber nicht zu einem Ausgleich von Wissensdefiziten, die Wissenskluft hat sich vielmehr weiter verstärkt (vgl. Bonfadelli 1994). Die Hoffnung auf Chancengleichheit, die noch die bildungspolitischen Debatten der 1970er Jahre prägten, hat sich heute auf dem Hintergrund einer geradezu unbegrenzten Verfügbarkeit von Wissen als illusionär erwiesen. Zwar nutzen Deutsche unter 35 Jahren heute praktisch alle das Internet (Forschungsgruppe Wahlen 2013), aber wie es genutzt wird, ist höchst unterschiedlich. Je nach bereits vorhandenem sozialem und kulturellem Kapital (Bourdieu 2013) wird in virtuellen Räumen verschieden investiert, womit höchst unterschiedliche Erträge erzielt werden. Dies führt zu sozial differenzierten medialen Milieus: zu bildungsfernen Milieus, in denen das passive Vergnügungsmedium Fernsehen trotz Computer immer noch den zentralen Platz einnimmt, und bildungsnahen Milieus mit dem Computer als Leitmedium sowie Büchern, Radio, Zeitungen und Fernsehen, die für bestimmte Zwecke ebenfalls genutzt und in Bezug zueinander gesetzt werden können.
4 Sprachlich differenzierende Sozialisation Der in den PISA-Studien für Deutschland ermittelte enge Zusammenhang zwischen Schulerfolg und sozialer Herkunft beruht, wie ich vermute, in Teilen darauf, dass die in der frühen Kindheit erworbenen sozial differenzierten sprachlichen Kompetenzen, die sich in allen Sprachgemeinschaften beobachten lassen, an deutschen Schulen schlechter kompensiert werden können als in anderen PISA-Ländern. Um diese Vermutung plausibel zu machen, soll im Folgenden zunächst die sprachliche Sozialisa-
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tion in der Familie erörtert werden, anschließend die sprachliche Kommunikation an den Schulen.
4.1 Familiale Kommunikation Jedes gesunde Kind lernt sprechen. Sprachfähigkeit gehört zu unserem Menschsein. Sie ist das zentrale Merkmal unserer Spezies und wird scheinbar mühelos beim Aufwachsen in der Familie erworben. Die biologischen Voraussetzungen zum Verstehen und Produzieren von Sprache ermöglichen es jedem gesunden Kind, im sprachlichen Kontakt mit seiner Umgebung ein vollwertiges Mitglied der Sprachgemeinschaft zu werden. Aber die Umgebungen, die Familien, in denen Kinder aufwachsen, sind verschieden. Kinder entwickeln sich sprachlich nicht alle in gleicher Weise. Die Unterschiede in den Familien können ganz erheblich sein: im Wortschatz, in der Grammatik und in der Aussprache. Eltern, Geschwister, Freunde, Verwandte und Fremde kommunizieren mit einem Kind, wobei der sprachliche Kontakt mit der Mutter in den ersten Lebensjahren in der Regel am stärksten ist. Später, besonders mit Beginn der Pubertät, wird der Einfluss der Peer Group größer. Der sprachliche Input, den ein Kind erfährt, bildet das Muster, woran sich sein Spracherwerb orientiert. Dieser Input kann sich quantitativ wie qualitativ stark unterscheiden. Während in einigen Familien viel und auf anspruchsvollem Niveau gesprochen wird, ist man in anderen Familien schweigsamer und legt auf einen differenzierten Ausdruck weniger Wert (vgl. Hart/Risley 1995). Diese sprachlichen Unterschiede, die in den Familien zu beobachten sind, hängen mit ihrer sozialen Stellung in einer hoch differenzierten Gesellschaft zusammen, die mit unterschiedlichen beruflichen und gesellschaftlichen Ansprüchen an sprachliche Fähigkeiten einhergehen. Die Ansprüche an eine mehr oder weniger differenzierte Sprachlichkeit sind eng mit dem Wissen verknüpft, das innerhalb und außerhalb von Institutionen erworben wird. Dabei kommt es weniger auf ein spezielles fachliches Wissen an, sondern auf ein allgemeines, gesellschaftlich relevantes Wissen, das sich kritisch beurteilen, vernetzen, systematisieren, transferieren und projizieren lässt. Das Niveau der Komplexität, mit dem dieses kulturell bedeutsame Wissen kognitiv verarbeitet und sprachlich ausgedrückt werden kann, ist entscheidend für den Erfolg in einer Zivilisation, die sich als ‚Wissensgesellschaft‘ etikettiert. Das deklarative Wissen (knowing that), das sich vor allem in der Verfügbarkeit einer differenzierten, abstrahierenden Lexik manifestiert, steht in einem engen Zusammenhang mit dem prozeduralen Wissen (knowing how), der Fähigkeit, Wissenselemente logisch miteinander zu verknüpfen und funktional adäquat in unterschiedlichen sozialen Situationen zu nutzen (vgl. Ortner 2009, 2235). Die Einsicht, dass es neben der alltäglichen Welt des Hier und Jetzt eine dekontextualisierte Welt des Wissens gibt, die im Kopf systematisch konstruiert werden kann
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(vgl. Portmann-Tselikas/Schmölzer-Eibinger 2008), erlernen Kinder zunächst anhand von Erzählungen, sinnvoll visuell von Erwachsenen unterstützt durch Bilderbücher. Wenn neben frei formulierten Kommentaren zu einzelnen Bildern vorgelesen wird, bekommen Kinder ein kognitives Gerüst (scaffolding), das ihnen hilft, die Erzählung durch sprachliche wie bildliche Elemente eigenständig zu einer kohärenten Gestalt zu konstruieren. Hinzu kommt das Nebeneinander alltagssprachlicher Mündlichkeit und schriftsprachlicher Formulierungen, die vom Kind als höherwertig erfahren werden, da sie den unveränderbaren Kern einer Bilderbuchgeschichte ausmachen. Das Kind bekommt so eine frühe Vorstellung von der Funktion schriftlicher Texte, Welten außerhalb der alltäglichen Gegenwart in einer systematischen und kognitiv anspruchsvollen Form gültig und dauerhaft zu präsentieren. Neben Bilderbuchgeschichten mit ihren fiktionalen Welten können Kinder anhand altersgemäß gestalteter Sachbücher ebenfalls systematisch nicht-fiktionales Wissen aufbauen, das dann wiederum mit der Hilfe Erwachsener verbalisiert werden kann. Die schriftsprachlichen Formulierungen werden dabei anhand einzelner lexikalischer Ausdrücke, Kollokationen und Phrasen in die Mündlichkeit transferiert, so dass oft schon in der Vorschulzeit ein schriftlich affiner Sprachgebrauch situationsund themengebunden realisiert wird. Ob diese Entwicklung zu einer stärker dekontextualisierten, konzeptionell schriftlichen Sprache bereits früh bei Kindern eingeleitet werden kann, hängt davon ab, wie oft und wie geschickt Eltern oder andere ältere Bezugspersonen – Geschwister, Großeltern oder Erzieher/-innen – Erfahrungen mit schriftlichen Texten initiieren und begleiten können. Aber nur dann, wenn für diese Erwachsenen selbst Schriftlichkeit von Interesse und Bedeutung ist, werden Kinder in ihnen ein Vorbild für ihr eigenes Handeln sehen. Texte aus erzieherischem Pflichtgefühl vorzulesen, ohne darüber einfühlsam und engagiert zu sprechen, führt nicht zu einem reflexiven, den situativen Kontext transzendierendem Denken. Kinder müssen vielmehr im kommunikativen Austausch mit Erwachsenen lernen, Inhalte auf andere Kontexte sinnvoll zu transferieren, um so auch übergeordnete, abstraktere Standpunkte entwickeln zu können. Eine hohe Affinität zur Schriftlichkeit, besonders zum Lesen von Sachtexten und literarischen Texten, lässt sich wesentlich öfter in höheren sozialen Milieus finden als in der sozialen Unterschicht. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass Kinder aus diesen Milieus beim Erwerb der Schriftsprache mit Schulbeginn deutliche Vorteile haben. Eine bildungssprachliche Entwicklung, die in der frühen Kindheit ihren Ausgang nimmt, ist in der Regel ein wesentliches Element einer Sozialisation und Erziehung, die von Werten und Verhaltensweisen der Mittelschicht geprägt sind. In der sozialen Unterschicht lässt sich hingegen häufiger ein Umgang mit Wissen beobachten, in dem der Bezug zur Schriftlichkeit weniger bedeutsam ist und eine andere Form der Vermittlung vorherrscht. In charakteristischen Eltern-Kind-Dialogen manifestiert sich dieses Verhalten als kommunikative Muster: entweder ein Muster, in dem Wissen in kommunikativ offenen Interaktionen von Eltern erläutert, diskutiert und mit früherem Wissen vernetzt wird, oder eine Vermittlung von isolierten Elementen deklara-
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tiven Wissens, ohne nähere Erklärungen und erläuterndes Eingehen auf Fragen und Verständnisprobleme des Kindes (vgl. Heller 2012). Wie Hart/Risley (1995) in ihrer wegweisenden Langzeitstudie mit Familien aus unterschiedlichen sozialen Milieus zeigen konnten, sind Familien‚ die auf Sozialhilfe (welfare) angewiesen sind, eher ‚schweigsam‘ und Familien aus dem akademischen Milieu (academics) eher ‚redselig‘, die sehr viel häufiger mit ihren Kindern darüber sprechen, was nicht in ihrem gemeinsamen Wahrnehmungsraum liegt, sondern sprachlich auf Gegenstände oder Geschehnisse in der Vorstellung Bezug genommen wird, auf eine „Deixis am Phantasma“ (Bühler 1934/1978). Neben der unmittelbar erlebten Welt wird sprachlich vor dem geistigen Auge eine mittelbare Vorstellungswelt geschaffen; so vor allem beim Erzählen oder im Rollenspiel, wo die Notwendigkeit, sich in konstruierten Welten zu bewegen, der Sprache wesentlich mehr abverlangt wird, als im entspannten Nahfeld der Ich-Hier-Jetzt-Origo. Auf die Funktion des Rollenspiels für die Sprachentwicklung im Vorschulalter hat Andresen (2002) nachdrücklich hingewiesen. Vorlesen führt zum besseren Verstehen schriftlicher Texte, erweitert den Wortschatz und die syntaktische Vielfalt, was wiederum das Textverstehen erleichtert. Aus einem ständigen, sich gegenseitig verstärkenden Prozess, der zur Erweiterung konzeptionell schriftlicher, rezeptiver wie produktiver Kompetenzen führt, entwickelt sich eine elaborierte Erzählfähigkeit. Neben Erzählen, Vorlesen und Rollenspiel sind kindliche Fragen und die Antworten der Erwachsenen bedeutsam für die sprachliche Entwicklung. Kinder erkennen sehr früh, dass sie durch Fragen den kommunikativen Kontakt mit ihren Eltern aufrechterhalten können. Wenn sich Eltern auf die Fragen ihrer Kinder einlassen, dann werden diese Frage-Antwort-Dialoge, in denen viel erklärt und argumentiert wird, als ein angenehmes verbales Miteinander geteilter Aufmerksamkeit und als nähesprachliche Zuwendung der Mutter erlebt. Und da diese Dialoge häufig über die Ich-HierJetzt-Origo hinausgehen und sich auf erlebte und imaginierte Vorstellungen beziehen, lassen sie sich als zeigende und deutende Sprachhandlungen charakterisieren, die als frühkindliche Übungsfelder für spätere bildungssprachliche Fähigkeiten dienen. Wichtig ist dabei, dass diese anspruchsvolle Form der Eltern-Kind-Kommunikation im geschützten Raum einer vertrauten Atmosphäre stattfinden kann, die dem Kind Sicherheit und Selbstvertrauen vermittelt, damit es dann später in Schule und Öffentlichkeit selbstbewusst auf hohem Niveau argumentieren kann. Mit ihren Antworten auf Kinderfragen geben Eltern kommunikative Muster, wie Erklärungen funktionieren und welche erhellenden und beglückenden Aha-Erlebnisse man damit erzeugen kann. Viele Eltern gehen aber leider auf eine Kinderfrage nur knapp ein und vergewissern sich nicht, ob ihre Erklärung verstanden wurde, oder ignorieren Fragen gänzlich. Andererseits können längere monologisierende Erklärungen Kinder rasch überfordern oder langweilen. Manche bildungsbewusste Eltern neigen bei jeder Frage ihrer Kinder zu extrem elaborierten Erklärungen und überfordern damit leicht die Aufmerksamkeitsspanne ihrer kleinen Zuhörer. Sinnvol-
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ler wäre es, wenn Eltern zunächst die Relevanz einer Frage bestätigen und nachfragen, wie das Kind auf das hinter der Frage liegende Problem gestoßen sei. Eine klug orchestrierte informelle Elterndidaktik würde auch darauf abzielen, einer Erklärung keinen endgültigen Charakter zu geben – ein Eindruck, der besonders bei langen und ausführlichen Erklärungen entsteht. Wenn Eltern bei ihren Erklärungen häufiger auch zu erkennen geben, dass sie selbst noch keine abschließende Lösung für ein Problem gefunden haben, noch einmal genauer darüber nachdenken müssen und so ihrem Kind zu verstehen geben, die Frage und den ersten (gemeinsamen!) Erklärungsversuch im Kopf zu behalten, um später noch einmal darauf zurückzukommen, dann können Kinder Erklären und Argumentieren als einen Prozess begreifen, der grundsätzlich nie zu einem endgültigen Ende kommt. Kinder können so bereits im frühen Alter eine hermeneutisch epistemische Entdeckerhaltung entwickeln, die sie lebenslang trägt. Wenn bedeutende Forscher bezeugen, dass sie im Grunde ein Kind geblieben sind, dann meinen sie wohl damit, dass sie ihre kindlich-neugierige Fragehaltung und den damit nie endenden Prozess des Wissenserwerbs, den sie bereits in ihrer Kindheit erfahren haben, als Strategie beibehalten konnten. Damit das gelingt – und es wäre schön, wenn es bei jedem Menschen zumindest ein stückweit gelingen könnte – sollten Eltern ‚offene Erklärungsdialoge‘ mit ihren Kindern führen, die potentiell ständig fortgeführt werden könnten In Familien aus der sozialen Unterschicht sind längere und anspruchsvolle Frage-Antwort-Sequenzen, in denen kindgerecht erklärt und argumentiert wird, eher seltener zu beobachten. Das Fragen der Kinder wird rascher beendet und eine Kommunikation, die sich nicht auf die konkrete Bewältigung des Alltags (Zähne putzen, Schuhe binden, ‚ordentlich‘ essen), sondern auf erlebte, imaginierte und abstrakte Vorstellungen (Sandmännchen, Engel, Elektrizität) bezieht, wird weniger von den Eltern unterstützt. Das geringe Interesse, sich sprachlich auf Bereiche einzulassen, die wenig lebenspraktische Relevanz haben, lässt sich aus sozial-konstruktivistischer Sicht auf Prägungen zurückführen, die durch relativ voraussagbare Alltags- und Arbeitsroutinen gekennzeichnet sind, die mit relativ geringem kognitiven wie sprachlichem Aufwand bewältigt werden können (vgl. Luckmann/Berger 2003). Herausfordernde Situationen, in denen neue und schwierige Probleme kognitiv und kommunikativ gelöst werden müssen, sind selten. Für eingeschränkte berufliche Gestaltungsräume und Entscheidungsbefugnisse ist eine komplexere und differenzierte Sprachlichkeit weniger notwendig. Man ist weisungsgebunden und arbeitet fraglos seine Aufgaben ab. Nachfragen beim Chef oder das Einfordern von Erklärungen bei Kollegen werden eher vermieden, da dies als Schwäche ausgelegt oder als respektlos empfunden werden könnte. Da die Tätigkeiten wenig innovative Elemente enthalten, ist man auch selten in der Situation, sie argumentativ zu rechtfertigen. Die Arbeitsroutinen sind eng an Sprachroutinen gekoppelt. Alle gehen davon aus, das jeder weiß, um was es geht und deshalb sprachlich nicht explizit gemacht werden muss.
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Der Kommunikationsradius ist zudem geringer: Mit Unbekannten hat man weniger zu tun und muss sich deshalb weniger anstrengen, expliziter zu formulieren, um verstanden zu werden. Die beruflichen und privaten Kontakte beschränken sich weitgehend auf alte, gut bekannte Kollegen und Freunde, mit denen man sich mit einfachen sprachlichen Verweisen und Routinen auf gemeinsame oder ähnliche Erfahrungen beziehen kann. Die kognitive Anstrengung und der sprachliche Aufwand, sich zu einer strittigen Frage auseinanderzusetzen, wird als wenig lohnend erfahren, da die beruflichen Chancen dadurch nicht steigen, möglicherweise sogar sinken würden und unter Freunden und Bekannten, bei denen sich Auffassungen über Jahre verfestigt haben, könnte man als unangenehmer Besserwisser gelten. Die Handlungsmöglichkeiten im Beruf haben einen starken Einfluss auf den Lebensstil und die kommunikativen Praxen in der Freizeit, der Familie und in der Erziehung. Nach Bernstein (1972) führt die vor allem in beruflichen Positionen erlebte Erfahrung von Macht und Ohnmacht zu einem unterschiedlich geprägten Rollenverhalten: entweder zu einem statusorientierten Verhalten, das die Optionen sprachlichen Handelns rigide an Positionen innerhalb von Hierarchien bindet, oder zu einem personenorientierten Handeln, bei dem sich die Gestaltung der sprachlichen Interaktion weniger an der sozialen Stellung der Interaktanten orientiert, sondern an den Inhalten und Problemen, die kommunikativ bearbeitet werden müssen. Diese in der Welt der Erwachsenen geprägten Erfahrungen, sich kommunikativ stärker an der sozialen Stellung eines Gesprächspartners zu orientieren oder aber das soziale Miteinander im Gespräch anhand der Qualität der sprachlichen Darstellung und der Logik der Argumente auszuhandeln, prägt vermutlich auch die Gesprächspraxis zwischen Eltern und Kindern. Eltern, die an der Position einer Hierarchie orientiert sind, kommunizieren mit ihren Kindern eher asymmetrisch in einem imperativ-kontrollierenden Erziehungsstil, der keinen Widerspruch duldet. Personenorientierte Familien pflegen hingegen einen offeneren, weniger kontrollierenden Erziehungsstil, der es Kindern ermöglicht, eigene Meinungen zu artikulieren, aber auch in die Pflicht genommen werden, Begründungen zu formulieren. Bernstein (1972) hat diese beiden von ihm postulierten unterschiedlichen Modi verhaltenssteuernder, kontrollierender Einflussnahme an soziale Schichten gebunden: den positionalen Modus an die Unterschicht und den personalen Modus an die Mittelschicht. Da sich seit den 1970er Jahren die deutsche Gesellschaft stark differenziert hat, wird man heute wohl eher von sozialen Milieus ausgehen müssen, die sich hinsichtlich ihrer sozialen Lage und ihrer Wertvorstellungen unterscheiden. Es ist aber auch nicht, wie Ulrich Beck (1986) annimmt, zu einer derartig ausgeprägten Individualisierung der Gesellschaft gekommen, dass sie den Einfluss der vertikalen Schichtung auf die Teilhabe in der Gesellschaft marginalisiert hätte. Der zunehmende Wohlstand und die damit einhergehende Expansion der Bildung haben nicht dazu geführt, dass die sozial bedingte Ungleichheit geringer geworden wäre. Ganz im Gegenteil: Die Chancen auf eine sozialen Aufstieg haben tendenziell abgenommen
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(vgl. Geißler 1996) und die schichtspezifischen Leistungsunterschiede an unseren Schulen haben seit den 1970er Jahren eher zugenommen (vgl. Steinig u. a. 2009). Dennoch wäre es für die zukünftige Forschung im Problemfeld „Sprache – Bildung – soziale Herkunft“ sinnvoll, mögliche Einflüsse sozialer Milieus auf diskursive Praxen auszuloten. Im Sinus-Modell (vgl. Huneke/Steinig 2013, 97 f.) wird beispielsweise innerhalb der Oberschicht/oberen Mittelschicht nach „Konservativetablierten“, „Liberal-intellektuellen“, „Sozialökologischen“, „Performern“ und „Expeditiven“ unterschieden. In Bezug auf den Erziehungsstil dieser sozialen Milieus wäre es denkbar, dass der positionale Modus sozialer Kontrolle im konservativ-etablierten Milieu beobachtet werden könnte, durchaus vergleichbar mit traditionellen Milieus der unteren Mittelschicht/Unterschicht. Die traditionelle Grundorientierung würde dann stärker ins Gewicht fallen als die soziale Lage. Denkbar wäre auch, dass im unteren sozialen Milieu der ‚Prekären‘ wie in den sozial hoch angesiedelten Milieus der ‚Performer‘ und der ‚Expeditiven‘ weder ein positionaler noch ein personaler Modus erkennbar wäre, sondern eher ein Laissez-faire-Stil mit Tendenz zur Vernachlässigung kindlicher Bedürfnisse. Kinder müssen zunächst eigene Erfahrungen machen, um zu Erkenntnissen und Urteilen zu kommen. Der teilweise geradezu unbändige Wissensdurst, der sich im häufigen Fragen äußert, wird aber von Erwachsenen mit geringen kommunikativen Anforderungen in Beruf und Freizeit oft nur zögerlich oder widerwillig entsprochen, weil sie vielleicht auch selbst im Elternhaus und in der Schule erfahren mussten, dass ihre Fragen selten ausreichend beantwortet wurden. Kinder, die diese Erwachsenen in einen kommunikativen Austausch verwickeln möchten, Erklärungen von ihnen fordern und dabei expliziter und schriftnäher formulieren, werden leicht als ‚altklug‘ abgewertet (vgl. Steinig 1986, 45 ff.). Sie werden als Gesprächspartner nicht akzeptiert, allenfalls geduldet und schränken mit dieser kommunikativen Erfahrung ihre Bemühungen ein, sich mit Erwachsenen fragend und argumentierend auszutauschen. Neben der sozialen Prägung dieses familialen Musters kommen in konservativen Milieus der Unterschicht genderspezifische Prägungen hinzu, die teilweise mit fremder kultureller Herkunft und Sprache einhergehen, sodass Mädchen noch stärker in ihrem Bemühen eingeschränkt werden, sich mit Erwachsenen zu unterhalten. Heller (2012) bezeichnet dieses Diskursmuster in Anlehnung an Quasthoff/Kern (2007) als „Dulden und Fallenlassen“. In der empirischen Studie von Heller (2012) mit elf Erstklässlern deutscher, türkischer und vietnamesischer Herkunft ließ sich in Tischgesprächen mit den Eltern bei der gemeinsamen Mahlzeit eine Vielzahl kommunikativer Aktivitäten beobachten, u. a. Frotzeln, Klatsch oder Essenskommentierung. In einigen Familien ist das Repertoire der Gattungen, die bei Tisch realisiert werden, breiter, bei anderen beschränkter, wobei sich eine größere Vielfalt vermutlich günstig auf die Entwicklung kommunikativer Kompetenz auswirkt. Wichtiger als die Anzahl der Gattungen ist aber die Art und Weise, wie Eltern ihre Kinder beim Tischgespräch einbeziehen, wie oft sie sie ausführlich zu Wort kommen lassen, sie als Gesprächspartner ernst nehmen und kommuni-
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kativ unterstützen. Von besonderer Relevanz sind dabei Sequenzen, in denen etwas erklärt oder argumentiert wird, da sie für die Unterrichtskommunikation, in dem Erklärungen im Fokus stehen, charakteristisch sind. Erlauben die Eltern, dass ihre Kinder ergebnisoffen mit ihnen diskutieren dürfen? Oder werden Ansätze zu argumentativem Handeln rasch im Keim erstickt, weil es einem Kind nicht zustehe, sich sprachlich zu inszenieren und argumentativ eigene Interessen geltend zu machen? Nach Bruner (2008) wird der kindliche Spracherwerb grundsätzlich durch ein elterliches Unterstützungssystem (LASS: Language Acquisition Support System) vorangetrieben. Dieser auch als Scaffolding bezeichnete dyadische Prozess wird aber offenbar von Eltern quantitativ wie qualitativ unterschiedlich praktiziert mit entsprechenden Auswirkungen auf die Entwicklung des Wortschatzes und der Diskursfähigkeiten (vgl. Hausendorf/Quasthoff 1996). In Familien aus gehobenen, bildungsbewussten Milieus ist häufiger ein Interaktionsmuster zu beobachten, das man als ‚Fordern und Unterstützen‘ bezeichnen kann, wobei das Kind lernt, möglichst explizit zu formulieren, ausführlich und strukturiert zu erzählen, genau zu beschreiben sowie Meinungen und Behauptungen zu begründen. Kinder, die weniger Unterstützung erfahren und die nicht darauf setzen können, dass ihre Eltern ihnen zutrauen, eine Erklärung in einem für ihr Alter angemessenen Form zu Ende zu bringen, sondern in seine Erklärungsversuche autoritativ eingreifen und selbst die Rolle des Erklärers übernehmen, machen die Erfahrung der Unzulänglichkeit und der Nicht-Befugnis. Sie werden bald ihre Versuche aufgeben, etwas eigenständig erklären zu wollen. Wenn Kinder im Gespräch mit den Eltern selbst etwas erklären oder argumentieren können, ohne befürchten zu müssen, dass ihnen rasch das Rederecht entzogen wird, regieren sie wahrscheinlich auch auf Lehrerfragen selbstbewusster und sprachlich differenzierter. Werden in der familialen Kommunikation diskursive Praktiken eingeübt, die auch in der Unterrichtskommunikation bedeutsam sind, wenn es also zu einer Passung zwischen familialer und schulischer Kommunikation kommt, ist die Chance größer, dass Kinder in der Schule erfolgreicher sind. Kinder bekommen so in der Familie ein kommunikatives Übungsfeld, das beste Voraussetzungen dafür bietet, in der Schule und später in der Öffentlichkeit wie im Beruf seinen Äußerungen Geltung zu verschaffen. Bestimmte Situationen – gemeinsames Essen, Gesellschaftsspiele, das Zu-Bett-Bringen, längere Zug- oder Autofahrten – werden von vielen Familien genutzt, um intensiv mit den Kindern zu kommunizieren. Da das Muster „Fordern und Unterstützen“ in bildungsnahen Milieus verbreiteter ist, kann es nicht verwundern, dass hier in der soziolinguistischen Forschung seit Basil Bernstein (1972) immer wieder ein sozial bedingtes, anspruchsvolleres sprachliches Ausdrucksvermögen festgestellt wurde (vgl. Steinig u. a. 2009). Unabhängig davon, ob man dies nun wie Bernstein (1972) als ‚elaborierter Code‘, wie Cummins (1979) als ‚CALP‘ (cognitive academic language proficiency) oder wie Ortner (2009) nach Habermas (1977) als ‚Bildungssprache‘ bezeichnet, wurden mehr oder weniger zuverlässig anhand empirischer Studien diesem Sprachverhalten bestimmte sprachli-
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che Merkmale zugeschrieben: auf lexikalisch-semantischer Ebene ein umfangreicher, differenzierter und abstrahierender Wortschatz mit einem höheren Anteil an Komposita, Fachbegriffen und niedrigfrequenten Verben, auf syntaktischer Ebene mehr Satzgefüge, unpersönliche Konstruktionen, Kohäsionsmittel und Funktionsverbgefüge und auf diskursiver Ebene eine stärkere Orientierung an Formen der Rede und Textsorten (Vortrag, Bericht, Statement) sowie an schriftsprachlichen Konventionen wie Gliederung, Prägnanz und Kohärenz – also auf allen Ebenen der gesprochenen und geschriebenen Sprache ein höheres Maß an konzeptioneller Schriftlichkeit (vgl. Steinig u. a. 2009; Vasilyeva/Waterfall 2011). Dieser elaborierte Stil entwickelt sich aus einer funktionalen Notwendigkeit: Immer dann, wenn nicht über Vorkommnisse gesprochen wird, die im Gesichtsfeld der Sprecher liegen, also über das Hier und Jetzt im Rahmen einer empraktischen Handlung hinausgehen, sondern über Vorkommnisse aus Vergangenheit und Zukunft oder über abstrakte und fiktive Vorstellungen, wird eine elaboriertere Versprachlichung notwendig. Über alles, was im gemeinsamen Gesichtsfeld von Sprechern liegt, lässt sich wesentlich einfacher und leichter sprechen, da sich die Kommunikation, wenn einem die Worte fehlen, mit deiktischen Mitteln unterstützen lässt. Solange sich die Kommunikation in einer Familie vorwiegend im Nähebereich gegenseitig beobachtbarer Handlungen abspielt oder für alle Beteiligten erwartbar, konventionell, kaum erzählwürdig und offensichtlich ist, wäre es unangemessen, würde man sich in sprachlich elaborierter Form auf sie beziehen. Es gibt schließlich auch noch Eltern, die ihre sprachlichen Unterstützungsbemühungen einseitig am schulischen Erfolg ihrer Kinder ausrichten. Sie orientieren sich an schulisch relevanten Inhalten und übernehmen unterrichtskonforme Erklärungsmuster, so wie sie sie in ihrer Schulzeit kennengelernt haben. Das kann dann bereits vor Schulbeginn zu Dialogen führen, die dem Muster der ‚Lehrerfrage-Schülerantwort-Lehrerbewertung‘ ähneln und einen stark steuernden und belehrenden Charakter haben. Typischer sind derartige Interaktionen mit schulaffinen Erklärungsmustern während der Schulzeit, insbesondere dann, wenn Eltern ihren Kindern bei den Hausaufgaben helfen. Durch die Engführung auf das Ziel hin bleibt dem Kind kein Raum, eigenständig und kreativ nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Wenn es versucht, selbst in der Rolle des Erklärers zu agieren, etwa beim Tischgespräch, ziehen die Eltern das Rederecht an sich, um entweder das Thema zu wechseln oder die begonnene Erzählung, Erklärung oder Argumentation selbst auszuführen, oft in einer korrigierenden und belehrenden Form. Dem Kind wird nicht zugestanden, das Rederecht länger zu behalten, da es aus Sicht der Eltern weder befugt noch ausreichend kompetent dazu wäre. Heller (2012) hat dieses Muster in vietnamesischen Familien beobachten können, die sich stark um den schulischen Erfolg ihrer Kinder bemühten, aber auch in deutschen Familien kann man dieses Muster finden, wahrscheinlich besonders aus aufstiegsorientierten Milieus.
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4.2 Kommunikation im Unterricht Der Weg zu einem bildungssprachlichen Modus beginnt in der Familie und wird in der Schule fortgesetzt. Günstig verläuft dieser Weg, wenn ein Kind in der Schule an die kommunikativen Erfahrungen im Elternhaus anknüpfen kann, wenn es zu einer Passung und Kontinuität zwischen diesen beiden Sozialisationsinstanzen kommt. Wenn sich hingegen die familiale Kommunikation deutlich von der schulischen unterscheidet, entstehen Divergenzen und Brüche, die die bildungssprachliche Entwicklung behindern oder gar scheitern lassen können. Um die kommunikativen Praxen, die zu Passungen oder Divergenzen zwischen familialer und schulischer Kommunikation führen, angemessen beurteilen zu können, muss man mit Nachdruck darauf hinweisen, dass es nicht nur in Familien große Unterschiede an Erziehungs- und Diskursstilen gibt, sondern auch in der Unterrichtskommunikation. Der in früheren Studien und einführenden Darstellungen vermittelte Eindruck, es gäbe weitgehend einheitliche Muster unterrichtlicher Kommunikation (vgl. Ehlich/Rehbein 1986; Becker-Mrotzek/Vogt 2009) lässt sich nicht aufrechterhalten. Jeder Lehrer hat seinen eigenen, persönlich geprägten Unterrichtsstil, aber es lassen sich auch überindividuelle Muster erkennen, wie Lehrer mit ihren Schülern kommunizieren. Pedro (1981, 236 ff.) konnte zeigen, dass sich Lehrer an Schulen aus sozial unterschiedlichen Stadteilen Lissabons sprachlich ihrer Schülerschaft anpassen und dementsprechend in unterschiedlichen Modi der Kontrolle handeln. An Schulen in sozialen Brennpunkten agieren Lehrer eher in einem imperativen Modus, der auf Befehle und Drohungen setzt, wobei den Schülern weder Gründe gegeben noch Handlungsalternativen angeboten werden. An Schulen in gehobenen Wohnvierteln hingegen kommunizieren Lehrer vorwiegend in einem personalen Modus der Kontrolle, wobei den Schülern Gründe und Konsequenzen erläutert werden, oft mit einem Hinweis auf ihre moralische Verpflichtung, den schulischen Regeln zu entsprechen, so dass sie sich als Individuen ernst genommen fühlen und die Motive des Lehrers nachvollziehen können. Zwischen dem imperativen und dem personalen Modus der Kontrolle steht in diesem Modell, das auf Bernstein (1971) und Cook-Gumperz (1973) zurückgeht, noch der positionale Modus, in dem das Kind ebenfalls auf Gründe für seine erwartete Verhaltensänderung verwiesen wird, jetzt jedoch nicht als persönlich formuliertes Motiv, sondern mit einem Verweis auf die allgemeinen Regeln, die in Schule und Unterricht herrschen. Die Steuerung und Kontrolle von Schülern lässt sich somit als ein Kontinuum zwischen zwei Extremen beschreiben: von einer rigiden, imperativen Kontrolle (Hefte raus!) zu einer personalen Kontrolle (Möchtest du nicht lieber…?). Hinzu kommt, zwischen diesen beiden Extremen, die positionale Kontrolle, die auf Regeln und Rituale in der asymmetrischen, hierarchisch organisierten Situation Unterricht verweist und unabhängig von persönlichen Befindlichkeiten Geltung beansprucht.
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Betrachtet man nun diese Modi unter dem Aspekt, wie sehr sie Schüler in Richtung eines bildungssprachlichen Verhaltens fördern können, wird man rasch zu dem Ergebnis kommen, dass der imperative Modus wohl eher das Gegenteil bewirkt, während der personale Modus am stärksten einer elaborierten Sprachlichkeit verpflichtet ist, da hier Ansprüche und Begründungen argumentativ ausdifferenziert werden. Problematisch ist ein personaler Modus aber für Kinder, die von ihren Eltern vorwiegend im imperativen Modus erzogen wurden. Wer von seinen Eltern gelernt hat, fraglos ihren knappen und ohne Begründungen formulierten Anweisungen Folge zu leisten, kommt mit Lehreräußerungen im personalen Modus schlecht zurecht, da sie das hierarchische Gefälle zwischen Lehrern und Schülern verdecken. Eine verständnisvolle, elaboriert begründete Aufforderung kann somit leicht als Ausdruck von Schwäche und mangelnder Autorität ausgelegt werden und zu unerwünschtem, störendem und provokativem Schülerhandeln führen. Die Möglichkeit, elaborierte Lehrer-Schüler-Dialoge aufzubauen, um bei diesen Kindern ein bildungssprachliches Ausdrucksvermögen zu entwickeln, kann sich dann nicht entfalten, da die kommunikativen Erfahrungen zwischen Elternhaus und Schule zu weit auseinanderliegen. Besonders in Freiarbeitsphasen, in denen sich viele Gelegenheiten für den Lehrer bieten, mit einzelnen Schülern ins Gespräch zu kommen, kann man beobachten, dass sich Kinder verweigern und dysfunktional agieren, da in dieser offenen Unterrichtssituation die institutionelle Rahmung des Geschehens mit ihren Erwartungen an bestimmte Handlungsroutinen nicht erkannt oder nicht akzeptiert werden. Es ist deshalb für die Vorbereitung von Freiarbeit besonders wichtig, Rituale und Routinen mit klaren Verantwortlichkeiten und Aufgaben über längere Zeit konsequent einzuüben. Aber auch im Klassengespräch mit Schülern aus bildungsfernen Schichten sollten die Rollenbeziehungen anhand der Sprachhandlungen des Lehrers immer sichtbar bleiben: nicht in Form des imperativen Modus mit autoritärem Habitus, sondern im positionalen Modus der Kontrolle, der den Schülern Struktur und Sicherheit bietet. Sprachlich lässt sich dieser Modus u. a. daran erkennen, dass die Kinder ab dem ersten Schuljahr ihre Lehrerin siezen. Das ‚Sie‘ schafft eine institutionell legitimierte Distanz zwischen Lehrern und Schülern, die in der unterrichtlichen Kommunikation zu einem distanzsprachlichen Modus führen sollte. Der vielfach an Grundschulen verbreitete Usus, dass Kinder ihre Lehrerin duzen dürfen, ist für Kinder aus höheren sozialen Milieus, die eine emotional dichte nähesprachliche Kommunikation mit ihren Eltern gewohnt sind, relativ unproblematisch, da sie aus Vorlesesituationen, Erklär-Interaktionen und Rollenspielen ausreichend Erfahrungen sammeln können, zu einem dekontextualisierten bildungssprachlichen Modus zu gelangen. Kinder aus unteren sozialen Milieus, die in ihren Familien diese Erfahrungen kaum machen konnten, benötigen in der Schule eine positional geprägte sprachliche Rahmung, zu der das ‚Sie‘ gehört, damit sie eine sprachliche Distanz zur Lehrerin und den von ihr in den Unterricht eingebrachten Inhalten einhalten und damit auch die Fähig-
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keit zur Abstraktion entwickeln können. Eine zu große sprachliche Nähe zur Lehrerin würde dieses Ziel erschweren. Schule sollte sich als Institution konzeptioneller Schriftlichkeit verstehen. Sie kann dieses Selbstverständnis aber nur dann glaubwürdig vertreten, wenn sie sich durchgängig in den mündlichen Interaktionen alltäglicher Unterrichtsarbeit an einem distanzsprachlichen Modus orientiert, in dem das hierarchische Gefälle zwischen Lehrer und Schülern in der institutionell gerahmten Situation ‚Unterricht‘ gut erkennbar bleibt. Gamble/Hoadley (2011, 171) sehen darin „a possible entry point for working class learners into the elaborated code of the school“. Die auf den ersten Blick sympathische, kinderfreundliche Nähe zwischen Lehrerin und Schülern, die man indexikalisch am Duzen und genereller an einer Interaktionskultur festmachen kann, die sich in manchen Freiarbeitsphasen wenig von der Kommunikation im Kindergarten unterscheidet, führt dazu, dass viele Kinder aus unteren sozialen Milieus nicht erkennen können, wie sie im Kontext einer schwachen Rahmung (weak framing) zu einem distanzsprachlichen Modus und einer damit verbundenen Abstraktionsfähigkeit in Bezug auf fachliches Lernen kommen können. Disziplin im Unterricht, nicht verstanden als erniedrigender Gehorsam, sondern als Einsicht und Akzeptanz, moralisch legitimierte Regeln und ritualisierten Formen der Interaktion zu übernehmen, ist ein erster wichtiger Schritt, Distanz gegenüber einer familial geprägten Nähe-Kommunikation zu gewinnen und so zu einer dekontextualisierten, abstrakteren Form der Kommunikation zu gelangen. Vor der sog. ‚kommunikativen Wende‘ in der Deutschdidaktik der 1970er Jahre verlief die Lehrer-Schüler-Kommunikation in der Grundschule noch stärker institutionell gerahmt und somit distanzierter, im imperativen und positionalen Modus der Kontrolle. Seitdem hat sie sich, vor allem an Grundschulen, zunehmend in Richtung des Nähe-Pols verschoben und wurde – im personalen Modus – privater und kindgemäßer mit hoher Affinität zur familialen Kommunikation mittlerer und gehobener sozialer Milieus. Die kommunikative Affinität zwischen Lehrerinnen und Kindern aus bildungsnahen Schichten wurde größer. Das kommunikative ‚Entgegenkommen‘ der Lehrerinnen verstärkte die bereits bestehenden sozial bedingten Unterschiede (vgl. Steinig u. a. 2009). Die zunehmende sozial bedingte Ungleichheit in den Leistungen wurde seit den 1980er Jahren aber – relativ unvermittelt – nicht mehr mit der sozialen Herkunft der Kinder erklärt, sondern mit dem sog. ‚Migrationshintergrund‘. Nun standen nicht mehr deutsche ‚Arbeiterkinder‘ mit einem ‚restringierten Code‘ im bildungssprachlichen Abseits, sondern zweisprachige Kinder mit einer Zuwanderungsgeschichte. Im Rückblick könnte man den Eindruck haben, dass Wissenschaftler und Lehrer nicht unglücklich darüber waren, dass es nun einen vermeintlich objektiven Grund für schulische Minderleistungen gab: eine andere Erstsprache mit einer anderen Grammatik und das schwierige Deutsch als kommunikative und kognitive Hürde – und ein Alibi, nur noch in dieser Richtung zu forschen (vgl. Gomolla/Radtke 2009). Erst langsam wird jetzt deutlich, dass Zweisprachigkeit nur zum Teil einen geringeren Lernerfolg erklären kann. Ein kurzer Blick auf die schulischen Erfolge von zwei-
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sprachig aufwachsenden Kindern aus gehobenen sozialen Milieus hätte eigentlich genügt, um diese Schieflage zu vermeiden (vgl. Gogolin 2013). Es wird höchste Zeit, dass endlich auch wieder einsprachig deutsche Kinder aus bildungsfernen Milieus in den wissenschaftlichen und pädagogischen Fokus rücken. Aber nicht nur ein Blick in die Vergangenheit, auch ein Vergleich mit unseren europäischen Nachbarn wäre nützlich. Mir scheint, dass die Lehrerrolle an deutschen Grundschulen stärker personal und nähesprachlich interpretiert wird als in anderen Ländern, etwa in Großbritannien, wo die Lehrerrolle positionaler und distanzsprachlicher ausgefüllt wird. Wahrscheinlich trägt bereits die Schuluniform dazu bei, dass Schüler- und Lehrerrollen (Lehrer mit Krawatten!) eindeutiger verortet werden können. Diese visuell signalisierte Distanz trägt vermutlich auch dazu bei, dass Lehrerinnen Schülern aus bildungsfernen Schichten in einem positionalen Modus der Kontrolle ein forderndes und förderndes Scaffolding bieten können, das sie in ihrer sprachlichen Bildung voranbringt und so kompensatorisch wirken kann. Heller (2012) und Morek (2012) haben in ihren empirischen Studien zeigen können, dass LehrerInnen ihre SchülerInnen auf unterschiedliche Weise an der gemeinsamen Unterrichtsinteraktion partizipieren lassen, sowohl als Gruppe aller Schüler einer Klasse, aber auch in Bezug auf einzelne Schüler, mit denen sie teilweise höchst unterschiedlich kommunizieren, und zwar aufgrund der Vorstellungen, die sie sich von den sozialen und kulturellen Prägungen der Schüler machen. Der rezipientenspezifische Zuschnitt von Lehreräußerungen, ihr „recipient design“ (vgl. Sacks/Schegloff/ Jefferson 1974, 727), ist gegenüber Schülern, die als kognitiv und sprachlich leistungsfähiger als auch motivierter eingeschätzt werden, kommunikativ unterstützender als gegenüber Schülern, von denen weniger erwartet wird, beispielsweise beim Erklären von Sachverhalten, einer für den Unterricht zentralen Handlungsroutine. Morek (2012, 254 ff.) unterscheidet hier ein orchestriertes von einem solistischen Erklären. Beim orchestrierten Erklären fungiert die Lehrerin wie eine Dirigentin, die W-Fragen ans Plenum richtet, auf die Schüler in der Regel nur kurz antworten. Sie liefern nacheinander so lange Antworten auf eine Frage ab, bis die vom Lehrer erwünschte gegeben wird. Das Explanandum wird so über mehrere Frage-AntwortStafetten gemeinsam erarbeitet, wobei die explanative Relevanz aufgrund der Zerdehnung dieser Erklärpraxis leicht aus dem Fokus geraten kann. Der sprachliche Aufwand bleibt bei diesem Stakkato kurzer Antworten gering, so dass sich bildungssprachliche Fähigkeiten kaum entwickeln können. Im Rahmen dieser am äußeren Ablauf orientierten Erklärpraxis fordern zwar Lehrer hin und wieder einzelne Schüler auf, doch mal ‚im ganzen Satz‘ zu antworten, allerdings ohne nachhaltigen Erfolg, denn längere schülerseitige Ausführungen werden von der Klassengemeinschaft als dysfunktional empfunden, da alle wissen, dass es vor allem darauf ankommt, sich an dieser Routine zu beteiligen, damit der formale Ablauf des Unterrichtsgesprächs nicht gefährdet wird und der Lehrer den Eindruck bekommt, man sei bei der Sache, was sich positiv auf mündliche Zensuren auswirken kann. Genaueres Erklären und tieferes Verstehen ist in dieser Praxis offen-
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bar weniger wichtig als zu demonstrieren, man sei in der Lage, an der unterrichtlichen Interaktion routiniert partizipieren zu können. Ganz anders ist dies beim solistischen Erklären (vgl. Morek 2012, 181–213), denn hier erteilt der Lehrer einem einzelnen Schüler so lange das Rederecht, bis er einen Sachverhalt als ausgewiesener Kenner in einem ausführlichen übersatzmäßigen Redebeitrag erklärt hat. Die Zuschreibung, als Experte etwas länger erklären und begründen zu dürfen, erhöht den Druck, sprachlich einen höheren Aufwand zu betreiben, aber auch das Handicap zu scheitern, insbesondere für Kinder, die in ihrer familialen Sozialisation selten die Gelegenheit bekommen, etwas eigenständig ausführlicher erklären zu können. Aber nur so bekommen Schüler die Chance, ihre bildungssprachlichen Fähigkeiten zu entwickeln. Besonders Kinder aus bildungsfernen Schichten müssen hier die Möglichkeit bekommen, in ihrer vertrauten Alltagssprache zu einem ersten, sprachlich zunächst noch unbefriedigenden Ergebnis zu kommen, ganz ähnlich wie dies Martin Wagenschein (1968/1970) gefordert hat. Von dieser Basis des eigenen vertrauten Registers können sie dann behutsam mit Unterstützung des Lehrers auf eine abstraktere, bildungssprachliche Form geführt werden. Lehrer sollten bei ihrem Bemühen, ein schulisch angemessenes Register zu erreichen, ihre Ansprüche nicht absenken und ihren sprachlichen Input nicht unnötig vereinfachen, um es sprachlich schwächeren Schülern vermeintlich leichter zu machen. Eine unterfordernde sprachliche Appeasement-Strategie verstärkt die sozial bedingten Unterschiede. Ein Absenken sprachlicher und fachlicher Ansprüche führt dazu, dass sich der ohnehin vorhandene sozial bedingte sprachliche Abstand zwischen den Schülern verstärkt. Jede Unterrichtsstunde muss vielmehr genutzt werden, um bildungssprachliche Mittel erwerben zu können. Geschieht dies nicht, stagniert die Entwicklung bei Kindern aus unteren sozialen Milieus, während Kinder aus höheren sozialen Milieus ungebrochen vom elaborierten sprachlichen Niveau ihrer Familien profitieren können.
5 Fazit und Ausblick Kinder sind mit ihren verschiedenen kommunikativen Erfahrungen in der Familie in unterschiedlicher Weise auf die Kommunikation im Unterricht vorbereitet (vgl. Henrichs 2010). Dabei spielt die Art und Weise, wie in der Familie in der Interaktion mit dem Kind erzählt, argumentiert, erklärt und Kontrolle ausgeübt wird, eine herausragende Rolle. Kinder, die in ihren Familien nicht erfahren haben, dass man offen und ungeschützt mit den Eltern über alle möglichen Sachverhalte, auch über problematische und strittige Bereiche sprechen kann, können es im Unterricht als befremdlich empfinden, dies nun mit ihrer Lehrerin zu tun. Die Diskrepanz zwischen familialer und schulischer Kommunikation kann den Schulerfolg nachhaltig beeinträchtigen.
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Im Lehrer-Schüler-Gespräch wird das Handicap geringerer bildungssprachlicher Kommunikationsfähigkeit auf mehreren Ebenen manifest. Zunächst führt es beim Lehrer zu dem Eindruck minderer Intelligenz und Leistungsfähigkeit. Umgekehrt signalisieren bildungssprachliche Merkmale, etwa fachsprachliche Nominalisierungen oder eine komplexere Syntax, dass ein Schüler zu überdurchschnittlichen Leistungen fähig sei. An der Ausdrucksfähigkeit eines Schülers richtet ein Lehrer sein eigenes Gesprächsverhalten aus. Er konstruiert jeden Schüler als Adressat mit unterschiedlichen Attributen (recipient design), bei der er sich allerdings nicht nur an seiner Mündlichkeit, sondern auch an seinen schriftsprachlichen Kompetenzen orientiert (vgl. Steinig 2013). Gegenüber Schülern, von denen er eine höhere Leistungsfähigkeit erwartet, betreibt er häufiger einen größeren sprachlichen Aufwand, der sich vor allem in der Unterstützung bei Formulierungsproblemen zeigt, damit Argumente sachgerecht abgeschlossen werden können. Dieser höhere Aufwand resultiert aus der Annahme, dass seine verbale Unterstützung besser genutzt werden kann und sich daher lohne. Sprachlicher Aufwand und Ertrag stünden dagegen bei Schülern, denen man weniger zutraut, in einem ungünstigen Verhältnis (vgl. Heller 2012). Die soziolektale Signalfunktion bildungssprachlichen Verhaltens, mit dem man auf dem sprachlichen Markt einen Mehrwert erzielen kann (vgl. Bourdieu 2005), entfaltet seine Wirkung bereits am ersten Schultag im Sinne einer Self Fulfilling Prophecy in Bezug auf den schulischen Erfolg – nicht nur aufgrund des Sprachverhaltens eines Abc-Schützen, sondern auch seiner Eltern, die vielleicht nur einige Worte mit der Lehrerin wechseln und ihr so signalisieren, auf welchem sprachlichen Niveau in der Familie kommuniziert wird. In der komplexen sozialen Situation ‚Unterricht‘ kommt es aber nicht nur darauf an, in welcher Weise ein Schüler mit seiner Lehrerin kommuniziert. Die Äußerungen werden immer auch von allen Mitschülern gehört und sind deshalb, nolens volens, auch an sie adressiert. Dies kann dazu führen, dass bildungssprachlich geprägte Äußerungen, die beim Lehrer hoch willkommen wären, vermieden werden, da dieses Sprachverhalten von den Mitschülern als unangemessen abgelehnt wird. Schüler befinden sich dabei in einer kommunikativen Double-Bind-Situation, da sie weder die sprachlichen Erwartungen des Lehrers noch die ihrer Mitschüler erfüllen können. Das Schülerverhalten ist auf dem Hintergrund dieses Dilemmas nur zu gut bekannt: Verweigerung, sich am Unterricht zu beteiligen, Nebenkommunikation und Störungen. Mit der Pubertät, wenn die Einflüsse der Peer Group stärker werden, lässt sich dieses dysfunktionale Verhalten vermehrt beobachten bis hin zur Situation besonders an Hauptschulen, wo Lehrer geradezu darum betteln müssen, dass Schüler zumindest ab und zu fachliche Begriffe verwenden (vgl. Harren 2011). Bildungssprachlich geprägte Schüler wählen hier oft die Strategie, im Unterricht zu schweigen oder sich dem Sprachverhalten von Mitschülern aus bildungsfernen Milieus anzupassen, aber ihre sprachlichen Fähigkeiten gewissermaßen heimlich an ihren Mitschülern vorbei in schriftlichen Arbeiten dem Lehrer demonstrieren.
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Diese Schüler, wenn sie sich denn äußern, akzeptieren aber meist auch bereitwillig die Maxime, expliziter zu formulieren, als es im außerschulischen Alltag sinnvoll wäre, da man bei Äußerungen, die sich an den Lehrer richten, so tun muss, als ob er den erfragten Sachverhalt nicht kenne. Diese kommunikative Uneigentlichkeit ist der Institution Schule geschuldet, in der mündliches wie schriftliches Handeln grundsätzlich als Übung konzeptualisiert wird. Dabei wird auch deutlich, dass schulsprachliches Handeln noch kein bildungssprachliches Handeln ist, sondern ein didaktisches Verfahren, dies einzuüben (vgl. Feilke 2013). Da sich aber die Schule seit den 1970er Jahren mit der kommunikativen Wende, einem stärker projektorientierten Unterricht und alternativen Schulkonzepten stärker am außerschulischen Alltag zu orientieren versucht, kann die schulsprachliche Maxime, informativ redundant und explizit zu formulieren, im Rahmen eines zunehmend kritischer diskutierten fragend-entwickelnden Unterrichts seine Legitimation verlieren. Ältere Schüler aus vorwiegend unteren sozialen Milieus, für die die Uneigentlichkeit des Unterrichtsgesprächs ohnehin kaum erträglich ist, würden diese Entwicklung sicherlich begrüßen. Und sie arbeiten jetzt schon vielerorts darauf hin, sie ad absurdum zu führen. Bildungssprachliches Formulieren lässt sich nicht nur auf seine soziolektale Signalfunktion reduzieren. Wenn dieser Modus bewusst und verantwortungsvoll gebraucht wird, lassen sich kognitiv komplexere Operationen sprachlich adäquater vermitteln, aber auch gedankliche Prozesse stimulieren, um Wissen tiefer zu durchdringen und zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Neben der Signalfunktion besteht eine epistemische Funktion sowie eine kommunikative Funktion (vgl. Morek/Heller 2012). Die Signalfunktion erscheint insofern primär, als sie spezifische kommunikative Interaktionen auszulösen vermag, die wiederum epistemische Prozesse auslösen können. Wenn ein Kind, ein Jugendlicher oder Erwachsener im Gespräch mit bestimmten Formulierungen einen bildungssprachlichen Modus signalisiert, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein ‚Gebildeter‘ sich auf ein Gespräch einlässt, in dem Bildungswissen kommuniziert wird, was wiederum beim Gesprächspartner kognitiv aufwändigere Prozesse auslösen kann (vgl. Steinig 2013). Man muss hier aber einschränkend bemerken, dass es sich wohl kaum klären lässt, in welchem Ausmaß bestimmte kognitiv aufwändige Prozesse einen entsprechenden sprachlichen Aufwand erfordern. Es gibt genügend Beispiele für intelligente Menschen, die komplexes Wissen alltagssprachlich formulieren können, und für weniger intelligente, die ohne epistemischen oder hermeneutischen Tiefgang mit bildungssprachlichen Formulierungen beeindrucken wollen. Wahrscheinlich ist es kognitiv besonders stimulierend, wenn es in einem Gespräch zu einem raschen CodeSwitching zwischen bildungssprachlichen, fachsprachlichen, alltagssprachlichen, jargonhaften und auch jugendsprachlichen Formulierungen kommt, wie man es in Diskussionen unter (jungen) Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen beobachten kann. Aber dies setzt eine Souveränität voraus, die man von Schülern
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kaum erwarten kann, und es entspräche auch nicht den sprachlichen Erwartungen der Schule als Institution. Um zu verhindern, dass Prestige-Signale eines bildungssprachlichen Habitus nicht zu dominant und von Schülern missbilligt werden, weil sie nicht den identitätsstiftenden jugendsprachlichen Signalen ihrer Klassengemeinschaft als Peer Group entsprechen, ist es wichtig, dass bereits ab der ersten Klasse ihre epistemische Funktionalität erkennbar wird, vor allem für Kinder aus bildungsfernen Schichten: beim Erzählen, beim Beschreiben, beim Erklären und beim Argumentieren. In der gesteuerten Klassenkommunikation sollte die Lehrerin darauf achten, dass der für diese Situation charakteristische Dreischritt von Lehrerfrage, Schülerantwort und Lehrerbewertung (vgl. Zaborowski/Meier/Bredenstein 2011, 321–340) nicht zu einem formalen Mechanismus mit nur kurzen Schülerantworten verkommt, die nacheinander auf ihre Erwünschtheit hin beurteilt werden, sondern zu einem Gespräch, in dem Schüler mit ihren Äußerungsintentionen ernst genommen werden und bei Formulierungsproblemen von der Lehrerin eine einfühlsame, sprachlich fördernde und auch fordernde Unterstützung bekommen, damit sie längere Beiträge erfolgreich zu Ende bringen können, vor allem dann, wenn ihnen diese Möglichkeit von den Eltern selten zugestanden wird.
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5. Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit und der Erwerb sprachlich gebundenen Wissens und Könnens Abstract: Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit stellt eine wichtige Größe in der sprachgebundenen Wissensvermittlung und Wissensaneignung dar, die im vorliegenden Artikel mit Fokus auf die wissenschaftlichen Grundlagen für die Gestaltung schulischer Lehr- und Lernangebote betrachtet wird. Es stehen hierfür verschiedene, miteinander konkurrierende linguistische Modelle von lebensweltlicher Mehrsprachigkeit zu Verfügung. Neuere linguistische Sprachkonzepte, die bereits in didaktische Modelle Eingang gefunden haben, eröffnen die Möglichkeit der Orientierung an den Ressourcen der Schülerinnen und Schüler und dekonstruieren nationale Sprachenvorstellungen, die die sprachlichen Formationen in der Migrationsgesellschaft nicht zu greifen vermögen. Zugänge aus den Cultural Studies können dazu genutzt werden, die didaktischen Modelle um die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Sprachenordnungen zu erweitern, welche Sprecherinnen und Sprecher verschiedener Sprachen gegeneinander hierarchisierend positionieren. 1 2 3
Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit Wissenschaftliche Perspektiven auf Mehrsprachigkeit Gängige Vorstellungen von Sprache und sprachgebundenem Lernen in der pädagogischen Praxis 4 Episteme der pädagogischen Denkkultur über migrationsbedingte Mehrsprachigkeit 5 Didaktische Modelle 6 Fazit 7 Literatur
1 Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit 1.1 Spracherwerb Grundsätzlich lernen alle Menschen, unabhängig davon, ob sie ein-, zwei- oder mehrsprachig aufwachsen, den Umgang mit sprachlicher Heterogenität. Jedes Kind eignet sich in der Kommunikation mit verschiedenen Gesprächspartnern unterschiedliche Register einer Sprache bzw. von Sprachen an, z. B. in einer Unterhaltung mit Eltern, Nachbarn, Freunden, Lehrkräften. In allen sprachlichen Austauschsituationen gilt es Feinheiten zu berücksichtigen, die mit der sozialen und beruflichen Rolle der jewei-
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ligen Gesprächspartnerinnen und -partner zusammenhängen und die mit tradierten Normen weitergegeben sowie neu entwickelt werden. Größere sprachliche Einheiten wie ‚Nationalsprachen‘ oder ‚Dialekte‘ und ‚Register‘ werden den Sprecherinnen und Sprechern durch Erfahrung, Erklärung und auch Unterricht bewusst. Feinere Unterschiede, z. B. dass es Kosewörter gibt, die nur zwischen zwei Menschen verständlich und verwendbar sind und in Anwesenheit von anderen lieber nicht benutzt werden sollten, werden häufig implizit verstanden. Auch ohne im Einzelnen zu wissen, mit welchem Begriff bzw. Namen die unterschiedlichen Sprechweisen benannt werden und welcher Beschaffenheit sie sind, eignen sich Kinder in der Kommunikation interaktiv die Mittel an, die in den jeweiligen Gesprächskontexten ‚gültig‘ sind (vgl. Bourdieu 1990). Im Falle von migrationsbedingter Mehrsprachigkeit kommen verschiedene Sprachen ins Spiel, die in unterschiedlichen Kontexten in verschiedenen Trennungs- und Mischverhältnissen verwendet werden. Kennzeichnend für den Sprachgebrauch in Familien und von Kindern und Jugendlichen, die (auch) Migrationssprachen sprechen, ist das Mischen der Sprachen. Sprachmischungen sind typisch für alle Gegenden der Welt, in denen mehr als eine Sprache verwendet wird und im Prinzip nicht viel anders als das Registerswitching, z. B. das Wechseln zwischen Dialekt und Standard innerhalb von einer Sprache. Mit dem Switchen zwischen verschiedenen Sprachen werden verschiedene Sprechstrategien verfolgt (vgl. Krefeld 2004; Krehut/Dirim 2010), auf die weiter unten genauer eingegangen wird. Wie vielfältig der Erwerb von Sprachen in migrationsgesellschaftlichen Umgebungen sein kann, belegt u. a. eine Wiener Studie, in der mit Interviews herausgearbeitet wurde, welche Sprachen Kinder sprechen, die die 4. und 5. Klasse Primarstufe besuchen. In dieser Untersuchung wurde gezeigt, dass von den ca. 2.923 Kindern, die Türkisch als Sprache angeben, die sie verstehen und sprechen, nur 0,44 % Türkisch als alleinige Sprache angeben, die zu Hause verwendet wird. Alle anderen verwenden neben dem Türkischen auch Deutsch und oft auch (mindestens) eine weitere Minderheitensprache aus der Türkei. Wichtig ist auch, dass diese Sprachen nicht gleichzeitig erworben werden, dass es ganz von der Veränderung der Lebenssituation der Familie abhängt, welche Sprache hinzukommt bzw. bedeutsam wird oder auch von dem Kind aktiv gebraucht werden muss, etwa wenn die Großmutter kommt, die nur Kurdisch spricht und versteht (vgl. Brizić 2009, 109 f.). In einer qualitativen Studie in Hamburg, die zu Beginn der 2000er Jahre durchgeführt wurde, konnte gezeigt werden, dass Migrationssprachen in Peergroups auch von Jugendlichen erworben werden, die im Elternhaus monolingual deutschsprachig aufwachsen (vgl. Dirim/Auer 2004).
1.2 Sprachmischungen Jede sprachliche Äußerung ist mit sozialen Normen und mit Verhaltenserwartungen an den/die Einzelne/n in seiner/ihrer sozialen Rolle und Position verknüpft. Die
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soziale Rolle und Position werden nicht nur mit Gestaltungsmerkmalen wie Kleidung, Frisur und Verhaltensformen ausgedrückt, sondern auch mit der Wahl von Sprachregistern. Wie prägend die Rahmenbedingungen einer Interaktion für die Sprachwahl des/der Einzelnen sind, zeigt das folgende Beispiel: Beim gegenseitigen Korrigieren der Hausaufgaben durch die Kinder äußert ein Grundschüler dem Lehrer gegenüber: Man hätte in dem Aufsatz besser etwas von den Auswirkungen schreiben sollen. Nach der Aufforderung des Lehrers, dies dem Mitschüler direkt mitzuteilen, wendet sich das Kind mit folgenden Worten an diesen: Du haschd geschrieb, wie der Mann das gemacht hat un dann hert’s so schnell bei dir uff. Ich denk, was du geschrib hschd, wär besser aankumm, wenn du noch ebbes von den Folge, die das gehatt hat, geschrieb hättschd. (Augst 1978, 24; zit. nach Krehut/Dirim 2010, 409)
Das Beispiel zeigt, dass der alternierende Gebrauch von Sprachen nicht nur zwischen Nationalsprachen realisiert wird, sondern innerhalb der Register einer Sprache stattfinden kann. Außerdem wird deutlich, dass Kinder ein Gespür für die kontextuelle Angemessenheit von Sprachregistern entwickeln und ihre Ausdrucksweise abhängig von der gegebenen Situation und dem jeweiligen Gesprächspartner wählen. Auch im außerschulischen Bereich interagieren Kinder und Jugendliche, die verschiedene lebensweltliche Sprachen sprechen, unter sich mehrsprachig und zwar nicht nur in den amtlich deutschsprachigen Regionen. Viele empirische Belege finden sich beispielweise in den Untersuchungen von Quist. In der folgenden Äußerung eines Kopenhagener Jugendlichen, die ihrem Datenkorpus entstammt, werden gleich mehrere Sprachen geschickt miteinander kombiniert: wallah jeg siger min storebror han skylder mig 700 kroner jeg skal have 350 i dag og 350 om to uger # I got paras # skal du til den der fest øh på fredag. (Quist 2005, 150)
Ins Deutsche übersetzt sagt der Jugendliche „Also ich sag dir, mein großer Bruder schuldet mir 700 Kronen, heute habe ich 350 bekommen und 350 bekomme ich in zwei Wochen. Ich habe Geld! Gehst du am – ähm – Freitag zu dieser Party?“ Er baut dabei in den überwiegend dänischen Redebeitrag das arabische Wort wallah (sinngemäß ‚also‘), den englischen Teilsatz ‚I got‘ und das türkische Wort para (= Geld, in: „Ich habe Geld“) ein. Vermutlich beginnt er seinen Satz mit einem arabischen Wort als gesprächseinleitender Partikel, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, zu markieren, dass er etwas sagen wird, und hebt den wichtigsten Bestandteil seiner Äußerung, er habe Geld, in einer englisch-türkischen Mischung stark hervor. Diese Mischsprache, die die sprechstrategische Verwendung verschiedener Sprachen beinhaltet, wird von Quist als „Kopenhagener Multiethnolekt“ bezeichnet (Quist 2000).
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1.3 Was heißt Erstsprache? Der oben charakterisierte gemischte Sprachgebrauch wird in der Öffentlichkeit oftmals nicht als ‚Sprache‘ bzw. ‚Erstsprache‘ wahrgenommen. Allerdings stehen Forschungsergebnisse im Kontrast dazu. Sie zeigen, dass in der außerschulischen, vor allem familiären Umgebung Sprachen gemischt verwendet werden und die gängige Vorstellung vom Elternhaus mit ‚Migrationshintergrund‘, in dem im Gegensatz zur Umgebung eine Migrationssprache gesprochen wird, nicht immer zutrifft. Die Ergebnisse einer Hamburger Untersuchung zur Sprachentwicklung mehrsprachiger Kinder im Kindergarten beispielweise zeigen, dass Familienmitglieder verschiedene Sprachen mit unterschiedlichen Gewichtungen und Mischungsverhältnissen verwenden (Reich 2009). Code-Switching ist in der Kommunikation in Familien und unter Kindern und Jugendlichen gang und gäbe. Dass auch Kinder das Code-Switching strategisch einsetzen, zeigen zum Beispiel die Ergebnisse einer anderen Hamburger Untersuchung, in welcher der Sprachgebrauch von Kindern beim Spielen nach der Schule beobachtet wurde (zur ausführlichen Beschreibung der gesamten Studie und deren Ergebnissen s. Gogolin/Neumann 1997). In einer dieser Beobachtungssequenzen, die im Folgenden zur Verdeutlichung genauer wiedergeben wird, waren die Kinder Galip und Fırat, beide türkisch- und deutschsprachig und im Grundschulbzw. Vorschulalter, auf einem Spielplatz und versuchten einen Ball aus den Ästen eines Baumes zu befreien. Galip trug ein Aufnahmegerät bei sich, die Situation wurde von Beobachterinnen protokolliert, die auf einer Bank in der Nähe des Baums saßen. Eine der Beobachterinnen war auch türkisch- und deutschsprachig. Galip wollte mit einem Kescher in den Baum werfen; Fırat merkte, dass der Kescher die Beobachterinnen treffen könnte, und sprach Galip aufgeregt an: Fırat: „Nicht so werfen! Aber nicht auf, teyzelere doğru atma! Haydi, los! Mach!“ [türkischer Einschub in etwa: ‚nicht zu den Tanten werfen!] (Dirim 1997, 231 f.)
Galip versicherte, er werde erst genau gucken und dann werfen. Fırat, der ältere der beiden Jungen, hatte demnach gemerkt, dass der Kescher in die Richtung der beiden Protokollantinnen fliegen und diese treffen könnte, und machte Galip darauf aufmerksam. Zuerst sagte er auf Deutsch: „Nicht so werfen!“, merkte aber, dass er seine Aussage konkretisieren musste, da Galip wohl mit dem Kescher in derselben Weise weiterzielte. Um zu verdeutlichen, was er mit „so“ meinte, redete Fırat auf Deutsch weiter und unterbrach seine Äußerung genau an der Stelle, an der er das Äußerungsobjekt, die Beobachterinnen, benennen musste: „Aber nicht auf/“. Nach kurzem Zögern fuhr er auf Türkisch fort: „teyzelere“ und vervollständigte seine Äußerung auf Türkisch: „Teyzelere doğru atma!“ Fırat griff zu dem türkischen Wort ‚teyze‘, das nicht nur dazu dient, im Sinne von ‚Tante‘ die Schwester der Mutter zu bezeichnen, sondern auch dazu, fremde weibliche Erwachsene zu benennen. Von dieser Möglichkeit, fremde Personen mit Verwandt-
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schaftsbezeichnungen zu titulieren, wird in der Türkei häufig Gebrauch gemacht. Im deutschen Sprachgebrauch kommt es zwar auch vor, dass kleine Kinder (z. B. von den Eltern) dazu angeleitet werden, fremde Erwachsene mit ‚Tante‘ oder ‚Onkel‘ anzureden, es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass diese Möglichkeit nicht so umfassend und vor allem in Norddeutschland nicht mehr üblich ist. Es liegt demnach die Vermutung nahe, dass Fırat die Bezeichnung ‚teyze‘ gewählt hatte, weil er fast nichts über die Beobachterinnen wusste. Die Bezeichnung ‚teyze‘ (Sing.) bzw. ‚teyzeler‘ (Pl.) gab ihm die Möglichkeit, keinen Fehler zu machen (wie z. B. mit der Bezeichnung ‚Lehrerinnen‘ möglich) oder unhöflich zu wirken (z. B. mit einem Ausdruck wie ‚Frauen‘). Mit der Bezeichnung ‚teyze‘ konnte er sich besonders passend ausdrücken. Auf Grund der Ergebnisse von verschiedenen, oben z. T. zitierten Untersuchungen wäre es eher angebracht, von dem erstsprachlichen Repertoire zu sprechen als von der Erstsprache, die häufig mit einer (monolingualen) Nationalsprache in Verbindung gebracht wird. Es wäre allerdings die Frage zu berücksichtigen, ob Deutsch dann die Zweitsprache darstellt. Möglicherweise ist die Einteilung in ‚Erstsprache Migrationssprache‘ und ‚Zweitsprache Deutsch‘ nicht immer sinnvoll und muss subjektorientiert flexibel gehandhabt werden.
1.4 Sprachmischungen und Wissensaneignung In all diesen Situationen, in denen die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit vorkommt, in denen Sprachen gemischt verwendet werden, wird Wissen erworben, sofern ‚Wissen‘ nicht nur als Kategorie verstanden wird, die durch Unterricht erzeugt wird. Die Sprachen sind, unabhängig davon, ob sie getrennt oder gemischt verwendet werden, für Kinder, Jugendliche und Erwachsene immer ein Instrument der Auseinandersetzung mit der sie umgebenden Umwelt und damit ein Instrument, sich Bestandteile dieser Umwelt anzueignen – im Elternhaus, in der Schule oder anderen Umgebungen. So könnten die oben beispielhaft dargestellten Situationen auch im Hinblick auf den darin vorkommenden informellen Wissenserwerb analysiert werden. Die zuletzt wiedergegebene Handlungssituation, in der Fırat seinen jüngeren Spielkameraden Galip davor warnt, den Kescher so zu werfen, dass er die Beobachterinnen treffen könnte, ist eine Situation der Wissensaneignung für Galip. Galip versteht die gemischtsprachig vermittelte Bedeutung der Äußerung. Auf einer höheren Abstraktionsebene trägt der Hinweis seines älteren Freundes zu Galips Wissen bei, dass die Umgebungssituation und vor allem bezogen auf die Menschen, die sich darin befinden, zu berücksichtigen ist, wenn eine Handlung auszuführen ist. Diese Lernsituation liefert einen wichtigen Hinweis darauf, dass Sprachen in der Migrationssituation anders als in den klassischen Modellen des schulischen Lernens einer Fremdsprache oder der Amtssprache verwendet werden, dass sie jedoch genauso wie als monolingual gedachte Modellierungen von Sprache Instrumente der Vermittlung und Aneignung sprachlich gebundenen Wissens und Könnens sind.
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1.5 Sprachmischungen im Unterricht Kennzeichnend für die staatlichen Institutionen der amtlich deutschsprachigen Regionen ist die weitgehende Ausklammerung der migrationsspezifischen sprachlichen Entwicklungen. Auch wenn in der Schule etwa kein sogenanntes ‚Deutschgebot‘ vorgegeben oder vereinbart wird, wird das Mischen der Sprachen zumeist nicht didaktisch als planmäßig produktive Ressource zum Wissenserwerb eingesetzt. Migrationssprachen kommen in Bildungsinstitutionen eher in Form des ‚Herkunftssprachlichen Unterrichts‘ vor. Allerdings ist es auch in diesem Zusammenhang eher unüblich, das gemischte Sprechen als Ressource zu nutzen. Zudem darf nicht vergessen werden, dass der Herkunftssprachliche Unterricht häufig marginalisiert und thematisch eher eng gerahmt angeboten wird, sodass der Erwerb sprachlich gebundenen Wissens und Könnens hier eher auch in monolingualer Form vonstatten geht, zumindestens was den geschriebenen und gesprochenen Gebrauch der Sprache anbelangt – das Denken wird sich vermutlich nicht auf eine Sprache beschränken und es hat sich in Untersuchungen gezeigt, dass Schüler und Schülerinnen von den Lehrkräften unbemerkt mehrsprachig interagieren (vgl. Frey/Dirim 1996). Die Auswertung von Erhebungen in einer Grundschulklasse in Hamburg zeigt, dass Kinder ‚öffentlich‘ auf ihr gesamtes Sprachrepertoire zurückgreifen, wenn ihnen freigestellt wird, ihre nicht-deutschen Sprachen zu verwenden. Die Erhebung, die Ende der 1990-er Jahre in einer Hamburger Grundschulklasse durchgeführt wurde, gibt einen Einblick darin, dass Schülerinnen und Schüler den Unterrichtsstoff bilingual bearbeiten, wenn die Verwendung ihrer nicht-deutschen Erstsprachen nicht unterbunden, sondern im Gegenteil, ausdrücklich ermöglicht wird. Der folgende Ausschnitt aus der Aufzeichnung einer Gruppenarbeit aus dem Sachunterricht veranschaulicht dies (Dirim 1998, 84 f.): Sabri und Murat bearbeiten ein Arbeitsblatt zum Thema ‚Nährstoffe‘; sie tragen in eine Tabelle nacheinander die Bezeichnungen von Nahrungsmitteln ein, die sie einer Vorlage entnehmen und den Nährstoffen ‚Fett‘, ‚Kohlenhydrate‘ und ‚Eiweiß‘ zuordnen. In dem unten abgedruckten Ausschnitt einer Erhebung ist Sabri bei dem Wort ‚Joghurt‘ angekommen und liest es laut vor. Die Originaläußerungen sind im Transkript im Fettdruck wiedergegeben; die Übersetzungen der türkischen Bestandteile stehen im Normaldruck. Sabri: Joghurt. Murat: Sen ne yapıyorsun? Joghurt mu? (Was machst Du? Joghurt?) Sabri: Evet. (Ja.) Murat: Joghurt ona mı geliyor? (Kommt Joghurt da hin?) Sabri: Tabii. O Joghurt. Ordaki gibi yapacaksın ha burda. (Natürlich. Das ist Joghurt. Hier musst Du das genauso machen wie dort) Murat: He. (Hm.) (Es vergeht etwas Zeit; die Kinder tragen das Wort ‚Joghurt‘ in die Tabelle ein.) Murat: Bitti mi? Bitti. (Fertig? Fertig.) Sabri: Bitti. (Fertig.)
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Murat: Wurst. Wurst mu? Wurst. (Wurst. Wurst? Wurst.) Sabri: Hani Wurst? (Wo ist denn Wurst?) Murat: Wurst nerede? Aha buldum! Zu Fett. (Wo ist Wurst? Ah, gefunden! Zu Fett.) Sabri: Hani lan? (Wo denn Mensch?) Murat: ((Sagt etwas Unverständliches)) Sabri: Zu Fett, ne? Murat: He, he. (Ja, ja.) Sabri: Bitti. (Fertig.) Murat: Wurst nerede yazıyor? Burada ya! (Wo steht denn Wurst? Ach, hier!) Sabri: Haa, Wurst! (Ach so, Wurst!) Sabri: Bitti. Müsli. (Fertig. Müsli.) Murat: Bittim. Müsli. (Ich bin fertig. Müsli.)
Der Interaktion zwischen Sabri und Murat ist zu entnehmen, dass sich die Kinder beim Erarbeiten der Unterrichtsinhalte beider Sprachen bedienen. Die Sprachen Türkisch und Deutsch werden im Sinne der Unterrichtsziele verwendet, wobei spezifische Sprachmischungen zum Einsatz kommen. Es lässt sich feststellen, dass weitgehend das Türkische als Matrixsprache verwendet wird, in die deutschsprachige Äußerungen eingebunden werden. Die deutschsprachigen Bezeichnungen der Nahrungsmittel werden der Vorlage entnommen und im Original in die türkische Besprechung des Arbeitsablaufs integriert. Die Kinder befolgen also bestimmte Kommunikationsregeln, ohne dass diese expliziert worden wären. Dem Beispielausschnitt kann entnommen werden, dass der sprachgebundene Wissenserwerb hier mit zwei Sprachen vollzogen wird, die miteinander sinnvoll kombiniert werden.
2 Wissenschaftliche Perspektiven auf Mehrsprachigkeit 2.1 Mehrsprachigkeit vs. Sprachigkeit Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit findet vor allem in linguistischen, psychologischen und pädagogischen Fachdiskursen statt, die vielfach miteinander verschränkt sind. Dennoch lassen sich unterschiedliche Diskursstränge ausmachen, die verschiedenen Vorstellungen von Sprache und Mehrsprachigkeit folgen. Eine Abkehr von der verbreiteten normativen Gleichsetzung von Nationalsprache und -staat stellt einen dieser Diskursstränge dar, der zunächst genauer dargestellt werden soll. Vor allem in der Linguistik bemüht man sich schon seit vielen Jahren, Sprache unabhängig von politischen Normen und Vorgaben zu beschreiben und begrifflich zu fassen. Busch weist in ihrer Einführung in die Mehrsprachigkeit
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darauf hin, dass der Begriff ‚Mehrsprachigkeit‘ in der Linguistik problematisiert werde. Sie macht darauf aufmerksam, dass es in der Linguistik lange üblich gewesen sei, in Anlehnung an den englischsprachigen Diskurs Mehrsprachigkeit – verengt – als Bilingualität und Sonderfall, d. h. Abweichung von Monolingualität zu betrachten. Auch der Begriff ‚Trilingualismus‘ anstelle von Bilingualismus habe die problematische Sichtweise, dass Sprachen klar voneinander abgrenzbar und zählbar sind, reproduziert; ein Umstand, der mit Bezeichnungen wie ‚Erstsprache‘ und ‚Zweitsprache‘ einhergehe (Busch 2013, 9). Mit dem Begriff „repertoire view“ (Denison 1992) wurde mehrere Jahre zuvor bereits versucht, die Vorstellung der Trennung der Sprachen eines Individuums in Einzelsprachen zu überwinden. Mit dieser Begriffswahl ist zum Ausdruck gebracht, dass einem Individuum in den einzelnen und in mehreren Sprachen zahlreiche Register zur Verfügung stehen, die abwechselnd und strategisch eingesetzt werden. Damit ist ein Gegenmodell gegen die Vorstellung der getrennten Verwendung von Einzelsprachen als Besonderheit gegeben. Mit diesem begrifflichen und konzeptionellen Vorschlag Sprache zu fassen wird die Forderung der Beherrschung aller Sprachen auf einem quasi bildungssprachlichen bzw. für schulische Zwecke nutzbaren Niveau ad absurdum geführt, weil es aus dieser Perspektive nicht möglich und nötig erscheint, Sprachen außerhalb eines bestimmten Kontextes in einem Ausmaß und einem Register zu erwerben, die für diesen Kontext ungültig und irrelevant wären. Vielmehr werden nach den geschilderten Vorstellungen die verschiedenen Register, Jargons, Genres, Akzente und Stile unterschiedlicher Sprachsysteme, die in fließenden Übergängen miteinander verbunden sind, als Teil der lebendigen Mehrsprachigkeit erfasst, was impliziert, dass sich sprachliche Vielfalt nicht an nationalstaatlichen Grenzen entlang definieren lässt (Busch 2013, 10 f.). Busch (ebd.) und Dorostkar (2014) schlagen daher vor, nicht von ‚Mehrsprachigkeit‘, sondern von „Sprachigkeit“ zu sprechen, um darauf aufmerksam zu machen, dass sogar die Vorstellung vom „repertoire view“ Sprache (in unseren Worten ausgedrückt) zu ‚holzschnittartig‘ modelliert. Im erziehungswissenschaftlichen Fachdiskurs war es Ingrid Gogolin, die mit dem Begriff „lebensweltliche Zweisprachigkeit“ einen Zugang eröffnete, der dem „repertoire view“ von Norman Denison sehr nahe kommt und mit dem darauf aufmerksam gemacht werden soll, dass Kinder in der Migrationssituation Sprachen so erwerben, wie sie ihnen in der Umgebung dargeboten werden und sie sie benötigen (Gogolin 1988). Gogolin wendet sich damit explizit gegen die Vorstellung der höheren Wertigkeit einer ‚ausgewogenen Zweisprachigkeit‘ und der damit verbundenen normativen Perspektive der ‚perfekten‘ Beherrschung zweier Sprachen – einem unter den Bedingungen des andersartigen Inputs als in den sogenannten ‚Herkunftsländern‘ unerreichbaren Zustands. Unberührt von den Auswirkungen der Rahmenbedingungen auf die jeweils individuelle Sprachkompetenz und deren Interpretation bleibt es von großer Bedeutung, Schüler und Schülerinnen auf einem hohen Niveau in der deutschen Bildungssprache auszubilden, da sie diese benötigen, um den Anforderungen eines aktuell noch deutschsprachig verfassten Bildungssystems entsprechen
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zu können. Die anderen von ihnen gesprochenen Sprachen brauchen unter diesen Rahmenbedingungen für den Schulerfolg nicht auf die gleiche konzentrierte Weise in dem Sprachregister Bildungssprache beherrscht werden. Dies bedeutet allerdings selbstverständlich nicht, dass es nicht wertvoll und wichtig wäre, möglichst weitreichende Bildungsangebote für die Weiterentwicklung der Migrationssprachen zu machen, z. B. für die persönliche Sprachbildung, für die Entwicklung von Berufsaussichten, für die Möglichkeit des Zugangs zu Wissensquellen etc. Unter den gegebenen Bedingungen der monolingual deutschsprachigen Bildungssysteme und der deutschen Amtssprache sind andere Sprachregister in den Migrationssprachen – wie zum Beispiel die Alltagssprache – oft relevanter, da die Sprachen vorwiegend im Kontext des Alltags und nicht in dem der Schule eingesetzt werden. Es existieren weitere Konzepte der Linguistik, die sich mit der Undefinierbarkeit der sprachlichen Grenzen befassen, wobei diesen Sichtweisen durch einen anderen Strang der wissenschaftlichen Fachdiskurse stark widersprochen wird, der im Folgenden dargestellt wird.
2.2 Sprachliche Zwischenwelten? Ein weiterer, im Hinblick auf Vorstellungen von Mehrsprachigkeit einflussreicher wissenschaftlicher Diskursstrang geht u. a. auf Sprachvorstellungen von Wilhelm von Humboldt im 19. Jahrhundert zurück. Humboldt (1827/29) geht davon aus, dass mit einzelnen Sprachen einzelne Weltansichten verbunden seien, die sich voneinander unterscheiden. Später wird diese Sicht auch von anderen vertreten; bekannt geworden sind vor allem Sapir und Whorf mit der Sapir-Whorf-Hypothese, die sie Anfang der 1930-er Jahre begannen auszuformulieren. Nach dieser Hypothese eröffnet jede Sprache eine bestimmte Weltsicht, die das Denken von Sprecherinnen und Sprechern dieser Sprache beeinflusst (‚sprachlicher Relativismus‘) oder gar determiniert (‚sprachlicher Determinismus‘). Whorf schrieb dazu: Die Formulierung von Gedanken ist selbst kein unabhängiger Vorgang, der im alten Sinn des Wortes rational wäre, sondern wird von der jeweiligen Grammatik beeinflusst. (Whorf 1963, 12)
Sapir und Whorf beziehen sich in ihren Schriften nicht explizit auf Humboldt, wohl aber Weisgerber, der schreibt: Humboldt sieht als zentrales Bestandstück einer jeden Sprache einen geistigen Bereich, den er zunächst als die Weltansicht dieser Sprache festhält. (Weisgerber 1962, 13)
Weisgerber formuliert diesen Gedanken bezogen auf verschiedene Sprachen genauer aus. Seiner Meinung nach denken Menschen jeweils anders, je nachdem welche Sprache sie sprechen. Sprachen werden als ‚Muttersprache‘ bezeichnet und als Ausdrucksweisen von als mehr oder weniger abgeschlossen betrachteten Kulturen ver-
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standen. In Vorstellungen ‚Interkultureller Kommunikation‘ wird auch heute noch z. T. davon ausgegangen, dass Begegnungen zwischen Menschen, die nicht dieselbe Sprache sprechen, potentiell problembehaftet seien, weswegen besondere Kompetenzen zu ihrer Bewältigung erworben werden müssten (s. beispielsweise Heringer 2010, 162). Sprache bleibt in dieser Perspektive an einen Kulturbegriff gebunden, der Kulturen als Entitäten ansieht, die einander mehr oder weniger ausschließen, und Mehrsprachigkeit erscheint vor allem relevant, um Missverständnisse zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen zu reduzieren (s. ebd., 210 f.). Der Kulturbegriff hat sich allerdings in den meisten aktuellen Arbeiten von einer starren, essentialistischen Vorstellung gelöst und umfasst soziale Gruppen unabhängig von ihrer nationalen Verortung und geht von vielfachen Verschränkungen und Überschneidungen von Sichtweisen dieser Gruppen aus, sodass es manchmal sogar unpassend erscheint, von der Kultur einer ‚Gruppe‘ zu sprechen (Leiprecht 2004). Daher erscheint die Perspektive der ‚Interkulturellen Kommunikation‘ und der damit verbundene Begriff von Kultur und Sprache als ‚Umsetzung‘ einer bestimmten, als mehr oder weniger ‚abgeriegelt‘ gedachten nationalen Kultur zunehmend fragwürdig. Auf Basis der oben dargestellten Untersuchungen zu Sprache(n) und Sprechen in Migrationsgesellschaften lässt sich sagen, dass Sprachen sich nicht mehr eindeutig auf einzelne Nationalkontexte beziehen lassen. Dass auch die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe nicht automatisch bedeutet, dass man in der mit dieser Gruppe assoziierten Sprache einsprachig aufgewachsen sein muss, wurde mit einer Untersuchung in Hamburg gezeigt. In dieser Untersuchung wurde mit einer qualitativen Erhebung nachgezeichnet, dass Jugendliche, die in nicht-türkischsprachigen Elternhäusern aufwachsen, in ihrer Umgebung Türkisch erwerben und in unterschiedlichem Ausmaß Türkisch sprechen (Dirim/Auer 2004). Selbst wenn sich Sprachen an Nationalkontexten festmachen lassen würden, müsste die Vielfalt dieser Kontexte in sprachbezogene Überlegungen involviert werden. Hinzu kommt, dass Sprachen immer in Auseinandersetzung mit den Angeboten der Umwelt, in der sie gebraucht werden, entwickelt werden. Türkisch etwa ist in der oben dargestellten Interaktion in der Schulklasse – mit dem Deutschen kombiniert – ein Zugang, mit dem die Unterrichtsaufgaben bearbeitet werden und sich sprachgebundenes Wissen angeeignet wird. Die Sprache Türkisch entwickelt sich für die Schülerinnen und Schüler in der Interaktion mit dieser Umwelt und wird mit Bildern, Ereignissen, Gesprächen dieser Umgebung assoziiert. Die migrationsspezifischen Sprachentwicklungen lassen sich nicht nach dem Modell der sprachlichen Weltsichten ausdrücken und verständlich machen. Migration ist ein Phänomen, durch das Sprachgebrauchsweisen komplexer werden und nationale Vorstelllungen von Sprache in ihrer Gültigkeit in Frage gestellt werden. Auch wenn mit dem Gebrauch von einzelnen Sprachen Assoziationen zu bestimmten kulturellen Traditionslinien verbunden sind, ist auch immer zu berücksichtigen, dass die Sprachen in den neuen Kontexten Bedeutungsveränderungen erfahren. Selbst in ein- und derselben Sprache sind Begriffe auf Grund des sozialen Wandels Bedeutungsverschiebungen unterworfen. So bedeutet das Wort ‚Kind‘ heute
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etwas anders als vor 100 Jahren, da sich Vorstellungen von Kindheit in den vergangenen 100 Jahren massiv gewandelt haben. Zudem erscheint es möglich, sich sprachgebundenes Wissen und Können in einer, zwei oder mehrerer Sprachen, mit gemischten Sprechweisen anzueignen. Die dargestellten soziolinguistischen Studien zeigen, dass sprachgebundenes Lernen in einem Kontext prinzipiell mit unterschiedlichen Sprachverhältnissen bewältigbar ist.
3 Gängige Vorstellungen von Sprache und sprach gebundenem Lernen in der pädagogischen Praxis Für die linguistische Beschreibung von Sprache(n) und ihrer Verwendung, wie sie typisch für Kontexte migrationsbedingter Mehrsprachigkeit sind, wäre ein eigenes ‚framework‘ notwendig, das die Fähigkeit zum Alternieren, Mischen, Neuschöpfen von Sprache(n) als regulären Teilbereich menschlicher Sprachkompetenz begreift und Sprachentwicklungsverläufe aus dieser Perspektive untersucht und beschreibt. Allerdings wird Sprache erfahrungsgemäß in der pädagogischen Praxis oftmals als Nationalsprache verstanden und es wird die chronologische Abfolge der Erstsprache und der Zweitsprache erwartet (Dirim/Knappik 2014). Die derzeitig dominante Perspektive, in der es möglich scheint, den Erwerb und die Entwicklung einer Erst- und Zweitsprache klar voneinander zu unterscheiden, begreift die Resultate des migrationsspezifischen Sprachgebrauchs lediglich als Abweichung von der amtlich anerkannten Variante des Deutschen und als ‚mangelnde Sprachkompetenz‘. Sie werden demnach abgewertet und es wird versucht, ihnen pädagogisch ‚entgegenzuwirken‘ (vgl. Dirim/Knappik 2014). Als Beispiel für diese dominante Perspektive soll im Folgenden ein Zitat angeführt werden, dem in abgewandelter Form in pädagogischen Praxiskontexten erfahrungsgemäß sehr häufig begegnet werden kann: „Der kann nicht wissen, was ein Fahrrad ist, weil er in seiner eigenen Sprache nicht weiß, was ein Fahrrad ist“ (Friedel-Boesch 2013, 54), so die Äußerung einer Lehrerin über einen mehrsprachig aufwachsenden Wiener Volksschüler, der als Kind mit Migrationshintergrund gilt. Die Lehrerin fährt mit den Worten fort: „Das ist das Um und Auf, ein Kind kann nur eine andere Sprache lernen, wenn die eigene einen Wert hat und es auch die eigene kann.“ (ebd.). (Unter „eigener Sprache“ ist die Migrationssprache gemeint, die in dem Elternhaus des Schülers (auch) gesprochen wird). Die Argumentation der Lehrerin, man könne einen Gegenstand an sich bzw. im Hinblick auf seine Funktion nicht erkennen, wenn man dessen Bezeichnung in seiner „eigenen Sprache“ nicht kenne, enthält mehrere Hypothesen: Zunächst wird davon ausgegangen, dass Wissen oder Erkennen von der ‚eigenen Sprache‘ abhängt, wobei (nur) eine Sprache den Status der ,eigenen Sprache‘ besitzt. Bei mehrsprachig aufwachsenden Schülerinnen und Schülern ist es häufig die Migrationssprache, die den Status der ,eigenen Sprache‘ erhält
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und nicht das Deutsche oder beide bzw. mehrere Sprachen. Die ‚eigene Sprache‘ fällt mit der ‚Herkunft‘ in eins, wobei diese Herkunft auf einen Ort im Ausland bezogen wird bzw. der Herkunftsort der Eltern und dessen Merkmalen eine solche Bedeutung beigemessen wird, dass sie auch die Herkunft des Kindes ausmachen und das Denken und Handeln des Kindes bestimmen. Schließlich wird gesetzt, dass die Zweitsprache sich nur dann angeeignet werden kann, wenn die Erstsprache wertgeschätzt und beherrscht wird. Dies geht sogar so weit, dass Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit abgesprochen wird, Erkenntnis und Wissen in der ‚Zweitsprache‘ zu erlangen, wenn dieses Wissen sich nicht zuvor in der Erstsprache angeeignet wurde. Erkenntnis und Wissen in der Zweitsprache würden gewissermaßen eine Übersetzungsleistung aus der Erstsprache darstellen. In dem Beispiel mit dem ‚Fahrrad‘ impliziert die Aussage schließlich außerdem, dass ein Gegenstand selbst dann nicht erkannt und in seiner Funktion begriffen werden kann, wenn man ihm täglich begegnet und seinen Gebrauch beobachtet, sollten die erstsprachlichen Bezeichnungen dieses Gegenstandes nicht bekannt sein. In anderen Äußerungen von Lehrkräften kommt komplementär zur obigen Annahme oft die Erwartung zur Sprache, dass es möglich sein müsste, die Funktion eines Gegenstandes durch Übersetzung der Bezeichnung für diesen Gegenstand in die als ‚Muttersprache‘ angesehene Sprache einer Schülerin oder eines Schülers ihr oder ihm leicht und problemlos begreiflich zu machen. Der Begriff ‚Muttersprache‘ wird dabei häufig synonym zum Begriff ‚Erstsprache‘ verwendet (zur Reflexion der Begriffe s. Ahrenholz 2010; Springsits 2012) und bezieht sich zumeist auf eine Migrationssprache, die vom jeweiligen Kind gesprochen wird, ganz unabhängig davon, welchen Status das Deutsche für dieses Kind besitzt. Den obigen Hypothesen entsprechend schilderte eine Lehrerin während einer Fortbildungsveranstaltung im Jahr 2013 eine Lehr- und Lernsituation mit einem Schüler mit den folgenden Worten: „Er wusste nicht einmal, wie ,Zirkel‘ auf Türkisch heißt“, wobei der Art und Weise, wie sie diese Äußerung machte, eine gewisse Resignation zu entnehmen war. Andere anwesende Lehrkräfte pflichteten ihr mit der Schilderung ähnlicher Ereignisse aus ihrem Schulalltag bei, wobei sie den Eindruck vermittelten, es handele sich um ein großes Problem, wenn Kinder die von ihren engsten Bezugspersonen gesprochenen Sprachen nicht auch selbst auf einem relativ hohen und bildungssprachlichen Niveau beherrschten. Ähnliche Diskussionen finden in vielen Lehrerfortbildungsveranstaltungen statt. Erfahrungsgemäß werden sie oft mit Sätzen wie „Die Eltern sollten den Kindern erst einmal die Muttersprache richtig beibringen, dann können wir mit der Deutschförderung weitermachen“ resümiert. Hinter diesen offenbar kollektiv tradierten diskursiven Mustern folgenden Äußerungen über migrationsbedingte Mehrsprachigkeit verbergen sich wiederum folgende weitere Annahmen, die sich mit den oben dargestellten überlappen bzw. diese ergänzen: Am einfachsten sei es, sich die Zweitsprache durch Übersetzung in die Erstsprache anzueignen. Nur dann sei ein Lernen (in) der Zweitsprache möglich. Kurz zusammengefasst könnte die daraus abgeleitete
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These lauten: Um lernen zu können, brauchen Schülerinnen und Schüler ihre „Erstsprache“.
4 Episteme der pädagogischen Denkkultur über migrationsbedingte Mehrsprachigkeit Da der Fokus des vorliegenden Beitrags auf den Zusammenhang zwischen migrationsbedingter Mehrsprachigkeit und dem Erwerb sprachlich gebundenen Wissens gerichtet ist, erscheint es zielführend, die nationalstaatliche Verfasstheit als konstitutives Element der Gesellschaften der amtlich deutschsprachigen Staaten bzw. Regionen in den Blick zu nehmen und auf den Gegenstand des vorliegenden Beitrags zu beziehen. Zu bedenken ist dabei, dass es in diesen Staaten auch andere Amts- und damit Schulsprachen der anerkannten Minderheiten gibt. Konstitutive Elemente dieser Staaten bzw. Regionen werden nicht nur an (Sprach-)Gesetzen erkennbar, sondern auch an gesellschaftlichen Diskursen, in denen bestimmte Differenzen zwischen Menschen bedeutsam gemacht werden und sich zu Dispositiven (Foucault 1981) verdichten, die argumentativ herangezogen werden, um Einbezug und Ausschluss zu legitimieren. Gesellschaft ist im Anschluss an diese wissenschaftlichen Denktradition als Großgruppe vorstellbar, die mit bestimmten Differenzordnungen strukturiert und reguliert wird. Den konstitutiven Rahmen der Gesellschaften der amtlich deutschsprachigen Regionen stellt der Nationalstaat dar, innerhalb dessen wiederum ,Sprache‘ ein zentrales Merkmal bildet, verknüpft mit primordialen Vorstellungen einer ethnischen Einheit, die u. a. mit dem Gebrauch des Wortes ,Volk‘ zum Ausdruck kommt. Somit wird Sprache i. S. v. ‚(nicht-)deutsche Sprache‘ zu einem Differenzmerkmal, mit dem ein System von Über- und Unterordnungen hergestellt werden kann. Das Denken, das die Einheit von Sprache, ‚Volk‘ und Nation propagiert, wirkt sich auf die Wahrnehmung von und den Umgang mit Sprachen aus, da vor allem durch Migration deutlich wird, dass es keine Einheit von Menschen gibt, die zu Hause (seit Generationen) nur Deutsch sprechen. Dennoch ist die Gleichsetzung von Sprache, ‚Volk‘ und Nation historisch so gefestigt, dass sie als ‚normal‘ gilt. Diese von Ingrid Gogolin begrifflich unter Rückgriff auf die Habitustheorie Bourdieus als „monolingualer Habitus“ gefasste Denkweise (Gogolin 1994) wirkt sich mit der Normalitätsannahme der Einsprachigkeit in der Nationalsprache auch auf pädagogische Argumentationen aus. Auch die Art, wie Deutsch gesprochen wird, welches Deutsch gesprochen wird, wird in diesem primordialen Konstrukt zu einem ethnischen Differenzmerkmal. So besteht empirische Evidenz für eine Denkweise des Native Speakerism, die in den amtlich deutschsprachigen Regionen zum Ausschluss von Sprecherinnen und Sprechern führen kann, die Deutsch auf eine von migrationssprachlichen Merkmalen beeinflusste Art und Weise verwenden (vgl. Knappik/Dirim 2013). Diese Annahme legen Argumentationen von Dozentinnen und Dozenten an pädagogischen Hochschulen
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in Österreich nahe, die als zukünftige Lehrkräfte Studierende bevorzugen, die einen ‚dialektalen Akzent‘ im Standarddeutschen haben und zwar im Vergleich zu jenen, bei denen eine Migrationssprache wie Ungarisch durch einen Akzent wahrnehmbar wird (ebd.). Damit gibt es empirische Evidenz für die Ausgrenzung von Menschen auf Grund migrationssprachlicher Differenz zu Formen der dominanten Nationalsprache und die Nutzung dieser Differenz für deren Festlegung auf eine Vorstellung von minderer Sprachkompetenz. Die Annahmen in den obigen Argumenten von Lehrkräften wiederum verdeutlichen komplementär dazu, dass Schülerinnen und Schüler, die als solche mit Migrationshintergrund gelten, einer anderen ,Nation‘ als der als deutschsprachig angesehenen zugeordnet werden und im Hinblick auf den Wissenserwerb auf andere Sprachen als Deutsch festgelegt werden. Hier zeigt sich, dass Sprache mit nationaler bzw. ethnischer Zugehörigkeit verschränkt gedacht wird. Sprache wird in Zusammenhang mit ethnischer Zugehörigkeit symbolisch wirksam (gemacht) und umgekehrt ethnische Zugehörigkeit im Zusammenhang mit Sprache. Es wird versucht, etwaige Schwierigkeiten in der Wissensaneignung unter Bezugnahme auf die nicht-deutsche Sprache zu erklären. Kinder, die migrationsbedingt mehrsprachig aufwachsen und die Schwierigkeiten in der Wissensaneignung zeigen, sei es sprachliches oder über Sprache vermitteltes sachliches bzw. fachliches Wissen, werden dementsprechend in den oben vorgestellten Zitaten auf die als ,ihre Sprache‘ geltende Sprache verwiesen. Damit wird die Verantwortung für die Wissensvermittlung ein Stück weit aus dem Zuständigkeitsbereich der nationalen Schule exkludiert, deren legitime Bildungs- bzw. Unterrichtssprache Deutsch ist. Schülerinnen und Schüler werden in gängigen Denktraditionen über migrationsbedingte Mehrsprachigkeit als Mitglieder einer Gruppe gedacht, deren Wissensaneignung in bestimmter Hinsicht nicht in den Zuständigkeitsbereich der deutschsprachigen nationalen Schule fällt. Der Verweis auf die Eltern, sie sollten ihren Kindern ‚erst einmal‘ die Muttersprache beibringen, kann vor diesem Hintergrund als Strategie der Exklusion interpretiert werden. Damit zeigt sich, dass sich im pädagogischen Diskurs ein Argumentationsstrang etabliert hat, der die Zuständigkeit für Schülerinnen und Schüler, die mehrsprachig aufwachsen, mit dem Verweis auf ,ihre eigenen Sprachen‘ bzw. ,Muttersprachen‘ gewissermaßen aus der Verantwortung der Wissensvermittlung in der nationalen Schule exkludiert bzw. eine Argumentationsmöglichkeit liefert, auf die bei Vermittlungsproblemen zurückgegriffen werden kann, um Zuständigkeit zurückzuweisen. Im Falle von Reibungen in der Wissensvermittlung kann also auf argumentative Gesprächsmuster zurückgegriffen werden, die im Sinne eines Dispositivs herangezogen werden, um die Verantwortlichkeit in den Bereich einer Sprache zuzuweisen, für deren Förderung und Etablierung als Lehr- und Lernsprache die nationale Schule nur begrenzt zuständig ist. In diesem Argumentationsstrang wird ‚Muttersprache‘ bzw. werden Migrationssprachen genutzt, um Ausschluss zu legitimieren. Damit werden Migrationssprachen als Differenzmerkmal auf eine solche Art und Weise bedeutsam (gemacht), dass mit ihnen Gruppen von Schülerinnen und Schülern konstruiert werden, die vom Ausschluss bedroht sind.
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Zahlreiche Forderungen von pädagogisch und sprachbildnerisch Tätigen zeugen von der Vorstellung getrennter Nationalsprachen, die aufeinander aufbauend gelernt werden müssen. So fordert Beispielsweise die Logopädin Alzner: „Wichtig ist zuerst ein sicherer, korrekter, sattelfester Erstspracherwerb“ (Alzner in Rauch 2014) oder wie beim Aachener Tag der Mehrsprachigkeit im Jahr 2013 gefordert: „Erst die Muttersprache, dann Deutsch“ (Johnen 2013). Zahlreiche weitere Beispiele können angefügt werden. Diese Beispiele sollten allerdings nicht als absichtsvolle Ausgrenzungsversuche verstanden werden, denn die Personen, die argumentieren, wenn die ‚eigene‘ Sprache nicht beherrscht würde, könne kein Deutsch gelernt werden, sind der Meinung, damit den ‚Migrantenkindern‘ zu helfen. Die starre Orientierung an Nationalsprachen und der Vorstellung der Richtigkeit von deren kausalen Erwerbsabfolgen laufen allerdings, wie oben dargestellt, Gefahr, Grundlage für ausgrenzende Argumentationen zu werden. Es zeigt sich hier, dass es wichtig ist, in die Ausbildung einschlägiger Berufe soziolinguistisches Reflexionswissen einzubinden. Wenn berücksichtigt wird, dass es sich bei Sprache um eine soziale Errungenschaft mit verschiedenen Ausprägungen handelt, lässt sich das beschriebene Verhältnis durchaus auch als Naturalisierung sozialer Differenz verstehen, da in den beschriebenen Argumentationen eine natürliche Verbundenheit mit einer als Erstsprache zugeschriebenen Sprache hergestellt wird. Sprache ist auch insofern ein soziales Differenzmerkmal, als es sich dabei nicht nur um ein Mittel für die Realisierung von Kommunikation handelt, sondern auch um eins, das symbolische Funktionen besitzt, gerade deshalb, weil verschiedene Sprachen und Register als Kennzeichen sozialer Gruppen bedeutsam gemacht werden. Für die naturalisierende Zuschreibung des Differenzmerkmals ‚Sprache‘ gibt es einen Begriff, den des Linguizismus als spezielle Form des Rassismus. Dabei geht es darum, dass Menschen auf Grund von sprachlicher Andersheit diskriminiert werden. Der Linguizismus wird heute selten offen verübt, sondern kommt eher verdeckt vor, sodass es angebracht erscheint, vom Neo-Linguizismus zu sprechen (Dirim 2010). Der Rassismusbegriff, der hier zum Tragen kommt, geht u. a. auf Balibar zurück, der herausgearbeitet hat, dass rassistische Einteilungen nicht nur mit dem Bedeutsammachen physiognomischer Merkmale einhergehen, sondern dass auch das Differenzmerkmal ‚Kultur‘ auf dieselbe Weise eingesetzt wird. Andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten zeigen, wie verschiedene Differenzmerkmale eingesetzt werden, um Menschen in rassistischen Denktraditionen in Gruppen einzuteilen, u. a. Hall, Mecheril, Melter und Rommelspacher (zum Überblick über die Leistungen der genannten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und weiterer s. Mecheril/Melter 2010). Kindern wird in den hier interessierenden pädagogischen Argumentationen auf Grund der Gruppenzugehörigkeit (ihrer Eltern) eine sprachliche Disposition naturalisierend und generalisierend zugeschrieben, nach der Wissen sich eher in der Erstsprache anzueignen ist. Die Vermittlung der ‚Erstsprache‘ und die des ‚Wissens‘ sei eher die Aufgabe der Eltern, da diese einen Migrationshintergrund haben und damit eine imaginierte nationale Zugehörigkeit, unabhängig vom Pass, für die die deutschsprachige Schule
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nicht zuständig sein muss. Eltern, die als solche ohne Migrationshintergrund gelten, sind von dieser Verpflichtung ausgenommen, auch wenn sie von der Standardsprache abweichende Register verwenden, z. B. einen Dialekt. Dies wird daran ersichtlich, dass in den Auseinandersetzungen um die Beibehaltung des Dialekts etwa keine Bedenken für die Aneignung von Wissen diskutiert werden. In der Auseinandersetzung um einen Dialekt als ‚Erstsprache‘ geht es in der Fachliteratur viel mehr um Fragen von Plurizentrik, Sprachloyalität, Identitätsverlust durch Verlust des Dialekts und, auf den schulischen Kontext bezogen, um die Frage, ob es legitim sei, Dialekt zu sprechen, um die Frage der Nicht-Berücksichtigung und Falschbewertung dialektaler Äußerungen durch Lehrkräfte u. v. m., nicht aber um Probleme der generellen Wissensaneignung über Sprache (vgl. u.a Ransmayr 2012). Im Hinblick auf Migrationssprachen wird jedoch ein Zusammenhang zum sprachgebundenen Lernen hergestellt; es werden zwei Gruppen von Eltern und Kindern konstruiert, nämlich solche, die zu Hause eine Migrationssprache verwenden, und solche, die keine verwenden, die gegeneinander polarisiert und hierarchisiert werden. Wenn Wissenserwerb damit indirekt in die Verantwortung der Eltern ausgelagert wird, zeigt dies, dass das zugeschriebene Differenzmerkmal ‚Erstsprache‘ zu einem Kriterium des Ausschlusses werden kann. Insgesamt zeigt sich, dass die Diskurse der amtlich deutschsprachigen Regionen über Mehrsprachigkeit einen Diskursstrang enthalten, der Gefahr läuft, in den Linguizismus abzudriften und der ebenfalls das Verständnis vom sprachgebundenen Wissenserwerb beeinflusst. Grund dafür sind monolingualiserende, ethnisierende und rassialisierende epistemische Grundlagen (Foucault), die u. E. dekonstruktiv einer transformativen Bearbeitung zugänglich gemacht werden müssen, und zwar unter Berücksichtigung der Ergebnisse der oben zusammengefassten Ergebnisse soziolinguistischer Untersuchungen.
5 Didaktische Modelle Die Mehrsprachigkeit von Schülerinnen und Schülern und die monolinguale Schule stehen in einem deutlichen Gegensatz zueinander. In der Schule wird bis auf wenige Ausnahmen auf Deutsch unterrichtet, das heißt, dass die Sprache der Materialien, der Kommunikation und der Instruktion monolingual deutsch ist. Eine Ausnahme davon sind einzelne bilinguale Schulversuche, in denen zwei Sprachen (eine Migrationssprache und Deutsch) genutzt werden, um Fachinhalte in beiden Sprachen zu vermitteln und zugleich eine Bildungszweisprachigkeit zu erzeugen. Bilinguale Schulen sind z. B. einige Europaschulen in Berlin und einige Hamburger Schulen des Modellversuchs „Bilinguale Grundschule in Hamburg“ (vgl. Gogolin u. a. 2007). Im Rahmen dieses Modellversuchs wird durch eine Lehrkraft auf Deutsch und durch eine andere in einer Migrationssprache (je nach Variante des Modellversuchs Italienisch/
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Portugiesisch/Spanisch/Türkisch) gemeinsam in einer Klasse unterrichtet. In den Klassen sind Kinder, die einsprachig deutsch aufwachsen, solche, die zusätzlich zum Deutschen mit einer der genannten Migrationssprachen aufwachsen, und Kinder, die zusätzlich zum Deutschen mit einer weiteren – im Modell nicht unterrichteten – Migrationssprache aufwachsen. Die Ergebnisse des Modellversuchs zeigen deutliche Lernzuwächse der Kinder hinsichtlich der sprachlichen Mittel und ein gestiegenes sprachliches Selbstbewusstsein in allen im Rahmen des Unterrichts genutzten Sprachen (vgl. Gogolin u. a. 2007). Außer den bilingualen Schulmodellen wurde in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Methoden entwickelt, Mehrsprachigkeit in den monolingual deutschsprachigen Regelunterricht einzubeziehen. Dazu gehören z. B. Sprachvergleiche, deren Ziel es ist, Sprachbewusstheit auf einer Metaebene zu erzeugen, Wertschätzung von Mehrsprachigkeit zu erreichen (Krumm/Reich 2011). Methoden des Aufbaus bilingualer Sprachkompetenz, z. B. bilinguales Scaffolding (Roth o. J./2006), sind eine weitere Möglichkeit, Mehrsprachigkeit aufzugreifen und im Sinne der Entwicklung bildungssprachliche Repertoires auszubauen. Beim Scaffolding wird eine Art sprachliches Gerüst um die Äußerung eines Kindes aufund nach dem erfolgten Lernprozess wieder abgebaut. Für das bilinguale Scaffolding beschreibt Roth (o. J./2006) folgende Schritte: 1. Zuhören in der vom Kind gewählten Sprache, 2. Verstehen sichern ebenfalls unter Verwendung der vom Kind gewählten Sprache, 3. Überleiten des Kindes in die Sprachproduktion der jeweiligen Zielsprache, 4. Aufbauende Sprachunterstützung als scaffolding, 5. Markierung des Abschlusses der Kommunikationssituation durch Dank in der jeweiligen Zielsprache. Aufgrund seiner Beobachtungen in einer Kindergartengruppe, in der das Prinzip „eine Person – eine Sprache“ flexibel praktiziert wurde, kann Roth zeigen, dass nicht nur die strikte Beibehaltung des Prinzips des monolingualen Sprachgebrauchs zu einer funktionalen Sprachentrennung und einem Bewusstsein über die je unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten einer Sprache führt, sondern ein nach systematischen Kriterien erfolgendes Codeswitching, das von den sprachlichen Möglichkeiten der Kinder her gezielt eingesetzt wird (vgl. Roth 2005). Der Einbezug von Mehrsprachigkeit zur Erhöhung des Schulerfolgs (El Khechen u. a. 2011) ist ein Gedanke, der vor allem in Folge der PISA-Studien entstand. In der schulischen Interventionsstudie des Projekts POTentialErstSPRACHE beispielsweise wurde insgesamt mit 134 Schülern und Schülerinnen auf der Basis der Theory of Learning from Context (Sternberg/Powell 1983) gearbeitet. Es wurde festgestellt, dass Kinder, die in der Familie überwiegend Türkisch sprechen, in der vierten Klasse signifikant geringere Wortschatzkompetenzen im Deutschen aufweisen, dass jedoch das implizite Lernen neuer bildungssprachlicher Wörter aus dem Kontext (durch zweimaliges Lesen) keinen signifikant geringeren Wortschatzerwerb zur Folge hat als
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bei Kindern mit ausschließlich deutscher Familiensprache. Es konnte somit gezeigt werden, wie wichtig es auch für mehrsprachige Kinder ist, neuen Wortschatz in einem sinnhaften Kontext zu erwerben (El Khechen u. a. 2012). Wie schwierig es allerdings ist, in didaktischen Modellen von den nationalstaatlichen Normen abzuweichen, zeigt die Gestaltung von Sprachkursen und „Integrationsprüfungen“, die in allen sprachlichen Kompetenzbereichen dasselbe Niveau, etwa B2, anbieten bzw. fordern. Verschärft wird die Problematik, da zahlreiche soziolinguistische Untersuchungen zeigen, dass (National-)Sprachen in der Migration in verschiedenen Mischverhältnissen erworben und gesprochen werden und sich nicht an sprachlichen ‚Reinheitsgeboten‘ von Nationalstaaten halten. Sprechstrategien wie ‚Code-Switching‘, bei dem Sprachen – wie in den eingangs zitierten Erhebungen der Fall – miteinander kombiniert verwendet werden (vgl. Krehut/Dirim 2010), irritieren nationalstaatliche Schulkonzepte und werfen Fragen des Umgangs mit Sprache(n) auf. Neuere didaktische Modelle, die in den USA entstehen, erweitern das Modell des „repertoire view“ und greifen das linguistische Erklärungsmodell des kreativen und gemischten Sprachgebrauchs des „languaging“ auf und beziehen es in schulische Programme ein (Dirim 2015). García und Wei (2012) entwickeln ein Programm, mit dem Schülerinnen und Schüler einen translingualen (= languaging) Zugang zu Literalität finden, indem ihnen (auch) ermöglicht wird, gemischtsprachlich zu schrei ben. Die Schülerinnen und Schüler dürfen in diesen Modellen in dafür vorgesehenen Unterrichtsstunden gemischtsprachlich schreiben, nämlich so wie sie sprechen, um Grunderfahrungen der Literalität zu machen, also Freude am Aufschreiben der eigenen Gedanken zu finden, einen persönlichen Zugang zur Sprache zu entwickeln, Erfahrungen des Schreibens zu machen. In anderen Unterrichtsstunden wiederum geht es um den Ausbau der Einzelsprachen zu (nationalen) Bildungssprachen. In dem Unterricht dieser verschieden gestalteten Stunden wird reflexiv aufeinander Bezug genommen. Damit wäre ein Modell gegeben, dass nicht den (unter den heutigen Bedingungen möglicherweise unrealistischen) Anspruch nationalstaatliche Sprachnormen aufzuheben verfolgt, sondern sprachliches Lernen offener und unter Berücksichtigung mehrsprachiger Zugänge, auch im Sinne von Mischsprachen, gestaltet. Der Blick in die Entwicklung didaktischer Modelle in verschiedenen Ländern offenbart neue Konzepte, die versuchen, migrationsspezifische Sprachentwicklungen, die nationalen Konzepten von Sprache widersprechen, aufzugreifen und sie für sprachgebundenes Lernen fruchtbar zu machen (vgl. Gogolin/Lange 2010). Dennoch können auch diese Modelle nicht das Spannungsverhältnis zwischen nationaler und konzeptioneller Einsprachigkeit auf der einen Seite und der migrationsbedingten und anders als ein additives Nebeneinander von Sprachen beschaffenen Mehrsprachigkeit auf der anderen Seite auflösen. Es bleibt möglicherweise die Problematik weiter bestehen, dass die Schule der nationalen Einsprachigkeit in der Amtssprache weitgehend entsprechen muss. Auf Grund der weitgehenden Ausrichtung an der Einsprachigkeit im Deutschen, wenn wir auf die amtlich deutschsprachigen Staaten zurückkommen, die auch gesellschaftlich verankert ist, entsteht eine „normative Gewalt“
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(Castro Varela/Dhawan 2011), der unter den gegebenen Bedingungen nur zum Teil zu entkommen ist. Der Begriff „normative Gewalt“ wurde im Kontext von didaktischen Modellen zum Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität an Schulen bisher kaum diskutiert, ist jedoch argumentativ sowie erkenntnisermöglichend ergiebig. Wünschenswert wäre aus dieser Perspektive, dass die Schule sich der gelebten Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schülern gegenüber weiter öffnet, um sprachliche Quellen sprachgebundenen Lernens in der Schule zu erweitern und den sprachgebundenen Wissenserwerb nicht argumentativ an Eltern auszulagern. Wichtig ist allerdings auch, dass akzeptiert wird, dass auch Deutsch eine Sprache innerhalb eines mehrsprachigen Repertoires ist, das Schülerinnen und Schüler beherrschen. Mit Methoden der Sprachförderung und sprachlichen Bildung (vgl. Lengyel, Art. 24 in diesem Band) sollte allen Schülerinnen und Schülern Wissensaneignung in der deutschen Sprache ermöglicht werden. Für mehrsprachig aufwachsende Kinder wären mehrsprachige Schulmodelle besser als einsprachige, da sie, wie zum Beispiel die oben dargestellte Interaktion zwischen den beiden Hamburger Jungen zeigt, sich Wissen in einer Migrationssprache und dem Deutschen aneignen bzw. in Mischformen derselben. Zugleich muss berücksichtigt werden, dass die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit etwas anderes als ein additives Nebeneinander von zwei Sprachen bedeutet, wie die oben zitierten soziolinguistischen Untersuchungen zeigen. Kinder und Jugendliche können nicht auf eine (zugeschriebene) Erstsprache festgelegt werden. Es gilt mit verschiedenen pädagogischen Versuchen zu ermöglichen, die Sprachen, die sie beherrschen, und migrationsspezifische Sprachentwicklungen in die Prozesse der Wissensaneignung einzubeziehen.
6 Fazit Eine Öffnung von Bildungsinstitutionen der Mehrsprachigkeit gegenüber muss die gesellschaftlichen Sprachenverhältnisse berücksichtigen, da Schule in diese Verhältnisse eingebunden ist. Die gängige Ausdrucksweise vom ‚Einbezug von Mehrsprachigkeit‘ allein macht bereits deutlich, dass die Norm der Einsprachigkeit weiterhin gilt. Diese Einsprachigkeit wird außerdem – wie an den eingangs analysierten Zitaten deutlich – in einigen gängigen pädagogischen Vorstellungen auf Mehrsprachigkeitsverhältnisse übertragen: Sprachen von Kindern und Jugendlichen werden als Nationalsprachen klassifiziert und nach Konzepten von ‚Muttersprache‘ werden bestimmte Sprachen als für den Wissenserwerb geeignet betrachtet. Da die nationale Schule allerdings eher als für die Wissensvermittlung im Deutschen zuständig erachtet wird, wird nach dem ‚Muttersprachenkonzept‘ die Aufgabe der Wissensvermittlung zum Teil auf die Eltern ausgelagert. Neuere Konzepte von Deutschförderung und sprachlicher Bildung im Deutschen (vgl. Lengyel, Art. 24 in diesem Band) widersprechen dieser Sichtweise, da sie davon ausgehen, dass alle Schülerinnen und Schüler
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sich im Deutschen und in anderen Sprachen, die in die Schule einbezogen werden, Wissen aneignen können. Es wäre wünschenswert, dass der Prozess der Entwicklung der Schule als mehrsprachige Schule weiter vorangetrieben wird, damit in der Schule die sprachlichen Ressourcen der Schülerinnen und Schüler besser genutzt werden können, ohne dass jedoch damit Festlegungen auf zugeschriebene Muttersprachen einhergehen. Interessante Impulse dafür, die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit aufzugreifen, kommen aus dem internationalen Raum. Es zeigt sich jedoch auch, dass symbolische Wertigkeiten von Sprachen und Nutzung von Sprachen als Instrumente der Wissensvermittlung stark ineinandergreifen, historisch geprägt sind und Zuschreibungen erzeugen, die Subjekte auf bestimmte Sprachen reduzieren, mit denen deren Wissensaneignung verknüpft wird. Die gesellschaftliche Eingebundenheit von Schule im Hinblick auf die positionierende Bezugnahme auf Sprache(n) lässt sich mit subjektivierungstheoretischen Zugängen greifen. Von Foucault (1982) ausgehend lässt sich Subjektwerdung als unabschließbares Zusammenspiel zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen verstehen, bei dem den Akteuren und Akteurinnen aufgrund der historisch entstandenen Machthierarchien der Gesellschaft unterschiedliche Handlungsspielräume und Deutungshoheiten zur Verfügung stehen. Auch einzelne Orte, an denen gearbeitet wird, bestimmen die Machtverhältnisse auf Grund der historischen und gegenwärtigen Verhältnisse, weshalb es notwendig erscheint, die ortsbezogene gesellschaftliche Formation und die Bedeutung der Sprachen darin zu berücksichtigen. Nach Auskunft von Kolleginnen und Kollegen, die in der Türkei arbeiten, ist es zum Beispiel nicht überall gleichermaßen möglich, das Armenische in den türkischen Unterricht einzubeziehen, da die Auseinandersetzung mit der Vernichtung von Armenierinnen und Armeniern im ersten Weltkrieg an verschiedenen Orten ganz unterschiedlich (de)thematisiert wurden und dies sich auf die Möglichkeit sich offen zur Zugehörigkeit als Armenierin/Armenier zu bekennen auswirkt und somit auch auf die Behandelbarkeit dieser Sprache und ihren Einbezug zum Erwerb sprachgebundenen Wissens als Sprache von anwesenden Schülerinnen und Schülern im Unterricht. Sprache ist nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern auch ein symbolisch aufgeladenes Zugehörigkeits- und mithin Differenzmerkmal. Was es für die Schülerinnen und Schüler bzw. Studierende bedeutet, dass manche Sprachen im Unterricht bzw. in der Bildungsinstitution vorkommen und andere nicht, welche Art von Adressierungen über die verschiedenen Sprachen stattfinden und wie mit Inferiorisierungen umgegangenen werden kann, ist bisher empirisch nicht hinreichend erforscht worden. Adressierungs-, Zuschreibungs- und Markierungsprozesse werden sich auf die eine oder andere Weise auf die Möglichkeiten sprachlichen Lernens auswirken und nicht nur der Umstand, dass in der Schule bestimmte Sprachen als Quellen des sprachgebundenen Lernens zur Verfügung stehen. Darüber hinaus erscheint es wichtig, dass Lehrkräfte nicht nur Sprachförderung und sprachliche Bildung im Deutschen ermöglichen, damit sprachgebundenes Lernen in der Schule über die deutsche Sprache besser geschehen kann, sondern auch anerkennen, dass Deutsch für die Schülerinnen und Schüler, die zu Hause vielleicht auch andere Spra-
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chen als Deutsch sprechen, trotzdem eine wichtige und vielleicht sogar die wichtigste Sprache der Wissensaneignung und Sozialisation im weiteren Sinne darstellt und Lernen nicht imaginativ auf die Eltern und die Sprache, die als ‚Muttersprache‘ naturalisiert wird, ausgelagert wird. Eine Quelle dieser Anerkennung können Reflexionen des Zusammenhangs zwischen Sprache, Nation und Zuschreibung bieten, zum Beispiel als Bestandteil der Lehrer- und Lehrerinnenausbildung.
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Marijana Kresić
6. Sprache und Identität Abstract: Der Beitrag behandelt aus interdisziplinärer Perspektive den Zusammenhang zwischen Sprache und Identität. Der Fokus liegt dabei auf sprachwissenschaftlichen, erkenntnistheoretischen, psychologischen und soziologischen Ansätzen. Zunächst wird das interdisziplinäre Forschungsfeld abgesteckt und die grundlegenden Konzepte „Sprache“ und „Identität“ werden näher bestimmt. Anschließend werden solche Theorien und Modelle der Identität erörtert, die der Sprache eine zentrale Funktion im Prozess der Identitätskonstruktion einräumen. Es werden sodann Implikationen im Hinblick auf den Begriff des bildungs- und sprachbezogenen Habitus erörtert. Identität wird als sprachlicher Konstruktionsprozess im Zeitalter der Postmoderne näher charakterisiert. Anschließend werden vor allem sprachwissenschaftliche Forschungsrichtungen zum Themenkomplex „Sprache und Identität“ vorgestellt. Bei der Beschreibung der Entwicklung sprachlicher Identität gilt ein besonderes Augenmerk dem Kindes- und Jugendalter sowie Zwei- und Mehrsprachigkeitskontexten. Im Ausblick werden offene Forschungsfragen in Bezug auf den Zusammenhang von Sprache, Identität und Bildung thematisiert. 1 Einführung in das interdisziplinäre Forschungsfeld 2 Die grundlegenden Konzepte und Zusammenhänge 3 Sprache und Identität: Theorien und Modelle 4 Sprache und Identität: jüngere empirische Forschung 5 Phasen und Formen der Entwicklung sprachlicher Identität 6 Ausblick: Sprache, Identität und Bildung 7 Literatur
1 Einführung in das interdisziplinäre Forschungsfeld Sprache ist das zentrale Medium zwischenmenschlicher Kommunikation, in dem und durch das personale und soziale Identitäten konstruiert werden. Dies ist die Grundannahme dieses Beitrags. Die Konstatierung der sprachlichen Verfasstheit von Identität wirft die Frage auf, wie sich der Zusammenhang zwischen Sprache und Identität mit den ihm eigenen sprachlich-kommunikativen, individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen ausgestaltet, und auf welche Art und Weise sich die Prozesse, in denen Identitäten in sprachlicher Interaktion von den beteiligten Akteuren ko-konstruiert werden, analysieren und beschreiben lassen. Hierbei handelt es sich um ein interdisziplinäres Forschungsfeld, an dessen Bearbeitung verschiedene wissenschaftliche Disziplinen mit ihren je spezifischen Metho-
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den beteiligt sind, u. a. die Sprachwissenschaft, die Semiotik, die Psychologie, die Soziologie, die Philosophie, die Sozial- und Kulturanthropologie und die Kulturwissenschaft. Zum Themenkomplex „Sprache und Identität“ wurden innerhalb der Sprachwissenschaft seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zahlreiche, vor allem gesprächsanalytische, soziolinguistische, ethnographische, text- und diskursanalytische Arbeiten vorgelegt, die häufig die sprachliche Aushandlung bestimmter Identitätsaspekte, etwa der Geschlechtsidentität, in den Blick nehmen. Im Mittelpunkt steht dabei die Untersuchung der spezifischen sprachlichen und kommunikativen Strategien, mit deren Hilfe Identitäten konversationell, diskursiv und narrativ ausgehandelt werden. Der vorliegende Beitrag gibt einen allgemeinen Überblick über den Zusammenhang von Sprache und Identität, wobei die Erkenntnisse aus verschiedenen der o. g. wissenschaftlichen Disziplinen einbezogen werden. Im folgenden Kapitel werden die für diesen Artikel grundlegenden Konzepte und Zusammenhänge näher bestimmt.
2 Die grundlegenden Konzepte und Zusammenhänge 2.1 Sprache Der für das hier behandelte Thema zentrale Begriff der Sprache wird im Folgenden in dreierlei Hinsicht definiert, und zwar erstens mit Blick auf die elementare Rolle von Sprache im Prozess der Erkenntnis und der Wirklichkeitskonstruktion, zweitens im Hinblick auf ihre vielfältige und vielgestaltige Konkretisierung in der kommunikativen Praxis des Sprechens, und drittens bezüglich ihrer Funktionen als dem Menschen eigenes Zeichensystem. Der Ausgangspunkt ist eine konstruktivistische Auffassung von Erkenntnisprozessen und von Sprache (sowie des Prozesses der Identitätskonstruktion, vgl. die nachfolgenden Teilkapitel 2.2 und 3.3), die sich u. a. an die erkenntnistheoretischen Positionen der Kognitionsbiologie Maturanas und Varelas (z. B. 1987) anschließt und von der Subjektabhängigkeit sowie vom Konstruktionscharakter von Wirklichkeit und Wissen ausgeht. Postuliert wird die Subjektabhängigkeit von Wahrnehmung, Erkenntnis und Wirklichkeitskonstruktion und die kognitive Autonomie des Individuums, die sich durch das Prinzip der Selbstorganisation auszeichnet. Entsprechend werden aus konstruktivistischer Sicht Lernprozesse so konzeptualisiert, dass Lernen nicht in der passiven Aufnahme von Lerninhalten besteht, sondern vielmehr als aktives Verstehen und Konstruieren von Wissen durch den Lernenden zu verstehen ist, das durch entsprechende Anregungen in der Lernumgebung ausgelöst wird. Aus der hier vertretenen konstruktivistischen Sicht kommt der Sprache eine zentrale Rolle
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Marijana Kresić
im Prozess der Wirklichkeitskonstruktion zu, insofern das Sprechen als Modus der interpersonalen Abgleichung und Konstruktion von Wirklichkeit im Gespräch angesehen wird (Stegu 2000, 205 ff., Kresić 2006, 34). Sprache wird dabei – anders als in strukturalistischen und formal-linguistischen Auffassungen, die Sprache als abstraktes System modellieren – als Phänomen der Performanz bzw. des Gebrauchs, d. h. vor allem mit Blick auf ihre Realisierung im konkreten Sprechen definiert. Diese performanztheoretische Auffassung von Sprache (Krämer 2001) schließt an die Sprachtheorien von Butler, Luhmann, Austin sowie den späten Wittgenstein an und vermag den identitätskonstitutiven Charakter des Sprechens angemessen zu erfassen (Kresić 2006, 161). Im Rahmen eines solchen interaktionistischen Sprachbegriffs wird durch den Fokus auf die kommunikative Praxis das Sprechen bzw. das Gespräch zum Ort, an dem in konkreten „Sprechsituationen […] geteilte Wirklichkeitsmodelle und die Identitäten der jeweils Sprechenden konstruiert werden“ (ebd., 162). Die Fluidität, Flexibilität und Vielschichtigkeit der Sprache bzw. des Sprechens ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Aspekt, insofern diese(s) in vielen Realisierungsformen, d. h. in Einzelsprachen, sprachlichen Varietäten, Dialekten, Registern etc. in Erscheinung tritt. Die Sozio- bzw. Varietätenlinguistik konzeptualisiert Sprache zu Recht als heterogenes, komplexes und offenes Polysystem, das sich auch als dynamisches Repertoire (Halwachs 1993) beschreiben lässt. Die verschiedenen Varietäten eines Repertoires differenzieren sich unter sozialen und geografischen Gesichtspunkten in Soziolekte, Technolekte, Dialekte, Regiolekte und Standardvarianten sprachlicher Polysysteme aus (ebd.). Was sind nun die Funktionen der Sprache bzw. des Sprechens? Sprecher realisieren durch das Sprechen verschiedene elementare Sprach- bzw. Zeichenfunktionen: 1. die Funktion der Wirklichkeitskonstruktion, die in Bühlers (1934, 28) Organonmodell etwa der Darstellungsfunktion des sprachlichen Zeichens entspricht, 2. die Funktion der Subjektivität, die bei Bühler (ebd.) als Ausdrucksfunktion des sprachlichen Zeichens bezeichnet wird, 3. die ebenfalls bei Bühler (ebd.) vorkommende Appellfunktion sowie 4. die Funktion der Konstruktion der Sprecheridentität (Kresić 2006, 191 ff.). Indem sich Sprecher in bestimmter Weise sprachlicher Zeichen bedienen, dadurch dass sie eine bestimmte Einzelsprache oder Sprachvarietät sprechen, sagen sie etwas über sich selbst aus. Sie positionieren sich – bewusst oder unbewusst – als Angehörige einer bestimmten sozial, geographisch, politisch etc. definierten Gruppe und konstruieren somit ihre soziale, aber auch ihre jeweils individuelle Identität. Die Betonung der Medialität von Sprache leitet sich daraus ab, dass diese stets in einem bestimmten Medium realisiert vorkommt, d. h. „als gesprochene, geschriebene, gestische, technisch-mediatisierte Sprache“ (Krämer 2001, 270). Sie kann grundlegender Modus und zentrale Mittlerin interpersonaler Kommunikation, als für den Menschen typisches „Metamedium“ (Ehlich 1998, 20) charakterisiert werden (vgl. den Beitrag von Ballstaedt in diesem Handbuch).
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Das nur als wissenschaftliche Abstraktion existierende Konstrukt „Sprache“ lässt sich zusammenfassend als Medium der zwischenmenschlichen Kommunikation definieren, das in heterogenen, vielfältigen und fluiden Erscheinungsformen im konkreten Sprechen in Erscheinung tritt und der Erkenntnis, dem Ausdruck von Subjektivität, der Realisierung kommunikativer Intentionen, der Konstruktion von Sprecher identitäten sowie von Wirklichkeit und Wissen dient. Es handelt sich folglich um ein äußerst vielseitiges und polyfunktionales humanspezifisches Metamedium.
2.2 Identität Die grundlegende Fragestellung der Identitätsforschung stellen sich auch Individuen und Gruppen in ihrer Alltagswelt zum Zwecke der Selbstdefinition sowie der Abgrenzung von anderen: „Wer bin ich?“ und „Wer sind wir?“ bzw. „Wie komme ich und wie kommen wir zu Antworten auf diese Fragen?“ (Kresić 2006, 62). Häufig werden das Prekäre (Straub 2004, 279) des Phänomens (in der Lebenspraxis) und die Problematik des Begriffs (in der wissenschaftlichen Diskussion) der Identität hervorgehoben. Aufgrund der zunehmend schwierigen Bedingungen der Selbst-Konstruktion (vgl. Teilkapitel 3.4) dienen im Prozess der individuellen Identitätssuche u. a. politische Ideologien, Religionen und zunehmend auch psychologische Ratgeber als Orientierungssysteme und persönliche Helfer. Der wissenschaftliche Diskurs um das Konzept der Identität unterscheidet sich von Disziplin zu Disziplin und je nach theoretischem und empirischem Zugang (Müller 2011). Der Begriff der Identität ist weit verbreitet, wird jedoch häufig nicht näher bestimmt; zudem existieren viele Definitionen, die ebenfalls disziplin- und theorieabhängig sind. In der Identitätstheorie ist die Differenzierung zwischen traditionellen Identitätsvorstellungen einerseits und postmodernen oder poststrukturalistischen Identitätskonzepten andererseits gängig. Diesen liegen unterschiedliche und zum Teil diametral entgegengesetzte Annahmen über die Konstitution und die Entwicklung insbesondere personaler Identität zugrunde (ebd., 62 ff.). Der Begriff „Identität“ (lat. „identitas“ von „idem“ = derselbe/dasselbe) ist zunächst ein philosophischer und bezeichnet in formal-logischem Sinne die zweistellige Relation, in der jede Entität zu sich selbst steht (Teichert 2000, 1). Dies entspricht den Konzepten des Selbstbewusstseins bzw. der Selbstreflexivität, lässt sich aber auch auf die Beziehung zu anderen Personen ausweiten, da Identität auch etwas ist, das einem Individuum durch andere zugeschrieben wird. In der sprachwissenschaftlich orientierten Identitätsforschung gibt es eine entsprechende Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdpositionierungen bzw. Selbst- und Fremdzuschreibungen, die bei der interaktiven Aushandlung von Identität von den beteiligten Akteuren vorgenommen werden. Es werden in Abhängigkeit von der jeweiligen theoretischen und methodischen Ausrichtung sowie je nach Akzentuierung bestimmter Identitätsaspekte verschie-
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dene Alternativbegriffe verwendet, wenn auf Identitätsphänomene Bezug genommen wird: „Subjekt“, „Selbst“, „Ich“, „Ego“ u. a. Grundlegend ist die Differenzierung zwischen personaler Identität von Individuen einerseits und der sozialen Identität von Kollektiven andererseits, wenngleich beide nicht völlig eindeutig voneinander zu trennen sind, da jede personale Identität auch verschiedene Gruppenzugehörigkeiten und damit soziale Identitäten ausmachen (Kresić 2006, 64–66). Während traditionelle Identitätskonzepte, wie sie insbesondere durch die Identitätstheorie Eriksons (z. B. 1992) verkörpert werden, die Einheitlichkeit und Kontinuität von Identität und die mit der Adoleszenz eintretende Abgeschlossenheit der Identitätsentwicklung hervorheben, postulieren postmoderne Identitätstheorien die Dynamik, Multiplizität, Flexibilität und lebenslange Unabgeschlossenheit individueller Identitätsprojekte (vgl. Kap 3.4). In traditionellen Identitätskonzepten wird der Sprache mitunter eine eher marginale Rolle im Hinblick auf die Konstitution von Identität zugesprochen. Jüngere Identitätskonzepte, die den Konstruktionscharakter von Identität hervorheben, betonen stärker die Funktion dialogischer Interaktion und narrativer sowie diskursiver Formen des kommunikativen Austauschs für die Identitätskonstitution (z. B. Keupp u. a. 1999; Kresić 2006, 76–157). Folgende Aspekte prägen Unterschiede in den einzelnen Konzeptionen personaler Identität: der Fokus auf die temporale Dimension (Identität als Resultat oder als Prozess); die Rolle des Individuums bei der Identitätskonstitution (Eigenaktivität und/oder äußere Einflüsse); die temporale Entwicklung und die qualitative Ausdifferenzierung/Struktur von Identität (Identität als kontinuierliches, kohärentes Phänomen oder Identität als flexibles, dynamisches und vielschichtiges Phänomen); die Funktion sprachlicher/kommunikativer Interaktion im Prozess der Identitätskonstitution (zu den beiden letzten Punkten vgl. auch Straub 2004, 283–287). Im nachfolgenden Kapitel werden grundlegende Theorien und Modelle der personalen Identität vorgestellt.
3 Sprache und Identität: Theorien und Modelle Die Auswahl der nachfolgend besprochenen Theorien und Modelle der Identität erfolgte anhand des leitenden Kriteriums der Sprachbezogenheit, d. h. dass nur solche Ansätze vorgestellt werden, die der Sprache und der sprachlichen Interaktion eine Rolle im Prozess der Identitätskonstitution zusprechen.
3.1 Symbolischer Interaktionismus Als Basistheorie des Symbolischen Interaktionismus gilt die Identitätstheorie des soziologisch orientierten Sozialpsychologen Mead, der den Zusammenhang zwischen
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„Geist, Identität und Gesellschaft“ (Mead 1968/1934), d. h. zwischen Denken, IchEntwicklung und sozialem Miteinander untersucht. Trotz seiner behavioristischen Affinitäten beschränkt Mead die für seinen Ansatz relevanten Faktoren nicht allein auf das beobachtbare Verhalten (auch wenn dieses seinen Ausgangspunkt bildet), sondern bezieht auch Denkprozesse und innere Haltungen, das innere (Selbst-) Gespräch sowie reflexives Bewusstsein in seine Theorie über die Entwicklung von Identität mittels symbolvermittelter Kommunikation ein (Kresić 2006, 76–82). Meads Schüler Blumer hat den Begriff „Symbolischer Interaktionismus“ eingeführt, um eine soziologische Schule zu bezeichnen, deren Vertreter davon ausgehen, dass „Menschen Dingen gegenüber auf der Grundlage von Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen“ (Blumer 1992/1973, 23). Weitere Grundannahmen des Symbolischen Interaktionismus sind, dass sich die Bedeutung von Dingen im Rahmen sozialer Interaktion entwickelt und dass sich diese durch einen interpretativen Prozess ändert, den Individuen in ihrer Auseinandersetzung mit den Dingen anwenden (ebd.). Symbolvermittelte, d. h. sprachliche Kommunikation bildet für Mead die Voraussetzung dafür, dass sich Denken und Identität herausbilden können. Gestenvermittelte Kommunikation, beispielsweise das Anbieten eines Stuhles, wenn jemand den Raum betritt, ist für Mead vorsprachlich. „Solche frühen Phasen gesellschaftlicher Handlungen gehen dem eigentlichen Symbol und bewußter Kommunikation voraus“ (Mead 1968, 53), und die benutzten Zeichen sind dabei nicht signifkant. Die Geste wird zu einem signifikanten und damit sprachlichen Symbol, wenn sie eine über sich hinausweisende, spezifische Bedeutung ausdrückt, die sie als Symbol bei allen Interaktionspartnern in einer Gesellschaft in gleicher Weise auslöst (ebd., 85). Die vokale Geste wird für Mead zum signifikanten Symbol, […] wenn sie auf das sie ausführende Individuum die gleiche Wirkung ausübt wie auf das Individuum, an das sie gerichtet ist oder das ausdrücklich auf sie reagiert, und somit einen Hinweis auf die Identität des Individuums enthält, das die Geste ausführt. (ebd.)
Nur durch die Verwendung vokaler Gesten bzw. durch sprachliche Kommunikation ist die Identitätskonstitution in der sozialen Interaktion möglich. Vokale Gesten lösen in uns die gleichen Reaktionen und Haltungen aus wie bei unseren Interaktionspartnern, sodass wir uns in ihre jeweiligen Rollen hineinversetzen können. Sowohl die Internalisierung der Haltung des Gegenübers als auch die Fähigkeit der Übernahme seiner Rolle ist Voraussetzung für die Herausbildung von Identität, wobei Mead den ontogenetischen Ursprung der Tendenz zur Rollenübernahme im kindlichen Spiel sieht (ebd., 192 f.). Auf der ersten Stufe der Identitätsentwicklung probiert das Kind im nachahmenden Spiel („play“) verschiedene Rollen (Polizist, Mutter etc.) aus. Dabei passt das Kind die unterschiedlichen Handlungen und das Verhalten der einzelnen Rollen im dialogischen Spiel mittels vokalischer Gesten einander an. Die nächste, für die Identitätsentwicklung entscheidende Stufe bildet der organisierte Wettkampf
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(„game“), in dem der einzelne Teilnehmer (z. B. Fußballspieler) in der Lage sein muss, sich in die Positionen und Rollen aller anderen Spieler hineinzuversetzen und diese ggf. zu übernehmen (ebd., 194). Die Voraussetzung dafür, dass ein Mitglied einer Gesellschaft eine Identität entwickelt, ist, dass es die Haltungen und Rollen des „verallgemeinerten Anderen“ (ebd., 196), d. h. der anderen Mitglieder seiner Gesellschaft internalisiert hat und sie übernehmen kann. Das Selbst bildet sich folglich in sozialer Interaktion, genauer gesagt in symbolvermittelter Kommunikation heraus. Identitätsentwicklung und Sozialisation sind möglich, weil der Einzelne die Fähigkeit zur Rollen- und Haltungsübernahme erlernt, was wieder von der Fähigkeit zur Interaktion mittels signifikanter, symbolischer Zeichen abhängt. Die Struktur dieser Identität ist bei Mead durch die Aufteilung in das „I“ und das „Me“ gekennzeichnet. Während sich das „Me“ aus den übernommenen Haltungen des generalisierten Anderen, aus gesellschaftlichen Erwartungen und Konventionen zusammensetzt, ist das „I“ das in konkreten Situationen (re)agierende Selbst. Die ungebrochene Relevanz des meadschen Ansatzes ist unbestreitbar, da der Fokus auf die Intersubjektivität, Dialogizität und Sprachlichkeit der Identitätsentwicklung bis heute aktuell ist und von vielen Identitätstheoretikern geteilt wird (Kresić 2006, 81). Mead ist der Vorläufer des Symbolischen Interaktionismus, aber auch konstruktivistischer Positionen, insofern er Sprache eine wirklichkeitskonstituierende Funktion zuspricht: Sprache schafft bislang noch nicht geschaffene Objekte, die außerhalb des Kontextes der gesellschaftlichen Beziehungen, in denen die Symbolisation erfolgt, nicht existieren würden. Die Sprache symbolisiert nicht einfach Situationen oder Objekte, die schon vorher gegeben sind; sie macht die Existenz oder das Auftreten dieser Situationen oder Objekte erst möglich, da sie ein Teil jenes Mechanismus ist, durch den diese Situationen oder Objekte geschaffen werden. (Mead 1968, 117)
3.2 Weitere interaktionistische Ansätze Eine bedeutende Weiterentwicklung des Symbolischen Interaktionismus erfolgte durch den Soziologen Goffman, der in seinen Untersuchungen der sozialen Interaktionsordnung („interaction order“) auf der Grundlage naturalistischer Feldforschung verschiedene alltägliche Strategien der dramaturgischen Inszenierung des Selbst aufdeckt („Wir alle spielen Theater: die Selbstdarstellung im Alltag“, 1973/1959). Die soziale Welt wird metaphorisch als Bühne mit auf ihr agierenden Darstellern, Zuschauern und Außenseitern beschrieben. Im Anschluss an das Konzept des dramaturgisch inszenierten Selbst entwickelt Goffman das so genannte „Image-Selbst“ (Goffman 1971/1967), das durch die strategische Gestaltung des verbalen und nonverbalen Verhaltens entsteht. Durch „Techniken der Imagepflege“ (ebd.) versucht das Individuum ein möglichst positives Image (engl. „face“) zu vermitteln. Dem sprachli-
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chen Verhalten in der face-to-face-Interaktion kommt dabei eine besondere Rolle zu: Goffman nimmt „eine funktionale Beziehung zwischen der Struktur des Selbst und der Struktur sprachlicher Interaktion“ (ebd., 43) an. Die Imagearbeit ist eng an die Regeln und Prinzipien der konversationellen Interaktion gebunden, die in konversationsanalytischen Studien zu Goffmans Konzept des „facework“ bzw. der Imagearbeit näher untersucht wurden. Eine Fortsetzung des interaktionistisch-soziologischen Ansatzes im Anschluss an Mead und Goffman entwickelten Habermas (1973) und Krappmann (2000/1969). Bei Habermas (1973) ist die Konstitution einer „balancierenden Ich-Identität“ an die gelingende Ausbalancierung verschiedener Rollen geknüpft. Zentral für die Herausbildung der Identität ist Sprache, deren intersubjektiver und reflexiver Gebrauch sie zu einem Kommunikationsmedium macht, in dem Identiät oder Nicht-Identität entsteht (ebd., 144 f). Die Umgangssprache ermöglicht eine indirekte Selbstdarstellung der unvertretbaren Individualität in den unvermeidlich allgemeinen und mit anderen Individuen geteilten Kategorien des Sprechens und Handelns (ebd., 145)
und spiegelt dadurch sowohl den persönlichen als auch den sozialen Aspekt von Identität. Krappmann (2000) schließt an Habermas’ Begriff der „balancierenden IchIdentität“ an und erklärt Identität zur Grundbedingung für die Teilnahme an Interaktionsprozessen, wobei „Empathie, Rollendistanz, Ambiguitätstoleranz, die Fähigkeit zur Identitätspräsentation und das diese Fähigkeit tragende Sprachvermögen“ (ebd., 208) unabdingbar für die Identitätsbalance sind. Das Kommunikationsmedium der Sprache ist nach Krappmann für die Konstitution und Behauptung von Identität besonders geeignet, da es die jeweiligen Erwartungen der Interaktionspartner auszudrücken vermag, widersprüchliche und divergente Botschaften ausdrücken kann, als Problemlösungsmedium geeignet ist und für die Übermittlung von Inhalten genutzt werden kann, die die Beziehung zwischen Sprecher und Hörer betreffen. Zudem entspricht die Revidierbarkeit und der vorläufige Charakter balancierender Identität der Offenheit von Sprache, die in ihrem Sinn grundsätzlich mehrdeutig ist und gleichzeitig Inhalte unterschiedlicher Art zu übermitteln vermag […]. Die Umgangssprache ist daher für die Verständigung über Ich-Identitäten, die divergierende und kontradiktorische Elemente in sich enthalten, in besonderer Weise geeignet […]. (ebd., 83)
Die vorgestellten interaktionistischen Ansätze fokussieren insbesondere soziale Aspekte und die Außenperspektive auf Identität sowie die Rolle von Sprache bei der Herausbildung und Behauptung von Identität. Es ist davon auszugehen, dass der Grad der Beherrschung der Umgangssprache, aber auch elaborierterer sprachlicher Varietäten und Codes, und damit die sprachlichen Mittel, Strategien und Kompetenzen, die zur Identitätskonstitution zur Ver-
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fügung stehen, in hohem Maße vom Bildungshintergrund und von der familiären Sozialisation von Kindern und Jugendlichen abhängen. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang das im Anschluss an Bourdieus (1997) Habitusbegriff entwickelte Konzept des „bildungsrelevanten Habitus“. Diesem entsprechen bildungsbezogene Haltungen und Einstellungen, die „milieuspezifischen kulturellen Praktiken im familialen, schulischen und freizeitbezogenen Rahmen unterliegen“ (z. B. Betz 2008, 248). Demnach sind die durch die familiäre Sozialisation geprägten Bildungserfahrungen entscheidend für die Entwicklung des individuellen Bildungshabitus und der Prinzipien und Strategien, die für die Aneignung von Bildung relevant sind (Maschke/ Stecher 2008, 393). Es ist davon auszugehen, dass die spezifische Ausprägung des sprachbezogenen Bildungshabitus im familiären Zusammenhang entscheidend dazu beiträgt, über welche sprachlichen Kompetenzen Kinder und Jugendliche verfügen. Diese sprachlichen Kompetenzen bilden die Voraussetzung dafür, ob ein Kind oder ein Jugendlicher als kompetenter und weitgehend selbstbestimmter Akteur in schulischen und anderen Interaktionskontexten bestimmte angestrebte Selbstdarstellungen und Identitätsoptionen sprachlich realisieren und durchsetzen kann und nicht erwünschte Identitätszuweisungen und Positionierungen verbal-kommunikativ zurückweisen bzw. revidieren kann. Zu den hierfür relevanten sprachlichen Mitteln zählen argumentative, konversationelle und diskursive Kompetenzen, Texterstellungskompetenzen, die Beherrschung von Fremdsprachen sowie standard- und formalsprachlicher Varietäten.
3.3 Konstruktivistischer Ansatz – Identität als sprachlicher Konstruktionsprozess Aus konstruktivistischer Perspektive werden durch Sprache die Unterscheidungen getroffen, die wirklichkeitskonstitutiv sind, wobei binäre Differenzierungen besonders bedeutsam sind, z. B. Mann-Frau, Natur-Kultur, Mensch-Technik etc. (Kresić 2006, 33). Im Prozess des Sprechens bezeichnen und legen wir das fest, was für uns wirklichkeitsrelevant ist. Bezogen auf die Phänomene der personalen und sozialen Identität bedeutet dies, dass auch diese als Elemente von Wirklichkeit sich im Sprechen und in Gesprächen „verwirklichen“ (ebd., 38). Sprache im Allgemeinen und Gespräche sowie Texte als ihre spezifischen Realisierungsformen sind die zentralen Modi der Konstruktion sozial geteilter Wirklichkeiten (= Sprachfunktion der Wirklichkeitskonstruktion) und Identitäten (= Sprachfunktion der Konstruktion der Sprecher identität) (vgl. Teilkapitel 2.1). Sprache kann somit als grundlegendes Medium und das Sprechen als zentraler Modus der menschlichen Existenz bezeichnet werden, da sie neben der Identitätskonstruktion auch die Herausbildung eines Selbstbewusstseins ermöglichen:
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Mit der Muttersprache erwirbt das Kind nicht bloß ein Zeichensystem plus Grammatik, sondern ein höchst sensibles Instrument der Kopplung kognitiver, semiotischer und sozialer Handlungen. […] Mit der Sprache entstehen die Unterscheidungen (und die Beziehungen zwischen den Unterscheidungen), die uns Beobachtungen und Beschreibungen erlauben. Mit der Sprache ent steht der Beobachter, mit ihm entstehen Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Ich [Hervorhebung M. K.]. Das System der Sprache bildet das überindividuell gehandhabte System von Unterscheidungen, das Verhaltenskoordination erlaubt – und daraus hervorgeht. (Schmidt 2000, 149)
Eine wichtige Existenz- und Funktionsweise des Menschen ist das Sein-in-der-Sprache, denn Sprache ermöglicht soziale Interaktion und Verhaltenskoordination, reflexives (Selbst-)Bewusstsein und Identität. Nur im fundamentalen Bereich der Sprache ist es möglich, das Konstrukt des ‚Selbst‘ bzw. des ‚Ich‘ so zu prozessieren, dass es in dem Sinn externalisierbar wird, dass das eigene ‚Ich‘ dem ‚Du‘ des anderen entspricht und vice versa. (Emrich 2000, 5)
In ontogenetischer und in phylogenetischer Perspektive ist Sprache die Voraussetzung für die Entwicklung des Menschen zum Beobachter, der Handlungen koordinieren, (geteilte) Wirklichkeit konstruieren kann sowie über Selbstbewusstsein, Identität und Geist verfügt (Maturana/Varela 1987; 249 f., Kresić 2006, 142). Ähnlich wie bei Mead und den Vertretern des Symbolischen Interaktionismus wird der Sprache auch aus konstruktivistischer Sicht eine zentrale Rolle im Hinblick auf die genannten Phänomene zugesprochen: Der „andauernde Fluß von Reflexionen, den wir Bewußtsein nennen und mit unserer Identität assoziieren“ (Maturana/Varela 1987, 250), ist im „Reich der Sprache“ (ebd.) angesiedelt, ebenso wie unser Selbst als „soziale Singularität“ (ebd.) im Rahmen sprachlicher Interaktionen entsteht. Soziale Interaktion und Identitätskonstitution, Sprachpraxis („In-der-Sprache-Sein“) und Wirklichkeitskonstruktion durch Kommunikation sind als dynamische Prozesse eng miteinander verschränkt und sozialen Charakters (Kresić 2006, 142).
3.4 Postmodernes Patchwork – multiple Sprachidentität Die kultur- und geistesgeschichtliche Epoche der Postmoderne, die in Europa in den 1970er Jahren die so genannte Moderne ablöst (Welsch 2002, 10) und auch unter dem Begriff der reflexiven Modernisierung (Beck/Bonß 2001) gefasst wird, zeichnet sich vor allem durch Pluralität in vielen gesellschaftlichen Bereichen aus: Von der Vielfalt der existierenden Lebensstile bis hin zur Multiplizität der gleichzeitig existierenden Paradigmen z. B. in Wissenschaft und Kunst reicht die Vervielfältigung der Möglichkeiten, Wege und Muster. Das Kontingente und Heterogene, die Reflexivität und der Konstruktionscharakter der Wirklichkeit werden zunehmend hervorgehoben (Kresić 2006, 106 ff.).
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In vormodernen Zeiten waren die regionale und soziale Zugehörigkeit einer Person durch Geburt weitgehend festgelegt und relativ unveränderlich, während diese Identitätsaspekte seit der Moderne viel flexibler und in postmoderner Zeit vom Individuum auch selbst gestaltbar und veränderbar sind. Vorgegebene biographische Linien und mustergültige Lebensformen gibt es nicht mehr, denn die „Pluralität der Postmoderne bedeutet auch eine inter- und intraindividuelle Pluralität der Identitäten“ (Kresić 2006, 109). Dem entspricht die Verabschiedung Einheitlichkeit und Kontinuität betonender Selbstkonzepte in jüngeren soziologischen und psychologischen Identitätstheorien und eine zunehmende Betonung der Multiplizität und Flexibilität von Identität. Exemplarisch für postmoderne Identitätskonzepte wird hier das Identitätskonzept von Keupp u. a. (1999) kurz vorgestellt. Diese entwickelten auf der Grundlage der empirischen Befunde aus leitfadengestützten Interviews (ebd.) das so genannte Patchwork-Modell der Identität, in dessen Zentrum die alltägliche Identitätsarbeit bzw. Verknüpfungsleistung des Identität konstruierenden Individuums steht. Das Selbst zeichnet sich durch eine differenzierte Struktur aus, die sich in verschiedene Teilidentitäten (bezogen auf die Lebenskontexte Arbeit, Freizeit, Familie etc.) untergliedert. Individuell empfundene Kohärenz wird dabei durch die vorerwähnte Identitätsarbeit in Form sprachlich-narrativer, situativer Selbstthematisierungen sowie auf einer Metaebene durch ebenfalls sprachlich geäußerte, biographische Kernnarrationen erreicht (ebd.). Den in diesem psychologischen Modell bereits betonten sprachlichen Aspekt der Konstruktion des pluralen Selbst greift Kresić (2006, 224–236) auf und schlägt ein „Modell der multiplen Sprachidentität“ vor, das Identität als komplexe Struktur begreift und die Dynamik, sprachliche Konstruiertheit und Multiplizität von Identität betont. Die Multiplizität der verschiedenen Teilidentitäten einer Person kommt zustande, indem das Individuum zum einen verschiedene Varietäten innerhalb einer Sprache verwendet und zum anderen (potenziell) über zweit- und fremdsprachliche Kompetenzen verfügt. Zwischen den Teilidentitäten bestehen verschiedenste Wechselwirkungen und Beeinflussungen, die sich als Code- oder Varie tätenwechsel bzw. als Code- oder Varietätenmischungen äußern. Dabei bildet die menschliche Existenzform des Seins-in-der-Sprache gleichsam die Klammer, die die multiple Sprachidentität zusammenhält. Je mehr Sprachen und Sprachvarietäten beherrscht werden und je größer die entsprechenden Sprachkompetenzen sind, desto facettenreicher und potenziell vielfältiger ist die sprachlich konstituierte, postmoderne Patchwork-Identität (ebd., 144). Elektronische Medien und das Internet eröffnen dabei neue, auch spielerische Möglichkeiten der Identitätskonstruktion.
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4 Sprache und Identität: jüngere empirische Forschung Da Identitäten zunehmend als dynamische, interaktiv und kommunikativ ausgehandelte Konstrukte aufgefasst werden, erweisen sich sprachwissenschaftliche Ansätze wie die Gesprächs- und Diskursanalyse sowie die Soziolinguistik als prädestiniert für die empirische Analyse sprachlicher Identität. So wäre der ausgezeichnete Ort der Konstitution des Subjekts das Gespräch, in dem durch wechselseitige Perspektivierungen, Zuschreibungen und Aushandlungsprozesse über diese Perspektiven und Zuschreibungen die – allerdings immer wieder zu revidierende – Identität der beteiligten Subjekte erst entwickelt wird. (Klein/Schlieben-Lange 1996, 1)
Entsprechend ist seit den 1990er Jahren ein deutlicher Zuwachs an sprachwissenschaftlichen und interdisziplinär angelegten Untersuchungen zur sprachlich-dialogischen Konstitution von Identität zu verzeichnen. Auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen, z. B. in den Kulturwissenschaften und in der Soziologie, ist in jüngerer Zeit eine Vielzahl empirischer Studien entstanden, die die kommunikative Konstruktion individueller und kollektiver Identitäten mit jeweils spezifischen Fokussierungen in den Blick nehmen. Im Folgenden wird ein kurzer orientierender Überblick über empirisch ausgerichtete sprachwissenschaftliche Forschung zum Themenkomplex „Sprache und Identität“ gegeben, wobei exemplarisch jeweils einschlägige Studien genannt werden. In der sprachwissenschaftlichen Teildisziplin der Soziolinguistik werden häufig einzelne Identitätsaspekte, wie etwa der soziale Status oder das Alter der Sprecher als relevante Variablen im sozialen Kontext aufgefasst und mit sprachlichen Merkmalen der kommunikativen Interaktion korreliert. Zu kritisieren ist an der klassischen soziolinguistischen Herangehensweise, dass soziale Identität als ein für den jeweiligen Sprachgebrauch relevanter Faktor aufgefasst wird, der die jeweilige Identität ‚ausdrückt‘ oder ‚symbolisiert‘. Dem liegt die Annahme zugrunde, Identität habe eine präsprachliche oder prädiskursive Existenz (Kresić 2006, 10). Aus konstruktivistischer Perspektive ist Identität jedoch eine Größe, die im Gesprächsprozess erst ausgehandelt wird und Resultat dieser Aushandlung ist. Mikro- und makro-soziolinguistische Herangehensweisen an die Untersuchung sprachlicher Identität werden z. B. in Omoniyi/White (2006) vorgestellt, soziale Stile in Abhängigkeit von ethnischer Zugehörigkeit und entsprechender Hybridität untersuchen etwa die Beiträge in Auer (2007) in der Tradition der interaktionalen Soziolinguistik und Soziostilistik. Soziolinguistische sowie diskurs- und gesprächsanalytische Studien bedienen sich häufig auch ethnographischer Methoden. Diskurs- und gesprächsanalytische Ansätze interessieren sich dafür, mit Hilfe welcher Gesprächsverfahren und diskursiver Strategien Identitäten von den am dialogischen Austausch Beteiligten interaktiv zugewiesen, revidiert und ausgehandelt
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werden (z. B. Benwell/Stokoe 2006), wobei auch hier einzelne Identitätsaspekte, wie etwa das Geschlecht, im Fokus von Untersuchungen stehen. Diskursanalytische Studien untersuchen auch die Konstruktion von Identität in verschiedenen Textsorten und Medien (ebd.). Inwiefern bestimmte Machtverhältnisse, politische Interessen und entsprechende Ideologien die diskursive Konstruktion von Identität beeinflussen, steht im Mittelpunkt von Arbeiten, die der Kritischen Diskursanalyse verpflichtet sind (z. B. Dolón/Todoli 2008). Für die Untersuchung narrativer, auch autobiographischer Identität sind relativ feingliedrige Untersuchungsverfahren vorgelegt worden, beispielsweise die psychologisch-sprachwissenschaftliche Herangehensweise von Lucius-Hoene/Deppermann (2004). Die in narrativen Interviews dargestellten Sprachbiographien Mehrsprachiger untersucht z. B. Franceschini (2001). Die Konstitution von Identität kommt dabei auf einer systemlinguistischen Mikroebene weniger zum Ausdruck als auf den Makroebenen der Narration und des Diskurses. Dementsprechend ist die Zahl empirischer Untersuchungen, die sich mit der Verankerung von Subjektivität im Sprachsystem befassen, vergleichsweise gering. Studien zum „Ausdruck der Person im Deutschen“ werden in Behr/Larrory/ Samson (2007) vorgestellt. Die Rolle der Personaldeixis für die Objektivierung von Subjektivität im Gespräch untersuchen Diewald/Kresić (2012). Auch Lucius-Hoene/ Deppermann (2004) schließen die sprachstrukturelle Ebene in ihr Instrumentarium für die Untersuchung narrativer Identität ein. Einen orientierenden Überblick über theoretische Annahmen und empirische Studien zum Zusammenhang von Sprache und zentralen Identitätsaspekten wie Religion, Geschlecht und regionaler Herkunft gibt Edwards (2009).
5 Phasen und Formen der Entwicklung sprachlicher Identität 5.1 Sprache und Identität im Kindes- und Jugendalter Aus ontogenetischer Perspektive nimmt die Identitätsentwicklung in der Kindheit ihren Anfang und unterliegt typischerweise in der Jugendzeit bis ins Erwachsenenalter hinein verschiedenen Herausforderungen. Die betreffenden Prozesse werden insbesondere durch entwicklungspsychologische Modelle näher beschrieben. Zeitgleich mit der Identitätsentwicklung vollzieht sich beim Kind die Sprachentwicklung. Wenn nun das Sprechen als die zentrale Art und Weise, als der wichtigste Modus für die Aushandlung und Konstitution des individuellen Selbst angesehen werden kann, wenn Sprachgebrauch und Identitätskonstruktion also Hand in Hand gehen, was bedeutet dies in biographischer Perspektive für die Identitätsentwicklung? Ist diese
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mit der Sprachentwicklung und der Ausbildung von Sprachkompetenz ebenfalls eng verzahnt? Für Mead (1968) (vgl. Teilkapitel 3.1) ist Sprache das Mittel und die Voraussetzung für die Teilnahme an symbolvermittelter Kommunikation, für die Übernahme der Rolle des generalisierten Anderen und damit für die Herausbildung von Identität. Die Identitätsentwicklung vollzieht sich beim Kind über die Stufen des „play“ und des „game“, wobei die Fähigkeit zur Rollenübernahme von der Sprachkompetenz abhängt. Aus der Perspektive der Identitätstheorie Meads ist folglich die Entwicklung von Sprachkompetenz und damit der Spracherwerb die „condition sine qua non für Identitätsbildung“ (Kresić 2006, 80). Als entwicklungspsychologischer Klassiker der Identitätsforschung gilt Erikson (1966), der ein an Freuds psychoanalytisches Strukturmodell angelehntes Modell der Ich-Entwicklung vorgeschlagen hat. Diesem Modell zufolge bildet sich die Ich-Identität durch eine gelungene Bewältigung psychosozialer Konflikte heraus, die über acht Stufen von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter durchlaufen werden. Die Konflikte entstehen aus den jeweiligen Anforderungen des sozialen Umfelds und den individuellen Bedürfnissen des Einzelnen heraus. Identitätsbildung gilt hier als eine zentrale, mit dem Ende der Adoleszenz weitgehend abzuschließende Entwicklungsaufgabe, die auf die Herausbildung einer kohärenten, kontinuierlichen Identität in einer bestimmten gesellschaftlichen Wirklichkeit zielt. Postmoderne Identitätskonzeptionen (vgl. Teilkapitel 3.4) gehen hingegen von einer multiplen Identitätsstruktur aus, die in einem lebenslangen Prozess der Identitätsarbeit dynamischen Veränderungen und Revisionen unterliegt. Aufgrund der breiten und bis heute andauernden Rezeption des eriksonschen Phasenmodells erscheint es lohnenswert, diesen Ansatz im Hinblick auf die Rolle der Sprache bei der Identitätsentwicklung insbesondere im Kindes- und Jugendalter zu erweitern (Kresić 2006, 73 ff.). Erikson selbst (1966, 142 f.) merkt an, dass Sprache eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Ich-Identität spielt. Mit der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit erwirbt das Kind ein zentrales Mittel zur Wahrung der eigenen Autonomie, das ihm neue, auch sprachliche Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Kinder lernen zum einen, dass mit Sprache gehandelt wird, d. h. dass sie mit ihr kommunikative Absichten realisieren können, und zum anderen entwickeln sie eine idiosynkratische, d. h. ganz individuelle Sprechweise (ebd., 143; Kresić 2006, 74), die sie als wichtiges Element ihrer personalen Identität von anderen Personen unterscheidet. Sprache kann in Eriksons Modell der Identitätsentwicklung als wichtiges Medium der Ich-Entwicklung integriert werden (ebd.). Parallel zu der Herausbildung einer individuellen Sprechweise in der Kindheit lernt das Kind auch so zu sprechen, wie seine Bezugspersonen und die anderen Sprecher seiner sozialen Gruppe und Gesellschaft. Erst durch die Ausbildung einer individuellen und gleichzeitig auch einer sozial geteilten Sprechweise wird es zum akzeptierten Mitglied der jeweiligen sozialen Gruppe/n, der/denen es angehört.
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Insbesondere in der Jugendzeit, aber auch im Erwachsenenalter ermöglicht das Erlernen und die Verwendung verschiedener sprachlicher Varietäten und Einzelsprachen dem Einzelnen das Ausprobieren unterschiedlicher Rollen, Gruppenzugehörigkeiten und – in postmodernem Sinne – das Konstruieren einer facettenreichen, vielschichtigen Identität. Im Jugendalter erfüllt der Gebrauch der Jugendsprache für die Identitätsentwicklung eine wichtige Funktion, später spielen etwa Soziolekte eine besondere Rolle bei der Konstruktion bestimmter sozialer Identitäten. Je größer das in der Kindheit und Jugend ausgebildete, individuelle Sprachrepertoire ist und je mehr innersprachliche Varietäten und Einzelsprachen beherrscht werden, umso größer sind die Möglichkeiten, die dem Einzelnen zur Verfügung stehen, eine facettenreiche Identität zu konstruieren. Voraussetzung für die gelingende Entwicklung von Identität im durch Pluralität und Widersprüchlichkeit gekennzeichneten Zeitalter der Postmoderne ist dabei das Verfügen über ausreichende materielle, soziale und kulturelle Ressourcen (Keupp u. a. 1999, 276 ff.). Besonders bedeutsam für eine gelingende Identitätsentwicklung sind dabei die über die Familie an das Kind und den Jugendlichen weitergegebenen kulturellen Ressourcen, vor allem im Sinne von Bildung und sprachlichen Kompetenzen. Kulturelle Ressourcen erleichtern insbesondere Kommunikation und somit die sprachliche Selbstpositionierung und selbstbestimmte Identitätskonstitution des Individuums.
5.2 Sprachenlernen, Mehrsprachigkeit und Identität Der Erwerb einer oder mehrerer weiterer Sprachen nach oder parallel zu der Erstsprache sollte eine Bereicherung bedeuten, und zwar im Sinne einer Erweiterung der zur Verfügung stehenden kulturellen Ressourcen. Tatsächlich liegt jedoch, insbesondere wenn es sich bei den Zweitsprachen um wenig prestigebehaftete Minderheiten- oder Einwanderersprachen handelt, häufig eine Benachteiligung der betreffenden Kinder und Jugendlichen im Bildungssystem vor (vgl. z. B. Gogolin 1994 und den Beitrag von Dirim in diesem Handbuch). Dies ist vor allem der Fall, wenn die Sprachkompetenz in der offiziellen Mehrheitensprache, z. B. im Deutschen, nicht ausreichend für eine erfolgreiche Schullaufbahn und einen Einstieg in das Berufsleben ist. Verschiedene Autoren (z. B. Ceginskas 2010) haben herausgestellt, dass Zweiund Mehrsprachigkeit in Bildungskontexten Auswirkungen auf die Konstruktion und Aushandlung der Identitäten von Lernenden hat. Generell ist davon auszugehen, dass sich sprachliche Identität mit dem parallelen oder sukzessiven Erwerb bzw. Erlernen weiterer Sprachen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter zusätzlich ausfächert. Einsprachige (= erstsprachliche) Identität ist dabei keineswegs der „Normalfall“, sondern stellt eher eine Ausnahme dar, da viele Individuen zusätzlich zur Erstsprache bereits weitere Sprachen beherrschen oder erlernen. Die Eigenheiten dieser Sprach erwerbsprozesse haben spezifische Auswirkungen auf die Art und den Grad des Einflusses der Zwei- und Mehrsprachigkeit auf die betreffenden Sprecheridentitäten.
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Zwei- und Mehrsprachigkeit kann als die variable individuelle Fähigkeit und/ oder gesellschaftliche Notwendigkeit zum Gebrauch zweier oder mehrerer Sprachen definiert werden (Kresić 2004). Grundsätzlich lassen sich verschiedene Typen lernersprachlicher Identitäten unterscheiden (Block 2007): Zweitsprachliche Identitäten erwachsener Migranten (im lebensweltlichen Kontext des Zielsprachenlandes), fremdsprachliche Identitäten von Sprachlernern (im schulischen und universitären Kontext des Erstsprachenlandes), gemischte zweit- und fremdsprachliche Identitäten erwachsener Sprachlerner (im Kontext vorübergehender Aufenthalte im Zielsprachenland). Diese Liste ließe sich noch weiter ausdifferenzieren, wobei empirische Fallstudien im Hinblick auf den Erwerb des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache noch weitgehend ein Desiderat darstellen. Es wird dafür plädiert, die mehrsprachigen Identitäten und verschiedenen (auch Minderheiten-)Sprachen von Lernenden in den muttersprachlichen (Deutsch-)Unterricht einzubeziehen (vgl. Kresić 2013 sowie die weiteren Beiträge in Wildemann/Hoodgarzadeh 2013 und Allemann-Ghionda 2010).
6 Ausblick: Sprache, Identität und Bildung Der sprachliche Charakter von Prozessen der Identitätskonstruktion wurde in diesem Beitrag im Hinblick auf seine theoretische Modellierung und Möglichkeiten seiner empirischen Untersuchung näher beleuchtet. Die Konstatierung der sprachlichen Verfasstheit sowohl von Identität als auch von Bildung (zu letzterem vgl. Karg, Art. 11, und Osburg, Art. 15, in diesem Band) wirft die Frage auf, wie sich die Prozesse, in denen Identität und Bildung(sinhalte) bzw. Wissen in sprachlicher Interaktion kokonstruiert werden, analysieren und beschreiben lassen. Insbesondere die Sprachwissenschaft, die Sprach- und Fachdidaktik, die Psychologie (vor allem die Entwicklungspsychologie, die Lernpsychologie und die Pädagogische Psychologie) sowie die Erziehungswissenschaft können dazu beitragen, dieses Forschungsgebiet zu erschließen. Die Ergebnisse vorliegender Studien werden zum Teil disziplinintern (Sprachwissenschaft, Psychologie, Soziologie, Bildungsforschung) rezipiert und diskutiert, sodass disziplinübergreifende Projekte und Kooperationen noch ein Desiderat darstellen. Forschungsfragen wie die folgenden lassen sich nur durch vereinte, interdisziplinäre Bemühungen zufriedenstellend beantworten: – die Frage nach dem Anteil und der Rolle sprachlicher Kommunikation im Zusammenspiel aller kognitiven Prozesse der (parallelen) Wissens- und Selbstkonstruktion – die Frage nach spezifischen sprachlichen und kommunikativen Verfahren und Strategien, mit deren Hilfe Akteure in Bildungsprozessen ihre Identitäten interaktiv miteinander aushandeln
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– eine kritische Untersuchung des Erfolgs im Bildungssystem in Abhängigkeit von der Ausprägung sprachlicher, auch mehrsprachiger Identitäten von Schülerinnen und Schülern In Bezug auf den Zusammenhang zwischen Mehrsprachigkeit, Migration und Bildung gibt es einige begrüßenswerte interdisziplinäre Netzwerke, wie etwa das bundesweite Netzwerk „Sprache, Variation und Migration“ (http://www.uni-potsdam.de/ svm/netzwerksvm.html [6.11.2015]), das entsprechende Projekte und Forschergruppen aus der Sprachwissenschaft und benachbarten Disziplinen verbindet, oder die Arbeitsgruppe „Diversity in Education Research – DiVER“ (http://www.diver.unihamburg.de/de/diver.html [6.11.2015]), die Forschung, Lehre und Austausch in den Bereichen „Interkulturelle Bildung“, „Migration und ihre Folgen für Bildung und Erziehung“, „Mehrsprachigkeit und sprachliche Bildung“ durchführt. Der Zusammenhang zwischen Sprache, Identität und Bildung wird dabei im Rahmen einzelner Studien behandelt. Er erweist sich als ein brisantes sprach- und bildungspolitisches Problemfeld, für das sich aus wissenschaftlichen Projekten lebenspraktisch relevante Lösungsansätze ableiten ließen.
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7. Sprache im multikodalen Kontext als Parameter der Bildung Abstract: Der Beitrag geht davon aus, dass Sprache immer im Kontext anderer Zeichen bzw. Kodes auftritt, die Mitteilung und Verstehen beeinflussen. Sprachliche Kommunikation ist stets multikodal in prosodische, paralinguistische und außersprachliche Zeichen eingebettet. Dabei spielen Bilder verschiedener Art in der Konstitution wie der Vermittlung von Wissen eine vernachlässigte Rolle, die erst seit dem pictorial turn aufgearbeitet wird. Kommunikate, bei denen sich Sprache und Bild kodal und inhaltlich ergänzen, haben sich didaktisch in vielen Bereichen der Wissensvermittlung bewährt. Wir verfolgen die Rolle von visuellem Lehrmaterial im Unterricht an Schulen und Hochschulen vom Wandbild über das Tafelbild bis zur elektronischen Präsentation. Eine parallele Entwicklung wird bei Bildern in Lehrtexten aufgezeigt, die sich in Abhängigkeit von den Reproduktionstechniken vollzieht. Die Digitalisierung hat zu einem weiteren Schub der Visualisierung geführt, da auch audiovisuelles Lernmaterial im Internet leicht zugänglich ist. Abschließend wird die Frage nach einer multikodalen Kompetenz gestellt, die weniger sprachzentriert auch andere Kodes einbezieht. Bildung ist heute ohne visuellen Anteil nicht mehr denkbar, denn Bilder spielen eine Rolle in der Konstitution, der Distribution und der individuellen Aneignung von Wissen. Eine Bedrohung der Sprache stellen sie aber nicht dar. 1 Sprache im multikodalen Kontext 2 Text und Bild: ein didaktisches Traumpaar 3 Sprache und Bild im Unterricht 4 Text-Bild-Kombination in Fachtexten 5 Sprache und Bild in audiovisuellen Medien 6 Multikodale Kompetenz 7 Literatur
1 Sprache im multikodalen Kontext 1.1 Verbale und nonverbale Kommunikation In Abgrenzung zur Linguistik hat die Sprachpsychologie schon immer betont, dass Sprechen/Schreiben und Verstehen sich in konkreten Situationen/Kontexten abspielt, in denen Sprache immer eng mit anderen Zeichen verknüpft ist (vor allem Hörmann 1976). Dies gilt für die Phylogenese, in der Sprache sich vermutlich
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aus Gesten heraus entwickelt hat (Tomasello 2009), wie in der Ontogenese, in der Sprache mit Hilfe andere Zeichensysteme – vor allem Gesten und parasprachlichen Zeichen – erlernt wird (z. B. das Bilderbuchschauen bei Bruner 1987). Auch die Aktualgenese beim Sprechen und Verstehen ist ohne die Situation, in der sie geschieht, nicht analysierbar. In neueren kommunikationstheoretischen Ansätzen ist Sprache immer situiert und mit anderen Zeichen und Kodes verbunden, z. B. die sociocogni tive theory of context von Theun van Dijk (2008) oder der social semiotic approach of multmodality von Gunther Kress (2010). Multikodalität ist der Normalfall der Kommunikation, auch für die mündliche und die gedruckte Wissensvermittlung in allen Bildungseinrichtungen. Sprachliche Aussagen werden durch andere Kodes verstärkt oder ergänzt, die das Verstehen erschweren oder erleichtern. Zum Verhältnis von verbaler und nonverbaler Kommunikation hat Roland Posner (1986) die Unterscheidung in prosodische, paraverbale und außersprachliche Zeichen vorgeschlagen: Die prosodischen Zeichen, also Metrik und Intonation, sind unlösbar mit der gesprochenen Sprache verknüpft. Eine gute Prosodie fördert das Verstehen von Satzstrukturen und Sprechakten. In der Schriftsprache kann die Interpunktion als Analogie angesehen werden. Parasprachliche Zeichen begleiten das Sprechen, dazu gehören die persönliche Stimme, Gestik. Mimik und Pantomimik. In der klassischen Rhetorik ist das Actio und Pronuntiatio, also das Auftreten des Redners. In der Schrift entsprechen dem grafologische und im Druck typografische Merkmale. Außersprachliche Zeichen ergänzen die Sprache, hier sind vor allem Bilder verschiedenen Typs zu nennen, die als visuelle Lehrmittel im Unterricht oder in Lehrwerken eine wichtige Rolle spielen. Dass die mündliche Verpackung des Wissens durch prosodische und parasprachliche Zeichen nicht vernachlässigt werden darf, belegen empirische Studien, welche die Persönlichkeit des bzw. der Lehrenden als entscheidende Wirkgröße des Lernerfolgs ermittelt haben (Hattie 2014). Da die sprachliche Kommunikation im Unterricht in anderen Beiträgen dieses Handbuchs behandelt wird, legen wir den Schwerpunkt auf die außersprachlichen Zeichen, konkret die Ergänzung durch Bilder.
1.2 Sprache nach dem pictorial turn Auch wenn Wissen und Bildung weitgehend sprachbasiert sind, darf der Anteil des visuellen Wissens und der visuellen Bildung nicht vernachlässigt werden (Schnettler/ Pötzsch 2007). Das ist eine Forderung, die nach dem pictorial turn mit Nachdruck erhoben wurde. Dabei geht es nicht nur um ästhetische Bildung durch bildende Kunst, sondern um die Sozialisation in eine Kultur, die stark von Bildern geprägt ist, z. B. in Zeitschriften und Zeitungen, Film und Fernsehen, aber auch Werbung und
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Comics. Bilder haben gegenüber der Sprache quantitativ und qualitativ einen neuen Stellenwert gewonnen. Quantitativ hat die Anzahl von Bildern zur Wissensvermittlung in Zeitungen, Zeitschriften, in den vielen Fernsehprogrammen und im Web dramatisch zugenommen. Durch die Digitalisierung ist es einfacher geworden, Bilder herzustellen, zu bearbeiten, zu distribuieren und zu nutzen. Von einem Wissenschaftler wird erwartet, dass er auch Fotos, Diagramme und Charts zur Wissensvermittlung einsetzt. Es gibt im Internet ein unerschöpfliches Reservoir an Bildern jeder Art und spezielle Bildsuchmaschinen. Wikimedia Commons bietet kostenlos eine Datenbank, deren Bilder entweder gemeinfrei oder vom Rechteinhaber freigegeben sind. Für zahlreiche Wissensdomänen gibt es eigene Bildagenturen oder Archive, z. B. für die Medizin, die Geografie oder die Pädagogik. Aber auch qualitativ hat das Bild eine neue Bewertung erfahren und das vor allem in den Wissenschaften. Zwar gehörten visuelle Methoden schon immer zu einzelnen Disziplinen, z. B. Zeichnungen von Ausgrabungen in der Archäologie oder Filmdokumente in Ethnologie, Ethologie und Psychologie. Aber Bilder sind nicht mehr nur anschauliche Ergänzungen zu verbalen Theorien, sondern bekommen in einigen Wissensdomänen epistemischen Wert. In der Radioastronomie, Computertomografie (bildgebende Verfahren), Luftbildarchäologie dienen Bilder der Konstitution von Wissen. Selbst die eher bildscheuen Geisteswissenschaften haben Bilder als historische Dokumente entdeckt, z. B. in der Geschichtswissenschaft (Imhof 1991; Burke 2001). Die Wissensproduktion besteht nicht allein aus Diskursen, sondern auch aus „Viskursen“ (Knorr-Cetina 2001), Wissen wird nicht nur durch sprachliche Mittel geschaffen (Liebsch/Mößner 2012; Ballstaedt 2015). Die Bewertung der skizzierten Entwicklung ist sehr unterschiedlich: Während die einen durch die ‚Bilderflut‘ einen Niedergang der sprachlichen Kultur diagnostizieren, begrüßen die anderen darin eine aufkommende visuelle Kultur, die ein sprachlich-logozentrisches Paradigma ablöst (Ballstaedt 2004). Im Gefolge des pictorial turn hat die Verwendung von Bildern in der Schule in allen Fächern von der Grundschule bis zur gymnasialen Oberstufe einen Aufschwung genommen. Das zeigen zahlreiche Veröffentlichungen zu Bildern im Unterricht und in Lehrwerken (Fröhlich/Stenger 2003; Heinze/Matthes 2010; Schoppe 2011).
1.3 Terminologisches Zwischenspiel Da im Forschungsfeld der multikodalen Kommunikation Wörter noch sehr unterschiedlich verwendet werden, sind vorweg drei terminologische Anmerkungen unvermeidbar. Bei einigen Linguisten ist ein weiter Begriff von Text beliebt, der alle Zeichen eines Kommunikats zu einem übersprachlichen Text vereinnahmt, also auch die Bilder. Wir gehen demgegenüber von einem engen Begriff von Text als kohärenter
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Satzfolge aus und unterscheiden Sprechtext, Schreibtext, Drucktext. Ein weiter Textbegriff verschleiert die kommunikativen und neuronalen Unterschiede der Kodes und führt dadurch zu unangemessenen Theorien und Methoden, die sich in Wörtern wie ‚Bildlinguistik‘, ‚Bildgrammatik‘, ‚Bildsprache‘, ‚Bilderlesen‘ usw. niederschlagen, die auch als Analogien wissenschaftlich problematisch bleiben. Die zweite Anmerkung betrifft den Begriff der Modalität, der hier auch enger als in vielen Theorien definiert wird. Um die Komplexität medialer Kommunikation für sinnvolle Fragestellungen und Untersuchungen aufzubrechen, hat Bernd Weidenmann (1997) folgende Unterscheidung vorgenommen: Die Kodalität betrifft das Zeichensystem, mit dem kommuniziert wird. So gibt es Sprache in zwei Kodes, als gesprochene Lautsprache und als Schriftsprache. Bei der Modalität geht es um die Sinnesmodalität, in der mit Zeichen kommuniziert wird. Lautsprache wird durch die auditive Modalität verarbeitet, Schriftsprache durch die visuelle Modalität. Bei der Medialität geht es um die technischen Medien, die zur Kommunikation genutzt werden. Beide sprachlichen Kodes können in verschiedenen Medien auftreten: Lautsprache beim Telefon, im Radio und Fernsehen, Schriftsprache im Buch, auf dem Computer usw. Kodalität, Modalität und Medialität können vielfältige Verschränkungen und Abhängigkeiten eingehen, die man als Kommunikate bezeichnen kann. Eine dritte Anmerkung betrifft die Bilder. Unter Bilder wird eine sehr heterogene Vielfalt von visuellen Repräsentationen zusammengefasst, die für empirische Untersuchungen differenziert werden muss. Ein Foto vermittelt anderes Wissen und erfordert andere mentale Ressourcen als z. B. ein Diagramm. Vorliegende Typologien von Bildern orientieren sich an unterschiedlichen Kriterien der Produktion oder der Rezeption, eine wissenschaftlich brauchbare Typologie ist bisher noch ein Desiderat (Ballstaedt 2012). Wir unterscheiden hier Abbilder, Charts, Diagramme, Notationen, Karten, weil sie für die Wissenskonstitution und -vermittlung eine große Bedeutung haben (vernachlässigt werden Piktogramme und nicht repräsentationale Bilder wie Ornamente und abstrakte Bilder). Unter Abbildern werden Bilder zusammengefasst, mit denen visuelle Merkmale von Personen, Objekten, Handlungen gezeigt werden sowie Anordnungen im Raum. Dazu gehören Fotos, Strichzeichnungen, Schemabilder, computergenerierte 3D-Bilder usw., die visuelles Wissen vermitteln. Abbilder bleiben kommunikativ mehrdeutig, wenn sie nicht in einem sprachlichen Kontext eingebettet sind. Die Mehrdeutigkeit wird durch Sprache reduziert oder sogar monosemiert. Charts veranschaulichen nicht sichtbares begriffliches Wissen in Einheiten und Verbindungen zwischen ihnen. Da die Einheiten und meist auch die Relationen benannt sind, ist ein Chart eine sprachnahe Repräsentation von Wissen. Im Prinzip kann jeder Text in ein Chart überführt werden bzw. ist ein Chart eine grafische Repräsentation eines Textes.
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Diagramme veranschaulichen quantitatives Wissen zur wissenschaftlichen Kommunikation von Daten. Auch sie sind ohne sprachlichen Kontext, hier Beschriftungen und Legende, nicht verständlich. Unter Notationen versteht man die Aufzeichnung von Prozessen und Bewegungsabläufen. Beispiele sind die Notationen von Musik oder Tanzschritten oder für Rechenoperationen und logische Schlüsse. Notationen sind Symbolsysteme, die prozedurales Wissen repräsentieren. Bei Karten geht es um topologisches und räumliches Wissen über Territorien, von der Oberfläche der Erde bis zum Lageplan eines Friedhofs. Auch Karten sind nur in einem sprachlichen Kontext verständlich, durch Legenden und Beschriftungen. Jeder Bildtyp erfüllt nicht nur spezielle kommunikative Funktionen, sondern erfordert auch spezielle mentale Ressourcen.
2 Text und Bild: ein didaktisches Traumpaar 2.1 Text-Bild-Kombinationen Bilder sind nicht nur illustratives Beiwerk zur Sprache, sondern haben eigene kommunikative Stärken, die den Text ergänzen und zum Verstehen beitragen. In den zahlreichen Gegenüberstellungen von Text und Bild lässt sich folgende kodale Komple mentarität herausfiltern. Der Text ist das Zeichensystem für die Vermittlung abstrakter Inhalte, für Begründungen und Argumentationen, die im semantischen Gedächtnis gespeichert sind. Das Bild ist das Zeichensystem für konkrete Inhalte wie räumliche und topologische Zusammenhänge, die im visuellen Gedächtnis gespeichert sind. Ein weiterer Unterschied: Bilder haben eine stärkere emotionale Wirkung, während Sprache eher distanziert rational wirkt. Die oft beschworene ‚Macht der Bilder‘ beruht auf ihren ästhetischen und emotionalen Wirkungen. Nachfolgend stellen wir Kommunikate vor, bei denen Sprache und Bild in ihren Unterschieden funktional zusammenwirken. Sie haben sich in der kulturellen Evolution herausgebildet und spielen eine Rolle in der Konstitution wie der Vermittlung von Wissen. 1. Die erste Text-Bild-Kombination hat eine eindeutige kommunikative Funktion: die Einführung von Benennungen für Dinge. Diese sind abgebildet und werden mit Bezeichnungen versehen, der Zeigeakt wird dabei oft durch Hinweisziffern oder Hinweislinien ersetzt. Wort und Bild ergänzen sich in kodaler Komplementarität, um Perzepte zu benennen oder Wörter bzw. Konzepte zu veranschaulichen. Diese Kombination eines Abbilds mit Beschriftungen eignet sich hervorragend für didaktische Zwecke. Der Klassiker ist Johann Amos Comenius: In seinem Lateinlehrbuch „Orbis Sensualium Pictus“ (1658) werden deutsche und lateinische Wörter über Hinweisbuchstaben Bildkomponenten zugeordnet. Die
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theoretische Begründung für diese Text-Bild-Kombination auf der Grundlage des Sensualismus liefert Comenius in seiner „Didactica Magna“: Wenn die Dinge selbst nicht zur Hand sind, so kann man Stellvertreter verwenden: Modelle und Bilder, die zu Unterrichtszwecken angefertigt worden sind. (Comenius 1657, dt. 2000, 138)
Das Prinzip der Zuordnung von Bild und Wort hat Eingang in Schulfibeln und in Bestimmungsbücher gefunden, z. B. in der Anatomie oder der Pflanzenkunde. Benennen ist durchaus kein trivialer Sprechakt: Das Einführen von Termini in den Wissenschaften hat eine ordnungsschaffende epistemische Funktion, sie bildet die Grundlage für spätere Klassifikationen, mit denen sich die Menschen die Wirklichkeit aneignen. 2. Da Charts als Text-Bild-Kombinationen begriffliche und kategoriale Zusammenhänge repräsentieren, sind sie als Ordnungssysteme für Wissen sehr geeignet. Man findet sie bereits im frühen Mittelalter. Dabei wird der Baum als Metapher des Organischen gern als epistemologisches Ordnungssystem für Wissen verwendet (vgl. Abbildung 1).
Abb. 1: Baum des Weltwissens nach Raimundus Lullus (1505). Quelle: Wikimedia commons.
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Derartige Darstellungen dienen der Ordnung und damit auch der Einprägung von Wissen. Sie waren Bestandteil der gehobenen visuellen Bildung. Der didaktische Nutzen von Charts bei der Wissenskonstution und -vermittlung ist in zahlreichen Untersuchungen belegt (Mandl/Fischer 2000). Wissenschaftler nutzen flüchtig skizzierte Charts als kreative Technik und Denkhilfe; Beispiele dafür findet man bei Darwin, Freud und vielen anderen kreativen Köpfen. Charts kann man eine epistemologische Funktion nicht absprechen, die derzeit auch in dem neuen Forschungsgebiet der „Diagrammatologie“ ins Blickfeld der Philosophie (Gehring u. a. 1992) und der Bildwissenschaft (Bogen/Thürlemann 2003) geraten ist. 3. Die dritte Text-Bild-Kombination kennt jeder aus Gebrauchsanleitungen: Die Beschreibung von Handlungen wird mit Abbildern oder Bildsequenzen kombiniert, welche die Handlungen und durch sie bewirkte Zustände demonstrieren. Bildliche Anleitungen sind hier janusköpfig: Abgebildete Handgriffe dienen als Vorbilder für zukünftige Handgriffe. Die kulturelle Tradition kommt ohne derartige Text-Bild-Kombinationen nicht aus: Darstellung von Experimenten, Montageanleitungen, Kochrezepte usw. Der Anteil der Sprache kann dabei drastisch reduziert werden. Es gibt spracharme Anleitungen für den globalen Markt, die fast ohne sprachliche Zusätze auskommen (Beispiel: IKEA-Montageanleitung). 4. Argumente sind nach der klassischen Rhetorik sprachlich, aber derzeit wird darüber diskutiert, ob es auch visuelle Argumente gibt (Mersch 2006; Harth/ Steinbrenner 2013). Können Bilder etwas behaupten, und welche Art von Begründungen sind visuell möglich? Weitgehend unbestritten ist, dass Bilder in argumentativen Kontexten Hilfsfunktionen einnehmen können. Werden Argumente […] in Kombination mit Bildern in einem gemeinsamen kommunikativen Akt präsentiert, dann übernehmen die Bilder eine wesentliche Rolle zur Erfüllung der Funktion des präsentierten Arguments. (Mössner 2013, 54)
In wissenschaftlichen Abhandlungen werden Behauptungen vor allem mit Fotos und Diagrammen bestätigt, auch wenn deren visuelle Evidenz unterschiedlich ausfällt. Dass der Luchs wieder in unseren Wäldern heimisch wird, halten wir für bewiesen, wenn eine Fotofalle uns ein Bild des Tieres liefert. Einem Astronomen können wir hingegen nur glauben, was er uns in eine bunte radioastronomische Aufnahme hineininterpretiert. Argumentative Text-Bild-Kombinationen haben einen epistemischen Wert: Einige Wissenschaften kommen ohne Bildargumente nicht aus, z. B. die tomografischen Aufnahmen in den Neurowissenschaften. Oestermeier/Hesse (2000) haben mit einer Inhaltsanalyse eine Liste von 27 sprachlichen Kausalbegründungen zusammengestellt und überprüft, welche Art von Begründung auch durch visuelle Argumente möglich ist. Dabei spielen die verschiedenen Typen von Bildern unterschiedliche Rollen in argumentativen Kontexten. Zu visuellen Argumenten gibt es bisher erstaunlich wenige Untersu-
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chungen, obwohl ihnen eine große persuasive Wirkung zugesprochen wird, z. B. im Journalismus und der politischen Kommunikation. 5. Für die Vermittlung von Wissen hat sich im Journalismus die Infografik entwickelt, die Sprache und jeden Typ von Bild zu einem Gesamtpaket zusammenstellt, das einen Text ergänzt oder ganz überflüssig macht. Besonders im Wissenschaftsjournalismus werden ‚Erklärgrafiken‘ zur vereinfachten Darstellung von komplexen Zusammenhängen eingesetzt. Sie haben aber auch zumindest amerikanische Lehrbücher erobert. Großkraftwerk Lubmin
Möglichkeit zur Dampfauskopplung
Stromnetz
Abluft Gasturbine
Generator Dampfturbine
Gas
Luft Dampferzeuger
Wasser-DampfKreislauf Kondensator
Kühlwasser
Entnahme und Abgabe: Ostsee
Abb. 2: Infografik zur Funktionsweise eines Großkraftwerks, wobei hier der Textanteil gering ist. Quelle: modifiziert nach Angelika Jansen.
Infografiken sind ein Kind der Digitalisierung und werden von Kommunikationdesignern sehr gelobt: „Neben der schnelleren Informationserfassung und -verarbeitung und der längeren Speicherung im Gedächtnis wirken Infografiken motivierend auf den Leser“ (Bouchon 2007, 40). Untersuchungen legen aber nahe, dass sie nur bei sehr übersichtlicher Gestaltung einem Fließtext überlegen sind.
2.2 Bezüge zwischen Text und Bild Wir haben bereits von kodaler Komplementarität gesprochen: Auch ein sehr anschaulich geschriebener Text kann die visuelle Information eines Abbilds einer Person oder eines Objekts nicht kommunizieren. Ein Abbild hat immer einen sinnlichen Mehrwert. Aber es gibt zusätzlich noch verschiedene Formen inhaltlicher Bezüge zwischen Sprache und Bild (Stöckl 2004). War man anfangs mit der schlichten Einteilung in kongruente und divergente Text-Bild-Bezüge zufrieden, so haben sich diese groben Relationen als unbrauchbar erwiesen. Es gibt nicht nur zahlreiche komplexere Bezüge, sondern in einer Kombination von Text und Bild können verschiedene
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Bezüge vorkommen. Wenn ein Analytiker am Schreibtisch einen Bezug entdeckt, z. B. Metonymie, dann untersucht er dabei eigentlich nur seine eigene multikodale Rezeption. Ein anderer Adressat kann andere Bezüge oder keinen Bezug erkennen, da Vorwissen und Ressourceneinsatz beim Verstehen eine zentrale Rolle spielen. Da multikodales Verstehen nur auf der Ebene der Begriffe möglich ist, stellt sich die Frage, wie Begriffe durch Lesen und Betrachten aktiviert werden. Beim Lesen ist dieser Prozess gut erforscht: Über die Inhaltswörter im Text werden Begriffe aktiviert und über syntaktische Mittel zu konzeptuellen Netzen verknüpft bzw. in sie integriert. Bilder werden durchmustert und bei den jeweiligen Fixationen aktivieren Bildkomponenten ebenfalls Begriffe, allerdings bleiben Perzepte eines Bildes stets mehrdeutiger als Wörter. Über die Sprache kann die Auswertung eines Bildes gesteuert werden. Die aktivierten Konzepte aus Text und Bild müssen dann zu einer Struktur integriert werden, was mehr oder weniger gut gelingen kann. Wir unterscheiden drei grundsätzliche Fälle (Ballstaedt 2009): Beim kongruenten Bezug sind Text und Bild kodal komplementär und aktivieren dieselben Konzepte. Bei inhaltlicher Komplementarität aktivieren Text und Bild zwar verschiedene Begriffe, die sich aber in einem Wissensschema ergänzen. Beim elabo rativen Bezug sind Text und Bild nur über zusätzliche elaborative Schlussfolgerungen (Gedankenbrücken) integrierbar. Von Kongruenz über Komplementarität zu Elaboration erfordern diese inhaltlichen Bezüge einen zunehmenden Verarbeitungsaufwand. Ein einfaches Beispiel demonstriert die Abbildung 3: Sie zeigt drei verschiedene TextBild-Bezüge: (1) Kongruenz: Der Text beschreibt, was das Bild zeigt. (2) Komplementarität: Die Wörter Herbst und Wald aktivieren ein Schema, in das die abgebildeten Pilze passen. (3) Elaboration: Tschernobyl aktiviert das Wissen über den Gau, dessen radioaktive Verstrahlung noch heute in Waldpilzen nachweisbar ist.
(1) Die Pfifferlinge wachsen in Gruppen. (2) Im Herbst bietet der Wald viele Genüsse. (3) Die Folgen von Tschernobyl sind noch immer aktuell. Abb. 3: Drei verschiedene Text-Bild-Bezüge: (1) Kongruenz, (2) Komplementarität, (3) Elaboration. (Ballstaedt 2012, 139).
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Historische Beispiele für elaborative Bezüge findet man in der Kunstform des Emblems, das in der Renaissance entstand und eine kurze Blütezeit hatte. Es handelt sich dabei um eine Verbindung von Text (inscriptio und subscriptio) und Bild (pictura), die sich nicht sofort erschließt (Scholz 2002). Psychologisch entsteht – zumindest bei einem neugierigen Rezipienten – ein Bedürfnis, Sinn in die Kombination zu bringen, ein „effort after meaning“ nach Frederic Charles Bartlett (1932). Derartige Text-BildRätsel dienten dem geistreichen Zeitvertreib humanistisch gebildeter Personen, sie wurden zu den Lehrdichtungen gerechnet und hatten damit eine didaktische Funktion. Johann Gottfried Herder sprach von „Denkbildern“, die den Geist anregen und wichtige Wahrheiten einprägen sollten (Herder 1821, 287). In einer Text-Bild-Kombination können kongruente, komplementäre und elaborative Bezüge gleichzeitig vorkommen. Es dürfte klar sein, dass die Herstellung derartiger inhaltlicher Bezüge vom Vorwissen des oder der jeweiligen Lesenden bzw. Betrachtenden abhängig ist. Bisher haben wir die Text-Bild-Kombinationen medienneutral behandelt, jetzt wollen wir die drei für Wissensvermittlung wichtigen medialen Szenarien anschauen: Unterricht, Print-Material und audiovisuelle Vermittlung.
3 Sprache und Bild im Unterricht 3.1 Visuelle Lehr- und Lernmittel Bereits in der Antike wurden Anschauungsmittel wie Relieftafeln, Karten und reale Gegenstände in den Unterricht einbezogen (Döring 1969), aber bis zum Ausgang des Mittelalters ist in den Elementar- und Hochschulen Bildung sprachbasiert. Es dominiert das gesprochene Wort, visuelle Mittel wie Bilder dienen nur der Veranschaulichung und dem Memorieren, ihr Status beim Wissenserwerb ist gering. Bekannt ist das Diktum des Papstes Gregor des Großen (599/600), dass Bilder als Sprachersatz für ungebildete Analphabeten nützlich sind, um mit ihrer Hilfe die biblischen Geschichten zu erzählen. Mit Johann Amos Comenius treten Bilder als didaktische Mittel sowohl im Unterricht als auch in Lehrbüchern erstmals gleichberechtigt neben die Sprache. Theoretischer Hintergrund ist eine sensualistische Erkenntnistheorie, bei der beim Lernen alle Sinne angesprochen werden sollen. Das didaktische Prinzip der Veranschauli chung tritt in den folgenden Jahrhunderten in verschiedenen Varianten einen Siegeszug in der Pädagogik an, zu nennen sind hier Johan Heinrich Pestalozzi, Friedrich Fröbel und Vertreter der Reformpädagogik. Zwar bleibt schulische Bildung weiter sprachbasiert und Anschaulichkeit wird oft mit sprachlichen Mitteln wie Metaphern, Vergleichen, Analogien, Fabeln usw. angestrebt. Aber Bilder (Wandbilder, Karten, Tafelbilder) als Anschauungsmittel im Unterricht bekommen einen immer größeren
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Stellenwert. Betont wird dabei, wie wichtig die ausdrückliche Einbeziehung der visuellen Mittel in die mündliche Vermittlung ist. Im Unterricht dominierte das Tafelbild, das die Lehrerin oder der Lehrer mehr oder minder gewandt mit Kreide anzeichnete, meist Schemabilder, Diagramme, Charts. Ein didaktischer Vorteil ist die langsame, in das Sprechen eingebettete Aktualgenese, allerdings mit dem Nachteil verbunden, den Zuhörenden dabei den Rücken zuzudrehen. Für viele Wissensdomänen gibt es aktuelle Anleitungen zur Tafelarbeit. Auch in den Hörsälen der Naturwissenschaft und Technik hat das Tafelbild überlebt. Die nächste mediale Innovation bilden die transparenten Overhead-Folien, die man vor dem Unterricht oder während des Unterrichts gestalten kann, wobei Folien mit sprachlichen Informationen überwogen. Sie haben den Vorteil, dass man während des Schreibens und Zeichnens Blickkontakt mit den Zuhörenden halten kann. Es gibt zahlreiche Anleitungen zur typografischen Foliengestaltung, aber mehr noch zur Inszenierung des Folieneinsatzes. Die sprachliche Vermittlung bleibt auch hier im Zentrum, die Folien sollten angekündigt, redebegleitend beschrieben oder aufgedeckt werden (Striptease-Technik). Dann kam 1988 PowerPoint auf den Markt. Das Tool war zur Unterstützung eines Vortrags gedacht, die angebotenen Layout-Vorlagen präferierten hierarchisch gegliederte Sprachfolien (Bulletlists). Die Präsentation mit elektronischen Folien stammt aus der Unternehmenskommunikation, aber hat sich erfolgreich im wissenschaftlichen Betrieb etabliert: keine Vorlesung, kein Seminar, kein Referat ohne Visualisierung (wobei PowerPoint nur ein Präsentationstool darstellt, es gibt an die 40 andere!). Bedenken vor allem aus den geisteswissenschaftlichen Disziplinen, dass die Qualität des Vortrags leide, wurden 2003 von Tufte mit seinem Beitrag „The cognitive style of PowerPoint“ auf den Punkt gebracht. Seine zugespitzte These: Die stereotypen Layout-Vorgaben mit der Abfolge von Bulletlists führen bei den Lehrenden wie den Lernenden zu einer gewissen geistigen Verödung. Die Folien bestimmten das Denken, nicht mehr das Denken die Folien. Die anfängliche didaktische Euphorie ist einer Skepsis gewichen und es findet eine Rückbesinnung statt: Die Persönlichkeit und Rhetorik des oder der Dozierenden rücken wieder in den Mittelpunkt, die Präsentation wird immer minimalistischer und dient nur noch der punktuellen Unterstützung des gesprochenen Wortes.
3.2 Multikodale Verarbeitung: sprachliche Verankerung Betrachten wir als typischen Fall die multikodale Verarbeitung von Vorträgen mit Präsentation. Befunde über ihre Effektivität ergaben widersprüchliche Ergebnisse: Manchmal gab es einen Lerneffekt, manchmal nicht und sogar negative Effekte von PowerPoint-Folien wurden gemessen (Schnettler/Knoblauch/Pötzsch 2007). Die mündliche Vermittlung wird nicht automatisch effektiver, wenn Visualisierungen eingesetzt werden. Das ist eigentlich keine Überraschung, denn ein Vortrag mit Folien
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umfasst so viele sprachliche, visuelle und performative Variablen, dass die Wirkung der Folien kaum isoliert werden kann. Wir haben es mit einer Form multikodaler Kommunikation zu tun, die schnell zu einer Überforderung führen kann. Zudem ist die didaktische Gestaltung der Folien oft schlecht, sie sind mit Textfragmenten und Bildchen überladen, unübersichtlich und schwer lesbar. Viele Ratgeber zur Foliengestaltung sind auf dem Markt, einige mit solidem wissenschaftlichem Fundament (Kosslyn 2007; Lobin 2012). Auch werden die Folien nicht immer in den Vortrag einbezogen, oft bleiben sie visuelles Augenfutter, das eher ablenkt als zum Einprägen beiträgt. Als Erkenntnis zeigt sich: Eine elektronische Folie ist nur wirksam, wenn sie eine didaktische Funktion erfüllt. Eine synchrone Verdopplung des Gesagten ist wenig lernwirksam, aber eine Abweichung vom Gesagten ebenfalls nicht, da mündliche und schriftliche Sprache dann in Konkurrenz treten: entweder zuhören oder lesen. Dabei ist zu bedenken, dass das Zuhören mehr mentale Ressourcen als das Lesen erfordert, da die Aufnahmegeschwindigkeit vorgegeben ist und das Gesprochene nicht wie bei der Schrift nochmals rezipiert werden kann. Als flankierende Maßnahmen sind deshalb visuelle Unterstützungen durch Anschriebe, Sprachfolien und Bilder nützlich. Jede Folie muss dabei eine der folgenden didaktischen Funktion erfüllen: 1. Unterstützung des Einprägens durch die Bildung von Makrostrukturen, z. B. durch Überblicke oder Zusammenfassungen. 2. Veranschaulichung von abstrakten Sachverhalten, wie es bereits Comenius oder Pestalozzi gefordert haben. 3. Stimulieren und Fesseln der Aufmerksamkeit, dazu dienen bildliche Metaphern, visuelle Argumente und emotionalisierende Bilder. Fazit: Ein Vortrag mit begleitenden Folien gewinnt nur dann an Lernwirksamkeit, wenn diese inhaltlich und performativ mit der mündlichen Rede abgestimmt sind.
4 Text-Bild-Kombination in Fachtexten 4.1 Bebilderte Lehrtexte Die Geschichte des Bildes in Fach- und Lehrbüchern läuft parallel zu den visuellen Hilfsmitteln im Unterricht und ist stark von den Reproduktionstechniken abhängig. Zeichnungen als Ergänzung zur Sprache gab es schon in antiken Lehrbüchern der Technik, Medizin, Geografie, Biologie, sie sind allerdings meist verlorengegangen, da nur der Text, aber nicht die Bilder kopiert wurden (Stückelberger 1994). In der Renaissance nehmen mit der Erfindung des Holzschnittes und des Kupferstichs in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts Bilder in Fachbüchern zu. Vorreiter der visuellen Wissensvermittlung war die Technik, z. B. das Buch über das Bergwerkswesen von Georg Agricola „De re metallica“ (1556) mit 291 Holzschnitten.
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Die Art und Weise, in der die Fachprosaautoren Text und Bild koordinieren und gemeinsam bei ihren Beschreibungen einsetzen, gehört zu den großen informationstheoretischen Neuerungen des 16. Jahrhunderts. (Giesecke 1998, 628)
Wissen ist nicht nur sprachlich, sondern auch bildlich, erst Lesen und Sehen zusammen machen Bildung aus. Die theoretische und didaktische Begründung liefert wieder Comenius. In seinem Lateinlehrbuch „Orbis Sensualium Pictus“ (1658) werden deutsche und lateinische Wörter über Hinweisbuchstaben Bildkomponenten zugeordnet. Dieses Prinzip der Zuordnung hat Eingang in Schulfibeln und Bestimmungsbücher gefunden, z. B. in der Anatomie oder der Botanik. Das Bildwörterbuch der Brockhaus Enzyklopädie (1996) ist bis heute nach dem Prinzip aufgebaut. Einen Meilenstein stellt La Grande Encyclopédie (1751 bis 1780) dar, sie sollte nicht nur das Wissen der Zeit, sondern auch das Können, also handwerkliche Fähigkeiten archivieren, z. B. das Uhrenmachen oder die Nadelherstellung. Der Herausgeber D’Alembert schildert ausführlich, welche Probleme die Darstellung der Arbeitsabläufe – des prozeduralen Wissens – bereiteten: Da man kaum gewohnt ist, über die Handwerke zu schreiben oder darüber zu lesen, war eine verständliche Beschreibung der Dinge ziemlich schwierig. Hieraus ergab sich die Notwendigkeit von Abbildungen. […] Bei den Bildern haben wir uns auf die wesentlichen Bewegungen des Arbeiters und ausschließlich auf die Momente der Tätigkeit beschränkt, die einfach zu zeichnen, aber schwierig zu erklären sind. (D’Alembert 1751 [1955], 227; 229, die Zitate sind teilweise neu übersetzt)
Mit Bezugsnummern und -buchstaben wird in den Kupferstichen auf den Textteil verwiesen, der Geräte, Werkzeuge und Handgriffe in der Fachterminologie genau erläutert. Noch bis zum Offset-Druck war es umständlich, Bilder in den Text einzufügen, es mussten eigene Vorlagen hergestellt werden. Das verteuerte die Produktion und jeder Verleger war dankbar, wenn ein Autor oder eine Autorin ohne Bilder auskam. Mit der Digitalisierung der Text- und Bildverarbeitung hat sich das radikal verändert. In Fachbüchern hat der Anteil von Bildern gegenüber dem Text deutlich zugenommen. Die Entwicklung einer Bilddidaktik greift aber erst zaghaft die Befunde der empirischen Forschung auf (Ballstaedt 2005; Heinze/Matthes 2010; Petterson 2010; Lieber 2013).
4.2 Multikodale Verarbeitung: Sehflächen Eine Text-Bild-Kombination stellt eine Sehfläche dar, die durch Blickbewegungen zwischen Text und Bild ausgewertet wird (Switching). Da die Verarbeitung nur die visuelle Modalität betrifft, kann man entweder lesen oder betrachten, beides gleich-
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zeitig ist nicht möglich: Je weiter Text und Bild voneinander entfernt sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer gemeinsamen Verarbeitung. Während sich die deutsche Lehrwerk- bzw. Schulbuchforschung – entstanden in den 1960er Jahren – erst spät der Funktion von Bildern in Lehrtexten angenommen hat, gib es eine breite angloamerikanische Instruktionspsychologie. Sie ist zunächst einseitig auf die Fragestellung ausgerichtet, wie Bilder das Verstehen von Texten beeinflussen. Es wurden etliche Listen von Funktionen erstellt, die Bilder im Text erfüllen können (Peeck 1994). Einige immer wiederkehrende Funktionen sind: Motivieren: Bilder erregen Aufmerksamkeit, wecken Interesse und regen zum Lesen an. Veranschaulichen: Bilder veranschaulichen Zusammenhänge, die in der Sprache nur abstrakt dargestellt werden können: kodale Komplementarität. Einprägen: Bilder können das Behalten von sprachlichen Informationen verbessern. Organisieren: Bilder können einen Bezugsrahmen für die sprachlichen Informationen im Text herstellen. Emotionalisieren. Bilder können Gefühle abrufen und den Lernprozess emotional einfärben, was wiederum das Behalten verbessert. Diese Funktionen sind empirisch nachgewiesen, wobei nicht jeder Bildtyp für jede Funktion geeignet ist. Bilder stehen hier im Dienst der sprachlichen Wissensvermittlung. Die andere Fragerichtung, wie Texte die Bildverarbeitung beeinflussen, wurde seltener untersucht, da die Bildverarbeitung methodisch schwerer zu erfassen ist. Drei Möglichkeiten, die Auswertung des Bildes über die Sprache zu steuern sollen kurz angeführt werden. Sehanleitungen führen den Lesenden ins Bild. Beispiel: „Achten Sie im Diagramm besonders auf den Verlauf der Kurve um 1980.“ Konkrete Benennungen führen zu einer längeren Inspektion des Bildes. Beispiel: Wenn eine Bildkomponente als Blume bezeichnet wird, schaut man kürzer hin als wenn sie als Heckenrose eingeführt wird. Die konkrete Bezeichnung erfordert eine längere Verifizierung. Sprachliche Leerstellen locken den Lesenden ebenfalls ins Bild. Beispiel: „Die gotische Fischblase hat eine charakteristische Form.“ Welche das ist, das kann man im Bild anschauen.
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5 Sprache und Bild in audiovisuellen Medien 5.1 Visuelle Bildungsmedien Audiovisuelle Kommunikate sind noch einmal komplexer als Text-Bild-Kombinationen in Print-Material, da sie Sprechsprache (Kommentar im Off), Musik und Geräusche, Drucksprache (Inserts) und statische und dynamische Bilder kombinieren, die wiederum Sprechsprache (im On), Gesten und andere außersprachliche Zeichen enthalten können. Konkret geht es bei Wissensvermittlung und Bildung um wissenschaftliche Dokumentationen, Lehrfilme und Angebote auf CD oder im Web (CBT). Es gibt es zahlreiche Plattformen, die Videos aus allen wissenschaftlichen Domänen anbieten, z. B. bei iTunes U, oder die Lehrvideos auf Youtube. Viele Fachzeitschriften bieten auf ihrer Website wissenschaftliche Videos an. Gegenüber Text-Bild-Kombinationen in Printmedien gibt es einige neue Möglichkeiten. Zunächst erweitern Bewegtbilder das Potenzial der visuellen Kommunikation, sie zeigen prozedurales Wissen und Veränderungen, z. B. durch beschleunigte und verlangsamte Darstellung (Zeitraffer und Zeitlupe). Dabei dominieren oft die Bilder, da Bewegung für die Augen starke Reize bietet, welche die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dies gilt besonders für interaktive und animierte Bilder, die der oder die Betrachtende selbst erkunden und manipulieren kann. Die Sprache hat hier in der Verarbeitung einen schweren Stand. Zudem ist die Kommunikation nicht nur multikodal, sondern auch multimodal, da Auge und Ohr gefordert sind. Zwar sind die inhaltlichen Bezüge zwischen Sprache und Bild nicht anders als bei Printmedien, aber während eine Sehfläche schwer vorhersehbar ausgewertet wird, lassen sich zeitliche wie inhaltliche Bezüge beider Kodes (Bilder und Tonspur) genau abstimmen. Über die gesprochene Sprache kann die Wahrnehmung vor oder während eines Ablaufes im Bild gesteuert werden. Eine Zusammenfassung der Möglichkeiten multikodaler und modaler Wissensvermittlung bietet das Kompendium von Niegemann u. a. (2008). Man kann prognostizieren, dass audiovisuelles Material in Zukunft eine größere Rolle in der Wissensvermittlung spielen wird. Beim E-Learning wird der Einsatz visuellen Materials als großer Vorteil gesehen, obwohl auch hier noch die sprachliche Vermittlung überwiegt. Ein wichtiger Trend ist die zunehmende Rezeption auf Tablets und Smartphones.
5.2 Multikodale Verarbeitung: Text-Bild-Schere Zur audiovisuellen Kognition wurden in der amerikanischen Instruktionspsychologie in den 1960er Jahren unterschiedlich Ansätze entwickelt, die sich auf den ersten Blick in ihren Aussagen widersprechen. Die Summierungstheorien gehen von einem positi-
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ven Lerneffekt aus, wenn sich Informationen aus verschiedenen Kodes und Modalitäten ergänzen. Die Selektionstheorien hingegen sehen durch sprachliche und visuelle Kodes eine kognitive Überforderung, die zu einer radikalen Selektion aus dem Angebot führt (Ballstaedt 1990; 2006). Die inhaltlichen Bezüge zwischen den Kodes wurden dabei recht grob kategorisiert, die begriffliche Verarbeitung wurde vor einem behavioristischen Hintergrund ignoriert. In Deutschland wurde beim Fernsehen ein Problem intensiv untersucht und diskutiert, das eher für die Selektionstheorie spricht: die Text-Bild-Schere (Wember 1976; Renner 2001). Wenn sprachliche und bildliche Informationen inhaltlich nicht aufeinander beziehbar sind, dann bleibt nur wenig im Gedächtnis hängen, meist sind es visuelle Informationen: Man behält, welche Farbe der Blazer der Kanzlerin hatte, aber vergisst, was sie gesagt hat. Wird zu viel an Informationen in festgelegter Zeit angeboten, dann führt das zwangsläufig zu einer fragmentierten Verarbeitung. Diese Befunde haben die Debatte über die Reizüberflutung durch AV-Medien genährt, heute wird dieses Argument auf das visuelle und sprachliche Angebot im Web übertragen. Zusammenfassend ist audiovisuelles Material in der Wissensvermittlung nur effektiv, wenn es didaktisch gut aufbereitet ist. Das betrifft die Informationsmenge und inhaltliche Bezüge zwischen den Kodes. So wird z. B. empfohlen, bei wichtiger sprachlicher Information auf zusätzliche komplexe Bilder zu verzichten, und bei wichtiger Bildinformation nichts im Off darüber zu sprechen. Eine Zusammenfassung aller empirisch bestätigten Gestaltungsregeln für AV-Material findet man bei Richard Mayer (2009). Eine anspruchsvolle Ästhetik für Dokumentarfilme kann allerdings auf eine Text-Bild-Schere nicht verzichten, um über elaborative Bezüge geistige Prozesse auszulösen (Breuer 2009).
6 Multikodale Kompetenz Ohne Zweifel ist unsere semiotische Umwelt durch die Medien komplexer geworden, das gilt für sprachliche wie visuelle Angebote und ihre Verknüpfungen, z. B. in der Zeitung, in einer Präsentation oder im Film. Deshalb fordern einige Kommunikationswissenschaftler eine multikodale Kompetenz, ohne die wir diesen Angeboten nicht gewachsen sind (Stöckl 2011). Sie besteht in der Fähigkeit, ein Kommunikat aus mehreren Kodes und für meist zwei Modalitäten zu einer Gesamtbedeutung zu integrieren. Neuropsychologisch besteht das Problem darin, dass wir mit einem Arbeitsspeicher begrenzter Kapazität auskommen müssen. Mit der selektiven Aufmerksamkeit verfügen wir über einen robusten Mechanismus, der uns vor ‚Reizüberflutung‘ schützt. Weder beim Lesen oder Hören von Text noch beim Betrachten eines Bildes verarbeiten wir alle Informationen, sondern wir selegieren nach Erwartungen und Interessen. Anspruchsvolle Text-Bild-Kombinationen erfordern erhebliche mentale Ressourcen. Es gibt zwei pädagogische Ansatzstellen, um mit dem beschränkten Arbeitsspei-
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cher umzugehen. Einmal über eine Gestaltung der Text-Bild-Kommunikate, die auf die neuronalen Kapazitäten Rücksicht nimmt. Im Rahmen der Cognitive-load-Theorie (Sweller/Ayres/Kalyuga 2011) oder der Theorie des Multimedia Learning (Mayer 2009) wird empirisch untersucht, wie multikodales Lernmaterial gestaltet werden muss, damit es zu keiner Überlastung des Arbeitsspeichers kommt. Die dort erarbeiteten Richtlinien müssen aber noch den Weg in die Praxis finden. Der zweite Ansatzpunkt betrifft allein die Bilder. Von pädagogischer Seite wird oft darauf hingewiesen, dass der Umgang mit Sprache in unserem Bildungssystem eine große Rolle spielt, während der Umgang mit Bildern zu kurz kommt. Hier liegt tatsächlich eine Einseitigkeit, die in einer zunehmend visuell mitgeprägten Kultur behoben werden muss. Bildung ist heute ohne visuellen Anteil nicht mehr denkbar, denn Bilder spielen eine Rolle in der Konstitution, in der Distribution und in der individuellen Aneignung von Wissen. Eine Bedrohung der Sprache – wie oft kulturpessimistisch befürchtet – stellen sie allerdings nicht dar, denn Bilder bleiben immer auf einen sprachlichen Kontext angewiesen.
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II Historische Entwicklungen der sprachlichen Konstitution von Bildung
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8. Zur Rolle der Sprache in der Bildung von der griechisch-lateinischen Antike bis zur Frühen Neuzeit Abstract: Sprache ist ein wesentlicher Bestandteil der Bildungskonzeptionen von Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Sprachliche Bildung stand in diesen Epochen in enger Verbindung mit der Rhetorik und war daher meist praxisbezogen, auf einen konkreten Nutzen ausgerichtet und umfasste eher Kompetenzen (gut reden und öffentlich auftreten können) als statische Wissensbestände; sie wurde allerdings meist im Zusammenhang mit literaturgeschichtlichem Bildungswissen vermittelt. Typisch für die Antike war ein kostenpflichtiges, meist privat organisiertes Schulsystem. Im Mittelalter stand das Bildungswesen unter kirchlich-monastischer Obhut, während sich in der Frühen Neuzeit unterschiedliche Träger von Bildungseinrichtungen (Kirche, Städte, Fürsten, private Träger) herausbildeten. Seit der Zeit des Römischen Reiches war höhere Bildung trotz sozialer Aufstiegsmöglichkeiten prinzipiell Kennzeichen höherer Stände. Sprachkönnen bedeutete im antiken Griechenland rhetorische Kompetenz in der Muttersprache, im antiken Rom zunächst eine gebildete griechisch-lateinische Zweisprachigkeit, bis seit der Spätantike das Lateinische dominante Bildungs- und Prestigesprache in Westeuropa wurde. 1 Antike 2 Mittelalter 3 Frühe Neuzeit 4 Literatur
1 Antike 1.1 Griechische Antike Das antike Griechenland kannte zunächst kein institutionalisiertes Bildungssystem mit einem festen Bildungskanon oder Lehrprogramm (Lüth 2006a). Grundlegend änderte sich dies erst mit den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen in spätarchaischer und klassischer Zeit (seit dem 5. Jh. v. Chr.): In Stadtstaaten wie Athen wurden die früheren monarchischen oder aristokratischen Verfassungen durch demokratische Systeme ersetzt, die allen Vollbürgern die politische Teilhabe ermöglichten. Die Demokratisierung der Gesellschaft bedingte die Möglichkeit, eigene Inte-
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ressen im freien Diskurs zu behaupten, was zum Aufkommen der Rhetorik als wesentlichen Bestandteils von Bildung führte. Nun spielte nicht mehr unbedingt die soziale Herkunft die alleinige Rolle für politischen und gesellschaftlichen Einfluss, sondern Außenwirkung, Überzeugungskraft und die gelungene Art der Selbstdarstellung. Daher entstand ein öffentlicher Diskurs über die Frage eines Bildungskanons und die für eine erfolgreiche Persönlichkeit nützlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Getragen wurde die Debatte im Wesentlichen von der im 5. Jh. v. Chr. aufkommenden sog. Sophistik bzw. den Sophisten (von griech. sophós ‚weise, intelligent, gebildet‘) (Fuhrmann 2003, 15–29); das griechische Schlagwort war paideía, das sowohl ‚Erziehung‘ als auch ‚Bildung‘ bedeuten kann (Stroh 2011, 70–85). Die Sophisten traten häufig als Wanderlehrer auf, die im gesamten griechischen Kulturraum gegen teilweise sehr hohe Gebühren ihr Bildungsprogramm vermittelten. Insofern war Bildungsvermittlung im 5. Jh. v. Chr. ein wichtiger Geschäftszweig mit einer scharfen Konkurrenz der Bildungsanbieter untereinander. Einer der bedeutendsten Sophisten jener Zeit war der aus dem sizilischen Leontinoi stammende Gorgias (Stroh 2011, 53–69), der vermutlich Anfang des 5. Jh. v. Chr. geboren wurde und über 100 Jahre alt geworden sein soll. Gorgias konnte im Vergleich zu anderen Sophisten seiner Zeit besonders hohe Honorare verlangen und hatte bedeutende Schüler wie z. B. den athenischen Politiker Perikles. Er gehörte mit seinem philosophischen Programm zu den aufklärerischen Skeptizisten seiner Zeit, die die Möglichkeit sicherer Erkenntnis – selbst über Existenz oder Nichtexistenz – ablehnten (Di Cesare 1996). Seine Sprachauffassung war ähnlich relativistisch: Gorgias trennte strikt zwischen der Welt der Sprache als System sui generis und der Welt der Gegenstände bzw. Referenzobjekte und leugnete die Möglichkeit einer vollständigen intersubjektiven Verständlichkeit durch Sprache (Rieu 1996). Dennoch maß Gorgias der Sprache eine herausragende Bedeutung für die politische und gesellschaftliche Kommunikation bei und entwickelte hieraus seine Rhetorik: So zeigte er am Beispiel seiner Verteidigungsrede für die notorische Ehebrecherin Helena, die ihren Ehemann Menelaos für den trojanischen Schönling Paris verlassen hatte, die Macht der Rede, nämlich scheinbar klare Sachverhalte aus einer ganz anderen Perspektive darzustellen und das Urteil in eine konträre Richtung zu lenken. Die Redekunst des Gorgias war geprägt von einer Vielzahl von Klang- und Stilfiguren, die für die spätere Rhetorik zum Standardrepertoire wurden. An den sophistischen Vorstellungen entzündete sich heftige Kritik: Insbesondere Platon (427–347 v. Chr.) warf den Sophisten in einigen seiner Dialoge vor, ihre Rhetorik diene einseitig dem Recht des Stärkeren und berücksichtige nicht die Frage ethischer Normen (Gorgias, Protagoras, Anfang der Politeia) (Stroh 2011, 144–163). Dennoch kann Platon nicht als einseitiger Feind der Rhetorik schlechthin gelten, denn auch seine Philosophie fußt auf dem Prinzip des Dialogischen und damit der dialektischen Erörterung von Problemen im Medium einer angemessenen Sprache (Arens 1969, 6–11; Kraus 1996). Ähnlich wie bei den Sophisten lässt sich zudem eine Skepsis gegenüber einem zu engen Konnex zwischen sprachlichen Zeichen und den
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Referenzobjekten in der Welt feststellen: Platons Dialog Kratylos bezeugt eine um 400 v. Chr. bereits lebendige Diskussion über die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen der Form und der Semantik sprachlicher Zeichen gibt oder ob sprachliche Zeichen prinzipiell arbiträr sind bzw. auf Konvention fußen (Borsche 1996). Diese Diskussion spielte in der Folgezeit eine wichtige Rolle in der antiken Sprachwissenschaft als Unterabteilung der Philosophie. Anders als Platon ging die Stoa von einem engen Zusammenhang zwischen Zeichen und Bedeutung aus und entwickelte hieraus als eigenen Forschungszweig die Etymologie (Hülser 1996). Die stoischen Etymologien beanspruchten, aufgrund von Wortuntersuchungen geradezu eine Erklärung der Welt liefern zu können, da die echte (= griech. étymos) Bedeutung eines Wortes auch den Wesenskern eines Referenzobjekts erkläre: So gesehen war Etymo-logie die ‚Lehre von der Wahrheit‘ (Herbermann 1996; Kuhlmann 2006, 145–150). Seit der Zeit Platons etablierten sich in Griechenland philosophische Schulen als feste und meist kostenpflichtige Institutionen und boten diese Art von Sprachbetrachtung ebenso wie Rhetorik in ihrem Bildungsprogramm an (Lüth 2006b). Der Besuch solcher Schulen setzte im Allgemeinen eine basale Vorbildung (schreiben, lesen) voraus, die man entweder im Elternhaus oder durch private Lehrer erwarb (Baumgarten/Bormann/Krumeich 2006). Da für Nicht-Athener ein längerer Besuch der Schulen mit einer kostspieligen Reise nach Athen verbunden war, profitierten hauptsächlich die finanziell vermögenden Schichten von dieser Art der höheren Bildung. Im konkreten Bildungsprogramm gab es große Unterschiede, da die unterschiedlichen Schulen auch einander ausschließende Weltanschauungen vermitteln wollten und insofern in Konkurrenz zueinander standen. Die Rhetorik in Verbindung mit der Ethik und allgemeinbildenden Wissensvermittlung stand besonders in der Schule des Gorgias-Schülers Isokrates (436–338 v. Chr.) im Mittelpunkt: Sein Bildungsprogramm kann insofern als erste antike Didaktik bezeichnet werden, als hier der angemessene sprachliche Ausdruck als zentraler Bestandteil angemessener und adressatenorientierter Wissensvermittlung behandelt wurde (Stroh 2011, 126–143). Sprachliche Bildung in Form der Redekunst trug demnach zur Urteilsbildung und damit zur charakterlichen Erziehung bei. Umgekehrt sahen die Stoiker in der Tugend des Redners die entscheidende Voraussetzung der idealen Redekunst: Rhetorik war hier gleichbedeutend mit eû légein, d. h. ‚(moralisch und technisch) gut reden‘ können (Stroh 2011, 257–261). Ein umfassendes System der Rhetorik, Grammatik und Bildung im Allgemeinen entwickelte Platons Schüler Aristoteles (384–324 v. Chr.) (Fuhrmann 2003, 31–40; Stroh 2011, 164–187). Anders als Platon und die Stoa war seine Sprachauffassung nicht von spekulativen Elementen, sondern von Empirie und Systematisierungsbestrebungen geprägt. Auch ging er prinzipiell davon aus, dass Sprache auf Konvention beruht und kein ontologischer Zusammenhang zwischen sprachlichem Zeichen und bezeichneter Sache besteht (Weidemann 1996; Graeser 1996). In seiner Schrift Rhētoriké téchnē (‚Kunst der Rede‘) legte Aristoteles die zu seiner Zeit gängigen Untergattungen der Rede (politische Rede, Festrede, Gerichtsrede) in ihren jeweiligen
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Kontexten dar und untersuchte, wie die jeweilige sprachliche Gestaltung auf unterschiedliche Rezipienten wirkt und ihre Emotionen beeinflusst. Diese psychologische Wirkung von Sprache ist wiederum im weiteren Kontext von Aristoteles’ Interesse an der Psychologie und Erziehbarkeit des Menschen überhaupt zu sehen, was ein wichtiges Thema der Nikomachischen Ethik ist. Neben diesen psychagogischen Aspekten systematisierte Aristoteles in seiner Rhetorik umfassend den Aufbau von Reden, die Stilarten und die rhetorischen Figuren.
1.2 Römische Antike Schriftlichkeit ist in der Stadt Rom und dem angrenzenden Latium seit etwa 600 v. Chr. in Form eines altitalischen, letztlich aus dem griechischen abgeleiteten Alphabets durch wenige Inschriften bezeugt, die auf keinen hohen Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung schließen lassen. Reflexionen über den Zusammenhang von Sprache und Bildung kamen erst im 3. Jh. v. Chr. im Zuge der militärischen Expansion und des zunehmenden griechischen Einflusses nach Rom (Baumgarten/Bormann/Krumeich 2006, 101–110). Die der Nobilität entstammenden römischen Feldherren brachten von ihren Feldzügen häufig griechische Bedienstete als Hauslehrer, aber auch griechische Kulturgüter wie Bücher oder ganze Bibliotheken mit nach Rom. Zudem wurde Rom durch seine Rolle als italisches Machtzentrum Anziehungspunkt griechischsprachiger Literaten aus den griechischen Städten Süditaliens. War noch in Griechenland sprachliche Bildung stets muttersprachliche Bildung gewesen, bedeutete für die gebildeten Römer der Oberschicht Sprachbildung das Beherrschen des Griechischen als dominierender Prestigesprache. Zwar war das alte Italien mindestens bis zur Zeitenwende ein vielsprachiges Land, in dem – oft sogar innerhalb einer Stadt – unterschiedliche und untereinander nicht verständliche Sprachen wie Oskisch, Griechisch, Latein, Etruskisch oder sogar Keltisch gesprochen wurden (Poccetti/Poli/Santini 2005, 62–89). Als Ausweis höherer Bildung galt zunächst jedoch nicht die sicherlich verbreitete Mehrsprachigkeit auf einer mündlichen Kommunikationsebene, sondern das Beherrschen des Griechischen und die Bildung in griechischer Literatur (Poccetti/ Poli/Santini 2005, 90–129). Auch die ersten literarischen Werke von Römern wurden in griechischer Sprache verfasst wie etwa das Geschichtswerk des Fabius Pictor (ca. 270–216 v. Chr.). Mit dem griechischen Kultureinfluss kam auch das rein private und damit kostenpflichtige Schulwesen nach Rom, das von dort wiederum in die römischen Kolonien Italiens und der anderen Provinzen exportiert wurde. Bildung bedeutete in diesem Schulsystem primär sprachliche, d. h. grammatikalische und literarische Bildung. Die grundlegenden Schreibtechniken wurden ähnlich wie in Griechenland zu Hause erworben (Baumgarten/Bormann/Krumeich 2006, 101–110). Vornehme Haushalte besaßen häufig griechische Hauslehrer oder Ammen, so dass Griechisch sogar die Erstsprache für manche römischen Kinder noch vor Latein bilden konnte. An den Ele-
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mentarunterricht schloss sich die weitere Ausbildung bei einem grammaticus an, der die ca. 11- bis 16-jährigen Jungen (und teilweise auch Mädchen) in griechischer Grammatik (Wortarten, Satzglieder, Flexionstabellen) und Literatur unterwies: Gelesen, grammatikalisch und metrisch analysiert sowie auswendig gelernt wurden griechische Texte v. a. von Homer und den Tragödiendichtern (Sophokles, Euripides), dazu auch Exempla aus der Geschichtsschreibung und mythologische Texte (Marrou 1977, 401–412). Da in lateinischer Sprache zunächst noch keine solchen literarischen Texte vorlagen, musste vergleichbares Unterrichtsmaterial erst geschaffen werden. Der wohl aus dem griechischsprachigen Tarent stammende Livius Andronicus eröffnete Mitte des 3. Jh. v. Chr. in Rom die erste fassbare Grammatik-Schule und übersetzte für Unterrichtszwecke u. a. Teile der griechischen Odyssee ins Lateinische (Odusia). Diese Übersetzung war noch ganz am Verstehenshorizont der römischen Schüler orientiert: Griechische Gottheiten wurden durch italische ersetzt (z. B. die Musae ‚Musen‘ durch die Camenae), anstelle des griechischen Versmaßes Hexameter verwendete Livius den altitalischen Saturnier, so dass der Text insgesamt nicht allzu fremd erschien (Poccetti/Poli/Santini 2005, 266–276). Vermutlich las Livius mit seinen Schülern den griechischen Originaltext parallel mit der lateinischen Übertragung, um so den Zugang zur griechischen Sprache zu erleichtern. Doch auch das Lateinische war natürlich Unterrichtsgegenstand, das durch den Schul- und Literaturbetrieb seit dieser Zeit zunehmend orthographisch und grammatikalisch normiert wurde. Auch die korrekte Aussprache gehörte zum Unterricht, da eine möglichst reine stadtrömische Aussprache der sozialen Distinktion diente, zumal seit der Expansion römischer Macht nach ganz Italien. In den italischen Provinzstädten mit römischen Kolonisten schickten auch die Angehörigen der lokalen Eliten ihre Kinder in die römischen Schulen, die dort zur allmählichen Latinisierung der italischen Bevölkerung beitrugen. An der vom italischen Substrat (Oskisch, Sabinisch, Etruskisch etc.) beeinflussten Aussprache konnten Stadtrömer jedoch oft die regionale Herkunft von Provinzialen erkennen, was bis in die Kaiserzeit als sozialer Makel galt. Im Anschluss an die Grammatik-Schule konnten die männlichen Jugendlichen (ca. ab dem 16. Lebensjahr) auch eine wiederum private Rhetoren- oder/und Philosophieschule besuchen (Lüth/Vössing/Klein 2006). Solche Rhetorenschulen existierten anders als die weiter verbreiteten Grammatikschulen nur in großen urbanen Zentren und waren wegen der deutlich höheren Honorare recht kostspielig. Die ersten Rhetoriklehrer in Rom waren Griechen, die spätestens seit dem 2. Jh. v. Chr. griechische Rhetorik unterrichteten; allerdings sind seit etwa 100 v. Chr. auch römische Rhetorenschulen bezeugt. Besonders reiche Familien konnten sich auch private griechische Rhetorik- und Philosophielehrer leisten. Die z. T. von Philosophen der skeptisch ausgerichteten Schule der platonischen Akademie angebotene Rhetorikausbildung war in den konservativen Kreisen Roms nicht unumstritten: So wurden auf Betreiben Catos des Älteren 161 v. Chr. die griechischen Rhetorik- und Philosophielehrer aus Rom vertrieben (Stroh 2011, 266–289).
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Die Gründe für diese Maßnahmen waren vielfältig: Zum einen lernten die Schüler in solchen Schulen, mithilfe spitzfindiger Dialektik für und gegen eine Sache zu reden und zu argumentieren (in utramque partem disputare), was moralisch suspekt erschien; zum anderen trugen diese Schulen trotz ihrer hohen Gebühren zu einer Demokratisierung von Bildung bei und waren besonders bei sozialen Aufsteigern aus der Gruppe reicher Plebejer oder Ritter beliebt. Hier konnte man gegen Bezahlung die für die politische und forensische Karriere notwendigen Kompetenzen erwerben, die ursprünglich nur im häuslichen Rahmen persönlicher und verwandtschaftlicher Beziehungen weitergegeben wurden: sicheres Auftreten und überzeugendes Reden auf der Basis fundierter Rechtskenntnis und Allgemeinbildung (Stroh 2011, 266–289). Somit beförderten die Rhetorenschulen mit ihrem Bildungsprogramm die soziale Konkurrenz der Stände untereinander und bewirkten eine Erosion patrizischständischer Privilegien, die auf verwandtschaftlichen Beziehungen und der nur im Familien- und Freundeskreis praktizierten Weitergabe von Wissen beruhte. Nach den Verboten von Rhetorenschulen war entsprechend die reiche Nobilität besonders privilegiert, weil sie ihre Söhne auch zum kostspieligen Studium nach Athen schicken konnte (Lüth/Vössing/Klein 2006, 136–145). Auf Dauer konnte die Ausbreitung von Rhetorenschulen allerdings nicht verhindert werden: Für die Mitte des 1. Jh. v. Chr. sind schon wieder 20 Rhetorenschulen allein in der Stadt Rom bezeugt. Zudem entstand im 1. Jh. v. Chr. eine Reihe von lateinischen Handbüchern zur Rhetorik wie etwa die bis in die Neuzeit viel benutzte und übersetzte pseudo-ciceronische Rhetorica ad Herennium, die aufgrund der leichten Zugänglichkeit über den Buchhandel die Redekunst noch weiter verbreiten halfen (Fuhrmann 2003, 41–51). Das erste Jahrhundert v. Chr. stellte in vieler Hinsicht eine Umbruchzeit für die römische Bildungsgeschichte dar, was durch das gleichzeitige Wirken dreier bedeutender Persönlichkeiten bedingt ist: Cicero (106–43 v. Chr.), Caesar (100–44 v. Chr.) und Varro (116–27 v. Chr.) – alle drei waren politisch aktiv und gleichzeitig an Fragen von Sprache und Bildung interessiert. Caesar und Varro befassten sich neben ihrer politisch-militärischen Laufbahn auch professionell mit Sprachtheorie und verfassten entsprechende Fachbücher, die den richtigen Sprachgebrauch und seine wissenschaftliche Begründung behandelten wie etwa De analogia (Caesar) oder De lingua Latina (Varro) (Poccetti/Poli/Santini 2005, 399–422). Cicero war primär rhetorisch interessiert und verfasste einschlägige Schriften in Dialogform (Orator, De oratore), die das Ideal des guten Redners präsentierten (Stroh 2011, 357–384). Alle drei schufen zusammen die für die folgenden Epochen maßgebliche Norm der lateinischen Schriftsprache (Prosa), indem sie aus ihrem Sprachgebrauch viele im älteren Latein noch gebräuchliche morphologische Varianten ausmerzten und die Semantik vieler Lexeme auf bestimmte Bedeutungen festlegten (Neumann 1977). Diese künstlich geschaffene Norm setzte sich tatsächlich durch und wurde selbst von christlichen lateinischen Schriftstellern späterer Epochen mehr oder weniger imitiert. Die richtige Verwendung eines an Cicero und Caesar orientierten Lateins wurde zum Ausweis sprachlicher Bildung und der Zugehörigkeit zur sozialen Elite. Cicero stellte
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darüber hinaus in seinem an Isokrates und der Stoa orientierten Bildungsprogramm eine Verbindung von Weisheit/Wissen und Redekunst (sapientia und eloquentia) her, die zwar der Praxis der meisten zeitgenössischen nur an der gelungenen Rede-Praxis interessierten Redner widersprach, aber als Ideal wiederum normgebend bis in die Neuzeit wirkte: Der ideale Redner zeichnet sich nicht allein durch Sprachkönnen, sondern auch durch umfassende, auch philosophische Bildung und moralische Integrität aus (Fuhrmann 2003, 52–64). In der Kaiserzeit änderte sich die Funktion der Rhetorik gegenüber der Republik, da zumindest in der Hauptstadt Rom etwa ab der zweiten Hälfte des 1. Jh. n. Chr. keine Wahlkämpfe mehr für die wichtigen politischen Ämter stattfanden und der Kaiser zunehmend die politischen Entscheidungen dominierte (Fuhrmann 2003, 65–74). Insofern fehlte die Notwendigkeit, eine größere Volksversammlung durch rhetorische Brillanz zu überzeugen. Auf der anderen Seite wurde die Rhetorik in der Kaiserzeit öffentlich gefördert, wie die erste Einrichtung einer staatlich besoldeten Rhetorikprofessur in Rom unter Kaiser Vespasian (69–79 n. Chr.) im Jahr 71 n. Chr. zeigt. Erster Inhaber dieser Professur war der aus Spanien stammende Quintilian (ca. 35–96 n. Chr.), der auch ein später noch viel benutztes Handbuch zur Rhetorik (Insti tutio oratoria) in 10 Büchern verfasste. Darin entfaltet Quintilian ein umfassendes Bildungsprogramm (Stroh 2011, 427–450), das bereits mit der sprachlichen Bildung der kleinen Kinder beginnt: Quintilian empfiehlt eine hinreichende muttersprachlichlateinische Erziehung, damit die Kinder nicht – wie offenbar oft aufgrund griechischsprachiger Ammen der Fall – Latein mit griechischem Akzent sprechen. Empfohlen wird zudem, die Kinder zur Förderung ihrer sozialen Entwicklung in eine ‚öffentliche‘ (publica) Schule zu schicken, d. h. sie nicht zu Hause vom Privatlehrer unterrichten zu lassen. Wichtig sind der Aspekt der Motivation im praktischen Unterricht und die Ablehnung der Prügelstrafe, weil Kinder und Jugendliche den Lernstoff besser aufnehmen, wenn das Lernen Freude bereitet. Im Übrigen enthält die Institutio oratoria die üblichen Anweisungen zu Vorbereitung, Unterarten und Aufbau der Rede und die von Cicero übernommene Verbindung von eloquentia und sapientia (‚Können‘ und ‚Wissen‘) mit einem entsprechenden Stoffplan, der bereits den Kanon der sog. Freien Künste (Artes liberales) enthält (Lausberg 2008, 25–39; Ueding 2005, 212–213). In der Praxis diente rhetorische Kompetenz während der Kaiserzeit unterschiedlichen Zwecken: Zum einen war sie tatsächlich relevant für administrative und militärische Amtsträger, die in der Öffentlichkeit auftreten und z. B. mit Vertretern der provinzialen Bevölkerung oder mit Truppenteilen interagieren mussten, was sowohl diplomatisches Geschick als auch souveränes Auftreten und Durchsetzungsvermögen erforderte (Fuhrmann 2003, 65 f.). Zum anderen dienten die in der Rhetorenschule erworbenen Wissensbestände (literarische Bildung) und Kompetenzen (die richtige Sprechweise beherrschen, als gefälliger und witziger Gesprächspartner fungieren) auch der Stiftung von Gruppenidentität innerhalb der sozialen und politischen Elite des gesamten Imperium Romanum einschließlich der griechischen Reichshälfte: In der Rhetorenschule lernten die jungen Leute, sich wie ‚gentlemen‘ zu verhalten und
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so zu sprechen, was übrigens auch für den in der Kaiserzeit häufiger vorkommenden sozialen Aufstieg unabdingbar war. Dies machte die Rhetorenschule z. B. für Angehörige der lokalen Eliten oder wohlhabende Freigelassene interessant, die sich durch die Ausbildung und die sozialen Kontakte bessere Aufstiegsmöglichkeiten in der wachsenden Reichsverwaltung versprechen konnten (Lüth/Vössing/Klein 2006, 136–145; Poccetti/Poli/Santini 2005, 229–238). Die Entwicklung der gesprochenen Sprache führte zu vielen Veränderungen besonders in Aussprache und Formenlehre, die im Vergleich zum klassischen Latein Ciceros oder dem Griechisch Platons stärker vereinfacht wurden. Von daher bekam die grammatikalische Ausbildung in der Schule eine veränderte Bedeutung, da auch das ‚korrekte‘ Latein (und im Osten das Griechische) von den eigentlichen Muttersprachlern immer mehr wie eine Fremdsprache gelernt werden musste. Diese Diglossie zwischen Schriftsprache und immer stärker hiervon abweichender Sprechsprache brachte in der Spätantike grammatische Fachliteratur hervor wie die Werke von Donat (4. Jh. n. Chr.) und Priscian (6. Jh. n. Chr.), die auch später in nichtromanischen Ländern zum Lateinlernen benutzt wurden (Poccetti/Poli/Santini 2005, 419–422). Eine weitere Veränderung ergab sich mit der Christianisierung (Poccetti/Poli/ Santini 2005, 423–429; Lüth/Vössing/Klein 2006, 147–155): Die meisten frühen christlichen Theologen lehnten höhere Bildung und besonders die Rhetorik als überflüssigen Redeschmuck ab, denn beides befriedige nur die Eitelkeit der Gebildeten und lenke von der göttlichen Wahrheit ab (Stroh 2011, 477–510). Erst in der Spätantike kam es durch Theologen wie den Hl. Augustinus (354–430 n. Chr.) zu einer gewissen Akzeptanz der traditionellen griechisch-römischen Bildungsinhalte – jedenfalls solange sie als nützlich für das Studium der Bibel galten und nicht der christlichen Lehre widersprachen (Mojsisch 1996). In der Praxis war eine gute sprachlich-rhetorische Ausbildung oder Naturbegabung natürlich für die Predigt von zentraler Wichtigkeit. Allerdings sollten die Predigten nicht wie die Reden der Zweiten Sophistik elitär wirken, sondern den Verstehenshorizont und die reale Sprechsprache der Gläubigen oder zu Missionierenden berücksichtigen. Dies führte z. B. bei Augustinus in den Predigten zu einer deutlich andersartigen, nämlich einfacheren und am Sprechlatein angenäherten Sprache als in den für ein fachkundiges Lesepublikum verfassten philosophischen und theologischen Schriften. Trotz der Christianisierung wurden rudimentäre Bildungsinhalte aus dem antiken Griechenland und Rom ins Mittelalter gerettet und zwar v. a. im Rahmen des sich in der Spätantike fest herausbildenden Kanons der sieben Artes liberales bzw. ‚Freien Künste‘ als umfassender Allgemeinbildung (griech. enkýklios paideía > lat. encyclo paedia). Gemeint sind damit die Bildungsdisziplinen, die eines freien Mannes würdig waren und faktisch auch nur von der vornehmeren und vermögenden Bevölkerungsschicht erworben werden konnten (Lindgren 1992). Im Gegensatz dazu standen die von Cicero (de officiis 1,150) so formulierten sordidae artes (‚schmutzige Fertigkeiten‘) der Händler und Handwerker, die im Gegensatz zu den liberales artes Gelderwerb als Ziel hatten. Die Artes liberales umfassten als erste drei Disziplinen (Trivium) des
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Anfangsunterrichts die letztlich auf praktisches Sprach- und Argumentieren-Können abzielenden Fächer Grammatik, Rhetorik und Dialektik sowie als darauf aufbauende vier Disziplinen (Quadrivium) die eher wissensbasierten, i.w.S. naturwissenschaftlich-mathematischen Fächer (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik). In der Praxis beschränkte sich der Unterricht meist auf die ‚trivialen‘ Sprachfächer, wobei Grammatik auch den Literatur-Unterricht einschloss. Umfassend dargestellt waren die sieben Disziplinen bei Martianus Capella (5. Jh. n. Chr.), dessen Werk als maßgebliches Handbuch zum Thema im Mittelalter benutzt wurde (Gerth 2013).
2 Mittelalter 2.1 Frühes Mittelalter und „Karolingische Reform“ In der Spätantike besaß jede Stadt im Römischen Reich zumindest eine Grammatikschule, die Zentren auch universitätsartige Rhetorenschulen. In den Umbrüchen zum Mittelalter verschwanden alle diese Schulen bis zum 5./6. Jh. n. Chr., wurden aber (in deutlich geringerem Umfang) durch christlich geprägte Ausbildungsstätten an Bischofssitzen oder in Pfarreien und Klöstern ersetzt (Verger 1999, 1582; Fuhrmann 2001, 16–29). Dort wurde im Wesentlichen Grammatik gelehrt und Bibelstudium betrieben, so dass sich das Bildungsniveau nach dem Untergang des Weströmischen Reiches in den romanischen Ländern gegenüber antiker Zeit deutlich reduzierte. Schon die elementare Kenntnis des Lesens und Schreibens dürfte in den Jahrhunderten bis zu den Reformen Karls des Großen weitgehend verloren gegangen sein, was auch die geringe Zahl an überlieferten Texten aus dieser Zeit erklärt. Sprachlich vollzog sich im frühen Mittelalter der Wandel vom (Vulgär-)Lateinischen zum Romanischen, so dass große Teile der romanischen Bevölkerung die lateinischen Texte der Liturgie oder der Bibel immer schwerer verstehen konnten. Auf der anderen Seite blieb das Lateinische in den Regionen des ehemaligen Weströmischen Reiches nach wie vor Schrift- und internationale Verständigungssprache – auch in den entstehenden germanischen Herrschaftsgebieten der Merowinger, Franken und Goten. Einen wichtigen Einschnitt bildete die Regierungszeit und das Wirken des Frankenkönigs Karls des Großen (768–814). Unter seiner Regierung expandierte die fränkische Herrschaft weit nach Osten und Norden in weitere germanische und sogar slavische Gebiete, so dass mit der Christianisierung und den liturgischen Texten das Lateinische auch im nichtromanischen Europa an Bedeutung gewann: Bis zum 15. Jh. war Latein in ganz Europa einschließlich Skandinaviens und des Baltikums zur vorherrschenden Schrift- und Bildungssprache, aber auch zum mündlichen Kommunikationsmedium zwischen Angehörigen verschiedener Muttersprachen aufgestiegen. Karl sah sich in der Nachfolge der antiken römischen Kaiser, was die von ihm wohl geplante Kaiserkrönung Weihnachten 800 in der alten Reichshauptstadt Rom
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unterstrich. Er strebte eine umfassende Erneuerung der römischen Kultur in Architektur, Währung, Bildung und Sprache an (Butzer/Kerner/Oberschelp 1997; Fuhrmann 2001, 11–16), was sich schon in der Schriftreform mit der Einführung der antikisierenden Minuskelschrift zeigte. In karolingischer Zeit wurde zum ersten Mal bewusst zwischen Romanisch und Lateinisch als jeweils voneinander zu trennenden Sprachsystemen unterschieden, die in der Folgezeit jeweils beide auch als unterschiedliche Schriftmedien benutzt werden konnten. Dies zeigen einmal die Straßburger Eide von 842 mit den ersten klar altfranzösischen Texten und noch deutlicher die erste überlieferte Übersetzung einer lateinischen Textvorlage (Prudentius’ Hymnus auf die Märtyrerin Eulalia) ins Altfranzösische um 880 (sog. ‚Eulalia-Sequenz‘). Für Karl war die Wiederherstellung der antiken Sprachnorm des Lateinischen ein zentrales Anliegen, was zu einem neuen Sprachstandard führte, der sich bewusst von den vulgärlateinisch gefärbten Texten der vorherigen Jahrhunderte (z. B. Gregor von Tours, Fredegar-Chronik) unterschied: Grammatik und Lexik des Lateinischen wurden nun wieder an die Norm der römischen Klassik angelehnt. Zur Durchführung seiner Bildungsreform (Fleckenstein 1953) gründete Karl eine sog. „Hofschule“, an die er die bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit zog, darunter den Engländer Alkuin, den Langobarden Paulus Diaconus oder den Franken (und Biographen Karls) Einhard. Nach dem Vorbild der Hofschule wurden die bestehenden Dom- und Klosterschulen reorganisiert und viele neue Schulen gegründet. Karl wollte durch die zusätzliche Gründung von scholae publicae auch die Ausbildung für die Lehrer der Domschulen selbst auf eine verbesserte Grundlage stellen. Seine Nachfolger verpflichteten jede Diözese zur Einrichtung einer Domschule. Dort lernten die Schüler lesen und je nach Bedürfnis auch aktiv schreiben; da dies an das Lateinische als gängige Schriftsprache gebunden war, lernte man so zugleich Latein, d. h. Lese- (und Schreib-)fertigkeit war in der Regel gleichbedeutend mit Lateinkenntnissen. Weitere Lehrinhalte der Schulen bildeten nun wieder die aus der Antike tradierten Freien Künste; als Schulbücher wurden besonders das Werk des Martianus Capella und die Grammatiken von Donat und Priscian benutzt. Die eigentliche Lektüre bildeten neben theologisch-biblischen Texten auch die antiken Klassiker wie Vergil, Geschichtsschreibung oder Komödien, deren Handschriften unter Karl gesammelt und abgeschrieben wurden, so dass sie den Klöstern und Domschulen als Lektüre zur Verfügung standen. Im Übrigen lernten v. a. solche Kinder Lesen und Latein, die für eine geistliche Laufbahn bestimmt waren (Boehm 1999, 2197 ff.): So waren im Mittelalter in der Regel Alphabetisierung und sprachlich-lateinische Bildung gleichbedeutend mit der Zugehörigkeit zum geistlichen Stand (litterati = clerici; vgl. engl. clerk ‚Schreiber‘). Für den (Schwert-)Adel hingegen galt diese Art von Bildung lange Zeit als nicht standesgemäß, so dass Alphabetisierung und geistige Bildung völlig anderen sozialen Voraussetzungen unterlag als noch in der Antike. Der weltliche Adel erwarb seine aristokratische Bildung (Boehm 1999, 2199 f.) wie Sport, Kampftechniken, höfische Umgangsformen, Fremdsprachen oder auch musische Künste einschließlich volkssprachlicher Dichtung nicht aus Büchern, sondern durch die Praxis – häufig durch längere Reisen. Inso-
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fern erinnern bestimmte aristokratische Bildungsinhalte des Mittelalters durchaus an die praktischen Kompetenzen, die der griechisch-römischen Nobilität in der antiken Rhetorenschule vermittelt wurden; allerdings fehlte im Mittelalter eine theoretisch fundierte Ausbildung in einer echten Schule. Umgekehrt wurde in den Domschulen künftigen Geistlichen das Trivium als theoretischer Wissensstoff vermittelt, obgleich es ursprünglich ganz praktisch-sozialen Zwecken oberschichtlicher Kommunikation gedient hatte. Daneben förderte Karl allerdings auch die Entwicklung der einheimischen Sprache(n) im fränkischen Reichsteil (Eggers 1963, 40–55). In karolingischer Zeit wurden viele lateinische Texte systematisch in die verschiedenen althochdeutschen Dialekte übersetzt: v. a. liturgische und biblische Texte, aber auch theologische Werke des spätantiken spanischen Gelehrten Isidor von Sevilla (560–636); die IsidorÜbersetzung dürfte Ende des 8. Jh. von Alkuin selbst betreut worden sein (Eggers 1963, 187 f.). Karl plante auch die Erstellung einer deutschen Grammatik und ließ die bis dahin nur mündlich überlieferte altgermanische Literatur sammeln. Allerdings wurden diese Vorarbeiten von seinem Nachfolger Ludwig dem Frommen (814–840) aus religiösen Gründen wieder vernichtet bzw. nicht fortgeführt. Trotzdem entstanden im 9. und 10. Jh. viele weitere volkssprachliche Übersetzungen und eigenständige Werke im Frankenreich. Diese Übersetzungen trugen wesentlich zur Erweiterung der grammatikalischen und lexikalischen Leistungsfähigkeit des Deutschen bei, indem anhand des lateinischen Vorbilds neue Tempora (Perfekt, Plusquamperfekt, Futur) und Diathesen (Passiv) sowie neue Begriffe durch Lehnübersetzungen (z. B. misericors > barm-herzig) und Lehnwörter (episcopus > Bischof) ins Deutsche gelangten (Eggers 1963, 194–218).
2.2 Scholastik und Hochmittelalter Bis etwa 1100 besaßen die kirchlich geprägten und für ihre Benutzer kostenlosen Dom- und Klosterschulen das Monopol über den Bildungsbetrieb des Mittelalters. Im 12. Jh. begann eine neue Entwicklung mit der Gründung privater Schulen, die über den traditionellen Kanon der Artes liberales hinaus neue fachspezifischere Lehrinhalte (Medizin, Recht) anboten und sich von den Gebühren der Schüler finanzierten (Verger 1999). Seit dem 13. Jh. entstanden aus einigen bedeutenden Domschulen Universitäten (z. B. Bologna, Paris, Oxford, Cambridge). Damit einher ging das Aufkommen von wiederum privaten und damit kostenpflichtigen Schulen, die gezielt auf den späteren Besuch der Universität vorbereiteten, nämlich von speziellen Grammatikschulen (engl. Grammar schools), in denen Schüler die notwendigen Lateinund Grammatikkenntnisse erwerben konnten. Gleichzeitig bekam die praktische und technische Ausbildung durch besondere nichtkirchliche Schulen eine größere Bedeutung: In solchen, oft vom Rat einer Stadt und durch Gebühren mischfinanzierten Schulen erwarben die Söhne der Kaufleute und Handwerker die für ihre späteren
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Berufe notwendigen Kompetenzen (rechnen, Buchführung, Briefe schreiben, Recht, z. T. moderne Fremdsprachen). Aufgrund der anwachsenden Bedeutung von Schriftlichkeit im Hohen Mittelalter nahmen nun auch der Schulbesuch und damit die Alphabetisierungsrate im Vergleich zu früheren Zeiten deutlich zu (Boehm 1999, 2199 f.). Auch an den Höfen des Heiligen Römischen Reiches wuchs durch die Ausbildung von Landesherrschaft und die damit einhergehende Professionalisierung und Zentralisierung der landesfürstlichen und staatlichen Verwaltungen die Bedeutung der Schrift; Ähnliches gilt für die Entwicklung der Stadt und die Ausweitung von Handelsbeziehungen im Hohen Mittelalter. Daher waren auch Adlige als Amtsträger gezwungen, lesen und schreiben zu lernen sowie sich hinreichende Fertigkeiten im Lateinischen als wichtiger Amts- und Korrespondenzsprache anzueignen. In der Goldenen Bulle (1346) legte Kaiser Karl IV. fest, dass die Söhne von Kurfürsten zumindest die Grammatica unter den Artes liberales sowie weitere administrativ relevante Fremdsprachen beherrschen müssten (Kap. 31). Zuvor waren es unter den Adligen eher die Mädchen und Frauen gewesen, die Lesen und Latein lernten, um sich von den niedrigeren Ständen durch diese Art theoretischer Bildung abzuheben. Die geistlich-theologisch geprägte Wissenschaft und Universität rezipierten neuplatonische und v. a. seit dem 12. Jh. aristotelische Philosophie, was zu Neuentwicklungen führte. Unter anderem durch die lateinischen Übersetzungen des spätantiken Philosophen Boëthius (480–524 n. Chr.) waren Teile der neuplatonischen Lehre im Mittelalter bekannt geblieben und wurden von der aufkommenden Scholastik und der scholastischen Sprachphilosophie aufgegriffen. Besonders der auf Platon zurückgehende Dualismus zwischen der nur dem Geist zugänglichen Welt der Ideen und der sinnlich wahrnehmbaren Welt der Einzeldinge wurde zu einer Art Basiskonzept philosophischer Modelle (Schulthess/Imbach 1996, 53–59; Flasch 2000, 363–370). Nach Platon besaßen die unvergänglichen Ideen einen höheren Seinsgrad als die veränderlichen und vergänglichen Einzeldinge der ‚realen‘ Welt. Dieser Dualismus fand seine Fortsetzung in der scholastischen Frage nach dem Status der sog. „Universalien“, d. h. dem Realitätsgrad von Allgemeinbegriffen oder Gattungen (Vermeer 1996, I, 112–116): So existierte im Modell des sog. „Universalienrealismus“ (wie Platons Ideen) allein die Gattung bzw. der Allgemeinbegriff real (z. B. Mensch), während der einzelne Mensch nur eine untergeordnete Form des Seins aufweist. Dagegen argumentierten die „Nominalisten“ (ähnlich wie schon Aristoteles gegen Platon), real existent seien nur die sinnlich wahrnehmbaren Dinge, von denen die „Universalien“ nur als Abstraktionen in der geistigen Vorstellung des Menschen ableitbar seien; wenn keine Exemplare einer Gattung vorhanden seien, sei auch der Gattungsbegriff selbst hinfällig. Die Aristoteles-Rezeption führte zu einem stärkeren Interesse am Griechischen, dessen Kenntnis nach der Antike im westlichen Europa weitgehend verloren gegangen war (Berschin 1980). Einige Spezialisten wie der Engländer Robert Grosseteste (ca. 1168–1253) oder der Flame Wilhelm von Moerbeke (13. Jh.) lernten Griechisch und
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übersetzten Aristoteles direkt ins Lateinische (Flasch 2000, 351–363). Grossetestes Schüler Roger Bacon (ca. 1215–1292) entwickelte ein eigenes progressives Bildungsprogramm in seinem Werk Opus majus, in dem er naturwissenschaftliche und auf experimenteller Forschung basierende Bildung, aber auch das Studium von Fremdsprachen forderte (Kuhlmann 2002, 108–110). Die Kenntnisse des Griechischen und Hebräischen seien notwendig, um die Bibel und griechische Philosophen auch im Original zu studieren und fundiert zu verstehen, was in der Scholastik durchaus keine Communis opinio darstellte. Auch andere orientalische Sprachen wie Armenisch, Syrisch, Arabisch etc. seien für den kulturellen Austausch mit fremden Kulturen wichtiger Teil der Bildung. Bacon erkannte, dass bestimmte Begriffe und Vorstellungen aufgrund der unterschiedlichen Struktur der historischen Einzelsprachen auch sprachgebunden sein können, was speziell beim Übersetzen die genaue Kenntnis einer Sprache und ihrer Kultur erfordere. Diese Aufwertung der Einzelsprachen und ihrer spezifischen Charakteristika entsprach allerdings nicht der vorherrschenden scholastischen Sprachphilosophie. Vielmehr dominierte mit der Grammatica speculativa eine Richtung, die Sprache wie etwas künstlich Geschaffenes als Ausfluss der göttlichen Ratio interpretierte und in den grammatikalischen Kategorien von Sprache (z. B. Wortarten) bestimmte Modi des Seins sah (Kobusch 1996; Pinborg 1967). Durch diese ontologische Betrachtung von Sprache glaubte man das Wesen der Dinge (res) ergründen zu können (Jacobi 1995): So sind nach Robert Kilwardby (13. Jh.) Substantive gleichbedeutend mit Ruhezuständen und Verben mit Handlungen, was aber etwa im Falle von Bewegung (Substantiv) oder liegen (Verb) schwierig zu begründen ist (Arens 1969, 41–44). Als Modell von Sprache an sich galt naturgemäß das Lateinische, während Abweichungen vom Lateinischen in anderen Einzelsprachen als vernachlässigenswert (sog. Akzidentien) angesehen wurden. Nach dieser Theorie war Sprache bzw. Latein ebenso logisch wie die göttliche Ratio, deren irdisches Abbild sie ja war. Die Nominalisten oder Theologen wie Bacon interpretierten dagegen wie schon Aristoteles scheinbar unlogische Merkmale von Sprachen im Sinne der Arbitrarität sprachlicher Zeichen (lat. secundum placi tum): So sind bestimmte Wörter (voces) für dieselbe Sache (res) in manchen Sprachen maskulin (z. B. dt. Mond), in anderen feminin (lat., ital., span. luna) oder in wieder anderen ohne Genus (neu-engl. moon). Das grammatikalische Genus ist letztlich eine Frage einzelsprachlicher Perspektive bzw. des Zufalls und beruht hier nicht auf göttlicher Logik oder einer real gegebenen „Seinsweise“; für die Vertreter der Grammatica speculativa wie etwa Thomas von Erfurt (um 1300) stellte dies dagegen ein Problem dar (Arens 1969, 45–48; Pinborg 1967, 131–136). Neben der primär lateinisch geprägten Bildungskultur des Mittelalters wurden seit dem 12. Jh. auch die Volks- bzw. Muttersprachen Träger von Bildungsinhalten außerhalb von Schulen und Universitäten. Dies geschah in großem Umfang durch Übersetzungen oder freie Übertragungen und Nachdichtungen antiker Texte in die jeweiligen Landessprachen, die mittlerweile vollwertige Literatursprachen geworden waren. Bei diesen Übersetzungen spielten weniger rein philosophisch-theologische
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Texte, die sich an ein scholastisches Fachpublikum richteten, eine Rolle, sondern auch der didaktisch-pädagogische Nutzen und der Unterhaltungswert der Texte. Beliebt war bei einem lateinunkundigen Publikum die antike Mythologie, besonders der Troja-Mythos, der in den lateinischen Adaptionen der homerischen Stoffe (Dares und Dictys) oder in einigen Heroides-Briefen Ovids vorlag (Vermeer 1996, II, 35–125). Die lateinische Fortsetzung der homerischen Epen bildete gewissermaßen die Aeneis des Vergil. Auf diese Weise konnte auch ein Laienpublikum an den Inhalten der Texte partizipieren, die in ihrer Originalfassung nur den lateinischsprachigen Geistlichen vorbehalten waren. Die praktische Rezeption dieser Übersetzungen dürfte überwiegend durch Vorlesen, d. h. auditiv, erfolgt sein, was dann auch ein größeres, nichtadliges Publikum einschließen konnte.
3 Frühe Neuzeit 3.1 Frühhumanismus In der Frühen Neuzeit traten mit den aufkommenden humanistischen Ideen die spekulativen Sprachauffassungen des Mittelalters zurück. Stattdessen wandten sich die Humanisten der realen Sprache und der rhetorisch-ästhetischen Funktion von Sprache(n) zu (Burke 2006, 23–50). In der Folge entwickelte sich die im Mittelalter bereits sehr ausdifferenzierte Sprachphilosophie kaum weiter, dafür nahmen allerdings Philologie, Rhetorik, Sprachdidaktik und auch in gewissem Umfang die empirische Sprachforschung einen rasanten Aufschwung. Im Blick standen nun mehr als im Mittelalter der Mensch und die diesseitige Welt, wenngleich der Renaissance-Humanismus durchaus christlich geprägt blieb. Als sprachliches, literarisches und pädagogisches Vorbild fungierten primär die klassischen Autoren der römischen Antike, v. a. Cicero mit seiner klaren Kunstprosa und seiner Verbindung von Philosophie und Rhetorik (eloquentia cum sapientia) (Buck 1996; Kühlmann 1996; Fuhrmann 2001, 29–34). Ein wichtiger Vorläufer humanistischer Sprachbetrachtung war Dante Alighieri (1265–1321), ein jüngerer Zeitgenosse Roger Bacons. In seiner viel beachteten Programm-Schrift De vulgari eloquentia behandelte Dante den Gegensatz zwischen „künstlichem“ Latein und „natürlicher“ Volkssprache (Arens 1969, 55–60) und sprach sich für die Verwendung auch der Volkssprachen in der Dichtung aus. Die Bezeichnung grammatica wird in diesem Traktat synonym mit der lateinischen Sprache verwendet. Dante hielt Latein im Gegensatz zur italienischen Volkssprache offenbar tatsächlich für ein reines Konstrukt wie die Kunstsprache Esperanto. Da in Italien viele verschiedene Dialekte existierten, forderte Dante eine Sprachnormierung für eine künftige italienische Schriftsprache, die prinzipiell auf dem toskanischen Dialekt beruhen sollte.
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Trotz dieser verstärkten Hinwendung zur Volkssprache blieb das Lateinische weiterhin die zentrale Bildungs- und Prestigesprache. In der bewussten Abwendung von der mittelalterlichen Scholastik und ihrem von der antiken Sprache vielfach abweichenden Mittellatein mit zahlreichen Gräzismen, Elementen des christlichen Lateins der Kirchenväter und künstlichen Konstruktionen um der philosophischen Exaktheit willen wurde nun wieder der Sprachgebrauch der klassischen Antike zum Vorbild. Als erster Vertreter dieser Richtung befasste sich Francesco Petrarca (1304–1374) mit dem Werk Ciceros, das im Mittelalter wenig beachtet wurde (Enenkel 2012). Petrarca bemühte sich um einen bewusst individuellen und persönlichen lateinischen Stil in seinen Schriften und ließ sich in Sprache und Inhalten besonders von Ciceros und Senecas Werken beeinflussen. Insgesamt wurde Petrarca so zu einem Vorläufer des später für den Renaissance-Humanismus typischen Ciceronianismus, auch wenn sein eigener realer Sprachduktus durchaus noch weitgehend dem mittelalterlichen Latein entsprach. Weitergeführt wurde diese Entwicklung von dem in Florenz wirkenden Leonardo Bruni (1370–1444), der sich als einer der ersten Humanisten eine so gute griechische Sprachkompetenz aneignete, dass er eine ganze Reihe griechischer Klassiker (Homer, Aristophanes, Platon, Xenophon, Demosthenes, Aristoteles, Plutarch) passagenweise ins Lateinische übersetzen und so für die Gebildeten seiner Zeit zugänglich machen konnte (Kuhlmann 2002). Schon Petrarca und seine Zeitgenossen hatten sich um einen direkten Zugang zu den authentischen griechischen Klassikern bemüht, waren aber mangels Sprachkenntnis nicht in der Lage, diese Texte selbständig zu rezipieren. Erst mit dem allmählichen Zusammenbruch des Byzantinischen Reiches unter dem Ansturm der Osmanen kamen seit dem 14. Jh. immer mehr Flüchtlinge aus ehemaligen byzantinischen Gebieten nach Italien und brachten Handschriften griechischer Klassiker mit. Einige dieser byzantinischen Philologen unterrichteten in Italien Griechisch, was zu verbesserten Griechischkenntnissen zumindest unter humanistischen Spezialisten führte. Brunis Anliegen bei seinen Übersetzungen war einmal die leichte Verständlichkeit für den nicht griechischsprachigen Benutzer, aber auch die ansprechende ästhetische Form, die den wachsenden Ansprüchen humanistischen Literaturgeschmacks genügen sollte. Die Übersetzungen entstanden u. a., weil die vorhandenen mittelalterlichen Aristoteles-Übersetzungen von Grosseteste und Moerbeke als zu wörtlich und dem authentischen lateinischen Sprachgebrauch der Antike (v. a. nach der Norm Ciceros) widerstrebend kritisiert wurden. Im Übersetzungsbetrieb des Humanismus setzte sich Brunis Sprachästhetizismus durch. Auch humanistisch gesinnte Päpste wie Nikolaus V. (1447–1457) förderten die Kenntnis des Griechischen nachdrücklich und initiierten ein groß angelegtes Projekt zur Übersetzung aller griechischen Klassiker ins Lateinische, an dem die namhaften humanistischen Philologen der Zeit beteiligt waren. So wurde neben Florenz auch der päpstliche Hof in Rom zu einem Zentrum des italienischen Humanismus (Kuhlmann/Schneider 2012, XVI– XVIII).
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Das Interesse am Griechischen und das Bemühen um die Restituierung des ‚sprachrichtigen‘ Lateins anhand der authentischen Texte der römischen Klassiker ließ im 15. Jh. eine Reihe von Grammatiken und sprachlichen Untersuchungen entstehen (Arens 1969, 62–69). Speziell für das (auch autodidaktische) Griechisch-Lernen verfassten byzantinische Immigranten Lehrbücher und Grammatiken wie etwa Brunis Lehrer Manuel Chrysoloras (um 1350–1415) mit seinen Erōtémata tês hellēnikês glóssēs (‚Fragen zur griechischen Sprache‘), die mithilfe von Fragen und Antworten quasi interaktiv in die griechische Sprache und Grammatik einführten. Für das Lateinische untersuchte der in Rom wirkende Philologe Lorenzo Valla (1405/7–1457) anhand der Original-Textkorpora von Cicero und Quintilian die grammatikalischen Angaben zum Lateinischen bei Donat und Priscian; mit dem hieraus entstandenen Werk Elegantiae linguae Latinae schuf er so eine erste wissenschaftlich zuverlässige Grundlage für korpuslinguistische Untersuchungen. Allerdings trug diese Entwicklung dazu bei, das Lateinische von einer den Benutzern je nach Bedürfnis veränderbaren Gebrauchssprache zu einer museal erstarrten Sprache zu machen, bei deren Verwendung man zunächst die Beleglage bei den klassischen Autoren nachprüfen muss. Kriterium für die Sprachrichtigkeit war nun nicht mehr wie im Mittellatein der jeweils aktuelle Usus der zeitgenössischen Sprachnutzer, sondern die Norm einer längst vergangenen Epoche (Fuhrmann 2001, 40–46). So wurde Latein gerade durch das humanistische Bemühen um Authentizität zu einer ‚toten‘, d. h. von der lebendigen Entwicklung abgeschnittenen Sprache.
3.2 Humanismus im Zeitalter des Buchdrucks und Barock Mit dem Ende des 15. Jh. begann in vieler Hinsicht eine neue Zeit, in der sich auch die Betrachtung und Rolle der Sprache(n) veränderte: Der ab 1460 aufkommende Buchdruck brachte Neuerungen durch die bessere Verfügbarkeit und weitere Verbreitung von Texten und schriftlichen Hilfsmitteln jeglicher Art, was sich namentlich auf das Bildungswesen auswirkte. Ein zweiter Punkt betrifft die Horizonterweiterung durch die Seefahrten der Europäer bis nach Amerika, was zu einer Beschäftigung mit bislang gänzlich unbekannten Sprachsystemen führte. Durch den Buchdruck wurden zum einen viele Textausgaben antiker Klassiker – im Falle der griechischen Autoren auch häufig in zweisprachig griechischlateinischen Ausgaben – verbreitet. Dazu erschienen die ersten Wörterbücher zu den antiken und modernen Sprachen, die nun viel leichter von Bibliotheken oder vermögenden Privatleuten erworben werden konnten und damit das selbständige Sprachenstudium erleichterten (Arens 1969, 63–65): So wurden zwischen 1460 und 1600 lateinische, griechische, bretonische, walisische, polnische, tschechische und spanische Wörterbücher gedruckt, ferner zahlreiche Grammatiken alter und neuer Sprachen (Griechisch, Hebräisch, Spanisch, Deutsch, Tschechisch und verschiedene Indianersprachen).
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Hier zeigt sich mit der Wende zum 16. Jh. offensichtlich ein regelrechter Paradigmenwechsel in der empirischen und didaktischen Sprachbetrachtung: Alles bekannte Material wurde gesammelt, gesichtet und systematisiert. Auch das Lernen moderner Fremdsprachen wurde durch diese Arten von Hilfsmitteln professionalisiert, denn im Mittelalter lernte man solche Sprachen entweder rein mündlich durch die direkte Kommunikation oder allenfalls mithilfe dialogischer Gesprächsbücher mit mehrsprachigen Textabschnitten in parallelen Spalten ähnlich wie in modernen Sprachführern für Touristen. Nun begann erstmals nach Roger Bacon auch ein wissenschaftliches Interesse an lebenden Sprachen außerhalb des Lateinischen und Griechischen. Interessanterweise beteiligen sich an der wissenschaftlichen Erforschung antiker und moderner Sprachen z. T. dieselben Personen wie das Beispiel des Pariser Verlegers Robert Estienne zeigt. Ein anderes Beispiel ist der Humanist und Philologe Pietro Bembo (1470–1547), der als Sekretär am Hofe Papst Leos X. arbeitete: Mit seinem Werk Prose della volgare lingua schuf er eine dialogisch gestaltete italienische Sprachlehre mit einem Manifest für die Verwendung des Italienischen als vollwertiger Literatursprache; in der Schrift Questione della lingua setzte er sich vehement für das Toskanische als überregionaler Schriftsprache ein. Auf der anderen Seite verteidigte er nachdrücklich für die Verwendung des Lateinischen den an Cicero orientierten Klassizismus, den er auch selbst in seinen lateinischen Werken praktizierte (Kuhlmann/Schneider 2012, XVIII-XIX). Trotz dieser Fokussierung auch moderner Sprachen blieben im allgemeinen Bildungswesen die alten Sprachen maßgeblich (Fuhrmann 2001, 46–74; Burke 2006, 51–69). Latein dominierte sogar als Unterrichtssprache, während in den Lateinschulen der Frühen Neuzeit die Verwendung der Muttersprache weithin verboten war. Um das aktive Lateinsprechen zu lernen und zu trainieren, verfassten Humanisten sog. „Gesprächsbücher“ in lateinischer Sprache, die ähnlich wie moderne Sprachlehrwerke zu bestimmten Themen und Alltagssituationen einfache lateinische Dialoge aus der Sicht der Schüler präsentierten (Bömer 1897–1899; Kraus 2010). Viele dieser Dialoge waren überregionale Klassiker und erlebten bis ins 18. Jh. vielfältige Auflagen ohne größere Veränderungen. Das didaktische Konzept solcher Lehrwerke war ganz an der Unterrichtspraxis und Lernwirklichkeit der Schüler orientiert: Allein durch das Auswendiglernen grammatikalischer Regeln anhand der spätantiken und mittelalterlichen Kompendien erlangte niemand die Fähigkeit, auch aktiv richtig Latein zu sprechen und zu schreiben, sondern eher durch die Praxis selbst (Kuhlmann 2010, 124; Döpp 2010). Eine wichtige Veränderung in der Sprachausbildung ergab sich in der Zeit der Reformation (Hammerstein 1996, 57–70) durch die Hinwendung zum griechischen Originaltext des Neuen Testaments, den besonders der katholische Priester Erasmus von Rotterdam (1466–1536) propagierte (Fuhrmann 2001, 37–40). Dies führte zu einer Einführung des Griechischunterrichts (Fuhrmann 2001, 46–51), für den Philipp Melanchthon (1497–1560) eine griechische Grammatik verfasste. Allerdings führte die Reformation insgesamt zunächst zu einer Schwächung des Bildungssystems in den
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betroffenen Regionen (Seifert 1996, 282 f.; Kuhlmann 2010, 120): Die Anfang des 16. Jh. meist noch in kirchlichem Besitz (Dom- und Klosterschulen) befindlichen Schulen wurden durch protestantisch gewordene Landesfürsten säkularisiert oder geschlossen, die lehrenden Geistlichen vertrieben. Erst die Reorganisation dieser Einrichtungen als dann staatlicher, aber nun gebührenpflichtiger Lateinschulen und Gymnasien mit einem primär altsprachlich-humanistischen Lehrplan nach den Empfehlungen Melanchthons führte wieder zu einer Entspannung. Auf katholischer Seite wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jh. eine Bildungsreform dazu genutzt, ein Gegengewicht zu den attraktiven protestantischen Lateinschulen zu schaffen (Fuhrmann 2001, 59–65; Seifert 1996, 312–323). Der Jesuitenorden gründete nun in der gesamten katholischen Welt einschließlich der überseeischen Kolonien gebührenfreie Kollegien (mit Gymnasium und z. T. Universität) mit dem überall einheitlichen humanistischen Lehrplan der Ratio Studiorum (ab 1588/99) (Duhr 1896). Auch hier lag der Schwerpunkt auf der Ausbildung in den alten Sprachen und der antiken Literatur, daneben auch in den Fächern des Quadriviums der Freien Künste (Seifert 1996, 317–320). Die Gebührenfreiheit sollte die Möglichkeiten sozialen Aufstiegs durch Bildung für talentierte Kinder aus wenig vermögenden Familien fördern. Der Lehrplan protestantischer Lateinschulen war wegen der landeskirchlichen und innerkonfessionellen Zersplitterung (Lutheraner, Calvinisten, freikirchliche Brüdergemeinden und Pietisten) nicht einheitlich (Seifert 1996, 282–312). Die Ausbildung in den alten Sprachen richtete sich häufig einseitig auf das Studium der Bibel und Kirchenväter aus, wie Comenius’ Didactica Magna (II, 25) mit ihrer Verdammung klassischer Autoren (Plautus, Terenz, Cicero, Ovid, Catull, Liebeselegie) im 17. Jh. zeigt. In den Jesuitenschulen gehörte v. a. die Lektüre dieser ‚weltlichen‘ Autoren sowie eine rhetorische Ausbildung zur Vermittlung einer adäquaten Selbstdarstellung zum Unterrichtskanon: Sprachunterricht verband sich hier wie in der Antike mit rhetorischer Ausbildung und ganzheitlicher Persönlichkeitsbildung (Scaglione 1986; Bauer 1986; Kuhlmann 2010). Bis zur Auflösung des Ordens Ende des 18. Jh. und der dann eintretenden Abwendung vom Lateinischen als Unterrichtssprache war das altsprachlich geprägte Jesuiten-Gymnasium die erfolgreichste Schulform des Barockzeitalters – einmal wegen der Gebührenfreiheit und zum anderen wegen der standardisierten Unterrichtsqualität – selbst in vielen protestantischen Reichsstädten des Heiligen Römischen Reiches.
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9. Sprache und Schule seit der Reformation Abstract: Die heutige Sprache der Erziehung mit der Konzentration auf das Individuum ist von der Reformation geprägt worden. Eigene Erziehungskulturen lassen sich schon in den Hochkulturen nachweisen. Eine eigentliche öffentliche Schulsprache etablierte sich erst mit der Entwicklung der Volksschule. Die Sprache verwendet zentrale Metaphern, die bis heute gebräuchlich sind. Sie erzeugt die Plausibilitäten in der öffentlichen Rede über Erziehung und Bildung, was Sprachkorrekturen im historischen Wandel mit einschließt. 1 Historische Erziehungskulturen 2 Folgen der Reformation 3 Grundlegende Metaphern 4 Selbstkritik und Sprachkorrektur 5 Die Erzeugung von Plausibilitäten 6 Literatur
1 Historische Erziehungskulturen Was als „Sprache der Schule“ bezeichnet werden kann, geht auf die Anfänge der Kulturentwicklung zurück und muss von verschiedenen historischen Funktionen her verstanden werden. Mit der Sicherung der schriftlichen Überlieferung in den Hochkulturen wurde es notwendig, für bestimmte gesellschaftliche Rollen Ausbildungen zu organisieren und über die Generationenschwelle hinweg zu sichern. Das Medium war Unterricht und so die Unterscheidung von Aufgaben, Lehrenden und Lernenden. Dieser Vorgang und die damit verbundene Organisation mussten sprachlich bezeichnet werden. Dazu dienten nicht nur Wörter und Sätze, sondern auch Symbole und Schemata wie etwa Notenskalen oder Stundenpläne. Vorausgesetzt werden müssen eigene Erziehungskulturen, die nicht erst in der Neuzeit entstanden sind. Schon in den ägyptischen Papyri finden sich Wörter oder Bezeichnungen, die für Kinder gedacht waren (Dickey 2004), deutlich wurden schon von den Proportionen her Kinder und Erwachsene unterschieden (Marganne 1999) und allein der Schrifterwerb verlangte einen hohen Aufwand an Unterricht, der von spezialisierten Lehrern erteilt wurde (Cribore 1996). Das schloss Gewaltanwendung gegen Frauen und Kinder ebenso wenig aus wie das Aussetzen von Neugeborenen. Auch der frühe Tod der Kinder hat die antiken und mittelalterlichen Erziehungskulturen geprägt.
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Spezieller Unterricht wurde erteilt etwa für das Militär oder die Priesterkasten, aber auch Gesundheitsberufe konnten nicht ohne eigene Ausbildungsgänge, Lehrmittel und so didaktische Sprachen überliefert werden. In der christlichen Antike wurden in den Kirchgemeinden und Klöstern besondere Vorschriften für die religiöse Unterweisung von Kindern entwickelt. Die bekanntesten sind die Regula Benedicti für die Klostererziehung, die Benedict von Nursia 529 n. Chr. verfasst hat. Das Kloster wurde damit zum geschlossenen Schul- und Erziehungsraum, der Regeln für Aufnahme, Bewährung und auch Ausschluss kannte. Mit der Herausbildung der mittelalterlichen Städte sind spezielle Institutionen entstanden, die „Schulen“ genannt wurden und innerhalb der Stadt ihren festen Ort hatten. Die Formen der Unterweisung stammten oft aus den Klöstern der christlichen Antike und sind je nach der Zweckbestimmung weiterentwickelt worden (Orme 2006 für England). Die ersten Schulgründungen waren noch an Klöster gebunden, ohne darin aufzugehen. Das Curriculum basierte auf römischen Traditionen und die Lehrer hießen schon im 11. Jahrhundert „childemaister“ (ebd., 38). Der Mönch Aethelric oder Ailric war der „childe-maister of Waltham“, also des Klosters von Waltham im heutigen Essex. Er war der Erzieher des letzten angelsächsischen Königs Harold II. und wird 1066 bei der Schlacht von Hastings erwähnt. Es gab auch bereits Stundenpläne, die die Lernzeit regulierten (ebd., 45). Das lateinische Wort schola ist aber keine reine Ortsbezeichnung, sondern wurde noch im 18. Jahrhundert verwendet, um Lehrwerke der verschiedensten Gebiete zu bezeichnen. 1706 etwa erschien in Frankfurt Georg Andreas Böcklers Schola Militaris Moderna, die den Militär- und Kriegsdienst umfassend darstellt, aber nicht auf eine eigene Militärschule verweist. Oder 1680 wurde die Neuausgabe der Schola stegano graphica des Jesuiten Kaspar Schott veröffentlicht, die in die „artificia nova“ der Steganographie einführte, also über Wege der Geheimhaltung oder geheime Schriften informierte, aber dafür keinen Unterricht an einem spezialisierten Lernort benötigte. Das Buch war der Unterricht und der Leser war der Schüler. Die Reformation wird oft als Bildungsrevolution verstanden, weil die Lehre vom persönlichen Seelenheil geknüpft war an die Kompetenz, mit eigenen Augen und verständig die Bibel lesen zu können. Tatsächlich lassen sich in den reformierten Fürstentümern nach 1500 verstärkte Anstrengungen zur Entwicklung der elementaren Bildung feststellen. Die Erziehung der Kinder war nicht mehr allein an die Familienmilieus gebunden, sondern verfolgte einen übergeordneten und allgemeinen Zweck, den der Unterweisung in den christlichen Glauben und die Fähigkeit, die deutsche Bibel lesen zu können. Das europäische Mittelalter kannte die Schulung der Priester in den Klöstern, in der Stadtkultur des 13. und 14. Jahrhunderts entstanden Lateinschulen und in den größeren Städten gab es auch die Berufsausbildungen der Zünfte, jedoch keine ausgebaute Elementarbildung, diese wurde den Familien überlassen. Die Eltern der weitaus meisten Kinder waren arm, lebten auf dem Lande und waren vielfach Leibeigene. Ihre Kinder blieben ihr Leben lang Analphabeten, der katholische Ritus setzte bei
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den Laien keine Literalität voraus, und auch im Alltagsleben gab es keine entwickelte Zeichenkultur, die Lesen und Schreiben als Standardbefähigung verlangt hätte.
2 Folgen der Reformation Das änderte sich mit der Reformation, als die Gläubigen um ihrer Heilssicherheit willen die Bibel lesen und den Katechismus beherrschen mussten. Dazu nötig war eine neue Ordnung der Kirche, die von den Gemeinden und nicht von der Hierarchie der römischen Amtskirche ausging. Teil der Kirchenordnungen waren die Schulordnungen, die auf Martin Luthers Schrift An die Radherrn aller stedte deutsches lands zurückgehen, die 1524 in Erfurt gedruckt und von Wittenberg aus verbreitet wurde. Luther forderte, dass die Ratsherren in ihren Kommunen christliche Schulen einrichten und unterhalten müssen. Das sollte ausnahmslos gelten. Der Grund war primär theologischer Natur, die Kinder durften nicht an den Teufel verloren gehen, was der Fall wäre, wenn sie nicht selbst die Heilige Schrift lesen könnten und so wehrlos wären gegenüber den Versuchungen des Bösen. In diesem Sinne war Lesen Selbstschutz. Aber Luther nannte auch einen pädagogischen Grund, für die Kinder der Gläubigen eigens Schulen einzurichten; weil „der grössest hauffe der elltern leyder vngeschickt“ (Luther 1524, 12) dazu ist „vnd nicht weys / wie man kinder zihen vnd lernen sol“ (ebd.). Wer nicht lesen kann, muss „tappen wye eyn blinder an der wand“, daher ist darauf zu dringen, dass jeder lesen können muss und dem „rechten text“ folgen kann (ebd., 21). Beide Geschlechter, die „iungen knaben vnd meydlin“, sollen lernen (ebd., 26) und die Ratsherrn werden aufgefordert, „die aller besten schulen beyde für knaben und meydlin an allen orten auff zurichten“ (ebd.). Das Seelenheil ist nicht nach Geschlechtern teilbar und Jungen wie Mädchen müssen imstande sein, der Versuchung des Bösen zu widerstehen, deshalb kann die Schulbildung nicht primär auf die Jungen abzielen. Auf den Einwand hin, dass die Kinder nicht arbeiten und sich nützlich machen können, wenn sie eine Schule besuchen, sagte Luther, dass die Knaben pro Tag ein oder zwei Stunden zur Schule gehen müssten, um genügend zu lernen, und die Mädchen eine Stunde, dann hätten sie immer noch genügend Gelegenheit, sich nützlich zu machen, bedenkt man, wie sie sonst ihre Zeit vertändeln (ebd., 29 f.). Unter diesen Voraussetzungen sollten Schulen für das Lesen und Schreiben „ynn Deutschen landen auffgericht vnd erhalten werden“ (ebd., 32). Im Anschluss an dieses Manifest entstanden die Kirchenordnungen der evangelischen und reformierten Gemeinden, mit denen auch eine neue Ordnung der Erziehung angestrebt wurde. Kirchenordnungen stellten eine bis ins Detail gehende Regelung nicht nur des Gottesdienstes, sondern der gesamten Lebensweise einer Gemeinde oder eines Landes dar. Es sind tatsächlich individuelle Ordnungen, die
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vorher so nicht bestanden haben, weil die katholische Kirche keine lokalen Unterschiede machen konnte. Ihre Ordnung war die einer universellen Hierarchie, während die Reformation die Regionen und die Gemeinden stark gemacht hat. Jede Stadt und überhaupt jeder Ort, wo eine Kirche stand, hatte eine eigene Ordnung für Glauben und Schule, Zentralisierung war ausgeschlossen. Die Schulordnungen kodifizierten zugleich die Sprache dieser weitreichenden Reformprozesse. Die Ordnungen unterschieden sich in ihrem Regelwerk oft signifikant, nicht aber in der dabei verwendeten Sprache. Eigene Schulordnungen sind aus den früheren Kirchenordnungen hervorgegangen und seit der Reformation auf Deutsch abgefasst worden. Zum Wandel hat auch beigetragen, dass die Gottesdienste fast schlagartig auf Deutsch abgehalten wurden. Der Druck deutscher Bibeln und die Verbreitung von Flugblättern in den konfessionellen Auseinandersetzungen taten ein Übriges, um die deutsche Lesesprache zu verankern. Die Entwicklung der Elementarbildung nach der Reformation war aber weder einheitlich noch geprägt von einem hohen und durchschlagenden Tempo. Im Gegenteil blieb sichtbarer Wandel auf der Ebene von ländlichen Gemeinden über Jahrzehnte weitgehend aus und auch in den Städten gab es keine einheitliche und über längere Zeit stetige Entwicklung des Schulwesens. Selbst in reichen Städten wie Frankfurt war die Elementarbildung arm und rückständig. Dort allerdings, wo Fürstenprivilegien den Bestand sicherten, wie etwa in den Franckeschen Stiftungen in Halle, lassen sich längerfristig stabile Entwicklungen feststellen, zum Teil auch deswegen, weil sie mit der christlichen Mission verbunden waren. Im Blick auf den allmählichen Aufbau und die Verwendung einer deutschen Schulsprache müssen verschiedene Ebenen und Gruppen unterschieden werden. August Hermann Francke hat die Ziele der Reformen in Halle mit einer hoch idealisierenden Sprache begründet, die sich auf die pietistische Theologie bezog. In Franckes „Einfältigem Unterricht“, wie die Heilige Schrift gelesen werden muss, wird erwartet, dass sich das Gemüt des geübten Lesers „in den rechten Schrancken des Wortes der Wahrheit unverrückt behalten“ (Francke 1731, 23) lasse. Dazu muss man von der Welt „absehen“ und sich dem „Sinne des Fleisches“ entziehen, also sich ganz auf die Wahrheit der Schrift konzentrieren (ebd.). Der daraus resultierende Glaube sollte dann die Lebensführung prägen. Der Glaube war nicht nur auf die ständige, vergewissernde Lektüre verwiesen, sondern wurde von der Erziehung abhängig gemacht, wie auch in der Bildüberlieferung deutlich wird. In der Ausgabe 1728 von Franckes Predigten sieht man auf dem Frontispiz nach dem beeindruckenden Porträt des Autors und unterhalb des barocken Buchtitels einen Holzschnitt, das den christlichen Sämann bei der Arbeit zeigt. Unter der strahlenden Sonne Gottes streut er den Samen des Glaubens aus, in den geraden Furchen können die christlichen Pflanzen wachsen und wohl gedeihen. Die Saat wird aufgehen. Im Hintergrund sieht man das Schulhaus, in dem die Kinder dann ihre Unterweisung erfahren werden. In den Girlanden am oberen Bildrand steht illo splen dente levabor – „Unter diesem Glanz werde ich aufgehen“ (Francke 1728, Frontispiz).
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Damit soll Gewissheit angezeigt werden, nur im rechten Glauben kann die Erziehung gelingen, die oft tatsächlich als „Aussaat“ bezeichnet worden ist und ein geschütztes Feld des Wachsens vorausgesetzt hat. Diese Metapher benutzt 150 Jahre nach Franckes Bildbelehrung der Direktor des evangelischen Lehrerseminars in Friedberg, Wilhelm Jakob Georg Curtmann (1802–1871). In seiner Bearbeitung des „Lehrbuchs der Erziehung und des Unterrichts“ heißt es: Die Lücke zwischen den künstlichen Erziehungsmassregeln muss immer die Liebe ausfüllen; sie ist der Regen zur Saat, der Mörtel zur Mauer. Deshalb misslingt denn so häufig die künstliche Erziehung, deβhalb gelingt so häufig die kunstlose Erziehung. (Curtmann 1866, 152 f.)
Trotz aller pädagogischen Belehrung bleibt es „die erste Aufgabe der Eltern, ihre Kinder so zu behandeln, dass die Liebe keinesfalls erkalten kann“ (ebd., 153). Zentral ist, dass es einen engen Bezug zwischen Erwachsenen und Kindern gibt. Ohne die sympathischen Gefühle der Liebe, der Dankbarkeit, des Vertrauens zwischen Erzieher und Zögling, insbesondere aber zwischen Eltern und Kindern, [kann] keine Erziehung gelingen. (ebd., 152)
Etwa zeitgleich heißt es in dem pädagogischen Repertorium des bayerischen Schulinspektors Franz Xaver Heindls (1787–1854): Wie die Sonne auf jedes Gewächs wirkt, Wärme und Licht in demselben erregend, so wirke der Erzieher auf den Zögling. Denn die Erziehung ist eine Erwärmung durch reine und heilige Liebe, um das Gute zum Treiben zu bringen. (Heindl 1851, 89)
Von dieser bis heute plausiblen christlich-organischen Sprache der Nähe und Innerlichkeit ist zu unterscheiden die Sprache der Lehrbücher, der Ziele der Erziehung und der Kommunikation zwischen den Lehrpersonen. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts entwickelte sich eine zunächst schmale und dann immer breiter werdende pädagogische Literatur, die eigene Medien kannte und die Rückbindung an die Theologie allmählich verlor, welche in den fachlichen Teilen des Elementar- und des höheren Unterrichts ohnehin nie bestanden hat. Latein und Griechisch wurden ebenso wenig christlich unterrichtet wie Lesen, Schreiben oder die Grundrechenarten. Daraus kann nicht geschlossen werden, dass die christliche Erziehung im 19. Jahrhundert keine Bedeutung mehr hatte. Die Sprache der Schule und des Unterrichts aber bezog sich auf eine zunehmend autonomere Profession, die gehalten war, ihre eigenen Probleme zu bearbeiten. Das konzentrierte sich auf die Didaktik und Methodik des Unterrichts, also die beiden Kernbereiche der Profession. Die pädagogischen Überzeugungen und öffentlichen Gewissheiten blieben oft christlich, aber auch auf dem Lande konnte die Fachlichkeit des Unterrichts nicht bestritten werden, wenngleich viele Aufgaben und Beispiele in den Lehrmitteln nicht konfessionsneutral waren.
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Die Bayerische Schulzeitung diskutierte in ihrem ersten Jahrgang die Preisfrage, warum die Religion „alle Gegenstände“ des Unterrichts „durchdringen“ müsse (Öchsner 1857, IV). Der Verfasser des Artikels, der Pfarrer Anton J. Mayer aus Althofen, bejahte die Frage (Mayer 1857, 195), aber nur in dem Sinne, dass die Schule die Kinder nicht nur zu verständigen Menschen und künftigen Staatsbürgen erziehen muss, sondern auch zu guten Christen und „Himmelsbürgern“ (ebd.). Das geschieht durch stetige Ermahnung, Gehorsam, kindliche Ehrfurcht, angemessene Bestrafung und das gute Beispiel der Lehrer (ebd.), also nicht durch zusätzlichen Unterricht neben der kirchlichen Unterweisung. Die Lehren der Reformation sind Kindern und Jugendlichen vermittelt worden über die didaktische Form des katechetischen Unterrichts. Parallel dazu wurden bereits vor der Reformation muttersprachliche Kinderbibeln benutzt. Der Elementarunterricht konnte damit aber nicht realisiert werden. Frühe Lehrmittel, mit denen die Schüler Lesen, Schreiben und Rechnen lernen sollten, mussten eigene Lehr- und Lernformen entwickeln. Die Katechese war also eine spezielle Bildungserfahrung, die sich auf die Orte des christlichen Glaubens bezog, von der der elementare Schulunterricht unterschieden war, auch wenn lange die nicht-christliche Unterweisung in Räumen der kirchlichen Gemeindehäuser stattfand. Eigene Schulbauten waren wenigstens auf dem Lande die Ausnahme, daher hat sich auch erst im 18. Jahrhundert eine eigene durchgreifende Sprache und Symbolik der öffentlichen Schulhausarchitektur entwickelt. Darin spiegelte sich die noch geringe gesellschaftliche Bedeutung der Schulen, ausgenommen die der klerikalen und weltlichen Oberschicht. Auch Musik oder Gesang können nicht katechetisch unterrichtet werden, ebenso wenig wie Fechten, Tanzen oder eine kunstvolle Handschrift und die stilvolle Abfassung von Briefen. Dafür gab es in den höfischen Kulturen und nachfolgend auch im frühen Bürgertum eigene Lernorte und spezialisierte Lehrmittel sowie Lehrer, die Fachsprachen benutzten und nie Teil der schulischen Allgemeinbildung waren. Was heute so genannt wird, entwickelte sich aus der kirchlichen Elementarbildung und den Lateinschulen der Reformation mit typischen Unterschieden bis heute. Die eigentliche Etablierung der schulischen Bildungssprache fand erst im 18. und frühen 19. Jahrhundert statt. Die Sprache selbst ist nicht neu erfunden worden, sie arbeitet mit sehr stabilen Metaphern, die sich gegenüber dem gesellschaftlichen Wandel als erstaunlich resistent herausgestellt haben. Von „Etablierung“ kann gesprochen werden, weil sich die pädagogischen Medien gesellschaftlich ausbreiten und örtliche Beschränkungen überwinden konnten. Zwischen 1871 und 1914 gab es im deutschen Sprachraum rund eintausend verschiedene pädagogische Zeitschriften, die meistens regionalen Lehrervereinen und lokalen Fachverbänden dienten, aber eine weitgehend angepasste Sprache verwendet haben. Die Ablösung der kirchlichen Elementarbildung durch die staatliche Volksschule im 19. Jahrhundert führte zu langfristig stabilen Schulbudgets, in deren Folge die Schulentwicklung nicht mehr zurückgedreht werden konnte (Aubry 2015). Mit der Stabilität der Institution wurde auch die Sprache stabil. Dialektbesonderheiten,
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die lange eine wichtige Unterscheidungsrolle spielten, sind heute weitgehend verschwunden. Auch in der Schweiz und in Österreich wird eine weitgehend einheitliche deutsche Bildungssprache verwendet. Die Entwicklung des staatlichen Schulwesens ist der entscheidende Reformprozess im 19. Jahrhundert in allen entwickelten Industriegesellschaften mit regionalen Unterschieden und Besonderheiten (Geiss 2014). Die nationalen Schulsprachen unterscheiden sich in verschiedenen Bezeichnungen und Fachtermini, ohne grundsätzlich anders zu sein. Je nach Beschaffenheit des Systems, zentralistisch wie in Frankreich oder föderativ wie in der Schweiz, gibt es Besonderheiten, die in anderen Bildungssprachen nicht vorkommen. Grundsätzlich aber folgt die Sprache dem System und nicht umgekehrt. Eine zentrale Funktion der Sprache ist die Idealisierung der Schule und der Lehrpersonen, die es in allen Erziehungskulturen gibt. Auch die herausragende Bedeutung der pädagogischen Aufgabe wird überall betont. Eine schwäbische Schulordnung aus dem Jahre 1790 gibt an, dass „die gute Erziehung der Jugend […] ohnstreitig einer der wichtigsten Gegenstände obrigkeitlicher Besorgnisse“ (Reichsstift-Neresheimische Schulordnung 1790, 3) sei und formuliert damit eine Selbstverständlichkeit, die bis heute niemand bestreitet, auch weil die Sprache das nicht zulässt. Das Reichsstift und Benediktinerkloster Neresheim im östlichen Württemberg war unter seinem letzten Abt Michael Dobler (1730–1815) ein Zentrum der lokalen Schulentwicklung. Das Kloster bestand bis 1802. Niemand kann gegen die „gute Erziehung der Jugend“ Einspruch erheben und das gegenteilige Ziel vertreten. Eltern wie Lehrer sind umgekehrt auf die „gute Erziehung“ verpflichtet, ohne dass die Sprache die Praxis festlegen könnte. Was schlechte Erziehung ist und anrichtet, wird mit drastischen Worten gesagt, die zur Abschreckung eingesetzt werden. Nachahmung ist ausgeschlossen. Das Dual „gut“ und „schlecht“ wird strukturell, nicht zeitlich verstanden, dass die gute die schlechte Erziehung aufhebt, ist ein Wunsch, der nur wiederholt werden kann. Normativer Konsens ist auch, dass das Amt des Schulmeisters, wie es in der Schulordnung heißt, „ohne Zweifel eines der grössten und wichtigsten in der Gemeinde“ (ebd., 4 f.) ist, mit dem höchste Ansprüche verbunden sind. Nur derjenige ist ein „guter Schullehrer“ (ebd.), der diese Ansprüche mit seiner Person und seinem beruflichen Können erfüllt. Es hat also jeder Schulmeister in dem, was er die Kinder lehren muss, allererst selbst vollkommen zu unterrichten, – und sich die rechte Art, wie den Kindern der Unterricht beyzubringen ist, recht bekannt und geläufig zu machen. (ebd., 4 f.)
Die Formel „auf den Lehrer kommt es an“ hat sich mit der Professionalisierung der Lehrerschaft verselbständigt. Und auch die Erwartungen an die Persönlichkeit und das Auftreten des Lehrers sind konstant. Sie werden seit jeher mit Adjektivreihen beschrieben: Insbesondere soll der Lehrer
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sich nüchtern, sanftmüthig, geduldig, ruhig, freundschaftlich, ernsthaft, ohne mürrisch zu seyn, höflich, leutselig, aufrichtig, und wahrheitsliebend, uneigennützig, und überhaupt so betragen, dass er seines Amtes würdig, die Hochachtung der Gemeinde verdiene, und auf die ehrfurchtsvolle Liebe, auf kindliches Vertrauen, und willigen Gehorsam seiner Schüler zählen dürfe. (ebd., 5)
Schulkritik im Sinne von Unzufriedenheit und Klagen gab es schon vor dem historischen Erfolg der staatlichen Schulentwicklung, einfach weil es immer kritikwürdige Defizite gegeben hat, die als mehr oder weniger gravierend angesehen wurden. Oft ging es dabei um mangelnde Disziplin. Sie sei, heißt es 1752 in einer Sammlung kirchlicher Nachrichten, „sehr nöthig, aber leider! an vielen Orten auch sehr verfallen“ (Acta historico ecclesiastica 1752, 542). Als Grund wird angegeben, dass Eltern es den Schulmeistern oft „mit herben Worten und Drohungen“ (ebd.) schwer machen, die nötige Disziplin durchzusetzen. Das wird zu einem schulgeschichtlichen Standardargument, das bis heute benutzt wird. Wo sich die Lehrer aber tatsächlich an der Disziplin „vergangen“ haben, kann die Schulaufsicht in Gestalt des Pfarrers eingreifen, die Kinder notfalls aus der Schule nehmen und dem Schulmeister das Schulgeld entziehen (ebd., 542 f.). Aber pragmatische Konfliktlösungen dieser Art sind dann nicht möglich oder werden als nicht ausreichend erachtet, wenn die Schule als solche unter Verdacht gerät, also der „Verfall“ (ebd., 542) nicht nur die Disziplin, sondern die gesamte Schulorganisation betrifft. Vehemente Kritiker der Schule waren oft die Lehrer selbst, die ihre individuelle Erfahrung mit dem schlechten Zustand der ganzen Profession und des Arbeitsfeldes in Verbindung brachten, wobei wiederum sehr drastische Worte gebraucht wurden. Davon ist die allgemeine Schulkritik zu unterscheiden, die nicht von einer persönlichen Betroffenheit ausgeht, sondern mit generalisierten Vorwürfen oder auch Ressentiments arbeitet, die sich im 19. Jahrhundert gegen den aufstrebenden Stand der Volksschullehrer richteten. Ihnen ist früh Dünkel und Anmaßung vorgeworfen worden, vor allem weil sie sich von der kirchlichen Aufsicht befreien wollten, während sie zugleich das „grosse Werk“ der Erziehung realisieren sollten. Die Schulkritik unterscheidet sich im internationalen Vergleich, weil verschiedene Bezeichnungen verwendet und unterschiedliche Problempunkte kritisiert werden, ohne dadurch den idealisierenden Zuschnitt der Sprache zu verändern. Wenn das „schulische Lehren“ nicht verteidigt sondern angegriffen wird, steht keine andere Sprache zur Verfügung. Zentrale heutige Metaphern wie „Ganzheit“ oder „organisches Lernen“ lassen sich so oder so verwenden, mal zur Rechtfertigung der Praxis und mal zur Kritik am Bestehenden. Die pädagogische Sprache ist in beiden Richtungen plausibel, je nachdem, wer sie gebraucht und wie sie gebraucht wird. Man findet in Kirch- oder Schulordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts Formeln, die sprachlich auf eine Kind- oder Schülerorientierung verweisen, welche normalerweise erst auf die Entwicklung der Kinderpsychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgeführt wird. Aber die Sprache der Schule folgt nicht einfach dem Fortschritt
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der Psychologie, sondern den Erfahrungen im Feld, die ambivalent sind und so stets Anlass geben, nach besseren Lösungen zu suchen. Kinder mussten nach der Reformation insofern ernst genommen werden, als die Taufe nicht mehr für das Seelenheil genügte und ihre Erziehung zur allgemeinen Aufgabe wurde. Ein Beispiel ist die Weimarer Schulordnung von 1619. Ihr Verfasser war der spätere Generalsuperintendent von Weimar, Johannes Kromeyer (1576–1643), der seit 1613 als Hofprediger tätig war. – Die Ordnung plädiert dafür, nicht mehr sechs Stunden am Tag zu unterrichten, Pausen zwischen den Lektionen einzuführen, das „stumme lernen der Schüler“ ganz aufzuheben und die Unterweisung „lebendig“ zu gestalten (Vormbaum 1863, 219). – Die „stetigen Bedrawungen“ der Schüler müssten unterbleiben (ebd., 220). – Die Schüler sollen „reden vund nachmachen“, also nicht unbeteiligt bloß stillsitzen (ebd., 222). – Und wer „sich nur in tyrannischer Furcht vnnd Schrecken“ weiß, kann nicht erfolgreich lernen (ebd., 223). – Schlagen ist „vnrecht“ und in den Schule „verboten“ (ebd., 224). Auch methodisch wird eine Innovation vorgeschlagen. Die Schüler sollen, wie es heißt, „einerley nach einander“ (ebd., XX) gelehrt bekommen, also nicht so, dass ein Thema in das andere „gemengt“ (ebd., XX) wird, heute dies und morgen das unterrichtet wird. Das war die Idee von Wolfgang Ratke (1571–1635), die als „neue Lehrart“ am 7. Mai 1612 dem deutschen Reichstag in Frankfurt am Main vorgestellt wurde. Ratke war seit 1618 Lehrer in Köthen und leitete später die Mädchenschule in Rudolstadt. Seine „neue Lehrkunst“ hatte Kromeyer allerdings in einem Gutachten negativ beurteilt. Durch die ständige Vermengung der Unterrichtsgegenstände werden die Schüler am Lernen gehindert und können am Ende nichts richtig „fassen“. Und sie sollen zuerst Deutsch lernen, bevor sie mit Latein oder einer anderen Sprache konfrontiert werden (ebd., 224 f.). Gelernt wird aus und mit Büchern. Jeder Schulmeister muss sein eigenes Buch haben, aber auch jeder Schüler. Denn es gilt hier nicht mit einander drein sehen, alldieweil je eines das andere dadurch verhindert am sehen und auffmercken. (ebd., 225)
Das Bemühen geht dahin, jeden verständig in den Gegenständen des Glaubens zu unterrichten, also auf das individuelle Lernen Rücksicht zu nehmen. In diesem Sinne gibt es eine pädagogische Gemeinsamkeit der Reformation, die sich nicht allein theologisch erklären lässt. Die Grundsituation des Lehrens und Lernens war in bestimmter Hinsicht nicht radikal verschieden zur Verschulung im 19. Jahrhundert. Der Unterricht galt stets Kindern und Jugendlichen, die nie ohne Besorgnis wahrgenommen
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werden konnten, denn es ging um nicht weniger als das Seelenheil. Zudem war es immer schon plausibel, dass Kinder besser lernen, wenn sie motiviert sind und keine Angst haben. Die zeitgenössische Praxis ist damit aber natürlich nicht erfasst. Eher zeigt das Beispiel, wie groß die Kluft zwischen den pädagogischen Wünschen und der dazu passenden Sprache auf der einen und den Realerfahrungen auf der anderen Seite gewesen ist. Die Reformation ist nämlich auch als umfassende und rigorose Disziplinierung verstanden worden (Sarcerius 1556). Der lutherische Theologe und Lehrer Erasmus Sarcerius (1501–1559) hat Mitte des 16. Jahrhunderts ein umfassendes Werk von engen Vorschriften und gestuften Sanktionen entworfen, bei dem neben der Obrigkeit und den „Kirchendienern“ auch die Eltern sowie die „Schuel vud Zuchtmeister“ eine wichtige Rolle spielen (ebd., CXCI). Erziehung im christlichen Geiste, die zu einem persönlich verantworteten Glauben führen soll, war das große Programm der Reformation. Dafür sollten in allen Gemeinden Schulen entstehen, die für den entsprechenden Unterricht sorgen können. Dieses Programm wurde bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nie so verwirklicht, wie die Reformatoren sich das vorgestellt hatten. Ein Grund waren die durchgehend widrigen Schulverhältnisse und geringen Ressourcen für die elementare Bildung nicht nur auf dem Lande, sondern gerade auch in den reicheren Städten, die mit eigenen Schulordnungen die Reformation befördern sollten und auch wollten. An Anstrengungen hat es nicht gemangelt, aber die Resultate blieben weit hinter den Zielsetzungen zurück. Was fehlte, war der moderne Staat als Träger und Garant der Schulentwicklung. Die Sprache dagegen war mit Ausbreitung der Erziehungsmedien stabil. Das gilt nicht für die gesprochene Sprache, wohl aber die zentralen Metaphern in der Literatur, auf die man immer wieder zurückgegriffen hat und die die Verständigung über Erziehung und Schule geprägt haben. Dabei spielte die reformatorische Vorstellung des Seelenheils über Jahrhunderte eine zentrale Rolle. Der Leipziger Arzt und Psychiater Johann Christian Heinroth (1828, 421) fasste den damit verknüpften Anspruch so zusammen: „Der Erziehung liegt es ob, für dieses Heil zu sorgen; und sie thut diess entweder, oder sie hat nichts gethan mit all ihrer Bemühung“.
3 Grundlegende Metaphern Alexandra Guski (2007) hat in ihrer Dissertation die historische Schulsprache näher untersucht und über Jahrhunderte eine verblüffende Kontinuität festgestellt. Die Dissertation zeigt, dass es metaphorische Grundkonzepte von schulischem Lernen gibt, die sich immer neu, sei es apologetisch, sei es kritisch, verwenden und diskursiv einsetzen lassen. Das gilt etwa für folgende Konzepte: – Schulisches Lernen ist Fortbewegung auf einem Weg – Schulisches Lehren ist Bearbeitung von Material
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Schulisches Lehren ist Weitergabe von Stoff Schulisches Lernen ist Manipulation von Objekten Schulisches Lernen ist Kraftübung und Gymnastik Schulisches Lernen ist sehen, schulisches Lehren ist zeigen, Schulwissen ist Licht Schulisches Lehren ist wecken (ebd., 143 ff.).
Sprachlich dürfte es kaum möglich sein Lernen, Erziehung und Bildung anders als mit einer Wegmetapher zu fassen, egal, ob man nun eine „Entwicklung“ oder einen „Prozess“ vor Augen hat. Die heutige häufige Verwendung von Prozess umgeht einfach nur die metaphorischen Fallstricke von Entwicklung, die aus der organischen Begriffsgeschichte resultieren, aber bezieht sich immer noch auf einen vorgestellten Weg, dem die Erziehung „folgt“. Und Erziehung hat auch als frühneuzeitliches Substantiv die Bedeutung von educere (herausziehen) und educare (aufziehen) nie verloren (von Pogrell 2004). Wie stark die Wegmetapher verankert ist, zeigt sich daran, dass öffentliche Diskurse über Schule und Bildung fast ausschließlich Zieldiskurse sind. Sie beziehen sich auf Wege, die zu einem imaginierten End- oder Wendepunkt in der Zukunft führen sollen. Auch Materialmetaphern oder Vorstellungen der „Weitergabe“ sind in der Schulsprache fest verankert, wenngleich nicht mehr wie in der Vergangenheit von „Schülermaterial“ oder die Weitergabe des didaktischen „Stabes“ die Rede ist. Für die Schüler gibt es wohl „Material“ zum Lernen, aber sie sind nicht mehr selbst „Schülermaterial“, wie dies in den Zeitschriften des ausgehenden 19. Jahrhunderts noch völlig selbstverständlich war. Auch wer nicht mehr von „Stoff“ spricht oder den Ausdruck sogar bewusst vermeidet, ist an die Vorstellung gebunden, dass im Unterricht Inhalte „weitergegeben“ werden, also von einer Person zu einer anderen übergehen. Die gesamte Philosophie des Lehrers hängt davon ab, er behält sein Wissen und Können nicht für sich, sondern gibt es weiter, gesteuert von Qualitätserwartungen, die in der Schul- und Lehrerliteratur schon früh normativ kodifiziert sind, also nicht nur in den Schulordnungen auftreten. 1827 heißt es in den Rheinischen Blättern für Erziehung und Unterricht: Wenn an jedem Elementar-Unterrichts-Gegenstand mit Recht die Forderung gestellt wird, dass er hinreichend Stoff zur Aufhellung des Verstandes, zur Veredelung des Herzens, zur Erwärmung des Willens in sich trage, – so ergeht mit demselben Recht an den Lehrer die Forderung, jeden Unterricht wahrhaft bildend zu ertheilen. (Engstfeld 1827, 52)
Was „wahrhaft bildend“ ist oder nicht ist und auch nicht sein kann, muss nicht gesagt werden. Der semantische Appell genügt völlig. „Wahrhaft bildend“ (ebd.) ist als Ausdruck wiederum vielfältig verwendbar und er taugt auch zur Schulkritik, etwa wenn Mitte des 19. Jahrhunderts von einem Schul inspektor festgehalten wird, „dass das wahrhaft Bildende nur zu oft auch in solchen
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Schule fehlt, in welchen sonst eine weckende und kräftig übende Unterrichtweise herrscht“ (Zeller 1855, 52). Was diesem Unterricht ermangelt, ist die christliche Liebe oder die emotionale Beziehung zu den Kindern (ebd.). Das kann immer neu gesagt werden, ohne an Plausibilität zu verlieren, nur dass inzwischen der Bezug auf den „heiligen Geist“ (ebd.) verloren gegangen ist. Auch die Vorstellung der „Übung der Kräfte“ ist bis heute in der Lehrersprache Gemeingut. Die Lehrmittel mögen inzwischen eine andere Sprache verwenden, aber sie bestehen materiell immer noch, wie im 17. Jahrhundert, aus Aufgaben und damit verbundenen Übungen. Nicht nur die Sprache, auch die Logik der Übungen ist nicht beliebig veränderbar. In Johann Baptist Rechers „Selbst-Lehrender Rechen-Schule“ aus dem Jahre 1692 wird jede Übung in vier Stufen aufgeteilt, die von der Benennung der Übung bis zur exemplarischen Anwendung nacheinander durchlaufen werden müssen. Für die handelnden Personen ist es unmittelbar einsichtig, dass im schulischen Lernen keine Fortschritte erzielt werden, wenn nicht die Kräfte geübt werden. „Üben“ ist auch in der öffentlichen Kommunikation eine ad hoc plausible Metapher, um schulische Lernnotwendigkeiten zu beschreiben. Die Kritik dieser Vorstellung ist wesentlich schwächer als die damit verbundene Erwartung der Sicherung der Lernergebnisse über Stufen des Unterrichtens. Die Metapher der „Stufung“ geht weit über den Unterricht hinaus. Sie betrifft auch das Lernalter und so das altersgerechte Lernen. Nach der Reformation wurden auch in den Elementarschulen allmählich Jahrgänge unterschieden, auf die die Lernmaterialien abgestimmt waren. Außerhalb der Schule ist eine Ordnung nach Jahren nicht möglich, aber die Frage, was für welches Alter geeignet ist, stellte sich auch in den bürgerlichen Familien. Im Münchner Verlag Joseph Lentner erschien daher 1791 marktgerecht eine dreibändige „Bibliothek für Mädchen, nach Stuffen des Alters eingerichtet“. Verfasser war der Münchner Archivar und Hofrat Karl von Eckartshausen (1752–1803). Es ist heute nicht mehr plausibel, wie noch zweihundert Jahre nach der Reformation, dass die „gantze Pflicht des Menschen“ angewiesen ist auf die „Vbung der Gottseligkeit“ (Groot 1706), aber das Wort Übung verweist auf eine Notwendigkeit des Lernens und zugleich auf einen guten Ausgang. Der Sinn einer Übung im Unterricht, heißt es in einem anonymen Werk über die Verbesserung des Elementarunterrichts am Ende des 18. Jahrhunderts, wird definiert durch den Erfolg, den sie „für den Schüler hat und der ihn, weil er ihm angenehm ist, zu fernern Fleisse reizt“ (Aussichten 1790, 10). Verbmetaphern wie sehen oder zeigen prägen sowohl die Anschauungsdidaktik als auch die Ideale der konstruktiven Nachahmung, die bis heute schulischen Unterricht kennzeichnen. Sprachreste aus der Pansophie von Comenius wie „Licht“ oder „Wecken“ (Via lucis vestigata et vestiganda 1668; zur Metaphorik vgl. Guski 2007) sind vermutlich nicht mehr alltagstauglich, können aber in Festreden oder didaktischen Beschwörungen ohne weiteres verwendet werden. Immerhin konnte noch Otto Fried-
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rich Bollnow 1959 die Erziehung mit einem Weckruf zur „Eigentlichkeit“ in Verbindung bringen (Bollnow 1968 [zuerst 1959], 51). Die Schulsprache ist immer eine Form von Idealisierung, die um Pathos noch nie verlegen war. Statt von „Licht“ wie im Barock ist ein Jahrhundert später von „Aufklärung“ die Rede, was keine grundlegende Veränderung der platonischen Metaphorik darstellt. Und wenn die Schule auch nicht mehr selbst einen „Weckruf“ darstellt, so ist sie immer noch davon geprägt, Schülern etwas Bleibendes beizubringen, also sie nachhaltig zu „erwecken“. Und noch 1927 konnte ein „Weckruf an Eltern, Lehrer und sonstige Freunde der Schule“ formuliert werden, dass die deutsche Schule „in Gefahr“ sei (Immow 1927). Hans Immow ist ein Pseudonym für den völkischen Schulrektor Kurt Freitag aus Berlin-Neukölln. Die Schulkritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts und die damit verbundenen Reformbewegungen haben scheinbar für radikale Neuprägungen der pädagogischen Sprache gesorgt, die meistens mit der publizistischen „Wende zum Kind“ in Verbindung gebracht werden und die es vorher nicht gegeben haben soll. Bei genauerem Hinsehen aber muss das bezweifelt werden. Gutwillige Aussagen über Kinder lassen sich in pädagogischen Diskursen nie vermeiden, zumal nicht im historischen Rahmen des Christentums, also einer Kinderreligion. Man kann daher erwarten, dass die neue Kindsemantik sich als historisch wohl überliefert herausstellt, ebenso wie die Reaktionen gegen sie. Bernard Hieronymus Böhme, Konrektor der Fürstenschule in Jena, beklagte in seinem Buch „Schule und Zeitgeist“ (Böhme 1824, 372) das durch „Tändelei und Spielerei“ weichlich gewordene Erziehen, mit dem „viele Lehrer unaussprechlichen Schaden“ angerichtet hätten. Sie sollen die Schüler „ziehen, nicht selbst zu ihnen hinabsteigen und zum Kindlein werden, durch welche Methode kindische Jünglinge und Männer gebildet werden“ (ebd.). Gegen „solche falsche Nachgiebigkeit und Menschenfreundlichkeit“ hilft nur eins, eine prinzipienfeste „väterlich strenge Disziplin“ (ebd.). Auch das lässt sich bis heute sagen, mit gleicher Plausibilität aber auch das Gegenteil. Man kann „die“ Disziplin loben oder kritisieren, ohne sie näher beschreiben oder gar ihren metaphorischen Gehalt kennzeichnen zu müssen. Im Blick auf die Schule war lange selbstverständlich, dass die Kunst des Schulmeisters vor allem darin bestand, „Disziplin halten“ zu können. Es gibt praktisch keine Schulordnung, die darauf nicht näher eingeht, ohne jeweils einen Freibrief zu erteilen. Die reale Schulerfahrung legte immer auch Selbstkritik nahe, die fragt, ob nicht die etablierte Praxis schuld sei an den vielfach beklagten Miseren. In Luthers viel gelesenen Tischreden heißt es, man müsse die Kinder „mit vernunfft auffziehen“ und wenn, dann maßvoll strafen (Luther 1593, 325). Er selbst, so Luther, sei von seinen Eltern unbarmherzig geschlagen worden und das meinten sie „hertzlich gut“ (ebd.). Aber die Folgen widersprechen dem Gebot von Vernunft und Maß.
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Es ist ein böß ding/weil vmb der harten straffe willen/Kindern den Eltern gram werden/oder Schüler iren Praeceptoribus feind sind/Denn viel vngeschickter Schulmeister/seine ingenia mit irem Poltern/stürmen/streichen/schlagen vnd/verderben/wenn sie Kindern anders nicht/denn gleich als ein Hencker oder Stockmeister/mit einem Diebe vmbgehen. (ebd.)
Doch es heißt weiter: „Man muss Kinder steupen vn straffen/aber gleichwol sol man sie auch lieb haben“ (ebd.). Gott verbürgt die „Väterliche treuwe für die Kinder“ (ebd.), was die Strafgewalt einschließt.
4 Selbstkritik und Sprachkorrektur Die Sprache der Selbstkritik geht zurück auf Roger Aschams Traktat „The Scholemaster“, ein Buch, das sich mit dem Ethos des Scholemasters auseinandersetzt. Es war das erste Buch seiner Art und ist 1570 in London gedruckt worden. Wenn fortan von „Schulmeistern“ die Rede war und Anforderungen an sie gestellt wurden, dann zumeist unter Bezug auf Aschams Buch. Wie bewusst Ascham den Begriff gebraucht, ist unklar. Der Ausdruck school im Sinne der Versammlung von Schülern an einem Ort zur gleichen Zeit ist in England seit etwa 1300 gebräuchlich. „Schoolmaster“ wurden in England Mitte des 16. Jahrhunderts nicht nur die Lateinlehrer der öffentlichen Schule genannt, sondern auch die Tutoren oder Hauslehrer. Aschams Buch richtet sich an sie. Aber der Begriff, das lässt sich den zeitgenössischen Schulordnungen entnehmen (Berard 1871), bezeichnet offenbar Lehrkräfte aller Art, sofern sie mit einem Unterricht befasst sind, der nicht in einem kirchlichen Amt ausgeübt wird. Aschams Kritik richtete sich gegen die verbreiteten Lehrmethoden der englischen höheren Bildung des 17. Jahrhunderts. Ascham, ein versierter Griechischlehrer, kritisierte die stumpfsinnigen Methoden des Auswendiglernens, die Inkaufnahme der Angst bei den Schülern und die Unfähigkeit der Lehrer, sich in die Lernsituation der Schüler hineinzuversetzen. Eine Sprache der Selbstkritik findet sich auch in der französischen Elementarbildung des ausgehenden 17. Jahrhunderts und nicht zuletzt in der Entwicklung der Volksschule im deutschen Sprachraum. Sein englisch, nicht lateinisch geschriebenes Buch erschien posthum, Ascham starb am 23. Dezember 1568. Die zentrale These des Buches bezieht sich auf die Praxis des Unterrichts und nicht nur auf die Darstellung der Studienfächer, ihre Begründung oder die Regeln der Grammatik. Solche didaktischen Texte gab es zahlreiche, ebenso solche über die Prinzenerziehung oder die Umgangsformen am Hof. 1558 war Giovanni Della Casas „Galateo“ erschienen, mit dem die Gattung der Benimmliteratur begründet wurde, die in der Geschichte der höfischen Erziehung eine zentrale Rolle spielen sollte. Aber darum geht es bei Ascham nicht. Er geht aus von dem Problem, wie schlechter Unterricht möglich ist, wenn doch genügend didaktische Theorien vorliegen und seit der Scholastik auch die Praxis des Unterrichtens entwickelt wurde.
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Die Frage, wie die Schüler im Unterricht behandelt werden sollen, ist das zentrale Thema im ersten Buch von Aschams „Scholemaster“. Es sei kein Zweifel, heißt es eingangs, dass der Lateinunterricht dazu führe, entweder die willigen Kinder lustlos (dull) werden zu lassen oder aber ihnen den Willen zum Lernen ganz zu nehmen (Ascham 1570, 7). Erklärt wird das mit der falschen Methode: Die Schüler werden nicht gelobt (praise), wenn sie Fortschritte machen, und das Lernen wird ihnen nicht leicht gemacht, sondern im Gegenteil künstlich erschwert (ebd., 8). Dadurch wird verhindert, was Ascham „the good understanding of the matter“ nennt (ebd., 9). For, good understanding must first be bred in the child, which, being nourished with skill, and use of writing […] is the only way to bring him to judgement and readiness in speaking. (ebd., 10)
Die Effizienz der vorherrschenden Methoden an den englischen Colleges wird bezweifelt. Sie seien nicht imstande, den Schülern die richtigen Einstellungen zu vermitteln, „to go forward in love and hope of learning“ (ebd., 11). Für ihre Narrheiten sollten die Lehrkräfte bestraft werden und nicht die Schüler (ebd.). Das geht auf Plutarch zurück und wird auch im Traktat über Erziehung von Piccolomini (1450) erwähnt. Es kann nicht hingehen, dass der Unterricht ihnen den Lernwitz (wit) zunichtemacht. Was unter Zwang und Androhung von Gewalt gelernt werden muss, wird vom Geist nicht angenommen. Nicht nur die seit Plutarch geläufige Kritik am Unterricht, auch die vorgeschlagenen Alternativen sind meistens sehr ähnlich. Es geht um die bessere Aktivierung des Lernwillens und so um bessere Resultate bei zunehmend steigenden Lernanforderungen. Die Zunahme der Anforderungen hängt zusammen mit staatlichen Leistungserwartungen, wie sie sich in Lehrplänen und staatlich kontrollierten Lernmitteln niederschlagen. Aber das ist Sprache, nicht Praxis. Zwischen dem, was heute als „Input“ bezeichnet wird und dem, was Schulen tatsächlich getan und kommuniziert haben, besteht grundsätzlich ein Hiatus, der nicht zu überbrücken ist. Die Sprache der Schule ist auch deswegen so idealisierend, weil die inneren Vorgänge weitgehend intransparent sind und einer größeren Öffentlichkeit verborgen werden. Seit dem Gothaer Schulmethodus (1642 und weitere Auflagen) beschreiben die Schulen die Leistungen ihrer Schüler und so die eigenen Leistungen mit Noten. Noten sind öffentlich leicht kommunizierbare sprachliche Zeichen, die sich mit festen Wertungen verbinden und von denen ganze Selektionswege im Schulsystem abhängig gemacht werden. Auch damit ist eine besondere Sprache verbunden, die gute Noten mit Intelligenz oder Begabung verknüpft und schlechte Noten mit dem Gegenteil. Die Schule muss dabei den Schein der Objektivität wahren und schon deswegen die tatsächlichen Entscheidungsprozesse kontrollieren. Fehler dürfen nicht nach außen dringen und belasten; falls das doch geschieht, hat das unmittelbare Folgen für den Ruf der Schule. Das Mittel für die Objektivität sind Zahlen, die Leistungen festlegen und keine
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weitere Interpretation verlangen. Auch hier wird mit dem Mittel und der Metapher der Stufung gearbeitet. Erst die Einführung der Berufsbildung im ausgehenden 19. Jahrhundert kreiert die schulische Allgemeinbildung, die von den Übergängen ins Berufsleben, anders als vorher, weitgehend entlastet wird. Damit aber fehlt ein gesellschaftlicher Leistungsnachweis, der sich nicht mehr in beruflicher Nützlichkeit ausdrücken kann. Dafür sorgten nunmehr Berufslehren mit eigenen Übergängen. Diese Differenzierung hat den Zwang zur Idealisierung nochmals gestärkt, denn nunmehr mussten Bildungsziele erfunden werden, die allgemein gelten sollen, ohne sich im Einzelfall wirklich nachweisen zu lassen. Die pädagogische Sprache hat mehr Varianten als nur die schulspezifischen und sie ist auch nicht immer nur idealisierend, sondern konnte auch mit massiven Abwertungen und Diskriminierungen verbunden werden. So sind Kinder und Erwachsene mit Lernschwierigkeiten und sog. geistigen Behinderungen als „Idioten“ bezeichnet worden. Sie galten in der Medizin noch des frühen 19. Jahrhunderts als „unheilbar“, zum einen, weil sie nicht lange lebten, zum anderen auch, weil die empirischen Befunde gegen sie sprachen. „Bei der Leichenöffnung zeigt der Hirnschädel der Idioten fast immer Bildungsfehler“ (Jacobi 1822, 465 f.). In der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts ging man dagegen von der „Heilung und Erziehung der Idioten“ aus, ohne das Wort und die Bezeichnung „Idiot“ unter Bann zu stellen (Die Unterlagen 1858). Die Praxis etwa in der Heilpflege- und Erziehungsanstalt „Levana“ im Schloss Liesing bei Wien legte nahe, dass die jahrhundertealte Theorie der Unheilbarkeit von „Idioten“ als widerlegt gelten konnte, die scheinbar neutrale Bezeichnung dagegen hielt sich bis ins 20. Jahrhundert hinein und wurde abgelöst durch „geistige Behinderung“, ohne dass damit mehr Neutralität verbunden gewesen wäre. Ein anderes Beispiel ist die im 19. Jahrhundert erfundene „Krüppelpädagogik“, die mit guten Absichten der Förderung von körperlich Behinderten einher kam, aber jegliche sprachliche Sensibilisierung vermissen ließ (Spieler 1932, Sp. 104–106). Von 1840 an entstanden medizinisch-pädagogische Heime für die „Krüppelerziehung“. Dass schon die Wortwahl „Krüppel“ eine folgenreiche Abwertung implizierte, wurde erst allmählich zu einem Skandal. Bis heute ist es nicht gelungen, die Semantik der „Behinderung“ erfolgreich zu eliminieren. Man kann umgangssprachlich auch immer noch ein „psychischer Krüppel“ sein. Andererseits sind Wörter wie „steupen“, also Strafen mit der Rute, aus der Schulsprache vollständig verschwunden. Ein Grund ist, dass die christliche Legitimation verloren gegangen ist. Noch in den Hausbüchern des 18. Jahrhunderts ist die Züchtigung von Kindern „ein Kennzeichen der Vater-Liebe und Kindschaft Gottes“ (Bogatzky 1753, 595). Und „wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtiget“ (ebd.)? Die „geduldige Annehmung und Ertragung der Züchtigung“ schließlich gibt „von dem kindlichen Sinne ein Zeugniss“, das nicht trügt (ebd.).
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Dass „Erziehung“ etwas mit Zucht oder gar Züchtigung zu tun hat, ist aus der heutigen Sprache weitgehend eliminiert worden, weil sich niemand mehr, Sekten ausgenommen, auf die Begründung des Apostels Paulus im Hebräerbrief beziehen kann, wie das seit der christlichen Antike über Jahrhunderte der Fall gewesen ist. Wen der Herr liebt, den züchtigt er, er schlägt jeden Sohn, den er annimmt, und wo wäre ein Sohn, den der Vater nicht erzieht? (Hbr. 12, 5–13). Schon Johann Christian Heinroth (1828, 222) war der Meinung, dass die Eltern ihre Kinder „nur zu Folge ihrer eigenen elterlichen Zwecke“ züchtigen, „wenn man ein Handeln nach Laune, Stimmung und Leidenschaft ein Handeln nach Zwecken nennen kann“. Ein anderes Beispiel ist die deutsche Heimpädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Unterbringung in Heimen ist gleichbedeutend mit gesellschaftlicher Aussonderung und Heime für „Schwererziehbare“. Heime waren oft Stätten der Gewalt, während das Wort Heim das genaue Gegenteil suggerieren konnte. Auch die Erfindung von „Heimfamilien“ (Herrmann 1956) diente oft der Verschleierung von ganz anderen Tatbeständen. Die Erziehungssprache erlaubt daher auch dort Idealisierungen, wo es Missbrauch und Gewaltanwendungen gegeben hat.
5 Die Erzeugung von Plausibilitäten Wenig untersucht ist die konkrete Sprache, die Lehrerinnen und Lehrer in ihrem Alltag verwenden. In der didaktischen Literatur des 19. Jahrhunderts sind sprachliche Abstraktionen entwickelt worden, die vom Alltag ablenken oder von den konkreten Erfahrungen keine Spuren mehr haben. Auf der anderen Seite kommunizieren Lehrpersonen auch nicht unabhängig von dem, was die Didaktik vorgibt. Aber hier muss zwischen einer offiziellen Sprachverwendung, wie sie etwa für Schülerberichte oder im Blick auf Zeugnisse notwendig ist, und der informellen Verständigung unter den Lehrpersonen unterschieden werden. Wie Lehrerinnen und Lehrer ihren Unterricht reflektieren, wie sie die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler aufarbeiten, welche Etiketten sie wählen, ob sie zu Stigmatisierungen greifen oder wie sie persönlich mit Störungen der Unterrichtssituation umgehen, also welche konkrete Sprache sie sprechen, ist kaum aufgearbeitet. Die wenigen Studien (etwa Cazden 1988 oder schon Spanhel 1973) machen deutlich, dass sich die Sprache im Klassenzimmer deutlich von der unterscheidet, die informell im Kollegium gewählt wird, wovon sich noch einmal unterscheidet, wie Schule und Lehrpersonen nach außen kommunizieren und was sie dabei von Fachsprachen adaptieren. Die offizielle Sprache der Schule ist eine reine Erwachsenensprache, die für die Betroffenen, also die Schülerinnen und Schüler, weitgehend unverständlich ist und in die sie auch nicht eingebunden sind, ausgenommen die für den Schulbesuch nötigen Bezeichnungen von Klassenstufen, Jahrgängen und Ähnlichem. Es gibt in der
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empirischen Literatur so gut wie keine Hinweise, wie Kinder und Jugendliche auf die Idealsprache der Erziehung reagiert haben, von der sie nie eine Anschauung erhielten. Man muss auf die Romanliteratur zurückgreifen, um diese Diskrepanz nachvollziehen zu können. Bei der Sprache der Schule handelt es sich im Kern um ein historisch überliefertes Korpus von Metaphern mit stabilen Grundbedeutungen. Die Sprache des Unterrichts ist Teil der gesprochenen Umgangssprache und erlaubt keine Formalisierungen. Vielmehr ist die Wirksamkeit dieser Sprache durch die öffentliche Verwendung gewährleistet. Die Sprache ist damit hochgradig politisierbar und es gibt tatsächlich keinen politischen Konflikt, der nicht die Sprache der Schule verwenden würde. Sie erzeugt und sichert Plausibilitäten im Blick auf die mit Schule und Erziehung verbundenen Aufgaben und Kausalitäten. Die Kausalitäten sind alltagssprachlich hochgradig plausibel und können nur schwer durchbrochen werden, auch dann nicht, wenn Experten sie mit guten Gründen angezweifelt haben. Ein wesentlicher Topos für die Schulsprache ist die Zentralität der Lehrperson, von ihr, wird seit der Antike angenommen, gehen die entscheidenden Wirkungen aus und sie ist daher für das Gelingen der Erziehung unverzichtbar. Aber dann kann sie auch die Ursache des Gegenteils sein. Der Münchner Schulrat Klemens Alois Baader (1823, 176) forderte, dass „strenge Sittlichkeit und der besten Wille“ dem Lehrer „unerschüttert eigen seyn“ müssen. „Unmoralität und Egoismus“ sind ausgeschlossen. Die Kausalität aber gilt nach beiden Seiten: Wenn der Lehrer unter die bösen und schlechten Menschen gehört, werden die Schulkinder auch böse und schlechte Menschen, und einst die in der Schule erlangten Kenntnisse nicht zum Guten anwenden, sondern zum Bösen missbrauchen. (ebd.)
Erfolg und Misserfolg liegen sprachlich nahe beieinander. Auch die Beschwörung der schrecklichen Folgen des Scheiterns der pädagogischen Bemühungen ist eine selbstverständliche Größe in der deutschsprachigen Literatur, die durchgehend Erziehung und Unterricht als die zentralen Einflussgrößen annimmt. Das lässt sich durchgehend feststellen, also nicht erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts, als die pädagogische Fachsprache in Lehrbüchern kanonisiert wurde. 1684 schreibt der Jesuit Tobias Lohner, dass im Sinne des heiligen Augustinus für die gute Bestellung des Gemeinwesens keines der Gesetze „so hoch“ steht „als die gute Zucht vnd Vnterweisung der Jugend“, welches er „dann auch für das Fundament vnnd Grundveste gemainen Wolstands“ hält, „darauff die Wolfahrt desselben beruhet“ (Lohner 1684, 9). Neben Augustinus ist vor allem Lykurg die immer wieder zitierte Autorität, dass gute Erziehung die „Grundveste“ jeder Gesetzgebung und so jedes Gemeinwesens sei. Im Umkehrschluss wäre das Gemeinwesen ohne Grundlage, wenn die Erziehung misslingt. In beiden Fällen erscheint die Erziehung als Kausalität, sie kann daher
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Ursache des Guten wie des Bösen sein. Für die Gewinnung von Plausibilität ist es unerlässlich, dass „Erziehung“ einen objektiven Gehalt gewinnt, also nicht lediglich als Wort erscheint, sondern als Macht oder als Werk, mit dem etwas bewirkt wird. Daher dominiert in der Literatur seit der Aufklärung die Gleichsetzung von Erziehung mit Einwirkung. Theoretisch ist das nicht mehr als eine Verschiebung des Metapherngehalts, aber das spielt in der Politik zur Erzeugung pädagogischer Plausibilitäten keine Rolle. In der bereits zitierten Bayerischen Schulzeitung ist zu lesen, dass die Erziehung die „jugendlichen Anlagen“(Mayer 1857, 195) entwickelt, während der Unterricht „jene Kenntnisse und Fertigkeiten“ (ebd.) vermittelt, die für das Leben als Christ und künftiger Bürger unerlässlich sind. Reflektiert wird auch, was geschieht, wenn das nicht der Fall ist: „Der Mangel an den nötigen Kenntnissen, die Jeder zu seinen Berufs- und Standesgeschäften haben soll, zieht für den Staat eben so böse als gefährliche Folgen nach sich“ (ebd.). Und das Versäumte kann nicht aufgeholt werden: Wozu man sich in der Jugend den Grund legt, das lernt man später entweder gar nicht mehr, oder nur durch viele Umwege, ungleich grössere Beschwernisse und vielen Zeitverlurst, den man später vergeblich zu ersetzen sucht (ebd.). Kindheit und Jugend sind der „Grund“ des Lebens; fehlt der Grund, können die Folgen nur gravierend sein. Da liegen dann schnell einmal Industrie, Gewerbe und Künste danieder und Armut, Untätigkeit, Trägheit, Müßigkeit sowie Ausschweifungen „sind die schrecklichen Folgen“ (ebd.). Auch das lässt sich, mit etwas anderen Bezeichnungen, immer neu ins Spiel bringen. Die Hochwertung der Erziehung seit der Antike als „Grund“ des Gemeinwesens wie des individuellen Lebens hat in der Literatur immer auch eine andere Seite gehabt, die des Abgrunds. Jedes Kind hat nur eine Erziehung, aber wenn die misslingt, können die Folgen gar nicht schlimm genug sein. Deswegen ist Erziehung immer auch als Schutz verstanden worden, als Bollwerk und nicht nur als Grund. Oft war auch die Schule das Bollwerk gegen die Einflüsse des Bösen oder des Niederträchtigen. Die sozialistische Erziehung der Kinder des Proletariats, heißt es 1931 in einer einschlägigen Zeitschrift, ist das „Bollwerk“, das von „keiner Reaktion“ mehr eingerissen werden kann (Die sozialistische Erziehung 1931, 232). Der „Trost einer wohlgenutzen Jugend“ (Thieme 1777) war fester Bestandteil der Predigtliteratur des 18. Jahrhunderts und ist dann in der Lehrerliteratur weiterverwendet worden. Wer die Jugend nicht im Sinne der Erziehung nutzt, gehört zu den Unglücklichen, die verloren sind, auch weil sie nicht wissen und glauben, „wie viel sie in der Jugend versäumet haben“. „Das sind die allerunglücklichtigsten, denn in ihrer Sicherheit und Zufriedenheit mit sich selbst, gehen sie dahin, und verlieren ihr ganzes Leben“ (ebd., 25). Die anderen, die Rechtschaffenen, können ihren Weg nur gehen, wenn sie sich nicht „den Lüsten der Jugend“ aufopfern (ebd., 26). Die Sprache der Erziehung ist stabil, in ihr muss sich bewegen, wer pädagogische Aussagen machen will. Auch Neuschöpfungen wie der Zentralbegriff der „Emanzipation“ zu Beginn der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts haben daran
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nichts geändert. Emanzipation ist eine Übernahme aus dem römischen Recht, die aus einem Rechtsakt einen pädagogischen Prozess mit allen Konsequenzen gemacht hat. Auch Emanzipation benutzt die Vorstellung des pädagogischen Weges, der Höherbildung und der Zielerreichung. Emanzipation konnte Bildungsziel werden, obwohl der Begriff gar keinen erreichbaren Zustand beschreiben kann. John Dewey hat in „Democracy and Education“ (1916/1985) die großen, aber irrealen Ziele der Erziehung angegriffen. Ziele sollten nur dann mit Prozessen verbunden werden, wenn sie innerhalb einer bestimmten Zeit erreichbar sind und sich während des Prozesses selbst korrigieren können. Aber Dewey hat mit dem zentralen Begriff „Growth“ selbst für eine Metapher gesorgt, die die Unklarheiten eher erhöht als reduziert. „Wachstum“ ist schon vor der Romantik eine oft genutzte Metapher in Erziehungstexten, Dewey wollte „Growth“ nicht organisch verstanden wissen, aber es ist schwer möglich, den Begriff ohne die Vorstellung eines irgendwie geregelten Wachstums zu verwenden. Von den grundlegenden Eckwerten in der sprachlichen Vorstellungswelt von Erziehung und Bildung wird auch in Zukunft nicht abgerückt werden. Seit Platon ist Bildung immer als Höherbildung oder als Aufstieg von unten nach oben verstanden worden. „Bildung“ überwindet Zustände und verweist auf einen Weg der Verbesserung, der nicht wie ein Abstieg vorgestellt werden kann. Schule wird mit dem Aufstieg des Lernens verbunden, obwohl empirisch leicht gezeigt werden kann, wie hoch die Vergessensrate ist, wie oft Bildungswege abgebrochen werden und wie häufig Anschlüsse gar nicht gegeben sind. Der idealisierenden Metaphorik als Grundlage für die Sprache der Schule hat das bislang nicht geschadet.
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10. Zur Rolle der Sprache in der Bildung im Zuge der Etablierung technischnaturwissenschaftlicher Fächer an Universitäten und Schulen Abstract: Es wird exemplarisch gezeigt, dass Wissenschaft, Technik und Sprache eng zusammengehören. Fortschritte, neue Erkenntnisse und Entwicklungen in Wissenschaft und Technik gehen einher mit einer Ausdifferenzierung der Sprache. Diese Sprache ist ein Kommunikationsmedium besonderer Art, geprägt durch funktionale und sprachnormierende Aspekte. Im Gegensatz zur Gemeinsprache ist ihr Gebrauch in erster Linie auf den Kreis der Fachleute beschränkt. Es ist Aufgabe von Bildungseinrichtungen, Außenstehenden einen Zugang zur Sprache von Wissenschaft und Technik zu eröffnen. Diesen Zugang ermöglicht eine Bildungssprache, die zwischen Fachsprache und Alltagssprache vermittelt. An Beispielen aus dem Schul- und Hochschulbereich wird dargestellt, wie sich die Hinführung zu einer solchen Bildungssprache seit dem 19. Jahrhundert entwickelt hat und welche Ziele sie verfolgt. 1 2 3
Wissenschaft – Technik – Sprache Zur sprachlichen Ausdifferenzierung naturwissenschaftlich-technischer Disziplinen Der Einzug von Naturwissenschaft und Technik in den Unterricht an Schulen und Universitäten (Schwerpunkt 20. Jahrhundert) 4 Ausblick – Bildungssprachliche Kompetenzen 5 Literatur
1 Wissenschaft – Technik – Sprache Zu den traditionellen Gebieten der Naturwissenschaften gehören Mathematik, Physik, Chemie und Biologie. Dazu kommen Mineralogie, Botanik, Zoologie und weitere Fächer, unter ihnen auch Medizin als angewandte Naturwissenschaft. In den einzelnen Fächern nimmt mit der Zeit die Differenzierung zu, wie das Beispiel Physik zeigt. Physik besteht heute u. a. aus den Teilgebieten Astro-, Atom-, Festkörper-, Geo-, Hochenergie-, Kern-, Molekül- oder theoretische, Plasma- und Quantenphysik. Und in der Technik ergeben sich mit jeder neuen Erfindung und Entwicklung Differenzierungen in den einzelnen Sparten. So folgten auf die Erfindung des Verbrennungsmotors durch den Franzosen Lenoir 1860 die Weiterentwicklungen durch Otto, Daimler, Benz und Diesel bis hin zu Wankel im 20. Jahrhundert, die alle ihre Spuren
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in der (Gemein-)Sprache hinterließen: Benzin-, Diesel-, Verbrennungs-, Viertakt-, Wan kelmotor (bis zu den Hybridmotoren unserer Zeit). Daraus ergab sich die Notwendigkeit eines Zusammenwirkens von Sach- und Sprachnormung auf nationaler wie internationaler Ebene. Ein Beispiel liefert der Bereich Bauwesen, in dem – auf Grund technischer Entwicklungen – 1876 ein Normungsvorschlag für den Begriff Stahl erforderlich wurde:
Abb. 1: Nomenklatur für Verbindung des Eisens mit Kohlenstoff (Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 14, 882)
Ein Beispiel aus dem 20. Jahrhundert ist der 1931 vorgebrachte Vorschlag von Eugen Wüster für eine „Internationale Sprachnormung in der Technik, besonders in der Elektrotechnik“ (so der Titel seines wegweisenden Buches, 1931 [1970]). In diesem Buch macht Wüster Vorschläge für ein international anwendbares Zeichen- und Benennungssystem im Rahmen einer funktionsorientierten technischen Sprache, einer „Zwecksprache“. Die Notwendigkeit einer solchen internationalen Standardisierung macht Wüster an unterschiedlichen Begriffsbezeichnungen aus der Pharmazie deutlich: Es gibt kaum einen Stoff, der nicht je nach dem Land verschiedene lateinische Namen hat. Der wasserlose Äthylalkohol heißt z. B. Alcool absolutus in Frankreich und England, Spiritus absolutus in Ungarn und Italien, Alcohol absolutus in Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Deutschland, in der Schweiz, in Ungarn, Holland, Norwegen und Schweden, absolutum in Großbritanien und Spanien, anhydrum in Spanien, dehydratum in USA,
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Spiritus alcoholisatus in der Schweiz. Die chemischen Stoffe haben in der Pharmazie andere Namen als in der Chemie selbst […]. (Wüster 1931 [1970], 256)
Ein solches Normungssystem muss auch offen sein für innerfachliche Weiterentwicklungen, wie sie z. B. an der Bedeutungsveränderung des Fachterminus Strom sichtbar werden: 1891 Die entgegengesetzte Bewegung und Vereinigung beider Electricitäten in einem Leiter oder die durch einen Leiter fließende Elektricität wird ein […] J elektrischer Strom genannt; 1920 elektrischer Strom [ist] der Ausgleich der Elektr. zweier auf verschiedenem Potential befindlicher Körper durch einen Leiter, was man sich früher als ein Strömen des elektr. Fluidums vorstellte; 1977 Als elektrischen Strom bezeichnen wir jede geordnete Bewegung von elektrischen Ladungen. (Unger 1980, 166)
Wissenschaft, Technik und Sprache sind untrennbar miteinander verbunden; Terminologienormung erleichtert Information und Dokumentation, Übersetzen und Dolmetschen sowie die Ausarbeitung von Wörterbüchern und Datenbanken, die Arbeitsmittel und Forschungsinstrument für Wissenschaft und Praxis sein können. Mit ihrer Hilfe kann Fachwissen effektiver strukturiert und in eine systematische Ordnung gebracht werden, die vielfältigere Zugriffe ermöglicht. Sprache ist aber nicht nur Medium organisierten Wissens, sondern auch Medium verschiedenster individueller Erfahrungen und eines individuellen Sachverständnisses. Damit verbunden ist eine starke Situationsgebundenheit, die in der Fach- und Wissenschaftskommunikation einer objektivierenden und im Extremfall formelhaften Darstellung weicht (Fluck 2011).
2 Zur sprachlichen Ausdifferenzierung naturwissenschaftlich-technischer Disziplinen Das 19. Jahrhundert ist geprägt durch eine zunehmende Industrialisierung und die industrielle Revolution. Fortschritte und Erfindungen in Naturwissenschaft und Technik führten nicht nur zu neuen Formen der Produktion, sondern auch zu neuen Fächern und Fachbereichen. Damit verbunden war die Ausdifferenzierung bereits vorhandener und die Herausbildung neuer Fach- und Wissenschaftssprachen. (Zum Begriff und zu den Strukturen der Fach- und Wissenschaftssprache siehe u. a. Drozd/ Seibicke [1973], Bungarten [1981], Fluck [1996], und Roelcke [1999]).
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2.1 Beispiele: Eisenbahn und Post Ein Beispiel für technischen Fortschritt ist die Entwicklung der Eisenbahn in Deutschland (seit 1835) und ihrer Sprache, die zunächst vom Mutterland der Eisenbahn (England) und dem Englischen geprägt war (z. B. rail, iron road, locomotive engine). Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden, mit Rückgriff auf die Gemeinsprache, aber zahlreiche deutsche Fachtermini geschaffen wie die Benennungen für den Bahnkörper mit Ober- und Unterbau, die bis heute gültig sind. Eine besonders wechselhafte Geschichte im Bereich des Wortschatzes hat die Schienenform durchlaufen. Sie begann bei der Flachschiene über die Kant-/hochkantige oder Vignoles-Schiene (engl. edge rail), […] in der Form eines umgekehrten T hin zur Hohl-/Bruch-/Brück(en)schiene (engl. bridgerail) in drei oder viereckiger Ausführung weiter zur Doppelkopfschiene hin zur heute noch verwendeten Breitkopf schiene. (Hums 2006, 59)
Neben der Umformung von deutschen gemeinsprachlichen Wörtern zu Fachwörtern griff man auch auf fremdsprachiges Wortgut und fremdsprachige Wortelemente zurück. Bei dem Personenverkehr der Eisenbahn waren dies z. B. französische Bezeichnungen wie Billet, Conducteur, Coupé oder Perron, die erst Anfang des 20. Jahrhunderts durch die sprachpuristischen Bemühungen des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins ersetzt wurden (zu Fahrkarte, Schaffner, Abteil, Bahnsteig). Resultat dieser generellen Entwicklung war eine Vervielfältigung der Texte und Textformen, die seit 1817 mit Hilfe der Rotationspresse verbreitet werden konnten. Sie transportierten die neuen Fachwörter und Fachbeschreibungen u. a. in die Aus- und Weiterbildungseinrichtungen, die mit starker Anwendungsorientierung in jener Zeit etabliert wurden (landwirtschaftliche und polytechnische Hochschulen, z. B. 1818 in Hohenheim und 1825 im Polytechnikum Karlsruhe). Technischen Fortschritt zeigt auch die Entwicklung der Post und ihrer Sprache. 1870 wird die Postkarte zugelassen, 1865 bereits die Postanweisung. 1876 umfaßt das Telegrafennetz in Deutschland 181 253 km Leitung. Über die 6 388 Büros werden in diesem Jahr 13 576 064 Telegramme übertragen. (Hahn 1983, 44)
Spezialentwicklungen wie die Bildpostkarte mit eingedrucktem Wertzeichen gibt es seit 1925. Sie wurde zu Werbezwecken, z. B. von Stadtverwaltungen, bei der Reichspost in Auftrag gegeben, durfte aber in der Stadt, für die sie werben sollte, nicht verkauft werden. Die jeweils ersten Bildpostkarten einer Serie wurden nur versuchsweise herausgegeben. War die Postsprache vom 17. Jahrhundert an stark vom Französischen geprägt, so hat man unter Generalpostmeister Heinrich Stephan ab 1874 760 Fremdwörter des Postwesens verdeutscht wie z. B. postlagernd für poste restante oder Ein schreiben für recommandé (Polenz 1978, 160). Etliche Fachbezeichnungen wie Bild
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postkarte oder Wertzeichen (statt: Briefmarke) haben sich in der Gemeinsprache aber nicht durchsetzen können.
2.2 Sprach- und Kommunikationsformen in Naturwissenschaft und Technik Mit der Herausbildung der neuzeitlichen Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert haben sich die tradierten Fach- und Wissenschaftssprachen gewandelt und neue Sprachund Kommunikationsformen entwickelt. Nach Pörksen (1986, 11 ff.) lassen sich in dieser Entwicklung folgende konstante Faktoren ausmachen: – die Organisation der naturwissenschaftlichen Lehre an den Universitäten, – die Anwendungsorientierung, – eine internationale Ausrichtung, – die schriftliche Überlieferung und Autorität der Überlieferung sowie – die kontinuierliche oder schubweise Entdeckung neuer Zusammenhänge und Gegenstände. Das Ideal dieser Entwicklung ist eine Darstellung naturwissenschaftlicher Sachverhalte, geprägt durch Sachbezogenheit, Systematik, Genauigkeit und Eindeutigkeit. Damit ergibt sich eine jeweils facheigene Sprache, die aber fächerübergreifend doch gemeinsame, teilweise universelle Merkmale aufweist: Die wissenschaftliche Mitteilung dient teilweise der Verständigung über Bekanntes und mindestens ebensosehr der Korrektur des Bekannten und der Verständigung über Unbekanntes. Das bedingt, schubweise oder allmählich, die Schaffung neuer Termini und die Verständigung über alte, die Umdeutung, Ersetzung, Erweiterung des vorhandenen Fachvokabulars. (Pörksen 1986, 13)
Ein solches Verständigungskonzept unterscheidet Fachsprache von Gemeinsprache besonders anhand der Lexik (Fachwortschätze), der grammatischen Strukturen (z. B. Nominalisierungen, Gebrauch von Funktionsverbgefügen, Passivformen) und der Verwendung bestimmter kommunikativer Mittel. Gemeinsamkeiten in der naturwissenschaftlich-technischen Fachsprache bestehen im 19. Jahrhundert in der Funktionalität des Sprachgebrauchs und in ihrer Orientierung an den klassischen Sprachen Latein und Griechisch, die heute teilweise durch die englische Sprache ergänzt werden. Verben wie z. B. messen oder sich zeigen und Substantive wie z. B. These oder Schlussfolgerung verweisen auf ein allgemeinwissenschaftliches Vokabular, dem sich nichtsprachliche Mittel wie Symbole, Zeichen oder Formeln hinzugesellen. Sie gehören zum Fundament der Naturwissenschaften und führen im wissenschaftlichtechnischen Bereich zu einer starken Formalisierung in der Darstellung von Sachverhalten bis hin zu speziellen Konstruktsprachen.
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Auffälligstes Merkmal der Fachsprachen in Naturwissenschaft und Technik insgesamt ist ihre spezielle Lexik mit oft terminologischem Charakter. Strukturell ebenso bedeutsam sind morphologische und syntaktische Eigenheiten: Für die Struktur technischer Fachsprachen typisch sind z. B. Differenzierungen bei Verben durch starke Präfigierung (entgraten, verholen, zerspanen usw.), Zusammensetzungen mit Partizipien und ungewöhnliche Bildungen wie Schnellwechselmeißelhalter, Außenfeinhonen oder Außen rund-Schnelleinstechschleifen sowie eine umfangreiche Fachmetaphorik (Schlitten, Kopf, Mantel, Schlüssel, Schnecke usw.). Bedeutsam sind ferner die Produktivität des -er -Suffixes (Brecher, Ionenaustauscher, Kranrüttler usw.), neue Pluralbildungen wie Sände, Stäube oder Milche, Bindestrichwörter vom Typ V-6-Zy linder, Substantivbildungen auf -e wie Dichte, Feuchte oder Räumte, Substantivierung von Infinitiven (Ausrüsten, Abdichten, Beschallen) und Adverbkomposita wie z. B. Frontlader, Kaltformer, Senkrechtstarter. Schließlich sind noch die auffälligen Verbalkomposita vom Typ drehbohren, streckziehen, wirbelsintern und die sogenannte technische Graduation zu nennen. Ihre Eigenart besteht darin, daß anstelle der alten Komparationssuffixe Steigerung – und damit Differenzierung – durch Zusammensetzung bewältigt wird: fest – hochfest – höchstfest – unfest – nichtfest. Im syntaktischen Bereich ist eine grundsätzliche Verbalität der technischen Aussage festzustellen, die mit der Häufung von Funktionsverben und starker Substantivierungstendenz verbunden ist. (Fluck 1977, 110)
Die Wortbildungsverfahren folgen dabei überlieferten Regeln, die häufig in den einzelnen Fächern konventionalisiert sind im Hinblick auf eine möglichst kontextautonome und eindeutige Fachkommunikation. Die strengste Form der Festlegung einer Bedeutung geschieht durch ein definitorisches Verfahren, indem das einzelne Wort einem bestimmten Begriff mit festem Inhalt und Umfang zugeordnet wird. Derartige Nominal- oder Feststellungsdefinitionen tragen im naturwissenschaftlichen und technischen Bereich erheblich dazu bei, dass Grundbegriffe mit einer Benennung versehen werden. Beispiele sind in der Elektrotechnik Strom, in der Physik Arbeit, Fluss und Zeit und in der Mathematik Zahl. Gelegentlich ist festzustellen, dass die Nutzung allgemeinsprachlicher Wörter in spezialisierter Bedeutung zu einer Polysemie von Fachbezeichnungen führt. Innerhalb der Physik ist Strom z. B. Fachwort der Mechanik, der Wärmelehre und der Elektrotechnik, dazu auch noch Fachwort der Geographie. Eine solche Polysemie wirkt sich aber kaum störend aus, denn bei Bedarf können in der fachlichen Kommunikation die einzelnen Bezeichnungen mit attributiven Erläuterungen oder Bestimmungshinweisen versehen werden (z. B. elektrischer Strom, dauernde Ströme, Gleichstrom, Wechselstrom). Die Definitionsverfahren Konjunktion (Vereinigung der Inhalte), Disjunktion (Umfangsvereinigung) und Integration (Bestandsverknüpfung/Bestandsvereinigung) werden nach Arntz u. a. (2004, 60 ff.) weniger häufig verwendet. Einen speziellen Status im Rahmen der Fachlexik besitzen die sogenannten Nomenklaturen wie sie z. B. in der Chemie, Medizin oder Zoologie genutzt werden. Sie sind gekennzeichnet durch Sachbezogenheit, Konventionalisierung und häufig auch
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durch Internationalisierung. Neben den international verbindlichen Nomenklaturen existieren in einzelnen Sprachen sogenannte Trivialnamen-Nomenklaturen wie z. B. für die deutschen Tier- und Pflanzennamen (Marzell 2000). Die definitorische Festlegung ist das Hauptverfahren, um vorhandene Lexeme der eigenen Sprache in den Fachwortschatz zu überführen und neue Fachwörter zu bilden; außerdem werden metaphorische Verfahren verwendet. Metaphern sind als selbständige Termini nur selten anzutreffen, doch spielen sie als Grundwörter in Zusammensetzungen und Mehrwortbenennungen eine wichtige Rolle (z. B. Geneti scher Fingerabdruck, Zwillingsstudie). In die Irre führen kann die Metaphorik z. B. bei den Bezeichnungen Faradayscher-Käfig (aus dem man elektrische Felder fernhält, also nicht hineinsperrt) oder Maxwell-Brücke (die keine Brücke ist, sondern zum Messen verlustbehafteter Induktivitäten dient). Fachleute verwenden eine insgesamt hohe Zahl an Abkürzungen, sei es als Buchstabierwörter oder als Lesewörter. Geschätzt werden an diesen Abkürzungen vor allem ihre Ausdrucksökonomie und zusätzlichen Verknüpfungsmöglichkeiten. Eine Besonderheit in den Naturwissenschaften bilden noch die Mehrwortbenennungen. Bei ihnen handelt es sich um syntaktische Verbindungen mit einer festen Bedeutung im jeweiligen Fach wie z. B. elektrisches Feld oder kinetische Energie. 1905 publizierte Albert Einstein in einem Aufsatz seine Lichtquantenhypothese und begründete in einem weiteren seine spezielle Relativitätstheorie. Propaganda für Einsteins Relativitätsprinzip im In- und Ausland machte Max Planck, der 1909 in New York acht Vorlesungen über theoretische Physik abhielt. Allein in diesem Bereich stieg die Anzahl der Lehrstühle von 1900 bis 1914 von drei auf 14 (Herrmann 2000, 213 ff.). Die im 19. Jahrhundert erworbene Weltgeltung der deutschen Sprache in Wissenschaft und Technik wurde dadurch gefestigt, Deutsch wurde in vielen Fächern erste Rezeptions- und Publikationssprache (Ammon 2000).
2.3 Fachsprache, Gemeinsprache und Bildungssprache in naturwissenschaftlich-technischer Perspektive Insgesamt wächst mit der Ausdifferenzierung und Verbreitung von Wissenschaft und Technik der Wortbestand und dringt dort, wo die neu ausgedrückten Sachverhalte bekannt und anwendbar werden, in die Gemeinsprache ein (z. B. Gaslaterne, Elekt rotechniker, Bahnsteigsperre). Auch syntaktisch macht sich der Einfluss von Wissenschaft und Technik in der Gemein- und Bildungssprache bemerkbar, etwa durch den Ausbau nominaler Wortgruppen und die zunehmende Verwendung von sogenannten Streckformen (Funktionsverbgefüge, z. B. eine Diagnose erstellen) (Fluck 1989). Eine Bildungssprache als Mittlerin zwischen Fach- und Alltagssprache übernimmt etliche der zuvor beschriebenen Strukturen und zeigt in Anlehnung an die Zuordnung entsprechender Sprachfähigkeiten bei Cummins (1986) folgende Merkmale:
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Tab. 1: Alltagssprache und Bildungssprache im Vergleich (nach Leisen 2014) Alltagssprache = BICS = Basic Interpersonal Communicative Skills
Bildungssprache = CALP = Cognitive Academic Language Proficiency
umfasst – „grundlegende Kommunikationsfähigkeiten“ – Sprachfähigkeiten in der Alltagskommunikation und im zwischenmenschlichen Bereich
umfasst – „schulbezogene kognitive Sprachkenntnisse“ – Sprachfähigkeiten in der Bildungssprache im kognitiv schulisch‐akademischen Bereich
Merkmale der Kommunikation im Alltag (BICS)
Merkmale der Kommunikation im Bildungs bereich (CALP)
– Meist einfache und unvollständige Sätze – viele Füllwörter – auch grammatikalische Fehler – zirkuläre Argumentation – oft Wiederholungen – oft Gedankensprünge – unpräziser Wortgebrauch
– komplexe und vollständige Sätze – keine Füllwörter – keine grammatikalischen Fehler – lineare Argumentation – wenig Wiederholungen – keine Gedankensprünge – präziser Wortgebrauch
Damit ermöglicht die Bildungssprache eine Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten und einen Umgang mit Fachwissen, der sich auf kognitiver Basis vollzieht und sich in einer Erweiterung der Sprachkompetenzen, z. B. Erweiterung des Vokabulars, niederschlägt. Wie diese Unterschiede der drei Register sich in einer konkreten Situation gestalten, zeigt ein Schaubild von Meyer/Prediger (2012):
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Abb. 2: Die Sprachregister Alltags-, Bildungs- und Fachsprache am Beispiel einer „Einkaufssituation“ (Meyer/Prediger 2012, 4)
In den verbalen Formulierungen verschwindet zunehmend der Kontext und die Handlungsabfolge, die Sätze werden kürzer, die Satzkonstruktionen dafür deutlich komplexer. Als Bildungssprache wird hier mit dem Schulministerium NRW die Schnittmenge der Unterrichtssprachen verstanden (= language across the curriculum, coginitive academic proficiency). In diesem Sinne ist Bildungssprache gleichsam das gemeinsame Fundament des fachunterrichtlichen Sprachgebrauchs. Der Aufbau bildungssprachlicher Kompetenzen und damit Sprachbildung ist auf das koordinierte Zusammenwirken aller Schulfächer angewiesen – natürlich unter Einbeziehung des Deutschunterrichts. Diese begriffliche Festlegung von „Bildungssprache“ hat im Übrigen den Vorteil, dass sich hier auch Bezüge zur außerschulischen Lebenswirklichkeit herstellen lassen. Jürgen Habermas (1977) bezieht „Bildungssprache“ auf sprachliche Kompetenzen, die für den Alltag und die gesellschaftliche und politische Partizipationsfähigkeit unerlässlich sind, da mit ihrer Hilfe komplexe und kognitiv anspruchsvolle Sinnzusammenhänge sprachlich und kognitiv durchdrungen und Informationen verarbeitet werden können. In diesem Sinne verweist der Begriff „Bildungssprache“ auf die sprachlichen Voraussetzungen für die Teilhabe an einer demokratisch organisierten Gesellschaft. (Ministerium NRW 2014a)
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Ziel der Beschäftigung mit Naturwissenschaften und Technik ist es letztlich – früher wie heute – bei den Lernenden jene Kompetenzen zu entwickeln, […] die das Verstehen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse als Basis für ein aufgeklärtes Weltbild ermöglichen und in Folge dessen gesellschaftliche Teilhabe unterstützen sollen. (Ministerium NRW 2014b)
Sprache fungiert dabei als Mittel der Erkenntnis und Bewertung in einer naturwissenschaftlichen Grundbildung und diskursiver Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten. Diese Bildungssprache ermöglicht im Endergebnis, dass eigene Konzepte, Wahrnehmungen, Einsichten oder Interessen in angemessener Weise dargestellt werden können.
3 Der Einzug von Naturwissenschaft und Technik in den Unterricht an Schulen und Universitäten (Schwerpunkt 20. Jahrhundert) Die Forderung, Wissenschaft, Technik und ihre Fragestellungen verstärkt im Unterricht an Schulen und Hochschulen zu berücksichtigen, gibt es seit langer Zeit. Es dauerte aber Jahrzehnte, bis Auseinandersetzungen mit fachsprachlicher Problematik zum ‚unverzichtbaren‘ Lernziel erklärt und eine entsprechende Didaktik entwickelt wurde. Themenspezifische Materialien wurden dazu nur vereinzelt vorgelegt und verbreiteten sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Thematik der Sprache im Fach und im Fachunterricht wurde in der jüngsten Zeit unter den Stichworten sprachsensibler Fachunterricht und Bildungssprache wieder aufgegriffen (Leisen 2013; Becker-Mrotzek u. a. 2013) und die Auseinandersetzung damit intensiviert.
3.1 Naturwissenschaftliche Schulfächer, z. B. Biologie und Physik Im Schulbereich wurde die Hinführung zu wissenschaftlichen Fachsprachen seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend thematisiert. Das beginnt mit der Darstellung von Möglichkeiten der Begriffsbildung, den terminologischen Grundlagen einzelner Schulfächer und der für sie typischen Sprechweise und zielt auf eine Verwissenschaftlichung der Unterrichtsinhalte mit Blick auf spätere Berufs- und Universitätsausbildung. In diesem Zusammenhang ist der Einsatz von Fachtexten verbreitet, an denen auf den Ebenen Wort, Satz und Text spezifische Merkmale fachlicher und wissenschaftlicher Kommunikation herausgearbeitet werden können.
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Der Bedarf an fachsprachlicher Unterweisung im Hinblick auf die Sprachkomplexität und den Umgang mit fachbezogenen Texten ist abgestuft, abhängig von Adressaten, Ausbildungsinstitutionen und inhaltlicher Spezialisierung der Kommunikation. Geht es z. B. für den Primarschüler im muttersprachlichen Biologieunterricht um Erkenntnisprozesse aufgrund direkt erfahrbarer fachlicher und (fach-)sprachlicher Zusammenhänge im Umgang mit der Natur, so geht es für den Biologiestudenten im Hauptstudium um die Koordination von Sprache, Handlung, Bedeutung und Wissen bei der Verarbeitung von Fachinformationen und beim Aufbau komplexer Wissensstrukturen. Erwartet wird aber auf allen Ausbildungsstufen, zumindest beim Benennen von Gegenständen und Sachverhalten, ein angemessener Fachsprachengebrauch bis hin zur Terminologiesicherheit. Auch im Kontext beruflichen Lernens ist die Kenntnis von Fachwortschätzen und funktionalen Sprachtätigkeiten wie Erklären oder Beschreiben für den Ausbildungserfolg und die spätere Berufstätigkeit relevant. In den Sachfächern ist Fachsprache nicht Unterrichtssprache oder eigenständiges Lernziel, sondern Bestandteil von Unterrichtssprache mit Blick auf den Erwerb von Fachkompetenz und die damit verbundene Fähigkeit zur Kommunikation über fachliche Sachverhalte und Zusammenhänge im Rahmen der Bildungssprache (Pfeifer u. a. 1997). Insofern darf in den Sachfächern der enge Zusammenhang zwischen Denken, Handeln und Sprechen nicht übersehen werden und Fachsprache z. B. nicht vokabularmäßig vermittelt werden. Vielmehr wird ein wirkungsvoller Sach-/ Fachunterricht die Integration sprachlicher Aspekte so gestalten, dass er der Konzeption eines adressaten-, handlungs- und mehrperspektivisch angelegten Unterrichts entspricht und die Beziehung zwischen fachlichem und sprachlichem Wissen und Können angemessen gestaltet. Im Unterricht über Naturwissenschaft und Technik besitzen Begriffsbildung und Begriffsvermittlung einen besonderen Stellenwert, der sich oft in einem eigenen Lernziel ausdrückt. Beschreibungsbeispiele bieten die Physik- und Biologiedidaktik, wo im Laufe der Zeit mehrere Konzepte entwickelt worden sind, um Unterschiede zwischen einer gemeinsprachlichen und wissenschaftlichen Beschreibung identischer Sachverhalte zu verdeutlichen und Kenntnisse und Fähigkeiten zu fachlichem Handeln und Sprechen zu vermitteln (z. B. Tajmel 2009, 2011). Martin Wagenschein hat am Beispiel der Physik wiederholt darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig es ist, dass Laien Zugang zu den Naturwissenschaften erhalten und sich richtige Vorstellungen alltäglicher Naturerscheinungen machen können. Die Sprache der Physik aber behindert diesen Zugang. Deshalb setzt Wagenschein bei der physikalischen Begriffsbildung an, für die er im Schulbereich zwei Wege angibt: 1. mit Kindern sprechen, besser noch ihnen zuhören, 2. in den Originalberichten lesen jener alten – in Wahrheit jungen – Genies [der Physik]. (Wagenschein 1972, 78)
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Das führt ihn zur Empfehlung animistischen Sprechens und Denkens während des Verstehensprozesses. Er führt von der Alltags- und Muttersprache als Sprache grundlegenden Verstehens zu einer Fachsprache des Verstandenen. Wenn das gelingt, so Wagenschein, […] eröffnet sich auch dem Laien der anziehende und machtvolle Aspekt der Naturwissenschaft. Ihr Natur-Bild erscheint ihm dann nicht mehr als eine denaturierende Naturlehre, die Welt und Worte zu entlauben scheinen. (Wagenschein 1972, 84)
J. Leisen (2014) illustriert diese Überlegungen, in welcher Sprache gelernt werden soll und wie es mit der Exaktheit der Begriffe zu halten ist, an einem mehrfach aufgegriffenen Vergleichsbeispiel aus dem Physikunterricht der Klassenstufe 8: Schüler: „Am Flaschenzug macht [sic] ich es so: Ich zähle die Seilstücke rechts und links von der losen Rolle und teile das Gewicht durch diese Zahl. Das ist dann die Zugkraft am Flaschenzug.“ Schulbuch: „Hängt beim Flaschenzug die Last an n tragenden Seilabschnitten, so ist die am Seilende erforderliche Zugkraft F gleich dem n‐ten Teil der Gewichtskraft der Last“ Zweifelsfrei hat der Schüler eine richtige Vorstellung von der Flaschenzugregel. Er hat sie operational formuliert im Sinne einer Handlungsanweisung. Das Schulbuch formuliert sie hingegen deskriptiv [u]m. Das Beispiel zeigt die Theoriegeladenheit der Begriffe. Begriffe sind theoriegeladen, d. h. sind in ein Netz theoretischer Zusammenhänge gebunden. Sprache wird immer in einem situativen Kontext handelnd genutzt und handelnd gelernt. Damit ist das Lernen von Begriffen ist immer ein Lernen von Begriffsnetzen im Kontext. Das bestätigt erneut die These, dass Sprachlernen und Fachlernen untrennbar miteinander verbunden sind. Lerner im Fachunterricht sind als Novizen Erstlerner im Fach, d. h. die Begriffsbildung findet erst statt. Sprechen und Denken (Vorstellungen bilden) gehen Hand in Hand. „Kein Begriff, keine Aussage kann präziser verstanden werden, als es die individuelle Denkstruktur zulässt.“ (Muckenfuß) Die Denkstruktur des Schülers ist demnach sprachlimitierend. Damit ist auch die Frage nach der Exaktheit der Begriffe aufgeworfen. Exakte Begriffe von Anfang an, oder ein „allmähliches Ausschärfen der Begriffe“ beim Verfassen der Gedanken. Die Antwort liegt in der Erkenntnis, dass exakte Begriffe nicht für das Verstehen taugen, sondern für das Verstandene. Das Lernen und Verstehen brauchen die Plastizität und die Vagheit der Alltags‐ und Unterrichtssprache. Das Lernen braucht den Diskurs. (Leisen 2014, 3 f.)
Wie ein solcher kommunikativ und diskursiv gestalteter Unterricht aussehen kann, wurde von Leisen und anderen mehrfach beschrieben. Entscheidend dabei ist es, die Lerner in fachlich authentische, von ihnen aber sprachlich zu meisternde Situationen zu bringen. Bedeutsam in diesem Konzept ist demnach, dass eine Anknüpfung der Begriffsbildung an die Lebens- und Erfahrungswelt der Lernenden vorgenommen wird und adressatengerechte Möglichkeiten zu einer selbständigen Aneignung von Begriffen geschaffen werden. Nach Winter gilt dabei folgende Leitlinie:
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Begriffe können nicht eingeführt werden (höchstens Sprechweisen), vielmehr muß der Schüler die Begriffe durch eigene Aktivität selbst bilden (nachentdecken, nacherfinden). Begriffserwerb ist ein kreativer Prozeß, und die unterrichtlichen Vorkehrungen müssen darauf gerichtet sein, diesen Prozeß zu begünstigen (Winter 1983, 35).
In der fachdidaktischen Praxis wurde und wird allerdings dieses umfassende Konzept eher selten verwirklicht (vgl. z. B. für den Grundschulbereich Hilfrich/Switalla 1977), da in der Ausbildung der Lehrkräfte die fachsprachliche Vermittlungsproblematik häufig entweder gar nicht oder nur am Rande thematisiert wird. Dem entspricht, dass die didaktische Literatur der Sachfächer beim Thema ‚Vermittlung von fachlichen Denk- und Sprachsystemen‘ sich lange Zeit auf Begriffslernen und -lehren konzentrierte (Fluck 1992, 35 ff.). Dabei wird das Verfügen über Begriffsbezeichnung zum Indiz, inwieweit Lehr-/Lernprozesse erfolgreich verlaufen sind, wie das folgende Beispiel zeigt: 1) 2) 3) 4)
Was bedeutet elektrische Ladung? Erkläre und beschreibe möglichst genau! Was bedeutet elektrische Spannung? Erkläre und beschreibe möglichst genau! Was bedeutet elektrische Stromstärke? Erkläre und beschreibe möglichst genau! Es sollen die Spannung und die elektrische Stromstärke einer Glühlampe, die mit einer Stromquelle verbunden ist, gemessen werden. a) Wie heißen die benötigten Messgeräte? Antworte im ganzen Satz! b) Zeichne eine Schaltskizze für die Messung! (Physiktest Stufe 9, Grundkurs, Gesamtschule NRW 2013)
Neuere Bildungsstandards für Physik (KMK 2004) gehen diesen Weg weiter und fordern z. B. von den Schülerinnen und Schülern, dass sie zwischen alltagssprachlicher und fachsprachlicher Beschreibung von Sachverhalten unterscheiden und bei der Textproduktion und -rezeption Fachtexte erfassen und sich bei der eigenen Textproduktion bildungssprachlich ausdrücken können (Tajmel 2012; Kulgemeyer/ Schecker 2013). Diese Didaktisierung läuft unter dem Begriff sprachsensibler Fach unterricht, der ausdrücklich eine Hinführung zur Bildungssprache als Ziel vorgibt. Fachunterricht hat also die Lernenden auch in die Bildungssprache einzuführen und ihnen für die spätere Lebenswirklichkeit eine bildungssprachliche Grundkompetenz zu vermitteln. In den Schulcurricula verschiedener Fächer ist diese Tendenz einer Verbindung von Schule und Wissenschaft bzw. wissenschaftlicher Fachsprache seit langem vorhanden und besteht bis in die Gegenwart, wie zwei Beispiele aus Nordrhein-Westfalen und Berlin zeigen können. Das erste Beispiel stammt aus einem älteren Kursbaustein zur Fachkommunikation im Schulcurriculum Deutsch der Jahrgangsstufe 11 des Hittorf-Gymnasium Recklinghausen (Abb. 3). Das zweite Beispiel steht im Rahmenlehrplan Physik für die Sekundarstufe I in Berlin (2006, 21) unter „3.3. Erkenntnisgewinnung – beide Doppeljahrgangsstufen (7./8.)“ (Abb. 4).
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Sprechen und Schreiben
Umgang mit Texten: Epochen, Gattungen
Reflexion über Sprache
Methoden
– mündliche Präsentation von Arbeitsergebnissen
– längere Sachtexte zu Aspekten des Sprachwandels, der Soziolinguistik, der Sprachtheorie
– Alltagssprache, Fachsprache, Wissenschaftssprache
– Arbeit an Begriffen
– Problemstellung erörtern – Sachverhalte geordnet darlegen – Vorbereitung der Facharbeit
– Begriff, Metapher, sprachliches Bild – das Sprachproblem der Popularisierung fachwissenschaftl. Erkenntnisse
– Unterscheidung von Wertung und Beschreibung – fachübergreifendes Arbeiten
Abb. 3: Kursbaustein zur Fachkommunikation im Schulcurriculum Deutsch, Jahrgangsstufe 11
Die Schülerinnen und Schüler … nehmen bewusst Naturphänomene wahr, beschreiben die Phänomene sachgerecht und entwickeln Fragestellungen für den weiteren Erkenntnisprozess. Sie gebrauchen dabei die Fachsprache angemessen. unterscheiden bei naturwissenschaftlichen Aussagen zwischen Beobachtungen, Vermutungen und Bewertungen beschreiben physikalische Phänomene und führen sie auf bekannte Zusammenhänge zurück. unterscheiden zwischen alltagssprachlicher und fachsprachlicher Beschreibung von physikalischen Phänomenen,
leiten ihnen unbekannte physikalische Zusammenhänge und Gesetze aus bekannten her.
verwenden physikalische Begriffe, Größen und ihre Einheiten angemessen. Abb. 4: Sprachanforderungen im Schulcurriculum Sekundarstufe I, Physik. Berlin (2006)
Die von Tajmel (2012) markierten Stellen zeigen, wo im naturwissenschaftlich-technischen Fachunterricht sprachliche Fähigkeiten und fach- bzw. bildungssprachlicher Gebrauch verlangt werden oder eine Rolle spielen. Damit wird einmal mehr deutlich, dass sprachliche Fähigkeiten und Voraussetzungen für das inhaltliche Lernen einen wesentlichen Bestandteil im Lehr-/Lernprozess bilden. Doch Tajmel bleibt nicht bei dieser schon länger bekannten Feststellung stehen, sondern sie gibt auch an diversen Beispielen Hinweise, wie die jeweils relevanten ‚allgemeinen‘ Sprachhandlungen in die facheigene Perspektive der Physik umzusetzen sind.
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3.2 Schulfach: Deutsch Fachsprache, einschließlich Wissenschafts- und Techniksprachen, ist erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts etablierter Gegenstand des Deutschunterrichts. Er wird, auf unterschiedlicher Reflexionsebene und mit unterschiedlicher Zielsetzung, vor allem in den Sprachlehrbüchern der Klassen 6 bis 13 berücksichtigt. In den 1950er und 1960er Jahren beschränkte sich die Beschäftigung mit Fachsprachen noch vorwiegend darauf, aus vorgegebenen Texten Fachwörter zusammenzustellen, ihre sprachliche Geschichte zu klären und innerhalb des Sprachsystems zu reflektieren. In den 1970er Jahren wandelte sich die Behandlung von Fachsprachen durch die Hereinnahme des Kommunikationsbegriffes in den Deutschunterricht – zum Teil – entscheidend: anstelle historiolinguistischer und nur systeminterner Betrachtung fachsprachlicher Elemente und Strukturen, ging es nun bei der Auseinandersetzung mit Fachsprachen darum, Einblick in die Bedingungen und Wirkungen – situative, soziale und funktionale – von sachgebundenen Kommunikationsprozessen zu geben und die Schüler zu einem kommunikationsgerechten Sprachhandeln anzuleiten. Die Schüler sollten nun u. a. zur selbständigen Erschließung ihnen fremder Fachgebiete befähigt werden (Textrezeption), sich situations und adressatengerecht verhalten können (Textproduktion) und die Konstellation Fachmann/Laie als Konfliktsituation erkennen und überwinden können (Reflexion über Sprache, Sprachhandeln). Denn in der Opposition Fachsprache – Gemeinsprache manifestiert sich unter verschiedenen Kommunikationspartnern ein ungleiches Sprachverhalten, dessen Gründe es einzusehen und das es auszugleichen gilt, durch Erweiterung der sprachlichen Kompetenz des Einzelnen und gezielte Beeinflussung seiner sprachlichen Sozialisation (Fluck 1977; 1989). Diese Bedeutung einer stärkeren Verwissenschaftlichung und Technisierung der Welt wurde auch in den Richtlinien für den Deutschunterricht aller Schulen berücksichtigt, in denen seit etwa 1960/70 eine Tendenz zur stärkeren Einbeziehung der Fachsprachen festzustellen ist. So sollten z. B. die Schüler im Bundesland Hessen diesen Komplex behandeln und an ihm lernen, […] daß Fachsprache einerseits Kommunikation vereinfacht, indem sie Sachverhalte präzisiert, Einzelheiten bestimmten eingegrenzten Sachverhalten subsumiert, formalisierte und notwendig vereinfachte Beziehungen herstellt und innerhalb bestimmter Kommunikationsbereiche auf Erklärungen und Ableitungen verzichten kann; daß sie andererseits Kommunikation zerstört, indem sie Gesprächsteilnehmer ausschließt und über die ‚Autorität der Sache‘ Herrschaft ausüben kann. (Hessische Rahmenrichtlinien, 15 f.)
Eine ähnliche Ausrichtung zeigten die Richtlinien des Landes Nordrhein-Westfalen, die für beide Sekundarstufen Technik- und Wissenschaftssprache als Lerninhalte vorsahen:
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Erste Einsichten in die Hintergründe sprachlicher Kommunikation gewinnen (Manipulation durch Sprache, Aufklärung durch Sprache, Gefahr der Rollenkonformität, Verfremdung durch Sprache, Sprache als Material, soziale Bedeutung restringierten Sprachverhaltens, Bedeutung der Sub und Fachsprachen) (Kultusministerium NRW – Deutsch, 17) Der Schüler lernt, wie u. a. durch das Mittel der Reduktion und durch Neologismen standardisierte Wissenschaftssprache entsteht. Er lernt Notwendigkeit und Problematik dieser Standardisierung der Sprache z. B. im Bereich der Naturwissenschaften und der Technik kennen. (Kultusministerium NRW – Schulreform NW, 6)
Direkt thematisiert wurden Fachsprachen im Bereich Reflexion über Sprache mit ähnlichen Argumenten und Formulierungen: Die Lebenswelt entwickelter Industriegesellschaften im Informationszeitalter stellt hohe Anforderungen an Sprachvermögen und Medienkompetenz. Die Einsicht in System und Funktion von Sprache und die Reflexion über Mittel und Möglichkeiten der Kommunikation sind geeignet, die kommunikative Handlungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf Studium und Beruf zu erweitern und ihre Chancen auf kulturelle Teilhabe zu mehren. Über die Fächergrenzen hinaus entwickelt Sprachreflexion das Verständnis für Zusammenhänge von Denken und sprechen. […] Aber auch die Unterschiede zwischen den wissenschaftlichen Fachsprachen und der Gemeinsprache mit ihren verschiedenen Schichten und Sonderformen sind Gegenstände, über die im Unterricht der gymnasialen Oberstufe immer neu nachzudenken ist. (Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 2000, 21–22)
Die ersten Impulse zu einer stärkeren Hinwendung des Deutschunterrichts zu technolinguistischen Fragen gingen jedoch von den Handelshochschulen in den 1930er Jahren aus. Wissenschaft und Technik als Bildungsaufgabe der Schule, insbesondere die Auseinandersetzung mit Technik im Deutschunterricht, wurde indes erst 1962 zum Programm erhoben. In diesem Jahr begründete W. Höllerer die Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“. Als besonders schwerwiegendes Problem dabei sah Robert Ulshöfer, damals Herausgeber der Zeitschrift „Der Deutschunterricht“, die mangelnde Sachkompetenz des Deutschlehrers (von Deutschlehrerinnen wurde zu jener Zeit noch nicht gesprochen). Er schlug daher einen fächerübergreifenden Unterricht vor: Der Deutschlehrer ist nicht Techniker, nicht Soziologe, nicht Politiker. Er kann sich nicht in das weite Gebiet der Technik, der Soziologie und der modernen Industriegesellschaft so einarbeiten, daß er entsprechende Texte mit seinen Schülern inhaltlich erarbeiten könnte. […] Da drängt sich der Gedanke der Zusammenarbeit des Deutschunterrichts mit den Fächern Physik, Chemie, Biologie und Gemeinschaftskunde auf. Die ‚Sachfächer‘ führen in die Sache ein, die sprachliche und literarische Analyse der Texte übernimmt der Deutschunterricht. (Ulshöfer 1965, 8;10)
Eine erste praxisorientierte Auseinandersetzung mit dem Thema auf fachdidaktischer Grundlage versuchte dann C. Siefer (1969), der einen Unterrichtsentwurf zur Sprache der Naturwissenschaft und der Technik in einer 10. Klasse vorstellte. Siefer beschäftigte sich vornehmlich mit lexikalisch-terminologischen Fragen (einschließlich der
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Sprachnormung) wie Wortbildung, Abkürzung, Fremdwort usw., lenkte den Blick der Lerner aber auch auf das Verhältnis von Literatur und Technik und vermittelte in fächerübergreifendem Unterricht zudem Einblicke in die naturwissenschaftlichen Sprachen von Chemie und Biologie. Mit dieser Konzeption wollte der Autor einerseits „‚fundamentale‘ Erscheinungen in den technischen und wissenschaftlichen Fachsprachen an exemplarischen Fällen erarbeiten“, andererseits die Wirksamkeit der Sprache in Naturwissenschaft und Technik als „weltaufschließende und ordnungsstiftende Kraft darlegen“ (Siefer 1969, 57). Als übergeordnetes Lernziel galt in dieser Zeit, Einblick in die situativen, sozialen und funktionalen Bedingungen und Wirkungen sachgebundener Kommunikationsprozesse zu vermitteln und die Lernenden zu einem kommunikationsgerechten Sprachhandeln anzuleiten. Zu diesen Zielen sind in jüngster Zeit neue, stärker auf Mündigkeit und Kommunikation ausgerichtete Lernziele bei der Beschäftigung mit wissenschaftlich-technischen Fachsprachen getreten (Fluck 1992, 64 ff.; Lütke 2013). Sie resultieren aus Erkenntnissen der Soziolinguistik und Kommunikationstheorie und rücken die Probleme von Sprachbarrieren, Sprachmanipulation und fachintegrativer Sprachförderung in das didaktische Zentrum. In unterrichtsbezogener Literatur erscheinen solche Zielsetzungen erstmals im Vorwort der 1973 veröffentlichten „Arbeitsmaterialien Deutsch, Formen fachspezifischer Prosa I“, im Anschluss an generelle Ausführungen zur Legitimation von Sachund Fachtexten im Deutschunterricht: Naturwissenschaften, Mathematik und Technik bestimmen nicht nur unsere Lebensforrnen weithin, sie nehmen auch in steigendem Maße Einfluß auf unsere Sprache. Betrachtet man die Gesamtheit der Kommunikationsvorgänge in unserer Gesellschaft, so bemerkt man den beträchtlichen Anteil der besonderen sprachlichen Formen, die sich in den Bereichen der Technik und der Naturwissenschaften gebildet haben. Ihr Einfluß auf die Sprache der Literatur und der Allgemeinsprache ist überall zu beobachten. Ein Ziel des Deutschunterrichts sollte es daher auch sein, Erkenntnisse über Entstehungsweisen, Wesensmerkmale und Funktionen der betreffenden Fachsprachen zu vermitteln. Nicht zuletzt kann die Einübung des Sprachverständnisses an naturwissenschaftlichen Texten auch die Kritikfähigkeit schärfen gegenüber einer wissenschaftlich absolut auftretenden pseudowissenschaftlichen Sprache, die – auf das allgemeine Ansehen der Wissenschaften gestützt – deren Sprache zur Verschleierung oder Verführung mißbraucht, sei es in der kommerziellen Werbung oder in der Politik. (Baumhauer u. a. 1973, 3)
Neben Möglichkeiten der Reflexion über Sprache und der Sprachkritik bieten die von einer Autorengruppe vorgelegten Fachtexte auch sprachpraktische, auf zukünftiges Lernen zielende Möglichkeiten: […] am originalen Gegenstand exemplarisch Methoden der Texterarbeitung zu entwickeln und zu üben, wie sie jeder Student braucht: von orientierendem Lesen, intensivem Lesen, Strategien des Fragens zur Erschließung von Texten, Frageverhalten überhaupt, über Zusammenfassung, Exzerpieren, Anlegen von Karteikarten, Benutzen von Nachschlagewerken, Arbeiten mit Litera-
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turangaben, Zitieren, Verbalisieren von Diagrammen, Schreiben und Halten von Referaten bis zum Anfertigen von Vorlesungsmitschriften. (Baumhauer u. a. 1973, 4)
Fachsprachen sind Wissensspeicher, Informationsmedium und Mittel der Erkenntnis. Teilhabe an Fach- und Wissenschaftssprachen ist Notwendigkeit im Rahmen von Berufs- und Studienausbildung, gesellschaftlicher Partizipation sowie im praktischen Leben. In diesem Sinne bedeutete die Beschäftigung mit den Sprachen von Wissenschaft und Technik in der Schule einen Schritt hin auf die zur Ausübung von Demokratie unerlässliche, bisher jedoch noch ausstehende Demokratisierung des Wissens, einen Schritt hin auch zur Verwirklichung jener Emanzipation, wie sie z. B. in den bereits genannten Deutsch-Empfehlungen gefordert wird. Schließlich kann eine Auseinandersetzung mit Technik und technischer Sprache (Ischreyt 1965) auch jene Kluft zwischen literarischer und naturwissenschaftlicher Intelligenz, die Charles Percy Snow (1967) in seiner These von den ‚zwei Kulturen‘ darstellte, überbrücken helfen. Im Rahmen des Einbezugs von Technolekten in den Deutschunterricht führt Franz Hebel (1989) in der Einleitung zu Heft 5 der Zeitschrift „Der Deutschunterricht“ mit dem thematischen Titel „Technik in Sprache und Literatur“ folgende Ziele an: 1. Den Blick dafür öffnen, daß Technik in der Kultur einer Gesellschaft entwickelt wird und nicht für sich. 2. Verständnis aufbauen für den Unterschied zwischen technischer Entwicklung und ihrem Gebrauch. 3. Das Bewußtsein wecken für die Differenz zwischen dem Machbaren und dem Verantwortbaren. 4. Den Unterschied zwischen technischen und anderen Denkweisen erkennen lernen. 5. Lernen, daß Technik nicht nur eine Sache von Männern ist. (Hebel 1989, 4)
Damit verdeutlicht er mit Nachdruck, dass auch der Deutschunterricht zu einer vorurteilslosen Betrachtung von Naturwissenschaften und Technik und der Beschäftigung mit ihr Wesentliches beitragen muss und auch kann. Welche Möglichkeiten und Perspektiven sich dabei ergeben, zeigt nicht nur dieses Themenheft, sondern z. B. auch der Band „Technik in Sprache und Literatur“ (1994), in dem aus literatur- und sprachwissenschaftlicher sowie aus deutschdidaktischer Sicht weitere Beiträge zu diesem Thema versammelt sind (Hoberg 1994).
3.3 Hochschulen und Sprachbildung Wissenschaftssprachen werden an deutschen Hochschulen gewöhnlich nicht in speziellen Einführungskursen gelehrt, sondern sie errreichen die Studierenden über allgemeine Lehrveranstaltungen der Fächer und das wissenschaftliche Schrifttum, vor allem durch einführende Lehrwerke. Eine Ausnahme bildet das Fach Medizin, in dem
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Terminologiekurse zum festen Bestand der Ausbildung gehören. Es ist sonst jedem Fach überlassen, wie wissenschaftliche Denk- und Sprechweisen behandelt und in die Lehre speziell einbezogen werden. Denn entsprechend den jeweiligen Fachsituationen sind ganz unterschiedliche Voraussetzungen anzutreffen. Sie betreffen das Maß der Standardisierung, die Bevorzugung bestimmter Kommunikationstypen oder den Rückgriff auf bestimmte sprachliche Bildungsmuster. Darüber hinaus gibt es lexikalische und syntaktische Universalia, von denen die allgemeine Wissenschaftssprache bestimmt wird. Dazu gehören etwa syntaktische Komprimierungen, Kommunikationsverfahren wie Definieren oder Referieren, Unpersönlichkeit von Aussagen sowie bestimmte Verfahren der Begriffsbildung. Letztendlich ist es jedoch jedem Einzelnen überlassen, wie er konkret die im wissenschaftlichen Sprachgebrauch erwünschte Eindeutigkeit, Sachlichkeit, Folgerichtigkeit und Verständlichkeit, aber auch Lehrbarkeit erzielt. Damit einher geht ein universitärer Fremdsprachenunterricht, der in den Ingenieur- und Naturwissenschaften die Fähigkeit vermitteln soll, wissenschaftliche Erkenntnisse international zu präsentieren und zu diskutieren. Kurse mit Bezeichnungen wie „Technisches Englisch“ oder „Englisch für Mediziner“, wie sie an fast jeder deutschsprachigen Hochschule angeboten werden, sind dafür Beispiele. Für das Ausland wurden schon seit dem 19. Jahrhundert Kurse für wissenschaftliches Deutsch konzipiert, im Zusammenhang mit der Einrichtung von deutschsprachigen Hochschulen, z.B in China. Fach- und wissenschaftsbezogenes Deutschlernen beginnt dort durch den Wirtschafts- und Kulturimperialismus des Deutschen Kaiserreiches, der zwischen 1907 und 1912 zur Einrichtung von deutschsprachigen Lehrwerkstätten, polytechnischen Mittelschulen und zur Gründung technisch-medizinischer Hochschulen führte, u. a. in Wuhan, Guangzhou, Qingdao, Shanghai und Hangzhou. Da China zu jener Zeit selbst noch kaum naturwissenschaftlich-technische Fachsprachen kannte und auch keine entsprechende Fachliteratur vorhanden war, erwies sich dieser sprachliche Vermittlungsprozess als besonders schwierig und rief immer wieder Verständigungs- und Lehr-/Lernprobleme im Unterricht hervor. Diese Situation besserte sich bis 1945 nur allmählich und hauptsächlich dadurch, dass etliche der zwischen 1910 und 1940 in Deutschland studierenden Chinesen nach ihrer Rückkehr an deutsch-chinesischen Institutionen als Fachdozenten und Dolmetscher eingesetzt werden konnten (Fluck 2004). Dennoch beeindruckte das deutsche Ausbildungsmodell mit der Verknüpfung von Technologietransfer, Wissenschaftsaustausch und (fachorientierter) Sprachvermittlung die chinesische Regierung und bildete ein erwünschtes Gegengewicht zu den naturwissenschaftlich-technischen Ausbildungsgängen englisch-amerikanisch geprägter Bildungsinstitutionen. Und bis heute sind solche studienvorbereitenden und studienbegleitenden Kombinationen von Fach- und Sprachkursen in vielen Teilen der Welt anzutreffen, z. B. am deutsch-chinesischen Hochschulkolleg (CDHK) Shanghai, an der German-Jordanian University (GJU) in Amman oder der deutschmongolischen Hochschule für Rohstoffe und Technologie (DMHT) in Ulan Bator.
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Dazu wurde im Lauf der Zeit eine Fülle von einschlägigen Lehrwerken erarbeitet und produziert, die für spezielle Adressaten oder auch fach- und sprachübergreifend konzipiert sind. Im Idealfall findet dabei eine inhaltliche Differenzierung nach Lernziel, Lernstufe, Zusammensetzung der Lerner, Ausgangssprache und Ausgangskultur und weiteren Kriterien statt. Beispiele für solche Lehrwerke sind etwa Schade (1969), Buhlmann/Fearns (1981 ff.), Kalverkämper u. a. (1988–1993) und zuletzt Graefen/Moll (2011). Dazu gibt es Einführungen wie Fluck u. a. (1997). In den letzten Jahren wurde dieses Lehrmaterialien-Spektrum durch Online-Angebote ergänzt, wie z. B. Deutsch-Uni Online“ (DUO) mit Angeboten u. a. zur Fach- und Wissenschaftssprache Technik, Medizin und Biologie (www.deutsch-uni.com [2.1.2014]). Diese Tendenz führte insgesamt zu veränderten und auch neuen Unterrichtskonzeptionen wie z. B. – in die Fachstudien integrierter und praxisorientierter Fremdsprachenunterricht, – Einrichtung von Kombinationsstudiengängen Sachfach/Sprache, – Verzahnung von Fachstudium, Sprachpraktikum und Auslandspraktika/-studien. Solche Ausbildungsmodelle wurden zum Teil bereits erfolgreich innerhalb und außerhalb Europas erprobt und eingeführt, genannt sei z. B. der Diplomteilstudiengang „Fachdeutsch Technik“ am Sprachenzentrum der Zhejiang-Universität Hang zhou (VR China) (Steinmetz 2000).
4 Ausblick – Bildungssprachliche Kompetenzen Immer geht es bei bildungssprachlichen Konzepten um die Entwicklung einer fachkommunikativen und wissenschaftsbezogenen Kompetenz, die zum Erwerb anwendungsorientierter sprachlicher Fertigkeiten führt. Hier ist eine Verlagerung vom terminologiezentrierten Lehren/Lernen früherer Zeiten zum textorientierten Lehren/ Lernen, das auf möglichst authentischen Texten beruht, festzustellen. Dabei werden in erster Linie folgende Fähigkeiten, einzeln oder als Gesamtheit, entwickelt: – die Fähigkeit zur Rezeption und Verarbeitung fachbezogener Literatur, – die Fähigkeit zur selbständigen Erarbeitung des jeweiligen Spezialwortschatzes, – die Fähigkeit zur Teilnahme an fachbezogener Diskussion, – die Fähigkeit zur Präsentation des eigenen Spezialgebietes auf deutsch, – die Fähigkeit zum Fachübersetzen/Fachdolmetschen und die Produktion von (meist kleineren) Fachtexten. Solche stärker als in früheren Jahrzehnten adressaten-, situations- und fächerbezogenen Vermittlungsformen gehen einher mit einer zunehmenden Diversifikation der Kurse und Lehrmaterialien. Alle diese Veränderungen sind zunächst als eine Erweite-
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rung unseres sprachlichen und geistigen Horizonts zu begreifen, als neue Ausdrucksmöglichkeit in einer Welt mit zunehmend komplexeren Sachverhalten und dem wachsenden Zwang zur Informationspräzisierung und -verdichtung. Auf der anderen Seite sehen Sprachkritiker in der skizzierten Technisierung und Verwissenschaftlichung unserer Alltagswelt die Gefahr der Scheinfachlichkeit im Sprachgebrauch, die zu einem gegenüber Technik und Wissenschaft undistanzierten, ideologieanfälligen pseudowissenschaftlichen Jargon und damit letztlich zu einem stark formalisierten, inhumanen Sprachhabitus führt. Als Ausweg hat Pörksen die Erarbeitung einer Bildungssprache vorgeschlagen, „[…] die um Terminologie und begriffliche Formeln erweitert ist“ (1986, 218), einer Sprache, die beweglich, gegenständlich und mit sinnlichen Qualitäten versehen sein sollte. Eine solche den Fachsprachen und der Gemeinsprache zur Seite gestellte universale Bildungssprache ist sicher wünschenswert, aber im Hinblick auf die zahlenmäßigen Kräfteverhältnisse – Fachwortschätze zählen Millionen, wissenschaftlich-technische Veröffentlichungen kaum weniger – nur in begrenztem Umfang realisierbar. Festzuhalten aber bleiben die unterschiedlichen Erkenntnisziele, Kommunikationssituationen und sozialen Leistungen der drei Sprachvarietäten, auch wenn sie sich auf gemeinsame Realitätsausschnitte beziehen. Diese Unterschiede sind allerdings relativ und erlauben es im Einzelnen nicht, Fach-, Gemein- und Bildungssprache als Ausdruck von Fachwissen, ,Alltags‘-Wissen und allgemeinem Bildungswissen scharf gegeneinander abzugrenzen. Darauf gründet die Wechselwirkung zwischen Fach-, Gemein- und Bildungssprache, wobei letzterer eine verbindende Rolle als Brücke zwischen Fach- und Alltagskommunikation zukommt. Dass diese Brücke nicht einseitig und nur funktional zweckhaft begangen wird und dadurch der Gesamtzusammenhang sozialer und auch emotionaler Erfahrungen verlorengeht, ist eine für unser Verhältnis zur Sprache und zur gesellschaftlichen Umwelt bedeutsame Angelegenheit. Diese bedarf daher weiterhin der (sprach) kritischen, sprachwissenschaftlichen und sprachdidaktischen Begleitung und damit auch der öffentlichen Aufmerksamkeit. Für die einzelnen Fächer gilt es dabei immer noch, konkret umzusetzen, was von verschiedener Seite seit langer Zeit global gefordert wurde: Fachliche Mitteilungsprozesse und der Informationstransfer sind in der Schul- und Berufsbildung in geeigneter Weise zu thematisieren, wissenschaftlich weiter zu analysieren und zu optimieren; dazu sind geeignete Vermittlungskonzepte zur verständlichen Beschreibung fachlicher Realitätsbereiche zu entwickeln, um den Interessenten die Aneignung von Wissen zu erleichtern […]. (Fluck 1992, 244)
Die Entwicklung und Etablierung eines sprachsensiblen Fachunterrichts und der Auf- und Ausbau einer breiter angelegten Bildungssprache stellen ein solches Vermittlungskonzept dar, das auf diese Forderung eingeht und sie erfüllen kann.
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11. Die Rolle der Sprache in Bildungstheorien und Vermittlungspraxis Abstract: Die Rolle von Sprache wird aus der Sicht verschiedener Bildungstheorien betrachtet. In ihren Konsequenzen manifestieren sie sich auch in der Vermittlungspraxis, denn sprachliche Bildung ist immer ein wechselseitiges Zusammenspiel von Theorie und Sprachunterricht. Dies zeigt sich in älteren, reformpädagogischen, kritischen und geschlechtsspezifischen Positionen zur sprachlichen Bildung. Im historischen Prozess sind Voraussetzungen dafür die Aussagen über die deutsche Sprache, die aus Anlass von sprachlichen und sprachlich zu vermittelnden Bildungsanforderungen getroffen werden. Als ein entscheidender Faktor erweist sich die Besonderheit des deutschen Bildungsbegriffs, der im 19. Jahrhundert konsequent diskutiert und für die sprachliche Bildung zur Diskursreferenz von langer Dauer sein wird. Kritische Bildungstheorie und gesellschaftskritische Perspektiven der sprachlichen Bildung kommen ebenso in den Blick wie die Geschlechtsspezifik und die Rolle der Sprache in Ausbildungszusammenhängen. 1 Grundlegendes 2 Nachdenken über Sprache aus Anlass eines Bildungsanliegens 3 Die Auseinandersetzung um die sprachliche Bildung 4 Reform und Kritik sprachlicher Bildung 5 Sprachliche Bildung für Mädchen in (deren) beruflicher Bildung 6 Literatur
1 Grundlegendes 1.1 Die Besonderheit des deutschen Bildungsbegriffs Wörter wie Glück, Freiheit, Gerechtigkeit und eben auch Bildung sind Wörter, die sich einer klaren und generell akzeptierten Definition entziehen. Für den deutschen Sprachgebrauch ist noch einmal mit einer Besonderheit zu rechnen. Education (E) oder education (F) sind nicht ‚Bildung‘. Das „Longman Dictionary of Contemporary English“ (2005) erklärt beispielsweise education als the process of teaching and lear ning. Das deutsche ‚Bildung‘ hingegen umfasst wesentlich mehr als Schule, Unterricht und Training. Bildung ist demnach ein historisch gewachsenes Kulturmuster, das zu unterschiedlichen diskursiven Verhandlungen eines Gegenstandsbereichs geführt hat. Damit hängt auch zusammen, welche Entscheidungen in bestimmten
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historischen Situationen für die Komponenten, die diesen Gegenstand konstituieren, getroffen worden sind. Die historische Bedingtheit gegenwärtiger Redeführungen in ihren Grundlagen und Grundannahmen macht auf die Wichtigkeit aufmerksam, sie genauer zu erkunden. Sprachliche (und literarische) Bildung ist weder selbstverständlich noch zu allen Zeiten gleich, und einstmals eingenommene Positionen haben nicht nur Wirkung entfaltet, sondern tun dies immer noch.
1.2 (Mögliche) Zielvorstellungen sprachlicher Bildung Sprachlichkeit ist eine Grundbefindlichkeit des Menschen. Pharao Psammenidos und Friedrich II wollten herausfinden, welches die älteste Sprache ist bzw. welche Sprache Kinder von selbst entwickeln, wenn niemand mit ihnen spricht. Die Kinder haben nicht nur nicht gesprochen, sondern sind gestorben. Selbst wenn es sich dabei um Legenden handelt, so werden damit zwei grundsätzliche Zugriffe auf den Status von Sprache erkennbar, nämlich Sprache als Mittel der Verständigung und Sprache als Gegenstand von Reflexion. Für Bildungstheorien und deren Konsequenzen für Bildungsentscheidungen und Bildungshandeln haben der Unterschied und die Frage eines möglichen Zusammenwirkens nicht unerhebliche Folgen: Aus einer praktischen, an die Lebenswelt angebundenen Perspektive geht es darum, die nachwachsende Generation mit einer Sprache auszustatten, die sie den Alltag bewältigen lässt. Sprachunterricht kann demnach dazu dienen, die kommunikative Verständigung in der Sprechergemeinschaft zu ermöglichen und zu gewährleisten. Allerdings ist damit noch nichts darüber gesagt, wie dies erfolgen soll und welche Sprache dies tatsächlich garantiert. Selbst das Nützlichkeitsprinzip muss sich die Frage gefallen lassen, was genau denn für wen und in welchem gesellschaftlich-kommunikativen Handlungsfeld ‚nützlich‘ erscheint und mit welchen Mitteln das Ziel erreicht werden soll. Ferner hat Sprache in Kulturen, die eine Schrift entwickelt haben, zwei mediale Erscheinungsformen – Sprechen und Schreiben –, die in Bildungsansagen zu bedenken sind. Und schließlich können der Sprache über die Verständigungsfunktion hinaus weitere Funktionen zuerkannt werden: sie ist Instrument zur Welterschließung und zur Ordnung der Gedanken, und Wissen über die eigene Sprache kann Bildungswissen sein oder als Voraussetzung für den Erwerb anderer Sprachen dienen. Die Rolle von Sprache im Bildungszusammenhang changiert demnach zwischen Nützlichkeit und weitergehendem Bildungsanspruch. Weder das eine noch das andere ist selbstverständlich.
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2 Nachdenken über Sprache aus Anlass eines Bildungsanliegens 2.1 Eine „Teütsche Haubtsprache“? Seine eigene Sprache als Gegenstand wahrzunehmen und mit einer gewissen Systematik zu beschreiben, erscheint heute in allen Ländern, die ein institutionalisiertes Bildungswesen haben, als gegeben. Dies war nicht zu allen Zeiten so und hat gewisse Voraussetzungen: Der eigenen Sprache muss ein bestimmter Status zuerkannt werden können. Als Schriftsprache braucht sie Normierungen und Standardisierungen. Das Schreiben ist kulturgeschichtlich und in der Spracherwerbsbiographie eines Einzelnen dem Sprechen nachgeordnet und ermöglicht, ja verlangt Reflexion. Sprache als Gegenstand systematisch zu betrachten heißt vor allem, das sprachliche Kontinuum aufzuspalten, die Komponenten zu identifizieren und zu benennen. 1663 erscheint das Hauptwerk eines Verfassers, das in barocker Manier folgenden Titel trägt: Ausführliche Arbeit von der Teutschen Haubt Sprache: worin enthalten gemelter dieser Haubt Sprache Uhrankunft, Uhraltertuhm, Reinlichkeit, Eigenschaft, Vermögen, Unvergleichlichkeit, Grundrichtigkeit, zumahl die Sprach Kunst und Vers Kunst Teutsch und guten theils Lateinisch völlig mit eingebracht, wie nicht weniger die Verdoppelung, Ableitung, die Einleitung, Nahmwörter, Authores vom Teutschen Wesen und Teutscher Sprache, von der verteutschung, Item die Stammwörter der Teutschen Sprache samt der Erklärung und derogleichen viel merkwürdige Sachen ; Abgetheilet in 5 Bücher / Ausgefertiget von Justo-Georgio Schottelio – Braunschweig, Gedrukt und verlegt durch Christoff Friederich Zilligern, Buchhändlern, 1663.
Justus Georg Schottelius‘ Titel ist umständlich, fasst aber den Inhalt seines Werkes zusammen, gibt Aufschluss über dessen Ausrichtung und Kontext, denn es handelt sich um eine Zusammenschau des sprachlichen Wissens der Zeit. Schottel besteht auf Gleichstellung der deutschen Sprache mit den ‚Ursprachen‘ Hebräisch, Griechisch und Latein, die als ‚heilig‘ gelten, da sie die Sprachen der biblischen Schriften sind. Deutsch führt er jedoch auch als eine ‚Hauptsprache‘ ein, deren Entstehung er bis in die Ausdifferenzierung zurückverfolgt, von der im Alten Testament als einer Strafe Gottes für den geplanten Turmbau zu Babel erzählt wird. Für ihn ist Deutsch eine Sprache mit perfekt motiviertem Wortschatz, bei dem die Bedeutung eines Wortes sich unmittelbar offenbart und die „ihre Uhrankunft bey dem Babylonischen Tuhrne genommen; die vortreflichste an lauterer Reinlichkeit“ (Schottel 1663, 21). Diese „Reinlichkeit“ sollte auch bewahrt werden. Bekannt geworden ist seine Theorie von den „Stammwörtern“, d. h. Wörter, die schon immer in der Sprache vorhanden waren. Seine Arbeit schließt eine normative Grammatik und Aussagen zur Orthographie ein. Das Beispiel weist auf eine komplexe Gemengelage hin, in der es um das Verhältnis von mündlicher und schriftlicher Sprache, um das Übersetzen, v. a. aus dem
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Latein, um die Verbreitung des Glaubens mittels Sprache und seit der Reformation auch um konfessionelle Kontroversen geht. Es betrifft auch die Frage der Vorbilder, d. h. der Übertragbarkeit von aus der Antike vorliegenden Sprachbeschreibungen auf die eigene Sprache. Schottel ist nicht der Erste und nicht der Einzige, der auf diese Fragen Antworten sucht. Die Frage der Vermittlung der christlichen Botschaft in seiner fränkischen Sprache beschäftigt den Mönch Otfrid aus Weißenburg im Elsass schon um das Jahr 830. Bei der Abfassung seiner Evangelienharmonie stößt er auf das Verschriftungsproblem, denn es existieren keine Vorbilder und grammatische oder poetische Regeln für seine Sprache als Schriftsprache. Keinesfalls ist nämlich selbstverständlich, dass die aus der Antike bekannten Grammatiken auch für die eigene Sprache geeignet sind. Otfrid ging einst pragmatisch-reflektiert vor (Vollmann-Profe 1987). Bis heute steht Grammatikunterricht, d. h. Wortarten, Formenlehre und Syntax, noch immer in der antiken Tradition. Zu erinnern ist an Dionysius Thrax (etwa um 100 v. Chr.), Aelius Donatus (350 n. Chr.) und Priscianus (um 600 n. Chr.). Grammatik war Voraussetzung für den richtigen Gebrauch der Schriftsprache, die vermittelt werden musste, etwa wenn sich der Lautstand des Mündlichen bereits verändert hatte (Schönberger 2008, 9). Die „Ars minor“ des Donatus stellt eine konzise Systematik der acht Wortarten nomen, pronomen, uerbum, aduerbium, participium, coniunctio, praepositio und interiectio dar und ist in Form einer Frage-Antwort-Konstellation überliefert. Neben anderen galten v. a. die Arbeiten der genannten Grammatiker mit Recht als äußerst wirkungsmächtig über Jahrhunderte hinweg (Schönberger 2008, 178). Hinsichtlich der Rolle der deutschen Sprache ist aus bildungsgeschichtlicher und bildungstheoretischer Perspektive Johann Christoph Gottsched (1700–1766) in mehrfacher Weise bedeutend. In seiner „Grundlegung einer deutschen Sprachkunst“ von 1749 vergleicht er Sprachen und deutsche Mundarten und überschreibt sein erstes Kapitel „Von den deutschen Buchstaben, und ihrem Laute“ (Gottsched 1749, 19). Man hat es mit einer frühen Form von ‚Lautiermethode‘ für den Rechtschreibunterricht zu tun. Allerdings kann sich Gottsched noch nicht auf eine allgemein gültige oder gar staatlich geregelte Orthographie beziehen. Bedeutsam ist Gottsched insbesondere im Kontext der Bemühungen um eine deutsche Standardsprache bzw. was als solche zu gelten hat. Im so genannten spätbarocken Sprachenstreit vertritt er eine Position, die sich letzten Endes durchgesetzt hat und die zu einer einheitlichen überregionalen deutschen Standardsprache als Schriftsprache führte (v. Polenz 1998, 49). Nicht in Abrede zu stellen ist dabei auch die Bedeutung des Buchdrucks und die Verbreitung der Lutherbibel. Hinzuweisen ist ferner auf Gottscheds Propädeutikum für die Rhetorik, das er 1754 als „Vorübungen zur Beredtsamkeit“ vorlegt. Auch wenn es dort heißt, dass „wer einmal ein Redner werden will“, sich „bey Zeiten eine gute Schreibart angewöhnen“ müsse (Gottsched 1754, 3), so hatte Gottsched damit nicht die Absicht, den ‚deutschen Aufsatz‘ zu begründen (Ludwig 1988, 77): Die schriftliche Übung diente vielmehr der Vorbereitung eines mündlichen Vortrags. Allerdings prägen die rhetori-
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schen Forderungen („Tugenden“; Ludwig 1988, 16) bis heute die Kriterien der Aufsatzpraxis (Karg 2007, 73 ff.).
2.2 Sprachliche Grundbildung für alle? Und wie? (Ratke, Komenský und ihre Wirkungen) Auch wenn für die bisher erwähnten Autoren mit ihren Aussagen zur Rolle der Sprache ‚Bildung‘ mit im Blick war, so hatten sie es doch vorrangig mit dem Status von Deutsch zu tun. Genuin sprachliche Bildung signalisieren die Titel der Werke Wolfgang Ratkes (1571–1635) und Jan Amos Komenskys („Comenius“ 1592–1670). Ratke erhebt den Anspruch, eine Anleitung für ein nachhaltigeres und zuverlässigeres Lehren und Lernen von Sprachen geben zu können. Er empfiehlt, nicht zu viel und vor allem nicht zu Unterschiedliches auf einmal anzubieten, sondern beispielsweise eine Sprache intensiv und ganz zu lernen. Der Unterricht in der Muttersprache ist für ihn Grundlage allen Lernens, nicht nur weiterer Sprachen, sondern auch anderer Wissensvermittlung. Um keine Verwirrung entstehen zu lassen, müsse auch eine einheitliche Grammatik gelehrt werden: Zum Dritten/so können wir neben anderen verstendigen Leuten nicht gut heissen/noch loben/ daß man fast in allen Schulen/ja auch bißweilen fast in allen classibus eine sonderliche Grammatik oder Sprachkunst in vielen Orten geführet hat/dadurch die Knaben nicht wenig irre gemacht worden/und nicht gewust/wo sie in der Grammaticken daheim gewesen. (Ratke 1614, 24)
Ohne „Verstand“ und ohne „Wissenschaft“ sei es nutzlos, etwas verstehen und behalten zu wollen (ebd., 30). Ratkes Vorstellungen sind in ein Gesamtprogramm moralischer und religiöser Erneuerung eingebunden. Texte zur religiösen Praxis waren üblicherweise noch weit bis ins 19. Jahrhundert als Lesematerial für Anfänger und Fortgeschrittene populär. Ratke hatte Gelegenheit, seine Reformen umzusetzen, doch ein dauerhafter Erfolg war ihm nicht beschieden. Im Reigen der Positionen, die hinsichtlich der Rolle von Sprache in Bildungszusammenhängen vertreten werden, ist er jedoch mit seiner Betonung der Muttersprache und des Verstehens als Voraussetzung allen Lernens nicht uninteressant. Der Primat der Muttersprache und den Zusammenhang zwischen Sprache und Verständnis von der Welt, den Dingen und Erscheinungen findet sich bei Comenius in seiner „Didactica Magna“: Wieviel jemand eingesehen, soviel soll er auch auszusprechen gewöhnt werden, und umgekehrt, was er redet, muß er auch verstehen lernen […] wer ohne Verständnis plappert, [ist] ein Papagei. Wir aber bilden die Menschen und wollen sie in gedrängter Kürze bilden; und dies geschieht, wenn überall Rede und Sachen, Sachen und Rede gleichen Schritt halten. (Comenius 1657, 162)
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Comenius veröffentlichte 1658 sein einflussreiches Werk „Orbis sensualium pictus“, in dem Bilder und (lateinische) Texte zusammen abgedruckt sind und im Lernprozess zum Erkenntnisgewinn wechselseitig aufeinander bezogen werden sollen. Das Buch wurde in viele Volkssprachen übertragen und darf als Modell für anschauliche sprachliche Vermittlungsarbeit, für alle Bilderbücher und viele englische und amerikanische primers gelten (Karg/Kuzminykh 2014). Neben der Anschaulichkeit ist Comenius‘ Arbeit vor allem dem Nützlichkeitsprinzip geschuldet: Sprachen lernen ist nicht als solches schon Bildung, sondern „Mittel, um mit Hilfe desselben Bildung zu schöpfen und anderen mitzutheilen“ (ebd., 185). Im Unterschied zu Ratke meint er, dass nicht alle Sprachen und nicht alle vollständig gelernt werden müssen. Vergleichbar ist jedoch der stufenmäßige, geordnete Ablauf eines Lehr- und Lernprogramms in einer vierfachen Abstufung der Schule nach Alter und Fortschritt (ebd., 189). Die Muttersprache, die Sprachen der „Nachbarn“, Latein und schließlich verschiedene Sprachen für verschiedene Berufe sind dem Nützlichkeitsprinzip gemäß in eine Reihenfolge gebracht. Man lerne mehr durch den Gebrauch als durch Regeln, aber Regeln sollten den Gebrauch fördern und festigen. Die Regeln für eine neue Sprache sollten die Unterschiede zu bekannten Sprachen nennen und alle Sprachen könnten nach derselben Methode gelehrt und gelernt werden. Inwiefern Gebrauch und Regelwissen zusammenspielen, wird bis heute in der Sprachdidaktik eingehend diskutiert (Edmondson/House 2011, 158 ff.).
2.3 Schriftsprache im Bildungskontext: Ickelsamer, Freyer, Adelung, Wismayr Bereits im Jahre 1534 veröffentlichte Valentin Ickelsamer eine Art Didaktik der Orthographie. Sein Titel „Ein Teutsche Grammatica“ zeigt jedoch, dass es ihm nicht um die Aufzeichnungsfunktion der Schriftsprache geht, sondern um das Lesen, das nützlich sei, um Gottes Wort zu erfahren. Damit wird eine Kontinuität und Wirkungsmacht deutlich, die Sprachreflexion (wie Otfrid) und sprachliche Bildung (wie Fibeln weit ins 19. Jahrhundert hinein und primers in England und den USA) im Dienst religiöser Unterweisung und Praxis ansiedelt. Im Falle der „Teutsche[n] Grammatica“ werden die Buchstaben des lateinischen Alphabets, die für die deutsche Schriftsprache genutzt werden, nach ihrer Repräsentation von Lauten in drei Gruppen geordnet: Ickelsamer beginnt mit den – wie er sagt – „lautbůchstaben“, dann folgen die „halblautenden“ und schließlich die „gantz heymliche“ Buchstaben. Ickelsamers Werk ist ein Beispiel reflektierter und systematischer Laut-Buchstabenzuordnung, bei der das lateinische Alphabet als Vorrat schriftlicher Zeichen verwendet und Sprache konsequent aus der Vermittlungsperspektive betrachtet wird. Mit seiner Methode behauptet er, könne man innerhalb weniger Stunden das Lesen lernen. Seine „Anweisung zur Teutschen Orthographie“ von 1722 verfasst Hieronymus Freyer (1675–1747) in der Absicht,
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der Jugend hierin recht zu rathen suchen: zumal in öffentlichen Schulen/da iemand leicht irre werden kann/wenn er unter vielen Anführern stehet und also nicht weiß/welche oder wessen Schreibart er sich am sichersten zum Muster vorstellen dürfe. (Freyer 1728, 2)
Aussprache, Buchstaben, Silben, ganze Wörter, „Construction“ (Konjugation und Deklination im Satzzusammenhang, IK) und „Unterscheidungszeichen“ sind die Kapitel des Buches. Als zweiter Teil folgt ein alphabetisches Wörterbuch, das die Regeln veranschaulicht und Problemfälle behandelt, etwa verschiedene Schreibungen bei gleichem Laut, die Derivation, analoge Schreibungen, Fremdwörter und unregelmäßige [starke] Verben. Freyer nennt seine Arbeit ein schwieriges Unterfangen, bei dem er nicht ausschließt, dass es auch andere Meinungen geben könnte. Zwar geht er grundsätzlich von einer Laut-Buchstaben-Zuordnung aus. Doch die Verbindung von Wörtern zu Sätzen und diese zu Texten macht weitere Entscheidungen über Verschriftungsprinzipien erforderlich. Anlass ist der Bildungsauftrag, und ähnlich verhält es sich auch im Falle von Johann Christoph Adelung (1732–1806). Mit dem Titel „Deutsche Sprachlehre. Zum Gebrauche der Schulen in den Königl. Preußischen Landen“ legt er 1781 eine Schulgrammatik vor. Die Berliner Ausgabe des Buches beginnt mit einer Widmung an den Bildungsminister Friedrichs des Großen, Karl Alexander von Zedlitz, dem er als dem Initiator seiner Arbeit dankt. Mit aufklärerischer Lichtmetaphorik und Anbindung an Platon („ein wohlthätiges Licht über Gegenstände, welche bisher mit einer undurchdringbaren Finsterniß umgeben waren“, Adelung 1781, *4 f.) charakterisiert er sein Programm, „die deutsche Sprache auf Deutschen Schulen grammatisch zu lehren und zu lernen“ (ebd., *3). Um die „Regeln einer Sprache vorzutragen und zu lehren“ sieht er zwei Möglichkeiten: Entweder werden „von älteren Sprachlehren entlehnte Rubriken“ (ebd., Vorrede o. Z.) übernommen oder man sucht das „Wesen der Sprache in ihr selbst“ auf (ebd.). Er geht den zweiten Weg. Seine Sprachlehre sei daher anders als andere, die er als „Copien der Lateinischen“ bezeichnet. Die lateinische Terminologie allerdings behält er weitgehend bei, denn – so sein Argument – bislang vorgeschlagene deutsche Termini („Kunstwörter“) seien nur Übersetzungen der lateinischen, die in andere Sprachen bereits übernommen wurden. Nach einleitenden Gedanken über Sprache, Nation und Sprachwandel folgen Aussagen über die „Fertigkeit richtig zu reden“ (Wortarten, zusammengesetzte Wörter, Formen und Syntax) sowie ein Kapitel über die Orthographie. Er behandelt das lateinische Alphabet, verschiedene Schriften und betont, dass „man erst richtig sprechen muß, ehe man richtig schreiben kann“ (ebd., 579). Grundlage der Orthographie soll die „wahre Hochdeutsche Aussprache“ sein (ebd., 608), die die Unterscheidung von [s] und [z] einschließt. Nicht gesprochene Laute sollen schriftlich nicht realisiert werden. Vor allem Adelung braucht neben dem LautBuchstaben-Prinzip weitere orthographische Richtlinien. Als Kriterien dienen ihm der Wortstamm, die Herkunft und die Semantik der Wörter. Ähnlich verfährt auch Joseph Wismayr, der 1805 seine „Kleine deutsche SprachLehre“ in der dritten „für die sämmtl. kurpfalzbayr. Staaten einzig rechtmäßige [n]
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OriginalAuflage“ vorlegt. Er formuliert die Maxime: „Schreib, wie du sprichst“, fügt aber hinzu, dass Grundlage der Orthographie die „beßte Aussprache“ ist (Wismayr 1805, 153). Interessanterweise nennt er – als in Bayern tätiger Pädagoge – als Vorbild die „SprechArt der gebildeten Klassen des südlichen Obersachsens“ (ebd.). Damit sind immerhin grundlegende Rahmenbedingungen für muttersprachliche Bildung geschaffen.
3 Die Auseinandersetzung um die sprachliche Bildung 3.1 Leitfiguren im 19. Jahrhundert (Humboldt und Grimm) Im Laufe des 19. Jahrhunderts vermehren sich die Bestrebungen, Unterricht nicht nur in deutscher Sprache, sondern über die deutsche Sprache im Bildungswesen auf allen Stufen institutionell zu verankern. Sie führen schließlich zum Erfolg, doch mit unterschiedlichen Argumenten im Kontext unterschiedlicher Bildungskonzepte. Bereits 1769 hatte Herder eine richtungsweisende Unterscheidung getroffen: Man lobt das Kunststück, eine Grammatik, als Grammatik, als Logik und Charakteristik des menschlichen Geistes zu lernen: schön! Sie ist’s, und die lateinische, so sehr ausgebildete Grammatik, ist dazu die beste. Aber für Kinder? Die Frage wird stupid. Welcher Quintaner kann ein Kunststück von Casibus, Deklinationen, Konjugationen und Syntaxis philosophisch übersehen? Er sieht nichts, als das todte Gebäude, das ihm Qual macht, ohne materiellen Nutzen zu haben, ohne eine Sprache zu lernen. So quält er sich hinauf und hat nichts gelernt […] ich habe auch Anlage zur Philosophie der Sprache, aber was hat sich aus meinem Donat [sic!] je in mir entwickelt? (Herder 1769, 329 f.)
Die Folgerung ist nur konsequent: „Weg also das Latein, um an ihm Grammatik zu lernen; hierzu ist keine andere in der Welt als unsere Muttersprache“ (ebd., 330). Hiergegen und zugleich gegen alle vor und nach Adelung erschienenen „deutschen Sprachlehren“ setzt sich Jacob Grimm ab, wenn er es als „unsägliche Pedanterei“ bezeichnet, „die eigene Landessprache unter die Gegenstände des Schulunterrichts zu zählen,“ und fortfährt: Ich behaupte nichts anderes, als daß dadurch gerade die freie Entfaltung des Sprachvermögens in den Kindern gestört und eine herrliche Anstalt der Natur, welche uns die Rede mit der Muttermilch eingibt und sie in dem Befang des elterlichen Hauses zu Macht kommen lassen will, verkannt werde. Die Sprache gleich allem Natürlichen und Sittlichen ist ein unvermerktes, unbewußtes Geheimniß, welches sich in der Jugend einpflanzt und unsere Sprechwerkzeuge für die eigenthümlichen vaterländischen Töne, Biegungen, Wendungen, Härten oder Weichen bestimmt. (Grimm 1819, 1 f.)
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Differenzierung und Zusammenspiel zwischen Latein und Muttersprache, jüngeren und älteren Schülern, Schularten, Grammatik und natürlichem Spracherwerb konkretisieren sich in der Folgezeit in Positionen, die bis heute die Diskussion um sprachliche Bildung im muttersprachlichen, fremdsprachlichen und altsprachlichen Unterricht bestimmen (vgl. Landwehr 1996). Wohl der prominenteste Vertreter der Auffassung, dass sich Sprachunterricht nicht allein im Gebrauch der Sprache erschöpfen könne und dies auch nicht sein Ziel sei, ist Wilhelm von Humboldt. Zunächst formuliert er die „allgemeine Menschenbildung“ als Auftrag von Schulen, „deren sich nicht ein einzelner Stand, sondern die ganze Nation, oder der Staat […] annimmt“ und fährt fort: Was das Bedürfniss des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muss abgesondert, und nach vollendetem allgemeinen Unterricht erworben werden. Wird beides vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige Menschen, noch vollständige Bürger einzelner Klassen. (Humboldt 1809, 187)
Dieser ‚wahren Bildung‘, nicht einer bestimmten Berufstätigkeit, ist die sprachliche Bildung verpflichtet: Die Organisation der Schulen bekümmert sich daher um keine Kaste, kein einzelnes Gewerbe, allein auch nicht um die gelehrte – ein Fehler der vorigen Zeit, wo dem Sprachunterricht der übrige geopfert, und auch dieser – mehr der Qualität, als Quantität nach – zum äussern Bedarf (in Erlangung der Fertigkeit des Exponirens und Schreibens) nicht zur wahren Bildung (in Kenntniss der Sprache und des Alterthums) getrieben wurde. (ebd.)
Allerdings unterscheidet Humboldt zwischen Elementarbildung und weiterführendem Unterricht, betont jedoch eine Progression, bei der das grundsätzliche Ziel stets im Blick bleiben muss: Der Elementarunterricht soll bloss in Stand setzen, Gedanken zu vernehmen, auszusagen, zu fixiren, fixirt zu entziffern, und nur die Schwierigkeit überwinden, welche die Bezeichnung in allen ihren Hauptarten entgegenstellt. Er ist noch nicht sowohl Unterricht, als er zum Unterricht vorbereitet, und ihn erst möglich macht. Er hat es also eigentlich nur mit Sprach-, Zahl- und Mass-Verhältnissen zu thun, und bleibt, da ihm die Art des Bezeichneten gleichgültig ist, bei der Muttersprache stehen. (Humboldt 1808, 168)
Das Ziel sprachlicher Bildung in der Schule ist erreicht, wenn ein Schüler dahin gekommen ist, nun mit eigner Anstrengung und mit dem Gebrauche der vorhandenen Hülfsmittel jeden Schriftsteller, insoweit er wirklich verständlich ist, mit Sicherheit zu verstehen, und sich in jede gegebene Sprache, nach seiner allgemeinen Kenntnis vom Sprachbau überhaupt, leicht und schnell hinein zu studiren. (ebd., 169)
Sprachunterricht sei dann verfehlt, wenn eine Sprache „gleichsam aus dem Gebrauch und kursorisch“ gelernt werde. Denn Sprachen nur zu „besitzen“ sei zu wenig,
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vielmehr müsse man einen „Begriff“ davon haben. Für ihn bedeutet dies, „in der bestimmten Sprache die Sprache überhaupt an[zu]schauen“ (ebd.). Dem wäre zu entnehmen, dass grundsätzlich der „Begriff“ von der Sprache mit jeder Sprache gelernt und erkannt werden kann. Im Bildungsprojekt des Humanistischen Gymnasiums jedoch bekamen Latein und Griechisch, bzw. was die Schulgrammatiken daraus für den Unterricht machten, eine Vorrangstellung. Mit Recht nennen Erlinger/Knobloch (1999, 2) Humboldts Vorstellungen in der Umsetzung eines gymnasialen Programms ein „antipraktisches Motiv“. Das Gymnasium als Schulform hat erst im Laufe der Zeit weitere Komponenten in seinem Bildungsprogramm ernst genommen. Was Humboldt den „Begriff“ von Sprache nennt, ist dabei grundsätzliches Prinzip der gymnasialen Bildung geblieben, auch wenn man dies heute so formuliert, dass gymnasialer Fachunterricht den jeweiligen Bezugswissenschaften verpflichtet ist und sich als ‚Wissenschaftspropädeutik‘ verstanden wissen will. Moderne Fremdsprachen als ‚nützliche‘ und dem „Gebrauch“ dienliche konnten lange die Reputation der Alten Sprachen nicht erreichen, zumindest mussten sie mit denselben Methoden gelehrt werden, um sie auf den „Begriff“ zu bringen. Muttersprachlicher Unterricht gehörte, wenn überhaupt, ganz in den Elementarbereich. Auf diese Weise wurde eine Hierarchie sprachlicher Bildung hergestellt, die weit in die Gegenwart hinein ihre Wirkung hatte und noch hat und zu nicht unerheblichen Konflikten und Widersprüchen in der Argumentation über Bildung und ‚Bildungsbeteiligung‘ führt. Grimm folgend konnte man überhaupt an den Volksschulen die Notwendigkeit des Unterrichts in der Muttersprache in einem eigenen Fach ablehnen. Auch konnte argumentiert werden, dass jeder Unterricht auch Sprachunterricht sei. Dieses Argument taucht heute aus anderer Sicht wieder auf und führt zu einem Appell an alle Fächer, den sprachlichen Bildungsauftrag ernst zu nehmen. Muttersprachlicher Unterricht ist inzwischen jedoch kaum in Frage gestellt.
3.2 Muttersprachlicher Unterricht als Fach: Hiecke, Diesterweg, Wurst und Becker Alle Bereiche des Deutschunterrichts am Gymnasium sind Robert Heinrich Hiecke (1805–1861) ein Anliegen. In seinem Buch „Der deutsche Unterricht auf deutschen Gymnasien“ von 1842 entwirft er ein Lesecurriculum nach Jahrgangsstufen. Er sieht die Notwendigkeit kompensatorischer Arbeit – wie man heute sagen würde –, denn nicht alle Schüler hätten – auch dies in der heutigen Diktion – vor dem Eintritt ins Gymnasium eine solide literarische Sozialisation durchlaufen. Vor allem wendet er sich mit gliedernder und paraphrasierender Textarbeit, die ein verstehendes Lesen garantieren soll, gegen das „Laster der Leserei“ (Hiecke 1842, 70). Von nachhaltiger Wirkung sind seine „Interpretationsstunden deutscher Classiker“ geworden, die dem Verständnis von Literatur ab der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts und einer sich daraus speisenden allmählich etablierenden Literaturwissenschaft geschuldet sind.
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Der Leseunterricht soll jedoch auch „Einwirkung auf die praktische Geläufigkeit in der Muttersprache, so wie auf den Sinn für Klarheit und Zusammenhang im Denken“ (ebd., 87) haben. Man hat es mit einem integrativen Modell von Sprach-, Lese- und Literaturunterricht zu tun. Auch Adolph Diesterweg (1790–1866) geht es im dritten Teil seiner Arbeit „Praktischer Lehrgang für den Unterricht in der deutschen Sprache: ein Leitfaden für Lehrer, welche die Muttersprache naturgemäß lehren wollen“ von 1839 um das Lesen, das von Anfang an keine mechanische Tätigkeit, sondern sinnverstehende Lektüre sein soll. Der Unterricht ziele auf die Bildung des Verstandes des Schülers, der Uebung der Aufmerksamkeit, der Schärfung der Urtheilskraft, Gewöhnung an Nachdenken, Ueberlegung und aufmerksames, besonnenes Lesen, Anleitung und Befestigung im richtigen Lesen. (Diesterweg 1839, Leitfaden III, 20)
Sprach- und Leseunterricht sind nicht zu trennen, denn Sprache habe ein „logisches und ein euphonisches oder phonetisches“ Prinzip (ebd., 1), was im Umgang mit den „Lesestücken“ zum Tragen kommt. Dabei werden Erkenntnisse aus der Sprachlehre auf das Lesen übertragen und Gliederungen von „Lesestücken“ erstellt (ebd., 20). Die ersten beiden Bände seines Werkes behandeln daher „Wortbildung, Rechtschreibung und erste Anleitung zur Satz- und Aufsatzbildung“ (Bd. I) und „Wortformen und die Satzlehre“ (Bd. II). Den Schülern soll ein hierarchischer Aufbau der Sprache aus Lauten und Buchstaben, Silben, Wörtern bis hin zu Sätzen verdeutlicht werden. Für die Aufsätze, die in der ‚Elementarschule‘ geschrieben werden sollen, nennt er Briefe, Erzählungen und Beschreibungen und gibt dafür Musterbeispiele mit moralisch als wertvoll erachteten Inhalten. Interessant ist eine Art früher ‚Schülerorientierung‘, die Diesterweg mit der Aussage trifft, dass sich „die Elementarmethode ihre obersten Gesetze von dem Gange der Entwicklung der Menschennatur her, nicht von der Eigenthümlichkeit des Stoffes“ (Bd. II, XII) ableitet. Die Integration von Aufgaben für die Schüler in seinen „Leitfäden“ lassen ein Bild dessen erkennen, wie sich Diesterweg konkret den Unterricht vorstellt. Dies tut auch Raimund Jakob Wurst (1800–1845), der sich ausführlich mit Lehrformen in den verschiedenen Jahrgangsstufen befasst. Für den Elementarbereich favorisiert er ein Miteinander von Lesen und Schreiben auf der Grundlage der Lautiermethode, auch wenn, wie er sagt, häufig in Schulen noch die Buchstabiermethode vorherrsche. In einer überarbeiteten Version seiner Unterrichtslehre für die ersten beiden Jahre der Elementarschule von 1839 insistiert er auf theoretischen Grundlagen der Lehrerausbildung, um zu gewährleisten, dass Lehrer „geistbildenden Unterricht […] ertheilen“ können und nicht nur „praktische Anweisungen“ befolgen (Wurst 1839, V). Dahinter steht das Konzept eines Miteinanders von Sachunterricht und Sprachunterricht: Sprache schafft Ordnung in der Welt und die Ordnung der Welt wird in der Sprache, d. h. wie man sie beschreibt und vermittelt, deutlich. Der Wortschatz etwa wird anhand von Erfahrungsbereichen der Kinder besprochen, denen im fragend-
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entwickelnden Verfahren der Zusammenhang von sprachlicher Ordnung und der ihrer Lebenswelt gezeigt wird. Auch der Sprachunterricht in höheren Jahrgangsstufen und anderen Schulformen interessiert Wurst. Die „Praktische Sprachdenklehre für Volksschulen und die Elementarklassen der Gymnasial- und Real-Anstalten“ (Wurst 1867) führt das Prinzip des Zusammenhangs von Sprache, Weltordnung, Erkenntnis und Denken fort und konkretisiert es in Aufgaben und Übungsbeispielen. Ihre Inhalte stammen aus dem allgemeinen Weltwissen, dem Erfahrungsschatz der Kinder und Jugendlichen, nicht selten aber auch aus biblischen Geschichten oder moralischen Lehren. Die Diskussion über die sprachliche Bildung ist im 19. Jahrhundert v. a. ein Ringen um den muttersprachlichen Deutschunterricht. Die klassischen Sprachen und ihre Grammatik bestimmen die Arbeit an den Gymnasien. Deutschunterricht will sich anbinden (Hiecke) und will auch für die Elementarschulen und Realschulen ein Konzept bieten, das über Nützlichkeit und Nachahmung hinausgeht (Humboldt anders als Wurst). In die Überlegungen, welcher Sprachunterricht für welche Jahrgänge angeboten werden und wie er denn aussehen sollte, mischt sich Karl Ferdinand Becker (1775–1849) ein, den auch Diesterweg und Wurst erwähnen. Becker scheint zunächst Grimms Aussage zu übernehmen: Der Mensch bedarf, um seine Muttersprache verstehen und vollkommen sprechen zu lernen, keiner andern Hülfe, als daß er von Kindheit an seine Muttersprache sprechen höre. (Becker 1836, Bd. I, 61)
Neu allerdings ist, dass Becker es ablehnt, Kinder in der „Mundart ihres Volksstammes“ (ebd.) zu belassen, so dass sie die „Anleitung durch die Grammatik“ brauchen, „um die hochdeutsche Sprache vollkommen verstehen und sprechen zu lernen“ (ebd.). Durch sie soll das Verstehen zu einer bewußten Erkenntniß des Begriffes in dem Worte und der Beziehungen der Begriffe in den grammatischen Formen, und das Sprechen zu einem durch diese Erkenntniß geregelten Sprechen erhoben werden. (ebd.)
Eine Verwendung deutscher Terminologie im Sprachunterricht lehnt Becker ab, was im Übrigen noch keine andere „Grammatik“ wäre. Mittelpunkt der Grammatik ist für ihn die Syntax. Doch wäre es für die Schüler verwirrend (Bd. I, 61), wollte man in der Abfolge des Unterrichts mit der Syntax beginnen, so dass er dafür plädiert, die Wortarten, die Wortbildung und die Formenlehre gesondert zu vermitteln bzw. der Syntax voranzustellen. Beckers Sprachverständnis ist das eines „Organismus“, und damit einem metaphorisch manifesten, prominenten Deutungsmuster seiner Zeit geschuldet. Wichtig ist jedoch vor allem, dass hier ein genuin didaktisches Prinzip zum Tragen kommt: die Sachlogik seines Gegenstandes ‚Sprache‘ ist nicht auch schon die Logik der Vermittlung und beides muss miteinander abgegolten werden. Die Progression von den Wortarten über den Bau einfacher Sätze zu komplexen und weiteren
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Erscheinungen der Sprache wie etwa dem Modus hat langdauernde Wirkung gehabt und bestimmt noch gegenwärtig die kultusministeriellen Vorgaben für den Unterricht.
3.3 Sprachliche Bildung und nationale Erziehung Mit den Ausführungen Beckers kommt erneut das Thema in den Blick, das bis zum mittelalterlichen Mönch Otfrid zurückführt und Schottel, Adelung, Gottsched und andere beschäftigt hat, nämlich die (deutsche) Hochsprache und Schriftsprache. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bekommt der Unterricht in der deutschen Muttersprache in der Hinsicht Unterstützung, dass für die Einheit des Reiches auch eine einheitliche Sprache angesagt sein muss, die auch in den Bildungseinrichtungen zu vermitteln ist. Nur allzu bekannt ist die Ansage Kaiser Wilhelms II. von 1890: Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen; wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer […] Wir müssen das Deutsche zur Basis machen. Der deutsche Aufsatz muß der Mittelpunkt sein, um den sich alles dreht. (Giese 1961, 196 f.)
Dies bedeutet die Befürwortung von muttersprachlicher Bildung auch im Lese- und Literaturunterricht, der den politischen Zielen angepasst werden sollte (Jaroschka 1992). Ob ein direkter Weg in die deutsche Katastrophe des 20. Jahrhunderts führt, sei dahingestellt. Bildung hat sie jedenfalls nicht verhindert.
4 Reform und Kritik sprachlicher Bildung 4.1 Wegbereiter der Reformpädagogik (Rudolf Hildebrand) Angesichts dessen, dass Rudolf Hildebrand (1824–1894) Etymologie und mittelhochdeutsche Literatur im Deutschunterricht verankert wissen will, mag es verwundern, ihn im Vorfeld der Reformpädagogik zu sehen. Doch sein 1867 veröffentlichtes Buch „Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule und von deutscher Erziehung und Bildung überhaupt“ enthält mehr. Dort heißt es (Hildebrand 1867, 6): 1. Der Sprachunterricht sollte mit der Sprache zugleich den Inhalt der Sprache, ihren Lebensgehalt voll und frisch und warm erfassen. 2. Der Lehrer des Deutschen sollte nichts lehren, was die Schüler selbst aus sich finden können, sondern alles das sie unter seiner Leitung finden lassen. 3. Das Hauptgewicht sollte auf die gesprochene und gehörte Sprache gelegt werden, nicht auf die geschriebene und gesehene.
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4. Das Hochdeutsch, als Ziel des Unterrichts, sollte nicht als etwas für sich gelehrt werden, wie ein anderes Latein, sondern im engsten Anschluß an die in der Klasse vorfindliche Volkssprache oder Haussprache.
Die Linien lassen sich zu Positionen, die ihm vorausgehen, aber auch zu künftigen ziehen. Erkennbar ist eine Anbindung der sprachlichen Bildung an die Lebenswelt, das pädagogische Motto vom ‚Abholen‘ und der Selbsttätigkeit der Schüler und auffallend ist – zunächst – der Vorrang gesprochener und den Kindern bekannter Sprache. In die Nähe der Reformer rückt er insbesondere mit seinen Aussagen zur „Stilübung als Kunstarbeit“: wie beim Schaffen des Künstlers Geist und Natur zusammenarbeiten als ein ungetrenntes Eins in seinen wahrhaft schöpferischen Stunden, so ist dies Wesentliche des Kunstschaffens auch bei der Sprache zu erkennen, wenn man sie sich werdend oder vom Sprachgeist geschaffen denkt. (Hildebrand 1890, 127 f.)
Sprachliche Bildung bedeutet dann „die Handhabung des Sprachvorrathes […], so daß jeder der Benutzer als Künstler zu arbeiten hat“ (ebd.). Daran können die Reformpädagogen um die Jahrhundertwende anschließen.
4.2 Reformpädagogik und ihre Folgen Reformpädagogik ist eine Vorstellung, die gemeinhin im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts verortet wird. Ihre Vertreter propagieren als wichtigste Prinzipien eine am Kind orientierte Schule und ein ganzheitliches Lernen. Schule wird als Lebensraum betrachtet, was sich auf die Unterrichtsgestaltung und die Forderung an Lehrkräfte nach einem methodenbewussten Nachdenken auswirkt. Dahinter steht ein (romantisches) Konzept von Kindheit, bei dem das Kind dem Erwachsenen als ebenbürtig, ja sogar als überlegen, gilt, auf jeden Fall aber eine in sich und für sich wertvolle ‚Persönlichkeit‘ hat. Die Schule ermöglicht ein ‚Lernen mit allen Sinnen‘, damit sich die Persönlichkeit entwickeln kann. Sie definiert sich nicht als Schule des Wissens und Könnens, sondern als eine, die (künstlerischen) Prinzipien des ‚Schaffens‘ verpflichtet ist, was sich auf die Ausstattung der Klassenräume, die Unterrichtsorganisation und die Rolle der Lehrperson auswirkt. Ein entscheidender Einfluss ist dabei der Kunsterziehungsbewegung zuzuschreiben, die sich in den ‚Kunsterziehungstagen‘ zwischen 1901 und 1905 manifestiert hat und eine Atmosphäre des Aufbruchs zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit markiert. Aus dieser Perspektive ist das ‚Schaffen‘ der Kinder und sind ihre Produkte im Fach Kunst und im Fach Deutsch wegen ihrer Unverfälschtheit und Natürlichkeit geschätzt. Eine altersgerechte, individuelle Sprachform soll sich ‚entwickeln‘ und – zunächst – weder durch Orthographie noch Grammatik eingeengt oder gar dirigistisch korrigiert werden. Die Unterrichtskommunikation besteht in einem freien
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Gedankenaustausch zwischen Schülern und Lehrern und im Aufsatzunterricht wird den Kindern eine unbefangene Freude am schriftlichen und mündlichen Erzählen gewährt. Man ist an Jacob Grimm erinnert und erkennt dabei die romantische Anbindung der Bewegung. Da die Komponenten jedoch nicht selbsterklärend sind, führen die konkreten Umsetzungen in der Folgezeit zu unterschiedlichen Akzentuierungen und langfristig zu nicht unerheblichen Widersprüchen (Mieth 1994; Karg 2007). An einigen Vertretern sei dies veranschaulicht: Jensen und Lamszus propagieren in ihren Schriften „Unser Schulaufsatz, ein verkappter Schundliterat“ von 1910 und „Der Weg zum eigenen Stil“ von 1912 (Ludwig 1988; Karg 2007), dass die Kinder ihre eigenen Erlebnisse erzählen, nicht aber Kopien fremder, d. h. den Kindern fremder Muster nachbilden sollen. Der ‚freie Aufsatz‘ wird zum Schlüsselbegriff der reformpädagogischen Schreibdidaktik. Frei sollten Themenwahl, Inhalt und Darstellungsform der schriftlichen Arbeiten sein. Doch die Abwesenheit jeglicher Vorgaben konnte sich kaum als allgemein gültiges Konzept sprachlicher Bildung in öffentlichen Schulen durchsetzen, gerade nicht für die Schriftlichkeit. Weitergedacht werden die Ansätze in Verbindung mit dem Konzept der ‚Arbeitsschule‘, bei dem ‚Bildung‘ mit dem Bezug zu Lebenswirklichkeit und Alltagstauglichkeit definiert wird – in den Worten seines wohl bedeutendsten Vertreters Rudolf Kerschensteiner eine „Schule, die durch Arbeit zu immer höherer Bildung führt“ (Kerschensteiner 1908, 36). Für den Aufsatz reduziert Lotte Müller die freie Themenwahl, Susanne Engelmann meint, jeder Gegenstand erfordere eine eigene sprachliche Darstellung und Sigismund Rauh fragt nach den Funktionen von Texten im Leben (vgl. Ludwig 1988, 330). Die Orientierung am Kind bleibt, doch wird das ‚Schaffen‘ im Sinne von Alltagswirklichkeit und späterer Berufstätigkeit (Arbeitswelt) mit Inhalten und Zielen gefüllt. Nicht überwunden ist damit die Schulartenspezifik. Im Hinblick auf den Anspruch gymnasialen Sprachunterrichts fordert Wilhelm Schneider eine „Zwecksprache“, die sich am alltagssprachlichen Schriftgebrauch der Erwachsenenwelt orientieren soll. Dennoch ist der reformpädagogische Ansatz nicht nur als Gegenmodell wichtig gewesen. Denn ohne ihn wäre „sprachschöpferische“ Tätigkeit (Ludwig 1988, 347), die Walther Seidemann vertritt, kaum denkbar gewesen. Bei ihm bedeutet dies allerdings nicht die Abwesenheit von unterrichtlicher Steuerung, sondern die Bewältigung von „Gestaltungsaufgaben“ (ebd.). Damit war ein theoretischer Rahmen gesteckt, in dem die Einteilung in sachlich-objektive und subjektiv-erlebnisorientierte Darstellungen, die so genannten ‚Stilformen‘, den deutschen Aufsatzunterricht jahrzehntelang prägten. An Seidemanns und Schneiders Arbeiten aus den 1920er-Jahren knüpfte man nach 1945 wieder an. In der Praxis ging schriftlicher Arbeit immer eine mündliche Vorbereitung voraus. Erst die so genannte ‚kommunikative Wende‘ und eine kreative und prozessorientierte Spracharbeit sollte eine Änderung bringen, griff aber gleichzeitig frühere Komponenten sprachlicher Bildungskonzepte wieder auf.
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4.3 Sprache und Gesellschaft („Kritische Bildungstheorie“) Hat es gedauert und Anstrengungen gekostet, ein Bildungswesen zu organisieren und darin sprachliche und insbesondere muttersprachliche Bildung für alle zu garantieren, so sieht man sich plötzlich gerade der Kritik der dafür eingerichteten Institutionen gegenüber. Außerhalb eines Kreises von Experten ist Joachim Heydorn (1916–1974) nur wenig bekannt. Sein Werk lasse sich nicht thesenartig zusammenfassen (Pongratz 1995, 19), wird aber dennoch mit Schlagworten wie „Bewußtsein ist alles“, „Vernunft“, „Freiheit“ oder „Überleben durch Bildung“ referiert. Heydorns Versuch einer Umsetzung, konsequenten Anwendung oder Aussöhnung idealistischer Bildungstheorie (anders Pongratz) mit einer Vorstellung von ‚Bildung für alle‘ führt zu einer entschiedenen Ablehnung des dreigliedrigen Schulsystems, gegen das er den bekannten Vorwurf vorbringt, es reproduziere und zementiere die Gesellschaftsstruktur der Bundesrepublik Deutschland. Seine kritische Bildungstheorie ist daher nicht zu lösen von seiner Gesellschaftskritik (und seinen politischen Aktivitäten und deren Folgen) und geht zugleich einher mit einer Kritik an der Sprache des beginnenden Technologie-Zeitalters. Sie wird ihm zum Anlass, sich generell gegen die Reduktion von Sprache als einem bloßen Instrument und Zeicheninventar zur Kommunikation auszusprechen. Auch wenn in der Ausbildung zu bestimmten Berufen die Kommunikationsfähigkeit bedacht werden müsse, so ist Sprache, wie er sie versteht, in viel grundsätzlicherem Sinne die zentrale Komponente in seiner Bildungstheorie. Sie hat für ihn eine befreiende Funktion und ein subversives Potential. Der Aufruf dessen, was einst Humboldt formulierte, ist unverkennbar, führt jedoch zu anderen Konsequenzen. Wolfgang Klafki, bekannt für seine „Kritische Erziehungswissenschaft“, definiert in seinen „Neue[n] Studien zur Bildungstheorie und Didaktik“ von 1991 „Bildung als Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung“ (Klafki 1991, 19 ff.). Explizit knüpft er an Kant an, zieht aber auch eine Traditionslinie, in die er „Lessing, Kant, Herder, Goethe, Schiller, Pestalozzi, Schleiermacher, Herbart, Humboldt, Fichte, Hegel, Diesterweg, Fröbel u. a.“ (ebd., 95) sowie – in seiner unmittelbaren Umgebung – Theodor Litt, Erich Weniger und Hermann Nohl einreiht. Er spricht von der „Verfallsgeschichte des Bildungsbegriffs“ (ebd., mehrfach), aber auch von Versuchen der Neubesinnung auf die aufklärerische Substanz des klassischen Bildungsbegriffs, wie sie in den letzten zwei Jahrzehnten etwa bei Heinz-Joachim Heydorn, Herwig Blankertz, Karl-Ernst Nipkow, Jürgen-Eckardt Pleines u. a. geleistet worden ist. (ebd., 96)
Die Rolle, die Klafki der Sprache im klassischen Bildungsbegriff zuerkennt, ist folgende: Zum einen realisiert sich Sprache bzw. die Sprachlichkeit als eines der Wesensmerkmale menschlicher Existenz in der Vielzahl unterschiedlicher Sprachen; zum anderen erlaubt jede einzelne Sprache als ein Konkret-Allgemeines allen denen, die sie sich aneignen, unbeschadet
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der Gleichheit des Wortschatzes und der syntaktischen Strukturen eine unendliche Fülle individueller Realisierungen. Sprachbildung heißt daher immer auch, jedem Kinde, jedem jungen Menschen wie jedem Erwachsenen zu ermöglichen, Sprache im Vollzug und in der Reflexion als Möglichkeit der Ausbildung seiner Individualität zu erfahren und zu praktizieren. (ebd., 26)
Sprachliche Bildung erschöpft sich demnach – erneut – nicht im Gebrauch der Sprache, obwohl sie diesen nicht vernachlässigt. Sie ist beides, „Vollzug“ und „Reflexion“. Humboldt hatte den Sprachunterricht nicht „zum äussern Bedarf“, sondern „zur wahren Bildung“ gedacht. Klafki gliedert die sprachliche Bildung auf und unterscheidet für den Aneignungsprozess drei Ebenen (ebd., 193 ff.): Sprache im „konkreten Vollzug“; „inneres Sprechen“ als ein erster Abstraktionsschritt und schließlich „eine produktive Begriffsbildungs- bzw. Systematisierungsleistung.“ Für die Grundschule allerdings, so meint er, seien weitere Differenzierungen innerhalb dieser drei „Hauptebenen“ nötig. Ferner geht Klafki auf Sprache nicht nur als Unterrichtsgegenstand, sondern als Unterrichtsmedium ein. Im weiteren Sinne und über Klafki hinausgehend ist damit das Problem angesprochen, dass Kindern nicht ohne Weiteres der ‚Bildungscode‘ gegenwärtig ist. Im Zusammenhang schichtenspezifischer Sprachsozialisation kommt dies besonders in den Blick und betrifft auch ganz grundsätzlich den educa tion code bzw. Sprache als Sprachhandeln und Sprache als diskursive Praxis. Klafki selbst meint hinsichtlich der Unterrichtskommunikation, dass der Unterricht nicht allein im Medium Sprache erfolgen sollte (ebd., 314) und nennt eine Reihe anderer Vermittlungsverfahren und „Lernaktivitäten“ für unterrichtliche Inhalte, wobei er jedoch deutlich macht, dass auch diese nicht ohne Sprache auskommen.
4.4 Schichtenspezifischer Code? (Basil Bernstein und seine Wirkung) Nicht erst mit der Frage der Unterrichtskommunikation kommt das Problem der ‚Teilhabe‘ an sprachlicher Bildung von Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher sozialer Herkunft in den Blick. Doch in neuerer Zeit ist der Zusammenhang von Sprache und Gesellschaftsschicht insbesondere mit dem Namen von Basil Bernstein verbunden. Bereits 1958 hat Bernstein in England Untersuchungen dazu durchgeführt. Zunächst sind grundsätzliche Einsichten zu benennen: – Mit der Sozialisation, d. h. der Einübung von Werten, Normen und Verhaltensmustern, wird auch Sprache gelernt. Sprache ist dabei – hierin besteht der entscheidende Unterschied zu Chomskys ‚Kompetenz‘ – nicht ein neutraler (und so zu beschreibender) Satz von Regeln, sondern vermittelt Werte und Normen der Familie, sozialen Umgebung und Gesellschaft. – Die Schichtung der Gesellschaft erfolgt durch Bedingungen der Arbeit, der Art und Verteilung von kulturellem Wissen und den Umgang damit. Sie wird mani-
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fest in Rollen und Rollenzuweisungen, die ebenfalls sprachlich vermittelt sind: Die Aneignung der ‚Welt‘, das Sammeln von Erfahrungen ist soziales Lernen. Das Sprachlernen geht damit einher. Was nun die Sprache, in diesem Sinne verstanden, angeht, so zeigt sich für Bernstein ein schichtenspezifisches Sprachverhalten, das sich in zwei Codes manifestiert. Sie grenzt Bernstein gegeneinander ab: – Ein ‚restringierter Code‘ ist durch einfachen, wiederholenden Satzbau, eine reduzierte Auswahl im Wortgebrauch, eine wenig Abstrakta verwendende Ausdrucksweise, viele Befehle und Fragen, häufige Verwendung von Formeln oder Floskeln gekennzeichnet, die sich der Aufmerksamkeit und Bestätigung versichern. – Ein ‚elaborierter Code‘ hingegen weist Abstrakta, komplexe, hypotaktische Sätze, und Vielfalt und Abwechslung im Sprachgebrauch auf. Auch wenn Bernstein von einer gewissen eigenen ‚Ästhetik‘ und nicht unerheblichen Bedeutungspotentialen des so genannten restringierten Codes spricht, bleibt doch dahinter die Vorstellung von Defiziten, die bei Unterschichten aufgrund ihrer sprachlichen Sozialisation bestehen und weitere nach sich ziehen. Nicht zu übersehen war gewesen, dass Kinder aus bestimmten Schichten kaum oder nie eine höhere Schule besuchten. Im Zuge der Bildungsreform der späten 1960er-Jahre in der Bundesrepublik wurden Bernsteins Thesen aufgegriffen. Da Bildung überhaupt sprachlich bedingt zu sein schien, wurden daraus zwei unterschiedliche Konsequenzen gezogen: Die eine bestand in der Einrichtung kompensatorischer Sprachprogramme, mit denen Kinder auf ein höheres Niveau gehoben werden sollten. Denn ‚Intelligenz‘ sei lediglich hinter einem bestimmten Soziolekt verborgen und könne sich entfalten, sobald man nur die sprachlichen Defizite ausgeglichen habe. Die zweite Konsequenz bestand gerade in einer Kritik an diesen Programmen der „Sprachanreicherung“ (Diskussion Deutsch 1971, 89; 93), ja grundsätzlich an der Normorientierung des ‚elaborierten‘ Codes als Code der Mittelschicht. Der Jahrgangsband der Zeitschrift „Diskussion Deutsch“ von 1971 ist nahezu ausschließlich dem Thema gewidmet: Die empirischen Befunde zeigten, warum Sprachunterricht zum Scheitern verurteilt sei, denn er ziele auf Anpassung, die nicht funktionieren könne, solange die Gesellschaftsstrukturen so blieben wie bisher. Auch sei Spracharbeit nur formale Grammatik, faktisch aber nicht neutral, da sie gleichzeitig Inhalte vermittle, die den Unterschichtenkindern fremd seien. Sie hätten auch gar keine Möglichkeit einer ‚elaborierten‘ Sprachpraxis in ihrem Umfeld, allenfalls führte sie dort zu mehr Konkurrenz statt Solidarität. Insbesondere aber sei ein ‚elaborierter Code‘ keine höhere kognitive Leistung. Die Bewertung stelle eine „Arroganz“ dar, und die einzig mögliche Folgerung bestehe in der Umstrukturierung der Gesellschaft. Die Arbeiten lehnen aus erkennbaren ideologischen Gründen eine Sprachförderung ab, ohne sich mit den Grundlagen des Spracherwerbs und den linguistischen
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Positionen ihrer wissenschaftlichen Umgebung ernsthaft zu befassen. In der Ablehnung eines Zusammenhangs zwischen Satzstruktur und kognitiver Leistung wird ‚Satz‘ nicht problematisiert; dasselbe gilt für den Unterschied zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache. Erst recht kommen satzübergreifende Konnektoren, Textund Argumentationsstrukturen nicht in den Blick. Man könnte nun der Auffassung sein, dass es sich um eine zeitlich begrenzte und der politischen Landschaft um das Jahr 1970 geschuldete ideologische Entgleisung handelt. Doch ist die Wirkung nicht zu unterschätzen: Mehrfach wird die Forderung erhoben, die ‚Lesebücher‘ für den Deutschunterricht zu verändern, die als Arbeitsbücher auch dem anvisierten Ziel gesellschaftlicher Veränderung dienen können. Zwischen den Autoren der ersten Bände von „Diskussion Deutsch“ und den Herausgebern des Unterrichtswerks „Lesen-Darstellen-Begreifen“ des Hirschgraben-Verlages gibt es personelle Übereinstimmungen. Das Buch war in den 1970er-Jahren sehr populär. Neu sind Textauswahl, die Formulierung von Aufgaben und insgesamt ein konsequent integratives Prinzip. Ferner fällt die Gründung der Zeitschrift „Diskussion Deutsch“ in eine Zeit, in der sich eine als Wissenschaft verstehende Deutschdidaktik etabliert und sich das „Symposion Deutschdidaktik“ konstituiert.
5 Sprachliche Bildung für Mädchen in (deren) beruflicher Bildung 5.1 Sprache und gender awareness Der auffälligste Geschlechterunterschied in den Bildungsleistungen ist der Vorsprung der Mädchen im Lesen. Im Durchschnitt lesen Mädchen mehr und haben mehr Freude am Lesen als Jungen. Ein Leistungsvorsprung der Mädchen im Lesen wurde durchgängig in allen Staaten, in unterschiedlichen Altersgruppen, Untersuchungszeiträumen und Bildungsgängen erkannt. (Europäische Kommission 2009, 11)
Die Kommunikation über die Befunde der so genannten ‚Bildungsstudien‘ benennt hier einen klaren Widerspruch: Denn zum einen gilt Lesen als ‚Basiskompetenz‘, d. h. als Grundlage für alles Verstehen, gleichgültig in welchem Unterrichtsfach. Doch in Mathematik und den Naturwissenschaften „schneiden“ die Jungen weltweit besser „ab“ als die Mädchen. Ferner kann man an anderer, aber einschlägiger Stelle erfahren: Forschungsarbeiten zeigen, dass diese Arten [verschiedene Leseabsichten werden genannt, IK] der Lesekompetenz verlässlichere Prädiktoren des wirtschaftlichen und sozialen Wohlbefindens sind als die Anzahl der in der Schule oder in Bildungsmaßnahmen nach der formellen Bildung verbrachten Jahre. (OECD 2010, 6)
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Frauen müssten, so besehen, sowohl hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen als auch ihrer finanziellen Situation Spitzenpositionen einnehmen. Doch bekanntlich wird noch immer von politischen Parteien (und Regierungen) ein ‚Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit‘ gefordert, über Quotenregelungen diskutiert und Ausschreibungstexte schulden es nicht nur (?) der political correctness, wenn sie eine besondere Berücksichtigung von Frauen ankündigen. Denn: In den vergangenen Jahren lag der Gender Pay Gap [sic!], definiert als der prozentuale Unterschied im durchschnittlichen Bruttostundenverdienst von Männern und Frauen, konstant bei 23 %, das heißt der durchschnittliche Bruttostundenverdienst von Frauen war um 23 % geringer als der von Männern. (Statistisches Bundesamt 2010, 792)
Das Thema ist auch unter sprachlichen Gesichtspunkten prominent. Schmidt (1995) kritisiert in ihrem Beitrag über die Pädagogik Heydorns die verbreitete Annahme einer „Geschlechtsneutralität von Denkprozessen“ (ebd., 188). Sie zeigt mit Bezug auf eine Analyse der italienischen Philosophin Adriana Cavarero, wie etwa ‚der Mensch‘ nur vermeintlich ein neutraler Begriff ist und bei seiner Verwendung „der Mann als das handelnde Subjekt zu denken ist“ (ebd., 189). Dadurch klafften zu einem die tatsächlichen Formulierungen und die impliziten, versteckten Annahmen auseinander, wobei Letztere bis in die jüngste Vergangenheit Wirkungsmacht entfaltet hätten. Immerhin hat sich ein bis vor kurzem unreflektierter Zusammenhang von Rollenbild und Sprache konkret aufzeigen lassen, etwa in männlichen Berufsbezeichnungen (Feuerwehrmann), in Konnotationen, die ungleich auf Geschlechter verteilt sind (lachen, kichern) oder in Tätigkeiten, bei denen Frauen oder Männer, und jeweils nur sie, dargestellt werden (Europäische Kommission 2009, 30). Zu befragen sind noch immer greifbare Klischees in der Sprachverwendung und implizite Annahmen, viel mehr aber wäre eine grundsätzliche sprachtheoretische Diskussion über das Verhältnis von Sprache und (konstruierter) Wirklichkeit bzw. Sprach- und Wissenserwerb erforderlich. Rollenzuschreibungen und dabei Sprache- und Spracherwerb haben allerdings eine lange Tradition.
5.2 Johann Heinrich Campe und die Folgen Mit seinem Buch „Väterlicher Rath für meine Tochter“ mit dem Untertitel „Der erwachsenen weiblichen Jugend gewidmet“ entwirft Joachim Heinrich Campe 1790 ein Programm zur „Erreichung“ der „allgemeine[n] und besondere[n] Bestimmung des Weibes“. Dazu dienen: Solche Kunstfertigkeiten und solche Kenntnisse aus Büchern und durch Unterricht, als zu ihrer eigenen zweckmäßigen Ausbildung, zum Vergnügen ihres gebildeten Gatten, zu einer vernünftigen Behandlung junger Kinder und zu der ganzen Erziehung ihrer künftigen Töchter insonderheit gehören. (Campe 1790, XII)
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Lektüre empfiehlt der Vater jedoch sehr selektiv. Er warnt vor solchen „Schriften“, in denen „man es […] recht eigentlich darauf angelegt hat, die Einbildungskraft der Leser durch schlüpfriche Bilder und schändliche Ideen zu besudeln“ (ebd., 117). Auch das Sprachenlernen wird sehr restriktiv gehandhabt: Fremdsprachen müsse die Tochter nicht lernen. Alles, was sie brauche, besitze das Elternhaus „in unserer eigenen Muttersprache“ (ebd., 121). Die (spätere) „bürgerliche Hausmutter“ werde kaum reisen und überhaupt „lernt man eine fremde Sprache, sobald sie uns zum wirklichen Bedürfnisse geworden ist, an Ort und Stelle bald und leicht“ (ebd., 121). Es ist nicht unwichtig zu erwähnen, dass Campe Humboldts Tutor gewesen ist, der seinerseits zwei Traktate über den „Geschlechtsunterschied“ verfasst hat. Der Bildungsdiskurs des 19. Jahrhunderts und seine Begleitung im Bildungsroman (Karg/ Kuzminykh 2014) hat ‚Bildsamkeit‘ zur Voraussetzung, die in den Theorien und Programmen des 19. Jahrhundert den Mädchen nicht zugestanden war. Das ‚Humanistische (Altsprachliche) Gymnasium‘ Humboldtscher Prägung war Mädchen lange verschlossen und wurde erst allmählich und dann auch nur von einigen wenigen besucht. Campes Traktat hat langdauernde Wirkung gehabt.
5.3 Realität der Bildung und Ausbildung: Sprachkompetenz in (Frauen-) Berufen? Gegenwärtig – so erfährt man (Webseite Mädchengymnasien) – existieren im Bundesgebiet 57 Gymnasien für Mädchen. Den höchsten Anteil weist Bayern auf, wo es (ausschließlich) an diesen Schulen die Sonderheit eines so genanntem ‚sozialwissenschaftlichem Zweiges‘ gibt. Ältere Gründungen gehen auf kirchliche und klösterliche Initiativen zurück. Mädchengymnasien in öffentlicher Trägerschaft nehmen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zu, wobei jedoch für die Motivation noch immer Campes Argumente der späteren Rolle der Frau durchschlagen. Gegenwärtig folgen sie den Lehrplanvorgaben des jeweiligen Bundeslandes. Was nun die Berufstätigkeit angeht, so haben laut Statistischem Bundesamt (vgl. oben) Frauen überproportionale Anteile als Erzieherinnen mit 92,8 %; Lehrerinnen der GHR und Sonderschule mit 75,8 %; als Verkaufspersonal mit 80,3 %; in der Krankenpflege mit 91,3 %; in der Altenpflege mit 86,8 %. Dabei ist zu bedenken, dass Sprache eine hervorgehobene Rolle in Erziehungs- und Lehrberufen bzw. der Ausbildung dazu spielen muss, da beide Facetten, die Sprachnutzung im Sinne eines sprachlichen Vorbildes und die Sprache als Gegenstand, Aufmerksamkeit brauchen. Dies weist auch ganz grundsätzlich auf die Frage der Bedeutung von Sprache in Ausbildungsberufen hin. Hier ist die Spannung zwischen Nützlichkeit einerseits und dem Bildungsanspruch im idealistischen Sinne besonders prominent. Grundmann (2008) apostrophiert einen Anspruch der Persönlichkeitsbildung, der nur dann umgesetzt werden könne, wenn die Sprachfähigkeit der späteren Berufstätigen weit über ein fachlich-beruflich wirkungsvolles Können hinausgehe. Er bedauert daher die Verkür-
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zung des Faches Deutsch in Berufsbildenden Schulen auf ‚Sprache und Kommunikation‘, die dazu führe, fachspezifisches beruflich nützliches Sprechen zu trainieren und nur Fachtexte zu lesen. Mit Berufung auf Humboldt (sic!) versteht er Sprache als Ordnung der Gedanken und fordert, die „fachsprachlichen Fähigkeiten so zu fördern, dass zugleich das individuelle Sprachvermögen insgesamt gefördert wird“ (ebd., 10); denn je entwickelter die sprachliche Handlungsfähigkeit insgesamt, desto größer auch die Fähigkeit, Sprache in den unterschiedlichsten Situationen, als situationsadäquat und adressatenbezogen, generieren, kurz: in der konkreten Situation effektiv gebrauchen zu können. (ebd., 6)
Die Linien lassen sich von solchen Aussagen, erfahrenen Notwendigkeiten und erlebten Defiziten im Bildungsbereich in alle betrachteten und aufgerufenen Facetten des Bildungsdiskurses und der Diskussion um die Sprache(n) in Vermittlungszusammenhängen ziehen.
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Walter Herzog
12. Die Sprache als Mittel der politischideologischen Einflussnahme auf das Bildungssystem Abstract: Die Analyse politischer und ideologischer Einflussnahme auf das Bildungssystem muss einerseits mit komplexen Verhältnissen rechnen, da das System nicht nur einer eigenen, genuin pädagogischen Logik folgt, sondern auch eine innere Differenzierung aufweist, die Einflüssen von außen Grenzen setzt. Die Sprache in Bildung und Erziehung erweist sich andererseits als analytisch unscharf, semantisch unbestimmt und instabil. Sowohl Auslassungen, die zu einem reduktionistischen Bild der Erziehungswirklichkeit führen, als auch eine begriffliche Vagheit, die aus einer paradoxen Wurzelmetaphorik hervorgeht und Begriffsimporte aller Art zur Folge hat, ermöglichen es, bei entsprechender Wortwahl oder semantischer Umdisponierung im Bildungssystem Resonanz zu erzeugen, was allerdings keine Garantie bietet, dass die politische oder ideologische Einflussnahme wirksam ist. 1 Einleitung 2 Politik und Bildung 3 Reduktionismen 4 Vage Begrifflichkeit 5 Bilanz 6 Literatur
1 Einleitung Bildung und Erziehung sind alltäglich vertraute Phänomene. Die pädagogische Grundoperation – jemandem uneigennützig etwas beibringen, das dieser auf sich allein gestellt nicht oder nur mühsam erwerben könnte – stellt mit großer Wahrscheinlichkeit ein Humanspezifikum dar, das sich bei anderen Lebewesen nicht findet (vgl. Kruger/Tomasello 1996). Die Sprache, in der wir über Bildung und Erziehung sprechen, ist daher eine pragmatisch fundierte Sprache, die der Regulierung alltäglicher Probleme beim Umgang von Erwachsenen mit Kindern und Jugendlichen dient. Sowohl Wissenschaft wie Politik sind an die pädagogische Alltagssprache zurückverwiesen, wenn sie sich auf Bildung und Erziehung einlassen. Gleiches gilt für pädagogische Professionen, die im Kontext institutionalisierter Bildung in Schule oder Sozialarbeit eine eigene Sprache verwenden, die aber ebenfalls nicht unabhängig von der pädagogischen Alltagssprache ist.
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Über politisch-ideologische Einflussnahme auf das Bildungssystem Aufschluss zu gewinnen, ist daher nicht möglich, ohne zu klären, wie die verschiedenen Diskursfelder zueinander stehen. Dies wird unser erster Schritt sein. Dabei werden wir uns mit dem alltagspädagogischen Diskurs allerdings nur am Rande befassen. Der Fokus unserer Ausführungen liegt auf dem Verhältnis von Politik und institutionalisierter Bildung (insbes. Schule). Die Strukturierung der Diskursfelder wird uns ermöglichen, im zweiten und dritten Schritt zwei Bündel von Mechanismen der politisch-ideologischen Einflussnahme auf das Bildungssystem genauer zu untersuchen: Mechanismen der Reduktion von pädagogischer Komplexität und Mechanismen der sprachlichen Manipulation von pädagogischer Wirklichkeit. Eine kurze Bilanz wird unsere Ausführungen abschließen.
2 Politik und Bildung Das Verhältnis von Politik und Bildung ist komplex. Insofern es in der Politik um die kollektiv bindende Regelung von Aufgaben geht, welche die Menschen gemeinsam betreffen, erweisen sich Erziehung und Bildung in einer modernen Gesellschaft als zentrale politische Themen. Trotzdem steht es der Politik nicht zu, das Aufwachsen der nachwachsenden Generationen im umfassenden Sinn zu regulieren. Ihre Zuständigkeit ist beschränkt auf den Raum der öffentlichen Erziehung, wie sie in Schulen und vergleichbaren Institutionen stattfindet, wofür wir im Folgenden den Begriff des Bildungssystems verwenden. Die Familie und die familiale Erziehung sind demgegenüber dem politischen Zugriff weitgehend entzogen. In soziologischer Perspektive sind Bildung und Erziehung funktional für die Reproduktion der Gesellschaft, wobei Funktionen wie die Tradierung von Wissen und Können, die Vermittlung von Werten und Normen, die Legitimation von Herrschaft und sozialer Ungleichheit sowie die Allokation von sozialen Positionen im Vordergrund stehen. In einer funktional differenzierten Gesellschaft erbringt das Bildungssystem zudem Leistungen für andere Teilsysteme, wie insbesondere die Wirtschaft, die Politik und die Wissenschaft. Funktionale Differenzierung meint, dass kein gesellschaftliches Teilsystem die Aufgabe der Integration des Gesamtsystems wahrnimmt, auch das politische System nicht. Das heißt nicht, dass die Systeme unverbunden nebeneinanderstehen, jedoch vermögen sie nicht, steuernd in die Funktionsweise anderer Systeme einzugreifen (Luhmann 2002, 138). Außenbeziehungen verlaufen über strukturelle Kopplungen, die das Fremdsystem „nur irritieren, nicht determinieren können“ (ebd., 119). Jedes Partialsystem bildet zudem eine „Semantik der Selbstsinngebung“ (Luhmann 1997, 745) aus, d. h. eine eigene Sprache, in der es reflexiv auf sich Bezug nimmt und eine „Selbstbeschreibung“ (ebd., 866 ff.) anfertigt. Diese Form der selektiven Selbstvergewisserung wirkt als Filter, der die steuernden Eingriffe von außen abfängt und auf ihre Systemadäquatheit überprüft.
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Für das Bildungssystem heißt dies, dass es sich politisch – entgegen gängiger Terminologie – nur bedingt ‚steuern‘ lässt. Wie sehr die Politik auch immer über Macht verfügen mag, die funktionale Differenzierung der Gesellschaft grenzt die Möglichkeiten der politischen Einflussnahme auf das Bildungssystem deutlich ein. Zudem steht das Bildungssystem nicht nur in Relation zum politischen System, sondern auch zum Wissenschaftssystem, das sich in Gestalt von Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung des Geschehens in Schule und Unterricht annimmt. Auch hier haben wir es mit Außenbeziehungen zu tun, die keine direkte Einflussnahme – zum Beispiel in Form von Erziehungstechnologien – auf die Praxis von Bildung und Erziehung erlauben. Das Verhältnis von Politik- und Bildungssystem erweist sich aus einem weiteren Grund als komplex. Nicht nur funktioniert das Bildungssystem als Teilsystem der Gesellschaft nach Regeln, die sich von den Regeln anderer Systeme unterscheiden, es weist auch eine innere Struktur auf, die eine steuernde Einflussnahme kaum zulässt. Die administrativen Steuerungsimpulse versickern gewissermaßen im Dickicht einer verschachtelten Organisations- und Interaktionsstruktur, die Ansprüche an die Akteure stellt, die der zweckrationalen Logik des politischen Handelns nur bedingt entsprechen. Schulen stellen Systeme dar, deren Einheiten nur lose miteinander gekoppelt sind (vgl. Meyer/Rowan 1977; Weick 1976). So stellt die Schulleitung nicht den verlängerten Arm der Schulverwaltung dar, sondern entscheidet nach eigenen Kriterien. Desgleichen lässt sich das Handeln der Lehrpersonen aufgrund der Komplexität ihrer Aufgabe nicht von außen determinieren. Weder die Schule als Organisationssystem noch der Unterricht als Interaktionssystem bilden ein bloßes Anhängsel der Politik. Insbesondere der Unterricht, dessen Fokus in der Veränderung von Individuen liegt, kann nicht durch Organisation reguliert werden, weil dazu eine verlässliche Technologie fehlt. Zwar wird Schule durchaus organisiert – in Form von Jahrgangsklassen, Lehrplänen, Prüfungsordnungen etc. –, doch handelt es sich dabei um Rahmenbedingungen des Unterrichts, die den Lehr-Lernprozess nicht determinieren, sondern lediglich eingrenzen. Die Interaktion folgt ihren eigenen Systemgesetzen und nimmt das Organisationsprogramm nicht oder nur begrenzt auf. Das organisatorisch Vorgesehene wird auf der Ebene der Interaktion unterlaufen, deformiert oder gar absichtlich zum Entgleisen gebracht. (Luhmann 2008, 218)
Dabei handelt es sich nicht um Ungehorsam oder heimlichen Widerstand, sondern um die Kapazitätsgrenzen eines Sozialsystems, das den Wechselfällen zeitlich strukturierter Interaktionen unter Anwesenden ausgesetzt ist. Zwischen der administrativen Ebene des Bildungssystems und der pädagogisch ausschlaggebenden Interaktionsebene des Unterrichts befindet sich eine Art semipermeable Membran, in die eine grammar of schooling eingeschrieben ist, die verhindert, dass politisch oder ideologisch motivierte Eingriffe bis auf die Unterrichtsebene durchschlagen (vgl. Herzog 2013; Tyack/Tobin 1994). Die Grammatik der Schule ist
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eine Tiefengrammatik, die festlegt, was eine Schule als Schule auszeichnet. Sie lässt eine Reihe von Artikulationen zu, ohne dass sich am ideellen Kern von Schule etwas ändert. Die Grammatik zu missachten und politisch-administrativ eine Schulreform durchsetzen zu wollen, die ihr widerspricht, ist schlechterdings unmöglich. Für die Bildungspolitik hat dies zur Folge, dass sie weder die Schule noch den Unterricht direkt erreichen kann. Vielmehr sind Systemgrenzen zu überwinden, was nur mittels Kommunikation geschehen kann. Die Kommunikation kann aber nicht beliebig sein, sondern muss sich einer Sprache bedienen, die im Bildungssystem verstanden wird. Dabei kommt der Politik entgegen, dass die Sprache des Bildungssystems aufgrund der Alltäglichkeit von Bildung und Erziehung unpräzise und schwankend ist. Nicht nur weist keiner der im deutschen Sprachraum geläufigen pädagogischen Begriffe – wie insbesondere Bildung, Erziehung und Unterricht – eine Präzision auf, die ihn als unmissverständliches Kommunikationsmittel gebrauchen ließe, auch die von Laien und Professionellen benutzten Alltagstheorien des Pädagogischen sind anfällig für semantische Aufladungen aller Art. Das macht es nicht nur politischen, sondern auch ideologischen Gruppierungen einfach, sich trotz der komplexen Verhältnisse im Bildungssystem in der pädagogischen Praxis Gehör zu verschaffen. Um das Bildungssystem, insbesondere dessen operativen Kern, kommunikativ zu erreichen, sind mehrere Systemgrenzen zu überwinden. Nicht nur die funktionale Differenzierung von Politik und Bildung, auch die Verschachtelungsverhältnisse innerhalb des Bildungssystems lassen einen einfachen Durchgriff auf das Unterrichtsgeschehen nicht zu. Aufgrund der begrifflichen und theoretischen Schwächen seiner „Selbstsinngebung“ (Luhmann) ist das System jedoch irritierbar durch sprachliche Innovationen, semantische Umdisponierungen und schnell wechselnde Modethemen, die weltanschaulich-ideologische Positionen nutzen können, um sich Gehör zu verschaffen. Dabei sind es zwei Konstellationen, die wir etwas genauer untersuchen wollen: erstens ein Hang zur übermäßigen Reduktion der Komplexität von Schule und Unterricht und zweitens eine Begrifflichkeit, die sich aufgrund ihrer Vagheit fast beliebig mit wechselndem Inhalt füllen lässt.
3 Reduktionismen Eine gängige Methode, um auf das Bildungssystem politisch oder ideologisch Einfluss zu nehmen, besteht darin, die verfolgten Ziele in Worte zu kleiden, die dem Selbstverständnis der Akteure im System möglichst nahe sind. Dabei lassen sich Ausblendungen nutzen, die im System selber weit verbreitet sind, wie etwa die Reduktion aufs Individuum oder auf das pädagogische Verhältnis, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass eine Botschaft von außen nicht abgewehrt oder als ‚unpädagogisch‘ zurückgewiesen wird. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wollen wir im Folgenden
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vier solche kommunikativ wirksamen Reduktionismen diskutieren: Reduktion auf das Individuum, Reduktion auf das pädagogische Verhältnis, Mythisierung des Pädagogischen und Ausblendung der Zeit.
3.1 Reduktion auf das Individuum Ein geradezu klassisches Einfallstor ins Bildungssystem stellt der Individualismus der neuzeitlichen Pädagogik dar. Einer ihrer Gründungsväter, Johann Friedrich Herbart, nannte die Pädagogik ausdrücklich eine „Wohltäterin der Einzelnen“ (Herbart 1810 [1964], 77). Da jedes Individuum der Erziehung für sich bedürfe, müsse sie sich auch jedes Individuum einzeln vornehmen. Noch stärker aufs Individuum ausgerichtet ist der Bildungsbegriff (vgl. Bollenbeck 1994; Menze 1970). Während unter Erziehung zumeist eine Fremdeinwirkung auf einen Edukanden verstanden wird, gilt Bildung als Selbstformung des Individuums. Gemäß Humboldt (1793 [1960], 25) hat „alle Bildung […] ihren Ursprung allein in dem Innern der Seele, und kann durch äußre Veranstaltungen nur veranlasst, nie hervorgebracht werden“. Postuliert wird ein selbstgenügsames Individuum, das sich außerhalb jeder institutionellen Einbindung und unberührt von jeder pädagogischen Anleitung in freier Auseinandersetzung mit der Welt eine Form gibt. Bildung wird damit zum Gegenbegriff von Erziehung und kann geradezu auf ideale Weise zur Kritik von Schule genutzt werden. Nicht nur ist Bildung Ergebnis eines Geschehens, „das sich der Planung und dem bewussten Eingriff entzieht“ (Flitner 1980, 69), sie lässt sich auch gar nicht organisieren: „Alle Veranstaltungen, Bildung zu organisieren, verbleiben im Vorhof der Bildung“ (Menze 1970, 180). Tatsächlich dient der Bildungsbegriff vor allem der Schulkritik. Bereits Herbart (1814 [1964], 291) vermerkte, dass die Schule „nicht ganz Bildungsanstalt“ sein kann, „am wenigsten für die Individuen“. Da die Schüler „von verschiedenen Seiten her empfänglich sind“ (ebd.), die Schule aber vielen die Gelegenheit zur Bildung bieten muss, ist der Unterricht „nicht so zu deuten, als ob in gleichem Grade Alles für Alle wäre“ (ebd., 292). Herbart (1810 [1964], 77) glaubte daher, dass die Schulen unter pädagogischem Anspruch „sogleich verschwinden“ müssten, da die Erziehung – aufgrund ihrer Verpflichtung gegenüber dem Einzelnen – „nicht wie in einer Fabrik arbeiten“ könne. Der Vorwurf, dass die Schule dem individuellen Kind nicht gerecht wird, gehört zum Standardrepertoire der Schulkritik. Sowohl in der Reform- wie in der Antipädagogik wird den Schulen vorgeworfen, „Zwangsanstalten“ zu sein, die „Seelenmorde“ an den Kindern begehen und deren „Spontanautonomie“ abtöten würden. So ist für Ellen Key (1900 [2000]) die Schule ein Ort der Unmenschlichkeit. Insofern Humanität darin liegt, „Rücksicht auf die verschiedenen Individualitäten“ (ebd., 149) zu nehmen, kann die Schule der Jugend erst dann Nahrung, Entwicklung und Glück
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geben, „wenn die Schüler nicht mehr als Klasse betrachtet werden, sondern jeder für sich“ (ebd.). Angesichts der Komplexität des Bildungssystems kann eine solche Position nur als ideologisch bezeichnet werden. Trotzdem findet sie Resonanz, weil das Kind und dessen Wohlergehen eine wichtige Referenz pädagogischen Handelns darstellen. Über den Vorwurf, dem Individuum nicht gerecht zu werden, ist das Bildungssystem daher fast beliebig irritierbar. Das gilt auch für die Forderung nach Individuali sierung des Unterrichts, nach Inklusion aller Kinder in den regulären Unterricht und nach gleichen Bildungschancen für alle. Es sind dies alles Forderungen, die unter der Bedingung organisierter Lehr-Lernprozesse in einem öffentlichen Schulsystem nicht realisierbar sind. Was die Forderung nach Chancengleichheit anbelangt, so kann sie im Bildungssystem zwar gehört, aber am Individuum ausgerichtet nicht umgesetzt werden (Luhmann/Schorr 1979, 263 ff.). Da die Bedingungen schulischer Leistungserbringung aufgrund unterschiedlicher familiärer Ressourcen ungleich sind, und zwar nicht nur zu Beginn der schulischen Karriere, müsste die Schule permanent kompensatorische Leistungen erbringen, um die familiären Defizite auszugleichen, was nicht nur detaillierte Kenntnisse der einzelnen Schüler/-innen, ihrer Lebenschancen und familiären Verhältnisse voraussetzen, sondern auch einen Unterricht erfordern würde, der maximal individualisierend wäre und die Schüler/-innen entsprechend ihren heterogenen Voraussetzungen ungleich behandeln müsste – was von der Schule kaum zu leisten ist und aus ethischen Gründen auch nicht erwünscht wäre. Eine ‚kindgemäße‘ Schule wäre zudem eine selektionsfreie Schule. Tatsächlich wird die Selektion nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb reform- und antipädagogischer Kreise oft als Widerspruch zur ‚eigentlichen‘ Aufgabe der Schule gesehen, die ausschließlich in der individuellen Förderung liegen soll (z. B. Stojanov 2011, 165 ff.). Die Selektion der Schüler/-innen nach ihrem Leistungsvermögen gilt als unpädagogisch und für die Lehrer/-innen fatal, da sie in einen unlösbaren Konflikt zwischen Fördern und Auslesen getrieben würden. Indem das Kriterium des Pädagogischen ganz ins Individuum verlegt wird, vermögen politisch-ideologische Gruppierungen, indem sie in dessen Namen auftreten, nicht nur öffentlichkeitswirksam auf sich aufmerksam zu machen, sondern das Bildungssystem auch nachhaltig zu irritieren.
3.2 Reduktion auf das pädagogische Verhältnis Etwas weniger an Komplexität wird ausgeblendet, wenn der pädagogische Blick nicht aufs Individuum, sondern auf die Relation von Erzieher und Edukand bzw. Lehrer und Schüler fällt. So muss die Pädagogik gemäß Dilthey (1960, 190) „mit der Deskription des Erziehers in seinem Verhältnis zum Zögling“ beginnen. Auch wenn er die Erziehung wenig später eine „Funktion der Gesellschaft“ (ebd., 192) nennt, liegt das
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Phänomen der Erziehung für Dilthey in der Beziehung zweier ungleicher Individuen beschlossen. In der Traditionslinie von Dilthey hat die geisteswissenschaftliche Pädagogik die Reduktion der pädagogischen Wirklichkeit auf die Dualunion von Erzieher und Edukand bestärkt. Ihre Charakteristika liegen darin, dass die Beziehung vom Erzieher aus betrachtet asymmetrisch, leidenschaftlich und selbstlos ist (Nohl 1961, 134). Die Asymmetrie ergibt sich aus der Verantwortung, die dem Erzieher für die Subjektwerdung des Edukanden übertragen wird (ebd., 127 f.), die Leidenschaft ist eine Referenz an den ‚pädagogischen Eros‘, der seit Platon das Denken über Bildung und Erziehung auf nicht immer unproblematische Weise bestimmt (vgl. Gaus 2011). Obwohl aus der Perspektive des Erziehers aufgeschlüsselt, denkt sich Nohl (1961, 133) das pädagogische Verhältnis als Gemeinschaft – als „personale Gemeinschaft“ (ebd., 133), als „pädagogische Gemeinschaft“ (ebd., 138 f.) und als „Bildungsgemeinschaft“ (ebd., 130 ff.). Bei Flitner (1980, 69) ist im gleichen Sinn von einer „Erziehungsgemeinschaft“ die Rede, deren Kern auch für ihn im pädagogischen Bezug liegt. Damit wechselt die Bildung vom Antipoden der Erziehung zu deren Erfolgskriterium. Sowohl Nohl wie Flitner begreifen Bildung als „Werk der Erziehung“ (Flitner 1980, 116 f.; Nohl 1961, 140 ff.). Das pädagogische Verhältnis ist daher, auch wenn es „immer ein gegenseitiges ist“ (Nohl 1961, 135), in Wirklichkeit ein pädagogisches Ver halten (ebd., 126 ff.). Diesem Verhalten kommt Wirksamkeit zu, denn im ‚echten‘ Sinn soll Erziehung nur dort gegeben sein, wo „ein Mensch auf den anderen wirkt“ (ebd., 131). Gemeint ist aber keine kausale, sondern eine personale Wirksamkeit. Da das „Eigenwesen des Zöglings“ (ebd., 136) eine kausale Einwirkung nicht zulässt, entspricht der Veränderungs- und Gestaltungswille des Erziehers einer „geistigen Wirkungskraft“ (ebd., 152). Ähnlich argumentieren andere Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik wie Spranger oder Flitner. Die Verengung des Pädagogischen auf das Verhältnis von Erzieher und Edukand macht das Bildungssystem genauso anfällig für ideologische Einflussversuche wie dessen Reduktion auf das Individuum. Maßstab bildet die Erziehungspraxis in der familialen Gemeinschaft. Anders als Politik, Wirtschaft oder Recht stellt die Familie in einer modernen Gesellschaft kein gesellschaftliches Funktionssystem dar. Zwar kann jede Familie für sich als Sozialsystem begriffen werden, die vielen Familien zusammen bilden jedoch kein gemeinsames System. Trotzdem steht die Familie aufgrund der doppelten Mitgliedschaft von Kindern und Jugendlichen in Familie und Schule in großer Nähe zum Bildungssystem, was sich in einer starken Anfälligkeit der pädagogischen Begrifflichkeit für familiale Konstrukte niederschlägt. Die frühen Konzepte schulischen Unterrichts lehnen sich eng an die familiäre Erziehung an, so etwa bei Pestalozzi, der die Vorzüge der häuslichen Erziehung in die öffentliche Erziehung hinüberretten wollte, da „die letztere nur durch die Nachahmung der erstern für das Menschengeschlecht einen Wert hat“ (Pestalozzi 1799 [1983], 226). Wie Wellendorf (1969, 101) bemerkt, bestimmt der Erfahrungsgehalt der Erziehung in der bürgerlichen Familie die zentralen pädagogischen Begriffe, und zwar
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auch diejenigen, „die sich nicht unmittelbar auf die Erziehung in der Familie beziehen“. Die Familie wird zum „Ursprungsort des Erzieherischen“ (Mollenhauer 1968, 60) stilisiert, was die pädagogischen Begriffe anfällig für ideologische Aufladungen macht, die sich aus der Idyllisierung der Familie zum weltabgewandten Schonraum ergeben. Ansprüche der Gesellschaft werden auf Distanz gehalten und als unpädagogisch zurückgewiesen. Unbeeindruckt durch die Realität der Schule als einer vermittelnden Institution zwischen Familie und Gesellschaft, stellt sich die Disziplin noch heute die Frage, „ob und inwiefern unter den Bedingungen der Schule […] dennoch pädagogisch gehandelt werden kann“ (Kemper 2004, 864; Hervorh. W. H.). Wo die Politik nicht auf die Sprache des Individuums setzt, um sich im Bildungssystem Gehör zu verschaffen, da bietet die Sprache der Gemeinschaft und der persönlichen Beziehung eine geeignete Alternative, um Gleiches zu erreichen: eine Irritation der pädagogischen Praxis, die sich angesprochen fühlt, weil ihr Selbstverständnis zu einem wesentlichen Teil auf das Schema des personalen pädagogischen Verhältnisses gebaut ist.
3.3 Mythisierung des Pädagogischen Wenn wir das Prinzip des Mythos mit Barthes (1964, 113) dahingehend bestimmen, dass er Geschichte in Natur verwandelt, dann liegt ein weiterer Mechanismus der politisch-ideologischen Einflussnahme auf das Bildungssystem in der Mythisierung pädagogischer Sachverhalte. So glauben die Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, aus der Geschichte des Pädagogischen eine „Kontinuität der pädagogischen Idee“ (Nohl 1961, 119) ableiten zu können, „die für alle Zeiten und für alle Völker gilt“ (ebd., 120). So tief wir auch der „Zeitlichkeit des Lebens“ (ebd., 220) verhaftet seien, die „Struktur des pädagogischen Lebens“ (ebd.) sei immer dieselbe. Referenz für diese Behauptung ist eine pädagogische Wirklichkeit, deren Selbstverständnis in Form von Erziehungslehren vorliegt (Flitner 1957, 15). Durch deren „philosophische Besinnung“ (ebd.) soll sich ein pädagogischer Grundgedankengang erkennen lassen, „in dem sich alle erzieherischen Begriffe und Betrachtungen vereinen“ (Flitner 1980, 67). Das aus dem historischen Kontext herausgedrehte Wesen des Erzieherischen begründet zugleich die Autonomie der pädagogischen Praxis und ihrer Theorie. Erziehung und Bildung können so von den Partikularitäten ihrer historischen und gesellschaftlichen Einbettung losgelöst und auf ein ideales Wertsystem bezogen werden. Die Bestimmung eines Wesens des Erzieherischen ermöglicht nicht zuletzt eine Neuinterpretation des Bildungsbegriffs. In der „pädagogischen Idee“ (Nohl 1961, 9) scheint ein ewiges „Menschentum“ (ebd., 11) beschlossen zu sein, ein „Wissen um die menschliche Bestimmung“ (Flitner 1957, 14), das dem pädagogischen Handeln eine Orientierung gibt, nämlich den Menschen zum Menschen zu machen. Erst die „Vergewisserung des Eigentlich-Menschlichen“ (Flitner 1980, 52) soll das erzieherische Phänomen „vollends deutlich“ (ebd.) machen.
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Der Rückzug auf Anthropologie, wie er in den 1960er und 1970er Jahren durch die pädagogische Anthropologie intensiviert wurde (vgl. Roth 1966, 1971), führt nicht nur zu einer weiteren Verdunkelung der komplexen Verhältnisse in Schule und Unterricht, sondern überlädt diese auch mit kompensatorischen Ansprüchen. Gemessen am Maßstab eines metaphysisch begründeten Menschentums wird der Pädagogik aufgetragen, gegen den vermeintlichen Verfall der Gesellschaft anzukämpfen – ein Motiv, das bereits Rousseaus (1762 [1971]) Emile zugrunde liegt. Nohl bringt dessen Logik wie folgt auf den Punkt: „Je zerspaltener das öffentliche Leben wird, umso entschiedener wird die Aufgabe der Pädagogik, solch einheitlich geformtes Leben in den Individuen zu erreichen.“ (Nohl 1961, 141) Wo der „Konsensus über die pädagogischen Ziele, den Stil des Erziehens, die Mittel, Wege und Methoden, die Auswahl der erzieherisch zu aktivierenden Inhalte“ (Flitner 1957, 34) nicht mehr gegeben ist, da wird der Erziehung auch von Flitner aufgetragen, diesen Konsens wieder herbeizuführen. Die Pädagogik wird dadurch selber pädagogisch, indem sie für die „einende erziehende Kraft“ (ebd.) sorgt, ohne die Bildung und Erziehung scheinbar nicht gelingen können. Während Bernfeld (1925 [2006]) zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Gesellschaft als eine von drei Grenzen der Erziehung bezeichnete – die beiden anderen liegen im Erzieher und im Edukanden –, pflegte die geisteswissenschaftliche Pädagogik eine „Mensch-zu-Mensch-Pädagogik“ (Luhmann/Schorr 1982, 16), die die Augen davor verschloss, was um sie herum geschah, aber genau dadurch zum Einfallstor für jene gesellschaftlichen Kräfte wurde, die durch den Mythos der pädagogischen Autonomie hätten ferngehalten werden sollen. Indem sie sich methodisch auf „Besinnung“ (Flitner 1980, 67) festlegte und damit begnügte, „Läuterung der in der Praxis angelegten Theorien“ (Weniger 1952, 20) zu sein, fehlte der geisteswissenschaftlichen Pädagogik die Distanz, um das Bildungssystem von außen zu betrachten. Selber ein Teil des Systems, verdoppelte sie dessen simplifizierenden Formeln wie ‚pädagogisches Verhältnis‘ oder ‚didaktisches Dreieck‘. Dem hereinbrechenden Nationalsozialismus stand sie daher völlig hilflos gegenüber. Bei aller Sympathie, die gewisse Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik – zumindest anfänglich – für den Nationalsozialismus hegten, kann allerdings nicht behauptet werden, dass sie mitgeholfen hätten, dessen Ideologie zu verbreiten. Nicht eine manifeste oder latente Sympathie für den Nationalsozialismus, sondern ein kategoriales Rüstzeug, das Bildung und Erziehung von allem pädagogisch ‚Uneigentlichen‘ frei hielt, stellte das Problem dar (vgl. Klafki 1998; Tenorth 2003). Die unzulängliche Analyse ihres Gegenstandes führte die geisteswissenschaftliche Pädagogik schließlich in ein kulturkritisches Abseits, dessen Anzeichen schon früh sichtbar waren (Bollenbeck 1994, 278 ff.), schließlich aber ihren Zusammenbruch herbeiführte. Beerbt hat die geisteswissenschaftliche Pädagogik eine kritische Erziehungswissenschaft, die sich in verschiedener Hinsicht nicht wesentlich von dieser unterscheidet. Auch der kritischen Erziehungswissenschaft ist die „Wirklichkeit der Erziehung“
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(Mollenhauer 1968, 9) Referenz des wissenschaftlichen Selbstverständnisses. Diese wird jedoch ‚kritisch‘ beurteilt, und zwar im Sinne eines gesellschaftstheoretischen Ideals. Als Gegenstand der Erziehungswissenschaft gilt ihr die Erziehung „unter dem Anspruch der Emanzipation“ (ebd., 11). Dabei nutzt sie den normativen Gehalt des Bildungsbegriffs. Dessen kritischer Anspruch wird gegen den „gesellschaftlichen Verfall von Subjektivität“ (Pongratz 1984, 189) ins Feld geführt, was bis zur Diffamierung des Erziehungsbegriffs geht. So wenn Heydorn die Erziehung als Vorbereitung des Menschen „auf das, was die Gesellschaft für ihn bestimmt hat, fensterloser Gang“ (Heydorn 1979, 9), ausgibt. Wie zu Zeiten der Reformpädagogik wird Erziehung mit Zucht und Schule mit Zuchthaus assoziiert. Dazu im Gegensatz steht die Bildung, die gegen die realen Verhältnisse in Schule und Gesellschaft ausgespielt wird. Im Bildungsbegriff sieht Heydorn daher die „Antithese zum Erziehungsprozess“ (ebd., 10). Anders als in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik ergibt sich dadurch nicht eine Myopie gegenüber der Gesellschaft, sondern gegenüber den realen Verhältnissen in der pädagogischen Wirklichkeit. Indem die kritische Erziehungswissenschaft „einer Fiktion des Individuums und der guten Gesellschaft nachjagt, ohne Sinn für historische Differenz und Varianz“ (Tenorth 1999, 148), bringt sie sich in eine hoffnungslose Lage. Vergleichbar der kompensatorischen Anstrengung, welche die geisteswissenschaftliche Pädagogik forderte, um die kulturelle Einheit der Gesellschaft zu retten, auferlegt die kritische Erziehungswissenschaft der Erziehung, gegen den gesellschaftlichen Lauf der Dinge anzukämpfen. Trotzig wird an Bildung festgehalten, obwohl „ihr die Gesellschaft die Basis entzog“ (Adorno 1975, 94). Indem sie gegen die „Unvernunft der Verhältnisse“ (Gruschka 2001, 635) aufbegehrt, die „allenthalben mit Händen zu greifen (ist)“ (ebd.), glaubt die kritische Erziehungswissenschaft, die „Erinnerung an eine befreite Menschheit“ (Pongratz 1984, 189) wachhalten zu können. Die emphatische und kompensatorische Rede vom Menschen findet sich daher auch bei ihr, so wenn Heydorn (1979, 316) der Bildung abverlangt, „den Menschen zum Menschen zu begaben“, oder wenn Mollenhauer (1968, 66 f.) der Pädagogik auferlegt, „als Praxis wie als Theorie […] in der heranwachsenden Generation das Potential gesellschaftlicher Veränderung hervorzubringen.“ Indem auch die kritische Erziehungswissenschaft in Mythologie verfällt, vermögen politische Ideologien in erstaunlich ähnlicher Weise wie im Falle der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, Einfluss auf das Bildungssystem zu nehmen, wenn es sich auch dieses Mal nicht um ‚rechte‘, sondern um ‚linke‘ Positionen handelt. Praktische Wirksamkeit vermochte die kritische Erziehungswissenschaft allerdings bis auf den heutigen Tag genauso wenig zu erlangen wie die geisteswissenschaftliche Pädagogik, und zwar im Wesentlichen aus demselben Grund: weil sie nicht in der Lage ist, die Komplexität der realen Verhältnisse in Schule und Unterricht angemessen zu begreifen.
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3.4 Ausblendung der Zeit Ein Reduktionismus eigener Art stellt die Ignoranz gegenüber der Zeitgestalt des Pädagogischen dar (vgl. Herzog 2002). Wird dem pädagogischen Verhältnis – zumindest verbal – attestiert, auf Gegenseitigkeit zu beruhen (vgl. Abschnitt 3.2), ja einer Vertrauensbasis zu bedürfen, die nur tragfähig sein kann, wenn sie wechselseitig ist, geht das Moment der Reziprozität verloren, wenn die Erziehung begrifflich als Hand lung rekonstruiert wird. Denn als Handlung werden Erziehung und Unterricht ausschließlich aus der Erwachsenenperspektive erschlossen. Gemäß Nohl soll es sogar in der Natur der Sache liegen, dass für den Aufbau einer pädagogischen Theorie „die Perspektive des Erziehers immer die Entscheidende bleibt“ (Nohl 1961, 155). Selbst der Begriff der Bildsamkeit des Edukanden, wie er von Herbart ins Zentrum der Pädagogik gestellt wurde, stamme „noch aus der Perspektive des Erziehers“ (ebd.). Als von Absicht und Plan bestimmtes Handeln wird die Erziehung auch in der empirisch-analytischen Erziehungswissenschaft, wie sie Brezinka vertritt, begriffen. Dabei gilt auch für Brezinka (1981a, 11 f.), dass der Gegenstand der Erziehungswissenschaft die „erzieherische Wirklichkeit“ ist, die aber nicht „als solche“ (ebd., 14) untersucht werden soll, sondern eingeengt auf „die Bedingungen für die Verwirklichung von Erziehungszielen, soweit sie im Bereich der Handlungsmöglichkeiten von Erziehern liegen“ (ebd., 15; Hervorh. W. H.). Erziehung wird als Transformation eines Edukanden von einem psychischen Zustand 1 in einen als besser beurteilten Zustand 2 bestimmt (Brezinka 1981b, 80). Insofern eine solche Transformation Zeit in Anspruch nimmt, würde man vermuten, dass dies begrifflich anerkannt wird. Doch Brezinka hält den Erziehungsbegriff von zeitlichen Bestimmungen frei. Erziehung soll nur das sein, was sich als transformierende Absicht im Bewusstsein des Erziehers findet. Das einzige Kriterium, in dem sich erzieherische von nicht-erzieherischen Handlungen unterscheiden, ist „das nicht-beobachtbare (subjektive) Merkmal der Förderungsabsicht des Handelnden“ (Brezinka 1981b, 96). Was aus der Absicht wird, gehört nicht zum Begriff der Erziehung. Damit gelingt es, die pädagogische Wirklichkeit den Unwägbarkeiten der Zeit zu entziehen. Ist die Zeit einmal ausgeschaltet, wird die Erziehung zur Bewegung im Raum, die der Erzieher überschauen und kontrollieren kann. Dazu muss er sich die Erziehung lediglich als Kontinuum vorstellen. Schon Comenius forderte, das Schulwesen müsse wie eine Kette sein, wo ein Glied das andere hält und so ein zusammenhängendes Ganzes entsteht – wie eine Uhr, in der ein Rädchen so in das andere greift, dass durch eine Bewegung das ganze Uhrwerk leicht und harmonisch bewegt wird. (Comenius 1965, 135; Hervorh. W. H.)
Auch nach Herbart (1818 [1964], 541) muss im Unterricht „schlechterdings eine fortschreitende, – noch mehr! eine möglichst stetig fortschreitende Bewegung herrschen“.
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Je sicherer das pädagogische Kontinuum beherrscht wird, desto größer sind die Aussichten, dass die Erziehung ihr Ziel erreicht. Dafür steht der Begriff der Methode, der gemäß Ziller (1884, 28) „streng gesetzmäßige, notwendige Wege“ benennt, durch die „der Zögling zu ganz bestimmten Richtungen, Tätigkeiten, Reaktionen determiniert wird“ (ebd.). Eine Erziehung, die ihrer Verwirklichung mit Gewissheit entgegenblicken kann, verfällt der Illusion, die Seite des Edukanden nicht weiter beachten zu müssen. Ein überschaubarer, stetig voranschreitender Unterricht ist ein von seinen Adressaten entfremdeter Unterricht. Denn von der Gegenseite sind keine Überraschungen zu erwarten, da alles vorherbestimmt ist. Erziehung und Unterricht erweisen sich als zielsichere Technologien, die auf stabile Kausalverhältnisse gebaut sind. Auch dies ist eine Form von Reduktionismus, die ausblendet, dass Erziehung und Unterricht Zeit in Anspruch nehmen und unverständlich bleiben, wenn sie allein aus der Perspektive des Erziehers oder Lehrers erschlossen werden. Auch auf der Gegenseite wird gehandelt, und sei es nur als Reaktion auf das Handeln des pädagogisch Verantwortlichen. In einer als überschaubar gedachten Wirklichkeit gibt es keine Sozialität und keinen sozialen Austausch. Erst im Kontext eines zeitlichen Denkens können pädagogische Situationen überhaupt als Sozialverhältnisse begriffen werden (vgl. Herzog 2002). Insofern eröffnet auch die Reduktion des Unterrichts auf seine räumlichen Dimensionen durch Ausblendung der Zeit dem politischen Handeln ideale Eingriffsmöglichkeiten. Die Abstraktionshöhe ist so gewählt, dass sich Analogien zwischen dem pädagogischen und dem politischen Handeln ergeben. James Scott (1998) nennt dies „seeing like a state“. Wie sich ein Staat einen Überblick über sein Hoheitsgebiet verschafft, um seine Bürger kontrollieren zu können, ist das Bild der Erziehung als überschaubarer Bewegung im Raum geeignet, um politisch-ideologischen Interessen Einlass ins Bildungssystem zu verschaffen. Die Komplexität pädagogischer Situationen, die wesentlich aus ihrem zeitlichen und sozialen Charakter hervorgeht, wird reduziert, indem die Lehr- und Lernprozesse in Schule und Unterricht als regulierbar dargestellt werden. Dabei kann an das Körnchen Wahrheit appelliert werden, das einer zweckrationalen Analyse von Bildung und Erziehung innewohnt. Da mit Schule und Unterricht etwas bezweckt wird, kann die pädagogische Praxis nicht weghören, wenn ihr von Seiten der Politik mangelnde Wirksamkeit und ungenügende Effizienz vorgeworfen werden.
4 Vage Begrifflichkeit Sind es auf der einen Seite Ausblendungen und Reduktionismen, die es Ideologien und politischen Positionen ermöglichen, im Bildungssystem Fuß zu fassen, ist es auf der anderen Seite die vage pädagogische Begrifflichkeit, die es systemfremden Positi-
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onen leicht macht, auf das Geschehen in Schule und Unterricht Einfluss zu nehmen. Bildung, Erziehung und Unterricht stehen nicht in erster Linie für Themen der wissenschaftlichen Analyse, sondern für alltägliche Phänomene, die das Aufwachsen von Menschen von Geburt an begleiten. Dementsprechend gibt es eine Alltagssprache, in der über pädagogische Angelegenheiten gesprochen wird. Die pädagogische Alltagssprache ist jedoch mehrdeutig und unscharf. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die pädagogische Fachsprache, der es an begrifflicher Präzision zumeist ebenfalls mangelt (Brezinka 1981b; Oelkers 1985, 62 ff.). Da nicht entschieden ist, wie über pädagogische Phänomene klar und unmissverständlich zu reden ist, finden laufend Begriffe Eingang in die Sprache der Bildung, deren Adäquatheit oft fraglich ist, auch wenn selten leicht zu entscheiden ist, weshalb sie inadäquat sind. Lassen sich die häufigen Begriffsimporte als Folge der Vagheit der pädagogischen Sprache verstehen, so liegt eine ihrer wesentlichen Ursachen in der ausgeprägten Metaphorik der pädagogischen Grundbegriffe. Diese bietet Anlass für semantische Verlagerungen, welche die Sprache der Bildung und Erziehung bis ins Unkenntliche verzerren, was politische Gruppierungen nutzen können, um sich im Bildungssystem Gehör zu verschaffen. Beiden Aspekten der vagen pädagogischen Begrifflichkeit gehen wir im Folgenden nach.
4.1 Begriffsimporte Die begriffliche Schwäche der pädagogischen Sprache macht das Bildungssystem anfällig für Begriffsimporte aller Art – aus Politik, Wirtschaft, Kunst, Religion, Medizin, Technik, Sport, Esoterik etc. Begriffe politischer Herkunft wie „Regierung der Kinder“ (Herbart), „pädagogische Polizei“ (Stoy), „demokratischer Erziehungsstil“ (Lewin), „Entkolonisierung des Kindes“ (Mendel) oder „Gleichberechtigung des Kindes“ (von Braunmühl) finden sich ebenso wie Konzepte religiöser, psychologischer, ökonomischer oder betriebswirtschaftlicher Provenienz – Person, Begegnung, Erweckung, Pflege, Sorge, Wachstum, Sozialisation, Identität, Selbstverwirklichung, Humankapital, Effektivität oder Effizienz. Selbst der Bildungsbegriff ist ursprünglich ein Import aus dem Kontext der religiösen Mystik (vgl. Schaarschmidt 1965). Von der Bereitschaft, das Pädagogische sprachlich umzubenennen, zeugen auch die vielen, oft kurzlebigen, Theorieimporte aus anderen Disziplinen, die in Erziehungswissenschaft und Didaktik nicht selten zu neuen Bindestrich-Subdisziplinen führen – wie psychoanalytische Pädagogik, experimentelle Pädagogik, kybernetische Pädagogik, phänomenologische Pädagogik, konstruktivistische Pädagogik/Didaktik, feministische Pädagogik, evolutionäre Pädagogik/Didaktik, Neuropädagogik/Neurodidaktik etc. Dazu gehört auch, dass sich die Disziplin gerne Klassiker zulegt, deren Selbstverständnis kaum dasjenige eines Pädagogen oder Erziehungswissenschaftlers war, wie beispielsweise Nietzsche, Freud, Piaget, Foucault, Bourdieu oder Luhmann (vgl. Dollinger 2012; Scheuerl 1979).
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Auch Slogans finden auf diese Weise Eingang ins Bildungssystem, wie etwa „Kopf, Herz und Hand“, „Öffnung der Schule“, „Fördern und Fordern“, „Mut zur Erziehung“, „Ausschöpfung der Begabungsreserven“, „Wohl des Kindes“, „Grenzen setzen“, „lebenslanges Lernen“ oder „Lernen des Lernens“. Insofern die Anleitung von Lernen durch Lehren ein wesentliches Moment des pädagogischen Selbstverständnisses bildet, kann ein Slogan wie „Lernen des Lernens“, wird er von politischer Seite vorgebracht, mit einer entsprechenden Resonanz im Bildungssystem rechnen, auch wenn unklar bleibt, was der Slogan eigentlich bedeutet. Auch Wörter können die Funktion von Slogans übernehmen, wie Anschauung, Vorbild, Chancengleichheit, Hochbegabung, Integration oder Kompetenz. Auf diese Weise lässt sich das Bildungssystem gleichsam sprachlich überrumpeln. Trojanischen Pferden gleich lassen sich begriffliche Neukreationen, Schlagwörter und Slogans ins System einschleusen, in dem sie aufgrund vager Analogien zu den ‚einheimischen‘ Begriffen der Pädagogik Resonanz auslösen. Da die eigene Begrifflichkeit vage genug ist, um für Bedeutungsgehalte anderer Lebensbereiche empfänglich zu sein, wird das Bildungssystem fast unentwegt in sprachliche Erregung versetzt. Der Dauererregung versucht es sich durch Reformbereitschaft zu erwehren. Wie Luhmann (1996, 45) luzide bemerkt, sind Reformen „gleichsam das Überdruckventil für Systeme, die sich mit Ideen belasten, denen sie ex definitione nicht gerecht werden können“.
4.2 Metaphorik Verdanken sich Begriffsimporte der Vagheit der pädagogischen Sprache, liegt in ihrer dominanten Metaphorik ein wesentlicher Grund für eben diese Vagheit. Nicht einmal pädagogische Grundbegriffe wie Bildung und Erziehung sind ohne metaphorischen Kern (vgl. Herzog 2002; Meyer-Drawe 1999). Metaphern beruhen auf Entsprechungen, die zwischen zwei Bereichen wahrgenommen oder behauptet werden, wobei Metaphern im Unterschied zu Analogien die Basis der Entsprechung nicht explizit ausweisen müssen. Da sich fast alles in irgendeiner Hinsicht ähnlich ist, lassen sich Metaphern fast beliebig bilden, so dass fast jedes ideologische Interesse eine sprachliche Basis findet, um ins Bildungssystem hineingetragen zu werden. Die Funktion von Metaphern liegt zudem nicht im Beweis eines Sachverhalts, sondern in dessen Erschließung oder Veranschaulichung (vgl. Herzog 2012a, 84 ff.). Metaphern eröffnen Perspektiven und vermögen damit einen Sachverhalt in ein bestimmtes Licht zu rücken. Dadurch erbringen sie weniger eine epistemische als eine rhetorische Leistung. Auch wenn nicht klar ist, was unter Bildung und Erziehung zu verstehen ist, lässt sich mit einer Metapher trefflich über Bildung und Erziehung reden, ein Gefühl der Übereinstimmung erzielen und die Bereitschaft für eine Reform herbeiführen. Was Bollenbeck (1994, 166) hinsichtlich
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des Bildungsbegriffs festhält, gilt für andere pädagogische Begriffe genauso: „Mit der semantischen Unbestimmtheit erhöht sich die kommunikative Wirkung.“ Die Metaphorizität macht die pädagogische Sprache anfällig für semantische Umdisponierungen. Was den Bildungsbegriff anbelangt, so hat er im Laufe seiner Geschichte so viele Abwandlungen, Revisionen und Neudeutungen erfahren, dass von einem gemeinsamen Begriffskern kaum noch die Rede sein kann (vgl. Bollenbeck 1994; Vierhaus 1972). Wortverbindungen wie Bildungswesen, Bildungsplanung, Bildungsverwaltung, Bildungsreform, Bildungskatastrophe, Bildungsmonitoring oder Bildungsstandards rücken den Begriff in Kontexte, die von seiner ursprünglichen Bedeutung weit abliegen. Lenzen (1997) nennt Bildung daher ein Container-Wort, das wir fast beliebig mit Inhalt füllen können, ohne Gefahr zu laufen, auf Unverständnis zu stoßen. Vergleichbares gilt für den Erziehungsbegriff, wenn auch auf andere Weise. Trotz langem Bemühen, den Begriff zu klären, besteht keine Einigkeit darüber, wie er zu verwenden ist. Dafür ist auch die Abstraktionshöhe verantwortlich, auf der er liegt. Als konkretes Handeln, das durch beobachtbare Merkmale identifiziert werden könnte, scheint es Erziehung jedenfalls nicht zu geben (Brezinka 1981a, 85, 185 f.). Ist Bildung ein Container-Wort, so stellt Erziehung einen Kontraktionsbegriff dar (Oelkers 1985, 66), dessen Funktion nicht in der Bezeichnung eines Sachverhalts, sondern in der (umgangssprachlichen) Verständigung über eine jedermann vertraute Erfahrung liegt. In beiden Fällen bietet der metaphorische Gehalt der Begriffe Handhabe für semantische Umdisponierungen, die sich leicht für politisch-ideologische Zwecke nutzen lassen.
4.3 Erziehung als Paradoxie Wir wollen dies an einem Beispiel illustrieren. Mit einer gewissen Vereinfachung lassen sich zwei Wurzelmetaphern unterscheiden, die der pädagogischen Sprache zugrunde liegen (Herzog 2002, 40 ff.; Treml 1991). Auf der einen Seite – auf der zumeist der Bildungsbegriff steht – erscheint das pädagogische Geschehen als begleitendes Wachsenlassen, auf der anderen Seite – auf der in der Regel der Erziehungsbegriff steht – als herstellendes Machen. Kurz gesagt, haben wir es entweder mit einer organischen oder mit einer technischen Vorstellung von Bildung und Erziehung zu tun. Über die beiden Wurzelmetaphern ist das Bildungssystem fast beliebig irritierbar, da beide Metaphern für Erfahrungen stehen, die in der pädagogischen Praxis tagtäglich gemacht werden. Erziehung wird als Einwirkung erfahren und ist insofern ein Machen, aber sie ist Einwirkung in ein Geschehen, das nicht determiniert werden kann und entspricht daher einem Begleiten. Das verleitet die pädagogische Wissenschaft dazu, ihren Gegenstand als objektiv widersprüchlich zu charakterisieren. So geht es nach Auffassung von Schäfer (1996, 82) pädagogisch darum, „die Einheit von Heteronomie und Freiheit so zu denken, dass eine Übereinstimmung beider möglich
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erscheint“. Da es aber faktisch nicht möglich ist, „den unsteuerbaren Selbstbildungsprozess und die Steuerungsbemühung der Erziehung als Einheit zu denken“ (ebd., 86), erweist sich die „pädagogische Eigenperspektive“ (ebd., 96) als paradox. Darin trifft sich Schäfer mit Benner (1987, 67), der in einem vergleichbaren Sinn von einer „Grundparadoxie pädagogischen Denkens und Handelns“ spricht, auf welcher sogar „die eigentliche Möglichkeit der pädagogischen Praxis beruht“ (ebd.; Hervorh. W. H.). Eine Paradoxie hat Verhältnisse zur Folge, die kommunikativ höchst unstet sind, da sie ständig zwei Seiten bereithält, an denen Anschluss gefunden werden kann. Werden Bildung und Erziehung zu einer paradoxen Einheit zusammengezogen, gibt die ‚pädagogische Eigenperspektive‘ permanent Anlass für Kritik: entweder wird ein Zuviel oder Zuwenig an Erziehung oder ein Zuviel oder Zuwenig an Bildung konstatiert. Im Visier der Politik steht vor allem die technische Seite der Paradoxie, d. h. das herstellende Machen, was seinen Grund im Gestaltungswillen der Politik hat, die planend und steuernd in das Bildungssystem eingreifen will. Schule und Unterricht rücken ins Licht zweckrationalen Handelns, womit sich Analogien zur industriellen Produktion von materiellen Gütern aufdrängen. Nicht nur in den USA hat die Gleichsetzung von schulischem Unterricht mit den Produktionsverhältnissen in Industriebetrieben eine lange Tradition (vgl. Herzog 2012b). Im Zuge der Internationalisierung der Bildungspolitik finden technologische Input-Output-Modelle auch im deutschsprachigen Raum zunehmend Anklang und dienen der standardbasierten Schulreform als Orientierung (vgl. Herzog 2013). Damit einher geht eine folgenreiche semantische Umdisponierung. Während im englischsprachigen Kontext von education und instruction die Rede ist (ein Äquivalent für Bildung gibt es nicht), bedient sich die deutschsprachige Standardbewegung des Bildungsbegriffs. Aus educational standards werden Bildungsstandards, womit eine technokratische Reform mit einem Begriff verbrämt wird, dessen Konnotationen ursprünglich für das schiere Gegenteil von Zweckrationalität standen. Der Bildungspolitik rückt eine Bildungswissenschaft zur Seite, für die gleichermaßen gilt, dass sie den Bildungsbegriff in seiner humboldtschen Bedeutung hinter sich gelassen hat. Während es nach dem Ende der geisteswissenschaftlichen Pädagogik und außerhalb der kritischen Erziehungswissenschaft nicht länger als Aufgabe der Wissenschaft erachtet wurde, dem pädagogischen oder politischen Handeln Vorgaben zu machen, erhebt eine evidenzbasierte Bildungspolitik den Anspruch, von den pädagogischen Wissenschaften mit technologischem Know-how versorgt zu werden (vgl. Herzog 2008). Indem Wissenschaft und Politik unisono auf das Bildungssystem einreden, vermag sich dieses der konzertierten Einflussnahme kaum noch zu erwehren. Als Gegengift bietet sich zwar erneut der Bildungsbegriff an, dessen kritisches Potential aber zuerst wieder zurückgewonnen werden muss.
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5 Bilanz Die komplexen Verhältnisse in Schule und Unterricht machen es externen Einflüssen nicht leicht, sich im Bildungssystem Gehör zu verschaffen. Weder das System als Ganzes noch die Schule als Organisationssystem oder der Unterricht als Interaktionssystem lassen sich von außen determinieren. Zudem liegt dem pädagogischen Handeln eine Logik zugrunde, die zwar begrifflich schwer auf den Punkt zu bringen ist, aber als Schutzschild wirkt, um unpädagogische Ansinnen abzuwehren. Wie auch immer die ‚Eigenstruktur des Pädagogischen‘ angemessen zu umschreiben ist, sie verweist politisch-ideologische Beeinflussungsversuche in ihre Grenzen. Die Grenzen sind zwar nicht unüberwindbar, zumindest sprachlich nicht. Denn die Sprache, in der über Bildung und Erziehung gesprochen wird, ist oft vage und unverbindlich, was es politischen und ideologischen Gruppierungen leicht macht, sich durch semantische Umdisponierungen im Bildungssystem Gehör zu verschaffen. Daraus kann ein neues Verständnis des Pädagogischen hervorgehen, ebenso ist aber möglich, dass alles beim Alten bleibt. Denn selbst wenn es gelingt, dem Bildungssystem einen Reformdiskurs aufzuzwingen, so wird es sich kaum verändern, sofern die vorgeschlagenen Reformen der grammar of schooling widersprechen.
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Harro Müller-Michaels
13. Diskurse über Bildung 2000 – am Beispiel der Didaktik Abstract: Die Krise der Bildung in Schule und Hochschule nach 1990 hat vielfältige Antworten in unterschiedlichen Redeformen herausgefordert. Im Zentrum der Analyse stehen, den jeweils leitenden Funktionen entsprechend, die explikativen, deskriptiven und normativen Diskurse der Wissenschaften. Besonderes Gewicht für Diskussionen und Entscheidungen in der Öffentlichkeit gewinnen die appellativen Diskurse in den Medien sowie die administrativen Verordnungen in der Kulturpolitik. Um die Dominanz eines Diskurstyps zu verhindern, ist die Pluralität der Redeformen ebenso sicherzustellen wie die Verbindung zwischen ihnen über die grundlegende Idee der Bildung. 1 Eine Typologie der Diskurse 2 Journalistischer Kommentar (appellativ) 3 Theoretisches Traktat (explikativ) 4 Empirische Studien (deskriptiv) 5 Didaktische Programmatik (normativ) 6 Administrative Verordnung 7 Ein Ausblick: Diskursfäden 8 Literatur
1 Eine Typologie der Diskurse Die Reden über Bildung in der Öffentlichkeit sind vielfältig: Da beschwert sich eine Schülerin im Blog über die lebensfernen Inhalte des Schulunterrichts, in der Zeitschrift für Pädagogik findet sich ein grundlegender Beitrag zum Begriff der Bildung, eine überregionale Tageszeitung erklärt Konsequenzen des Ziels der Inklusion, ein philosophisches Werk behandelt Idee und Wirklichkeit der Freiheit. Ganz verschiedene Formate kreisen um Ziele, Inhalte, geeignete Verfahren der Vermittlung und Prüfung von Leistungen in den Feldern von Erziehung und Unterricht. Mit der Wahl der Redeform werden Strategien, Ziele, Abfolgen der Gedanken, Beispiele, Präzision der Argumentation und Wirkungsabsicht festgelegt. Frei nach Nietzsche (1882[1981], 172): „Die Form schreibt mit an der Ordnung der Gedanken“ (Jeßling/Köhnen 2012, 348). Andererseits liegt der Erfolg einer Abhandlung immer auch am Durchbrechen des Erwartungshorizonts, in der Variation der gewählten Form. Insofern sind Diskurse über Bildung einerseits Bekräftigung der Redeform, die Argumentation bindet und
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konstituiert, andererseits, in ihren gelungenen Varianten, Innovationen, die neues Denken öffnen: Diskurse als Grenzen und Türen zugleich. Wie in dem Aufsatz über die Bildungsdiskurse um 1900 (Müller-Michaels 2013, 167 ff.) erläutert, folgen wir eher Habermas (1971, 114 ff.) als Foucault (1973), wenn Diskurs als Form der Kommunikation verstanden wird, die sprachliches Handeln beschreibt und zugleich auf der Metaebene problematisiert. Diese selbstreflexive Rede setzt Autonomie des Sprechers voraus und implementiert den Zweifel in die Äußerungen. Wahrheit gibt es nur auf Widerruf. Man mag Foucault zustimmen, dass Diskurse, vor allem in Institutionen, die Reden in Form wie Inhalt bestimmen und dem Sprecher jeden Freiraum nehmen, aber im Kontext von Bildung und Unterricht kommen wir ohne die Annahme eines freien Subjekts nicht aus, das sich der Diskurse bedient, um seinen Intentionen zu folgen und das eigene Wissen, Können, Urteilen, und damit die Verantwortung, befördert. Dabei wissen wir, dass „Sprechen […] immer Verformung [ist], sie ist keine Urstiftung“ (Meyer-Drawe 1990, 80). Um diese Intentionalität und Bewusstheit der Rede zu betonen, greifen wir erneut zu der Definition Titzmanns. Für ihn ist der Diskurs „ein System des Denkens und Argumentierens“, das erstens durch einen Redegegenstand, zweitens durch Regularitäten der Rede, drittens durch interdisziplinäre Relationen zu anderen Diskursen charakterisiert ist. (Titzmann 1991, 406)
Ähnlich definieren Kilian/Lüttenberg Diskurs als „Kommunikative Handlungskonstellation“ unter konkreten Bedingungen von Zeit, Thema, Teilnehmern (2009, 246). Selbst wenn der Redegegenstand in unserem Kontext mit Formen, Inhalten, Leistungen der Bildung der jeweils nachwachsenden Generation im Allgemeinen gleich bleibt, sind die Gegenstände im Besonderen verschieden, unterscheiden sich in den Regularitäten der Sprachform, von Beweisführung, Analyse, Quellen, Wertung sowie in der Herstellung von Bezügen zu anderen Diskursen (z. B. Publizistik, Jura, Philosophie). Für eine erste Systematisierung der Diskurse folgen wir dem Vorschlag Schnädelbachs (1977), der drei Typen erläutert: – Den deskriptiven Diskurs, der Phänomene beschreibt, wie etwa in empirischen Studien (z. B. Tatsachendarstellungen in empirischen Arbeiten). – Den normativen Diskurs, der Geltungsansprüche begründet. Neben die Tatsachenerhebung treten Diskussionen und Entscheidungen für Werte, Gesetze und Normen (z. B. didaktische Arbeiten für eine Revision des Curriculums). – Den explikativen Diskurs, bei dem es zentral um Analyse und Interpretation von Problemen und Texten geht (z. B. philosophisches Traktat, Begründung eines leitenden Begriffs, einer Wissenschaftsmethode oder Analyse von Texten). Diese drei Grundtypen sollen ergänzt werden durch Redeformen, durch die Erkenntnisse aus den wissenschaftlichen Diskursen für die Öffentlichkeit in Medien vermittelt und in Richtlinien für die Schulen verordnet werden:
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– den appellativen Diskurs, der die Beschreibung von Erkenntnissen mit Meinungswerbung verbindet (z. B. Leitartikel, journalistischer Kommentar, Streitschrift), – den administrativen Diskurs (z. B. Bildungsstandards, Kerncurriculum, Richtlinien). Die Redeformen werden im Folgenden mit Beispielen ausführlich beschrieben, die in den Reformdiskussionen nach 1990 eine maßgebliche Rolle gespielt haben. In den Mittelpunkt rücken dabei die PISA-Studien und ihre Folgen für Diskussionen über Bildung sowie Ziele und Inhalte des Deutschunterrichts in der Didaktik.
2 Journalistischer Kommentar (appellativ) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Diskussion um die Reform der Universität in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Artikel von Dieter Simon im Spiegel vom 19.12.1991. Schon der Titel „Die Universität ist verrottet“ sucht die Provokation. Allein dadurch, dass der Zustand einer traditionsbeladenen kulturellen Einrichtung durch eine Metapher aus dem Kontext der Biologie abfällig charakterisiert ist, wird emphatisch deutlich, dass die Institution, die Spitzenleistungen in Forschung und Lehre zu erbringen hat, dem endgültigen Verfall anheim gegeben scheint. Der Titel nimmt Bezug auf ein Wort des Kultusministers Preußens, Carl Heinrich Becker, aus dem Jahre 1919: Die Universität sei „im Kern gesund“ (Kraushaar 2005, 76). Diese Behauptung wird auch nach dem 2. Weltkrieg in zahlreichen Reden von Rektoren und in Abhandlungen wieder aufgegriffen. Erst nach 1969 wird die Metapher gewendet in „im Kern krank“ (Kraushaar 2005, 76). Wenn die Krankheit zum Tode führt, ist die Verwesung nicht mehr weit. Die Metapher des „Verrottens“ ist radikaler als jeder Sachstandsbericht: Sie soll Aufmerksamkeit erregen und Meinung in Universitäten, Politik und Öffentlichkeit bilden. Der Untertitel verrät das Anliegen des Artikels: ein Plädoyer „für Aufnahmeprüfungen an den Hochschulen“. Der Charakter der Meinungsäußerung im Kommentar wird in jedem Satz gestützt durch einfallsreiche weitere rhetorische Mittel. Wie üblich folgt der Artikel dem dreigliedrigen Schema: 1. Widerstand der Hochschulen gegen den Öffnungsbeschluss der KMK 2. Ursachen und Symptome der Krise sowie wirkungslose Mittel zu ihrer Bewältigung 3. Lösung: Aufnahmeprüfungen. Die rhetorischen Mittel in den Abschnitten sind so vielfältig, dass nur eine Auswahl erläutert werden kann. Mit Metaphern lässt sich die Äußerung praktisch zuspitzen: „Das Zähneknirschen der Professoren weicht der ausgestreckten Faust“. Die Katachrese von der „geballten Faust“, die „aus der Tasche gezogen wird“, um sie den Poli-
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tikern „unter die Nase“ zu halten, verstärkt die Emphase. Das Bild von der Karre, die im Schlamm untergeht, korrespondiert mit dem erklärten Zustand der Verrottung. Die geläufige Metapher vom Kind, das bereits im Brunnen liegt, unterstreicht das Untergangsszenario ebenso wie die Vorstellung vom Boot, das wegen „Überfrachtung“ durch „ständig anwachsende Studentenmassen“ zu kentern droht. Da hilft nur die Abdichtung der beschädigten Stellen und Abschottung gegen den unzumutbaren Zulauf. Die Ironie klingt in den Metaphern durch, deren Unangemessenheit gewollt ist. Hinzu kommen Epitheta, die die fremde Perspektive ausdrücken: „famoser Beschluss“ der Regierungschefs, die „schrecklichen Folgen des Geldmangels“ für die Universitäten, Maßnahmen zum „höheren Ruhme“ des Finanzministers, die „üblen Konsequenzen“ des Geldmangels, die „erstickende Expansion der Hochschulen“. Mit der Ironie einher gehen in den Adjektiven die Hyperbeln. Die Ironie richtet sich dabei auch gegen die Hochschullehrer, die nur mehr Geld und Stellen fordern, vor allem aber gegen die Politiker, die die Universitäten unbegrenzt öffnen, ohne die notwendige Ausstattung zu sichern. Einfache Antinomien werden aufgemacht: Wissenschaft gegen Politik, Niveau gegen Massen, Tradition gegen Sonderprogramme. Der Wettstreit der Universitäten wird mit dem Gegensatzpaar „fetter Universitäten“ in den urbanen Zentren gegen die „im Winkel und in den reizlosen Regionen“ metaphorisch vorab entschieden. Orte mit Neugründungen und Gesamthochschulen werden mit den Neologismen „Schickimickidorf“ und „Gähnsburg“ bedacht, deren Absolventen es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben werden. Der Neologismus „Dilemmafiktion“ verweist auf die Scheinalternative „Geld oder Ladenschluss“, wobei die Metapher aus der Geschäftswelt wieder mit Absicht gewählt ist, um dem Irrtum, Universitäten seien Wirtschaftsunternehmen, Ausdruck zu verleihen. Geld ist nicht wirklich das Problem, sondern der Streit für die Sicherung des Leistungsanspruchs der Universitäten. Daher sind Aufnahmeprüfungen der einzige Weg, um die Qualität von Forschung und Lehre sowie der Abschlüsse der Studenten sicher zu stellen. Die Forderung ist evident, denn hier spricht ein Eingeweihter, wie es gleich der erste Halbsatz zweifelsfrei feststellt: „Nun ist es heraus.“ Kein Artikel hat in der Zeit nach der Vereinigung die Öffentlichkeit in vergleichbarer Weise erregt und das Nachdenken über die Zukunft der Universität befördert. Die Debatte in den Medien ging also mit allen rhetorischen Mitteln der alten judizialen Gattung weiter. Meinen eigenen Beitrag „Stein des Sisyphos. Plädoyer für eine neue Hochschule mit zweigliedrigem Studium“ (Die Woche, 7.4.1994) will ich nur andeuten, um zu betonen, dass es auch andere Lösungen als die Aufnahmeprüfungen gab: die Strukturierung des Studiums in die Bachelor- und Masterphase, wie international üblich. Fünf Jahre vor dem Bologna-Beschluss wurde in Bochum mit einem Modellstudiengang für den Bachelor begonnen. Mit dem Artikel sollten Zweifler überzeugt werden, indem Widersprüche aufgebaut und Wege zu ihrer Lösung beigetragen werden, Übertreibungen wecken Aufmerksamkeit und die Rede in Metaphern beginnt schon im Titel mit dem steinewälzenden Sisyphos. Aber weniger der
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Artikel als vielmehr Beispiele für die Praxistauglichkeit des Modells und der Druck, die Abschlüsse international vergleichbar zu machen, haben die Einführung der neuen Studienstruktur erzwungen.
3 Theoretisches Traktat (explikativ) Anders als die Kommentare richten sich die Traktate vor allem an die Scientific Community, indem sie grundlegende Theorien entwickeln, Methoden erläutern, Begriffe klären und die Reichweite der Aussagen bedenken. Die paradigmatischen Arbeiten stammen meist aus den Grundlagenwissenschaften, die mit ihren Fragen quer zu den Einzeldisziplinen liegen, wie z. B. Philosophie, Soziologie, Psychologie. Für die Erläuterung der Redeform Traktat wählen wir zwei Beispiele, die zu Beginn des neuen Jahrhunderts maßgebliche Impulse für die Diskussion um Absichten und Verfahren von Bildung und Wissenschaften gegeben haben: Manfred Fuhrmanns „Bildung. Europas kulturelle Identität“ (2002) und Franz E. Weinerts „Leistungsmessung in Schulen“ (2002). Dabei müssen wir uns darauf beschränken, exemplarisch jeweils einen Abschnitt aus den Werken zu erläutern. Das Kapitel „Der europäische Bildungskanon und die deutsche Bildungsidee“ von Fuhrmann folgt auf das erste, das die historischen Grundlagen mit den drei Höhepunkten: die Zeiten Karls des Großen, die Reformation und die Weimarer Klassik beschreibt. In den Mittelpunkt rückt die Erläuterung der Begriffe Kultur und Bildung, die sie in der Hoch-Zeit ihrer Geltung im 18. und 19. Jahrhundert gewonnen haben. Auch in diesem Beitrag ist der Aufbau dreigliedrig: 1. Erläuterungen des Begriffspaares „Kultur und Bildung“, 2. Bestimmung und Leistung der Kultur, 3. Bildungsidee und ihr „Untergang“. Im ersten Gedankenschritt stellt Fuhrmann die Begriffe Kultur und Bildung dergestalt einander gegenüber, dass „Kultur“ den gesamteuropäischen Kanon des Wissens, „Bildung“ hingegen den spezifisch deutschen Zugang über den Prozess der Aneignung des Kanons durch die Individuen meinen. Bildung ist dabei sowohl als Prozess wie als Resultat zu verstehen, die aber immer nur einen begrenzten Zugang zur Gesamtheit des Kanons ermöglicht. Die Differenz wird aus der platonischen Relation von Idee und Erscheinung hergeleitet, insofern Kultur nur als Abstraktion, Bildung in der Gestalt zahlreicher gebildeter Individuen gedacht werden. Fundierte Einwände gegen den Missbrauch von Kultur und Bildung für die Legitimierung von nationalen Verbrechen werden mit dem Argument zurückgewiesen, dass nicht die Sachen selbst dadurch desavouiert werden, dass sie durch politische Macht für falsche Zwecke instrumentalisiert wurden. Im zweiten Schritt wird Kultur als Potenz im doppelten Sinne beschrieben: als Horizont für neue kreative Produktionen sowie als Summe des Überlieferten. Aufgabe jeder Gegenwart ist es, aus der unendlichen Vielfalt der Kultur den Kanon des Geltenden auszuwählen und für die Bildung anzubieten. Institutionen waren und sind
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das Theater, die Museen, die Bibliotheken, vor allem aber das Gymnasium, das den Kanon für die Allgemeinbildung jeder neuen Generation bereitstellt und begründet. Damit ist der dritte Schritt der Untersuchung eingeleitet, der noch einmal auf die Bildungsidee als individuellen Prozess und sein Ergebnis verweist. Seit der Humboldt‘schen Reform wird Humanität, „ein sowohl sittliches als auch ästhetisches Ideal menschlicher Vollkommenheit“, zum Leitziel, ihr inhaltlicher Kern sind die Künste. In Anerkennung der Ergebnisse von Bollenbecks Studie „Bildung und Kultur – Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters“ (1994) wird aber festgehalten, dass Ursprung und Wahrheit einer Idee nicht mit den Deformationen verwechselt werden dürfen. Kritisch wird die Entwicklung seit Anfang der siebziger Jahre gesehen, wenn der Gedanke der Bildung aufgegeben und durch verordnete Anpassung an die Bedürfnisse der Gesellschaft ersetzt wird. Auch wenn dieser Ausblick einseitig und polemisch erscheint, folgt die vorausgehende Argumentation verlässlichen hermeneutischen Prinzipien: Stützung durch historische Belege, klare Definitionen, Anerkennung der Gegenposition, fachübergreifende Überlegungen, nachvollziehbare Applikationen, erkennbare Trennung von Analyse und Wertung. Der Gebrauch von Metaphern in der Rede dient der Anschaulichkeit und damit dem Verständnis abstrakter Gedankenführung. Wenn die nationalen europäischen Kulturen als Prismen verstanden werden, die das Weiß in eine je eigensinnige Vielfalt von Farben zerlegen, so unterstreicht das Bild das Wechselspiel von Einheit und Vielfalt ebenso wie das Bild der kommunizierenden Röhren, das den gegenseitigen Einfluss der Kulturen in Europa aufeinander plausibel macht. Der Gedankenführung sowie den Ergebnissen kann man sich schwer entziehen, der Schlussfolgerung aber darf widersprochen werden. Zweifel gehören zum Status der ermittelten Wahrheit. Maßstabsetzend wie die Arbeiten von Manfred Fuhrmann für die Bildungstheorien sind die Begründungen für empirische Unterrichtsforschung von Franz E. Weinert. In dem grundlegenden ersten Kapitel „Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit“ des von ihm herausgegebenen Bandes „Leistungsmessungen in Schulen“ (2001) liefert er die Argumente für standardisierte Leistungsüberprüfungen in den Schulen weltweit. In drei Schritten werden Einwände gegen die TIMSS-Studie entkräftet sowie (1.) die Leistungen derartiger empirischer Studien gewürdigt, (2.) die Notwendigkeit wissenschaftlicher Wirksamkeitsforschung unterstrichen und (3.) kurz die Anforderungen angedeutet. Vorgeschaltet ist eine Einleitung, in der Weinert die übliche Frontstellung von angeblich „traditionellen“ (leistungsbezogenen) Bildungszielen und „fortschrittlichen“ (reformpädagogischen) Bildungszielen mit dem Argument verwirft, dass Ziele grundsätzlich vielfältig sein und variabel auf Bedingungskonstellationen reagieren müssen. So kommen auch den Leistungsmessungen Bedeutungen sowohl für die Ermittlung des Standes von Wissen und Können im Vergleich als auch für rationale Planung von Erziehung und Unterricht sowie für die Entwicklung der Kinder durch individuelle Herausforderungen zu.
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In dem ersten Hauptabschnitt „Reaktionen auf TIMSS“ („Third International Mathematics and Science Study“, 1997) werden die Vorzüge vergleichender empirischer Schulforschung ausführlich begründet. Zunächst wird der Schock in der Öffentlichkeit über die Ergebnisse in vier Punkten (a-d) beschrieben, darunter die Befunde, dass deutsche Schüler, auch in der Spitze, im internationalen Vergleich in ihren Leistungen nur Mittelmaß sind. Die Kritik an der Studie wird nur angedeutet, aber verworfen, weil ihr ein anderes Verständnis vom Auftrag der Schule (z. B. Förderungen „sozialer Atmosphäre“) zugrunde liege. Die Vorzüge der empirischen Unterrichtsforschung werden engmaschig und hierarchisch gestuft vorgetragen. Der Nutzen der Studie wird unter d) in 9 Punkten mit argumentativer Klimax unterstrichen, wozu vor allem faire Leistungsbeurteilung, Förderung aktiven Lernens, vernetztes, aufeinander aufbauendes Curriculum, Arbeit mit verschiedenen Lerngeschwindigkeiten gehören. Die meisten Befunde sind Elemente des Standardprogramms guter Lehrkräfte, aber sie geben den Methoden wirkungsstarken Unterrichtens zusätzliches Gewicht. Der Eindruck einer hierarchisch geordneten Argumentation (8 Ober-, 14 Unterpunkte) täuscht, weil es dem Verfasser im Wesentlichen um die Reihung von Gesichtspunkten für einen kritisch-konstruktiven Umgang mit empirisch angelegten Leistungsmessungen geht. Im zweiten Schritt wird allgemeiner gefragt: „Warum muss die pädagogische Wirksamkeit von Schulen wissenschaftlich überprüft werden?“ Um die Frage beantworten zu können, sei es zum einen nötig, einen gesellschaftlichen Konsens darüber herzustellen, dass Leistung zwar nicht das einzige, „aber ein unverzichtbares wichtiges Bildungsmittel der Schule ist“ (Weinert 2001, 26), zum anderen müssen Maßstäbe und Kriterien definiert werden, die Vergleiche erlauben. Dann folgt jener Gedankenschritt, den die Nachfolger von empirischen Prüfungen aus dem Auge verlieren: dass der weite Leistungsbegriff auf messbare Leistungen eingegrenzt und als Kompetenz genau gefasst wird. Die von Weinert im Anschluss an amerikanische Studien formulierte Definition ist bis heute Grundlage für alle empirischen Untersuchungen im Schulfeld: Dabei versteht man unter Kompetenzen die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. (ebd., 27 f.)
Damit sind drei Kompetenz-Bereiche erfasst: fachliche, fachübergreifende (z. B. Problemlösen) sowie Handlungskompetenzen (mit z. B. sozialen, volitionalen oder moralischen Teilleistungen). Die Vielschichtigkeit des Begriffs ergibt sich aus seiner Geschichte und dem Gebrauch in unterschiedlichen Kontexten und Institutionen (dazu Kilian/Lüttenberg 2009, 245 ff.). Für die Leistungsprüfungen aber ist klar, dass bei der Lösung von Aufgaben der Grad der Einlösung vorformulierter Erwartungen zum Kriterium der Beurteilung werden muss. Nicht überprüft werden können so z. B.
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Transfer in nicht vorbereitete neue Kontexte, selbständige Hypothesenbildung, kreative Entwürfe, Werturteile einschließlich moralischer Verantwortung. Das wird zwar nicht mehr explizit ausgeführt, aber doch dafür geworben, die Vielfalt der Bildungsziele jenseits der Kompetenzentwicklung zu erhalten. Die Einsicht in die Partialität der Methode geht späteren Untersuchungen zu Kompetenzgewinnen verloren. Im dritten Schritt der Argumentation genügt es also, die „Anforderungen an schulische Leistungsmessungen“ noch einmal zu unterstreichen und „zielspezifische, maßgeschneiderte und qualitativ anspruchsvolle Untersuchungsprogramme“ (Weinert 2001, 31) zu fordern. Erst dann ist die Grundlage geschaffen für eine Evaluationskultur, die der Politik, den Schulen und vor allem den Schülern bei Verfolgung der ganz unterschiedlichen Ziele Erfolg verspricht.
4 Empirische Studien (deskriptiv) Empirische Studien zum Leistungsvermögen von Schülern und zur Qualitätssteigerung von Unterricht sind maßgeblich beeinflusst durch die Studie „PISA 2000“ (Baumert u. a. 2001). Das „Programme for International Student Assessment“ hat zum Ziel, basale Kompetenzen von 15-jährigen Schülern weltweit in 32 Staaten, in der Mehrzahl Mitglieder der OECD, zyklisch zu erfassen und damit Aussagen über die Leistungsfähigkeit der Bildungssysteme zu machen. Im Zentrum stehen die Bereiche Lesekompetenz (Reading Literacy), mathematische Grundbildung (Mathematical Literacy), naturwissenschaftliche Grundbildung (Scientific Literacy). Die Untersuchung wird konzentriert auf Basiskompetenzen, die in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind. (ebd., 16)
Ausdrücklich gilt das Bekenntnis einem funktionalistischen Bildungsverständnis, in dem Wissen und Können auf ihre Leistungen für die Lebensbewältigung der jungen Menschen befragt werden. Anders als im amerikanischen Literacy-Konzept soll es auch um „Weltorientierung“, die „vermittelnde Begegnung mit zentralen Gegenständen unserer Kultur“ (ebd., 20) gehen. Dabei stehen aber nicht mehr die Inhalte im Mittelpunkt der Vorstellung von Bildung, schon gar nicht in ihrem autonomen Status, sondern vielmehr ihr Nutzen für die Kommunikation sowie die Verbesserung der Lernfähigkeit. Ausdrücklich wehrt sich das Konsortium (ebd., 21) gegen die „Allmachtsphantasien“ moderner Bildungstheorien. Nimmt man der Erläuterung seinen polemischen Unterton, so ist die Beschränkung auf wenige, aber grundlegende Qualifikationen der jungen Menschen notwendig, um die Basis zu erschließen, auf der alle weiter- und tieferführenden Kenntnisse und Fähigkeiten aufbauen. Wo die Basiskompetenzen aus dem Blick geraten, sind alle weitergehenden Bildungsanstrengungen
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vergeblich, wie die Studie beweisen kann. Allerdings fehlt ihr, wie noch in den Arbeiten von Weinert zu finden, eine Reflexion der Reichweite des empirischen Ansatzes, der mit der Messung von Kompetenzen nur einen Teil, wenn auch die notwendige Grundlage der allgemeinen Bildung, erfassen kann; historische, systematische, ästhetische und moralische Bildung kommen ebenso wenig in den Blick wie Persönlichkeitsentfaltungen einzelner Schülerinnen und Schüler. Gesten der methodologischen Bescheidenheit aber nähmen den Ergebnissen nicht ihre Schlagkraft. Als Beispiel für theoretische Grundlegung, Messverfahren und Befunde kann in unserem Kontext der Abschnitt über „Lesekompetenz“ dienen (Baumert u. a. 2001, 69–137). Darunter verstehen die Autoren die Fähigkeit, geschriebene Texte unterschiedlicher Art in ihren Aussagen, ihren Absichten und ihrer formalen Struktur zu verstehen und sie in einen größeren sinnstiftenden Zusammenhang einzuordnen, sowie in der Lage zu sein, Texte für verschiedene Zwecke sachgerecht zu nutzen. (ebd., 22)
Dabei kommt es vor allem darauf an, „neue Anforderungen situationsadäquat unter Berücksichtigung von Werten, Zwecken und Zielen zu interpretieren“ (ebd., 30), also einen Transfer in vergleichbare Situationen zu leisten. Lesekompetenz wird als eine Form der Handlungskompetenz verstanden, die nicht nur kognitive Leistungen abfragt, sondern auch „Haltungen, Einstellungen und förderliche Strategien und Routinen, die einen aktiven Leser auszeichnen“ (ebd., 73). Diese hohen Selbstansprüche stehen im Widerspruch zu der Tatsache, dass mit der Konstruktion der Tests die Antwortformate und Auswertungsrichtlinien festgelegt werden. Weder dürfen die Schüler selbstständige oder gar kreative Lösungen suchen, noch sind die Korrektoren frei, die Antworten nach anderen als den vorgegebenen Kriterien zu bewerten. Wenn von Transfer gesprochen wird, ist er inhaltlich, nicht aber strukturell im Sinne von Modelllernen gemeint. Das Erreichen eines Ziels, das dem Konzept der kritisierten Bildungstheorien entstammt, kann mit den Methoden quantitativer Empirie nur behauptet, aber nicht gemessen werden. Die Auswahl der Aufgaben für den Umgang mit Texten folgt keinem theoretischen Konzept, sondern wird pragmatisch auf Textstücke und Lesesituationen eingegrenzt, soweit sich die Vertreter der beteiligten Länder darauf einigen konnten. Das Verfahren ist zwar aufwändig, aber ist nicht durch sachangemessene Auswahlkriterien (Exemplarität, Aktualität, Denkmodellen) gedeckt. Gleichwohl erscheinen die gewählten Beispiele, weitgehend nicht-fiktionale Texte, geeignet, durch Aktualität und hinreichende Komplexität in Inhalt und Form basale Fähigkeiten zur Textanalyse und zum Verständnis für das dargestellte Problem zu prüfen. Zum Zweck dieser Messung wird die Lesekompetenz in fünf Aspekte ausdifferenziert und zu drei Sub skalen zusammengefasst:
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Aspekte des Lesens
Subskalen
– Informationen ermitteln
→ Informationen ermitteln
– Ein allgemeines Verständnis des Textes entwickeln – Eine textbezogene Interpretation entwickeln
→ Textbezogenes Interpretieren
– Über den Inhalt des Textes reflektieren – Über die Form des Textes reflektieren
→ Reflektieren und Bewerten
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Abb. 1: „Von fünf Aspekten des Lesens zu drei Subskalen“ (aus: Baumert u. a. 2001, 83)
Werden diese Aspekte eines gelungenen Lesens in ein Verhältnis zu den angenommen Schritten des Verstehensprozesses gesetzt, dann lassen sich die Fähigkeitsprofile genau bestimmen. Diese Kompetenzstufen sind nach Graden der Fähigkeit zum Erschließen von Texten mit zunehmend komplexen Mitteln (von der Informationsentnahme bis zur Bildung von Hypothesen) gegliedert. Die Leistung „Verstehen“ ist dabei eher in alltagssprachlicher Bedeutung als im Sinne einer kompletten Verstehenstheorie oder Interpretationsmethode gemeint, sie erfasst aber dennoch die Elemente und Schritte einer Textdeutung in der neunten Klasse. Die Befunde der Untersuchungen waren überraschend und wurden in den Medien als „Schock“ bewertet: Prozent Schüler ...
OECD Gesamt
Deutschland
V
auf Stufe V die Aufgaben auf Stufe V und darunter lösen
9,5 9,5
8,8 8,8
IV
auf Stufe IV die Aufgaben auf Stufe IV und darunter lösen
22,3 31,8
19,4 28,2
III
auf Stufe III die Aufgaben auf Stufe III und darunter lösen
28,7 60,5
26,8 55,0
II
auf Stufe II die Aufgaben auf Stufe II und darunter lösen
21,7 82,2
22,3 77,3
I
auf Stufe I die Aufgaben auf Stufe I und darunter lösen
11,9 94,1
12,7 90,0
6,0 100,0
9,9 100,0
unter Stufe I die Aufgaben unter Stufe I lösen
Abb. 2: Prozentualer Anteil von Schülerinnen und Schülern auf den Kompetenzstufen in der Gesamtskala Lesen (aus: Baumert u. a. 2001, 103)
Nimmt man die 12,7 % der Schüler noch hinzu, die nur die einfachsten Aufgaben der Stufe I bewältigen, dann waren fast 45 % der Schüler nicht in der Lage, die über der Kompetenzstufe II liegenden Anforderungen zu erfüllen. Auch die Schüler, die Kompetenzstufe V erreichten, lagen knapp unter dem Mittelwert der OECD-Teilneh-
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mer. In einigen Staaten (z. B. Neuseeland, Finnland) war der Anteil der Schüler, die die höchste Kompetenzstufe erreichten, doppelt so hoch (18 %) wie in Deutschland (8,8 %). So kamen auch deutsche Schüler in der anspruchsvollen Subskala „Reflektieren und Bewerten“ in der obersten Stufe nicht über das Mittelmaß hinaus. Die Ergebnisse waren eindeutig. Die Autoren der Studie haben Anregungen gegeben, Lesestrategien auf der Sekundarstufe I zu verbessern. Sie verlassen damit die reine Deskription der Befunde und wagen Prognosen für die Verbesserung künftiger Ergebnisse. In dieser Reflexion erweist sich die Diskursivität der desriptiven Rede. Zu den Strategien gehören: Das Zusammenfassen (von Textabschnitten bzw. des gesamten Textes), das Formulieren von Fragen an den Text, das Klären von Unklarheiten, das Vorhersagen der weiteren Textinhalte. (Baumert u. a. 2001, 132)
Damit gewinnen die Schüler auf der Metaebene Mittel für die Planung und Kontrolle der Leseprozesse. Die Befunde der ersten Studie von 2001 haben zu vielfältigen Maßnahmen in den Schulen geführt, um das Wissen und die Fähigkeiten der Schüler für die Textanalyse zu verbessern. Die Ergebnisse der folgenden Untersuchungen lassen denn auch einen positiven Trend erkennen: Die Kompetenzen verbessern sich kontinuierlich: 2009 liegen sie bei 497 Punkten gegenüber den 484 im Jahr 2000. Dabei ist auffällig, dass der Anteil der Schüler aus der untersten Stufe sich halbiert hat, in der obersten Stufe sich aber keine Veränderungen zeigen. Die Verbesserung um 13 Punkte (bei 500) mag statistisch relevant sein, pädagogisch aber ist sie nicht befriedigend. An den Basiskompetenzen der Schüler vor Abschluss der Sekundarstufe I muss didaktisch weiter intensiv gearbeitet werden. Dazu gehört auch, über die Niveaustufen der Leistungen immer neu nachzudenken (vgl. Willenberg 2007, 109 f.). Trotz mancher Kritik im Detail an dem Aufgabenkonzept, das näher an kognitionspsychologischen Methodendesign als an Theorien der Fächer orientiert ist, oder an dem viel zu kurz bemessenen Zyklus von drei Jahren sind die regelmäßigen Leistungsmessungen unverzichtbar: 1. Die empirischen Studien geben der Planung von Unterricht und Bildung die notwendigen Grundlagen. Erst wer weiß, wie der Stand der Kenntnisse, Fähigkeiten und Lernbereitschaft in einer Lerngruppe in der Regel beschaffen ist, kann die erforderlichen Bildungsmaßnahmen mit guten Gründen planen. 2. Die Untersuchungen bieten Vergleichsmaßstäbe über Ländergrenzen hinweg. Gerade um den Kulturföderalismus und den Wettbewerb zu fördern, ist eine Verständigung über Standards des Wissens und der methodischen Fähigkeiten in den Klassenstufen unabdingbar. Das Benchmarking ist zugleich ein notwendiges Instrument bei der Angleichung der Anforderungen in den Ländern der Europäischen Union.
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3. Die regelmäßig wiederkehrenden Tests bieten Material für Langzeitbeobachtungen in den Ländern, den Regionen und den einzelnen Schulen. Zugleich geben sie Hinweise und Anregungen für variable Tests in den verschiedenen Schulformen und für unterschiedliche Lerngruppen, z. B. der Begabten, der Einwanderer, der Förderbedürftigen. 4. Mit den Aufgabenformaten wird die Diskussion um das Kerncurriculum, die Methoden der Vermittlung sowie die Aufgabenstellung der Klassenarbeiten angeregt. Jenseits der generalisierenden Aufgaben (z. B. analysiere, interpretiere, fasse zusammen, argumentiere) werden die Arbeitsanweisungen konkreter und in ihrer Zielstellung für die Schüler abschätzbarer und reflektierbar. Damit entwickelt sich die Befähigung zur Metareflexion. Was den vorliegenden empirischen Studien in der Nachfolge von PISA fehlt, ist die Diskussion über die Grenzen des Ansatzes der Methode und der Ergebnisse. Bildung besteht eben nicht nur aus messbaren Kompetenzen, sondern fördert riskantes Denken, unerwartete Einfälle, sichere Urteilskraft und die Entwicklung zu unverwechselbaren Persönlichkeiten. Aussagekräftiger in dieser Hinsicht sind Fallstudien aus dem Schulalltag. In den umfangreichen Literaturverzeichnissen der Empiriker, die allein Messmethoden für den Ausdruck von Wissenschaftlichkeit halten, kommen Arbeiten der qualitativen Schulforschung nicht vor. Eine exemplarische Erläuterung von ausgewählten qualitativen Studien zum Deutschunterricht habe ich selbst versucht (Müller-Michaels 2013b). Unter dem Gesichtspunkt der Redeform in Fallstudien ist der Bericht von Dieter Wrobel: „Individualisiertes Lesen, Leseförderung in heterogenen Lerngruppen. Theorie – Modell – Evaluation.“ (2008) besonders aufschlussreich, weil er sich der Methode der „dichten Beschreibung“ (Cliffort Geertz) bedient. Erst in derartigen Fallstudien können Zusammenhänge zwischen Befund und curricularer Entscheidung sowie den Ergebnissen des Unterrichts argumentativ sichtbar gemacht werden. Ihnen gehört die besondere Aufmerksamkeit einer Wissenschaftsförderung, die die Aufgaben der Schule nicht nur in der Förderung funktionaler Intelligenz, sondern in der allseitigen Bildung junger Persönlichkeiten sieht.
5 Didaktische Programmatik (normativ) So wichtig empirische Untersuchungen zum Ist-Stand von Lernprozessen in Klassen und Alterskohorten sind, das Herzstück didaktischer Arbeiten bleibt die Entwicklung neuer curricularer Einheiten für eine allseitige Bildung jeder neuen Generation. Die innovativen Modelle werden in Büchern, Zeitschriften und Lehrbüchern vorgestellt, auf ihre Wirksamkeit im Unterricht geprüft und landen hin und wieder in den Lehrplänen der Bundesländer. Wie in der Architektur handelt es sich um Planskizzen, die auf Realisierung setzen. Die Redeweise in den Programmschriften ist gekennzeichnet
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durch setzende Diktion, Anschluss an empirische Befunde, Bekräftigung von neuen administrativen Vorgaben, Anregungen aus den Bezugswissenschaften und Appellen zur Umsetzung des Modells in die Praxis. Aus der Vielzahl von solcherlei theoretischen Konstrukten seien zwei Beispiele herausgegriffen, die in der didaktischen Diskussion, der unterrichtlichen Rezeption und den administrativen Verordnungen (z. B. in den Kerncurricula) eine wichtige Rolle gespielt haben. Da ist vor allem und zunächst, spätestens mit Ende der neunziger Jahre, die radikale Veränderung der Alltagswelt durch die neuen Medien. Es war daher sehr verdienstvoll, dass Volker Frederking, Klaus Maiwald und Axel Krommer 2008 in ihrer Einführung „Mediendidaktik Deutsch“ die vielen neuen Ansätze gebündelt, theoretische Grundlegungen erörtert und durch Beispiele anschaulich gemacht haben. Am Anfang steht die kurze Erläuterung von fünf einschlägigen Medientheorien von Claude E. Shannon bis Siegfried J. Schmidt, wobei letztere mit der Beschreibung der Kommunikationssysteme offensichtlich die Sympathie der drei Autoren der Einführung genießt. Auch wenn der Verzicht auf eine eigene Definition mit der Vielfalt der Ansätze erklärt wird, wäre eine neue Bestimmung des modischen Begriffs wenigstens als Arbeitshypothese notwendig gewesen. Bezieht man die folgenden Kapitel des Buches mit ein, so könnte sie lauten: Medien sind Mittel der privaten und öffentlichen Kommunikation, die zum einen Wahrnehmungen steuern, zum anderen neue Formen der Darstellung von Gedanken und Anliegen ermöglichen. Hilfreich sowohl für die Begründung einer Systematik der alten und neuen Medien als auch für eine übersichtliche Darstellung der Paradigmen (oral, literal, audio-visuell, multimedial) im Unterricht ist das 3. Kapitel: „Mediale Paradigmen. Zur Geschichte der Medien und ihre Nutzung aus deutschdidaktischer Perspektive“ (Frederking/Maiwald/Krommer 2008, 25–62). Mit großer Selbstgewissheit werden Gedanken nicht allmählich entwickelt, sondern in schlüssigen Formeln gesetzt, wie z. B. zum oralen Paradigma: Eine Behandlung mediengeschichtlicher Zusammenhänge im Deutschunterricht hat Schüler (inne)n diese Besonderheiten des Stadiums primärer Möglichkeit transparent zu machen, […] (ebd., 29)
oder zu den audiovisuellen Medien: Schüler(inne)n im Deutschunterricht Möglichkeiten zur reflexiven und kritischen Verarbeitung gerade auch ihrer telematischen Mediensozialisation zu eröffnen, erscheint vor diesem Hintergrund dringender denn je. (ebd., 52)
Das Kernstück des Buches befindet sich im 5. Kapitel „Mediendidaktik Deutsch“ unter 5.2: „Konzeptionen“ (Frederking/Maiwald/Krommer 2008, 91–98). Beschrieben werden vier verschiedene Ansätze, die aber alle darauf hinauslaufen, die unterschiedlichen Medien zu vernetzen und für komplexe Unterrichtsentwürfe variabel
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zu nutzen: (Medien)Integrativer, Computergestützter, Intermedialer, Symmedialer Deutschunterricht. Auch wenn die Konzepte mit unterschiedlichen Beispielen verschiedener Autoren erläutert werden, wird die Trennschärfe nicht recht deutlich, denn in allen Entwürfen geht es um Integration der vielen alten und neuen Medien. Auch was „didaktischer Mehrwert“ anders als Erweiterung des methodischen Repertoires bedeutet, wird nicht recht klar. Aber das Ziel des Buches ist zunächst, die Aufmerksamkeit auf ein wichtiges Thema der Zeit zu richten, die Vielfalt der neuen Formen sowie Arten des Umgangs mit ihnen zu erläutern. So nehmen denn die Beschreibungen der vier Medien (Akustisch-Auditive, Visuelle, Audiovisuelle, Symmedien) den umfangreichsten Teil der Einführung ein. Sehr anregend und ermutigend sind die Beispiele am Schluss (Kapitel 9.4): Von den Internetkooperationen über „Chatten mit dem lyrischen Ich“, SMS als Gegenstand der Sprachreflexion bis hin zu Goethes „Zauberlehrling“ digital, symmedial und synästhetisch. Die Argumentation ist nicht durchgehend stringent. So bleiben einzelne Fragen zum Gesamtentwurf einer Begründung der Mediendidaktik bestehen: 1. Schon in der Einleitung wird behauptet, dass Medien die dritte Säule neben Sprache und Literatur in der Deutschdidaktik seien. Die dritte Säule aber ist, wenn man von den fundamentalen Gegenständen her denkt, die Rhetorik des Redens und Schreibens. Medien sind primär kein Gegenstand, sondern Mittler im Unterricht. Zu Recht wird immer wieder von Integration der Medien in die Aufgabenfelder des Deutschunterrichts gesprochen: Sie sind innovatives Potenzial für Methoden des Unterrichts und ihre Gegenstände sind allenfalls Teilelemente der drei großen Lernbereiche. 2. Die wichtigste Begründung für eine intensivere Behandlung des Themas ist seine ständig wachsende Bedeutung in der Lebenswelt der Schüler. Hinweise auf übergeordnete Ziele, wie z. B. Mündigkeit, Emanzipation, Allgemeinbildung, Persönlichkeitsentwicklung, fehlen ebenso wie die Begründung der vorgeschlagenen Inhalte (z. B. ihre Exemplarität); das Problem von Trivialität der vorgeschlagenen Inhalte wird erst gar nicht diskutiert. 3. Notwendig wäre ein Hinweis auf die Partialität des Ansatzes: Welche Inhalte sollen ersetzt werden?, Wie sieht das Qualifikationsprofil aus?, Inwieweit ist eine Revision des Kanons nötig?, Welche Sequenzbildung fordert ein integrativer Medienunterricht? Medien können weder Ziele noch Inhalte des Unterrichts dominieren, wenn er nicht der Affirmation an das Gegebene verfallen soll. 4. Selbstgewissheit, setzende Rede, appellativer Gestus sind zwar notwendige Sprachformen, um für neue Paradigmen Aufmerksamkeit zu gewinnen, aber didaktische Rhetorik sollte mit dem Eingeständnis verbunden sein, dass die Integration des Neuen in das Tradierte noch zu leisten ist. Ein Beispiel für einen innovativen Impuls in einem seit den Anfängen des Deutschunterrichts zentralen Gegenstand ist die Revision des Aufsatzunterrichts durch
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Gerd Bräuer: „Schreibend lernen. Grundlagen einer theoretischen und praktischen Schreibpädagogik“ (1998). Das Bemerkenswerte seines Ansatzes ist, dass er nicht eine Theorie entwirft und ihre Praxistauglichkeit an Beispielen belegt, um das Curriculum neu auszurichten, sondern dass er den Gedanken von Anlass und Absicht des Schreibens mit dem Leser gemeinsam entwickelt. Interaktiv nennt er das Verfahren, das im besten Sinne didaktisch ist, insofern es Lehrende und Lernende in den Prozess aktiven Lernens einbindet, an dessen Ende alle Beteiligten an Wissen, Können und Verantwortung gewonnen haben. Schreibimpulse leiten Entdeckungsreisen ein – zu sich selbst, zu Genrekonventionen, zu Adressaten und neuen Erfahrungsfeldern. Der Prozess läuft nicht mehr von der Aufgabenstellung über Planung – Materialsammlung – Erstentwurf – Überarbeitung zur Endfassung, sondern springt vom Einfall über „bildliches Vorstellen, Geschichtenerzählen, Sinnstiftung und Spiel“ (Bräuer 1998, 26) zu Fassungen, die alleine und im Kollektiv überarbeitet werden. Als Zwischenschritt ist das Produkt zwar wichtig und Anlass für Diskussionen, aber im Kern bleibt das Schreiben ein Prozess, angereichert durch neue Einfälle, Formvollendung und Bedeutungszuschreibung. Zwei Handlungsstrategien sind zu unterscheiden: „Schreiben als Regel- und Norm orientierung vs. Schreiben als Bedürfnisorientierung“; sie werden als Aufsteigendes (genrekonform) vs. Absteigendes Schreiben (kreativ) mit Aufgaben für die Leser erläutert und in Form des „loop writing process“ (ebd., 47) zusammengeführt. Nach dem „Grundlegenden Teil“ (I) folgen Ausführungen, Beispiele und Aufgabenstellungen zu Methoden (imitieren, adaptieren, improvisieren), Ausdrucksformen (z. B. Bildlichkeit, Mündlichkeit, Theatralität) und Funktionen (II). In Kapitel III „Organisation“ werden Lernformen und Medien der Schreibarbeit (Sozialform, Bewertung, Journal, Computer etc.) erläutert. Ins Zentrum rückt dabei die Arbeit mit dem Portfolio (ebd., 178–187), insofern in der Mappe alle Skizzen, Entwürfe, Produkte des Schreibens versammelt sind. So plausibel das Konzept in den einzelnen Schritten sein mag, so wenig deutlich werden der genaue Ort und die Grenzen des spielerischen, experimentellen, erfahrungsbewussten Schreibens in der allgemeinbildenden Schule. Zwar wird von der Balance zwischen konventionellem und kreativem Schreiben gesprochen, aber schon damit ein deutliches Übergewicht eingefordert. Das mag für die interdisziplinäre propädeutische Arbeit im amerikanischen College noch anregend wirken, dem Bildungsauftrag der weiterführenden Schulen in Europa kann eine solche Forderung nicht entsprechen. Im Aufgabenfeld des Aufschreibens geht es zunächst und vor allem um die Vermittlung einer Systematik der Textsorten, um das Verständnis für die Funktionen schriftlicher Kommunikation, die Einübung in Formen publizistischen, wissenschaftlichen, persönlichen und literarischen Schreibens sowie um die Fähigkeit zur Bewertung eigener und fremder Produkte nach Kriterien des Gelingens. Als zusätzlicher Teil der Schreibversuche von der Grundschule an aber ist das kreative Schreiben wichtig, insofern es den Mut stärkt, alles aufzuschreiben, was wichtig und behaltenswert erscheint, die Fähigkeit entwickelt, komplexe Texte aufzufassen und reflexiv
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mit ihnen umzugehen, sich anderen mitzuteilen, in eine Diskussion zu kommen und damit an den öffentlichen Debatten aktiv teilzunehmen. Auch um Erinnerungen von Lehrenden und Lernenden festzuhalten, bildet das Portfolio eine produktive Herausforderung. In der didaktischen Literatur ist der Portfolio-Gedanke vielfach aufgegriffen worden und mit dem alten Medium „Arbeitsmappe“ verschmolzen. Der induktiven, entwickelnden didaktischen Vorgehensweise beim Aufbau des Kurses vom ersten Schreibversuch bis zum Portfolio am Ende der Schulzeit entspricht auch die Rhetorik des Buches. Die Abfolge der Gedanken in den Kapiteln ist jederzeit nachvollziehbar, theoretische Einsichten sind durch Beispiele belegt, die Aufgaben, hin und wieder allzu gehäuft und empfindungsgeladen, ergeben einen (Selbst-)Unterricht von zunehmender Komplexität. Schlussfolgerungen werden nur behutsam vorgenommen, Alternativen sind bedacht, Kompromisse im Streit der Theorien werden angedeutet. Gleichwohl bleibt das Buch mit seinem Appell für mehr Experimente mit kreativem Schreiben in Schule und Hochschule unbeirrbar und fordert Lehrer wie Schüler zu eigenen Experimenten heraus. Mit den abwägenden Forderungen, dem unaufdringlichen Ton, dem fragend-entwickelnden Verfahren entspricht sie der didaktischen Programmatik einer anregenden Versuchsanordnung für die Praxis.
6 Administrative Verordnung Das jüngste Beispiel für Richtlinien als Regulative für den Unterricht in den Bundesländern ist der KMK-Beschluss über „Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife“ (18.10.2012). Anders als der Begriff „Bildungsstandards“ nahelegt, geht es allein um Bestimmung und Erläuterung fachbezogener Kompetenzen, die Schüler bis zum Abitur entwickelt haben sollen. Am Ende der Einleitung wird gefordert, dass die formulierten Standards von den „Akteuren im Bildungssystem aufgegriffen werden […] müssen“ (KMK 2012, 6). Aus dem Konjunktiv didaktischer Programmatik wird der Imperativ ministerieller Verordnung. Schon der erste Satz verrät mangelnde Präzision in der fachlichen Begrifflichkeit: Das Fach Deutsch leistet einen grundlegenden Beitrag zu den Bildungszielen der gymnasialen Oberstufe und zur Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und Schüler bis zur Allgemeinen Hochschulreife. Für die unterrichtliche Arbeit in der Sekundarstufe II sind eine vertiefte Beschäftigung und gründliche Auseinandersetzung mit Literatur, Sprache und Kommunikation charakteristisch. Dabei erwerben die Schülerinnen und Schüler sowohl ausgeprägte produktive und rezeptive Text- und Gesprächskompetenz als auch literaturhistorisches und ästhetisches Bewusstsein. Besonderes Gewicht enthält die Entwicklung der Argumentations- und Reflexionsfähigkeit in Bezug auf die Bereiche des Faches und in fächerübergreifenden Kontexten. (ebd., 10)
Es bleiben Fragen: Welchen Anteil sollen Kompetenzen an der Hochschulreife haben? Wie sollen vertiefte Auseinandersetzung oder gar Verständnis gemessen werden? Was soll „ästhetisches Bewusstsein“ konkret heißen? In den Formeln wird sichtbar,
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dass weniger Fachleute aus der Germanistik als vielmehr Psychologen am Werk sind, die der Spezifik des Faches fern stehen. Über alle Kritik hinaus haben die Bildungsstandards die Diskussion über das, was in den Schulen gelernt werden soll, neu eröffnet. Was bei dem ersten Blick auf die „Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife“ vom Oktober 2012 auffällt, ist die Vielfalt der Überlegungen und die Präzision in der Anwendung des Kompetenzansatzes auf den Deutschunterricht. Mit gedanklicher Schärfe und anregenden Einfällen werden Aufgaben formuliert, begründet, in Schritte gegliedert und in Erwartungskatalogen konkretisiert. Die Standards von Fähigkeiten der Schüler der gymnasialen Oberstufe beschreiben die Erwartungen an Leistungen von Abiturienten, jenseits der Unterschiede in den Bundesländern, in den Regionen sowie in den verschiedenen Schulformen in den Ländern selbst. Damit schaffen sie die Grundlage für die Gleichheit der Bildungschancen für die jungen Menschen, unabhängig von Wohnsitz, Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen sowie individuellen Begabungen, Interessen und Lebenszielen. Dennoch lösen die Standards nicht ein, was sie versprechen: Allgemeine Hochschulreife sicherzustellen. Sie erfüllen darüber hinaus auch nicht den Anspruch, Bildung in der Weise zu vermitteln, dass sie den jungen Menschen die Chance eröffnet, sich zu unverwechselbaren Persönlichkeiten zu entwickeln. Zur Gleichheit der Chancen muss die Gerechtigkeit kommen, jeden Einzelnen nach seinen Fähigkeiten, Interessen zu fördern; jedem gerecht zu werden. Die in den Standards vorgeschlagenen methodischen Maßnahmen zur Förderung allseitiger Kompetenzen zielen auf das Mittelmaß, vielleicht den Schüler im Median, aber nicht auf die Person. In der Fachpräambel für das Fach Deutsch werden die Zieldimensionen des Faches verkürzt auf die Fähigkeiten (die „sprachlichen, kommunikativen und ästhetischen Kompetenzen“ [KMK 2012, 10]). Lernbereiche werden als Kompetenzbereiche gefasst: Domänenspezifischer Kompetenzbereich
Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen
Prozessbezogene Kompetenzbereiche Sprechen und Zuhören Schreiben
Domänenspezifischer Kompetenzbereich
Sprache und Sprachgebrauch reflektieren
Lesen Abb. 3: Kompetenzbereiche der Bildungsstandards Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife (aus: KMK 2012, 14)
Die Gliederung der Aufgaben des Faches in der Oberstufe ist nicht plausibel, weil auch die „Domänenspezifischen Kompetenzbereiche“ prozessorientiert sind und die
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Operatoren „auseinandersetzen“ und „reflektieren“ nur durch sprachliche Leistungen (sprechen, schreiben) zu erreichen sind. Wenn man bei den traditionellen Lernbereichen ansetzt, bleiben im Kern drei Aufgaben: 1. Rhetorik des Sprechens und Schreibens 2. Grammatik mit Sprachtheorie 3. Kultur mit Literatur und Medien Viele Richtlinien landen bei vier Aufgabenfeldern, wenn mündliche und schriftliche Kommunikation systematisch getrennt werden. Wie oft auch immer die Tabelle der Kompetenzbereiche wiederholt werden wird, die reichlich konstruierte und schiefe Systematik wird sich in der Praxis nicht durchsetzen. Soweit sich die einzelnen Kompetenzen aber mit den zentralen Aufgaben des Deutschunterrichts verbinden lassen, können die Auflistungen der erwarteten Fähigkeiten durchaus anregende Hilfe für Lehrplanarbeit und Unterricht sein, z. B. zu der Form der Erörterung („Erklärend und argumentierend schreiben“ [KMK 2012, 17 f.]). Das Manko dieser Kataloge aber ist, dass keine Systematik erkennbar ist, dass die notwendigen Inhalte nicht diskutiert werden und die Funktion der einzelnen Könnensleistungen für größere, zusammenhängende Aufgaben nicht erkennbar ist (z. B. analytische, synthetische Interpretation, Bericht über ein Experiment/eine Exkursion, Sammelrezension etc.). Seit die ersten Bildungsstandards in der Öffentlichkeit sind, gibt es mahnende Stimmen von Philosophen, Bildungswissenschaftlern und Lehrpersonen in den Schulen, die vor der Einseitigkeit des Kompetenz-Konzepts warnen. Bildung ist mehr als Förderung von Fähigkeitsprofilen; genauer: Der Begriff „Bildungsstandard“ bezeichnet einen Widerspruch zwischen der Vielfalt individueller Entwicklung von Persönlichkeiten und einheitlicher Standardisierung von Messgrößen. In traditioneller Begrifflichkeit der Bildungswissenschaften akzentuiert die Kompetenzorientierung die formale Bildung vor der materialen: Alles läuft auf Handlungsfähigkeit, methodische Sicherheit, mehr oder minder souveränes Können hinaus; prozedurales Wissen heißt das heute in der elaborierten Sprache der Psychologie. Materiale Bildung, deklaratives Wissen genannt, bleibt auf der Strecke: Grundwissen erwerben, sich in der Welt orientieren, Tradition bewahren und Anknüpfungen an die Gegenwart schaffen. Auf der Grundlage einer in der Pädagogik entfalteten Begrifflichkeit wurde definiert: Bildung ist das Vermögen, Wissen, Können und Verantwortung so zu entwickeln, dass daraus das Bedürfnis wird, alle eigenen Möglichkeiten ganz auszuschöpfen, um über sich hinauszuwachsen. (Müller-Michaels 2009, 42)
Ohne auf die Details einzugehen, wird klar, dass Könnensentfaltung allein nicht zur Bildung von Persönlichkeiten führt, allenfalls fördert es die funktionale Intelligenz der Schülerinnen und Schüler. Wir müssen auch wieder sprechen über
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grundlegendes Wissen Modelle der Erklärungen der Sachen den literarischen Kanon den Zusammenhang von Ästhetik und Ethik.
Nur wenn substanzielle Angebote dieser Art im Unterricht gemacht werden, können die Jugendlichen alle in ihnen angelegten und den Ausbau erworbener Möglichkeiten ausschöpfen und weiter entwickeln. In „Kritischen Anmerkungen“ zu Bildungsstandards und Hochschulreife (MüllerMichaels 2014, 280 ff.) habe ich vier der sieben „Illustrierenden Prüfungsaufgaben“ bzw. „Lernaufgaben“ analysiert und kritisiert. Die Kritik an den Bildungsstandards für das Abitur ist dort in vier Punkten zusammengefasst: 1. Wo bleibt die Selbstständigkeit? 2. Wissenschaftspropädeutik? Fehlanzeige 3. Kompetenzorientierung? Erst der halbe Weg zur Bildung 4. Persönlichkeit gegen Standard Nicht die Kompetenzorientierung der neuen Standards ist das Problem, sondern deren dominante Geltung. Es ist zu hoffen, dass im Zuge der Umsetzung der Bildungsstandards in den Richtlinien der Bundesländer die Einseitigkeit korrigiert und sie für die Allgemeinbildung geöffnet werden. Wie wissenschaftliche Diskurse unterliegt auch die administrative Verordnung ständiger Revision nach Maßgabe neuer Erkenntnisse.
7 Ein Ausblick: Diskursfäden Trotz der sehr allgemeinen Bestimmung der Diskurse und der nicht immer deutlichen Trennschärfe der Beispiele sind Unterschiede in den Redeformen, den Systemen der Argumentation, verwendeten Sprechakten und leitenden Absichten sichtbar geworden. Die gewählten Diskurse schreiben mit an den Formen, Inhalten und Funktionen der wissenschaftlichen, journalistischen und pragmatischen Äußerungen in Rede und Schrift. Bei noch genauerer Analyse werden sich auch unterschiedliche Sprechhandlungen ausmachen lassen, wie z. B. Definieren, Erklären, Lokalisieren, Klassifizieren, Schlussfolgern, Vergleichen oder Erzählen, die die Regularitäten der Rede in ihrem Profil bestimmen. Gleichwohl gibt es, über die Grenzen der Formate hinaus, Gemeinsamkeiten der Diskurse über Bildung. Das gilt einerseits für die Formen, wenn im journalistischen Kommentar sachangemessen erklärt wird, wenn in deskriptiven Erläuterungen empirischer Befunde Metaphern zur Veranschaulichung gebraucht werden oder wenn in explikativen Diskursen sich strenge Analyse der Sache am Ende mit einem Appell zur Anwendung der neuen Erkenntnis verbindet. Andererseits finden sich Verknüpfungen in den Inhalten, in denen, trotz aller Differenzen, Bildung
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in ihren vielfältigen Schattierungen von Persönlichkeitsentfaltung bis Kompetenzerwerb, vom lebenslangen Prozess des Bildens bis zum Produkt des Gebildetseins, von der Grundbildung bis zur Wissenschaftspropädeutik verstanden wird. Lethen spricht von den „Diskursfäden“ (2001), die alle Äußerungen über das in Rede stehende Problem miteinander verbinden. Im Fall der Didaktik des Deutschen sind diese Fäden etwa: Diskussionen über Ziele einer allgemeinen Bildung, über Inhalte (den Kanon des Wissens) in je unterschiedlicher Gewichtung, die Methoden entsprechend dem gewählten Konzept sowie die Aufgabenformate für eine Evaluation des Unterrichts. Die Verbindungen müssen immer neu aktiviert werden, um Einsinnigkeit zu verhindern. An diesem Beispiel der Didaktik wird aber auch deutlich, dass von prinzipieller Gleichheit der Diskurse keine Rede sein kann. Mit Lehrplänen, Richtlinien, Kerncurricula werden durch die Ministerien der Länder und Staaten Konzepte stark gemacht, die aktuellen gesellschaftlichen Forderungen nachkommen. In den siebziger Jahren war es die Idee der Gleichheit, die zu einheitlichen Institutionen (Gesamtschulen, Hochschulen) mit vergleichbaren Inhalten der Curricula führte, nach PISA 2000 ist es die Wendung vom „Input“ der Lerngegenstände zum „Output“ der Bildung mit der umfassenden Entfaltung von prüfbaren Kompetenzen. Der politisch favorisierte Diskurs ist nicht mehr die explikative Abhandlung über das notwendige Wissen, sondern die deskriptive Studie über empirische Befunde der Leistungsfähigkeit von Schulen und Schülern. Der Paradigmenwechsel wäre nicht so einschneidend, wenn die verantwortlichen Kultusministerien mit ihren Instituten für Qualitätsentwicklung und den Institutionen der Forschungsförderung nicht entschieden einseitig auf die Empirisierung nach Maßgabe der quantitativen Methoden setzen würden. Denn nun folgt auch die didaktische Programmatik dem bestimmenden deskriptiven Diskurs und vergisst die Antworten auf die notwendigen Normdiskussionen im Bereich der Bildung. Dabei ließen sich schon durch den Einsatz qualitativer Fallstudien mehr Erkenntnisse über gelingenden Unterricht gewinnen als durch die standardisierten Leistungsmessungen, wie Beispiele von Schulen mit Inklusion, bilinguale Grundschulen, neue Hauptschulen, Wissenschaftspropädeutik im G8 zeigen könnten. Statt die Geltung von Diskursen durch Verordnungen oder Ausstattung mit Forschungsmitteln machtvoll durchzusetzen, sollten die Diskursformate prinzipiell gleich behandelt werden. In einigen Jahren, wenn sich die Grenzen einseitig standardisierter formaler Bildung noch deutlicher zeigen, wird der leitende Diskurs ohnehin ein anderer sein. Angemerkt sei noch, dass die Diskurse nicht nur horizontal nebeneinander geordnet sind, sondern auch vertikale Strukturen zeigen, wie wir bei der kurzen Erläuterung von Sprechhandlungen schon angedeutet haben. Wenn wir auch an dieser Stelle Habermas folgen, dann gibt es unterhalb der Diskurse, die selbstreflexiv Gegenstand und Methode bedenken, das kommunikative Handeln für die Verständigung in Situationen (Schnädelbach 1977, 150 ff.). Die Form der primären Kommunikation über Angelegenheiten von Bildung, Erziehung und Schule wird heute allgemein als Bildungssprache bezeichnet. Zum einen sind damit die Alltagskommunikation,
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die journalistische und wissenschaftliche Rede über Lehren und Lernen gemeint, in Ausnahmefällen auch die Sprache einer Elite, die nach Distinktion strebt. In neueren Arbeiten werden darunter alle Sprachformen verstanden, mit deren Mitteln die Verständigung im Unterricht gesichert wird, wie z. B. Unterrichtsentwürfe, Module, ein Inventar von sprachlichen Mitteln für Bildungsprozesse (Feilke 2012) oder die Sprechakte der Lehrer-Schüler-Kommunikation (Müller-Michaels 2009, 121). Wie im Fall der Diskurse zeigt sich auch in den kommunikativen Akten der Bildungssprache, dass sie das Denken und Handeln prägen, dass sie aber zugleich Spielräume öffnen, durch die Impulse, innovative Verfahren und Bekräftigung unabgegoltener Traditionen gesetzt werden für eine weiterreichende Bildung der nächsten Generation.
8 Literatur Baumert, Jürgen u. a. (Hg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen. Bollenbeck, Georg (1994): Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a. M. Bräuer, Gerd (1998): Schreibend lernen. Grundlagen einer theoretischen und praktischen Schreibpädagogik. Innsbruck/Wien. Feilke, Helmuth (2012): Bildungssprachliche Kompetenzen – fördern und entwickeln. In: Praxis Deutsch 39, 4–13. Foucault, Michel (1973): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a. M. Frederking, Volker/Klaus Maiwald/Axel Krommer (2008): Mediendidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin. Fuhrmann, Manfred (2002): Bildung. Europas kulturelle Identität. Stuttgart (reclam UB, 18182). Habermas, Jürgen/Niklas Luhmann (1971): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt a. M. Jeßing, Benedikt/Ralph Köhnen (2012): Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar. Kilian, Jörg/Dina Lüttenberg (2009): Kompetenz. Zur sprachlichen Konstruktion von Wissen und Können im Bildungsdiskurs nach PISA. In: Ekkehard Felder/Marcus Müller (Hg.): Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes „Sprache und Wissen“. Berlin/New York, 245–278. Klieme, Eckhard u. a. (Hg.) (2010): PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt. Münster u. a. KMK (2012): KMK-Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife (2012). Beschluss der KMK vom 18.10.2012. http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_ beschluesse/2012/2012_10_18-Bildungsstandards-Deutsch-Abi.pdf (6.2.2015). Kraushaar, Wolfgang (2005): Fortschritt, Bildung und Demokratie. Die Massenmedien im Zeichen der Gesellschaftskritik von 1968. In: Ulrich Sieg/Dietrich Korsch (Hg.): Die Idee der Universität heute. Berlin, 73–86. Lethen, Helmut (2001): Kulturwissenschaftliche Ansätze: Historische Diskursanalyse und Intertextualität. In: Rainer Grübel u. a. (Hg.): Orientierung Literaturwissenschaft. Reinbek, 163 ff.
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III Grundlagen der sprachlichen Wissenskonstitution in der Praxis
Angelika Redder
14. Theoretische Grundlagen der Wissenskonstruktion im Diskurs Abstract: Die sprachtheoretischen Grundlagen der Wissenskonstruktion im Diskurs sollen hier so weit dargelegt werden, wie sie im Kontext von Sprache und Bildung relevant werden. Das erfordert die Berücksichtigung von makro-, meso- und mikroanalytischen Zugriffen, die einerseits unter Einschluss des Bildungs- bzw. Kompetenz-Konzeptes bis hin zum Spektrum von Deskription oder Kritik gesellschaftlicher Diskurse reichen und die andererseits sprachliche Handlungspraxis sowie Sprachaneignung unter den Bedingungen unserer Bildungsinstitutionen zu analysieren erlauben, wie dies eine linguistische Handlungstheorie und das Konzept der sprachlichen Basisqualifikationen ermöglichen. 1 Sprachliche Prozessierung von Wissen 2 Diskurstypen und Texttypen der Wissens(re)konstruktion und Wissensvermittlung 3 Markante Sprechhandlungen der Wissensprozessierung 4 Prozeduren von Wissens-, Verstehens- und Erwartungsbearbeitung 5 Literatur
1 Sprachliche Prozessierung von Wissen Dass Sprache und Wissen zusammen zu denken sind, ist heute vergleichsweise breit akzeptiert. Ebenso anerkannt ist die Komplexität des Verhältnisses beider Größen zueinander. Wie dieses Verhältnis theoretisch bestimmt wird, variiert freilich recht erheblich. Dies ist einerseits wissenschaftsgeschichtlich begründet, andererseits sprach- und wissenstheoretisch. Im Zuge der historischen Ausdifferenzierung der Disziplinen – nicht zuletzt mit der Trennung von Sprachwissenschaft und Psychologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts (Knobloch 1988) – wird arbeitsteilig geforscht, ohne in sachlich hinreichendem Maße eine transdisziplinäre Integration der jeweiligen Erkenntnisse zu gewährleisten. So bildet die entwicklungs- und sprachpsychologische Forschung von Vygotskij einen der letzten integrativen Theorieentwürfe (vgl. Weinert, Art. 1 in diesem Band); dessen Besonderheit besteht zudem darin, dass gesellschaftsanalytische Aspekte dialektisch einbezogen sind (vgl. Meng 2004). Für derartige Sprachtheorien finden sich derzeit kaum Resonanzkonstellationen, wie Bollenbeck/Knobloch (2004) die für diskursive Integration erforderlichen wissenssoziologischen Strukturen am Beispiel der Kulturwissenschaften Anfang des 20. Jahrhunderts bestimmen. Neuropsychologische oder kognitionspsychologische Forschungen machen zwar erhebliche Fortschritte (z. B. Pulvermüller/Shtyrov/Capelle 2013), aber
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allein schon wegen ihrer relativ zu Sprachtheorien differenten Granularität oder Abstraktheit (Pöppel/Embick 2005) erlauben sie bislang lediglich die Erfassung sehr spezifischer Teilaspekte. Es gelingen also noch keine holistischen Zugriffe auf das fragliche Verhältnis von Sprache und Wissen, so dass die Denkpsychologie der Kognitionspsychologie zunächst noch überlegen scheint (Velichkowskij 1988). Zudem engt die Statistik, als derzeit dominante Leitwissenschaft psychologischer Forschung, das methodische Spektrum auf quantitative Verfahren ein und marginalisiert im Effekt die qualitativ-hermeneutische Empirie. Dies geschieht ungeachtet des Umstandes, dass die Einheit eines zu quantifizierenden Datums eine vorgängige Qualitätserfassung in der Sache unterstellt. Innerhalb der Linguistik divergieren wiederum die methodischen und gegenstandsbezogenen Schwerpunkte.
1.1 Linguistische Grundlagen und Fragestellungen Sprachtheorien, die dem Verhältnis von Sprache und Wissen überhaupt ihre Aufmerksamkeit widmen, sind im Wesentlichen als funktional zu charakterisieren, während Formalisten das Mentale ausklammern – sofern sie nicht beide Größen gänzlich abstrakt als „competence“ bzw. „i-language“ (internal language) in die Kognition verlagern wie die Varianten der Chomsky-Theorie (vgl. Jackendoff 2002 zur internen Kritik); im Effekt droht so der Gegenstand Sprache selbst zu erodieren (Jäger 1993). Auf Sprache bezogene oder sprachlich vermittelte mentale Prozesse bedürfen jedoch eines integralen Konzeptes von Sprache, auch hinsichtlich des Wechselverhältnisses sprachlicher Formen und ihrer Funktionen (Redder/Rehbein 1999). Sprache ist also nicht ante rem zu betrachten, sondern in re – konkret formuliert: Sprache ‚in discursu‘, Sprache als Ressource für das sprachliche Handeln besagt, dass Sprache eine Menge von Strukturen ist, die in unserer Kommunikation, für unsere Kommunikation und durch unsere Kommunikation entstehen, erhalten und genutzt werden. (Ehlich 2007, 147)
Insbesondere sind es daher die verschiedenen pragmatischen, an sprachlicher Interaktion orientierten Theorien, welche die sprachpsychologische Dimension so, wie die thematische Frage nach der Konstruktion von Wissen im Diskurs dies verlangt, einzubeziehen erlauben. Mit welcher Reichweite dies geschieht, differiert vor allem danach, (a) ob Sprecher und Hörer als die beiden notwendigen Aktanten konzipiert werden oder lediglich ein Sprecher/Hörer konzipiert wird, (b) ob die sprachlichen Aktanten von einem gesellschaftlich abgeleiteten oder von einem basalen Individuenbegriff her gefasst werden, (c) ob sprachbezogene mentale Prozesse von einem tiefenstrukturell wirksamen Funktionsprinzip her oder einzig von der Äußerungsstruktur der diskursiven Oberfläche her identifiziert und systematisch rekonstruiert werden,
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(d) ob Sprache systematisch als Handlungsform oder als funktional verwendetes Zeichensystem begriffen wird. Sprachbegriff und Wissensbegriff bedingen den Stellenwert, den die Relation beider Größen in der linguistischen Theorie jeweils gewinnt. Das Sprachverständnis des Forschungsnetzwerks Sprache und Wissen, dem diese Handbuchserie zugehört, ist hinlänglich dokumentiert (z. B. in Felder/Müller 2009; Spitzmüller/Warnke 2011). Es kann als pragmatisch erweiterte kognitive Semiotik charakterisiert werden, der gemäß die individuellen Subjekte in der gesprächsweisen oder textuellen Sprachverwendung aus dem Repertoire der sprachlichen Varietäten Zeichen oder Zeichenverkettungen (Konstruktionen) wählen, die semantisch stets eine bestimmte Perspektivierung von Welt(ansichten) konstituieren (cf. Felder 2009). Während de Saussures in seinem zeichenpsychologischen Konzept die Sprache mit Durkheim als ein fait social konstatiert, das den Individuen passiv einregistriert werde, dynamisiert diese Art der an Foucault orientierten Diskurslinguistik das Semantische sprachsoziologisch als ein interessiertes Durchsetzungsgeschehen. Im Unterschied dazu kann eine konsequente Handlungstheorie von Sprache wie die Funktionale Pragmatik (im angewandt linguistischen Überblick z. B. Redder 2008) durch einen integral pragmatischen, historisch-gesellschaftlichen Begriff von Sprache charakterisiert werden. Das sprachliche Zeichen wird demgemäß als eine aus dem sprachlichen Handeln abgeleitete, zweckgemäß verallgemeinerte Ausdrucksform verstanden und die Kategorien Sprecher und Hörer sind nicht als individuelle, sondern als systematische Aktanten sprachlichen Handelns bestimmt, die unter den Bedingungen historischer Gesellschaftsformationen und auf gesellschaftliche Praxis bezogen agieren. Gemeinsam ist beiden, der Diskurslinguistik und der Funktionalen Pragmatik, dass sie – im Unterschied etwa zum systemischen Funktionalismus von Halliday – strukturalistischer Art sind; und beide anerkennen, anders als z. B. conversation analysis oder ethnography of speaking, die mentale Dimension von Sprache als wesentlich. Was heißt vor diesem Hintergrund unser Thema Konstruktion von Wissen im Diskurs? Impliziert ist eine konstruktivistische Auffassung, der gemäß die individuellen Interaktanten Gespräch für Gespräch bzw. Text für Text Bedeutungen aushandeln, wobei sprachliche Bedeutungen als Elemente des gesellschaftlichen Wissens gelten. Der französische Diskursbegriff wiederum ist solchen Einzelkonstellationen von Kommunikation gegenüber von höchster Abstraktheit, indem er das Gesamt aller solcher Konstellationen vor allem propositional umfasst und insofern einen Ort ideologischer Aushandlungen oder machtvoller Partizipationsfragen bietet. Mit derartigen Kategorien der (kritischen) Diskurslinguistik (vgl. Meinhof/Reisigl/Warnke 2013) wird also vor allem ein makrostruktureller und semantischer Zugriff anvisiert. Bezogen auf die Bildungsinstitutionen und deren Vermittlung von Bildungsinhalten ist damit in spezifischer Weise die Genese desjenigen „Aktantenwissens“ fokussiert, das Ehlich/Rehbein (1977, 41) als „Institutionswissen zweiter Stufe“ charakterisieren und den institutionellen Agenten (hier Lehrenden, im Unterschied zu den ins-
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titutionellen Klienten, hier Lernenden) als spezifisches, in der (Lehrer-)Ausbildung vermitteltes Wissen zuordnen. Jenseits der Bildungsinstitutionen hat dieses Wissen zweiter Stufe in bildungspolitischen Institutionen seinen gegenständlichen Ort und wird etwa in der Schulentwicklung diskutiert (z. B. McElvany u. a. 2013); die Emergenz von Textarten wie Expertise oder Bilanz ebenso wie Forschungsausschreibung als bildungspolitische Steuerungsinstrumente harrt bislang linguistischer Untersuchung. Eine derart zeichenpsychologische Konzeption der Konstruktion von Wissen im Diskurs deckt also einen sehr besonderen, meist textuell und schriftlich dokumentierten Teil der mittels Sprache betriebenen Bildung und Wissensprozessierung ab und betont die Durchsetzungsmechanismen gegenüber der gewöhnlichen Tradierung. Diesbezügliche Fragen werden v. a. in den Kap. 1.3, 2 und 4 aufgegriffen. Ich nenne den von dieser thematischen Konzeption fokussierten Wirklichkeitsausschnitt kurz den ideologischen. Der weitaus größere Teil des sprachlich vermittelten Bildungsgeschäfts gilt der Tradierung des bildungsbezogen selegierten gesellschaftlichen Wissens an die nächste Generation und wird in mündlicher Kommunikation unter Face-to-FaceBedingungen, d. h. bei Kopräsenz von Sprecher und Hörer, in sprachlichen Großformen namens ‚Diskurs‘ praktiziert. Besonders geschieht dies in institutionellen Arten des Typs Lehr-Lern-Diskurs, nämlich in schulischem Unterrichtsdiskurs oder universitärem Seminardiskurs bzw. Vorlesung. Eine solche kommunikative Praxis detaillierter zu erfassen, unternimmt insbesondere die Funktionale Pragmatik. Die Funktionale Pragmatik ist nicht konstruktivistisch, sondern rekonstruktiv-hermeneutisch angelegt. Sie geht im Sinne zweckmäßig bewährten sprachlichen Handelns von einer historisch-gesellschaftlich verallgemeinerten Bedeutung als Grundlage interaktiver Verständigung aus, so dass komplementär die Besonderheit solcher gesellschaftshistorischer und institutioneller Handlungsbedingungen eigens rekonstruierbar sind, welche für wissenssoziologische und wissenspsychologische Verschiebungen, Modifikationen oder Fraktionierungen, ja Ideologisierungen verantwortlich sind. Dies betrifft nicht nur Ausdrucksbedeutungen, sondern auch Sprechhandlungsbedeutungen bzw. Sprechhandlungsstrukturen und funktionale Ensembles von Sprechhandlungen, eben Diskurse oder Texte. In der Funktionalen Pragmatik würde daher das Thema dieses Handbuchbeitrags allgemeiner als Wissensprozessierung im Diskurs oder Text bzw. diskursive oder textuelle Wissensprozessierung formuliert – so etwa angesichts der Komparatistik von deutscher und italienischer Wissensvermittlung in der Hochschulkommunikation (Thielmann/Redder/Heller 2014). Ein ‚Text‘ ist im Unterschied zum ‚Diskurs‘ eine funktional-pragmatische Kategorie für sprachliche Strukturen, die bei fehlender Kopräsens von Sprecher und Hörer und also systematisch zerdehnter Sprechsituation Überlieferungsqualität besitzen und daher die sprecherseitige Produktion und hörerseitige Rezeption über diatopische oder diachronische Distanzen hinweg ermöglichen; Schrift stützt dies, ist aber keine Voraussetzung, wie orale Texte (z. B. Epen, Balladen, Narrationen) belegen. Die Kategorie Wissensprozessierung umfasst unterschiedliche Formate im sprachlichen Umgang
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mit Wissen, namentlich Wissensaufbau, Wissensausbau, Wissensumbau und Wis sensrevision (Redder 2014). Die beiden ersten Formate betreffen vor allem die Wissensaneignung bzw. Wissensvermittlung, insofern Aspekte von Lernen und Lehren. Die beiden letzten Formate können entweder bei der fachlichen oder wissenschaftlichen Gewinnung neuen Wissens besonders produktiv oder im kritischen Sinne ‚konstruktiv‘ wirken, oder sie können wissenssoziologisch von besonderem Interesse sein und die Schnittstelle zum ideologiekritischen Zugriff der Diskurslinguistik bilden. Ich nenne den durch die rekonstruktiv-hermeneutische Konzeption des Themas erfassten Wirklichkeitsausschnitt kurz handlungspraktisch und strukturiere den Aufbau des Artikels demgemäß.
1.2 Praxisstiftende und erkenntnisstiftende Funktion von Sprache im Fokus Die Menschen haben sich mit Sprache ein Medium geschaffen, ein Gerät oder Werkzeug handlungsförmiger Vermittlung. Vor allem Ethnologie und Anthropologie heben eine Dimension der Funktionalität dieses Mediums als die gemeinschaftsstiftende Qualität von Sprache hervor; Malinowski spricht diesbezüglich von der phatischen Kommun(ikat)ion. Neben dieser kommunitären Dimension (‚communis‘ = gemeinsam, gemeinschaftlich) sind zwei weitere Funktionsaspekte, welche im Laufe der Wissenschaftsgeschichte unterschiedliche Relevanz und begriffliche Bestimmung erhielten, bei Ehlich (2007, Kap. B7) genauer dargelegt: die praxisstiftende (teleologische) und die erkenntnisstiftende (gnoseologische) Dimension. Sprache stiftet Praxis, sie stiftet eine zwischen zwei Interaktanten vermittelnde Handlungspraxis, die selbst eine eigene, eben sprachliche Wirklichkeitsqualität besitzt und zugleich zweckgerichtet (‚τέλος‘ = Ziel, Zweck) die außersprachliche Wirklichkeit verändert. Diese funktionale Einsicht ist im Wittgensteinschen Sprachspiel aphoristisch gefasst, in Bühlers Bestimmung der Deixis als einem sprachlichen Orientierungsgerät erstmals partiell – und dies sprachpsychologisch – ausgeführt und in der illokutiven Dimension von Sprechhandlungen bei Austin schließlich als wesentliches Bestimmungsmoment von Sprache integral begriffen worden und bildet insofern den Kern der Linguistischen Pragmatik. Sprachliche Handlungspraxis analytisch zu erschließen, bedeutet demnach nicht individuell-zielbezogen zu fragen, wozu eine sprachliche Äußerung gemacht oder ein sprachlicher Ausdruck verwendet wurde, sondern dies allgemein gemäß dem gesellschaftlichen Verständnis der Einzelsprache zu tun. Diese normale praktische Zweckmäßigkeit der sprachlichen Mittel, d. h. ihren systematischen Form-Funktions-Nexus, gilt es in der Linguistik einzelsprachlich oder sprachvergleichend und schließlich sprachübergreifend zu durchschauen. Ein solches Durchschauen von Form-Funktions-Zusammenhängen, ein solches wissenschaftliches Sprachwissen dient anwendungsbezogen dazu, eine kritische Partizipation an dieser sprachlichen Handlungspraxis zu ermöglichen. Denn, wie bereits
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Marx/Engels in der Deutschen Ideologie erkannten, Sprache ist praktisches, auch für andere Menschen existierendes Bewusstsein, Sprachwissen hat demgemäß die Qualität von handlungspraktischem Bewusstsein (Redder 1998). Reflektierte sprachpolitische Entscheidungen lassen sich daher als Umsetzungen von angemessenem, wahrem oder aber von notwendig (!) falschem und insofern ideologischem Bewusstsein rekonstruieren. Die teleologische Funktion von Sprache kommt in den Bildungsinstitutionen vor allem gegenständlich zur Geltung, d. h. wenn Sprache Gegenstand des Lehrens und Lernens ist. Illokutive Spektren wie das Bitten, Auffordern, Befehlen oder Anweisen und Differenzierungen zwischen sogenannten kausalen Konnektoren wie weil, denn, da, nämlich stellen solche Gegenstände der Sprachvermittlung ebenso dar wie argumentative oder narrative Diskurs- oder Texttypen. Zur Bildung gehört es nicht zuletzt auch, zu wissen, wie institutionelle Handlungsabläufe bedürfnisgerecht genutzt sowie wo und wie ihnen widersprochen werden kann oder welche Ausdrucksmittel besonders stilvoll sind. Was über Sprache gelernt und gelehrt wird, kann und sollte in Kategorien der handlungspraktischen Funktion erfolgen. Freilich vollziehen sich schulisches Lehren und Lernen selbst ebenfalls in sprachlichen Handlungen, deren Funktion und institutionelle Form linguistisch zu rekonstruieren sind. Insofern ist das zu vermittelnde Sprachwissen zugleich von reflexiver Qualität und betrifft über diese eher für die institutionellen Agenten ausbildungsrelevante Meta-Qualität hinaus wissensmethodische Aspekte des Lehrens und Lernens. Diesbezüglich tritt die erkenntnisstiftende Funktion von Sprache in den Fokus. Sprache stiftet Erkenntnis, insoweit das Denken sprachlich (und nicht z. B. bildlich) erfolgt und für eine mentale Widerspiegelung der Wirklichkeit, für eine Gewinnung und kommunikative Vermittlung von Wissen eingesetzt wird. Diese gnoseologische Funktion von Sprache (‚γνῶσις‘ = (Er)Kenntnis) steht in solchen Institutionen im Vordergrund, die der Wissensgewinnung dienen wie die Wissenschaft, und solchen, die der Tradierung von Wissen dienen wie die Schule, kurz also in allen Bildungsinstitutionen. Dort soll insbesondere auch das Denken gelehrt und gelernt werden, also die Methoden der Wissensprozessierung mittels Sprache. Diese wissensmethodologische Dimension wird für den Komplex der sogenannten Bildungssprache relevant (Kap. 1.3). Nun ist ‚Wissen‘, wie anhand empirischer Unterrichtsanalysen rekonstruiert werden konnte, nicht einfach als eine Summe von Propositionen zu fassen. Vielmehr sind Strukturtypen von Wissen zu differenzieren, die pragmatische Quantifizierungen über mindestens drei Größen aufweisen: „Thema des Wissens Θ“, das zu diesem Wissensthema „Gewußte Γ“ und das „Subjekt des Wissens SW“ (Ehlich/Rehbein 1977a, 45). Ob das jeweils Gewusste im kognitionspsychologischen Sinne eine deklarative oder prozessuale Qualität aufweist, hängt nicht zuletzt vom Wissensthema ab und begründet linguistisch keinen Wissens(struktur)typ. Ob das Gewusste überhaupt und wenn ja, in welcher Form, der sprachlichen Verbalisierung zugänglich ist oder wahrnehmungsbasiert im bildlichen Modus verbleibt, kann linguistisch nur aus Äußerungsformen rekonstruiert werden. Eine im episodischen Gedächtnis verhaftete, nicht zu einer sprachlich verarbeiteten Wissensform ausgearbeitete Äußerungs-
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struktur konnte im konstellativen Schildern erkannt und anstelle gängiger elliptischer Interpretationen als partikulares sprachliches Handeln bestimmt werden (Redder 2006); das partikulare sprachliche Handeln ist durch mehrfache Verkettung partizipialer oder nominaler Konstruktionen ohne finites Prädikat charakterisiert und kommt usuell bei koperzeptiver Verbalisierung in Reportagen zur Anwendung, während es in asynchronen Wiedergaben des alltäglichen Erzählens von „explorierender“ (Bredel 1999, 59) Verbalisierung zeugt und in literarischem Erzählen stilistisch funktionalisiert ist, um den paradoxen Effekt von vermittelter Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit zu erzielen. Komplementär weisen Hanna (2003) und Berkemeier (2010) nach, dass wahrnehmungsbasiertes, bildliches Wissen eine unterstützende Funktion für die Prozessierung und schließlich interaktive Versprachlichung von sachbezogenem Wissen darstellen kann, so dass für reflektierte Multimodalität bei der Wissensvermittlung plädiert wird. Für das Aktantenwissen, d. h. für das als Handelnder einschlägige Wissen, bildet das partikulare Erlebniswissen die elementare Strukturform, während Einschätzung, Bild bzw. Image und Sentenz darauf aufbauende Strukturtypen darstellen; sie sind insbesondere für eine kritische Differenzierung dessen von Belang, was meist unter der Metapher ‚Stereotyp‘ subsumiert wird (Redder 1995) und theoriegeschichtlich (Ehlich 1998) wie wissenssoziologisch über Bourdieu hinausgehend (Rehbein 2008) rekonstruiert werden kann. Handlungsleitende Wissensstrukturtypen sind Maxime, Musterwissen und Routinewissen, wobei insbesondere das Musterwissen ein Sprachwissen darstellt, nämlich das Wissen um zweckmäßige Tiefenstrukturen sprachlichen Handelns, eben Handlungsmuster. Während diese sieben Wissensstrukturtypen das einfache Aktantenwissen ausmachen, wird die Handlungspraxis unter institutionellen Bedingungen, welche insbesondere durch Modifikationen und Brechungen von außerinstitutionellen sprachlichen Handlungsmustern charakterisiert ist (Ehlich/Rehbein 1986), als Institutionswissen erster Stufe angeeignet, dem, wie gesagt, das Institutionswissen zweiter Stufe als ideologisch-reflexives Format bei den Agenten zur Seite steht. Das für die Partizipation am gesellschaftlichen Handeln erforderliche handlungspraktische Sprachwissen umfasst einen ganzen Fächer von Befähigungen, von sprachlichen Qualifikationen, deren Basis in den Bildungsinstitutionen weitgehend selbstverständlich vorausgesetzt wird. Ehlich (2005) differenziert zu analytischen Zwecken: rezeptive und produktive phonische Basisqualifikation (BQ), pragmatische BQ I, semantische BQ, morphologisch-syntaktische BQ, diskursive BQ, pragmatische BQ II, literale BQ I und II. Die pragmatischen BQ I betreffen einfache, außerinstitutionelle Handlungsmuster, während die pragmatischen BQ II die institutionell modifizierten, zerbrochenen oder eigenen Handlungsmuster wie Lehrerfrage-Antwortversuch, Arztfrage-Antwortversuch, Richterfrage-Aussage vs. Frage-Antwort im Alltag, Aufgabenstellen-Aufgabenlösen vs. Problemlösen etc. erfassen. Die beiden literalen BQ bestehen einerseits in technischer und erster Textartenerfahrung und andererseits in komplexerer Texttypenkenntnis und schriftsprachlichem Sprachbewusstsein. Die diskursive BQ betrifft nicht nur die Befähigung, die hörerseitige Wissens- und
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Erwartungsstruktur zu antizipieren und adaptiv für das eigene Handeln zu berücksichtigen, sondern auch systematische Handlungskooperationen in den verschiedenen Diskurstypen und -arten, einschließlich des Turn-Apparates. Die drei anderen BQs decken diejenigen sprachlichen Befähigungen ab, die lange Zeit einzig die Förderaufmerksamkeit auf sich gezogen haben und häufig an ein simplifiziertes Konzept von Sprache = Lexikon + Grammatik geknüpft sind, dem dann allenfalls eine diffuse pragmatische Fähigkeitsforderung zugesellt wird. Funktionalpragmatisch sind diese Befähigungen auf Mikro-Einheiten sprachlichen Handelns bezogen, nämlich sprachliche ‚Prozeduren‘, aus deren Kombinatorik, Synthese oder Installierung sich Konstruktionen und Sprechhandlungen in der Dimension des Äußerungsaktes relativ zum propositionalen Akt ergeben (vgl. Hoffmann 2013). Die empirisch vorfindlichen Fähigkeiten von Lernenden lassen sich auf dieser Basis in eine sprachliche Qualifika tionenmatrix eintragen und relativ zum sprachsystematischen Erfordernis durch ein Kompetenzgitter (im Sinne dynamischer sprachlicher Wissensentwicklung) darstellen, das mit institutionellen Erwartungen konfrontiert und zugleich für komparative Mehrsprachigkeitsbedingungen ausgeweitet werden kann (Redder 2013). Vor dem Hintergrund solcher handlungsanalytischer Auslotung der Dimensionen des Sprachwissens lässt sich in Kap. 2ff genauer darlegen, welche sprachlichen Handlungsformen von den Prozeduren über Sprechhandlungen bis hin zum Sprechhandlungsensemble namens Diskurs oder Text und dem Abstraktum discours/ Diskurs besonders geeignet oder geeignet gemacht sind, um sprachliches oder nichtsprachliches Wissen zu prozessieren. Im Übergang dazu sei das kurrente Konzept der Bildungssprache noch in einen kritischen Zusammenhang gestellt.
1.3 Bildungssprache Der Ausdruck hat, wie inzwischen verschiedentlich bemerkt (z. B. Feilke 2012; Morek/Heller 2012; vgl. Gogolin/Duarte, Art. 23 in diesem Band), lediglich heuristische Qualität und stellt keine Erklärungskategorie dar; ihm ist insbesondere nicht durch merkmalsbasierte Listen sprachlicher Mittel beizukommen (Uesseler/Runge/ Redder 2013). Einen erheblichen Teil dessen, was hierunter subsumiert wird, bilden, handlungsanalytisch betrachtet, vielmehr (a) pragmatische Basisqualifikationen II, d. h. institutionsspezifisch modifizierte oder eigens etablierte sprachliche Handlungen, die im Musterwissen von Aktanten verankert sein müssen, um am gesellschaftlichen Handeln zielsicher partizipieren zu können, (b) die Befähigung zur Nutzung wissensmethodischer Qualitäten bestimmter sprachlicher Handlungsmittel, also ein spezifisch die gnoseologische Funktion von Sprache betreffendes Sprachwissen. Eine wissensmethodologische Bestimmung von Bildungssprachlichkeit rekonstruiert demgemäß
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sprachliche Fähigkeiten der mentalen Entfaltung, d. h. sprachliche Fähigkeiten, die das Wissen oder Denken oder Erleben (= Segmente des Π-Bereichs im Sinne der Funktionalen Pragmatik): (1) einer höheren qualitativen Stufe repräsentieren, (2) methodisch einer höheren Stufe zuführen können oder (3) im Sinne eines komponierten Instrumentes systematisch erschließen. (Redder 2012, 87, Hervorhebungen im Original)
Als Operationalisierung für bildungssprachliche Ausdrücke, insbesondere für Substantive und Verben, wie sie aus der alltäglichen Wissensschaftssprache in die Unterrichtssprache sedimentiert sind, wird handlungssystematisch die Involvierung folgender sprachpsychologischer Prozesse geltend gemacht: „Verallgemeinerung, Perspektivenwechsel, Negation, Abstraktion, Systematisierung“ (Redder 2013, 125). Auf dieser sprachsystematischen Analyse einerseits und breiter empirischer Basis authentischer Unterrichtskommunikation sowie Lehrmaterialien andererseits wurden bildungssprachliche Testitems entwickelt und in den Jahrgängen 4 und 5 pilotiert (Uesseler/Runge/Redder 2013) sowie anhand des Hamburg-Bamberger-Korpus für die Primarstufe ausgeweitet (Köhne u. a. 2015). Die beiden unbestimmt unter Bildungssprache subsumierten Phänomenbereiche (a) und (b) kommen in verschiedenen Einheiten sprachlichen Handelns wie Diskursarten, Sprechhandlungen und Prozeduren zur Geltung. Die entsprechenden Ausführungen dazu sind daher in die folgenden Kapitel integriert. Ein übriger Teil dessen, was Bildungssprache unbestimmt zusammenbindet, ist in der qualitativen Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen und damit einhergehender Präsuppositionsstrukturen begründet, auf denen sprachliche Handlungsentwicklung in Bildungsinstitutionen bei den Klienten (sowohl der Schule wie Hochschule) aufruht. Es folgen kurze Ausführungen hierzu und somit zu tendenziell ideologischen Wirklichkeitsbereichen, indem zur Bearbeitung der Diskrepanz von erweitertem Wissenszugang und Kommunikationsbefähigung auch die Selektion von Handlungs- und Sprachwissen neu zur Disposition steht. Das bürgerliche Konzept der Bildung konnte bis zum Ende des 19. Jhs. in einer weitgehend konsolidierten Phase der institutionellen Wissenstradierung reüssieren und auf familiär entwickelte kommunikative Elementarbefähigungen bauen, um Texttypen wie Schulaufsatz (Ludwig 1988) oder studentische Hausarbeit (Pohl 2009) als kommunikative Großformen der reproduktiven Wissensprozessierung zu unterhalten. Als Diskurstyp dominierte historisch der Lehrervortrag – und zwar gewöhnlich ohne verteilte Rollen, wie dies in Adaptierung an partizipatives Lernen als besondere Modifikation auftritt (Ehlich/Rehbein 1986, Kap. 4), stattdessen sprechhandlungsverkettet, meist assertions-verkettet. Die moderne Konzeption diskursiven Lernens unter aktiver Beteiligung der Lernenden an der Wissensprozessierung, wie sie für Schule und Universität in Deutschland charakteristisch ist (Redder 2014), wird nach dem Zweiten Weltkrieg selbstverständlich. Der Unterrichtsdiskurs als instituti oneller Lehr-Lern-Diskurs zwecks Reproduktion gesellschaftlicher Standardproblemlösungen im Produktions- und im ideologischen Wissen und also mittels akzelerier-
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ter und selektiver Wissensdistribution (Ehlich/Rehbein 1986, Kap. 7) ebenso wie der universitäre Seminardiskurs (Wiesmann 1999) zwecks Reproduktion wissenschaftlich gebildeten Nachwuchses verschieben das Gewicht zunehmend hin zur kooperativen Mündlichkeit; daraus ergeben sich als Erfordernis andere als die an Schriftlichkeit geschulte rezeptive und auf Repetition oder Reproduktion orientierte sprachliche Befähigungen der Lernenden. Pragmatische und diskursive Qualifikationen treten in den Vordergrund, nicht zuletzt auch in ihrem Wechselverhältnis zu literalen Qualifikationen. Zugleich verändert sich die Entfaltungsstruktur des gesellschaftlichen Wissens durch rasant vermehrte und medial vermittelte gesellschaftliche Produktivität sowie durch eine erhebliche soziale Umschichtung der Bildungszugänge, teils in demokratischer Absicht, teils als Effekt von Migration. Ehlich (1992; 2007, 236) stellt einige Transformationsprozesse dar und rekonstruiert die Ausbildung von „Wissensfunktionären“. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zerbricht die Homogenität und lässt Widersprüche aufbrechen, die durch sog. Bildungsreformen der siebziger/ achtziger Jahre nur notdürftig in Bewegung gehalten werden; fehlende Kommunikationsbefähigung aufgrund sozialer Inhomogenität der bildungsinstitutionellen Klienten einerseits und Partikularisierung des gesellschaftlichen Gesamtwissens in Form arbeitsteiliger Fächer bzw. Fachleute/Experten mit entsprechend selektiver Wissensdistribution andererseits laufen gegeneinander, ohne dass beispielsweise die Fachsprachenforschung mit hinreichend kritischen Analysepotential Schritt gehalten habe, wie Ehlich weiter ausführt. Die Rekonstruktion der Institutionen als „Transmissionsinstanzen der gesellschaftlichen Widersprüche“ (Ehlich 2007, 246) und die Rolle der Wissensfunktionäre stellen umso mehr eine sprachanalytische Herausforderung dar – und damit auch die Rekonstruktion der Fragmentierung gesellschaftlichen Wissens als einer Notwendigkeit zur Verhinderung des Aufbrechens der Widersprüche. Die frühe Debatte der Bildungsökonomie (z. B. Huisken 1972) zielte auf ein Durchschauen der gesellschaftshistorisch notwendigen Widersprüche; mit dem Konzept der violence symbolique/symbolischen Gewalt von Bourdieu/Passeron (1973) wird dem eine soziologische Ideologiekritik zur Seite gestellt. Einen ebensolchen Schritt unternehmen – am Beispiel des den Bildungsbegriff ablösenden Kompetenzbegriffs – Kilian/Lüttenberg (2009) bezogen auf die begrifflichen Modifikationen seitdem und Karg (2013) bezogen auf die aktuelle Diskussion. Die effiziente Testbarkeit und die kompetente Qualifizierung der Arbeitskraft (im Sinne der OECD als dem PISA-Auftraggeber) werden als Fluchtpunkte der Diskurse erkannt. Der nächste Schritt, die Zerbrechung des bürgerlichen Bildungsbegriffs (gegebenenfalls auch in der expliziten Forderung von Bildungssprachfähigkeit) kritisch zu erkennen und die Fragmentierung der individuellen Wissenspartizipation als Notwendigkeit einer ökonomisierten Gesellschaft zu rekonstruieren, bleibt noch zu gehen.
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2 Diskurstypen und Texttypen der Wissens(re) konstruktion und Wissensvermittlung Bezogen auf den handlungspraktischen Wirklichkeitsbereich sind eine Reihe von Diskurstypen und Texttypen der Wissensprozessierung oder einschlägige Substrukturen, d. h. Diskursarten oder Textarten, sprachanalytisch rekonstruiert worden. Wissensgenerierungen in nicht-bildungsinstitutionellen Kontexten wie etwa in der Strafverhandlung (Hoffmann 2010) bleiben hier jedoch außerhalb der Betrachtung. Für die Institution Schule ist der Zweck der Wissensvermittlung an die nächste Generation dominant, für die Institution Universität eine integrale Vermittlung von forschendem Lernwissen und lernendem Forschungswissen, also tendenziell auch die Beteiligung der wissenschaftlichen Novizen an der Gewinnung von neuem Wissen, insofern an Wissens(re)konstruktion. Hinsichtlich der Wissensprozessierung unterscheiden sich beide Bildungsinstitutionen vom popularisierenden, laienbezogenen Wissenstransfer, der etwa bei Antos/Wichter (2005) im Zentrum steht. Jenem Zweck der bildungsbezogenen Wissensvermittlung dient der Typus Lehr-Lern-Diskurs und als entsprechender Texttyp das Lehrbuch oder Lehrwerk. Unterrichtsdiskurs, Seminardiskurs und Vorlesung bestehen aus Ensembles von Sprechhandlungen, die zur Wissenstradierung unter bildungsinstitutionellen Bedingungen geeignet sind. Zeitliche Akzelerierung sowie asymmetrische Zuständigkeitsverteilung von Planungsund Bewertungsschritten sind für diese Bedingungen charakteristisch, besonders für den Unterrichtsdiskurs – teilweise bis in sprachliche Formulierungen etwa der Handlungsmodalitäten beim Aufgabenstellen und -lösen hinein (z. B. wir wollen, wir sollten, kann man, man könnte etc. Redder 1984). Ehlich/Rehbein (1986, Kap. 2) rekonstruieren das Aufgabestellen-Aufgabelösen als besonders prägendes Handlungsmuster im Unterrichtsdiskurs und analysieren den zum Problemlösen außerhalb von Bildungsinstitutionen bestehenden systematischen Unterschied, welcher in der Vermittlung von gesellschaftlichen Standardlösungen begründet ist und sich sprachpsychologisch besonders in fehlendem Zielschema für Lösungswege und mangelnder praktischer Motivation umsetzt. Dieses modifizierte Handlungsmuster, Aufgabenstellen-Aufgabenlösen zu kennen, gehört für Schüler zur pragmatischen Basisqualifikation II; sie wird in der Praxis des Unterrichtsdiskurses recht rasch ausgebildet und geht vom Musterwissen in ein entsprechendes Routinewissen über, wie Erzählungen aus der Schulzeit dokumentieren (Becker-Mrotzek 1989). Mit stärkerem Blick auf die motivationale Lehrerseite diskutieren dies Becker-Mrotzek/Voigt (2001), während von Kügelgen (1994) vor allem das lehrerseitig erforderliche Methoden- und Sachwissen für verständliche und in sachgemäßer Weise wissensvermittelnde Handlungs- und Diskursprozessierung am Beispiel des Mathematikunterrichts darlegt. Ein komplexer Diskurstyp der kooperativen Wissensgewinnung ist das Argumentieren, genauer: die Diskursart exploratives Argumentieren (Ehlich 2014). Im Unterschied zum persuasiven Argumentieren, das auf Strittigkeit und insofern auf Wissens-
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divergenzen bezogen ist, dient das explorative Argumentieren als eigens realisierte Diskursart der gnoseologischen Funktion von Sprache, indem auf der Basis von Wissensdifferenzen kollektiv und kooperativ neues Wissen, neue Erkenntnis gewonnen wird. Insofern ist das explorative Argumentieren besonders für Hochschul- und Wissenschaftskommunikation von Relevanz. In Deutschland bildet das Argumentieren nicht zuletzt auch für die ideologische Praxisbefähigung bereits einen Gegenstand der schulischen Vermittlung – allerdings in reduzierter und auf das persuasive Argumentieren (Typus „pro und contra“) eingeschränkter Art, wie Ehlich in der rezenten Berliner Expertise anhand von Lehrmaterialien und Curricula differenziert nachweist (Ehlich/Valtin/Lütke 2012). Konkrete, im Unterrichtsdiskurs realisierte schulische Vorformen sind bislang wenig untersucht worden (Spiegel 2006); Studien in Relation zu familiären Kommunikationsstrukturen finden sich in V. Heller (2012) und Krah u. a. (2013) – durchgehend bezogen auf das persuasive Argumentieren. Trautmann (2004) konzentriert sich auf die funktionale Dimension des Wissensumbaus durch das Argumentieren in Hochschule und Alltag; Lambert (2013) behandelt den Aspekt der Verallgemeinerung von Erfahrungswissen durch Argumentation. Das Kritisieren ist seinerseits eine komplexe Diskursart, die insbesondere das dialektische Verfahren der Negation und der begrifflichen Wissensauslotung als wesentliche Handlungsschritte aufweist (Redder 2014) und insofern bis hin zur Wissensrevision reichen kann. Die Relevanz eines diesbezüglichen Sprachwissens bis in die Lehrerausbildung hinein liegt auf der Hand (Birkmeyer/Spieß 2014), gerade bei einem Bildungsziel von emanzipierten und aufgeklärten Bürgern. Welche Handlungsschritte des Kritisierens von Studierenden bereits ausprobierend umgesetzt werden, dokumentieren die empirischen Detailanalysen eines Germanistikseminars (Redder/ Breitsprecher/Wagner 2014) und einer BWL-Vorlesung (Breitsprecher/Redder/Zech 2014) exemplarisch, auch in Rücksicht auf den Veranstaltungstyp und den Kontext der Vermittlung von kanonischer Kritik. Vor der Befähigung zum Kritisieren bietet das Einschätzen ein Handlungsmuster, welches noch nicht auf gesichertem begrifflichem Wissen, sondern auf ersten Kategorisierungsversuchen aufruht (Redder 2002). Sind Argumentieren oder Kritisieren in Textarten umgesetzt, so gewinnen sie als solche Überlieferungsqualität und entziehen sich einer produktiven Entfaltung seitens der Interaktanten; vielmehr gerinnen die diskursiv auf Sprecher und Hörer verteilten Verfahren hier zu rhetorischen Figuren. Derartige textuelle Wissensprozessierungen argumentativer oder kritischer Art sind für italienische Hochschulkommunikation bis zur Promotion charakteristisch (Heller/Carobbio 2014; Heller 2014; Carobbo/Zech 2013); dies gilt, wie Tzilinis (2011) für Wissenschaftliche Artikel im Griechischen zeigt, auch für andere Mittelmeerkulturen. Dass auch die Rezeption diskursiven wie textuellen Argumentierens und Kritisierens bis in das Studium hinein schwierig ist, weisen Moll (2001) empirisch am Wissenschaftlichen Protokoll als wissensreproduzierender Textart und Stezano (2008) anhand der Komparation von Wissenschaftlichem Artikel und seiner integrativen Darstellung in der reproduktiven Textart Wissenschaftliche Hausarbeit nach. Prestin (2011) analysiert insbesondere den Einstieg in Hausarbeiten
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mit Blick auf die argumentative Wissensanknüpfung von Studierenden an das Thema des Wissens im Bezugsseminar und an das dort erarbeitete Diskurswissen, konzentriert sich also auf die Wissensvernetzung. Ein Fenster in die wissensverarbeitenden Prozesse bietet die Textart studentische Mitschrift, wie detaillierte empirische Analysen zeigen (Breitsprecher 2010; Redder 2009).
3 Markante Sprechhandlungen der Wissensprozessierung Die einfachsten Sprechhandlungen zum Zweck des Wissenstransfers mit einem Schwerpunkt auf Aufbau und Ausbau von Wissen sind zweifellos Assertion und Frage: Die Assertion dient der Weitergabe eines sprecherseitigen Wissens an den Hörer zum Zweck der Synchronisierung des beiderseitigen Wissens, indem propositional das Wissenselement, das der Sprecher als hörerseitig nicht vorhanden, jedoch handlungsrelevant antizipiert, kommuniziert wird. Die Frage dient komplementär der Schließung einer Wissenslücke beim Sprecher mittels Zugriff auf das entsprechende hörerseitige Wissen, welches der Hörer dem Sprecher im propositionalen Gehalt der Antwort interaktiv zugänglich macht, sobald er selbst ein für das bestimmte NichtGewusste angemessenes Wissenselement im eigenen Wissen gefunden hat. Die propositionale Struktur beider Illokutionen ist bis in die Grammatik hinein wissensanalytisch geprägt (Hoffmann 1997; Redder 2011). Im Falle der schulischen Modifikation des alltäglichen Handlungsmusters Frage-Antwort zur Taktik der Lehrerfrage (Ehlich 1981) elizitiert der Lehrer so den standardisierten mentalen Suchprozess beim Hörer, dem Schüler, und stößt dadurch eine selbsttätige Nutzung des angeeigneten Wissens für dessen Weiterentwicklung an, welches der Lehrer sodann als Sachautorität bewertet; insofern ist die Lehrerfrage ein höchst produktives Verfahren für den schülerseitigen Wissensausbau. Beide Sprechhandlungen, Assertion und Frage-Antwort bzw. Lehrerfrage, erfahren erstaunlich wenig Aufmerksamkeit im Rahmen von Bildungsdiskussionen. Die unstreitig bildungsrelevanten Illokutionen Erklären und Begründen sowie Erläutern werden oft umgangssprachlich und gleichrangig neben der Diskursart Argumentieren als notwendige pragmatische Befähigungen von Schülern angeführt, jedoch kaum präziser distinkt gehalten; (funktionales) Beschreiben und Instruieren gelten als weitere wissensrelevante Sprechhandlungen in Diskurs oder Text, die etwa sprachfördernd von Interesse sind. Neben Versuchen, eine ‚Definition‘ von Erklären im Spektrum zwischen Objektivität und Subjektivität (Spreckels 2009) zu gewinnen bzw. Zugzwänge im ethnomethodologisch konzipierten Schema der Schrittfolgen zu beschreiben (Morek 2012), sind die Zwecke und daraus abgeleiteten Tiefenstrukturen der genannten Sprechhandlungen auf empirischer Basis folgendermaßen bestimmt
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worden (vgl. Redder, Guckelsberger, Graßer 2013 für solch sprachliches Handeln in der Primarstufe). Das Erklären dient der Behebung eines Wissensdefizits nach Maßgabe der inneren, handlungsfunktionalen Struktur einer Sache (des Wissensthemas) und in Ausdrücken von dem gemäßer Wissensqualität (z. B. begrifflich, wissenschaftsbegrifflich, praktisch-vorbegrifflich) (Hohenstein 2006). Demgegenüber dient das Begründen, wie Ehlich/Rehbein (1986, Kap. 5) schulbezogen rekonstruieren, der Bearbeitung eines Verstehensdefizits nach Maßgabe der hörerseitigen π-Struktur, um die drohende Sistierung eines gemeinsamen Handelns durch Verstehensprobleme kooperativ zu bearbeiten und eine Handlungsfortsetzung zu ermöglichen. Das Begründen operiert also über anderen Handlungen, insofern ist es eine Sprechhandlung zweiter Stufe. Das Erläutern ist wiederum eine Art des reformulierenden Handelns (Bührig 1996), die reparierend für den Hörer so viel Wissen nachliefert, wie dieser für eine konvergente Beteiligung am Diskurs benötigt. Nicht Wissens- oder Verstehensbearbeitung, sondern Vorstellungs- bzw. Praxisbearbeitung prägen den Zweck von Beschreiben bzw. Instruieren. Als eine Art nichterzählenden rekonstruktiven Handelns dient das (funktionale) Beschreiben der wahrnehmungsbasierten Vorstellung äußerer Strukturen einer Sache, v. a. in Form einer topischen Assemblage (Rehbein 1989), während das komplexe Instruieren (durch Text oder Diskurs: Ehlich/Noack/Scheiter 1994) oder die einzelne Handlungsanweisung (Rehbein 1977, Kap. 8) den verbalen Transfer von gesellschaftlich etablierten Handlungsplänen zur Bewältigung von Standardzielen leisten. Die Prozessierung von Wissen in Diskurs oder Text lässt sich bezogen auf diese fünf exemplarisch angeführten Sprechhandlungen mithin sprachpsychologisch feiner differenzieren und erlaubt so die konkrete Rekonstruktion sprachlich vermittelter Bearbeitung von Wissen, Verstehen, Vorstellen und Planen. Mit Blick auf das Verständigungshandeln zwischen Sprecher und Hörer kann wiederum ein eigens ausgearbeiteter Apparat, der über diverse Diskursarten und Handlungsmuster hinweg zur reparativen Bearbeitung von Rezeptionsdefiziten einsetzbar ist, rekonstruiert werden: das verständnissichernde Handeln (Kameyama 2004). Im Unterschied zu den gesprächsanalytischen Re-Analysen (z. B. Deppermann 2013) setzen die langjährig ausgearbeiteten und in empirischen Analysen rekonstruktiv gewonnenen funktional-pragmatischen Bestimmungen nicht notwendig an expliziten Wissens- oder Verstehensartikulationen an.
4 Prozeduren von Wissens-, Verstehens- und Erwartungsbearbeitung Abschließend sollen ausgewählte Prozeduren von Wissens-, Verstehens- und Erwartungsbearbeitung diskutiert werden, um daran gleichsam mikroanalytisch die Funk-
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tionsweise sprachlicher Wissensprozessierung im weiten Sinne durchsichtig zu machen und zugleich exemplarisch einige bildungssprachverdächtige Ausdrucksmittel kritisch zu beleuchten. Dazu werden primär Ausdrucksmittel des Symbolfeldes von Sprache im Sinne von Bühler betrachtet. In zweiter Linie werden Mittel des deiktischen oder Zeig-Feldes sowie Mittel des operativen oder propositional bezogenen Arbeits-Feldes thematisiert. Ausdrucksmittel des Symbolfeldes dienen dem Vollzug von symbolischen oder nennenden Prozeduren, die grundsätzlich in der Aktivierung von Wissen bestehen, wie es die Sprachgemeinschaft im entsprechenden Ausdruck abgebunden hat. Nach traditionellen Wortartenklassifikationen gehören dazu Verben und Nomina (Substantive und Adjektive) sowie elementare Präpositionen (Redder 2007). Die wissensaktivierende Qualität der Symbolfeldmittel forciert einerseits wissenschaftsmethodisch ein kognitiv vermitteltes Referenzkonzept sprachlicher Zeichen, wie es kognitionsgrammatisch vertreten wird (vgl. Ziem 2011), und andererseits sprachkritisch die Thematisierung von Aushandlungsprozessen oder ideologischer Verschiebung und eine darauf bezogene Epistemologie (Busse 2008). Zugleich sind genau solche Ausdrücke für Wissensumbau und Wissensrevision relevant, wie sie durch eine fachspezifische oder begrifflich höherqualifizierte Bedeutungsaneignung geschieht, also im Zuge der Aneignung von Bildungssprache. Beides soll dargelegt werden. Die in Kap. 1.3 bereits angeführten Untersuchungen zum Ausdruck Bildung und Kompetenz (Kilian/Lüttenberg 2009; Karg 2013) unternehmen genau derartige Verschiebungs-Rekonstruktionen in Kategorien interessegeleiteter Durchsetzung von Bedeutungsbestimmungen. Kindermann/Kühner/Schmitt (2011) diskutieren den Umgang mit nationalen Eigennamen und Attribuierungen in Steckbriefen als bri sante Unterrichtsthemen. Das Programm der deskriptiven Düsseldorfer Schule ist von Beginn an – vgl. zum Migrationsdiskurs und dem Reden über ‚Ausländer‘ (Jung/Wengeler/Böke 1997) – an Symbolfeldausdrücken festgemacht (Busse 2005). Abgesehen von Diskursen im Kontext von Ethnizität (z. B. Androutsopoulos 2011; Cortinovis 2011; Jaspers 2008) oder Nationalität (Reisigl 2007), aber auch von ideologisierten rechtswissenschaftlichen Diskursen (Veronesi 2011) sollte es zur sprachkritischen schulischen Bildung (Kilian 2013) auch gehören, einen basalen politischen Wortschatz verfügbar zu haben (Kilian 2012) und auch aktuelle politische Diskurse wie solche zur Stammzellenforschung (Spieß 2009) oder zur Nanotechnologie (Zimmer 2009) kritisch verfolgen zu können. Oft geht es dabei um die Aufschlüsselung von Metaphern wie Rubikon, Gebäude, Grauzone hinsichtlich ihrer interessierten Perspektivierung der Wirklichkeit im Wege des Analogisierens, zuweilen auch um den konstruktionsspezifischen Einsatz des Codeswitching wie in Südtirol, der sich auf Wissensstrukturtypen zurückführen lässt (Risse 2013). Den sprechhandlungsbezeichnenden Ausdruck wie die Handlungsstruktur von „Befehl“ im Nationalsozialismus rekonstruiert Düring (2013) und stellt die Sprachdidaktik damit vor ganzheitliche Anforderungen hinsichtlich der sprachlichen Handlungseinheiten (vgl. Hoffmann 2007).
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Während die ideologische Verschiebung von symbolisch aktiviertem Wissen primär über Kappungen und Neuknüpfungen der Wissensvernetzung und von damit einhergehender Umordnung des Wissensthemas sowie Umpositionierung im Bewertungssystem des π-Bereichs einhergeht – festmachbar nicht zuletzt an Kollokationsdifferenzen und Kombinationen mit Bewertungsprädikaten –, sind Wissensausbau und Wissensumbau im Zuge der bildungssprachlichen Aneignung von etwas anderer Struktur. Unter Berücksichtigung der wissensmethodischen Qualität bestimmter Symbolfeldausdrücke, die nach den in Kap. 1.3 referierten sprachpsychologischen Prozessen im empirischen Material identifiziert werden können, erweist sich ein Umbau in sprachlichen Wortfeldern, eine Änderung der symbolisch aktivierten Wissensqualität vom vorbegrifflichen zum begrifflichen Wissen hin sowie ein Ausbau von Wissensvernetzungen relationaler Art als prägend; entsprechende Sprachreflexionen über Wortbildungen legen sich didaktisch nahe (Redder 2012a). Runge (2013) dokumentiert an einer Liste von in Lehrmaterial präsenten komplexen Verben (sog. Partikel- und Präfixverben) , dass insbesondere symbolische Partikeln (Präpositionen wie an, vor) oder operative Präfixe wie be-, er-, ver- nicht einfach eine wortbildende Herausforderung darstellen, sondern die Simplexverben bzw. die Verbstämme bei der Prozedurenkombination in ihrer Bedeutung verallgemeinert werden, wobei machen, tun und – spezifisch norddeutsch – packen besonders produktiv werden. In diskursiven Erklärungsversuchen von Schülern (Redder 2013b) erweist sich das Wechselverhältnis von prädikativer Klammerstruktur und Partikelverb-Nutzung als hochgradig produktiv für eine schrittweise Aneignung von Wissen über sachrelevante Relationen und das daraus synthetisierbare Ganze (ausgedrückt durch präpositionale Ausführung in der rechten Verbklammer, z. B. macht das Kabel zum Pol an bis hin zur begrifflichen Erfassung etwa als verbinden), was bis in Selbstreparaturen und Rephrasierungen hinein diskursiv greifbar wird. Bemerkenswert ist, dass zunächst vor allem experimentelles Sachwissen derart entfaltet wird, ehe theoretisches Sachwissen, das eine Kombination von analytischer und synthetischer Wissensprozessierung erfordert, daran ansetzt und vor allem an begriffliche Symbolfeldausdrücke, insbesondere Substantive, gebunden ist. Redder (2012b) diskutiert unter anderem das Adjektiv blank (wie in blanke Enden eines Stromkabels) als Herausforderung für einen Umbau im Sprachwissen. Der prozeduralen und sprachpsychologischen Reanalyse gemäß setzt der Hamburger bildungssprachliche Test, empirisch basiert und linguistisch reflektiert, besonders an trennbaren Verben an und weitet sich dann auf Substantive, v. a. Nominalisierungen, aus (Uesseler/Runge/Redder 2013). Durch authentische Aufnahmen der kollektiven und insofern versprachlichten Lösung einer Aufgabenstellung (insbesondere handelt es sich um einen Lückentext) können Lambert/Redder (2013) die Wissensprozessierungen der Schüler im Detail rekonstruieren und die Wissenswiderstände ausmachen. Anhand eines Lehrwerktextes diskutiert Redder (2012) eine Reihe von sprachlichen Rezeptionsanforderungen, die partiell auf unreflektiertem oder gar misslichem Sprachgebrauch beruhen – beispielsweise des Konnektors denn. Eine besondere
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Herausforderung stellt im Text über den Hamburger Hafen die neutrale Objektdeixis das in definitorischen Bestimmungen dar (Container: Das sind gut stapelbare Metallkisten), indem darin Numeruskongruenz und Genuskongruenz aufgehoben sind. Faktisch wird mit dem Genus Neutrum in Fusion mit objektdeiktischem Zeigen eine spezifische Abstraktionsleistung abverlangt. Insgesamt erweisen sich, wie Querschnitt- und Längsschnittuntersuchungen in den ersten Primarschuljahren zeigen (Redder/Guckelsberger/Graßer 2013), deiktische Prozeduren als sehr aussagekräftig für die Rekonstruktion von Wissens- und Verstehensprozessierungen, da Deixeis einerseits in verschieden abstrakten Verweisräumen nutzbar sind, andererseits eine sehr subtile verbale Planung unter Einsatz diskursiver Qualifikationen erfordern, um für den Hörer nachvollziehbar zu sein. Graßer/Redder (2011) führen aus, dass ein funktionales Beschreiben oder Erklären mental an deiktischen Ansatzpunkten festgemacht sein kann. Die Differenzierung von Wissen und Verstehen (s. o. Kap. 3) bildet auch die Grundlage für eine Reihe von Bedeutungsbestimmungen einzelner Prozeduren: Die operativen, der propositionalen Bearbeitung dienenden Prozeduren, welche mittels weil, denn und da vollzogen werden, differieren, wie Redder (1990) ausführlich rekonstruiert, genau darin. Denn leistet eine hörerseitige Verstehensbearbeitung, während paraoperatives (aus dem deiktischen Feld transponiertes) da nach Maßgabe der sprecherseitigen π-Struktur der Bearbeitung von diskursiven Übergängen dient und weil unspezifisch, insbesondere also auch nach Maßgabe der grundlegenden Sachstruktur bzw. des Wissens darüber zur propositionalen Bearbeitung eingesetzt wird und insofern eher für Erklärungen taugt, während denn für Begründungen an allem möglichen Schritten des Verstehensprozesses funktional ist. Erwartungsbearbeitung geschieht etwa durch aber, doch oder vielmehr (Redder 2007a); für eine Rekonstruktion von hörerbezogener Prozessierung von Wissenselementen und damit diskursiver Befähigung lässt sich nicht zuletzt daran anknüpfen. Der Bamberger Bildungssprachtest von Weinert u. a. nimmt demgemäß Konnektoren in seine Items auf (Köhne u. a. 2015). Freilich ist keines der prozeduralen Ausdrucksmittel indikatorisch für bestimmte Wissenskonfigurationen oder Verfahren der Wissensprozessierung; vielmehr bedarf es der detaillierten Diskurs- oder Textanalyse und damit der Rekonstruktion des Wechselverhältnisses zu den realisierten Sprechhandlungen in ihren drei Dimensionen von Äußerungsakt, propositionalem und illokutivem Akt, zur Diskurs- oder Textart sowie zur Konstellation im Handlungsraum (z. B. institutioneller Art), um konkrete Aussagen machen zu können. Eine besondere Komplexion, zugleich aber auch eine praktische Herausforderung ergibt sich für die empirische Rekonstruktion von Mehrsprachigkeit in Bildungsinstitutionen. Die Analyse der Wissensprozessierung bei paralleler Aktivierung mehrerer Sprachen (Grosjean 2010; Grosjean/Li 2013; Paradis 2004) beginnt in Deutschland gerade erst (vgl. Rehbein 2012). Weitere Ausführungen übersteigen den Rahmen dieses Beitrags.
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Claudia Osburg
15. Sprache und Begriffsbildung: Wissenserwerb im Kontext kognitiver Strukturen Abstract: Sprache ist eines der wichtigsten menschlichen Kennzeichen. Sie ist ein Mittel der Kommunikation und Repräsentation. Mittels Sprache wird menschliche Verständigung möglich. Sie ist zugleich aber immer ein Ausdruck von Erkanntem. Welche Beziehungen bestehen damit zwischen unserem kognitiven Wissen und der Produktion und Rezeption von Sprache? Wie werden jene Zusammenhänge erklärt und erforscht? 1 Sprache als sinnerzeugendes System 2 Erklärungsmodelle zur Begriffsbildung 3 Methoden zur Erforschung des kindlichen Lexikons 4 Begriffliches Wissen im Kontext von Bildungsprozessen 5 Literatur
1 Sprache als sinnerzeugendes System 1.1 Der Wortschatz und seine Schlüsselfunktion für Bildungsprozesse Der Wortschatz besitzt nicht nur eine Schlüsselfunktion in der Sprachentwicklung, sondern ist auch grundlegend für Bildungsprozesse. Für Kinder im frühen Spracherwerb liegen vielfältige Studien zum Wortschatzerwerb vor, für den Wortschatzerwerb ab ca. 4 Jahren mangelt es an Untersuchungen (vgl. Pomnitz/Rupp 2012). Andersherum verhält es sich bei Diagnoseinstrumenten. Hier existiert für den frühen Spracherwerb fast ausschließlich die „Gefühlte-50-Wörter-Diagnose“: Wenn Kinder im Alter von 18 Monaten nicht über 50 Wörter im aktiven Wortschatz verfügen, dann sei das der frühestmögliche Hinweis auf eine potenzielle Sprachentwicklungsverzögerung (vgl. Kauschke 2012; vgl. ausführlicher Kap. 3). Eine der wenigen Studien, die bereits Kinder im Alter von 9 Monaten erfasst, ist jene von Barbara Zollinger (1995). Mittels ihrer Diagnostik sind Aussagen zum Spracherwerb im Kontext der allgemeinen Entwicklung bereits mit 18 Monaten sehr differenziert möglich. Im Gegensatz zu den verschwindend geringen Diagnoseinstrumenten im frühen Spracherwerb liegen vielfältige Diagnostiken für Kinder ab einem Alter von 3 Jahren vor (vgl. Glück 2011; KieseHimmel 2005; Petermann 2010). Problematisch im Kontext von Bildungsprozessen
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ist allerdings, dass sich die meisten Untersuchungen auf Wörter beziehen, die meist einem „Common-Sense-Wortschatz“ der (gebildeten gehobenen) Mittelschicht entstammen. Und es existiert ein weiteres Problem: Diagnoseinstrumente mit entwicklungspsychologischem Hintergrund oder solche, die nicht primär einen selektiven, sondern einen förderdiagnostischen Charakter haben, existieren nur wenige. Anders formuliert kann mittels vieler „Tests“ fast ausschließlich diagnostiziert werden, ob Kinder die – an einer Mittelschicht orientierten und zufällig ausgewählten – Antworten, die sich meist auf Wörter beziehen, in einem bestimmten Zeitraum artikulieren. Gründe und Entwicklungsverläufe zu erfassen, ist nicht das Ziel jener Screenings. Eine frühzeitige fundierte Diagnose, die über „es kommt schon noch, warten wir es ab“ hinausgeht, ist insbesondere deshalb zentral, da Untersuchungen den Zusammenhang zwischen sogenannten Late-Talkern, also Kindern mit weniger als 50 Wörtern im Alter von 18 Monaten, und Sprachauffälligkeiten im Vorschulalter zeigen (vgl. Kühn/Suchodoletz 2009). Und sie zeigen noch mehr: Die sprachlichen Probleme können sich auch langfristig manifestieren und sind – statistisch gesehen – nur schwer aufholbar. Die Folgen eines geringen Wortschatzes betreffen neben der gesprochenen Sprache (Verstehen von gesprochener Sprache, Sinnentnahme, Diskussionen, Argumentationen, Vorträge etc.) auch das Lesen und Schreiben. Sind mehr als 5 % der Wörter eines Textes unbekannt, so kann der Sinn des Textes nur rudimentär erschlossen werden (vgl. Hirsh/Nation 1992). Auch nach der Studie von John Hattie (2009) kommt dem Wortschatz eine besonders große Effektstärke im Kontext der Lesekompetenz zu. Das Matthäusprinzip wird deutlich: Wer hat, dem wird gegeben; wer einen umfangreichen Wortschatz hat, ist für Bildungsprozesse privilegiert. Aber: Jene „Risikogruppe“ ist derart heterogen, dass Prognosen für Bildungsprozesse schlicht nicht vorhersagbar sind.
1.2 Der Wortschatz in Zahlen Wie viele Wörter muss ein Sprecher benutzen und verstehen, um als gebildet zu gelten? Birgit Brouër, Jörg Kilian und Dina Lüttenberg (2015) zeigen auf, dass Bildung sich weder quantitativ messen lässt noch unabhängig von einer Kultur Bestand hat. Bildung bezieht sich vielmehr auf eine gesellschaftliche Vereinbarung, wenngleich auch hier zwischen Allgemeinbildung und Fachwissen unterschieden wird. Für den Wortschatz bedeutet es, dass der Sprecher durchaus über einen repräsentativen Wortschatz verfügen muss, um jene Ziele zu erreichen. Dieter Zimmer (1997, 24) gibt als Bezugsgröße die Zahl von 94.000 Wörtern an, die ein „gebildeter“ Erwachsener kennt und „versteht“, wenngleich er nur 8.000–16.000 aktiv benutzt. Monika Rothweiler und Jörg Meibauer (1999, 9) setzen höher an. Sie gehen von 20.000–50.000 Wörtern aus. Die Zahlen machen eins deutlich: Ob nun 42.000 Wörter mehr oder weniger gebraucht werden (nämlich die Diskrepanz von 8.000 und 50.000), ist unwichtig; beide Sprecher können als gebildet gelten. Und wer die 600.000 Eintragungen in
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umfangreichen Wörterbüchern kennt (vgl. Eisenberg/Linke 1996), der ist ohne Frage gebildet. Die Mehrheit der Erwachsenen bezieht allerdings nur 5.000 Wörter in ihren aktiven Wortschatz ein (vgl. Zimmer 1997, 24); müsste sie nach Dieter Zimmer damit als ungebildet gelten? Wenn es um Lernen geht, dann sind Kinder die Gebildeten. Denn unglaublich rasant lernen sie Sprache (vgl. Kilian 2011a). Die durchschnittlich 50 Wörter im aktiven Wortschatz im Alter von 18 Monaten vervielfältigen sich rapide. Bereits im Alter von 5 Jahren umfasst der aktive Wortschatz durchschnittlich schon 2.600–5.200 Wörter und der passive Wortschatz steigt sogar auf 23.700 an (vgl. Augst 1978, 220; Eisenberg/ Linke 1996; Rothweiler/Meibauer 1999, 9; Steinhoff 2013, Zimmer 1997, 24 f.). Selbst im Grundschulalter verdreifacht sich der Wortschatz erneut (vgl. Günther 1989; 1991) und das lebenslange Lernen von Wörtern und Begriffen hört nicht auf (vgl. Osburg 2002, 149 ff.; 2011, 55 ff.). Aber lange nicht alle Kinder lernen so problemlos und rasant. Die flächendeckenden Sprachstanderhebungen und Früherkennungen von Sprachauffälligkeiten vor der Einschulung sprechen für sich (vgl. Osburg/Sengelhoff 2010). Die Sprachentwicklung bei Kindern ist mehr denn je in den Schlagzeilen. Von 25 % sprachauffälliger Kinder ist die Rede, die Dunkelziffer, die Kinder mit Deutsch als Zweitsprache und auch den Schriftspracherwerb mit einbezieht, ist mit geschätzten 60 % weitaus höher (vgl. Knapp u. a. 2011, 8 f.). Auch in der DESI-Studie wird formuliert, dass 67,6 % der 16-Jährigen über einen Basiswortschatz nicht hinauskommen, selbst 38,2 % beherrschen diesen nur unzureichend (vgl. Willenberg 2007; vgl. auch Alber 2014). Stimmen diese Zahlen und ist die Beziehung zwischen Spracherwerb und Bildungschancen wirklich eng verzahnt, dann würde dies bedeuten, dass die Bildung von Generation zu Generation abnimmt. Oder hat sich die Sprache gewandelt? Berücksichtigen die Sprachtests den Sprachwandel in ihren Items oder bleibt die Bildungssprache der Akademiker Standard? Welche Methoden zur Erforschung von Begriffsbil dung existieren überhaupt – oder werden nicht eher schlicht Wörter abgefragt?
1.3 Das mentale Lexikon Lange vor dem ersten Geburtstag beginnt der Lexikonerwerb in sozialen Interaktionen (vgl. Szagun 2001). Die ersten Wörter eines Kindes erfüllen junge Eltern mit Freude. Sie sind, wie bei [mama], [papa] oder [ball], weitgehend phonetisch-phonologisch determiniert. Vokale mit größtmöglicher Öffnung (wie/a/) stehen kontrastiv Konsonanten mit größtmöglichem Verschluss gegenüber wie Labialen oder Plosivlauten. Schnell werden die Wörter von den Bezugspersonen aufgegriffen und in repetierender Weise und mit besonderer Betonung wiederholt. „Ja, die Mama ist da, Mama, und der Papa.“ – „Ball, so ein schöner Ball. Fang den Ball.“ Gegenstände oder Personen aus der Umgebung sowie Geräusche und Laute finden im frühen Spracherwerb besondere Berücksichtigung; zunächst sind es meist Substantive, später kommen
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auch Verben dazu (vgl. dazu Pomnitz/Rupp 2012). Rasant erweitert sich das Inventar der Wörter und die Prägung der Umwelt kommt ins Spiel. Wenn Kinder, wie Lea im Alter von 21 Monaten, bereits alle Nachnamen der Spieler des Fußballvereins Schalke 04 aufsagen können (vgl. Coca-Cola – Fan-Movie-Preis 2002; vgl. auch Osburg 2011, 61), dann wird besonders deutlich, wie stark selbst die frühkindliche Sprache vom Umfeld geprägt ist. Die Namen von Personen oder die Bezeichnungen von Gegenständen oder Handlungen werden mittels Wörtern realisiert. Wörter sind Zeichen mit einer Inhalts- und einer Ausdrucksseite (vgl. Dannenbauer 2000, 149) bzw. Klangsymbole (vgl. Szagun 1983, 214; 2007, 59; 2013,149), die, einmal erworben, immer gleich bleiben, wenngleich sich der Umgang ändern kann. So war der standardsprachliche Plural von Atlas lange Zeit Atlanten, ein Wort, das derart häufig durch das Wort Atlasse ersetzt wurde, dass jenes als neue Pluralmöglichkeit nun anerkannt ist. In Jahrzehnten wird das Wort Atlanten noch existieren, vielleicht aber als Relikt einer veralteten Ära. Beispiele wie jenes zeigen, dass Sprache ein sinnerzeugendes System ist, das sich ständig verändert. Die Beziehung zwischen Signifikant (Bezeichnendes) und Signifikat (Bezeichnetes) ist das Ergebnis einer Konvention, die durch sozial gestaltete Übereinkommen, („Common sense“, vgl. Feilke 1994) übernommen wird. Die Bedeutungszuordnungen sind dabei allerdings sehr ungenau. Einfache Beziehungen zwischen sprachlichen Ausdrücken und ihren Inhalten gibt es nicht, da nicht ein Zeichen für genau ein Bezeichnetes steht. Wasser steht in den folgenden Sätzen immer für etwas anderes: Das Wasser ist alle. Er steht bis zum Hals im Wasser. Ich kann ihm nicht das Wasser reichen. Das Wasser ist zu heiß etc. Bedeutungen sind damit abhängig vom Kontext – aber auch vom mentalen Lexikon. Dieses Lexikon ist ein individuelles und umfasst alle Wörter, über die ein Sprecher verfügt (vgl. Kannengießer 2009, 198). Auf der Inhaltsseite umfasst die innere Struktur eines Eintrags im mentalen Lexikon semantische und syntaktische Informationen zu einem Wort (Lemmainformation), auf der Wortformseite die morphologische und phonologische Information (Lexeminformation) (vgl. Alber 2014, 28). Im mentalen Lexikon sind jedoch nicht (nur) Wörter repräsentiert, sondern das gesamte sprachlich gebundene Wissen, über das ein Individuum zu einem Wort verfügt. So kann das homonyme Wort Schlange unterschiedliche Bedeutungen haben, die der Empfänger in Beziehung zueinander setzen muss. Auch bei dem homophonen Wort [va:l] muss der Hörer entscheiden, ob jene Aussprache das Wort Wahl oder das Wort Wal repräsentiert. Er muss Sinn konstruieren, ein Produkt aus Phantasie und Erfahrung, um verstehen zu können (vgl. Combe/Gebhard 2012). Bereits hier wird deutlich, wie eng Sprache und Bildung zusammenhängen. Mittels Sprache können wir etwas bezeichnen und wir benötigen Sprache, um Bezeichnetes zu verstehen und im geforderten Kontext zu interpretieren. Wenn Lehrende und Lernende die gleichen Wörter benutzen, damit aber eine andere Bedeutung verbinden (z. B. Nachbar wie im folgenden Beispiel), können hieraus schwierige Lernsituationen für die Kinder entstehen – und nicht selten gelten sie dann als ‚ungebildet‘.
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Beispiel 1 (Transkript: Imke Labs; Quelle: Labs/Osburg 2007, 40). Deutschunterricht, 5. Klasse, die Schüler sollen ein Märchen lesen und Aufgaben dazu bearbeiten. Lehrer: Lest das Märchen zuerst durch und bearbeitet dann die Aufgaben zusammen mit eurem Nachbarn! Es wird ruhig. Alle Schüler bis auf Tim lesen. Tim schaut in der Gegend herum, kramt ausgiebig in seiner Federtasche, aber er liest nicht … Lehrer: Auch du sollst lesen, Tim! Du hast doch einen Text, nicht? Dann geht’s jetzt los, o.k.? Tim: Hmmm … Der Lehrer wischt weiter die Tafel, er bemerkt, dass Tim immer noch nicht liest. Lehrer (verärgerter Tonfall): Sag mal Tim, hast du keine Lust zu lesen oder was ist los? Tim steht auf, geht zum Pult des Lehrers, beugt sich zu ihm vor. Tim (leise): Ich weiß nicht, wie ich mit meinem Nachbarn arbeiten soll. Der geht doch gar nicht in meine Klasse. Lehrer: Äh … wie? Dein Nachbar? Ja, der ist doch da. Da ist er doch: Der Hussein. Tim: Ach, mit Hussein zusammen. Ja? Lehrer: Ja, mit wem denn sonst? Tim geht zurück zu seinem Platz. Die anderen reden schon über die Aufgaben. Es wird lauter. Tim beginnt zu lesen. Als Tim den Text zu Ende gelesen hat, werden die Aufgaben bereits abgefragt. Hussein meldet sich und trägt die (seine) Ergebnisse vor.
Das sprachliche Zeichen Nachbar bezieht sich auf einen außersprachlichen Sachverhalt, es nimmt Bezug auf etwas (engl. refer), nämlich auf den Nachbarn. Da Tim in dem Beispiel die Homonymie nicht erkennt und keine Referenz zu dem Sitznachbarn herstellen kann, wird sein Verstehen behindert. Inhaltswörter (wie Haus, Tisch u. a.) erleichtern das Herstellen einer Referenz im Gegensatz zu abstrakten Wörtern, Partikeln oder Funktionswörtern (wie glücklich, jedoch, weil u. a.). Zwar besteht über die Referenz von Wörtern in der Sprachgemeinschaft eine hohe Übereinstimmung (vgl. Markmann 1994). Viele Sprecher verbinden mit einem Nach barn die Person, die neben ihnen oder in mittelbarer Umgebung wohnt. Die Grundbedeutung ist damit konstant (vgl. Dannenbauer 2000, 150). Und nur durch diese Übereinstimmung in der Denotation (lat. denotare bezeichnen) kann Kommunikation überhaupt funktionieren. Aber Voraussetzung für funktionierende Kommunikation ist, dass beide Sprecher sich auf die gleiche Grundbedeutung beziehen und sie im entsprechenden Kontext auch aktivieren können. Unterschiedliche Grundbedeutungen, Nicht-Abrufbarkeit von Bedeutungen oder auch konnotative Bedeutungen, also subjektive Nebenbedeutungen, können zu Missverständnissen führen. Gerade bei Sprachlernern können Konnotationen Missverständnisse oder auch Ängste auslösen. Beispiel 2: Beobachtung Claudia Osburg, Mai 2013, Klasse 4 Die Lehrerin einer vierten Klasse arbeitet mit ‚Belohnungen‘. Lehrerin: Wenn ihr jetzt toll mitmacht und endlich mal ruhig seid, dann bekommt ihr dafür Belohnungspunkte. Bei 10 Belohnungspunkten gehe ich mit euch ins Freibad und übernachte dort. ----
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„Ich habe alles versucht, um die Klasse ruhig zu bekommen“, berichtet mir die Lehrerin. „Jetzt weiß ich: Es liegt an der Klasse und nicht an mir. Ich habe ihnen sogar angeboten, mit ihnen im Freibad zu übernachten.“
Dass Belohnungssysteme jener Art problematisch sein können (vgl. dazu Zimpel 2013a), soll hier nicht diskutiert werden. Aber: Wörter wie Freibad und Übernachten werden von Kindern (und auch von Erwachsenen) selten auf der Sachebene (Schulz von Thun 2010) aufgenommen. Sie lösen Konnotationen unterschiedlicher Art aus: Übernachten? Im Zelt? Alleine? Ohne Mama? Wo sind Toiletten? Ich kann nicht schwimmen! Ich will mich mit anderen nicht duschen, ich ziehe mich mit meiner Neurodermitis nicht aus etc., um nur sehr wenige Beispiele zu nennen.
2 Erklärungsmodelle zur Begriffsbildung Wie aber Wörter, Begriffe und Bedeutungen entstehen, wird – je nach Disziplin und Theoriebildung – durch unterschiedliche Erklärungsmodelle beschrieben. Linguistische Einheiten, aus denen begriffliche Strukturen aufgebaut sind, wie z. B. Phoneme, Phone, Wörter oder Sätze, können nicht von einer Person zur anderen weitergegeben werden: Erst wenn das Individuum die verbalen (oder graphischen) Symbole in Beziehung zu seinen kognitiven Möglichkeiten setzen kann, erhalten sie (individuelle) Bedeutungen, die – je nach Erkenntnisstrukturen – mit denen des Senders mehr oder weniger kompatibel sein können. Mittels Sprachwissenschaft wird beschrieben, wie die konstruierten Bedeutungen linguistisch zu erklären sind. In der kognitiven Semantik und auch in entwicklungspsychologischen konstruktivistischen Ansätzen wird nach den individuellen Bedeutungen und kognitiven Strukturen, durch die das Individuum diese Einheiten als bedeutungsvoll erkennen kann, gefragt.
2.1 Von semantischen Merkmalen zu Prototypentheorien Wie Wortbedeutungen und Begriffe beschaffen sind, wurde lange Zeit diskutiert. Die Komponentenanalyse bzw. die Merkmalstheorie wurde zur Beschreibung herangezogen. Nach diesem Ansatz (vgl. Clark 1977) wurde davon ausgegangen, dass es sich bei der Begriffsbildung um den Erwerb bestimmter Merkmale (Bedeutungselemente) handelt. Jene seien objektiv erkennbar. Nach diesem Ansatz wird die Bedeutung eines Wortes in semantische Merkmale zerlegt und die Feststellung ihres Vorhandenseins (+) oder Fehlens (–) angegeben, wie z. B. [+/– männlich, +/– menschlich, +/– belebt] etc. Die semantischen Merkmale werden primär aus der sinnlichen Wahrnehmung abgeleitet, wie z. B. durch Bewegung, Form, Größe, Geschmack etc. Für eine Objektivierung wird davon ausgegangen, dass diese Merkmale unveränderlich und „entwicklungsinvariant“ (Seiler/Wannenmacher 1987) sind. Vor allem in den 70er Jahren
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gewannen merkmalstheoretische Ansätze an Bedeutung (vgl. Osburg 2002). Der Erwerb von Wortbedeutungen bei Kindern würde analog dieser Theorie in vergleichbarer Weise sukzessiv verlaufen: Die Kinder eignen sich Merkmalslisten an, die von allgemeinen zu spezifischen Merkmalen fortschreiten. Durch unvollständige Listen würden Übergeneralisierungen entstehen (z. B. miau für alle Vierbeiner). Die Kritik an dem Ansatz liegt nahe: Die Herkunft und Auswahl der semantischen Merkmale sei zweifelhaft, insbesondere bei abstrakten Begriffen, bei denen eine Zuordnung perzeptueller Merkmale erschwert ist. Zudem blieb eine empirische Verifizierung in der Linguistik und Spracherwerbsforschung aus und die Intuition von Untersuchern bzw. ihre Denkkategorien (finite Anzahl von Merkmalen, Qualität der Merkmale) waren für die Analyse bestimmend (vgl. Aitchison 1997; Dannenbauer 2000; vgl. zur Kritik auch ausführlich Szagun 1983; Seiler 1987; Osburg 2002). Unklar bleibt weiter, wie es vom „Wahrgenommenen“ zum sprachlichen Wissen kommt, denn nach jener Theorie würden perzeptuelle Merkmale direkt in semantische übergehen. Im Zuge der Abkehr von der Merkmalstheorie haben sich unterschiedliche Prototypentheorien entwickelt. Hierbei wird die Annahme einer definitorischen Ansammlung von Merkmalen abgelehnt, zugleich wird jedoch ein Prototyp angenommen. So hat beispielsweise der Prototyp eines Stuhls vier Beine, eine glatte Sitzfläche und eine Lehne. Da aber der Übergang zu einem anderen Prototypen fließend ist, kann auch dieses Modell nicht überzeugen: Was ist, wenn der Stuhl nur drei Beine, aber eine Lehne hat? Ist es dann aufgrund der Beine ein Hocker oder aufgrund der Lehne ein Stuhl? (vgl. Seiler/Wannenmacher 1987, 469). Es ist anzunehmen, dass sich jedes Individuum einen Prototypen konstruiert. So wären beispielsweise auch Über- und Unterdehnungen beschreibbar. Aber die Prototypen verändern sich je nach Erkenntnis. Wenn Kinder zu allen Tieren mit vier Beinen „Wau-Wau“ sagen, aber merken, dass vier Beine allein nicht den Prototyp eines Hundes ausmachen, dann verändert sich ihr Wissen. Rückschlüsse auf das, was Kinder über einen Gegenstand wissen, sind aus der Theorie kaum ableitbar.
2.2 Begriffsbildung aus kognitiv-konstruktivistischer Perspektive Während in linguistisch orientierten Ansätzen eher vom Individuum abstrahiert und versucht wird, den Bedeutungserwerb allgemeingültig zu beschreiben, geht es in der kognitiven Semantik oder in entwicklungspsychologisch-konstruktivistischen Ansätzen darum, wie der Sprecher mental mit individuellen Bedeutungsstrukturen operiert. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive wird zwischen Wort, Begriff und Bedeutung unterschieden (vgl. Claar 1990; Seiler 1987; Seiler/Wannenmacher 1987; Szagun 1983). Wörter einer Sprache sind Klangsymbole bzw. Lautzeichen (vgl. Szagun 1983; 2013; Seiler 1987), die Begriffe und Bedeutungen repräsentieren, eher konventionell normiert sind und, einmal erworben, immer gleich bleiben (vgl. Kapitel 1.3).
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Begriffe hingegen können als Grundbausteine des Denkens verstanden werden. Sie sind als aktive Konstruktionen des Subjekts zu verstehen, als subjektive Erkenntnis- und Verstehensakte, in denen eine (erkannte) Umwelt verarbeitet wird. Zwar werden sie als kognitive Einheiten oder kognitive Strukturen definiert (vgl. Seiler 1985), sie sind aber keine rein kognitiven Gebilde, denn sie haben neben dem kognitiven Charakter auch immer sozial-emotionale Komponenten und sind von den interaktionalen kulturellen „Welterfahrungen“ des Individuums geprägt. Begriffe haben damit mindestens zwei Funktionen: Sie ermöglichen es uns nicht nur, Sprache zu verstehen und sinnvoll zu verwenden, um unsere Erkenntnisse, unsere Sichtweisen und Bedeutungen anderen zu übermitteln. Begriffsentwicklung ist ebenso die Ursache für die konstante Erweiterung und Vertiefung unseres Verstehens von Sachverhalten und von Sprache. (Seiler/Claar 1993, 107)
Die Erkenntnisstrukturen des Individuums nähern sich den gesellschaftlichen und kollektiven Bedeutungen der Kultur, in die es hineinwächst, immer mehr an. Sie werden jedoch nie mit ihnen identisch. Während in Anlehnung an die linguistische Semantik das mentale Lexikon das gesamte sprachlich gebundene Wissen speichert, über das das Individuum zu einem Wort verfügt, und das linguistische ‚Chaos‘ organisiert, liegt der Schwerpunkt bei der strukturgenetischen Sichtweise auf den subjektiven Erkenntnisstrukturen. Auch hier beziehen sich Begriffe auf das komplette Wissen, das ein Sprecher bei einem Wort assoziiert, auch hier bringt das Subjekt Ordnung in das Chaos der umgebenen Welt, indem es Erfahrungen zusammenfasst, Problemlösungsstrategien in neuen Verbindungen konstituiert und reguliert (vgl. Seiler 1985, 113). Aber es geht über linguistische Aspekte hinaus. Begriffe können durch Wörter symbolisiert werden, dennoch wird nie eine 1:1-Übersetzung möglich sein. Bedeutung ist die Beziehung zwischen dem Begriff und dem Wortsymbol, bei dem je nach Situation unterschiedliches Wissen aktiviert wird. Tränen können sowohl mit Schmerz als auch mit Freude in Verbindung stehen, Regen mit Fruchtbarkeit oder schlechtem Wetter etc. Im Beispiel Ahmets (vgl. oben, Beispiel 1) kennen wir seinen Begriff von Nachbar nicht. Deutlich wird aber, dass er damit die Bedeutung Woh nungsnachbar bzw. nicht Sitznachbar verbunden hat. Es ist zu vermuten, dass er in seinem begrifflichen Wissen auch Letzteren einbezieht, da er später mit seinem Sitznachbarn arbeitet. Vielleicht aber hat sein begriffliches Wissen in der Situation eine Erweiterung erfahren. Lew S. Wygotski (1964) unterscheidet zwischen Bedeutung und Sinn. Bedeutung enthält für ihn einen objektiven Moment, bei dem ein Wort in ein System von komplexen Zusammenhängen und Beziehungen eingeführt wird. Von den einzelnen Merkmalen wird dabei weitgehend abstrahiert. So entsteht eine relative Objektivität, die für alle kompetenten Sprecher (zumindest einer Kultur) weitgehend identisch ist (vgl. auch Füssenich 2002). Bei dieser ‚eigentlichen Bedeutung‘ werden nach Lew S. Wygotski Gegenstände nicht nur – mittels Sprache – symbolisiert, sondern nach Merkma-
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len klassifiziert. Mit Sinn bezeichnet Lew S. Wygotski – wie auch Gisela Szagun – die individuelle Bedeutung, d. h. es werden die im Moment wichtigen Momente herauskristallisiert (vgl. ausführlich Osburg 2002). Was in einer Gesellschaft als Bildung konstruiert wird, ist das Ergebnis eines sprachlichen Aushandelns von Inhalten. Im Kontext von Bildungstheorien erhält das begriffliche Wissen deshalb eine besondere Brisanz: Begriffsbildung ist nicht nur eine ‚Aneignung‘, sondern eine Erweiterung und z. T. auch Veränderung von Werten, Überzeugungen und Normen. Es ist damit auch ein Stück Veränderung der Persönlichkeit.
2.3 Theorien zur Entstehung von begrifflichem Wissen und mentalem Lexikon Der Erwerb von Bedeutungen und Begriffen wird damit als eine aktive Konstruktion verstanden. Was aber bei den Konstruktionsprozessen passiert, wie sie funktionieren, warum dem einen die Speicherung leicht und dem anderen schwer gelingt, ist damit nicht geklärt. Zwar spielt die individuelle Bedeutsamkeit eine zentrale Rolle, aber jene ist viel mehr als schlichtes Interesse. Voraussetzung für die Entstehung von Begriffen ist die Objektpermanenz, die am Ende der sensomotorischen Phase steht (vgl. Piaget 1994). Das Kind weiß, dass Gegenstände existieren, auch wenn es diese nicht sieht. Diese Phase fällt nicht zufällig mit dem Beginn der Sprachproduktion und dem Laufenlernen zusammen (vgl. Dehn/ Oomen-Welke/Osburg 2012, 38 ff.). Das Kind kann sich von der Mutter entfernen, weil es ‚weiß‘, dass sie noch da ist, auch wenn es sie nicht sieht. Es kann nach ihr rufen und sie wird das Kind hören. Später wird es auch lernen, Sprache zum Gegenstand der Betrachtung zu machen und über Begriffe zu reflektieren. Für den erfolgreichen Schriftspracherwerb ist dies eine unabdingbare Voraussetzung. Begriffe stellen damit einerseits das Ergebnis einer Erkenntnis dar, dienen aber andererseits auch als Instrument des weiteren Erkennens (vgl. Osburg 2002, 118). Bei der Konstruktion von Begriffen kategorisiert das Individuum und bildet Konzepte. In soziopragmatischen Ansätzen wird von Mapping, später von Fastmapping gesprochen. Die Kinder weisen unbekannten Wörtern eine vorläufige Bedeutung zu, die beim Fastmapping in Beziehung zu anderen bekannten Wörtern gesetzt wird (vgl. Pomnitz/Rupp 2012). Das Individuum muss die Konzepte später abrufen und benennen können und die mentalen Einträge organisieren können – eine extreme Herausforderung. Dies schafft es nicht alleine, sondern ist auf die Hilfen der Umwelt angewiesen. Und jene holt es sich aktiv. Der trianguläre Blickkontakt, der „Dreiecksblick“ ist jener, bei dem das Kind um Hilfe bittet (vgl. Zollinger 1995; vgl. auch Dehn/OomenWelke/Osburg 2012, 10 ff.). Das Kind hält einen Ball hoch und sagt „Ball“. Dabei wechselt sein Blick von dem Ball zur Mutter, so als ob es fragen wollte: Stimmt das? Ist das ein Ball? Es ‚spielt‘ mit Sprache, wenn es die Gabel hochhält und fragend „Ball“
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formuliert, auch hier wieder jener Dreiecksblick vom Kind ausgehend zur Mutter und zur Gabel. „Nein, das ist kein Ball, das ist eine Gabel.“, wird die Mutter antworten und das Kind wird sagen: „Dadel?“ Jene Hypothesenbildung, jene begrifflichen Konstruktionen werden auch im hohen Alter nie nachlasen, wenngleich sie eine andere Qualität erhalten werden – und der Dreiecksblick nicht immer mehr ausgeführt wird. Hier zeigen sich bereits erste Hinweise zwischen Kognition und Begriffsbildung: Kinder, die jenen triangulären Blickkontakt nicht herstellen, die sich die Welt nicht derart fragend erschließen, zeigen später erhöhte Probleme beim Spracherwerb. Da sie bei der Hypothesenbildung über Sprache und die Welt – statistisch gesehen – häufiger eingeschränkt sein werden, ist ihnen bereits im frühen Kindesalter der Zugang zu Bildungsinhalten erschwert. Um ein Wort abzurufen und auszusprechen, müssen die Konzepte mit den Wortformen verknüpft werden. Phonologische, semantische, grammatikalische Ebenen kommen dabei ebenso vor wie jene ‚Gedanken‘, die der Lernende aktivieren muss und die von Motivation und Kognition mit beeinflusst werden. Kerstin Alber spricht von einer strategiebasierten Wortschatzaneignung unter der alle impliziten und expliziten Fähigkeiten verstanden werden, „die Lernende einsetzen, um Wortschatz anzueignen und nutzbar zu machen.“ (Alber 2014, 28). Die Wortbedeutungen und Wortformen sind im mentalen Lexikon getrennt voneinander gespeichert, wenngleich sie miteinander assoziiert werden. So kann ein Sprecher wissen, was er sagen will, aber nicht abrufen, ihm ‚liegt es auf der Zunge‘. Untersuchungen lassen vermuten, dass die Syntax sehr eng mit den Wortbedeutungen verbunden ist, denn selbst wenn das Wort nicht abrufbar ist, weiß der Sprecher meist, um welche Wortart es sich handelt. Der Psycholinguist Willem Levelt (1989) hat den engen Zusammenhang zwischen semantischer und syntaktischer Wortrepräsentation nachgewiesen und spricht bei dieser Einheit von Lemma, die Zusammenführung von Wortbedeutung und Wortgrammatik (vgl. auch Kannengießer 2009). Durch solche engen Beziehungen können Netzwerkstrategien in Bruchteilen einer Sekunde abgerufen werden. Beim Sprechen und Verstehen entstehen derart viele Aktivierungen im Netzwerk, das durch Hemmung oder Summierung von Aktivatoren (vgl. Glück 1998) der Kreis eingeengt wird, sodass nur noch eine Möglichkeit übrig bleibt. Versprecher beispielsweise können als Produkt von rapiden Parallelverarbeitungen gesehen werden. Im mentalen Lexikon bilden Wörter semantische Relationen. Zwei große Gruppen werden unterschieden: Die paradigmatischen Relationen, also jene, bei denen Wörter im Kontext theoretisch austauschbar sind (wie z. B. langweilig und lustig), und die syntagmatischen, wie Feuer und heiß, bei denen Wörter kombiniert werden können (vgl. hierzu sehr übersichtlich Kannengießer 2009, 204 f.). Diese Anordnung erleichtert das schnelle Abrufen – aber sie kann auch Verstehen erschweren, da sich die dominante Bedeutung quasi aufdrängt. Im Beispiel 1 oben scheitert Ahmet an der paradigmatischen Relation: Nachbar und Nachbar haben die gleiche lautliche Gestalt, aber in dem Kontext eine unterschiedliche Bedeutung (Polysemie). Die dominante Bedeutung ist der Wohnungsnachbar – und nicht der Sitznachbar.
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Aus bildungstheoretischer Sicht stellen syntagmatische Relationen eine größere Herausforderung dar, da die „Grenzen zwischen sprachlichen Beziehungen und welterfahrungs- und kulturabhängigen Zusammenhängen fließend sind“ (Kannengießer 2009, 204). Sie sind in außersprachlichen Zusammenhängen begründet und unterliegen deshalb besonders einem Bildungseinfluss. Dazu ein Beispiel: Der erfahrene Sprecher stellt bei einer „instrumentalen Relation“ eine semantische Relationen zwischen zwei Lexemen her, wie z. B. Bohrer – bohren oder Teigschüssel – einfüllen. Lernende, die jene Verbindung aufgrund ihrer Erfahrungen nicht konstruieren (können) (vgl. z. B. im Bereich DaZ Kalkavan 2012), suchen nach anderen Relationen, die ihnen aber Zugänge zum Inhalt erschweren können. Da die Zusammenhänge zwischen den Wörtern keine Bedeutungsverwandtschaft aufweisen müssen, sondern Resultat individueller Konstruktionen sind, fallen die Assoziationen unterschiedlich aus. So assoziieren einige Schüler mit dem Wort Eltern »Liebe« oder »geborgen«, andere »streng« oder »Schläge«. Ähnlich ist es auch bei Kollokationen, also bei besonders engen syntagmatischen Zusammenhängen wie Haare kämmen, sterben vor Angst, Salz und Pfeffer, durch Dick und Dünn gehen etc. Nicht allen Lernenden sind jene Konnotationen bekannt, die der Bildungssprache entnommen sind und auch nicht alle Assoziationen, die Lernende erzeugen, sind im Kontext schulischer Bildungsprozesse hilfreich. Während Konnotationen allerdings in Situationen der Sprachförderung besonders ‚geübt‘ werden, stellen syntagmatische Relationen durch den assoziativen Charakter immer noch eine größere Herausforderung für die Teilhabe an Bildungsprozessen dar (vgl. auch Kilian 2011b; Pohl 2002; Schwarz 2008).
3 Methoden zur Erforschung des kindlichen Lexikons 3.1 Ein Überblick über Forschungsmethoden Die Spracherwerbsforschung bedient sich diverser Erhebungsmethoden, vornehmlich psycholinguistischer, kognitivistischer, neurolinguistischer und computerlinguistischer Methoden (vgl. hierzu Rickheit/Weiss/Eikmeyer 2010). Jene Methoden sind auch geeignet, um Rückschlüsse auf die Konstruktion kindlicher Begriffe zu ziehen. Aufbauend auf den Methoden sind Diagnostiken entstanden, die sich primär der Rekonstruktion des kindlichen Lexikons widmen (vgl. z. B. Füssenich 2002; Glück 2011; Kiese-Himmel 2005; Osburg 2002; 2008), andere, bei denen die Erforschung des kindlichen Lexikons einen Untertest darstellt (Petermann 2010), und wiederum andere, die das Kind im Kontext seiner gesamten Entwicklung betrachten (vgl. z. B. Zollinger 1995; 2000). Da jede Methode ihre Potenziale und Grenzen hat, wird die Auswahl eines empirischen Verfahrens zielgerichtet erfolgen. Lois Bloom (1993, 113)
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spricht von „transformation talk – data – evidence“. Auch die Ergebnisse stehen, sowohl qualitativ als auch quantitativ, in Verbindung mit der Methode und dem Untersuchungsdesign. Sie können damit, je nach Methode, in gewisser Weise testdiagnostischen Gütekriterien entsprechen. Aber sie werden im konstruktivistischen Sinne nie objektiv sein, d. h. Rückschlüsse auf das begriffliche Wissen des Kindes haben damit immer spekulativen Charakter. Die im Folgenden vorgestellten Methoden geben einen Überblick über zentrale Forschungsrichtungen in der Spracherwerbsforschung und erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Ihre Effektivität ist im Einzelfall im Kontext der Fragestellung und leitenden Theorie zu bewerten. Im Folgenden wird bei der Darstellung von Methoden innerhalb der Spracherwerbsforschung jeweils ein Schwerpunkt auf die Erforschung begrifflichen Wissens gelegt. Unterschieden wird in der Spracherwerbsforschung i. d. R. zwischen OnlineMethoden und Offline-Methoden. Bei Online-Methoden werden simultan während der Kommunikation oder Sprachverarbeitung die Daten erhoben. Die Erfassung prozeduraler Aspekte steht dabei im Vordergrund. Bei den Offline-Methoden geht es vor allem um die Ermittlung von repräsentationalen Aspekten, denn die Daten werden erst nach Beendigung der Sprachverarbeitungsprozesse erhoben (vgl. hierzu Rickheit/Weiss/Eikmeyer 2010). Einen guten Überblick über gängige Methoden – auch sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit – gibt Christina Kauschke (2012, 6) (zu weiteren Methoden vgl. z. B. Drenhaus 2010; Höhle 2010; Müller 2013; Wahn 2013; Schwarz 2008). Tab. 1: Übersicht über Methoden der Spracherwerbsforschung (aus: Kauschke 2012, 6) Befragungsverfahren
Beobachtungsverfahren Off-line
Experimentelle Verfahren On-line
– Checklisten, vor allem Vokabularchecklisten für Eltern – Beobachtungs- und Dokumentationsbögen für Erzieher/innen, Lehrer/innen oder andere Bezugs- und Erziehungspersonen
– Tagebuchstudien – Audio- und Videoaufnahmen kindlicher Spontansprache – Transkription und Archivierung von Spontansprachdaten – Elizitierte Sprachproduktion, z. B. Benennen, Antworten auf Fragen, Beschreiben von Bildern, Bildgeschichten, Vervollständigung von Sätzen
– Reaktionszeitmessungen – Untersuchung pränataler Sprachverarbeitung – Untersuchung des Saugverhaltens: high amplitude sucking – Untersuchung des Blick- oder Kopfdrehverhaltens: head turn preference und preferential looking – Untersuchung von Augenbewegungen: eye tracking – Untersuchungen von Gehirnaktivität: Ereigniskorrelierte Potentiale (EKP) – Bildgebende Verfahren: Funktionelle Magnetresonanztomographie (MRT) und Nahinfrarotspektroskopie (NIRS)
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Eine der ersten Methoden waren Tagebuchaufzeichnungen. Sie sind besonders bekannt geworden durch das Ehepaar Stern (1928), das die Sprachenwicklung ihrer drei Kinder dokumentiert hat. Durch die Aufzeichnungen der produzierten Wörter konnten und können z. B. Wortschatzlisten erstellt werden, die als Grundlage für Checklisten (vgl. 3.2.1) dienen. Moderne experimentelle Techniken (vgl. 3.2.3) haben gerade in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen und neurolinguistische Forschungen können eine bereichernde Ergänzung darstellen. Damit sind klassische Methoden jedoch nicht überflüssig geworden, sondern stellen eine Ergänzung dar und können in Beziehung zu anderen gesetzt werden. Die Sprachproduktion zu untersuchen, bereitet große Schwierigkeiten, da die Bedingungen für die Sprachproduktion schlechter zu beobachten sind als bei der Sprachrezeption, bei der meist ein sprachlicher Stimulus (Text o. Ä.) als Ausgangspunkt dient (vgl. Rickheit/Weiss/ Eikmeyer 2010, 23). Einige der Methoden verbinden deshalb auch Produktion und Perzeption, um so das begriffliche Wissen zu rekonstruieren. Im Folgenden sollen unter dem Fokus des begrifflichen Wissens zentrale Merkmale der drei Oberkategorien (siehe Tabelle 1) skizziert werden.
3.2 Darstellung einzelner Methoden 3.2.1 Befragungsmethoden Das Ziel von Fragebögen ist das frühzeitige Erkennen von Kindern, die von einer gezielten sprachlichen Unterstützung profitieren würden. Deshalb zielt jene Methode besonders auf die Befragung von Personen ab, die einen engen Kontakt zu dem Kind haben, wie z. B. Eltern, andere Bezugspersonen oder Erzieherinnen. Eltern bzw. Bezugspersonen sind fast immer an einer positiven Entwicklung ihrer Kinder interessiert. Im Gegensatz zu Vorsorgeuntersuchungen, bei denen Ärzte Kinder nur innerhalb einer kurzen Zeitspanne sehen, haben sie einen breiteren Einblick in die Fähigkeiten des Kindes. Checklisten z. B. über die produzierten Wörter oder grammatische Erscheinungsformen erleichtern es Eltern, einen zielgerichteten ‚diagnostischen‘ Blick zu entwickeln (vgl. z. B. „FRAKIS“ von Szagun/Stumper/Schramm. 2009 oder „ELFRA“ von Grimm/Doil 2006). Möglich ist es auch, die Eltern nach bestimmten Settings zu fragen, um die Interaktionen erschließen zu können. Oft werden die Bezugspersonen dann auch auf ihr sprachliches Verhalten aufmerksam und erfahren manches über die familiären kommunikativen Bedingungen. Was macht ein Kind, wenn es etwas sprachlich erreichen will? Werden seine Wünsche erfüllt, auch wenn es den Gegenstand nicht benennt, sondern schlicht auf ihn zeigt (z. B. das Nutella glas)? Oder ist es gezwungen, Sprache gezielt sprachlich einzusetzen und Begriffe bewusst abzurufen? Kauschke (2012, 8) zitiert Untersuchungen, nach denen es eine hohe Übereinstimmung zwischen Fragebogenergebnissen und Spontansprachdaten bei Kindern gibt, die von Fachleuten durchgeführt wurden, auch wenn gewisse Über-
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und Unterschätzungen in die Fähigkeiten des Kindes nicht auszuschließen sind. Die Fragebögen haben jedoch den Nachteil, dass sie auf einen bestimmten Wortschatz bzw. ein bestimmtes sprachliches Verhalten ausgerichtet sind, die im Kontext mit „Durchschnittswerten“ verglichen werden. Die Auswertung erfolgt zudem überwiegend quantitativ, d. h. die qualitativen Fähigkeiten des Kindes stehen nicht im Zentrum der Diagnose. Jene Befragungsmethoden bieten aber zugleich die Chance, mit Fachleuten ins Gespräch über die kindliche Sprache zu kommen – auch über die Bögen hinaus. Durch den ständigen Kontakt der befragten Bezugspersonen zu dem Kind kann die Aussagekraft als repräsentativ bezeichnet werden und das Kind kann sich natürlich verhalten. Da es sich um erste Daten handelt, auf denen aufgebaut wird, stehen sie am Anfang einer Diagnostik.
3.2.2 Beobachtungsverfahren off-line Einen ähnlichen Charakter haben Beobachtungsmethoden. Hierbei werden Videooder Tonaufnahmen von Kindern angefertigt. Unterschieden wird zwischen ‚freien‘ Situationen und elizitierten Verfahren, d. h. Settings, in denen gezielte sprachliche Anforderungen an das Kind gestellt werden. Zu ‚freien‘ Situationen werden meist das Spiel und Alltagssituationen gezählt. Diese werden in einem nächsten Schritt transkribiert. Bereits 1988 weist Hildegard Heidtmann ausführlich auf den Vorteil von Spontansprachproben in der sprachbehinderten-pädagogischen Diagnostik hin. Die Beobachtungssituationen sind natürliche, in denen nicht nur ein abgefragter sprachlicher ,Output‘ erhoben wird, sondern das Kind in seinen gesamten kommunikativen Fähigkeiten sichtbar wird. Aber auch dies ist nur ein Ausschnitt einer ‚erkannten Wirklichkeit‘, die zudem bei sporadischen Aufnahmen keine repräsentative Datendichte liefert. Je häufiger aber die Beobachtung und je unterschiedlicher die Settings, desto genauer wird der Einblick in die kindlichen Handlungsmöglichkeiten. Ohne Frage ist der Aufwand bei solchen qualitativen Methoden wesentlich größer als bei ‚abhakbaren‘ Wörterlisten. Gerade die Transkriptionen, wie sie in der qualitativen Sozialforschung bereits eine etablierte Methode sind (vgl. z. B. Deppermann 2008), können sehr aufwendig und zeitintensiv – wenngleich auch sehr ertragreich – sein. Für das begriffliche Wissen von Kindern hat Iris Füssenich (1987; vgl. auch Füssenich 2002) ein Diagnostikraster entwickelt. Auch jene Auswertung sollte qualitativ erfolgen. Mittels des Rasters kann das Problemlöseverhalten von Kindern beobachtet werden, denen lexikalisch-semantisches Wissen fehlt. Welche Strategien wenden die Kinder an? Weichen sie aus, vermeiden sie Situationen, schweigen sie, greifen sie auf Verständigungsmöglichkeiten aus der vorsprachlichen Kommunikation zurück? Im Hinblick auf schulische Kontexte wurde das Raster weiter ausgeführt (vgl. Osburg 2002) und bietet einen Überblick über Fähigkeiten, die Kinder nutzen, wenn sie Wörter nicht kennen. In Abgrenzung zu anderen Verfahren unterliegen jene einer
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kognitiv-konstruktivistischen Perspektive, d. h. sie haben explizit hypothesengeleiteten und förderdiagnostischen Charakter. In elizitierten Verfahren (vgl. ausführlicher Kauschke 2012) werden ebenfalls Video- oder Tonaufnahmen angefertigt. Auch hier sind die Ausgangssituationen spontansprachliche. Anders als bei den ‚freien‘ Sprachproben ist in diesem Setting aber ein Diagnostiker anwesend, der gezielte Impulse setzt, um bestimmte sprachliche Strukturen oder Begriffe ‚hervorzulocken‘. In einem Rollenspiel fragt der Verkäufer beispielsweise den Kunden (Kind), was er für Schuhe kaufen möchte. „Die Sonne scheine ja draußen und es sei so warm…“ Sagt das Kind „Sandale“? Wie reagiert es? Auch hier sind die Transkriptionen zeitaufwendig. Allerdings wird der geübte Diagnostiker aus zeitökonomischen Gründen nicht immer das gesamte Gespräch transkribieren, sondern nur einzelne Situationen analysieren, z. B. fragen, welche Unterbegriffe das Kind zum Oberbegriff Schuhe kennt oder benutzt. Ein zeitökonomisches Verfahren stellt hier das Bildbenennen dar. Da es aber ein höchst komplexer kognitiver Prozess ist, Begriffe zu konstruieren und zu versprachlichen, wird eine quantitative Auswertung den kindlichen Fähigkeiten nicht gerecht. Jene Verfahren haben eher den Charakter einer Selektionsdiagnostik und sind zudem ungenau, da davon ausgegangen wird, dass das Kind die Bilder im Sinne des Zeichners benennt. Soll das Verstehen von Kindern abgeprüft werden, so wird häufig auf Settings zurückgegriffen, in denen das Kind etwas zeigen soll. Auch hier kommen Bilder zum Einsatz, auch hier haben sie den Nachteil, nicht eindeutig zu sein. Christina Kauschke weist darauf hin, dass zusätzlich zum Zielbild semantisch relatierte oder phonologisch ähnliche Ablenker gezeigt werden (Beispiel: Maus – Ratte – Haus). Bei der Überprüfung des Satzverständnisses gibt ein Bild den Inhalt des Zielsatzes wieder, während die Ablenker einen Inhalt darstellen, der zu einem fehlinterpretierten Satz passen würde. (Kauschke 2012, 16)
Aber seien wir ehrlich: Welches (Vorschul-)Kind (oder auch welcher Erwachsene) kann auf einer, ggf. mittelmäßigen, Zeichnung eine Ratte von einer Maus unterscheiden?
3.2.3 Experimentelle Verfahren on-line In den letzten Jahrzehnten ist eine deutliche Zunahme an experimentellen Verfahren erkennbar, die sich mit Verarbeitungs- oder Reaktionszeiten des Gehirns befassen (vgl. Rickheit/Weiss/Eikmeyer 2010). Gemessen wird z. B. die Verarbeitung bzw. der Verarbeitungsaufwand sprachlicher Stimuli anhand der Reaktionszeit des Kindes/ Probanden (vgl. Kauschke 2012). Anhand dieser Daten können Rückschlüsse auf ‚dominante‘ Eintragungen im mentalen Lexikon gezogen werden, Rückschlüsse auf
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den Verarbeitungsaufwand an sich und auf jenen in Bezug auf bestimmte Begriffe. Zu erwarten ist, dass bei einem geringeren Arbeitsaufwand die Begriffe präsenter sind und schneller abgerufen werden können. Bereits in der pränatalen Phase können anhand von „Nuckelexperimenten“ oder Eye-tracking-Methoden Rückschlüsse auf die frühe Sprachwahrnehmung gezogen werden. Viele der Experimente sind in der frühen Kindheit noch nicht darauf ausgerichtet, das Sprachverstehen oder sogar die Produktion zu messen, sondern eher auf die Fähigkeit, Stimuli zu unterscheiden. Zur Überprüfung des semantischen Gehalts des Sprachstimulus bei älteren Kindern kann beispielsweise mit dem Blickpräferenzparadigma (Hirsh-Pasek/Golinkoff 1996) gearbeitet werden. Dem Kind wird ein Wort (z. B. Schuh) genannt und auf zwei Bildschirmen finden sich Bilder: Das Kind wird, wenn es das Wort kennt, länger auf den Bildschirm gucken, auf dem der Schuh abgebildet ist. Etwas detaillierter ist die Arbeit mit der Eye-tracking-Methode. Hierbei wird nicht nur die Verweildauer des Blickes gemessen, sondern zudem die Blickrichtung. Jene Methoden können insbesondere zur Rekonstruktion des Sprachverständnisses bei Kindern eingesetzt werden, die sich sprachlich, z. B. aufgrund von organischen, körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen, wenig artikulieren können. Aussagekräftig können sie auch bei sehr jungen Kindern sein, bei denen der Verdacht auf Beeinträchtigungen besteht und die sich, aufgrund ihres Alters oder ihrer Kognition, nur bedingt mitteilen können. Mittels des Eye-tracking-Geräts (in Ergänzung zu anderen Diagnostiken) wird derzeit eine Studie von André Zimpel (2013b) durchgeführt. Er zeigt, wie sich Menschen mit einer Trisomie 21 die Welt erschließen. Auch der sprachliche Bereich nimmt eine zentrale Rolle ein und hilft, die Bildungschancen von Menschen mit diesem Syndrom zu verbessern. Da bildgebende Verfahren selten in der Spracherwerbsforschung eingesetzt werden, soll an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen werden (vgl. dazu z. B. Kauschke 2012).
3.3 Auswertungen und Konsequenzen Aus der Vielfalt der dargestellten Methoden ist eine Vielfalt von Diagnostiken hervorgegangen. Einige, so wurde gezeigt, haben eher Screeningcharakter, andere bieten förderdiagnostische Ansätze. Auf eine interdisziplinäre Diagnostik sind die wenigsten ausgerichtet (vgl. von Knebel 2012). Je nach theoretischem Bezugspunkt (vgl. Kap. 2) und Fragestellung werden Verfahren zur Erfassung begrifflichen Wissens unterschiedlich eingesetzt. Gerade in sonderpädagogischen Kontexten, wie bei jungen Kindern mit starken Beeinträchtigungen, können experimentelle Verfahren, in denen Gehirnaktivitäten gemessen werden, höchst förderrelevant sein. Bei einem eher kognitiv-konstruktivistischen Ansatz beispielsweise bietet sich das Modell zum Problemlöseverhalten bei Kindern (vgl. Füssenich 2002; Osburg 2002)
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an. Hier geht es um die Rekonstruktion der Begriffe, um das Verstehen von kindlichen Handlungen. Dieses erfordert jedoch einen größeren Aufwand, da das sprachliche Handeln des Kindes, das Problemlöseverhalten, beobachtet und analysiert werden muss. Verfahren wie Bildbenennungen sind zeitlich wesentlich ökonomischer, geben aber keine Indizien auf das Sprachhandeln des Kindes und damit wenig förderdiagnostische Hinweise, die das Individuum betreffen. Erst unterschiedliche Methoden, wie z. B. Beobachtungsbögen für die Eltern, freie Sprachproben etc. in Kombination lassen ein Bild der sprachlichen Fähigkeiten entstehen, das dem Kind annähernd gerecht werden kann. Was bedeuten die Ausführungen für (schulische) Bildungsprozesse? Im Hinblick auf Bildungsprozesse können jene Ergebnisse über das kindliche begriffliche Wissen nur einen Hinweis auf Verstehensprozesse geben. Im Unterrichtsalltag sind Lehrende ständig gefordert zu versuchen, das individuelle Können im Kontext der individuellen Aufgabe zu sehen. Dies ist eine enorme Herausforderung. Dazu ein Beispiel: Die Lehrerin (Klasse 1) hat die Geschichte von der kleinen Raupe Nimmersatt vorgelesen. Die Kinder können nun Texte schreiben oder der Lehrerin ihre Texte diktieren – sie ist quasi die Skriptorin (vgl. Merklinger 2012). Beispiel 3: Transkript: C. Osburg, Januar 2013, Klasse 1. Lehrerin: „Ihr habt jetzt die Geschichte von der kleinen Raupe Nimmersatt gehört. Ich habe hier Blätter vorbereitet, auf denen ihr verschiedene Bilder findet. Auf dem ersten ist die Raupe abgebildet. Auf dem zweiten all jene Sachen, durch die sie sich durchfrisst. Auf dem dritten seht ihr die Raupe, wie sie in ihrem Kokon liegt. Ich möchte, dass ihr euch jetzt ein Blatt nehmt und darauf schreibt, was euch wichtig ist. Und wer nicht selbst schreiben möchte, der kann uns seinen Text diktieren.“ Sie verweist auf drei Praktikanten, die in der Klasse sind. Lena beginnt heftig zu weinen.
Was ist passiert? Die Kinder haben eng auf dem Fußboden zusammen gesessen. Hat Marco Lena einen ‚Seitenhieb‘ verpasst? Es wäre nicht das erste Mal. Die Lehrerin fragt nach, sie erfährt aber von Lena nicht den Grund ihres Weinens. Erst danach wird ihr das Problem deutlich: Lena weiß nicht, was diktieren ist. Den anderen Kindern war das Wort aus der letzten Stunde bekannt. Lena hatte gefehlt. Jenes Unwissen darüber, was gleich passieren wird, löst bei Lena Ängste aus. Da Lena Schrift noch nicht als Medium entdeckt hat, um Gedanken zu fixieren, bietet die Lehrerin Lena förmlich an, ihre Skriptorin zu sein. Lena zeigt sich durchaus interessiert an dem, was die anderen machen – aber sie selbst braucht noch zwei weitere Stunden, ehe sie sich zutraut, der Lehrerin auch einen Text zu diktieren. Situationen wie diese machen eins deutlich: Wenn es um Lernprozesse geht, reicht es nicht aus zu wissen, ob ein Kind einen ‚Durchschnittswortschatz‘ kennt. Sowohl die Lehrersprache als auch die Bildungssprache in den Schulbüchern stellen immer wieder Herausforderungen für Lernende dar. Jonas, der auf einem Bauernhof lebt und der ohne Probleme eine Maus von einer Ratte und einen Orkan von einem Sturm unterscheiden kann, muss noch lange nicht wissen, was ein Hochdruckgebiet,
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ein Torfmoor oder ein Kranichflug ist, wie es z. B. in Sprachbüchern der Grundschule vorausgesetzt wird, wenn man Texte verstehen will.
4 Begriffliches Wissen im Kontext von Bildungsprozessen 4.1 Charakteristika der Bildungssprache Wenn Kinder in die Schule kommen, sind die meisten in ihrer Sprache versiert. Sie können sich in alltäglichen Situationen gut verständigen, sich mitteilen und Ziele sprachlich erreichen. Sie reden, ‚wie ihnen der Schnabel gewachsen ist‘, wie sie es in ihrer Familie oder ihrer Umgebung gewohnt sind. Die Umwelt des Kindes, wie der Kindergarten oder Spielplatz, hat ebenfalls Einfluss auf die Sprache der Kinder. Kinder, in deren Familie wenig Deutsch gesprochen wird, profitieren hiervon besonders. In der Schule muss die individuelle Sprache der Kinder erweitert werden, nämlich um die spezifische Sprache des Unterrichts. Das ist einer der Bildungsaufträge von Schule. Ein bedeutsamer Unterschied zwischen der spezifischen Form des Sprechens im Unterricht und den Verständigungsformen alltäglicher Kommunikation besteht vor allem darin, dass erstere ‚dekontextualisiert‘ ist. Die Wörter sind nicht aus dem Kontext von Situation und Handlung verständlich, auf diesen Kontext bezogen, sondern sie erzeugen ihren Zusammenhang selbst, so wie das in der Schrift beim Schreiben notwendig ist. Das betrifft also die Art, wie Beziehungen hergestellt, wie auf Personen, Ort und Zeit verwiesen wird. Das betrifft vor allem den Satzbau: Komplexe Satzformen kennzeichnen Zweck, Grund, Ursache, zeitliche Abfolgen. Und es betrifft den Wortschatz; in der Schule gehören vor allem Fachbegriffe dazu und das Vokabular der Standardsprache. (Dehn/ Oomen-Welke/Osburg 2012, 118; vgl. auch Gogolin/Lange 2011; vgl. auch Freie und Hansestadt Hamburg 2011)
Die Bildungssprache ist an den Regeln des Schriftsprachgebrauchs orientiert (vgl. Gogolin/Lange 2011, 111; vgl. auch Gogolin in diesem Handbuch). Mechthild Dehn bezeichnet die Bildungssprache auch als „schriftförmige Rede“ (Dehn 2010, 129). Sie unterscheidet in Anlehnung an Koch/Oesterreicher (1994) zwischen dem Medium (mündlich – schriftlich) und der Konzeption der Sprache und sieht die Sprache des Unterrichts im Medium des Geschriebenen sowie des Gesprochenen als konzeptionell eher schriftlich (vgl. Dehn 2010, 129). Somit trägt die Bildungssprache die Kennzeichen der konzeptionellen Schriftlichkeit:
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Die Kommunikationsbedingungen sind nicht privat, sondern auf Objektivität und Reflexion gerichtet. Die Versprachlichungsstrategien sind auf Kompaktheit, Informationsdichte, Elaboriertheit hin orientiert, die Sachverhalte werden nicht parataktisch (reihend) dargestellt, sondern hypotaktisch (unterordnend). (Dehn 2010, 138)
Petra Hüttis-Graff betont besonders die linguistische Explizitheit der komplexen Satzstrukturen, die vielfältigen Konjunktionen, die Passivkonstruktionen, die unpersönlichen Ausdrücke, den Konjunktiv, die Substantivierungen, die Fachbegriffe und Komposita (Hüttis-Graff 2010, 249). Besonders relevant für die Begriffsbildung sind die lexikalisch-semantischen Merkmale der Bildungssprache (vgl. Gogolin/Lange 2011). Sie besitzt differenzierende und abstrahierende Ausdrücke (z. B. hinaufsteigen statt nach oben gehen); sie besitzt Präfixverben, darunter viele mit untrennbarem Präfix und mit Reflexivpronomen (z. B. erhitzen, sich entfalten, sich beziehen), nominale Zusammensetzungen (z. B. Drehbuch), normierte Fachbegriffe (z. B. rechtwinklig, Dreisatz) (vgl. Gogolin/Lange 2011, 214). Jene Bildungssprache ist nicht nur Teil des Unterrichts, sondern bereitet auch auf die Teilhabe am Leben, im Beruf, in der Öffentlichkeit vor. Schülerinnen und Schüler müssen lernen, in der Schule ‚schulisch‘ zu sprechen (vgl. Hüttis-Graff 2010, 242).
4.2 Bildungssprache und begriffliches Wissen Die Sprachwelt des kindlichen Alltags wird von den Lehrenden aufgegriffen gerade für Schulanfänger ist dieses zentral. Dennoch gibt es Probleme: Der Lehrende kennt die Alltagssprache der Kinder nur bedingt. Das mentale Lexikon, dominante Repräsentationen oder individuelle Begriffe kann er sich nur mühsam erschließen. Und es gibt keine Diagnostiken, die jenes widerspiegeln könnten, nicht zuletzt wegen der ständigen Erweiterung begrifflichen Wissens. Zudem hat der Lehrende sich seine eigene Sprache generiert – häufig eine Mischung aus Bildungssprache und Alltagssprache. Zwischen jenen kann und sollte er ‚switchen‘ aber die Formen nicht zu vermischen, das ist unmöglich. Beide sind Teil der biografischen Erfahrungen. Erhöhte Achtsamkeit, nämlich Verständnisschwierigkeiten aufmerksam und behutsam zu begegnen, ist gefordert. Manchen Lehrenden, denen das Switchen nur bedingt gelingt, wird im Alltag nachgesagt, sie würden typisch ‚wie eine (Grundschul-)Lehrerin‘ reden. Aber auch in der Schule führt jene vermeintlich einfache Sprache zu Verständnisproblemen. Da müssen Bücher aufgeschlagen werden („Nein, nicht auf den Tisch schlagen!“), Maren muss warten, bis sie sich äußern kann, dabei wollte sie doch nur kurz was sagen und Simon muss erfassen, was die erste Aufgabe auf Seite sieben ist (vgl. Dehn/OomenWelke/Osburg 2012, 114 ff.). Ein weiteres Problem kommt hinzu: Schulische Materialien, wie Fibeln oder Sprachbücher, sind an der Bildungssprache orientiert. Kennen Kinder einen Rechen (Tobi-Fibel) oder ist es bei ihnen eine Harke? Wenn ein Orkan
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kommt, ist das eine Person oder ein Sturm (Karibu). Und sausen (vgl. Karibu) Kinder oder laufen sie? Erstlesewerke haben eine besondere Schwierigkeit: Da die Anzahl der bekannten Grapheme erst sukzessiv zunimmt, kann dort nur eine begrenzte Anzahl an Wörtern auftauchen. Wenn das noch nicht eingeführt wurde, muss mit einem Rechen geharkt werden. Und aufgrund der kurzen Sätze und wenigen Wörter in Erstlesewerken bietet der Kontext den Lernenden kaum Möglichkeiten, Inhalte zu erschließen. In guten Unterrichtswerken nimmt hier das Bild eine besondere Funktion ein. Aber auch hier kann der Lernende nur das bezeichnen und erkennen, was er ‚kennt‘, d. h. an vorhandene Begriffe assimilieren kann. Kinder, denen viel vorgelesen wurde, die zu Hause mehr als mündliche Alltagssprache kennengelernt haben, kommen mit einem Wissensvorsprung in die Schule (vgl. Bos u. a. 2012). Die Bildungssprache dominiert in der Schule, nicht aber im mentalen Lexikon der Schülerinnen und Schüler. Für sie gilt es somit zum einen, die Bildungssprache im Unterricht zu verstehen, und zum anderen, sie anzuwenden. Denn der Schulerfolg ist an das Beherrschen der Bildungssprache gebunden und von ihr abhängig. Bildungssprache ist Lerngegenstand und Lernziel zugleich – eine Hürde für viele Kinder und eine besondere Herausforderung für Lehrende. Der bildungssprachliche Anspruch an die Kinder wird im Unterricht jedoch häufig nicht explizit gemacht. Er ist lediglich implizit in der Art und Weise der Kommunikation enthalten. Manchen Kindern fällt es daher schwer, diese impliziten Anforderungen zu erkennen. Die sprachlichen Fähigkeiten aber sind es, die für den Schulerfolg essenziell sind. Die Alltagssprache reicht im schulischen Kontext für das Erfüllen der Anforderungen nicht aus und je weiter eine Bildungsbiographie fortschreitet, umso mehr wird Bildungssprache verwendet und gefordert (vgl. Gogolin/Lange 2011). Kinder, die sich Bildungsinhalte nicht über Sprache erschließen können, suchen sich Auswege, sie suchen alternative Handlungen, Ausweichstrategien. Diese können von Schweigen, häufiges Kranksein, Kopfschmerzen haben über „Stören“, „Schlagen“ gehen – je nachdem, mit welcher Strategie sie Erfolg haben, die Situation für sich viabel (vgl. von Glasersfeld 1997), also passend zu meistern. Zu einem Zuwachs an Bildungssprache führen diese Strategien nicht. Wird Bildungssprache vorausgesetzt, so werden viele Kinder scheitern, denn die Bildungssprache betrifft nicht nur den sprachlichen Unterricht: Alle Schulfächer sind vom Medium Sprache abhängig (vgl. Speck-Hamdan 2010).
4.3 Erweiterung des Wortschatzes und Bildungsprozesse in der Schule Wenn das begriffliche Wissen und somit auch die Bildungssprache eine derart dominante Rolle einnehmen, stellen sich mindestens zwei Fragen: Eignen sich die derzeit gängigen Diagnostiken, um genügend Handlungsmöglichkeiten für schulisches Handeln ableiten zu können? Und: Wie können Kinder angemessen gefördert werden?
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Heiner Willenberg (2007) und Kerstin Alber (2014) sprechen vom „vergessenen Wortschatz“: Trotz der Dringlichkeit komme der Wortschatzförderung in der Schule nur eine untergeordnete Stellung zu. Oder verhält es sich nicht vielmehr so, dass den Kindern genug Angebote zur Wortschatzförderung gemacht werden, jedoch nur unzureichende Konzepte zur Theoriebildung und auch nur sehr wenige Diagnostiken vorliegen, die förderorientiert sind? Können deshalb nur wenige Ableitungen für eine effiziente Förderung getroffen werden? Kerstin Alber (2014, 27) nennt drei weitere zentrale Gründe, die eine Wortschatzerweiterung erschweren: Erstens ist der enorme quantitative Umfang des Wortschatzes sein Alleinstellungsmerkmal. Zweitens sind die Aneignungsprozesse, anders als im morphologisch-syntaktischen Bereich, nicht regelbasiert, sondern werden den itembasierten zugeordnet (vgl. auch Schulz/ Tracy 2011). Drittens erfordert der Aneignungsprozess viele Wiederholungen, sodass Erfolge sich langfristig schwieriger einstellen können. Viertens, so kann nach einem begriffsorientierten Ansatz hinzugefügt werden, ist die Rekonstruktion der kindlichen Begriffe eine Herausforderung und die Berücksichtigung jener (u. a. aufgrund der eigenen Sprachbiografie) eine weitere. Diagnostiken, die nach bekannten Wörtern fragen, haben für schulische Prozesse damit nur bedingt eine förderdiagnostische Relevanz. Wenn man weiß, dass Kinder über wenige Begriffe verfügen, kaum Begriffe der Bildungssprache kennen, so weiß man durch die Verwendung von Diagnostiken dennoch nur bruchstückhaft, wie die Kinder ‚diagnostikbasiert‘ zu fördern sind. Sie geben keinen Aufschluss darüber, dass Ahmet Nachbar nicht im Sinne des Lehrers aktiviert. Was also ist zu tun? Die Diagnostiken zu verbessern, wäre eine zentrale Konsequenz. Die Schwierigkeit der Konzeption sinnvoller Diagnostiken wurde aufgezeigt. Da es nicht möglich sein wird, individuelle Begriffsnetze sichtbar zu machen, kann es immer nur um Rekonstruktionen gehen. In Anlehnung an kognitiv-konstruktivistische Theorien entdeckt jedes Kind nicht eine vorgegebene Welt, sondern erschafft sich seine eigene (vgl. Maturana 1997, 206). Das betrifft auch die sprachliche Ebene. Veränderungen der Kinder entstehen zwar durch die Begegnung mit dem Umfeld, dem Medium, wie Humberto Maturana es nennt, bzw. durch die Reaktion darauf, jedoch auch durch die „interne Dynamik“ (Maturana 1997, 207). Die Sprache oder das Sprachhandeln bezeichnet er als einen „Strom der rekursiven Koordinationen von Verhaltensweisen“ (Maturana 1997, 208), die sich in Interaktion mit anderen Menschen vollziehen. Das heißt, Menschen denken, handeln, fühlen und leben damit zwar in ihrer Sprache, aber auch in dem Fluss der Kommunikation. Auch die Kinder in der Schule haben daher ihre eigene, individuelle Sprache und manchen fällt es leicht, sich im Strom zu halten – anderen eher schwer. Lehrkräfte können nicht davon ausgehen, dass alle Schüler die Äußerungen und Texte auf die gleiche Weise verstehen und denselben Begriff bzw. dieselbe Vorstellung von einer Sache haben. Das trifft auf alltagssprachliche Elemente, vor allem aber auch auf bildungssprachliche Elemente zu, da hier die Bedeutung teilweise noch konstruiert wird. Humberto Maturana bemängelt, dass die Lehrkräfte der Intel-
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ligenz der Kinder oft nicht trauen und ihnen kein Gehör und Vertrauen schenken (vgl. Maturana 1997, 223). Jedes Kind hat einen Grund bzw. einen Gedanken, warum es Dinge äußert. Eine Verständnisschwierigkeit entsteht nicht durch einen Mangel an Intelligenz, sondern durch einen für das Kind logischen Gedanken, der nicht unbedingt passend mit dem Gedanken und Begriff der Lehrperson ist. Humberto Maturana schlägt vor, dass Lehrkräfte ihre Schüler „[…] in ihrer eigenen Legitimität annehmen [sollen], auch wenn [sie] […] nicht ihrer Meinung sind“ (Maturana 1997, 222), und dies ohne Forderungen zu stellen und Druck zu erzeugen. Sie sollen zwar Fehler korrigieren, sie jedoch nicht negieren, „[…] sondern dazu einladen, bewusst in vollkommener Offenheit nachzudenken“ (Maturana 1997, 223). In einem Unterricht, der inklusive Ziele verfolgt, sollte ein offener Umgang mit Sprache herrschen. In einem solchen Unterricht ist es möglich, Fragen zu stellen und Wertschätzung für die eigenen Gedanken über Sprache zu erhalten (vgl. Rehfeldt 2013; Gogolin/Lange 2011). Kindliche Begriffe sollten akzeptiert, thematisiert und ausgehandelt werden. Der Lehrende hat die Aufgabe, jenes Wissen über die kindlichen Begriffe im Unterricht zu berücksichtigen – häufig kann eine fachkompetente sonderpädagogische Unterstützung sinnvoll sein. In diesem Rahmen können im Folgenden die Impulse nur angedeutet werden (vgl. auch ausführlich Oomen-Welke 2007; Osburg 2002; 2011; Kilian 2011b; 2011c; Markmann 2013; Rehfeldt 2013; Steinhoff 2013).
4.4 Ein didaktischer Ausblick als Schlussbetrachtung In der Forschung gibt es diverse Förderansätze, durch die Kinder in ihrem semantischen Wissen unterstützt werden können. Analog zu der hier ausgeführten Theorie werden folgende Ansätze als zentral betrachtet: Der dialogorientierte Ansatz nach Iris Füssenich (1987; 2002), das „Netze-Knüpfen“ nach Christian Glück (1998), der semantisch-konzeptuell ausgerichtete Ansatz von Barbara Zollinger (1995; 1998; 2000), die „kritische Wortschatzarbeit“ von Jörg Kilian (2011b; 2011c), die „beiläufige“ Wortschatzerweiterung und -vertiefung von Marianne Polz (2011) und der handlungsorientierte Ansatz von Irina Weigl und Marianne Reddemann-Tschaikner (2002) sind exemplarisch ausgewählte zentrale Ansätze. Charakteristisch für die Ansätze ist, dass das Kind im Mittelpunkt steht – im Kontext seiner sprachlichen Fähigkeiten. Als Ausgangspunkt dienen deshalb die individuellen Erkenntnisstrukturen und die Förderungen zielen nicht nur auf den Erwerb semantischen Wissens ab, sondern haben übergreifende Ziele, wie z. B. die Stärkung des Problemlöseverhaltens oder „Lernstrategien“. Die Sensibilität der Lehrenden, die Achtsamkeit vor der individuellen kindlichen Sprache und eine Didaktik, in der kein Kind aufgrund seines Sprachcodes beschämt werden muss, sind die zentralen Momente für eine Passung von Sprache und Bildung. Erst geht es um die Klärung der Gedanken, dann um die der Sachen und zuletzt um die Klärung der Sprache (vgl. Osburg 2014). Aufgrund der bildungssprachlichen Anfor-
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derungen und der Vorstellung, dass jedes Kind seine eigene Sprache und eigenen Begriffe konstruiert, sollte sich eine Lehrkraft daher auch bei der Unterrichtsplanung fragen, was die Schüler in den Unterrichtsmaterialien verstehen und wo Schwierigkeiten auftreten könnten. Kann ein Kind aus den Graphemen , , , ein sinnvolles Wort legen, wenn es nicht weiß, was ein Mast ist? Nein, das kann das Kind nicht. Aber es gibt vielfältige didaktische Hilfen: Hier könnten Lösungen in Form von Wörtern und Bildern vorgegeben werden, die es zuzuordnen gilt. Auch das wäre kein Garant für Lösungen, wohl aber eine Unterstützung auf der ikonischen Ebene. Wenn das mentale Lexikon sehr umfangreich ist und in einer konkreten Situation meist der dominante Begriff abgerufen wird, dann haben Kinder mehr Möglichkeiten für Bezeichnungen als sie ausschöpfen. Deshalb sollten immer mehrere alternative Bezeichnungen und Beschreibungen angeboten werden, um durch häufigen Wortartengebrauch das expressive Vokabular zu erweitern (vgl. ausführlich Osburg 2002; vgl. auch Pomnitz/Rupp 2012). Bei der Betrachtung dieser komplexen Prozesse wird klar, dass sich die semantisch-lexikalische Entwicklung in keiner Phase auf ein bloßes Lernen von Namen für Sachen reduzieren lässt, wie es noch immer in der Praxis zu beobachten ist. Wenn Begriffe vielmehr aus dem Zusammenwirken externer, kognitiver und sprachimmanenter Einflüssen resultieren, bei denen einzelsprachliche, kulturelle und soziale Einflüsse eine wichtige Rolle spielen, dann gilt es, im Unterricht jene Kulturen und Einflüsse zu thematisieren und einzubeziehen. Die Lehrperson sollte den Versuch unternehmen, die Materialien aus der Sicht des Kindes zu betrachten und das kindliche Verständnis bzw. seine sprachlichen Fähigkeiten in die Planung und den Unterricht einzubeziehen. Hier wäre Forschung wünschenswert, durch die Lehrende bei jenen anspruchsvollen Aufgaben unterstützt werden. So kann Wissenserwerb im Kontext der kindlichen begrifflichen Strukturen optimal angeregt werden.
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Eveline Wuttke/Jürgen Seifried
16. Formen, Funktionen und Effekte sprachlicher Instruktion und Interaktion am Beispiel von Fragen und Feedback Abstract: Obwohl schulische Lernprozesse in hohem Maße von Kommunikationsund Interaktionsprozessen bestimmt sind, findet man dazu immer noch eher wenige Studien. Das gilt insbesondere für den Bereich der beruflichen Bildung. Bisherige Studien berichten heterogene Befunde zu Kommunikationsmustern, der Zuweisung von Lernchancen und Effekten von Kommunikation. Dessen ungeachtet herrscht Übereinstimmung, dass Lehrpersonen meist zu viel sprechen, Schülerinnen und Schüler zu selten die Chance zu Redebeiträgen erhalten und Lehrpersonen in sehr unterschiedlichem Maß mit Lernenden bzw. Gruppen von Lernenden kommunizieren und damit unterschiedliche Lernchancen zuweisen. Darüber hinaus lässt auch die Qualität der Lehrerbeiträge oft zu wünschen übrig. Insbesondere elaborierte Fragen und lernförderliches Feedback fehlen, was potentiell negative Auswirkungen auf Lernergebnisse mit sich bringt. Aber auch dazu sind die bisherigen Befunde nicht eindeutig. Um die Frage zu beantworten, ob und unter welchen Umständen Unterrichtskommunikation Lernchancen zuweist und den Lernerfolg beeinflusst, sind weitere und differenziertere Studien erforderlich. 1 2 3
Sprachliche Instruktion und sprachliche Interaktion im Unterricht Methoden zur Analyse von sprachlicher Interaktion im Unterricht Redeanteile und Verteilungen von Schüler- und Lehrerbeiträgen im Unterricht: Wie erfolgt die Zuweisung von Lernchancen? 4 Ausgewählte Formen, Funktionen und Effekte von Unterrichtsinteraktion und sprachlicher Instruktion 5 Diskussion und Ausblick 6 Literatur
1 Sprachliche Instruktion und sprachliche Interaktion im Unterricht Der überwiegende Teil von Lernprozessen ist – mehr oder weniger ausgeprägt – von (gesprochener und geschriebener) Sprache bestimmt. Das gilt insbesondere für institutionalisierte Lernprozesse, also auch für schulischen Unterricht, der zu jenen sozialen Konstellationen zählt, die in besonderem Maße durch Interaktion und Kommunikation geprägt sind (Cazden 1988; Wuttke 2005). Ungeachtet dessen lassen sich
Formen, Funktionen und Effekte sprachlicher Instruktion
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nach wie vor Forschungslücken ausmachen. Dies gilt insbesondere für die berufliche Bildung und für Lernprozesse Erwachsener (z. B. am Arbeitsplatz). Studien, die Interaktionsprozesse analysieren, sind vornehmlich in der Grundschule (z. B. Wegerif/ Mercer 2000; Elbers/Streefland 2000) und/oder in mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern angesiedelt (z. B. Sumfleth/Pitton 1998; van Boxtel/van der Linden/ Kanselaar 2000). Kommunikationsanalysen haben sich zudem lange Zeit auf die Untersuchung von Lehrersprache konzentriert (vgl. Vogt, Art. 27 in diesem Band). Dies greift jedoch zu kurz, insbesondere dann, wenn man an E-Learning oder schülerzentrierte Lehr-Lern-Arrangements denkt. Analysen folgen damit der Vorstellung von Instruktion durch die Lehrkraft und damit auch den gängigen Kommunikationsmustern in überwiegend lehrerzentriertem Unterricht, in dem die Lehrperson, in Form von Vorträgen oder Fragen, die Kommunikation steuert und gestaltet (Sumfleth/ Pitton 1998; Dillon 1990, 7 ff.; West/Pearson 1994; Niegemann/Stadler 2001). Dort findet man auch die typischen IRE-Muster (Invitation by the teacher, Response by the pupil, Evaluation by the teacher), die 1979 erstmals von Mehan beschrieben und seither als vorherrschendes Muster von Unterrichtskommunikation immer wieder bestätigt wurden. Mit Blick auf konstruktivistische Vorstellungen von Lehren und Lernen geht es aber (auch) um die Eigenaktivitäten der Lernenden, die (in Gruppen) während des Lernens Kenntnisse und Fragen externalisieren sowie mittels Interaktionsprozessen Wissen aufbauen (sollen). Vor diesem Hintergrund erscheint es als von zentralem Interesse, bei Kommunikationsanalysen das Augenmerk stärker auf die Aktivitäten der Lernenden zu richten (wenn sich diese denn beobachten lassen). Der vorliegende Beitrag ist nach dem Prinzip einer zunehmenden Konkretisierung des Inhalts und Zugangs zu Unterrichtssprache organisiert. Einleitend werden die grundsätzlich vorhandenen Analyse- und Zugangsmethoden zu Unterrichtssprache skizziert (Abschnitt 2). Der dritte Abschnitt beleuchtet Redeanteile von Lehrenden und Lernenden und nimmt dabei auch den Instruktionsbegriff kritisch in den Blick. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage aufgeworfen, wie durch Redeanteile Lern- und Bildungschancen zugewiesen werden. Im vierten Abschnitt werden ausgewählte Formen von Unterrichtsinteraktion (Lehrer- und Schülerfragen sowie Feedback) und deren Funktionen und Effekte diskutiert sowie durch Befunde untermauert. Die Frage, inwieweit man vor dem Hintergrund der dargestellten Befunde davon ausgehen kann, dass durch Unterrichtsinteraktion Lern- und Bildungschancen eröffnet werden, wird abschließend in Abschnitt fünf diskutiert.
2 Methoden zur Analyse von sprachlicher Interaktion im Unterricht Zur Systematisierung der Analysemethoden von Unterrichtssprache lassen sich (mindestens) zwei Ordnungskriterien heranziehen. Aus einer analytischen Perspektive
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ist zum einen zwischen quantitativen und qualitativen Methoden zu unterscheiden. Zum anderen lassen sich Kommunikationsformen und entsprechende Analysen nach (unterrichts-)methodischen Grundentscheidungen und den sich dadurch ergebenden Implikationen für die Steuerung der Kommunikation im Klassenzimmer ordnen. – Quantitative vs. qualitative Methoden Quantitative Methoden (Mercer 2010) nutzen Kodierschemata zur Datenreduktion transkribierter Sprachproduktionen, die meist aus systematischer Unterrichtsbeobachtung (bzw. videografiertem Unterricht) stammen (z. B. Bales 1950; Underwood/Underwood 1999; Wuttke 2005). Neu und zunehmend üblich ist die Nutzung computerbasierter Textanalysen, um z. B. Häufigkeiten bestimmter Begriffe oder Sprachmuster zu analysieren (z. B. Mercer 2000). Durch Fortschritte in der Automatisierung der Datenanalyse werden so auch größere Datenmengen resp. Stichproben einer Analyse zugänglich. Mittels qualitativer Methoden (Mercer 2010) lassen sich Art, Muster und Qualität gesprochener Interaktion untersuchen. Hierzu zählen u. a. ethnografische Analysen (z. B. Hammersley 1982; Woods 1983; Maybin 2006), soziolinguistische Diskursanalysen (z. B. Sinclair/Coulthard 1975; Hicks 1996; Gee/Green 1998) sowie Konversationsanalysen (z. B. Garfinkel 1967; Drew/Heritage 1992, Stokoe 2000). In diesem Rahmen werden kleinere Datensätze im Detail analysiert. Beide Ansätze sind naturgemäß mit jeweils spezifischen Vor- und Nachteilen verbunden. Mixed methods kombinieren daher folgerichtig quantitative und qualitative Methoden und gewinnen an Bedeutung (für eine Übersicht der Zugänge sowie deren Vor- und Nachteile siehe Mercer 2010). – Orientierung an methodischen unterrichtlichen Grundentscheidungen Methodische unterrichtliche Grundentscheidungen schlagen sich – grob gesprochen – in der Gestaltung eher lehrer- oder eher schülerzentrierter LehrLern-Arrangements nieder (vgl. die ähnlich gelagerte Unterscheidung zwischen Fremd- und Selbststeuerung der Lehr-Lernprozesse). Als lehrerzentriert bzw. -gesteuert gelten insbesondere solche Arrangements, in denen Lehrervorträge oder von der Lehrkraft gesteuerte fragend-entwickelnde Sequenzen (meist nach IRE-Muster, s. o.) dominieren. Als lernerzentriert bzw. -gesteuert wäre ein Unterricht zu kennzeichnen, in dem Lernende ihren Lernprozess selbst gestalten und untereinander inhaltsbezogen kommunizieren. Hier nehmen Lehrpersonen stärker lernunterstützende Funktionen wahr, und Schülerbeiträge sind häufiger und ggfs. in anderen Qualitätsausprägungen als bei der lehrerzentrierten Variante vorzufinden (vgl. Tabelle 1; siehe auch Wuttke/Seifried 2010; ausführlich Wuttke 2005). Damit eröffnet sich grundsätzlich auch ein Plus an Lernchancen, z. B. im Sinne von Vygotskys soziokultureller Theorie (1978) über (sprachliches) peer scaffolding.
Formen, Funktionen und Effekte sprachlicher Instruktion
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Schüler-SchülerKommunikation
Lehrer-SchülerKommunikation
Tab. 1: Kommunikation in Abhängigkeit von der methodischen Ausrichtung (Wuttke/Seifried 2010) – die fettgedruckten Kommunikationsformen werden in Kapitel 4 weiter ausgeführt Lehrerzentriert
Schülerzentriert
Beiträge der Lehrperson: – Vortragen, Erklären, Fragen – Antworten, Zusammenfassungen, Feedback – Anweisungen, Ermahnungen
Beiträge der Lehrperson: – Einführung, Anweisung, Organisation – Interventionen bei Gruppenarbeitsphasen – Systematisieren von Gruppenergebnissen, Zusammenfassen, Feedback
Beiträge der Lernenden: – Fragen (meist niederer Ordnung) – Antworten auf Lehrerfragen
Beiträge der Lernenden: – Fragen (auch höherer Ordnung) – Inhaltliche Fragen (‚echte‘ Fragen) – Auch hierarchiefreie Lehrer-SchülerDiskussionen
– In lehrerzentriertem Unterricht ist Schüler-Schüler-Kommunikation i. d. R. nicht vorgesehen und beschränkt sich auf sogenannte ‚Neben-engagements‘ wie Schwätzen (aufgabenirrelevante Kommunikation).
– Echte inhaltliche Fragen – Antworten auf echte Fragen – Erklärungen – Zusammenfassungen – Anweisungen – Peer-Feedback – Beiträge in kritischen Diskussionen
Systeme zur Erfassung und Analyse von Unterrichtskommunikation sind auf die jeweilige methodische Grundentscheidung abzustimmen bzw. vor deren Hintergrund zu konzipieren. Während in lehrerzentrierten Arrangements Analysen fast ausschließlich auf Lehrersprache konzentriert sind – kennzeichnend dafür sind z. B. Analysesysteme wie das von Sinclair/Coulthard (1975) und die Interaktionsanalyse nach Flanders (1970), berücksichtigen Kategoriensysteme für schülerzentrierte Arrangements sowohl Schüler- als auch Lehreräußerungen.
3 Redeanteile und Verteilungen von Schüler- und Lehrerbeiträgen im Unterricht: Wie erfolgt die Zuweisung von Lernchancen? Bevor Kommunikationsprozesse unterschiedlicher Qualitäten in den Blickpunkt rücken, sind in einem vorgelagerten Schritt zunächst die Verhältnisse aus einer quantitativen Perspektive von Interesse (z. B. in Bezug auf Unterschiede zwischen Lehrenden und Lernenden oder zwischen verschiedenen unterrichtsmethodischen Grundentscheidungen). Damit werden auch herkömmliche Instruktionsmuster (z. B.
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Seifried 2009) kritisch beleuchtet, denn die häufig vorfindbare Engführung der Unterrichtskommunikation zieht fast zwangsläufig einen hohen Redeanteil der Lehrperson mit entsprechenden Asymmetrien nach sich. Eine Reihe von Studien belegt das Missverhältnis zwischen den Gesprächsanteilen von Lehrpersonen auf der einen und Lernenden auf der anderen Seite eindrücklich (z. B. Bellack u. a. 1966; Sumfleth/Pitton 1998; Seidel 2003; Wuttke 2005; Helmke u. a. 2007; Lipowsky u. a. 2007; Liu/Zhu 2012). Interessanterweise sind sich Lehrkräfte dieses Missverhältnisses offenbar nur bedingt bewusst, denn sie tendieren dazu, ihre Sprechzeit deutlich zu unterschätzen (Helmke u. a. 2007). Im Mathematikunterricht, in Physik und auch im Rechnungswesen findet man häufig eine besondere Engführung des Unterrichts mit entsprechender (auch sprachlicher) Dominanz von Lehrpersonen (Lipowsky u. a. 2007; Seidel 2003; Seifried 2009): Lehrkräfte neigen hier dazu, eigentlich komplexe Problemstellungen auf wenige relevante Aspekte zu reduzieren und damit das kognitive Niveau des Unterrichts zu senken. Dies ist insbesondere dann zu beobachten, wenn von Lernenden erwartete Antworten (zunächst) ausbleiben (siehe z. B. Bauersfeld 2000; Klieme/Schümer/Knoll 2001). Entsprechende Interaktionsmuster führen in der Regel dazu, dass Lernende in Stichworten antworten und Lehrpersonen auf Schülerantworten, die in unerwartete Richtungen gehen, nicht oder nicht ausführlich genug eingehen. Bei einer falschen Antwort wird die Frage an den nächsten Schüler weitergegeben, in der Hoffnung, dann eine ‚richtige‘ Schülerantwort zu erhalten (siehe hierzu die „Ground Rules“ der Unterrichtskommunikation von Edwards/Mercer 1987). Schüler, die die erste ‚falsche‘ Antwort produziert haben, wissen dann zwar, dass ihre Antwort nicht den Erwartungen der Lehrperson entsprochen hat, nicht jedoch, wo genau das Problem lag (der Fehlerforscher Fritz Oser bezeichnet dieses Phänomen als „Bermudadreieck der Fehlerkorrektur“ [Oser/ Hascher/Spychiger 1999, 26 f.]), in dem das Lernpotential einer Fehlersituation sich einfach ins Nichts auflöst). Demgegenüber findet man in eher schülerzentrierten Lehr-Lern-Arrangements andere Verhältnisse vor. In den von der Forschergruppe um Sembill durchgeführten Prozessanalysen selbstorganisierten Lernens (u. a. Sembill u. a. 2007; Wuttke 2005) beispielsweise kommen Lehrpersonen und Lernende auf Redeanteile in nahezu gleichem Umfang. Uneindeutig ist die Befundlage, wenn es um den Zusammenhang zwischen Redeanteilen von Lehrpersonen bzw. Schülerinnen und Schülern und deren Lerngewinn oder Lernchancen geht (Lipowsky u. a. 2007). Im Allgemeinen werden Zusammenhangsanalysen berichtet, die auf den (negativen) Beitrag von hohen Redeanteilen der Lehrkräfte für den Lerngewinn der Schüler hinweisen. Aus unserer Sicht stellt aber weniger der Redeanteil der Lehrperson das Problem dar, sondern die häufig damit einhergehende Engführung der Unterrichtskommunikation auf einem geringen kognitiven Niveau (für den Physikunterricht siehe Seidel 2003; für den kaufmännischen Unterricht siehe Seifried 2009). Folgerichtig liegen Hinweise dafür vor, dass sich eine Steigerung der Schülerbeteiligung günstig auf Lernmotivation und kognitive Lernaktivitäten auswirken kann (Seidel 2003). Beispielsweise lässt sich für den
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oben erwähnten Fall des selbstorganisierten Lernens ein signifikanter Beitrag der Redeanteile von Schülerinnen und Schülern zu ihrem Wissenserwerb (deklaratives Wissen) zeigen (Varianzaufklärung durch Fragen von Schülern an Schüler 40 %, p = .038; Varianzaufklärung durch Schülerantworten auf Lehrerfragen 37 %, p = .048; Wuttke 2005). Allerdings ist hier zu berücksichtigen, dass Redeanteile zwar grundsätzlich Lerngelegenheiten eröffnen (und damit durch die Zuteilung des Rederechts Lernchancen zugewiesen werden), diese aber grundsätzlich abhängig sind von der Qualität der sprachlichen Interaktion. Redechancen sind somit eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für erfolgreiche Lernprozesse. Entscheidend ist letztlich die Qualität der Kommunikation bzw. sowohl der Lehrer- als auch der Schüleräußerungen (siehe hierzu Abschnitt 4). Abgesehen davon, dass – salopp ausgedrückt – Lehrpersonen in der Regel eher zu viel reden, ist auch zu betrachten, mit wem sie interagieren. Befunde zeigen, dass in manchen Klassen die Schülerbeiträge relativ gleichmäßig verteilt sind, während in anderen bestimmten Schülergruppen deutlich mehr Partizipationsgelegenheiten eröffnet werden (Lipowsky u. a. 2007; Seifried 2009). Insgesamt ist die internationale Forschungslage hierzu jedoch eher heterogen: Während einige Studien aus den 1970er Jahren (z. B. Dahllöf 1971; Lundberg 1972) darauf hinweisen, dass sich Lehrpersonen in Unterrichtstempo und -niveau eher am unteren Drittel bzw. Viertel der Klasse orientieren (sie verschaffen sich damit einen Überblick, ob auch schwächere Schüler den Stoff verstanden haben), zeichnen andere Untersuchungen praktisch ein gegenteiliges Bild und zeigen, dass Lehrpersonen überdurchschnittlich häufig mit leistungsstärkeren Schülern zusammenarbeiten (z. B. Brophy/Good 1976 oder Gage/ Berliner 1986). Auch die Qualität der Interaktion scheint mit der Leistungsstärke der Schüler zu variieren (z. B. Feedback und Anspruchsgehalt der Fragen; Brophy/ Good 1976). Neuere Studien von Lipowsky u. a. (2007; videobasierte Unterrichtsstudie mit je 20 Klassen in Deutschland und der Schweiz im Rahmen der Pythagorasstudie: siehe auch Hugener/Pauli/Reusser 2006) zeigen ebenfalls, dass die Verteilung der Beiträge auf einzelne Schülerinnen und Schüler im Klassenunterricht sehr stark variiert (zwischen 0 und 103 Beiträgen, im Mittel 8,91 pro Schüler). Insgesamt ist zwar kein einheitliches Beteiligungsmuster erkennbar, gleichwohl überwiegen jene Klassen, in denen leistungsstärkere Schüler mit Beiträgen überrepräsentiert sind (Lipowsky u. a. 2007). Dabei scheint sich eine höhere Beteiligungsrate schwächerer Schüler am Unterrichtsgeschehen auf die Leistungsentwicklung der Gesamtklasse eher ungünstig auszuwirken, während entweder eine an individuellem Egalitätsideal orientierte Beteiligung oder eine Überrepräsentation durchschnittlicher Schüler mit höheren Leistungen aller Schülerinnen und Schüler einhergeht und eine Überrepräsentation leistungsstärkerer Schüler keinen Effekt auf die Leistungsentwicklung der Klasse hat. Diese Befunde sind auch nach Kontrolle individueller Lernvoraussetzungen und klassenbezogener Kontextbedingungen stabil (ebd.). Aus einer Gesamtsicht ließe sich daraus das Fazit ziehen, dass Lehrpersonen sich entweder an individuellem Egalitätsideal oder eher an leistungsdurchschnittlichen Schülern orientieren sollten.
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Allerdings blieben – darauf verweisen die Autoren der Studie (ebd., 144) selbst – qualitative Aspekte des Interaktionsgeschehens ausgeklammert, was zu einer Einschränkung der Aussagekraft der Analysen führt. Die Bedingungen aktiver Beteiligung von Lernenden schließlich sind vielfältig, u. a. spielt auch das Geschlecht der Lernenden eine Rolle, wobei der Geschlechtereffekt durch kognitive und motivationale Schülermerkmale (Selbstvertrauen, Kompetenzüberzeugungen, motivationale Orientierungen) moderiert wird (Pauli/Lipowsky 2007). Mädchen sind jedoch selten ‚Vielsprecher‘. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten: Die Mehrzahl der Studien analysiert lehrerzentrierten Unterricht, in dem – quasi naturgemäß – überwiegend die Lehrperson spricht. Im Rahmen von schülerzentrierten Lehr-Lern-Arrangements findet man einen erheblich höheren Redeanteil der Lernenden. Inwieweit durch Redeanteile tatsächlich Lernchancen zugewiesen werden und welchen lernförderlichen Beitrag diese leisten, lässt sich vor dem Hintergrund der bisher vorliegenden Studien und der heterogenen Ergebnisse indes nicht abschließend klären. Die Effekte einer Beteiligung am Klassengespräch lassen sich sicherlich nicht ausschließlich am Lernergebnis festmachen. Pauli/Lipowsky (2007) zeigen, dass sich die Beteiligung am Interaktionsgeschehen auch positiv auf das kognitive und motivational-emotionale Selbsterleben der Lernenden auswirkt. Daher ist prinzipiell eine ganzheitliche Betrachtung des Lernerfolgs mit Blick auf kognitive, aber auch motivational-emotionale Effekte von Schule und Unterricht anzuraten. Im folgenden Abschnitt gehen wir vor diesem Hintergrund und auf der Basis unserer eigenen Untersuchung exemplarisch auf Formen, Funktionen und Effekte von unterrichtlichen Interaktionen ein.
4 Ausgewählte Formen, Funktionen und Effekte von Unterrichtsinteraktion und sprachlicher Instruktion Nachfolgend sollen Lehrer- und Schülerfragen sowie Lehrer-Feedback als Formen von Interaktion skizziert und ausgewählte Befunde aus verschiedenen Studien präsentiert werden. Weitere Befunde finden sich bei Wuttke (2005), Seifried/Sembill (2005), Seifried (2009), Seifried/Wuttke (2010) sowie Wuttke/Seifried (2010). a) Zum Verhältnis und zur Qualität von Lehrer- und Schülerfragen Lange Zeit galt das Forschungsinteresse in erster Linie Lehrerfragen. Ein Grund dafür könnte sein, dass diese im Unterricht weitaus häufiger als Schülerfragen anzutreffen sind und davon ausgegangen wurde, dass insbesondere didaktisch motivierte Fragen der Lehrpersonen Lernprozesse initiieren. Einschlägige Untersuchungen zum Verhältnis von Lehrer- und Schülerfragen zeichnen für den konventionellen Unterricht
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ein einheitliches Bild. Lehrerfragen treten weitaus häufiger auf als Schülerfragen und machen insgesamt gesehen einen substantiellen Teil der gesamten Unterrichtskommunikation aus (vgl. Sumfleth/Pitton 1998, 19; Dillon 1990, 7 ff.; West/Person 1994; Dubs 1995; Niegemann/Stadler 2001). Wenn Lernende Fragen stellen (dies ist ein eher seltenes Ereignis), so sind dies meist so genannte Fragen niederer Ordnung, die als Antwort lediglich ein „Ja“ oder „Nein“ erfordern oder allenfalls kurze Antworten auslösen. Die Annahme eines lernförderlichen Effekts kognitiv anspruchsvoller Lehrerfragen wird durch die Metaanalyse von Gayle/Preiss/Allen (2006) untermauert. Allerdings weisen Brophy/Good (1976) darauf hin, dass es sinnvoll ist, diese kognitiv anspruchsvollen higher order questions durch ein Mindestmaß an weniger anspruchsvollen Fragen (lower order questions) abzusichern, um eine Steigerung des Lernzuwachses zu bewirken (Lipowsky u. a. 2007). Auch ausreichende Wartezeiten nach Lehrerfragen können ein lernförderliches Element des Unterrichts sein, sie sind indes eher selten anzutreffen. In der DESI-Videostudie geben Lehrkräfte den Schülern nur in ca. 11 % der Fälle ausreichend Zeit, über eine Antwort nachzudenken (Helmke u. a. 2007). Dies und die hohe Anzahl an Lehrerfragen könnten Schülerinnen und Schüler daran hindern, eigene Fragen zu formulieren und auf Fragen durchdachte Antworten anzubieten. Befunde der Arbeitsgruppe um Sembill zeigen für schülerzentrierte Lehr-LernArrangements erneut (siehe Abschnitt 3) ein anderes als das gerade skizzierte Bild. Zum einen stellen Lernende deutlich mehr Fragen, zum anderen sind das häufig Fragen höherer Ordnung (vgl. z.B Pasch 2001; Sembill/Gut-Sembill 2004). Als solche werden Fragen bezeichnet, die eine (begründete) Erklärung von Sachverhalten nach sich ziehen (vgl. Klinzig/Klinzig-Eurich 1982, 314; Renkl/Helmke 1992, 47 f.). Die förderliche Wirkung auf die Wissensgenerierung wird darauf zurückgeführt, dass Fragen höherer Ordnung Lernende befähigen, Wissenslücken zu erkennen und Fehlkonzepte zu entdecken. Allerdings ist einschränkend festzuhalten, dass auch in schülerzentrierten Lehr-Lern-Arrangements Lehrpersonen häufiger qualitativ hochwertige Fragen stellen als Lernende (28 % sind so formuliert, dass auf sie elaboriertere Schülererklärungen folgen sollten). Die Qualität der Schülerfragen ist deutlich geringer. In unseren Studien (Wuttke 2005) wurden für Lernende überwiegend (zu 91 %) Fragen niederer Ordnung verzeichnet (als solche werden Fragen bezeichnet, die entweder nur ein „Ja“ oder „Nein“ als Antwort erfordern oder auf kurze, klar definierte Antworten abzielen). Mit diesen Ergebnissen werden Befunde älterer Studien bestätigt, die zeigten, dass hochwertige Fragen von Schülern in Lerngruppen spontan recht selten formuliert werden (Edwards/Mercer 1987). Da jedoch in vorwiegend lehrerzentrierten Arrangements Lernende praktisch keine Fragen stellen (vgl. z. B. Sumfleth/Pitton 1998, 19; Dillon 1990, 7 ff.), relativiert sich dieses Manko. Dennoch ist zu fragen, wie Schüler lernen können, hochwertige Fragen zu stellen. Im Rahmen von Programmen zum angeleiteten Stellen von Fragen (z. B. King 1994) wurde bereits versucht, deren Qualität zu erhöhen. Die
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Befundlage zur Wirkung solcher ‚Trainings‘ ist heterogen. So zeigt sich z. B., dass eingangs hoch motivierte Schüler es bevorzugen, ‚in Ruhe‘ ihre Arbeit zu machen und sich durch Fragetrainings in ihrer Aufgabenbearbeitung gestört fühlen – mit negativen Konsequenzen für die Lernleistung. Dagegen profitieren andere Schüler durchaus von den Trainings und stellen danach höherwertige Fragen (vgl. Renkl 1997). b) Zur Qualität von Lehrer- und Schülerfeedback Feedback ist im Sinne der Kybernetik ein zentraler Bestandteil des Regelkreismodells (Fengler 2009). Auf Lehr-Lernprozesse bezogen zeigt Feedback in der Regel die Diskrepanz zwischen Ist- und Sollzustand (Lernziel) auf und bietet somit die Basis für die Lernprozessregulation (Narciss 2006). Grundsätzlich gelten als Feedback alle Informationen, die Lernende von externen Quellen zum eigenen Lernfortschritt oder den Vergleich der eigenen Leistung mit der Leistung anderer erhalten (Ryssel 2012). Davon abzugrenzen wäre internes Feedback, das Lernende aufgrund von Erfahrungen selbst generieren (Ilgen/Fisher/Taylor 1979). Feedback hat kognitive (z. B. Information über die Art eines Fehlers), metakognitive (Selbstregulation) und motivationale (evaluative Komponente) Funktionen (Narciss 2006). Die Klassifizierung von Feedback schließlich kann nach verschiedenen Kriterien erfolgen, wobei insbesondere jene hinsichtlich des Elaborationsgrades gängig ist (einfach vs. Elaboriert; Narciss 2006; Mindnich/Wuttke/Seifried 2008). Die Lernwirksamkeit von Feedback wird von internen (individuelle Eigenschaften der Lernenden wie Vorwissen und Überzeugungen) sowie externen Faktoren (Feedbackgestaltung, d. h. Art des Feedbacks und des Instruktionskontextes) beeinflusst (zusammenfassend siehe Ryssel 2012). In der Regel sollte elaboriertes Feedback wirkungsvoller sein als einfaches, die Befundlage hierzu ist jedoch nicht eindeutig (zur Übersicht siehe Ryssel 2012; vgl. auch Wills 2012). Auch im Rahmen des oben skizzierten schülerzentrierten Lehr-Lern-Arrangements trägt sowohl einfaches Feedback (Kurzkorrektur einer falschen Lösung) als auch elaboriertes Feedback (Korrektur mit Diskussion des Lösungsweges) zum Wissensaufbau der Lernenden bei (Varianzaufklärung durch Kurzfeedback 59 %, p = .009, Varianzaufklärung durch elaboriertes Feedback 77 %, p = .001; Wuttke 2005). Ein eindeutiger Vorteil für elaboriertes Feedback lässt sich aus den bislang vorliegenden Studien somit nicht ableiten. Feedback kommt eine besondere Bedeutung zu, wenn es um das Lernen aus Fehlern geht. Hier ist zwischen zwei Perspektiven zu unterscheiden: einer eher klimatisch fokussierten Perspektive, die emotionale Aspekte des Feedbacks in den Blick nimmt und einer stärker kognitiv orientierten Perspektive, die den Fokus auf die Lernförderlichkeit und die kognitive Aktivierung des Feedbacks legt. Fehlerklima: Im Rahmen einer schriftlichen Befragung von 1.136 Lernenden aus 54 Klassen unterschiedlicher Schulformen in kaufmännischen Schulen (Berufsschulen und berufliche Vollzeitschulen) gingen wir der Frage nach, wie ‚fehlerfreundlich‘ Lehrende Schülerfehler rückmelden. Dabei wurde der Schülerfragebogen zum Umgang mit Fehlern (Spychiger u. a. 1998) eingesetzt. Die Antworten der Lernenden
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verweisen auf eine recht positive Einschätzung des Fehlerklimas. Die Subskalen Fehlerfreundlichkeit und Lernorientierung erreichten Werte, die deutlich über dem Skalenmittelwert liegen, wohingegen Lernende kaum über Fehlerangst oder fehlende Normtransparenz berichten. Der Befund deckt sich mit den Ergebnissen vergleichbarer Studien aus dem allgemeinbildenden Bereich (für Details siehe Seifried/Wuttke 2010). Offenbar stellt sich die Situation mit Blick auf das Fehlerklima als recht unproblematisch dar. Etwas anders verhält es sich dagegen beim Aspekt der kognitiven Aktivierung, wie im Folgenden gezeigt wird. Lernförderlichkeit/kognitive Aktivierung: Eine Untersuchung von Spychiger u. a. (1998) belegt, dass aus Sicht der Lernenden insbesondere dann aus Fehlern gelernt wird, wenn die Lehrkraft unterstützend tätig wird. Voraussetzung hierfür ist aber zunächst, dass die Lehrkraft überhaupt erkannt hat, welcher Fehler dem Lernenden unterlaufen ist. Damit Fehler also bedeutsam für Lernprozesse werden können, müssen sie von den Beteiligten des Unterrichtsgeschehens als solche identifiziert und z. B. im Unterrichtsgespräch ‚erforscht‘ werden, worin die möglichen Denkfehler bestehen. Auch Mitlernende können von dem Fehler eines Schülers nur dann (gewissermaßen stellvertretend) lernen, wenn sie ihn gleichsam erfasst haben (advokatorisches Lernen aus Fehlern; vgl. Spychiger 2004). Nach der Identifikation des Fehlers bedarf es dann einer qualifizierten Rückmeldung der Lehrkraft, damit Fehler- und Lernsituationen auch lernwirksam werden können. Bezüglich des Elaborationsgrads des Feedbacks auf Schülerfehler des Lernenden sind wenigstens zwei Ausprägungen denkbar: Die Lehrperson kann die Schülerantwort als falsch ablehnen, ohne dies genauer zu begründen (Kurzablehnung) oder sie kann in einer ausführlichen Diskussion darlegen, wo der Fehler lag und stellt dar, wie eine ‚richtige‘ Lösung aussehen könnte (hinreichende Bedingung) (vgl. Crespo 2002; Wuttke 2005). Im Rahmen einer Videostudie haben wir unter Rückgriff auf die gerade skizzierten Überlegungen das Rückmeldeverhalten von Lehrkräften analysiert (vgl. Mindnich/ Wuttke/Seifried 2008; Wuttke/Seifried/Mindnich 2008). Die Stichprobe umfasste 15 Stunden Rechnungswesenunterricht bei drei Lehrkräften. Die Befunde zeigten, dass in den analysierten Fehlersequenzen dem Fehler nur selten vertieft auf den Grund gegangen wurde, d. h. die Fehlerursache blieb zumeist im Dunkeln. Auf den ersten entscheidenden Schritt beim Lernen aus Fehlern wird im Klassengespräch also häufig verzichtet. Auch die Rückmeldungen sind selten so elaboriert, dass von qualitativ hochwertigen Rückmeldungen auszugehen wäre. Durch diesen ungünstigen Umgang mit Fehlern gaben die Lehrkräfte den Lernenden praktisch keine Anhaltspunkte an die Hand, welche Fehler sie gemacht haben und wie diese behoben werden könnten. Dieser Befund war der Ausgangspunkt für eine Videovignettenstudie, in der untersucht wurde, wie gut (angehende) Lehrpersonen in der Lage sind, Schülerfehler zu diagnostizieren und sie lernförderlich zurückzumelden (Türling 2014; Wuttke/Sei fried 2012; 2013). Von den 287 Probanden waren 158 Studierende der Wirtschaftspädagogik, 74 Personen absolvierten im Erhebungszeitraum das Referendariat und 55
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waren Lehrpersonen. Probanden wurden Videovignetten gezeigt, in denen Schülerinnen und Schüler Fehler (im Buchführungsunterricht) machen. In leitfadengestützten Interviews wurden die Probanden dann zu ihren Handlungsstrategien in der Fehlersituation befragt. In der Auswertung wurde zum einen die Fehleranalyse in den Blick genommen, d. h. inwieweit (angehende) Lehrpersonen bei einem Schülerfehler nachfassen und damit der Fehlerursache auf den Grund gehen. Danach sollte – damit Schüler aus Fehlern lernen können – ein qualitativ hochwertiger Umgang mit dem Schülerfehler erfolgen, der sich aus folgenden Bausteinen zusammensetzt (Türling 2014): a) Fachlich/inhaltlich korrekter Rückmeldung (vgl. auch Seidel/Shavelson 2007); b) Strukturiertheit der Rückmeldung (z. B. Hervorheben zentraler Informationen, Einschränkung von Lösungswegen, Kontrastieren von falsch und richtig [vgl. auch Lipowsky 2009]); c) kognitive Aktivierung durch die Rückmeldung, d. h. produktives Aufgreifen falscher Schülerlösungen und Fehlkonzepte mit dem Ziel, kognitive Konflikte auszulösen sowie Fragen und Ideen zu generieren (generisch-sokratisches Vorgehen) (vgl. auch Klieme u. a. 2006); d) Adaptivität und Vernetztheit der Rückmeldung (Aktivierung von Vorwissen, Vernetzung von Inhaltsbereichen); e) Konsolidierung und Sicherung z. B. durch anspruchsvolle Übungsaufgaben, Rückfragen, Besprechungen. Die Befunde zeigen, dass auch in dieser Studie auf einem geringen Niveau nachgefasst wird, alle Probanden versuchen recht selten, Schülerfehlern auf den Grund zu gehen (Türling 2014). Wie sich zudem zeigt, ist lernförderliches Potential der Rückmeldungen bestenfalls bei den (erfahrenen) Lehrpersonen zu finden. Die fachliche Richtigkeit, die als Grundvoraussetzung für eine lernförderliche Rückmeldung gesehen werden muss, ist bei den Studierenden und Referendaren oft nicht gegeben, hier finden sich signifikante Vorteile zu Gunsten der Lehrkräfte (F(3, 286) = 20.120; p = .000; η2 = .178). Die fachdidaktisch und kommunikativ bedeutsamen Kategorien Strukturiertheit, kognitive Aktivierung und Adaptivität ergeben ein vergleichbares Bild (signifikante Vorteile und praktisch bedeutsame Unterschiede zugunsten der Lehrkräfte, F(3, 286) = 18.417; p = .000; η2 = .165 bzw. F(3, 286) = 43.558; p = .000; η2 = .318 und F(3, 286) = 14.264; p = .000; η2 = .133) (Türling 2014). Insgesamt betrachtet zeigt sich allerdings, dass auch die Lehrkräfte dieses kommunikativ unterstützende Verhalten eher selten zeigen: Kontrastieren wird beispielsweise nur von 20 % der Probanden genutzt. Hier könnte auch eine Rolle spielen, dass die Probanden befürchten, durch die Konfrontation mit der falschen Lösung eher zur Verwirrung der Schüler als zu einer Aufklärung des Sachverhalts beizutragen. Kognitive Aktivierung durch kognitive Konflikte wird nur von ca. 35 % der Lehrkräfte eingesetzt, und auch alle Unterkategorien von Adaptivität und Vernetztheit liegen jeweils unter einem Wert von 40 % (Türling 2014).
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5 Diskussion und Ausblick Im vorliegenden Beitrag wurden verschiedene Arten von unterrichtlichen Interaktionen besprochen. Mit Blick auf die Redeanteile liefern einschlägige Untersuchungen ein recht eindeutiges Bild. Lehrkräfte sprechen insgesamt überproportional viel, nicht mit allen Lernenden in gleichem Maße und nicht immer mit jenen Lernenden, deren Unterrichtsbeiträge zu einem Lerngewinn für alle Schülerinnen und Schüler beitragen könnten. Entgegen der häufig vertretenen Auffassung, eine Orientierung am durchschnittlichen Lernenden sei ‚schädlich‘, zeigen Befunde, dass es – falls eine individuelle Förderung nicht möglich ist – für alle Beteiligten am lernförderlichsten ist, wenn Lehrpersonen sich an genau diesem ‚durchschnittlichen‘ Schüler orientieren. Mit Redechancen weisen Lehrkräfte auch Lern- und letztlich Bildungschancen zu. Wer fragen und antworten kann, wird z. B. auf Fehlkonzepte aufmerksam und kann diese durch kognitiv anspruchsvolles Feedback potentiell auch korrigieren. Lehrkräfte steuern und sprechen nicht nur (zu) viel, sondern auch die Qualität ihrer Äußerungen lässt stellenweise zu wünschen übrig. Fragen bleiben nicht selten auf einem niedrigen, wenig lernförderlichen Niveau. Und Rückmeldungen sind nicht immer so elaboriert, dass man ihnen zwingend Förderpotential (Aufdecken von Fehlkonzepten) zuschreiben kann. Die plausible Überlegung, dass Redechancen Lernchancen sind und dass Sprache bzw. Sprechen zur Bildung beitragen, ist auch empirisch unterfüttert. Gleichwohl ist auch darauf hinzuweisen, dass die Ergebnisse speziell im Hinblick auf den Lerngewinn durch (qualitativ hochwertige) Sprache kein einheitliches Bild zeichnen. Möglicherweise ist der Grund für die uneinheitliche Befundlage aber auch zumindest ein Stück weit in der methodischen Gestaltung von empirischen Untersuchungen zu suchen. Hierfür sprechen die folgenden beiden Überlegungen: Erstens wird häufig (lediglich) der Redeanteil von Lehrpersonen und Lernenden sowie dessen Wirkung auf Lernerfolg analysiert. Eine potentielle Wirkung wird aber vermutlich nicht durch die Redezeit per se, sondern in erster Linie durch qualitativ hochwertige Kommunikation zu erzielen sein. Zweitens gehen Kommunikationsanalysen – und dies gilt auch für jene bezüglich Fragen und Feedback – von einer generalisierten Wirkung bestimmter Niveaus auf den Lernerfolg aus. Dabei wäre durchaus vorstellbar, dass je nach Wissensstand der Schülerinnen und Schüler ganz unterschiedliche Niveaus wirksam sein können: Während ein Schüler beispielsweise eher von higher order questions und/oder elaboriertem Feedback profitiert, mögen für einen anderen andere Herangehensweisen förderliche Wirkung entfalten. Solche differenzierten Befunde liegen bislang nicht in hinreichendem Maße vor. Entsprechend detaillierte und tiefgehende Analysen sind zur fundierten Beantwortung der Frage, wie durch Kommunikation Lern- und Bildungschancen zugewiesen und realisiert werden, indes dringend erforderlich. Auf der Basis der bisher vorgelegten Arbeiten fällt es schwer, diesbezüglich hinreichend abgesicherte Aussagen treffen.
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17. Schulartenspezifische Aspekte der Sprache in der Bildung Abstract: Aspekte der sprachlichen Förderung spielen bereits in der Geschichte der Schule eine besondere Rolle. In den letzten Jahren gewann dieses Thema im Zusammenhang mit der Frage nach der Bildungsteilhabe heterogener Schülergruppen an neuer Relevanz. In diesem Beitrag wird zunächst der Begriff der Bildungssprache eingeführt und von der Unterrichtssprache abgegrenzt. Anschließend wende ich mich jeweils mit Blick auf die Primarstufe und die Sekundarstufe dem Aspekt der „Sprache als zu vermittelndem Bereich für alle Schülerinnen und Schüler“ zu und werde hier auf die Implementation von Bildungsstandards und die hierin virulente Form der Vermittlung sprachlicher Kompetenzen eingehen. In einem weiteren Kapitel betrachte ich den Aspekt der „Förderung von Sprache für einzelne Schülerinnen und Schüler“ und fokussiere dies auf Sprachfördermaßnahmen für Kinder mit einer anderen Herkunftssprache und deren Wirksamkeit. Abschließend frage ich danach, inwiefern diese beiden Aspekte der Behandlung von Sprache dazu geeignet sind, den Ansprüchen einer zunehmend heterogener werdenden Schülerschaft gerecht zu werden. 1 Bildungs- und Schulsprache als Medium des Lernens in der Schule 2 Sprache im Unterricht als zu vermittelnder Bereich für alle Schülerinnen und Schüler 3 Sprache im Unterricht als zu fördernder Bereich für einzelne Schülerinnen und Schüler 4 Sprache und Bildungsteilhabe im Kontext schulischer Heterogenität 5 Literatur
1 Bildungs- und Schulsprache als Medium des Lernens in der Schule Lernen in schulischen Kontexten ist in hohem Maße abhängig von Sprache, das Gros der Vermittlungsprozesse im Unterricht verläuft sprachbasiert. Die Teilhabe an den unterrichtlichen Kommunikationsprozessen spielt daher eine wichtige Rolle bei der Frage des zu erwartenden Erfolgs unterrichtlicher Vermittlungsbemühungen. Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs wird vor diesem Hintergrund verstärkt auf die Notwendigkeit der Beherrschung des Registers „Bildungssprache“ verwiesen (Dehn 2011; Gogolin/Lange 2011). Für den deutschsprachigen Raum verknüpft die im Kontext des BLK-Programms FörMig entwickelte Vorstellung von Bildungssprache pragmatische und strukturelle Aspekte und verweist einerseits auf die Notwendigkeit, dieses formelle Sprachregister zu beherrschen, um in der Schule erfolgreich zu
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sein, und andererseits auf die Notwendigkeit, dieses Register in den Institutionen selbst zu fördern. Angelehnt sind diese Vorstellungen an ältere, noch bedeutsame (sozio-)linguistische Ansätze wie z. B. von Bernstein (1974) und Halliday (1994), die davon ausgehen, dass der Bildungserfolg beeinflusst werde von der Kompetenz, über die „Sprache der Schule“ zu verfügen. Grundlegend ist die Ansicht, dass sich die Sprache aus unterschiedlichen Sprachregistern zusammensetzt, die auf der pragmatischen Ebene kontextgebunden und auf der strukturellen Ebene zwischen einfachen und komplexen Formen des Sprachgebrauchs changieren. So wies Bernstein z. B. auf den Unterschied zwischen dem kontextgebundenen Diskurs der Schule und dem horizontalen Diskurs der alltäglichen Sphäre hin und betonte, dass die erfolgreiche Teilhabe am schulischen Diskurs von den Schülern besondere sprachliche Ausdruckmittel erfordere und dies wiederum bildungsferneren Kindern schwerer falle (Bernstein 1974). Cummins verdeutlichte mit Blick auf zweisprachig aufwachsende Kinder strukturelle Unterschiede des Sprachgebrauchs anhand eines zweistufigen Erwerbsprozesses von basalen kommunikativen Fähigkeiten bis hin zur Verwendung komplexer und abstrakter Sprachformen (Cummins 2000). Neben dem Begriff der Bildungssprache, der in der eben skizzierten Form typisch für den erziehungswissenschaftlichen Diskurs ist, existieren im Forschungsfeld auch weitere Begrifflichkeiten, die jedoch Ähnliches meinen. Feilke z. B. definiert Bildungssprache als Sprache des Lernens, die in ihrem Funktionsspektrum über den Raum des Schulischen hinausreicht und grenzt sie von Schulsprache ab, die als Sprache des Lehrens in der Schule charakterisiert wird und gleichgesetzt werden kann mit der Sprache des Unterrichts. Schulsprache orientiert sich an fachbezogenen Lernerwartungen und schafft sich eigenständige, didaktisch begründete sprachliche Lehrgegenstände für den Unterricht (Feilke 2013, 118 ff.): Schulsprache ist nicht Bildungssprache. Sie ist ein Instrument der Erziehung zur Bildungssprache. Genauer formuliert: zu kompetentem Sprachgebrauch nach den Vorstellungen der Schule und der Schulfächer. (Feilke 2013, 117)
Im Gegensatz zur Bildungssprache, die Feilke als Produkt eines langfristigen historischen Sprachwandels bezeichnet, verändert sich Schulsprache durch didaktische und fachliche Neuorientierungen (Feilke 2013, 116). Schulsprache hat demnach einen Doppelcharakter: Sie ist nicht nur allgemein die Sprache des Lehrens im Unterricht, die als Medium der Vermittlung von Fachinhalten eingesetzt wird und somit Unterrichtssprache ist, sondern auch die Sprache, die von der Institution Schule selbst hervorgebracht und dort verwendet wird. In diesem Sinne kann sie synonym gesetzt werden mit Bildungssprache als jener Form von Sprache, die beherrscht werden muss, um sich Bildung in der Schule erfolgreich anzueignen. Schulsprache und Bildungssprache sind somit jeweils mit institutionellen Erwartungen verknüpft, die sich im Zeitverlauf verändern können und dann zu anderen Formen des Lehrens im Unterricht führen. Betrachtet man vor diesem Hintergrund den Deutschunterricht in
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der Schule, dann kommt ihm eine zweiseitige Funktion zu: Zum einen ist er Fachunterricht, in dem die für die jeweilige Schulstufe als zentral erachteten Wissensbestände und Kompetenzen des Faches Deutsch in der spezifischen Unterrichtssprache Deutsch vermittelt werden, zum anderen ist er der Ort, an dem alle Schülerinnen und Schüler sich in den Gebrauch der Bildungssprache Deutsch in besonderem Maße einüben können.
2 Sprache im Unterricht als zu vermittelnder Bereich für alle Schülerinnen und Schüler Eine wichtige Veränderung des Fachunterrichts in Deutsch, die sowohl die Unterrichtssprache als auch die Bildungssprache Deutsch betrifft, stellt die Einführung von Kerncurricula und Bildungsstandards im Zuge der bildungspolitischen Debatten um PISA dar. Wurde bisher das in der Schule zu vermittelnde Wissen in Lehrplänen festgelegt, in denen sich sowohl Aussagen zu Erziehungszielen, Lehrinhalten und Lehrmethoden und gelegentlich ein Kanon wichtiger Werke oder Inhalte finden, geschieht dies derzeit in Form von Kerncurricula, deren Einführung bereits ab den 1990er Jahren diskutiert wurde, ursprünglich mit einem stärkeren Fokus auf die Kanonisierung von Wissensinhalten. Nach der Jahrtausendwende brachen diese Diskussionen weitgehend ab und wurden überlagert von den Diskussionen über die Einführung von Bildungsstandards. Auf der Ebene der Steuerung des Bildungswesens erfolgte dabei eine Abkehr von einer weitgehenden Inputorientierung (verstanden als Input von zu lehrenden Inhalten, die in Lehrplänen und Curricula festgehalten wurden) hin zu einem an den erbrachten Leistungen der Schülerinnen und Schüler zu messenden Output des Systems, der u. a. über die Vergabe von Zertifikaten und im Aufbau von Kompetenzen sichtbar wird. Der Output wird so zum wichtigen Bezugspunkt für die Qualität des Schulsystems und die Steuerungsleistung der Bildungsadministration liegt darin, Ziele vorzugeben und deren Einhaltung zu überprüfen. Bildungsstandards konkretisieren diese Bildungsziele, indem sie allgemeine Anforderungen an das Lehren und Lernen beschreiben und dies in Form von Kompetenzen, die die Schülerinnen und Schüler am Ende eines Lernabschnitts erreichen sollen, operationalisieren (vgl. BMBF 2007, 19 f.). Für das Fach Deutsch liegen die von der KMK verabschiedeten Bildungsstandards für die unterschiedlichen Schulformen jeweils abschlussbezogen vor. Zunächst wurden 2003 die Standards für den mittleren Abschluss (10. Klasse) veröffentlicht, diesen folgten 2004 die Standards für den Hauptschulabschluss (9. Klasse) sowie für den Primarbereich (4. Klasse) und 2012 die Standards für die allgemeine Hochschulreife. Die allgemeinen Vorgaben der KMK wurden in einem weiteren Schritt in den Ländern in Kerncurricula umgesetzt, wobei dies unterschiedlich schnell vonstattenging. Für Niedersachsen z. B. liegen diese bereits bezogen auf die einzelnen
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Schulformen Grundschule, Hauptschule, Realschule, Gesamtschule und Gymnasium (Jahrgang 5–10) 2006 vor, in Bayern werden die entsprechenden Curricula derzeit noch erarbeitet. In ihrer Ausgestaltung folgen die Standards und auch die länderbezogenen Curricula ähnlichen Prinzipien. Zunächst wird die Bedeutsamkeit von Sprache für das Lernen in der Schule hervorgehoben und auf die Wichtigkeit des Faches Deutsch für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hingewiesen. Die im Deutschunterricht zu vermittelnden Inhalte werden dann über die vier Kompetenzbereiche „Sprechen und Zuhören“, „Schreiben“, „Lesen – mit Texten umgehen“ sowie „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ ausgeführt“. In den Bildungsstandards für die allgemeine Hochschulreife werden aus den vier Kompetenzbereichen fünf, da „Lesen – mit Texten umgehen“ getrennt wird in die Bereiche „Lesen“ und „Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen“. In die Kompetenzbereiche eingelagert wurden Methoden und Arbeitstechniken, die jeweils mit den in den jeweiligen Bereichen zu vermittelnden Inhalten verbunden sind (vgl. KMK 2004; 2003). In der Folge werden die einzelnen Kompetenzbereiche weiter ausgeführt und über Teilkompetenzen operationalisiert. Eine Teilkompetenz des Bereiches „Sprechen und Zuhören“ stellt in den Standards für die Primarstufe z. B. „Zu anderen sprechen“ dar. Dies wird präzisiert durch „an der gesprochenen Standardsprache orientiert und artikuliert sprechen“ sowie „Wirkungen der Redeweise kennen und beachten“ (KMK 2004, 9). Einen großen Teil der KMK-Standards nimmt die Beschreibung von Aufgaben ein, an denen beispielhaft verdeutlich wird, welche Aufgabenbereiche welchen Kompetenzen zugeordnet werden, welche Anforderungsbereiche dabei berührt werden und anhand welcher Fragen überprüft werden kann, ob die Anforderungen erreicht wurden. Der Kompetenzbereich „Sprechen und Zuhören“ wird in der Primarstufe z. B. über das Aufgabenbeispiel „Einen Kurzvortrag halten und ein Gespräch führen“ erläutert; das entsprechende Aufgabenbeispiel, „Meerschweinchen“, (KMK 2004, 38 f.) enthält Hinweise zu den Standards, die mit diesem Beispiel erfüllt werden, gibt konkrete Aufgabenstellungen vor und ordnet diese den zu erfüllenden Aufgabenbereichen zu: in diesem Fall den Bereichen „Zusammenhänge herstellen“ sowie „Reflektieren und beurteilen“ (KMK 2004, 17). In der Diskussion um die Einführung der Bildungsstandards in Form von Kerncurricula wurde eine Reihe von Befürchtungen geäußert, hinter der sich eine grundlegende Skepsis verbarg (vgl. z. B. Heid 2007; Kreitz 2010). Grundsätzlich wurde dabei angemerkt, dass sich durch die Einführung der Standards allein die Lernleistung der Schülerinnen und Schüler nicht verbessern würde, sondern es hier auch der aktiven Mitarbeit der Lehrerinnen und Lehrer bei der Umsetzung eines kognitiv aktivierenden Unterrichts bedürfe (Paechter u. a. 2012). Hinzu kommt, dass die Einführung der Kerncurricula in den jeweiligen Schulformen auf spezifisch etablierte Formen des Unterrichtens traf und trifft. Als grundlegender Konsens für die Gestaltung des Unterrichts in der Grundschule z. B. gelten die Orientierung an den Lernbedürfnissen des Kindes, an differenzierten Formen des Unterrichtens und an der Vorstellung der Grundschule als Lern- und Lebensraum (vgl. Liebers 2011, 326 f.). In den traditionel-
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len Lehrplänen der Grundschule verbinden sich programmatische Aussagen über die Ziele und Absichten des Unterrichts mit legitimatorischen Aussagen über den Auftrag der Grundschule als Schulform. Die Lehrpläne für die Grundschule erfüllen daher eine doppelte Funktion: Sie legitimieren die Grundschule als Schule der grundlegenden Bildung für alle Kinder und formulieren Leitlinien zur Gestaltung des Unterrichts, wobei letzterer durch ein Nebeneinander reformpädagogischer Ideen und wissenschaftsorientierter Vorstellungen geprägt wurde und wird. Die Einführung von Bildungsstandards und deren Orientierung an der messbaren Bewältigung von Aufgabenformaten blieb daher in ihrer Einführungszeit nicht unwidersprochen. So forderte z. B. der Grundschulverband in seinen Standards zeitgemäßer Grundschularbeit eine primär an kindlichen Lernbedürfnissen orientierte Arbeit in der Grundschule, die nicht allein auf die Überprüfung des Outputs am Ende der Grundschulzeit abzielen könne, sondern auf „eine für Kinder anregende Lernumgebung und individuelle Förderung“ abzielen müsse (Arbeitskreis Grundschule 2005). Inwiefern diese Kritik bei der Gestaltung der Kerncurricula durch die Länder einen Einfluss hatte, lässt sich nicht nachweisen. Auffällig ist jedoch, dass sich in den Bildungsstandards der KMK kaum Hinweise auf den Bildungsauftrag der Grundschule finden, diese aber in den von den Bundesländern erarbeiteten Kerncurricula vorhanden sind (vgl. z. B. Ministerium Bildung, Jugend und Sport 2004, 7 f.). In vielen Kerncurricula der Länder findet sich sowohl die Orientierung an den Standards als auch an den herkömmlichen Vorstellungen des Unterrichtens in der Grundschule. Ähnliches lässt sich auch für die Bildungsstandards und Kerncurricula in Deutsch für die Sekundarstufe I und II festhalten. Hier findet sich bereits in den von der KMK formulierten Bildungsstandards eine Orientierung an der Beschulungslogik des dreigliedrigen Schulsystems, das auf die Homogenisierung von Heterogenität durch frühzeitige Selektion setzt. Analog zur Gliederung des deutschen Schulsystems, werden in den Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss, den mittleren Abschluss und die allgemeine Hochschulreife unterschiedliche Anforderungen für die drei Hauptglieder des Schulsystems formuliert, wobei sich in Duktus und Aufbau Unterschiede zwischen den frühen Standards für den Hauptschul- und Mittleren Abschluss und die Allgemeine Hochschulreife finden. Wie in den Standards zur Primarstufe wird zunächst die generelle Bildungsbedeutung des Faches Deutsch betont. In den Ausführungen für die Hauptschule wird zudem expliziert, dass der „Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf den Übergang in das Berufsleben besondere Bedeutung“ zukommen und hier das Fach Deutsch seinen Beitrag vor allem in der Ausbildung der „für die Anforderungen der Berufsausbildung notwendigen sprachlichen und methodischen Kompetenzen“ zu leisten habe (KMK 2004, 6). Für den mittleren Abschluss wird insbesondere die Bedeutsamkeit einer doppelten Qualifikationsfunktion der Standards für den mittleren Abschuss hervorgehoben, die jene Kompetenzen vermitteln sollen, die „für die Vorbereitung einer beruflichen Ausbildung und für die Fortsetzung der Schullaufbahn wesentlich sind“ (KMK 2003, 6). Dem Fach Deutsch fällt hier die Aufgabe zu „eine solide schriftliche und mündliche Kommu-
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nikations- und Darstellungsfähigkeit“ zu vermitteln und so den „berufsweltbezogenen Anforderungen an die Ausbildung im Fach Deutsch“ zu entsprechen (ebd., 6). In den Standards für die Allgemeine Hochschulreife steht: „Das Fach Deutsch leistet einen grundlegenden Beitrag zu den Bildungszielen der gymnasialen Oberstufe und zur Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und Schüler bis zur Allgemeinen Hochschulreife“ (KMK 2012, 10). Die Bildungsziele der Oberstufe wiederum liegen in der Vermittlung einer vertieften Allgemeinbildung, der allgemeinen Studierfähigkeit und einer wissenschaftspropädeutischen Bildung. (ebd., 2). In der Beschreibung der fachlichen Standards kommt diese unterschiedliche Zielsetzung nicht in allen Bereichen so deutlich zum Ausdruck. Die Kompetenzbeschreibungen für den hier interessierenden Bereich „Sprache und Sprechen“ fallen z. B. für den Unterbereich „Vor anderen Sprechen“ zumindest für den Hauptschulabschluss und den Mittleren Abschluss ähnlich aus (in den Standards für die Allgemeine Hochschulreife fehlt dieser Bereich). Zwar lässt sich in den gewählten Formulierungen eine Nuancierung der Kompetenzen erkennen, diese sind aber nicht allzu deutlich. In den Kompetenzbeschreibungen für den Hauptschulabschluss steht z. B. als Anforderungen „sich artikuliert und verständlich in der Standardsprache äußern“ sowie „über einen für die Bewältigung schulischer, beruflicher und gesellschaftlicher Sprechsituationen angemessenen Wortschatz verfügen“ (KMK 2004, 10) während dies entsprechend beim Mittleren Abschluss „sich artikuliert, verständlich, sach- und situationsangemessen äußern“ sowie „über einen umfangreichen und differenzierten Wortschatz verfügen“ (KMK 2003, 10) lautet. Eine auf die Komplexität der Anforderungen bezogene Differenzierung zwischen den Schulformen erfolgt daher vor allem über die in den Standards mitgelieferten Aufgaben und hier vor allem in der kleinschrittigeren Aufgabenstellungen für den Hauptschulabschluss. Zusammenfassend lässt sich für die Diskussion um die Implementation von Bildungsstandards für das Fach Deutsch festhalten, dass hier sowohl aus der anglosächsischen Tradition übernommene Vorstellungen als auch etablierte Formen der Orientierung am dreigliedrigen Schulsystem wirksam wurden. Damit weichen die von der KMK formulierten Standards deutlich von den Empfehlungen der sog. KliemeExpertise ab (BMBF 2007), die für Deutschland sogenannte Mindeststandards gefordert hatte. Mindeststandards legen strikter als die in Deutschland etablierten Regelstandards fest, welche Kompetenzen alle Schülerinnen und Schüler haben sollten, wenn sie eine bestimmte Schulstufe erreicht haben, unter welches Niveau kein Schüler und keine Schülerin zurückfallen darf. Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer ist es, in diesem Fall dafür Sorge zu tragen, dass alle Schülerinnen und Schüler diese Standards auch erreichen. Regelstandards fokussieren eine mittlere Niveaustufe, die im Durchschnitt erreicht werden soll. Dabei wird davon ausgegangen, dass ein Teil der Schülerinnen und Schüler diese Stufe nicht erreichen wird. Dies schadet tendenziell eher den schwächeren Schülerinnen und Schülern, da sich niemand für sie und ihr Lernen „verantwortlich“ fühlt.
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3 Sprache im Unterricht als zu fördernder Bereich für einzelne Schülerinnen und Schüler Kinder aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte gehören in den meisten Ländern zu den eben erwähnten schwächeren Schülerinnen und Schülern, sind sie doch in schulischen Kontexten weniger erfolgreich als Kinder aus nicht eingewanderten Familien. In Deutschland ist dieser Zusammenhang besonders ausgeprägt. Zwar zeigen sich über die Zeit signifikante Verbesserungen der Leistungen von Kindern aus eingewanderten Familien insgesamt (Stanat/Rauch/Segeritz 2010; Stanat u. a. 2012), nach wie vor besteht aber ein bedeutsamer Leistungsunterschied zwischen Kindern aus eingewanderten und nicht eingewanderten Familien. Relativ konstant zeigt sich in allen Studien, die den schulischen Outcome über Kompetenzstufenmodelle erfassen, wie z. B. PISA und IGLU, dass ein großer Teil der 15-Jährigen aus zugewanderten Familien die elementaren Kompetenzstufen nicht erreichen und ihr mittleres Leistungsniveau unter dem von Jugendlichen ohne Migrationshintergrund bleibt. Eine Ausnahme bilden interessanterweise die fremdsprachlichen Kompetenzen. Hier zeigen sich in einigen getesteten Bereichen Vorteile von Kindern mit einer anderen Herkunftssprache ab (Leucht/Frenzel/Pöhlmann 2010). Zudem zeigen sich deutliche Leistungsunterschiede auf der Basis unterschiedlicher Herkunftskulturen und Generationen. So sind z. B. Kinder türkischer, serbischer und italienischer Einwanderer weniger erfolgreich als Kinder aus Familien, die aus Vietnam oder den Ländern der ehemaligen Sowjetunion eingewandert sind (vgl. Stürzer u. a. 2012, 26 ff.). Als Ursachen für diese Unterschiede und den insgesamt geringeren Bildungserfolg von Kindern aus eingewanderten Familien werden in der einschlägigen Forschung unterschiedliche Faktoren angeführt. So werden Bildungsbenachteiligungen z. B. als Folge der familialen Ressourcenausstattung und der geringeren Bildungsunterstützung gedeutet (z. B. Nauck/Diefenbach/Petri 1998), wobei ein geringes kulturelles und ökonomisches Kapital in der Familie das Erreichen höherer Bildungsabschlüsse eher unwahrscheinlich macht. Andere Autoren verweisen darauf, dass die Ursachen für den geringeren Bildungserfolg von Migrantenkindern auch in den von den Kindern besuchten Bildungsinstitutionen und dortigen Interaktionen begründet liegen. So können z. B. negative Stereotype, die einen Zusammenhang von Gruppenzugehörigkeit und Begabung unterstellen, die schulischen Leistungen der betroffenen Schüler beeinflussen (vgl. Schofield 2006). Auch scheint ein Zusammenhang zwischen Selbstkonzept, Selbstwert und schulischem Erfolg von Migrantenkindern vorhanden zu sein. Kinder mit einer hohen zweitsprachlichen Kompetenz weisen auch ein höheres Selbstvertrauen auf als Kinder mit geringeren Kompetenzen in diesem Bereich (vgl. Brizic 2006, 261). In eine ähnliche Richtung weisen Erklärungsmodelle, die den schulischen Erfolg bzw. Misserfolg auf die Lernumgebung und die institutionelle Rahmung des Schulsystems beziehen. Bekannt ist, dass Schulen aufgrund ihrer institutionellen Arbeits-
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und Lernbedingungen und ihrer pädagogisch-didaktischen Traditionen ihren Schülern unterschiedliche schulmilieubedingte Entwicklungschancen eröffnen und diese institutionellen Kompositionseffekte vor allem in Hauptschulen zu erschwerten Arbeitsbedingungen führen. Gomolla und Radkte sprechen hier von institutioneller Diskriminierung und führen Diskriminierungseffekte auf die der Schule in ihrer Eigenschaft als Organisation innewohnenden sozialen Prozeduren zurück. (Bommes/ Radtke 1993; Gomolla 2003). Gomolla betont, dass Diskriminierungen von Migrantenkindern auf der Basis der „Normalitätserwartungen in Bezug auf die Schul- und Sprachfähigkeit, wie sie deutschsprachigen, im weitesten Sinn christlich sozialisierten Mittelschicht-Kindern entsprechen“, erfolgen (Gomolla 2003, 105). Wirksam werden derartige Muster insbesondere bei Zuweisungsentscheidungen, z. B. beim Übergang nach der vierten Klasse. Unabhängig von den eben genannten und empirisch schwer zu fassenden Erklärungsmustern gilt als wichtigste Voraussetzung für den schulischen Erfolg insbesondere die Beherrschung der Unterrichtssprache. Dabei zeigt sich grundsätzlich die Tendenz, dass die durchschnittlichen Kompetenzen von Kindern mit Migrationshintergrund einen umso größeren Abstand zu Jugendlichen ohne Migrationshintergrund aufweisen, je weniger sie die deutsche Sprache im Alltag verwenden. Diese Einsicht hat u. a. in den meisten Bundesländern zur Etablierung von spezifischen Sprachfördermaßnahmen für Kinder mit einer anderen Herkunftssprache geführt. Diese lassen sich grob einteilen in Sprachfördermaßnahmen im Elementarbereich, Sprachfördermaßnahmen im Jahr vor der Einschulung und Sprachfördermaßnahmen in der (Grund-) Schule (ausführlicher Koch 2014). Sprachfördermaßnahmen im Elementarbereich richten sich als eine in den Alltag integrierte Form der Sprachförderung an alle Kinder einer Einrichtung und sollen spielerisch Sprachanregungen vermitteln. Als Ergänzung werden kompensatorisch angelegte Sprachförderprogramme für Kinder mit einer anderen Herkunftssprache angeboten. In der Praxis sind dies additive Maßnahmen, die oftmals von einer externen Sprachförderkraft durchgeführt werden. Ebenfalls additiv gedacht sind die in zahlreichen Bundesländern unternommenen Sprachfördermaßnahmen im Jahr vor der Einschulung (Koch 2003). Auch sie zielen auf Kinder mit einer anderen Herkunftssprache und verfolgen, ähnlich wie die Maßnahmen im Kindergarten eine kompensatorische Strategie im Umgang mit sprachlicher Differenz. Sie gleichen insofern den bereits etablierten schulischen Förderbemühungen für Kinder mit Migrationshintergrund. Das entsprechende Angebot für diese Schülerinnen und Schüler regeln die jeweiligen Bundesländer, so dass hier unterschiedliche Varianten in den Bundesländern existieren. Grob lassen sich aber zwei unterschiedliche Formen zusammenfassen: additive Fördermaßnahmen in „Sonderklassen“ (z. B. in Sprachlernklassen, Vorbereitungsklassen, Übergangsklassen) und additive Fördermaßnahmen als Zusatz zum Regelunterricht. Der additive Sprachunterricht in „Sonderklassen“ ist in der Regel zeitlich beschränkt und zielt darauf, Schülerinnen und Schülern, die ohne Kenntnisse in der Unterrichtssprache Deutsch in die Schule
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kommen (z. B. als Seiteinsteiger), die Grundlagen der deutschen Sprache so beizubringen, dass diese dem Unterricht in den Regelklassen folgen können. Zumeist ist die Verweildauer in den Sprachlern- oder Vorbereitungsklassen zeitlich beschränkt (wie z. B. in NRW und Niedersachsen auf maximal 2 Jahre). Für die additiven Sprachfördermaßnahmen, die als Ergänzung zum Regelunterricht gedacht sind, existieren in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Regelungen. In Niedersachsen z. B. werden additive Sprachfördermaßnahmen auf Antrag der Schule und in unterschiedlichen Formen erteilt: Als Förderkurse „Deutsch als Zweitsprache“ bei mindestens vier Schülerinnen mit dem zeitlichen Umfang von 4–6 Stunden pro Woche oder als Förderunterricht für Schülerinnen und Schüler, die nicht an einem Förderkurs teilnehmen (können) im Umfang von 2–5 Stunden pro Woche. In Bayern wiederum entscheidet das Staatliche Schulamt auf der Basis eines Förderkonzeptes der Schule über die Zuteilung der Stunden. In der Grund- und Realschule können Deutschförderkurse im Umfang von einer bis vier Wochenstunden angeboten werden, diese finden zusätzlich zum Regelunterricht statt. Die in den Bundesländern eingesetzten Lehrpläne für Deutsch als Zweitsprache, unterscheiden zumeist Basis- und Aufbaukompetenzen. Eine gewisse Vorbildfunktion für die additiven Förderkurse als Ergänzung zum Regelunterricht hatte dabei der Bayerische Lehrplan für Deutsch als Zweitsprache. Der 2001 vom Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung entwickelte Plan ist zyklisch in einen Grundund einen Aufbaukurs gegliedert. Inhaltlich weisen sowohl der Grund- als auch der Aufbaukurs dieselben sechs Lernfelder auf (Ich und du, Lernen, Sich orientieren, Miteinander leben, Was mir wichtig ist und Sich wohl fühlen). Die Lernfelder starten jeweils mit einem Signalthema und zugeordneten Modulen, denen dann Hinweise zu den Kerninhalten und Lernzielen folgen sowie Ausführungen zu den zu fördernden lexikalischen Bereichen und syntaktischen Mitteln. Kompetenzbeschreibungen, wie sie z. B. für die oben geschilderten Bildungsstandards üblich sind, finden sich nicht. Insgesamt verfolgt der Lehrplan einen kommunikativ-pragmatischen Ansatz und eine eher implizite Strategie des Spracherwerbs. Stärker sprachsystematisch ausgelegt sind demgegenüber die „Curricularen Grundlagen Deutsch als Zweitsprache“ aus Schleswig-Holstein, die sich sowohl auf die kommunikative Praxis des Sprachlernens als auch auf den fokussierten Erwerb grammatischer Formen beziehen. In den entsprechenden Ausführungen erfolgt eine Dreiteilung in Basiskurs, Aufbaukurs und Integrationskurs, wobei die ersten beiden Kurse auf die Ausgestaltung der Vorklassen und der Integrationskurs auf den zusätzlichen Förderunterricht bei Teilintegration in die Regelklassen zielen. Inhaltlich werden die zu vermittelnden Kompetenzen über die Lernbereiche „Hörverstehen und Sprechen“, „Schriftspracherwerb und Leseverstehen“ (jeweils schulstufenspezifisch unterteilt in Schriftspracherwerb im Schuleingangsalter und Zweitalphabetisierung in der Sekundarstufe I), „Lesetraining“ sowie „Schreiben“ operationalisiert. Die bisherigen Forschungen zur Wirksamkeit der zumeist additiven Sprachfördermaßnahmen vor und nach Beginn der Grundschule sind weitgehend ernüchternd,
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da die erwarteten positiven Effekte weitgehend ausblieben (vgl. z. B. Kammermeyer/ Roux/Stuck 2011; Koch/Jüttner/Hormann 2012). Gezielte Sprachfördermaßnahmen erweisen sich als nicht erheblich effektiver als Formen unspezifischer Förderung. In eine ähnliche Richtung weisen auch die (wenigen) Forschungsergebnisse zu Sprachfördermaßnahmen im Jahr vor der Einschulung und zu Sprachfördermaßnahmen in der Primar- und Sekundarstufe. Offensichtlich scheint das herkömmliche Konzept einer additiven DaZ-Förderung lediglich eine Stabilisierung der sprachlichen Leistungen von Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache auf einem niedrigen Niveau zu ermöglichen (vgl. Koch 2012; Kucharz u. a. 2014). Ein grundsätzliches Problem scheint dabei auch darin zu liegen, dass in den Schulen und bei den dort unterrichtenden Lehrkräften oftmals die für die Durchführung einer adäquaten sprachlichen Förderung notwendigen Kompetenzen fehlen. So versucht zwar die Mehrzahl der Schulen auf die Bedürfnisse ihrer Schülerinnen und Schüler zu reagieren, aber nur wenige Lehrkräfte setzten integrative sprachliche Fördermaßnahmen im Regelunterricht, die als besonders effektiv gelten, um (Mercator 2014, 12). Dies hängt sicher auch damit zusammen, dass in der universitären Lehreraus-, aber auch der Lehrerfort- und Weiterbildung Fragen des adäquaten Umgangs mit sprachlich heterogenen Lernklassen kaum eine Rolle gespielt haben. Insgesamt zeigt sich, dass die sprachlichen Integrationshilfen für Kinder mit einer anderen Herkunftssprache in allen Schulformen vor allem darauf zielen, die sprachliche Vorbereitung auf die Anforderungen der Regelschule zu unterstützten. Dies soll erreicht werden, indem den Schulen zusätzliche Lehrerstunden für Intensivkurse in Deutsch zur Verfügung gestellt, zusätzliche Mittel zum Erwerb spezifischer Lernmittel freigegeben oder besondere (Sprach-)Lernklassen gebildet werden. Eine langfristige Unterstützung des Zweitspracherwerbs, etwa bis zum Ende der Schullaufbahn, ist dabei ebenso wenig vorgesehen wie die Integration des mehrsprachigen Potenzials der Migrantenkinder in die deutsche Schule. Aus der Erkenntnis, dass Lehrerinnen und Lehrer häufig nicht in der Lage sind, auf die vorhandene Diversität ihrer Klassen kompetent und nach professionellen Standards zu reagieren, leitet sich hier für die Zukunft die Forderung ab, Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache als verbindlichen Teil der Lehrerausbildung zu verankern.
4 Sprache und Bildungsteilhabe im Kontext schulischer Heterogenität Die bisherigen Ausführungen zu den zwei behandelten Aspekten der „Sprache im Unterricht für alle“ und für „einzelne“ lässt sich bisher wie folgt zusammenfassen: Die Beherrschung der in der Schule gesprochenen Sprache in Form der Unterrichtssprache Deutsch und der abstrakt hinter dieser Sprache wirkenden Bildungssprache gilt als wichtigster Prädiktor für den Schulerfolg. Schülerinnen und Schüler, die die
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Unterrichtssprache nicht verstehen, sind auch nur schwerlich in der Lage die Bildungssprache der Schule zu erlernen. Betrachtet man dabei zunächst die im Unterricht zu vermittelnde Sprache für alle, dann fallen hier vor allem die in den letzten Jahren virulent gewordenen Bemühungen um die Implementation von Bildungsstandards auf. Folgt man Klieme u. a., dann definieren Bildungsstandards verbindliche Anforderungen an das Lehren und Lernen in der Schule, machen Aussagen über die wesentlichen Ziele der pädagogischen Arbeit in Form von explizierten Lernergebnissen und zu erreichenden Kompetenzen, die sich wiederum durch standardisierte Vergleichsarbeiten überprüfen lassen (BMBF 2007, 9; auch Köller 2010). Mit Verweis auf die in modernen Industriegesellschaften stetig steigenden Anforderungen an die Qualifikation der Individuen umreißen Bildungsstandards jene Kenntnisse und Kompetenzen, die dem Einzelnen ein Mindestmaß an sozialer Teilhabe an der modernen Gesellschaft garantieren. Trotz immer wieder aufscheinender Kritik, z. B. an der Abkehr von fachspezifischen Wissensbeständen hin zu einer auf den Lernoutput der Schülerinnen und Schüler fokussierten Vermittlung und Testung von Kompetenzen, hat sich die mit den Standards und Curricula veränderte Sicht auf Unterricht und die hiermit einhergehend Fokussierung auf sprachlich zu bewältigende Aufgabeformate, zumindest als Zielvorgabe, für alle Schulformen etabliert. Ebenfalls etabliert haben sich besondere Sprachfördermaßnahmen für Kinder aus Zuwandererfamilien. Hier lässt sich ein massiver quantitativer Ausbau in den letzten Jahren vor allem im Elementarbereich und im Übergangsjahr in die Grundschule beobachten, während diese im Primarbereich selbst, ähnlich wie im Sekundarbereich eher stagnieren. Zwar sind Sprachfördermaßnahmen im Primarbereich bereits seit längerem etabliert, im Vergleich zur vorschulischen Situation ist die Förderung der Sprache im Unterricht nur ein Lernziel unter anderen. Zudem sind zusätzlich zum Unterricht angebotene DaZ-Stunden keineswegs verlässlich. Im Sekundarbereich wurden Fragen der sprachlichen Förderung zumeist fokussiert auf die Hauptschule oder den berufsbildenden Bereich, höhere Schulformen wie das Gymnasium blieben davon meist ausgeklammert. Zudem fällt auf, dass analog zum monolingualen Habitus des deutschen Schulwesens (Gogolin 1994), primär die Förderung sprachlicher Kompetenzen in der Unterrichtssprache Deutsch fokussiert wird. Die Herkunftssprachen spielen dabei eine marginalisierte Rolle. Die Dichotomisierung der jeweils mit der Vermittlung von Sprache verknüpften Zielgruppen – einerseits „alle Schülerinnen und Schüler“ und andererseits „einzelne besonders förderungswürdige Schülerinnen und Schüler“ –verkennt dabei die Realität in den Klassenzimmern selbst, die in allen Schulformen von einer zunehmenden Heterogenität der Lernausgangslagen (auch der sprachlichen) gekennzeichnet ist. So haben z. B. knapp ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler in der Grundschule einen Migrationshintergrund, ein Drittel von diesen wächst mehrsprachig auf (vgl. Schwippert/Bos/Lankes 2003, 278) und Schätzungen gehen davon aus, dass sich dieser Anteil in Zukunft erhöhen wird. Selbst im Sekundarbereich besteht derzeit akuter Handlungsbedarf, gilt es doch zeitnah adäquate Konzepte zur Aufnahme und
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Integration von Seiteneinsteigern und -einsteigerinnen zu entwickeln, die in jüngster Zeit und im Kontext der Eurokrise mit ihren Eltern oder alleine nach Deutschland einwandern. In Niedersachsen z. B. rechnete der Landtag damit, dass die Anzahl von Sprachlernklassen für Schülerinnen und Schüler mit keinen oder geringen Kenntnissen in Deutsch von 70 im Schuljahr 2013/14 auf 83 im Schuljahr 2014/15 steigen würde. (Nds. Landtag, 17. Wahlperiode, Drucksache 17/1265) Tatsächlich wurden 240 Sprachlernklassen im zweiten Schulhalbjahr 2014/15 eingerichtet. (Pressemitteilung Niedersächsisches Kultusministerium 19.1.2015). Zudem werden in allen Schulformen im Zuge der Bemühungen um Inklusion auch vermehrt Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen gemeinsam lernen. Vor diesem Hintergrund wird die Frage nach erfolgreicher Bildungsteilhabe im Kontext von sprachlicher, kultureller und kognitiver Heterogenität in allen Schulformen immer wichtiger. Verfolgt man hier die Entwicklungen im letzten halben Jahrhundert, dann zeichnet sich einerseits eine deutliche Expansion des Bildungswesens ab, die sich u. a. an einer längeren Verweildauer im System und an insgesamt gestiegenen Anteilen an höheren und mittleren Abschlüssen festmachen lässt. Zugleich wird andererseits deutlich, dass trotz Standardsetzung des Unterrichts und zusätzlichen sprachlichen Fördermaßnahmen nicht alle Gruppen gleichermaßen davon profitieren und sich vor allem für Kinder unterer sozialer Schichten und Kinder aus Familien mit familiärer Zuwanderergeschichte deutliche Stagnationen in ihrer Bildungsteilhabe ergeben. Zwar hat sich de facto seit den 1960er Jahren die Bildungsbeteiligung aller sozialen Schichten erhöht, vergleicht man diese jedoch genauer, dann zeigt sich, dass die alten Verteilungsmuster sowohl hinsichtlich der Bildungsteilhabe als auch des Übergangs in die Universität weitgehend stabil bleiben. (vgl. Geißler 2006; Ehmke/ Baumert 2007). Ähnliches lässt sich auch für Kinder aus Einwandererfamilien konstatieren. Diese besuchen häufiger die Hauptschule und seltener das Gymnasium als deutsche Schülerinnen und Schüler und sind im Vergleich zu diesen insbesondere in der Sonderschule überrepräsentiert. Während zudem ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler die Schulzeit mit der Hochschulreife beendet, sind dies lediglich ein Sechstel der Jugendlichen mit Migrationshintergrund (vgl. Koch 2009). Besonders benachteiligt in ihrer Bildungsteilhabe sind dabei Jungen aus niedrigen sozialen Herkunftsfamilien oder aus Einwandererfamilien, die so zu „Bildungsverlierern“ werden (vgl. hierzu Quenzel/Hurrelmann 2010). Sucht man nach Begründungen für den relativ schlechten Bildungserfolg von Kindern aus unteren sozialen Schichten und Einwandererfamilien, lassen sich eine Reihe von Begründungen anführen, die z. B. auf institutionelle Selektions- und Diskriminierungsmuster, auf herkunftskulturelle, familiale Prozesse der Akkulturation oder auf Bildungsbenachteiligungen als Folge von rationalen, von der jeweiligen Herkunftskultur abhängigen Entscheidungen verweisen (siehe hierzu ausführlicher Quenzel/Hurrelmann 2010). Bleibt die Frage nach den Erfolgen, die sich durch ein an den Standards orientiertes Lernen und Lehren und eine zusätzliche Sprachförderung zeigen. Hierzu
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geben zwei Studien des IQB Auskunft, die zum einen den Primarbereich und zum anderen den mittleren Abschluss fokussieren (Stanat u. a. 2012). Wenig verwunderlich lassen sich für die Primarstufe als auch für die Sekundarstufe deutliche Unterschiede zwischen den Ländern der Bundesrepublik konstatieren, die im Wesentlichen die bereits bekannten Unterschiede aus PISA und IGLU bestätigen. Bayern, Baden-Württemberg und einzelne ostdeutsche Bundesländer erreichen nahezu stabil überdurchschnittliche Kompetenzwerte in allen geprüften Bereichen, ein Großteil der Länder weicht nicht auffällig vom mittleren Durchschnitt in Deutschland ab, wohingegen die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen konstant zu den Ländern mit unterdurchschnittlichen Leistungswerten gehören. Auch im Hinblick auf Kinder mit einer anderen Herkunftssprache sind die Unterschiede zwischen den Ländern weitgehend konstant. In allen untersuchten Bereichen lassen sich zwischen zugewanderten Kindern und nicht zugewanderten Kindern Kompetenzunterschiede feststellen. Dies betrifft sowohl den Bereich des Lesens als auch des Zuhörens. Insgesamt deuten die Befunde für die vierte Klasse darauf hin, dass die vor allem in der Sekundarstufe I noch deutlicher ausgeprägten Kompetenzunterschiede beim Lesen und Zuhören bereits am Ende der vierten Klasse manifest sind (Haag/Böhme/Stanat 2012, 232) und sich dann mit dem Übergang in die Sekundarstufe verschärfen. Insofern lässt sich derzeit noch nicht erkennen, dass eine Orientierung an Bildungsstandards sowie eine explizite Förderung der Unterrichtssprache Deutsch allein den Lernoutput der Schülerinnen und Schüler wesentlich verbessern könnten. Vor diesem Hintergrund werden derzeit nicht nur in den Bildungswissenschaften vermehrt Unterrichtskonzepte in den Vordergrund gerückt, die eine durchgängige Sprachbildung in allen Fächern für alle Schülerinnen und Schüler fordern. Wegweisend hierfür ist z. B. die im FörMig-Kontext entwickelte Vorstellung einer „Durchgängigen Sprachbildung“, die verstanden wird als eine Anleitung zur Förderung von Bildungssprache in Bildungsinstitutionen (vgl. z. B. Gogolin/Lange 2011; vgl. Lengyel, Art. 24 in diesem Band). Das durchaus normativ gemeinte Konzept (Reich 2013) fokussiert auf schul- und bildungsrelevante sprachliche Fähigkeiten, die sich kontinuierlich im Laufe der individuellen Bildungskarriere (weiter-) entwickeln und ausdifferenzieren. Konstitutiv für diese sprachliche Entwicklung sind drei Dimensionen: Im Vordergrund der bildungsbiografischen Dimension steht die Überlegung, dass sich die bildungssprachlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler kumulativ und in Abhängigkeit zu den jeweils besuchten Bildungsinstitutionen entwickeln. Eine Aufgabe der Bildungsinstitutionen besteht darin, den Entwicklungsprozess unter Berücksichtigung der jeweils vorangehenden und anschließenden Bildungsetappen (Kindergarten – Grundschule – Sekundarstufe I und II – berufliche Bildung – Studium) kontinuierlich zu gestalten und vor dem Hintergrund der im Laufe der Bildungsbiografie zunehmend komplexer wertenden sprachlichen Anforderungen adäquat zu begleiten. Durchgängig bedeutet hier, dass die bisher vorherrschende Konzentration auf sprachliche Förderbemühungen im Elementar- und Primarbereich abgelöst werden muss durch dauerhafte Förderbemühungen über alle Bildungsetap-
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pen hinweg (Gogolin 2011). Die thematisch-situative Dimension berücksichtigt, dass Sprachlernen in Bildungsinstitutionen nie unabhängig von fachlichen Lernkontexten und Lerngelegenheiten erfolgt. Hiermit verknüpft ist die Forderung, sprachliche Bildung nicht wie im Bildungssystem üblich in Form additiver Fördereinheiten zusätzlich zum Regelunterricht oder zum pädagogischen Geschehen im Kindergarten (vgl. Redder u. a. 2011) anzubieten, sondern in das fachliche Lernen im Unterricht und den pädagogischen Alltag der Kindertagesstätten zu integrieren. Sprachlernen und Fachlernen werden hier, z. B. in Form alltagsintegrierter Sprachförderung im Elementarbereich oder als sprachsensibler Fachunterricht in der Schule, als zusammengehörig betrachtet. Die Dimension der Mehrsprachigkeit schließlich verweist darauf, dass Kinder und Jugendliche, und hier insbesondere jene mit familialer Zuwanderungsgeschichte, über mehr als nur eine Sprache verfügen. Mehrsprachigkeit wird im Konzept der Durchgängigen Sprachbildung als Ressource des Lernens und Anlass zum Lernen verstanden. Hieraus abgeleitet wird die Forderung in den Bildungsinstitutionen Lerngelegenheiten zu schaffen, die die Sprachen der Schülerinnen und Schüler einbeziehen und diese nutzen, um bildungssprachliche Kompetenzen aufzubauen (Salem 2010). Der sich hier abzeichnende normative Turn von der „additiven Sprachförderung“ zur „durchgängigen Sprachbildung“ als Leitfigur des adäquaten Umgangs mit sprachlicher Heterogenität in Bildungsinstitutionen findet seine praktische Entsprechung in einer Reihe von weiteren Projekten und bildungspolitischen Initiativen. So beziehen sich z. B. die niedersächsischen Handlungsempfehlungen „Sprachförderung als Teil der Sprachbildung im Jahr vor der Einschulung durch Grundschullehrkräfte“ (2012) explizit auf die FörMig-Vorstellung einer durchgängigen Sprachbildung. Interessant ist das Verhältnis von Sprachbildung, die sich auf alle Kinder einer Gruppe bzw. einer Klasse bezieht und Sprachförderung, die lediglich als kurzfristige Interventionsmaßnahme für jene Kinder geplant sind, bei denen eine besonderer Sprachförderbedarf festgestellt wird. Sprachförderung wird also interpretiert als Teil der durchgängigen Sprachbildung, was zumindest für den Elementarbereich eine Abkehr von der bis dahin in Niedersachsen propagierten Form der additiven Förderung durch externe Sprachförderkräfte bedeutet (vgl. hierzu Koch/Jüttner/Hormann 2011). In eine ähnliche Richtung weist auch die Expertise des BMBF-Programms Bildung in Sprache und Schrift (BiSS). Für den Primarbereich halten die Autoren und Autorinnen z. B. fest: „Sprachbildung und Sprachförderung muss daher durchgängig angelegt und auf die jeweiligen Anforderungen abgestimmt sein“ (Schneider u. a. 2012, 77). Für Kinder, die sprachstrukturelle Probleme haben, wird eine zusätzliche additive Förderung empfohlen, die mit dem Unterricht verzahnt erfolgen soll (ebd., 77). Zudem soll eine gezielte sprachliche Bildung in den Sachfächern den Aufbau von fachlichem Wissen erleichtern (ebd., 81). Im Rahmen der Überlegungen zum sprachbewussten Unterricht gelten insbesondere Maßnahmen des „Scaffolding“ als besonders effektive sprachfördernde Strategien (Van de Pol/Volman/Beishuizen 2010, 283). Hammond und Gibbons beschreiben
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Scaffolding als eine Unterrichtsmethode, die darauf zielt das fachliche Lernen der Schülerinnen und Schülern sprachlich zu unterstützen (Hammond/Gibbons 2005, 10; vgl. Lengyel, Art. 24 in diesem Band). In einem fachlich bedeutsamen Kontext werden den Schülerinnen und Schülern möglichst viele Gelegenheiten zur Kommunikation über das fachlich zu Lernende, zur kognitiven Auseinandersetzung und zur Versprachlichung angeboten, wobei die Lehrkraft mit fortschreitendem Kompetenzgewinn des Lerners die Unterstützung schrittweise minimiert (vgl. Gibbons 2002, 10 f.). Eine besondere Bedeutung kommt nach Gibbons der Strukturierung der Unterrichtsinteraktionen zu (sog. Mikro-Scaffolding). Gefordert wird daher eine Unterrichtsinteraktion, die die bekannten Schemata des fragend-entwickelnden Unterrichts verlässt und stattdessen die Unterrichtsinteraktion einerseits verlangsamt, damit sprachlich schwächere Schülerinnen und Schüler verstehen, worum es geht und anderseits stärker variiert, z. B. über den Gebrauch linguistischer Sprachlehrstrategien, wie Stimulierungs- Modellierungs- und Feedbacktechniken sowie Diskursstrategien (vgl. z. B. Dannenbauer 2002; Ritterfeld 2000), damit sprachlich schwächere Schülerinnen und Schüler an der Unterrichtsinteraktion partizipieren können (Hammond/ Gibbons 2005, 21). Scaffolding ist somit eine Form des sprachsensiblen Fachunterrichts. Diesen beschreiben Vollmer und Thürmann (2012) als einen Unterricht, der die sprachlichen Anteile der fachunterrichtlichen Zielsetzungen deutlich macht, die eingesetzten Materialien auf ihre sprachliche Angemessenheit hin überprüft und sprachlich Aspekte bei der Leistungserfassung und -bewertung berücksichtig. Inwiefern ein durchgängig sprachsensibler Fachunterricht dazu beiträgt, Bildungsteilhabe zu ermöglichen, lässt sich derzeit empirisch (noch) nicht belegen. Unstrittig scheint, dass sprachliche Entwicklungsprozesse kontinuierlich und systematisch unterstützt und begleitet werden müssen. Schneider u. a. fordern z. B., dass sprachliche Bildung und Förderung ein zentrales Element von Schulentwicklung werden müssten und hierfür eine ausreichende Weiterbildung der Lehrpersonen und Förderkräfte nötig sei (Schneider u. a. 2012, 100). Realistisch betrachtet wird es noch einige Zeit und einige Anstrengungen brauchen, bis sich das Prinzip der durchgängigen Sprachbildung in den Schulen tatsächlich so fundiert etabliert hat, dass es Wirkung zeigen kann. Denn eine derartig anspruchsvolle, in den (Fach-) Unterricht integrierte Form der durchgängigen Sprachbildung erfordert auf Seiten der Lehrkräfte spezifische linguistische und sprachdidaktische Kenntnisse, die momentan vermutlich nur bei wenigen bereits vorhanden sind. Somit wird deutlich, dass der Ausbildung professioneller Kompetenzen auf Seiten der pädagogischen Fachkräfte und Lehrkräfte in Zukunft eine große Bedeutung für eine gelingende durchgängige Sprachbildung zukommt (vgl. z. B. Redder u. a. 2011). Sowohl die Umsetzung eines kompetenzorientierten Fachunterrichts für alle als auch die Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache im Sinne einer Durchgängigen Sprachbildung stellt die Bildungsinstitutionen und die darin tätigen die Lehrkräfte vor Herausforderungen und erfordert von ihnen Kompetenzen, die momentan noch nicht selbstverständlich in der Lehreraus-, Fort und Weiterbildung verankert sind.
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18. Ansätze und Methoden der Bewertung sprachlicher Leistungen als Indikatoren von Bildung und Wissenserwerb Abstract: Dass Sprache im Rahmen der Bildung eine entscheidende Funktion hat, zeigt sich auch in der Praxis von Bildungsinstitutionen. Gegenwärtig wird, insbesondere für die Schule, die Verknüpfung von fachlichem (sachbezogenem) und sprachlichem Lernen zum Unterrichtsprinzip erhoben. Dies muss sich folgerichtig auch in der Bewertung fachlicher und sprachlicher Leistungen widerspiegeln. Es wird gezeigt, wie in Bildungsinstitutionen Leistungen erfasst und bewertet werden und dass sich hierbei ein erweitertes Leistungsverständnis entwickelt hat. Aufgrund dieses veränderten Blicks wurden neue Ansätze und Methoden der Leistungsbewertung entwickelt und etablierte überdacht. Einige prominente Formen der Leistungsbewertung werden unter dem besonderen Aspekt der Bewertung sprachlicher Leistungen vorgestellt. Da Sprache in einzelnen Fächern eine unterschiedliche Funktion hat, wird außerdem genauer auf die Bewertung in den Sprachfächern und in anderen Fächern eingegangen und erörtert, wie in einem sprachsensiblen Fachunterricht mit Fragen der Leistungsbewertung angemessen umgegangen werden sollte. 1 Einleitung 2 Leistungsbewertung in Bildungsinstitutionen 3 Formen und Methoden des Bewertens sprachlicher Leistungen 4 Bewerten sprachlicher Leistungen in unterschiedlichen Fächergruppen 5 Perspektiven 6 Literatur
1 Einleitung Eine Klausur schreiben, eine mündliche Prüfung absolvieren, eine Fach-, Bachelor- oder Masterarbeit vorlegen, das Ergebnis einer Projektarbeit zusammen mit anderen in einem Vortrag vorstellen, einen Multiple-Choice-Test bearbeiten oder die Ergebnisse einer eigenen künstlerischen Produktion präsentieren und kommentieren – all diesen kommunikativen Situationen ist gemeinsam, dass in ihnen unter Beweis gestellt werden soll, dass Personen ein bestimmtes Wissen besitzen und über bestimmte Kompetenzen verfügen. Die überzeugende, erfolgreiche Bewältigung der Anforderungen wird als Indikator für den Erwerb des Wissens bzw. der Kompetenzen genommen und aus diesen wird darauf geschlossen, dass Bildungsprozesse abgelau-
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fen sind und Bildung erworben wurde. Gemeinsam ist den genannten Situationen aber auch, dass die in ihnen gezeigten Leistungen in sprachlicher Form erbracht werden bzw. – wie im Falle eines Kunstobjekts oder eines musikalischen Beitrags – zumindest zumeist von sprachlichen Kommentierungen begleitet werden. Es handelt sich um Inszenierungen, die mit dem Zweck der Erbringung und Bewertung von Leistungen verbunden sind; sie sind institutionell verankert und teilweise ritualisiert. Bewertungs- und Prüfungssituationen unterliegen den (auch sprachlichen) Normen der jeweiligen Institution und tragen nicht unwesentlich zur Tradierung, Aushandlung und Weiterentwicklung dieser Normen bei. Für die Personen, deren Leistungen bewertet werden, besitzen diese Situationen persönliche Relevanz, sogar Brisanz und können ggf. über den weiteren institutionellen Bildungsgang entscheiden. Das Bewältigen von Bewertungs- und Prüfungssituationen ist also offensichtlich in der Regel „an sprachliche Fähigkeiten geknüpft, selbst wenn diese kein explizites Bewertungskriterium darstellen“ (Nutz 2003, 924). Versuche, sprachfreie Formate zu finden (wie z. B. bei Intelligenztests), haben sich als wenig überzeugend, ja als kontraproduktiv für Bildungsprozesse erwiesen, vielmehr wird die Verknüpfung von fachlichem (sachbezogenem) und sprachlichem Lernen im gegenwärtigen Diskurs zum Unterrichtsprinzip erhoben (vgl. Becker-Mrotzek u. a. 2013; Michalak 2014), da sich in empirischen Studien eine gemeinsame Förderung als wirkungsvoll erwiesen hat (Beese/Benholz 2013, 50). Deshalb ist zu fragen, mit welchen Ansätzen sich Leistungen, die in sprachlicher Form erbracht werden, bewerten lassen, um sie als Indikatoren für Wissenserwerb und Bildung zu nutzen. Diese Fragestellung bedarf eines interdisziplinären Zugriffs, da sie an der Schnittstelle von Erziehungswissenschaft, Fachdidaktiken, Linguistik und empirischer Bildungsforschung angesiedelt ist und zudem das Erfahrungswissen von Lehrkräften und Prüfenden sowie bildungsrechtliche Rahmungen zu berücksichtigen sind. Aktuell wird die Frage insbesondere im Zusammenhang mit folgenden Thematiken diskutiert bzw. tangiert: Leistungsbewertung und neue Lernkultur, Kompetenzorientierung und Schulleistungsstudien, Umgang von Bildungsinstitutionen mit sprachlicher Heterogenität, Bildungsgerechtigkeit, Bildungssprache, sprachsensibler Fachunterricht, Bewerten im Sprachunterricht. Im folgenden Beitrag wird zunächst darauf eingegangen, wie in Bildungsinstitutionen Leistungen erfasst und bewertet werden und wie sich aktuell hierbei ein erweitertes Leistungsverständnis zeigt, das neue Ansätze der Bewertung und einen veränderten Blick auf sprachliche Leistungen erzeugt (Abschnitt 2). Danach werden einzelne Formen bzw. Methoden der Leistungsbewertung genauer betrachtet (Abschnitt 3). Da Sprache in einzelnen Fächern bzw. Domänen eine unterschiedliche Funktion hat, wird im Abschnitt 4 genauer auf die Bewertung in den Sprachfächern und in anderen (‚nichtsprachlichen‘) Fächern eingegangen. Abschließend werden Perspektiven für Forschung und Bewertungspraxis umrissen (Abschnitt 5). Der Artikel konzentriert sich auf die Bewertung sprachlicher Leistungen im Bereich von Schulen, die exemplarisch für andere Bildungsinstitutionen stehen. Der
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Elementarbereich bleibt ausgespart, da hier der Aspekt der Förderung vor dem der Bewertung steht. Ebenso werden Bewertungsprozesse außerhalb von Bildungsinstitutionen nicht berücksichtigt, wenngleich auch dort von sprachlichen Äußerungen auf Wissen und Kompetenzen bzw. Bildung geschlossen wird, z. B. bei einem Bewerbungsverfahren in der Wirtschaft oder bei der Bewertung politischer Reden. Auf die Erfassung sprachlicher Leistungen in und mit standardisierten Tests und Schulleistungsvergleichsstudien wird an anderer Stelle eingegangen (vgl. Kap. IV in diesem Band).
2 Leistungsbewertung in Bildungsinstitutionen 2.1 Funktionen schulischer Leistungsbewertung Das Bildungswesen hat in der Moderne nach Fend (2008, 54) eine Doppelfunktion: Seine gesellschaftliche Funktion umfasst die Enkulturation, die Qualifikation, die Allokation und die Integration. Damit korrespondiert die individuelle Funktion, die auf Handlungsfähigkeit in den Bereichen der kulturellen Teilhabe und Identität, der Berufsfähigkeit, der Lebensplanung und der sozialen Identität und politischen Teilhabe gerichtet ist. Leistungsbewertung und -beurteilung tragen zur Erfüllung dieser Doppelfunktion des Bildungswesens bei: Sie dienen der Allokation und Selektion, hinzu kommen eine Informationsfunktion für die Lernenden und Lehrenden (in der Schule auch für die Eltern), die Funktionen der Diagnose und Prognose, der Motivation, aber auch der Kontrolle und Disziplinierung und der Internalisierung des Leistungsprinzips bei den Lernenden (vgl. Tillmann/Vollstädt 2000). Diese Vielfalt sich zudem teils widersprechender Funktionen macht eine der Schwierigkeiten bei der Bewertung von Leistungen in Bildungsinstitutionen deutlich. In der einschlägigen Literatur und in der Praxis werden die Begriffe des Bewertens und Beurteilens, teils auch des Benotens oft synonym verwendet. Im vorliegenden Beitrag wird hingegen eine Differenzierung vorgenommen: Unter Bewerten soll der Vergleich einer Leistung (Vollzug und Ergebnis einer zielgerichteten, mit Anstrengung verbundenen Tätigkeit) mit einem Maßstab hinsichtlich ihrer Güte verstanden werden (Klafki 1996, 228). Beurteilen meint die verbal geäußerte Bewertung, die auch in Form von Ziffernnoten oder Punktbewertungen vorgenommen werden kann (Becker-Mrotzek 2014, 502). Die teils heftig geführte Debatte um Ziffernnoten bzw. Ziffernzeugnisse versus verbale Beurteilung bzw. Lernentwicklungsberichte wird hier nicht weiter verfolgt, verweist gleichwohl auf die Problematik, was im Bildungswesen als Leistung anerkannt und damit einer Bewertung anheimgestellt werden soll.
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2.2 Erweitertes Verständnis von Leistungsbewertung In den letzten Jahrzehnten ist international eine Trendwende in der Unterrichtsgestaltung zu erkennen, die unter dem programmtischen Titel der „neuen Lernkultur“ geführt wird. Diese ist gekennzeichnet durch eine höhere Selbständigkeit der Lernenden, die Orientierung auf deren Lernprozesse und nicht nur auf die Lernergebnisse, den Einsatz komplexer, alltagsnaher Aufgaben und größere Partizipationsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler (vgl. Winter 2014, 5 ff.). Im Zusammenhang damit entwickelte sich auch ein erweitertes Leistungsverständnis, das bereits die Lernprozesse als Leistung anerkennt und sich um deren Verständnis bemüht, infolgedessen einen dynamischen Leistungsbegriff favorisiert und Schülerinnen und Schülern größere Selbst- und Mitbestimmung einräumt (ebd., 151 ff.). Die ergebnisorientierte Bewertung wird von einer prozessbegleitenden ergänzt oder abgelöst. Im Bereich des Schreibens bedeutet das etwa, auch die Prozesse des Planens, Formulierens und Überarbeitens zu berücksichtigen und nicht nur den fertigen Schülertext (vgl. Becker-Mrotzek 2014, 504). Das Bewerten wird zudem verstärkt auch im Kontext einer didaktischen Diagnostik gesehen. Diese begleitet alle Stationen in einem Kreislauf von Lernplanung, Aufgabenbearbeitung, Präsentation, Auswertung und Bewertung, Rückmeldung und Dokumentation der Lernentwicklung (vgl. Winter 2011, 206). Mit Blick auf die zu bearbeitenden Aufgaben, z. B. eine mathematische Problemlöseaufgabe oder eine Schreibaufforderung, wurde die klare Unterscheidung von Lern- und Übungsaufgaben einerseits und Leistungs- bzw. Prüfungsaufgaben andererseits gefordert, die sich inzwischen etabliert hat (vgl. Jost/Böttcher 2012, 114). Lernauf gaben sollen so konzipiert sein, dass sie die Aneignung von Wissen und Kompetenzen unterstützen, Fehler ausdrücklich erlauben und mit einem prozessbegleitenden Feedback verbunden werden. Leistungsaufgaben hingegen dienen der Demonstration von Lernergebnissen im Modus einer Überprüfung. Weiterführend ist der Vorschlag, innerhalb der Lernaufgaben bzw. -situationen zwischen bewertungsfreien und notenfreien zu unterscheiden (vgl. Winter 2011, 210), um so das Bewerten in den Lernprozess zu integrieren, dabei Kriterien der Leistungsbewertung einzuführen bzw. mit den Lernenden auszuhandeln und bei diesen Reflexionsprozesse anzustoßen. Bewertungen werden dabei eher auf die Individualnorm orientiert sein, um Lernfortschritte zu verdeutlichen und nicht den Vergleich mit anderen Lernenden (Sozialnorm) oder einer zu erreichenden Sachnorm zu betonen (vgl. ebd.).
2.3 Bereiche des Bewertens Bewertbar sind (mehr oder weniger isolierte) Kenntnisse (als Indikatoren für Wissenserwerb im engeren Sinne), Fähigkeiten (z. B. zur Anwendung von Lern- und Arbeitsmethoden), Fertigkeiten (im Sinne automatisierter Handlungsvollzüge) und bestimmte Lern-, Arbeits- und Verhaltensweisen, die aufgrund des dominierenden Prinzips des
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Fachunterrichts bzw. der disziplinbezogenen Lehre an Hochschulen zunächst fachbezogen definiert werden. Insbesondere bezüglich schulischen Lernens und Bewertens hat sich die Unterscheidung fachlicher und überfachlicher Kompetenzen durchgesetzt, wobei – wie ein Blick in die nationalen Bildungsstandards zeigt – inzwischen von einem Zusammenspiel ausgegangen wird und beide Kompetenzarten sprachliche Teilleistungen einschließen. Bei den überfachlichen Kompetenzen unterscheiden z. B. Czerwanski/Solzbacher/Vollstädt (2002, 33 f.) drei Dimensionen: – Sach- und Methodenkompetenz (u. a. Beschaffen, Erfassen und Beurteilen von Informationen, Erkennen, Entwickeln und Gestalten von Arbeits- und Sachstrukturen, Entwickeln und Nutzen von Arbeitsplänen, Erkennen und Anwenden von Problemlösestrategien), – soziale Kompetenz (u. a. Arbeiten im Team, konstruktives Kommunizieren und Argumentieren, Halten von Vorträgen, Eingehen auf Zuhörer, Beheben von Konflikten, Üben und Annehmen von Kritik), – personale Kompetenz (Motivieren zum Lernen, Entwickeln von Neugier und Eigeninitiative, Kennen eigener Stärken und Schwächen, Entwickeln von Frustrationstoleranz, Setzen von eigenen Leistungszielen und Evaluieren des eigenen Lernens). Angesichts der oben angeführten Erkenntnisse über die Relevanz des sprachlichen Lernens ist es naheliegend, diesen Katalog durch eine Dimension „fächerübergreifende Kommunikationskompetenz“ (Budde/Michalak 2014, 20 f.) zu ergänzen. Diese beinhaltet „Kenntnisse über die Struktur und Funktion der Fachsprachen“ sowie „deren angemessene Anwendung in fachbezogenen Kommunikationssituationen und das Bewusstsein über deren Vor- und Nachteile“ (ebd., 21). Diese Konzentration auf den Bereich der Fachsprache ist zwar naheliegend, verengt aber das Feld der zu berücksichtigenden kommunikativen Kompetenzen zu stark. Weiterführend ist der von Vollmer und Thürmann (2013, 47) vorgelegte mehrdimensionale Referenzrahmen fachübergreifender bildungssprachlicher Kompetenzen, der folgende Dimensionen berücksichtigt: – fachunterrichtliche Inhalte und Methoden, – Zeichensysteme und Genres, – kognitiv-sprachliche Funktionen, – Text- und Diskurskompetenz, – ein Repertoire sprachlicher Mittel (Aussprache, Schreibung, Wortschatz, Grammatik, Pragmatik). Mit dem Konstrukt der Bildungssprache wird dabei ein sprachliches Register zu fassen versucht, dessen sichere Beherrschung unabdingbar für den Schulerfolg ist und das sich mit der Schriftsprache und der Schulsprache berührt. Bildungssprache kann als eine primär einzelsprachliche Ressource verstanden werden, die als Sprache des Lernens gilt und in didaktischen Kontexten genutzt wird (Feilke 2012a; Gogolin/
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Duarte, Art. 23 in diesem Band). Die Bildungssprache bildet die implizite Norm, an der sprachliche Leistungen von Lernenden gemessen werden; ihre unzureichende Beherrschung beeinträchtigt das Bild, das vom Niveau des (fachlichen) Wissenserwerbs und der Bildung entsteht. Um allen Schülerinnen und Schülern die Aneignung dieser Bildungssprache besser als bislang zu ermöglichen, wurde das Konzept der „durchgängigen Sprachbildung“ entwickelt und in Pilotschulen erprobt. Innerhalb des Konzepts werden sechs Qualitätsmerkmale für den Unterricht benannt, von denen sich eines explizit auf das Bewerten bezieht: „Die Lehrkräfte und die Schülerinnen und Schüler überprüfen und bewerten die Ergebnisse der sprachlichen Bildung“ (Gogolin u. a. 2011, 25). Konkretisierend wird hierzu genannt, dass „eine konstruktive Haltung gegenüber dem Fehler“ zu entwickeln sei, Schülerinnen und Schüler „inhaltlich reiche, nachvollziehbare und für das weitere Lernen förderliche Rückmeldungen“ erhalten, sprachliche Leistungen „kriterienorientiert“ zu erfassen, zu bewerten und zu korrigieren sind und Schülerinnen und Schüler „Hilfen und Instrumente“ erhalten, „mit denen diese auch selbst zur Einschätzung ihrer sprachlichen Fähigkeiten und Fortschritte in der Lage sind“ (ebd.). Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Empfehlungen substantiell mit den Grundgedanken des Konzepts des erweiterten bzw. pädagogischen Leistungsverständnisses übereinstimmen.
2.4 Gütekriterien beim Bewerten (sprachlicher) Leistungen Aufgrund der gesellschaftlichen und individuellen Relevanz werden an das Bewerten und Beurteilen im Bildungswesen von den Beteiligten und von der Öffentlichkeit hohe Ansprüche gestellt. Gebündelt wird dies in der Erwartung, gerade auch seitens der Schülerinnen und Schüler sowie der Studierenden, es möge gerecht und fair zugehen. Jedoch zeigen zahlreiche, teils replizierte Studien, dass die Leistungsbewertung in Schulen und Hochschulen diese Erwartungen nicht annähernd einlösen kann. Insbesondere die aus der klassischen Testgütetheorie bekannten Kriterien der Reliabilität, Objektivität und Validität werden weit verfehlt (Sacher 2009, 33 ff.). Zudem geht eine verbesserte Güte, wenn sie allein an den genannten Testgütekriterien orientiert ist, nicht automatisch mit den Ansprüchen konform, die sich aus den pädagogischen Funktionen des Bewertens ergeben. Bezüglich sprachlicher Leistungen betrifft dies z. B. die Berücksichtigung des Sprachstandes der Lernenden (z. B.: Ist die Unterrichtssprache die Erst-, Zweit- oder gar Drittsprache?), der Relevanz fachsprachlicher Richtigkeit, der erwarteten Ausprägung des schul- bzw. bildungssprachlichen Registers, der erlaubten Hilfsmittel (z. B. Wörterbuch, Schreiben mit Hand oder Computer) und des Stellenwerts der individuellen Fortschritte. Im Zusammenhang mit dem veränderten Leistungsverständnis im Kontext der sog. neuen Lernkultur oder pädagogischen Leistungskultur spitzen sich diese Fragen zu, zugleich eröffnet sich aber auch ein Blick auf neue Gütekriterien bzw. Bewertungs-
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prinzipien. Dazu werden in der einschlägigen Literatur (vgl. z. B. Paradies/Wester/ Greving 2005; Winter 2014) insbesondere genannt: – Kriterienorientierung, – Transparenz, – Dialogizität und – Förderorientierung.
3 Formen und Methoden des Bewertens sprach licher Leistungen 3.1 Überblick über Akteure, Formen und Methoden Nachdem im Abschnitt 2 geklärt wurde, mit welchen Intentionen und konzeptionellen Vorstellungen sowie in welchen Bereichen (sprachliche) Leistungen bewertet werden (können), wird nun betrachtet, wer diese Bewertungen vornimmt und mit welchen Methoden und Formen dies praktiziert werden kann. Bemüht man die etwas plakative Unterscheidung von ‚alter‘ und ‚neuer‘ Lernkultur, so ist das recht klare Bild tradierter und routinierter Verfahren einer neuen Vielfalt und Unübersichtlichkeit gewichen. Bewerten und Beurteilen galten lange als Monopol der Lehrenden – seien es Lehrerinnen und Lehrer an Schulen, Ausbilderinnen und Ausbilder in der Berufsbildung oder Dozentinnen und Dozenten an Universitäten. Auch wenn Lernende in der Praxis sicherlich nicht nur als passive Empfänger von Beurteilungen behandelt wurden bzw. sich als solche behandeln ließen – Initiative und Verantwortung für das Beurteilen, insbesondere das Benoten, lagen eindeutig bei den Lehrenden. Inzwischen wird, auch vor dem Hintergrund konstruktivistischer Vorstellungen vom Lernen, der Kreis der Akteure des Bewertens erweitert: – Eine Fremdbewertung erfolgt durch die Lehrkräfte, aber auch durch die Schülerinnen und Schüler (gegenüber ihren Mitschülern) und ggf. durch Externe (z. B. bei der Präsentation von Projekten). – Eine Selbstbewertung nehmen die Schülerinnen und Schüler bezüglich ihres eigenen Lernprozesses und ihrer Lernergebnisse vor sowie die Lehrkräfte bezüglich ihres eigenen professionellen Handelns. Hinsichtlich der Formen und Methoden zur Bewertung (sprachlicher) Leistungen erweist es sich als schwierig, eine überzeugende und umfassende Systematik zu finden. Übereinstimmend wird auf die große und gewachsene Vielfalt an Perspektiven und Aspekten hingewiesen (vgl. Sacher 2009, 228 ff.; Winter 2011, 208 ff.), wobei
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es eine offene Frage ist, inwieweit sie wirklich schon in der Schulpraxis Fuß gefasst haben. Eine Möglichkeit der Systematisierung geht von der Stellung in der Chronologie von Lehr-Lern-Prozessen aus (Bach-Blattner/Bohl 2011, 185): – Prozessbewertung: Beobachtung von Lernverhalten und von Gruppenprozessen, Erfassung der sog. mündlichen Mitarbeit, schriftlicher Prozessbericht, Lerntagebuch, Lesetagebuch, prozessbegleitendes Portfolio, Mind-Map, Storyline etc., – Produktbewertung: Klausur, Klassenarbeit, Aufsatz, Multiple-Choice-Test, beantworteter Fragebogen, Concept-Map, Lernplakat, Poster, Haus- oder Facharbeit, andere schriftliche Textformen verschiedenster Art (auch Umsetzung kontinuierlicher Texte in diskontinuierliche und umgekehrt, Umschreiben von Texten), Power-Point-Präsentation zu einem Vortrag, künstlerisches Produkt, handwerkliches Produkt, Foto, Ausstellung, Broschüre, Bewertungsportfolio etc., – Präsentationsbewertung: Vortrag (mit medialer Unterstützung), Demonstration eines Experiments, Demonstration einer körperlichen oder künstlerischen Tätigkeit (z. B. Turnübung, Tanz, musikalische Aufführung), Gruppenpräsentation, Video, Rollenspiel, Standbild, mündliche Prüfung, Reflexionsgespräch etc. Die Zuordnung der Formen und Methoden ist nicht immer eindeutig möglich. Erkennbar wird, dass viele der genannten Text- und Präsentationsformen nur in der Schule (und in anderen Ausbildungskontexten) vorkommen bzw. dort eine spezifische Ausprägung haben; Feilke (2012b, 168) spricht diesbezüglich (speziell für den Deutschunterricht) von „textdidaktischen Gattungen“. Eine andere Möglichkeit der Systematisierung orientiert sich ebenfalls an einer Chronologie, ist aber stärker von den didaktischen Tätigkeiten (Handlungsschritten) aus gedacht: – Erbringung der Leistung, – Bewertung der Leistung, – Rückmeldung zur Bewertung, z. B. mittels Bewertungsgespräch, Kommentar, Benotung, Kriterienliste, Kompetenzraster (vgl. Winter 2011, 212), und ggf. Beurteilung und Festlegen weiterer Lernschritte. Überschaut man die hier beispielhaft aufgeführten Formen und Methoden, so lassen sich – insbesondere bezüglich der neuen bzw. als neu deklarierten Formen und Methoden – einige Tendenzen ausmachen: Diese Formen und Methoden der Leistungsbewertung – weisen eine eher hohe Komplexität auf, – verbinden zumeist die Elemente der Erbringung, Bewertung und Rückmeldung, – verlangen von den Lernenden und Lehrenden anspruchsvolle sprachliche Handlungen, sie sind mehrheitlich in besonderem Maße durch „Sprachlichkeit“ (Nutz 2003, 924) gekennzeichnet,
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– stellen hohe Anforderungen an die Reflexivität bezüglich des Lerngegenstandes, der Lernziele, des eigenen Lernhandelns, des sprachlichen Handelns und der Kriterien zur Bemessung der Leistung (des Lernerfolgs), – verlangen die Einbindung in einen veränderten Unterricht (hinsichtlich seiner Ziele, Inhalte, Methoden und Medien, seiner zeitlichen und räumlichen Gestaltung). Im Folgenden wird auf einige exemplarisch ausgewählte Formen und Methoden eingegangen, wobei der Schwerpunkt auf der Bewertung der in ihrem Kontext erbrachten sprachlichen Leistungen liegt.
3.2 Portfolio „Das Portfolio stellt ein Schlüsselkonzept für die Reform der Leistungserbringung und -beurteilung dar.“ (Winter 2012, 70) Aufgrund dieser, in der erziehungswissenschaftlichen, fach- und hochschuldidaktischen Literatur breit geteilten Einschätzung wird das Portfolio hier berücksichtigt. Die Portfolioidee stammt ursprünglich aus der Reformpädagogik und ist seit den 1980er Jahren in den USA und von dort ausgehend in Europa populär geworden (vgl. Fiegert 2008, 146). Portfolios als didaktisches Instrument sind geordnete Sammlungen von Arbeiten der Lernenden, mit denen der Lernprozess und die Lernresultate dokumentiert werden sollen. Sie schließen (selbst)reflexive Elemente ein. An der Auswahl der Arbeiten und an der Aufstellung von Kriterien für diese Auswahl und ggf. die Bewertung sind die Lernenden beteiligt (vgl. ebd., 147; Winter 2014, 197 ff.). Portfolios kommen in vielfältigen Formen vor und lassen sich u. a. für die Steuerung von Lernprozessen, die Bewertung und als Förderinstrument einsetzen (vgl. Fiegert 2008, 148 ff.). Sprachliche Leistungen, die in diesem Zusammenhang erbracht werden, beziehen sich u. a. auf – das Schreiben und Gestalten der Einlagen (die ein breites Spektrum von Text- und Gestaltungsformen umfassen können), – das Verfassen von Reflexionen (z. B. zu Auswahl und Güte der Einlagen und zu den eigenen Lernprozessen), – das Bewusstmachen von inhaltlichen, sprachlichen und gestalterischen Bewertungskriterien sowie – die Kommunikation über das Portfolio, z. B. bei der gegenseitigen Beratung von Lernenden und in Beratungs- und Bewertungsgesprächen mit den Lehrenden. Beispiele dafür finden sich u. a. bei Jost/Böttcher (2012, 139 ff.) zur Entwicklung der Schreibkompetenz, bei Volkwein (2012) zur gegenseitigen Beratung in der Oberstufe sowie bei Winter (2014) und Brunner/Häcker/Winter (2009).
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Portfolioarbeit erfüllt nur dann die in sie gesetzten hohen Erwartungen, wenn sie sinnvoll in den Lehr-Lern-Prozess eingebunden ist, ein formalisierter und unprofessioneller Gebrauch vermieden wird und die Schülerinnen und Schüler altersangemessen in die höheren Anforderungen und Verantwortlichkeiten eingeführt werden. Dann können Portfolios helfen, „dem Ideal der Selbsttätigkeit in der Bildung näher zu kommen“ (Winter 2014, 225).
3.3 Facharbeit Facharbeiten werden als zusammenhängende, eigenständig zu erarbeitende Texte in den höheren Klassenstufen weiterführender Schulen geschrieben, sie sollen auf die Anforderungen wissenschaftlichen Schreibens im Studium bzw. auf Schreibanforderungen in der beruflichen Ausbildung und im Beruf vorbereiten. Sie sind teilweise curricular vorgeschrieben bzw. empfohlen und werden in der Regel im Rahmen spezieller Kurse (Seminarfach), Projekte oder Unterrichtseinheiten in verschiedenen Fächern oder in fächerübergreifenden thematischen Zusammenhängen angefertigt. Facharbeiten werden bewertet und benotet und können teilweise als Alternative zu Klausuren eingebracht werden. Facharbeiten verlangen von den Schreiberinnen und Schreibern, ein geeignetes Thema zu finden und einzugrenzen, (sprachlich präsentierte) Informationen zu recherchieren und aufzuarbeiten, eine adäquate Gliederung zu entwerfen und den Text entsprechend zu verfassen, den (fach)sprachlichen und formalen Anforderungen zu entsprechen, die Arbeitsprozesse zu organisieren und die Arbeit ggf. zu präsentieren (vgl. Hackenbroch-Krafft u. a. 2002; Reinartz 2008). Studien zeigen die besondere Relevanz der im Abschnitt 2.4 genannten Anforderungen an die Bewertung bei dieser relativ komplexen fachbezogenen Schreibanforderung: Bewährt haben sich eine dialogische, prozessbegleitende Beratung, ein längerfristiger vorbereitender Aufbau inhaltlicher und sprachlicher Kompetenzen, eine förderorientierte Begleitung (Reinartz 2008) sowie die Arbeit mit Kriterien- bzw. Bewertungsrastern (genauer Hackenbroch-Krafft u. a. 2002, 153 ff.). Solche Raster berücksichtigen Aspekte der sprachlichen Gestaltung allerdings oft viel pauschaler als inhaltsbezogene und formale. Einen differenzierteren Vorschlag unterbreitet Wilczek (2011, 49), der bewertbare Teilkompetenzen benennt, darunter für die „Darstellungsweise/methodische Durchführung“: Die Schülerin bzw. der Schüler beschreibt, umgrenzt angemessen den Untersuchungsgegenstand und dokumentiert ein subjektives und objektives Untersuchungsinteresse; verweist […] in ausgewogener Weise auf digitale und gedruckte Medien […]; strukturiert den Text kohärent, schlüssig, stringent, gedanklich klar und geht ergebnisorientiert und zielgerichtet vor; formuliert unter Beachtung der fachsprachlichen und fachmethodischen Anforderungen; belegt Aussagen durch angemessenes und korrektes Zitieren; drückt sich allgemeinsprachlich präzise, stilistisch sicher und begrifflich differenziert aus; formuliert lexikalisch und syntaktisch sicher, variabel und komplex [und zugleich
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klar]; schreibt sprachlich richtig; unterscheidet methodisch sauber hinführende, darlegende, untersuchende, beurteilende und zusammenfassende Abschnitte.
3.4 Projekt Das Projekt ist ein größeres Vorhaben, in dem eine von Schülern und Lehrern gemeinsam beschlossene Aufgabe praktisch, konstruktiv und möglichst eigenständig bearbeitet wird. […] Für das Projekt sind zwei Kriterien ausschlaggebend: (1) die Selbstbestimmung (Schülerorientierung) und (2) die praktische Betätigung (Handlungs- und Produktorientierung) der Lernenden. (Apel/Knoll 2001, 78)
Weitergehend wird mit Projekten die Erwartung verbunden, in ihnen gesellschaftlich relevante, problemhaltige Situationen zu bearbeiten und damit zu Veränderungen in Schule und Gesellschaft beizutragen (Gudjons 2001, 81 ff.). Die Bewertung und Beurteilung der in Projekten erbrachten Leistungen gilt u. a. deshalb als prekär und besonders schwierig, da der eigentliche Maßstab in der Art und Weise und im Erfolg der Problembearbeitung besteht, da die Leistungen zumeist nicht individuell, sondern in der Gruppe erbracht werden, Leistungsbewertung im Bildungswesen aber bezogen auf Individuen erfolgt, und da die erbrachten Leistungen vielfältig, wenig vergleichbar und kriteriell schwer erfassbar sind. Als Instrumente sind Beobachtungsbögen, Beurteilungsraster und Projekttagebücher hilfreich (Traub 2011, 169 ff.). In der Praxis projekterfahrener Schulen wie des Oberstufenkollegs und der Laborschule Bielefeld haben sich als Bewertungskriterien bewährt: – „Kriterium des Relevanzfilters“: Reflexionsniveau der Themenauswahl, Problembewusstsein, Umfang und Sachangemessenheit der Problemfragen, Artikulation der Interessen, – „Kriterium der Prozessbedeutung“: Prozesslernen (z. B. Planung, Organisation, Teamprozesse), Handlungslernen (z. B. intellektuelle, kreative, produzierende Kompetenzen), Anwendungslernen (Transfer von Wissen und Fähigkeiten aus verschiedenen Fächern), – „Kriterium der öffentlichen Wahrnehmung“: Bewertung der Präsentation, der Vermittlung und der Kommunikation (Emer/Lenzen 2002, 55 f.).
3.5 Mündliche Leistungen Ein weit verbreiteter Cartoon zeigt einen Lehrer, der mit dem Spruch: „Morgen! Es ist mal wieder Zeit für die mündlichen Noten!“ die Klasse betritt und dazu einen Würfelbecher schwingt. Prägnant wird damit auf das Problem hingewiesen, dass bei der Bewertung (und Benotung) der sog. mündlichen Leistungen Intransparenz und Willkür zu herrschen scheinen, der Zufall walte. Dies resultiert nicht nur daraus, dass die Normen mündlicher Kommunikation als weniger klar identifizierbar als jene
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der schriftlichen Kommunikation gelten, sondern aus dem Konstrukt der „mündlichen Leistungen“ selbst, die gern auch als „‚sonstige‘ Leistungen“ (Paradies/Wester/ Greving 2005, 58) in Absetzung von den „schriftlichen Leistungen“ bezeichnet werden. Zu den mündlichen Leistungen werden u. a. gerechnet: Häufigkeit und Qualität spontaner Äußerungen im Unterricht (Unterrichtsbeteiligung), Antworten auf Lehrerfragen, Mitwirkung an Gruppenarbeiten und Projekten, Vorträge und Referate, Beteiligung an Rollenspielen, aber auch Ergebnisse von kurzen schriftlichen Leistungsüberprüfungen und die Qualität der Hausaufgaben (vgl. Kirk 2004, 27 f.). Die Vielfalt und Disparität dieser (sprachlichen) Äußerungsformen macht verständlich, warum sich hier besonders schwer einheitliche, transparente Bewertungskriterien aufstellen lassen. Die sog. mündlichen Leistungen sind Indikatoren für den Wissensund Kompetenzerwerb in vielfältigen Bereichen. Oft wird implizit unterstellt, dass Kinder bei Schuleintritt bereits über Basisfähigkeiten zur „mündlichen Mitarbeit“ verfügten, die sich dann einfach nebenher weiterentwickeln, während der Aufbau von Fähigkeiten im schriftlichen Bereich als originäre und selbstverständliche Aufgabe der Schule angesehen wird. Gerade im Zusammenhang mit der Debatte um die Bildungssprache wurde deutlich, dass es genauso Aufgabe der Schule sein muss, diese Gesprächsfähigkeit nicht einfach vorauszusetzen, sondern die Kinder bei der Aneignung ihrer speziellen schulischen Ausprägung systematisch zu unterstützen. Schon aus diesem Grund wäre es sachlich unangemessen und pädagogisch unklug, auf die Bewertung und Beurteilung mündlicher Leistungen im Schulunterricht aufgrund der oben ausgeführten Schwierigkeiten zu verzichten. Mündliche Kommunikationsformen sind konstitutiv für schulische Lernprozesse, die in der Regel in Lerngruppen organisiert sind. Gesprächsformen liefern Hinweise auf Lernprozesse, auf Konzepte (und Fehlkonzepte) der Schüler und Schülerinnen von den Unterrichtsinhalten und bieten Raum für das Aushandeln von Bedeutungen und Sinnzuschreibungen. Sie sind ein Übungs- und Anwendungsfeld für die Bildungssprache (in ihrer mündlichen Ausprägungsform). Deshalb ist eine Vielfalt an unterrichtlichen Gesprächsformen förderlich (vgl. Kirk 2004, 54 ff.). Aufgrund der Flüchtigkeit des Mündlichen und der vielfältigen Aufgaben, die Lehrkräfte im Unterricht parallel zu bewältigen haben, stellt schon allein die Leistungserfassung in diesem Bereich besondere Anforderungen, ebenso die Bewertung selbst. Bewährt haben sich Leistungsdokumentationen wie pädagogische Tagebücher, Beobachtungskarteien und Bewertungsbögen, aber auch Selbstbeobachtungsbögen der Schülerinnen und Schüler (Beispiele bei Kirk 2004, 90 ff.). Als systematisch einzuführendes und von allen Beteiligten zu nutzendes Instrument wurde in den letzten Jahren das Kompetenzraster (Rubrik) bekannt. Kompetenzraster geben einen strukturierten und detaillierten Überblick über die in einem Themen- bzw. Tätigkeitsgebiet erreichbaren Kompetenzniveaus, benennen die wesentlichen Kriterien für Leistungen bzw. Teilbereiche von Leistungen, denen in tabellarischer Form jeweils mehrere, aufeinander aufbauende Kompetenzstufen zugeordnet sind, die durch die Beschreibung des erwarteten Verhaltens charakterisiert werden (i. d. R. in der Form „Ich kann …“) (vgl. Merziger/
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Schnack 2005). Das Potential dieses Instruments für eine verbesserte Fremd- und Selbstbewertung mündlicher Leistungen in der gymnasialen Oberstufe zeigt beispielsweise die empirische Studie von Merziger (2007).
4 Bewerten sprachlicher Leistungen in unterschiedlichen Fächergruppen 4.1 Sprachfächer am Beispiel des Deutschunterrichts Sprache ist in allen Fächern Lernmedium, in den Sprachfächern ist sie zugleich auch Lerngegenstand. In Sprachfächern werden grundlegende Einsichten in Sprachstrukturen geschaffen und vertiefende Einsichten in ihren Gebrauch ermöglicht. Zum einen werden in sprachlichen Fächern die basalen sprachlichen Kompetenzen vermittelt, auf denen andere Fächer aufbauen können. Zum anderen werden hier sprachliche Phänomene, z. B. Regularitäten, explizit behandelt, die auf den Sprachgebrauch im Fach und in anderen Fächern projiziert werden können. (Budde/Michalak 2014, 13)
An Schulen in Deutschland gehören zu den Sprachfächern der Deutschunterricht, der Unterricht in Deutsch als Zweitsprache, der herkunftssprachliche Unterricht und der Fremdsprachenunterricht. Fragen der Leistungsbewertung sind in den letzten Jahrzehnten besonders intensiv an zwei Formen aus dem Deutschunterricht diskutiert worden: am Diktat (vgl. Ossner 1991) und am Aufsatz. Die Kritik an der „ungerechte(n) Aufsatzzensur“ (Schröter 1971) bildete den Anstoß für grundlegende Auseinandersetzungen um didaktische Konzepte des „Aufsatzunterrichts“, um die Normorientierung schulischen Sprachunterrichts und den Umgang mit Texten der Schülerinnen und Schüler (genauer Nutz 2003). Das Konzept der „mäeutischen Korrektur“ (Ivo 1982) gab den Impuls zur Entwicklung von Ansätzen wie der „fördernden Beurteilung“ (Baurmann 1996), über deren Einsatz in der Schreibdidaktik heute Konsens besteht. Bei der Beschäftigung mit den Schreibleistungen von Schülerinnen und Schülern sollen sich die Bewertenden im Sinne Ivos diesen Texten zunächst als Leser nähern, das Textverstehen also dem Textbewerten überordnen (vgl. Jost/Böttcher 2012, 133). Bewerten soll im Dialog mit den Textautoren erfolgen, wozu die Schreibberatung durch den Lehrer ebenso zählt wie Formen der Peerberatung wie die Schreibkonferenz (Reichardt/Kruse/Lipowsky 2014). Dabei gelten Schülertexte als Entwürfe, deren Überarbeitung begleitet und in die Bewertung einbezogen wird, bis hin zu „mehrstufigen Prüfungsaufsätzen“ (vgl. Fix 2008, 193). Auch die Kriterienorientierung, ein weiteres Gütekriterium der Leistungsbewertung, wurde bezüglich des Schreibens im Deutschunterricht intensiv diskutiert.
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Wichtiger Bezugspunkt war in den letzten 20 Jahren dabei das „Zürcher Textanalyseraster“ (Nussbaumer/Sieber 1995). Das für die linguistische Forschung entwickelte Raster berücksichtigt die sprachsystematische und orthographische Richtigkeit, die Angemessenheit (funktionale und ästhetische) und die inhaltliche Relevanz (ebd., 41). Auf dieser Basis haben z. B. Becker-Mrotzek und Böttcher einen „Basiskatalog zur Textbeurteilung“ entwickelt, der fünf Dimensionen und zwölf Kriterien (die hier nur verkürzt benannt werden) sowie jeweils drei graduelle Abstufungen umfasst (BeckerMrotzek 2014, 509): – Sprachrichtigkeit: Orthographie, Grammatikalität, – Sprachangemessenheit: Wortwahl, Satzbau, – Inhalt: Gesamtidee, Umfang/Relevanz, – Aufbau: Textmuster, Textaufbau, thematische Entfaltung, Leserführung, – Prozess: Planen/Überarbeiten, Wagnis/Kreativität. Bemerkenswert ist u. a., dass der Schreibprozess berücksichtigt wird, dass der Aspekt des Kreativen und Experimentellen beim Schreiben explizit betrachtet wird und dass die Fragen, welche die Kriterien konkretisieren, auch von Schülerinnen und Schülern verstanden werden können. Der Katalog kann entsprechend der jeweiligen Schreibaufgabe bzw. Textsorte und der Lernsituation angepasst werden (vgl. ebd., 508; Fix 2008, 200 ff.). Auf das Bewerten von Schreibleistungen im Deutschunterricht wurde ausführlicher eingegangen, weil dieser Bereich bereits besonders gut theoretisch fundiert und intensiv empirisch untersucht ist. Für die Deutschdidaktik ist charakteristisch, dass aufgrund des breiten Gegenstandsbereiches des Faches relativ separate Forschungsgebiete zu den einzelnen Lernbereichen existieren, was sich auch in der Literatur zur Bewertungsproblematik widerspiegelt. Zum Bereich der mündlichen Kommunikation werden u. a. Verfahren des Beobachtens, Anforderungen unterschiedlicher Gesprächs- und Vortragsformen sowie spezifische Kriterien der Bewertung diskutiert (zum Überblick Mönnich/Spiegel 2012). Bezüglich des Lese- und Literaturunterrichts liegt der Schwerpunkt derzeit auf der Diskussion um standardisierte Tests und geeignete Aufgabenformate (vgl. Kämper-van den Boogaart/Spinner 2010) sowie um Verfahren zur Leseförderung (vgl. Rosebrock/Nix 2014). Dies hat das lange präsente Thema der Bewertung von Ergebnissen des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts und anderer kreativer Leistungen in den Hintergrund treten lassen (zum Überblick Abraham 2010). Im Lernbereich „Reflexion über Sprache“ gilt besondere Aufmerksamkeit der Ermittlung rechtschreiblicher Kompetenz vor dem Hintergrund unterschiedlicher didaktischer Ansätze und der Relevanz entsprechender Normen (vgl. Röber 2011) sowie der Funktion, Vermittlung und Bewertung sprachreflexiver Kenntnisse und Fähigkeiten, dies mit starkem Bezug auf Bildungsstandards und Testformate (vgl. Gornik 2014).
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4.2 ‚Nichtsprachliche‘ Fächer In der Mehrzahl der Schulfächer ist die Sprache primär nur Lernmedium, deshalb wird teilweise der Begriff „nichtsprachliche Fächer“ verwendet. Dies ist aber problematisch, ist doch die Sprache auch hier Lerngegenstand: In einem engen Sinne geht es darum, die fachspezifischen Gebrauchsformen der Sprache kennen und anwenden zu lernen, wobei es sich um die Fachsprache in ihrer schulsprachlichen Ausprägung handelt, auch in ihrem Bezug zur Alltagssprache. In einem weiteren Sinne ist die Sprache in jeglichem Fach insofern Lerngegenstand, dass es ein Übungs- und Anwendungsfeld für die Schul- bzw. Bildungssprache bietet, das nicht vernachlässigt werden darf. Diese Forderung ist beileibe nicht neu, jedoch offensichtlich schwer durchsetzbar. Ein Blick in die nationalen Bildungsstandards belegt, dass die dort festgeschriebenen Kompetenzen immer auch Bezüge zur fachlichen Kommunikation und zur Rolle der Sprache im Fach haben. Für das Fach Physik (Mittlerer Abschluss) zeigt Tajmel (2013, 203 f.), dass in allen Kompetenzbereichen (Fachwissen, Erkenntnisgewinnung, Kommunikation, Bewertung) auf allen Anforderungsniveaus Sprachhandlungen benannt sind, die beherrscht werden sollen (z. B. physikalische Arbeitsweisen beschreiben, Aussagen sachlich begründen, Darstellungsformen sach- und adressatengerecht auswählen, anwenden und reflektieren). In den Bildungsstandards für das Fach Mathematik werden folgende Kompetenzen benannt: mathematisch argumentieren, Probleme mathematisch lösen, mathematisch modellieren, mathematische Darstellungen verwenden, mit symbolischen, formalen und technischen Elementen der Mathematik umgehen, kommunizieren (Kultusministerkonferenz 2003, 8 f.). Folglich müssen Aufgaben und Leistungsanforderungen so gestellt werden, dass jene Sprachhandlungen abgerufen werden können und in die Bewertung eingehen. Jedoch fehlen Lehrkräften häufig sprachliche Erwartungshorizonte und die sprachlichen Lernziele werden den Schülerinnen und Schülern nicht transparent gemacht (Tajmel 2013, 208). Die Welt der Fachtexte ist den Schülern oft nicht vertraut und sie werden zu wenig zum aktiven sprachlichen Handeln aufgefordert (Schmölzer-Eibinger 2013, 29). Diese Probleme werden derzeit parallel in den Fachdidaktiken verschiedener Fächer angegangen. Beiträge in einschlägigen Sammelbänden (Becker-Mrotzek u. a. 2013; Röhner/Hövelbrinks 2013; Keller/Bender 2012; Michalak 2014) zeigen folgende übereinstimmende Trends: – Aufgaben sind in sachliche Kontexte integriert, die sprachlich dargestellt werden, – auch nichtsprachliche Leistungen werden mit Anforderungen zum Kommunizieren und Reflektieren verbunden (z. B. zu einer Sportübung oder einem künstlerischen Produkt), – die reflexiven Momente nehmen zu (Metakognition bzw. Metakommunikation), – fachsprachlichen Lernzielen gilt höhere Aufmerksamkeit,
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– die sprachlichen Anforderungen aus der verstärkten Nutzung neuer Medien kommen in den Blick, – neue Unterrichtsmethoden, z. B. kooperative Lernsettings, werden auch hinsichtlich ihrer kommunikativen Dimension betrachtet, – die sog. Operatoren (Benennungen für fachspezifische kognitive und sprachliche Handlungen) werden bei der Aufgabenkonstruktion stärker beachtet und auch kritisch diskutiert. Zusammenfassend wird ein „sprachsensibler Fachunterricht“ (Leisen 2013) bzw. „sprachaufmerksamer Fachunterricht“ (Schmölzer-Eibinger u. a. 2013) gefordert, der auf die Förderung bildungssprachlicher Kompetenzen bei den Schülerinnen und Schülern gerichtet ist. Welche Überlegungen dabei seitens der Leistungsbewertung angestellt werden, soll an einer Handreichung für Lehrkräfte gezeigt werden. In ihrer „Checkliste“ zu Schulsprache und sprachsensiblem Fachunterricht formulieren Thürmann/Vollmer (2013, 222 f.) zum Bereich „sprachliche Aspekte der Leistungsdiagnose und -bewertung“: Mir ist bewusst, dass bei den fachunterrichtlich üblichen Formen der Leistungsfeststellung und -bewertung sprachliche Aspekte implizit eine große Rolle spielen. Dennoch setze ich auch Aufgabenformate ein, die explizit ausführlichere und zusammenhängend formulierte Äußerungen verlangen. Bei Leistungsüberprüfungen melde ich den Schülern gezielt diejenigen sprachlichen Bereiche zurück, an denen sie noch arbeiten müssen. – Ich gebe den Schülern häufig qualitative Rückmeldungen zu sprachlichen Aspekten ihres Fachlernens (z. B. in Hausheften, auch in schriftlichen Arbeiten etc. und in Beratungsgesprächen). – Ich achte darauf, dass fachliche Leistungen von den Schülern in angemessenem Maße auch schriftlich erbracht werden. – Ich stelle meine Beurteilung der Leistung und des sprachlichen Fortschritts eines Schülers wenigstens einmal pro Schulhalbjahr in einer beschreibenden Erläuterung dar, die für den Schüler, dessen Eltern und andere transparent und verständlich ist. – Obwohl eine klare Aufteilung schwierig ist, werden in meinem Fachunterricht sprachliche Aspekte bei der Bewertung fachlicher Leistungen integrativ berücksichtigt, soweit sie für die fachliche Leistung von Belang sind. – In meinem Sachfach haben wir uns an unserer Schule darauf geeinigt, pro Klasse eine Vergleichsarbeit zu schreiben, um die Gewissheit zu haben, dass die sprachliche Entwicklung alters- und fachangemessen verläuft und dass es keine systematischen bzw. unaufholbaren Rückstände bei den erreichten Fachkompetenzen gibt. – An unserer Schule haben wir die sprachlichen Kompetenzen definiert, über die Schüler verfügen sollten, damit sie mit Aussicht auf Erfolg am Fachunterricht des folgenden Bildungsabschnitts teilnehmen können.
Die Eingangsformulierung lässt die Verbindung fachlichen und sprachlichen Lernens eher noch als Handicap erscheinen. Die sechs Items verweisen aber in angemessener Klarheit auf ausgewählte Bereiche, in denen bei der Leistungsdiagnose und -bewertung sprachsensibel agiert werden kann. Wichtig ist der Hinweis, dass es der Abstim-
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mung im Kollegium bedarf, um Schülerinnen und Schüler auch sprachlich systematisch zu fördern und den Gütekriterien der Leistungsbewertung zu genügen.
5 Perspektiven Im Bereich der Bewertung sprachlicher Leistungen ist aktuell einiges in Bewegung geraten. Insbesondere fällt ein interdisziplinärer Zugang unter Führung der Fachdidaktiken auf, die Forschungsergebnisse aus der empirischen Bildungsforschung (Kompetenzmessung, Aufgabenkulturen etc.), der Erziehungswissenschaft (Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund, Bildungsgerechtigkeit etc.) und aus den eigenen Reihen aufgreifen. Die Überlegungen sind mehrheitlich konzeptioneller Art, noch fehlt es an einschlägigen empirischen Studien, gerade mit einer mittelfristigen Perspektive, auch im interdisziplinären Zugriff. Hinsichtlich der Bewertungspraxis im Bildungswesen eröffnen die curricularen Vorgaben und rechtlichen Rahmen durchaus mehr Möglichkeiten, als bislang genutzt werden, jedoch gibt es auch gegenläufige Entwicklungen. Aktuelle Schulbücher unterbreiten zunehmend Material- und Aufgabenangebote, die den beschriebenen Tendenzen und Qualitätsansprüchen gerecht werden. Für die tägliche Bewertungspraxis sind einerseits die Erfahrungen der Lehrkräfte aufzugreifen, diese müssen andererseits aber systematisch für das Thema der Sprachlichkeit von Wissenserwerb und Bildung und deren Bewertung sensibilisiert werden.
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19. Sprachliche Konstruktion von Bildung in Sonderpädagogik und Inklusion Abstract: Ausgehend von einer ethischen Standortbestimmung, in der Vulnerabilität und Differenz als zentrale Kategorien des Behindert-Seins gesetzt sind, werden drei grundlegende Fragen erörtert: die anthropologische Frage der Sprachlichkeit von Personen mit (Sprach-)Behinderungen, die sprachpädagogische Frage der Bildbarkeit von Kindern und Jugendlichen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen sowie die sprachdidaktische Frage der Vermittlung von sprachlich konstruiertem und repräsentiertem Wissen bei Schülerinnen und Schülern mit sprachlichem Förderbedarf. Diese Reflexion geschieht vor dem Hintergrund, dass Sonderpädagogik sich von jeher mit der sprachlichen Konstruktion von Bildung auseinandergesetzt hat, da sie stets in der Trias Person – Inhalt – Vermittlung vor die besondere Herausforderung gestellt ist, dass Sprache nicht externer Gegenstand, sondern inhärenter konstitutiver Bestandteil aller drei Parameter ist: in der Person der lernenden Schülerinnen und Schüler als deren grundsätzlichem Sprachvermögen, im zu erwerbenden Wissen bzw. den Bildungsinhalten als sprachliche Repräsentation und in den konstruierenden, aushandelnden und regulierenden sprachlichen Prozessen ihrer Vermittlung. Unter Berücksichtigung des institutionellen wie bildungspolitischen Kontextes sucht dieser Beitrag bei allen Überlegungen stets die historische Spanne zwischen Segregation und Inklusion zu fassen. 1 Standortbestimmung und terminologische Klärung 2 Vulnerabilität und Differenz der Sprachlichkeit: Anthropologische Zugänge 3 Vulnerabilität und Differenz der Bildbarkeit: Sprachpädagogische Konzeptionen 4 Vulnerabilität und Differenz der Lernfähigkeit: Sprachdidaktische Ansätze 5 Ausblick: Inklusion zwischen Verlust und Nivellierung der Fachlichkeit 6 Literatur
1 Standortbestimmung und terminologische Klärung 1.1 Standort: Vulnerabilität und Differenz Verstehen wir Bildung als Prozess und Resultat der Erzeugung und Vermittlung von sprachlich konstruiertem und sprachlich repräsentiertem Wissen zwischen verschiedenen lehrenden und lernenden Akteuren in unterschiedlichen Institutionen, so ist
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aus sonderpädagogischer und sprachheilpädagogischer Sicht ‚Sprache‘ allen drei Konstituenten, Person – Inhalt – Vermittlung, inhärent: 1. in der Person der lernenden Schülerinnen und Schüler mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen als deren grundsätzlichem Sprachvermögen, 2. im zu erwerbenden Wissen bzw. den Bildungsinhalten als sprachliche Repräsen tation sowie des individuellen Zugangs hierzu, und 3. in den konstruierenden, aushandelnden und regulierenden sprachlichen Prozes sen ihrer Vermittlung. Darüber hinaus sind auf einer übergeordneten Ebene selbstverständlich auch die institutionellen und gesellschaftlichen Kontextbedingungen von Bildung vom Aspekt ‚Sprache‘ durchdrungen und fließen jeweils als Querlage mit in die Reflexion ein. Die Theoriebildung beschäftigt sich deshalb mit folgenden Grundsatzfragen: zu 1. der anthropologischen Frage des Sprachvermögens bzw. der Sprachlichkeit von Personen mit (Sprach-)Behinderungen (vgl. 2), zu 2. der sprachpädagogischen Frage der Bildbarkeit bzw. des Bildungszugangs von Personen mit (Sprach-)Behinderungen (vgl. 3), zu 3. der sprachdidaktischen Frage der Lernfähigkeit und der Vermittlung von sprachlich konstruiertem und repräsentiertem Wissen bei Personen mit (Sprach-) Behinderungen (vgl. 4). Im Zuge der Auseinandersetzung mit diesen Fragen muss sich Sonderpädagogik innerhalb der Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft drei theoretischen Wendungen unterziehen, die mit Verweis auf den ethisch-sozialanthropologischen Ansatz von Kristeva/Gardou (2012) wie folgt skizziert und im Anschluss ausgearbeitet werden können. Im Zentrum der Reflexionen über die sprachliche Konstruktion von Bildung in Sonderpädagogik und Inklusion steht: – nicht Sprache als logos, sondern das sprechende Subjekt, das speaking subjectin-process, – nicht das Streben nach individueller Perfektion, sondern die Offenheit für die Vul nerabilität des je Anderen, – nicht Kategorisierung und Orientierung an der sprachlichen Norm, sondern Anerkennung von sprachlicher Differenz und Einzigartigkeit.
1.2 Terminologie: Sonderpädagogik und Behinderung Angesichts der Schwierigkeit des permanenten Wandels sonderpädagogischer Begrifflichkeit und darunter liegender Paradigmen ist eine terminologische Klärung vonnöten. Der Terminus Sonderpädagogik wird hier synonym für Behindertenpädagogik, Heilpädagogik, Rehabilitationspädagogik etc. verwendet. Sprachbehindertenpäda
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gogik wird hier analog als Synonym für traditionelle Begriffe wie Sprachheilpädago gik, aber auch für aktuelle Termini wie Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und des Sprechens benutzt. Die Sprachbehindertenpädagogik als ein Teilgebiet der Sonderpädagogik wird in diesem Beitrag besonders hervorgehoben, da die Thematik hier am exponiertesten behandelt wurde und wird. Andere Teilgebiete wie Lernbehindertenpädagogik, Geistigbehindertenpädagogik etc. werden aber stets mitgedacht. Es wird im Folgenden grundsätzlich der Begriff der ‚Behinderung‘ benutzt, um terminologisch eine Brücke zwischen dem klassischen Behinderungsbegriff der Sonderpädagogik und dessen aktueller Verwendung in der „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (2006) oder der KMK-Empfehlung „Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen“ (2011) zu schlagen, welche das derzeitige Inklusionsparadigma prägen. – Um an bestimmten Stellen spezifische theoretische Positionierungen deutlich zu machen, werden dort andere terminologische Akzentuierungen wie beispielsweise Beeinträchtigung (vgl. 3.2) oder Pädagogik bei Beeinträchtigungen gewählt (vgl. 5). (Sprach-)Behinderung wird verwendet, um zum einen auf den in den meisten Behinderungen inhärenten Sprachaspekt zu fokussieren und zum anderen zugleich auf die große Gruppe der Sprach- und Kommunikationsbehinderungen zu verweisen. Hiermit wird ein zum inklusiven Kontext kompatibles Verständnis von Sprachbehinderung zugrunde gelegt, welches nicht nur im engeren Sinn sämtliche Sprach-, Sprech-, Stimm-, Redefluss- und Schluckstörungen beinhaltet, sondern das auch begleitende Sprach- und Kommunikationsstörungen bei anderen primären geistigen oder körperlichen Behinderungen, beispielsweise bei schwerwiegenden Entwicklungsstörungen oder Sinnesschädigungen, umfasst (vgl. 3.3).
2 Vulnerabilität und Differenz der Sprachlichkeit: Anthropologische Zugänge In diesem Kapitel soll zunächst die erste personale Dimension von Sprache entfaltet werden, da das Sprachvermögen bzw. die Sprachfähigkeit der Schülerinnen und Schüler mit sprachlichen Beeinträchtigungen – die faculté de langage (de Saussure 1916) – in einer pädagogisch-therapeutischen Verstehens- und Handlungsperspektive Ausgangsbasis, Medium und Zielkategorie zugleich ist, durch die sich die beiden anderen Dimensionen des sprachlich repräsentierten Wissens (vgl. 3) – langue (de Saussure 1916) bzw. ergon (von Humboldt 1836) – und der sprachlichen Konstruktions- und Vermittlungsprozesse (vgl. 4) – parole (de Saussure 1916) bzw. energeia (Humboldt 1836) – brechen. Die nachfolgenden Überlegungen gehen dabei der anthropologischen Frage der Sprachlichkeit von Schülerinnen und Schülern mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen nach, indem sie die personalen Veränderungen der Sprachlich-
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keit durch (Sprach-)Behinderungen hinsichtlich der Aspekte Kultur, Gesellschaft und Individuum bestimmen und daraus folgernd pädagogische Prämissen je skizzieren, wie personale Beschädigungen innerhalb des Bildungsprozesses verhindert oder aufgefangen werden können (vgl. Lüdtke 2012a).
2.1 Kultur: Ermöglichung von Bildungsteilhabe für sprachbehinderte Kinder und Jugendliche Ausgangspunkt für eine anthropologische Bestimmung der Sprachlichkeit des Menschen ist, dass Sprachbesitz als Schwelle zur Kultur angesehen wird. Kultur wird je nach wissenschaftstheoretischem Standpunkt unterschiedlich definiert: kulturanthropologisch als Gegensatz zur Natur, evolutionstheoretisch als Domäne der Tradierung von Wissen durch Lehren und Lernen. Allen Ansätzen gemeinsam ist die Auffassung eines Inklusionsverhältnisses von Sprache und Kultur, wodurch zum einen Kulturbesitz die semiotische Schwelle zwischen der zeichenhaften und nichtzeichenhaften Welt markiert und zum anderen Sprachbesitz die kulturelle Teilhabe bzw. sogar die Menschwerdung erst ermöglicht. Die in der westlichen Welt dominante anthropozentrische Auffassung beschränkt im Gegensatz zu außereuropäischen pansemiotischen Traditionen den Symbol- und Sprachbesitz und damit den Zugang zur Kultur exklusiv auf den Menschen. Sprachbesitz als Alleinstellungsmerkmal des Menschen postuliert die grundlegende Grenzziehung zwischen dem Humanen und dem Animalischen und spiegelt sich bereits in den antiken Konzepten des Menschen als zōon logon echon und der Sprache als rationalem logos wider (vgl. Frege 1892; de Saussure 1916; Chomsky 1965). Eine derartige kulturelle Bestimmung der Relation Person – Sprache beinhaltet in ihrer Umkehrung, dass mangelnder oder ‚mangelhafter‘ Sprachbesitz nicht nur die kulturelle Teilhabe, sondern letztlich das Mensch-Sein in Frage stellt (vgl. Lüdtke 2012a). Neben der wissenschaftlichen Faszination, ‚wilden Kindern‘ wie Kaspar Hauser oder Victor von Aveyron das Erlernen der Kulturgüter insbesondere der Sprachkompetenz durch heilpädagogische Methoden beizubringen (Itard 1801), war und ist die vorherrschende Reaktion auf eine beeinträchtigte Sprachfähigkeit eine negative soziale Bewertung. ‚Abnorme‘, der Norm nicht entsprechende Sprachkompetenz und -verwendung, gerade auch bei Behinderten, wurde und wird stets sanktioniert, wobei das Spektrum von der tatsächlichen Tötung (Euthanasie/Holocaust) über das Aussetzen, Verbannen oder Wegsperren (Psychiatrie) bis hin zur subtileren Ausstoßung oder Ausgrenzung (‚Nicht-Bildbarkeit‘) aus der Sphäre der Kultur, Zivilisation, Bildung und letztlich dem Mensch-Sein reicht. Um eine etwaige Ausgrenzung von Schülerinnen und Schülern mit (Sprach-)Behinderungen durch ein individuelles (Mitschüler, Lehrer, Eltern) wie kollektiv-gesellschaftliches Gegenüber (Bildungsinstitution, Bildungspolitik) zu verstehen, hilft Kristevas (u. a. 1980) tiefenpsychologische Theorie der Abjektion. Ein Abjekt als ‚das Verworfene‘ impliziert auch
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im übertragenen Sinn eines abjekten Körpers oder abjekter Sprache Degenerierung, Dekomposition, Dekonstruktion und Desintegration. Abjektion ist entsprechend der Vorgang der Verwerfung, des Ausstoßens, des Sich-Entledigens – hier: eine meist unbewusste Reaktionen auf abjekte Sprache. Die sprachlichen Phänomene (sprach)behinderter Schülerinnen und Schüler sind aufgrund dieses abjekten, desintegrierten und heterogenen Charakters zugleich Synkretismus pur, denn wo sprachlich-normative Grenzen verschwimmen oder überschritten werden, gibt es keine ‚reine‘ Sprache, keinen originären Logos mehr, sondern es kommt zu Vermischungen, Überlagerungen, Brüchen und hybriden Neuschöpfungen. Da jegliche subtile oder offene Abjektions- oder Ausschlussreaktion zu einer Verletzung der Sprachlichkeit von Schülerinnen und Schülern mit (Sprach-) Behinderungen führen kann, müssen personale Beschädigungen innerhalb des Bildungsprozesses verhindert oder aufgefangen werden. Oberste pädagogische Prämisse muss selbstverständlich die Ermöglichung von Bildungsteilhabe sein. Dies kann sonderpädagogisch aber nur über eine Offenheit für sprachlichen Synkretismus gelingen, und damit für die Vulnerabilität, für die grundsätzliche Verletzlichkeit jedweder Sprachlichkeit (vgl. Tab. 1).
2.2 Gesellschaft: Inklusion sprachlicher Heterogenität für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf Die zweite Dimension, durch die sich das Verhältnis Person – Sprache bestimmt, ist die Gesellschaft. Ihr für dieses Verhältnis maßgeblicher konstitutiver Faktor sind dabei ihre jeweiligen sprachlichen Normen, welche unter den Aspekten ihrer Aufstellung, ihres Austausches und ihrer Vermittlung makro- wie mikrosystemisch in Soziolinguistik, Soziosemiotik sowie der Sprachsoziologie konzeptualisiert werden (vgl. Jaspers 2012). Die Aufstellung sprachlicher Normen hat eine lange und weit verbreitete Tradition: von Paninis Grammatik des Sanskrit aus dem 4. oder 5. vorchristlichen Jahrhundert über die klassischen scholastischen und rationalistischen Entwürfe bis hin zu den neueren strukturalistischen oder generativen Systematiken. In einer soziolinguistischen Perspektive ist relevant, dass sprachliche Normen als Teil übergreifender sozialer Normen Konsens einer bestimmten Sprachgemeinschaft sind. Für die Person, und damit auch für Schülerinnen und Schüler, bedeutet dies, dass für die gesellschaftliche Teilhabe eine sprachliche Normentsprechung Voraussetzung ist. In einem solchen normativen System werden Personen, die aufgrund ihrer (Sprach-)Behinderungen idiosynkratische, das heißt, abweichende, nonkonforme, abjekte sprachliche Äußerungen produzieren, über ihre identifizierten sprachlichen Defizite marginalisiert (vgl. Lüdtke/Frank 2007). Personale Relevanz hat diese (sonder)pädagogisch übliche Klassifizierung und Etikettierung für Schülerinnen und Schüler, da sie ein präskriptives Normenverständnis impliziert und die sprachliche
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Standardabweichung somit als „Defizit“, als „Makel“ bzw. als „schlecht“ konstituiert wird – ein Attribut, das seinem Träger als subjekt-inhärentes Merkmal zugeschrieben wird und sein Person-Sein wie seine Sprachlichkeit defizitär definiert: „der Sprachbehinderte“, „der Stotterer“, „der Schüler mit Förderbedarf“ (vgl. 3.1). Bourdieus Theorie des sprachlichen Marktes (u. a. 1977; 1994) erläutert ausführlich, wie bestimmte Varietäten einen hohen oder niedrigen Kurswert im sprachlichen Tauschhandel haben. Sprachliche Kompetenz, z. B. von Schülerinnen und Schülern, ist hier ein symbolisches sprachliches Kapital im Verhältnis zu den Erfordernissen des jeweiligen sprachlichen (Bildungs-)Marktes. Wenn gesellschaftliche Teilhabe oder enge Bildungsteilhabe bedeutet, die sprachliche Kompetenz adäquat, das heißt marktgerecht und gewinnbringend einzusetzen, dann impliziert dies die personale Relevanz, dass nicht nur eine bestimmte Sprachvarietät so viel wert ist, wie ihre Sprecher wert sind, sondern auch umgekehrt ein Sprecher – z. B. ein sprachbeeinträchtigter Schüler – so viel wert ist, wie die Sprache, die er spricht. In dieser Deutungsperspektive kommt im Bereich der Tradierung von Sprachnormen eine weitere personale Wirkungsfacette hinzu: die permanente institutionelle Produktion sprachlicher Homogenität und damit umgekehrt die Reproduktion sprachlicher Ungleichheit als Schlüsselstelle zur Ermöglichung oder Verhinderung von Bildungsgerechtigkeit. In systemstabilisierender Funktion für das Zentrum der Gesellschaft und ihrer Zeichenherrschaft üben mächtige Bildungsinstitutionen wie Kindertagesstätten und Schulen Kontrolle über den Zugang der Aneignung der ‚legitimen Sprache‘ aus. Normen und ihre gate keeping-Funktion werden besonders deutlich am Beispiel der Sprachstandsfeststellung bei Schuleintritt, insbesondere für Kinder mit Migrationshintergrund (Lüdtke/Kallmeyer 2007). Aus pädagogischer Perspektive ist immer zu bedenken, dass die Einführung von „objektiven“ Wertmaßstäben wie der gesellschaftlichen Sprachnorm, immer Auswirkungen auf die ganze Person und ihre Sprachlichkeit hat, welche die subjektive Verkörperung des analysierten linguistischen Sachverhaltes ist. Um personale Beschädigungen innerhalb des Bildungsprozesses zu vermeiden, ist eine erste pädagogische Prämisse, Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen der Sprache und Kommunikation nicht über die Identifikation sprachlicher Defizite – und dazu gehört auch ein sprachlicher Förder- und Unterstützungsbedarf – zu stigmatisieren und zu marginalisieren, sondern ihre Einzigartigkeit als Differenz anzuerkennen und sich damit auch des utilitaristischen Grundgedankens der sozialen Verwertbarkeit von Sprache, der letztlich eine Missachtung der Person und ihrer Sprachlichkeit per se darstellt, zu entledigen. Diese paradigmatische Wendung vom Defizit- zum Differenzbegriff ist Voraussetzung für die wahre Inklusion sprachlicher Heterogenität von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf (vgl. Tab. 1).
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2.3 Individuum: Integration sprachlicher Identität Eine letzte Bestimmung der Sprachlichkeit des Menschen aus anthropologischer Sicht erfolgt auf der Ebene des Individuums mittels des zentralen Konzeptes der sprachlichen Identität wie es sich aus einer sprachheilpädagogisch gewendeten Varietätenlinguistik ergibt (Lüdtke 2012a). Folgt man gängigen soziolinguistischen Ordnungsschemata des Varietätenraumes in die sechs Kategorien ‚Person‘, ‚Raum‘, ‚Gruppe‘, ‚Kodifizierung‘, ‚Situation‘ und ‚Kontakt‘, so ergeben sich folgende analoge Dimensionen der sprachlichen Identität, welche über ihre an unterschiedliche Varietäten gebundenen personalen Funktionen identitätskonstruierend wirken: die psychophy sische sprachliche Identität wird geprägt durch Aspekte der individuellen Varietät, z. B. durch eine von Alter, Gesundheitszustand und Stimmung gefärbte Stimme; die raumbezogene bzw. kulturelle sprachliche Identität wird beeinflusst durch bestimmte Größenordnungen der diatopischen Varietäten, z. B. durch einen großstädtischen Urbanolekt, einen ländlichen Dialekt oder eine nicht-deutsche Muttersprache eines anderen Kulturkreises; eine soziale sprachliche Identität wird geprägt von spezifischen diastratischen Varietäten, welche u. a. über soziales Alter (‚Jugendsprache‘) oder Peer-group-Zugehörigkeit (‚Ghetto-Deutsch‘/‚Kanak Sprak‘) wirken; normative sprachliche Identität, welche sich durch gesellschaftlich bewertete Standard- oder Substandard-Varietäten bildet; eine situative sprachliche Identität in Abhängigkeit von diaphasischen Varietäten gemäß bestimmter Kommunikationskontexte, z. B. Unterricht versus Pausenhof; und einer machtbezogenen sprachlichen Identität, welche aufgrund unterschiedlich bewerteter Konstellationen von Kontakt-Varietäten z. B. zwischen Lehrer und Schüler zu einer unter- oder überlegenen Sprecheridentität führen können. Als wesentlicher sonderpädagogischer Referenzrahmen ist bildungsgeschichtlich relevant, dass sich die Konzeptualisierung von Identität zwischen den Achsen Zugehörigkeit/Abgrenzung und Selbstwahrnehmung/Fremdwahrnehmung in drei große Phasen einteilen lässt: Erstens die frühe Identitätsvorstellung archaischer Gesellschaften, welche sich aber auch heute im Bildungskontext bei Angehörigen stark religiös geprägter Kulturen findet, mit einer kollektiv vordefinierten Halt wie Begrenzung gebenden Identität und dem Zurücktreten des Individuums hinter der Gemeinschaft; zweitens klassische Identitätsmodelle der Moderne (vgl. 3.1), welche Identität als Gleichheit und Kontinuität eines sich so stabil verortenden Individuums über die Lebensspanne verstehen; und drittens Identitätskonzepte der Postmoderne (vgl. 3.2/3.3), in deren zentraler Annahme eines dezentrierten Subjektes sich Komplexitätssteigerung und Brüchigkeit als Merkmale globaler Gesellschaften spiegeln, welche das destabilisierte Individuum zu permanenter Identitätsarbeit und De- und Rekonstruktionen zwingen. Schon in einem Lebensvollzug ohne sprachliche Beeinträchtigungen ist sprachliche Identität das Ergebnis eines inter- und intrapersonalen sozio-emotionalen Balancierungs- und Integrationsprozesses, in dem alltägliche Konflikte, Widersprüche,
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Divergenzen und Disharmonien zwischen internen und/oder externen sprachspezifischen Fremd- und/oder Selbstbildern aufgelöst werden müssen. Die auftretende (Sprach)Behinderung eines Menschen führt aber meist zu einem folgenschweren Teufelskreis: Der sprachgestörte Mensch verletzt massiv die gesellschaftlichen Sprachnormen; die Gesellschaft sanktioniert den Affront gegen die kollektiven Spracherwartungen mit Stigmatisierungs- bzw. Abjektionsprozessen; diese negativ erlebten individuellen oder institutionellen Erfahrungen haben Stigmaqualität, da sie als Bedrohung des sprachlichen Selbst interpretiert werden; diese Bedrohlichkeit verursacht Irritationen in den Interaktionen, Einschränkungen der verbalen Partizipation und letztlich emotional hoch bedeutsame sprachspezifische Identitätsprobleme; die dadurch erlebte Gefährdung ruft die Gefühle der Verlorenheit und Kohärenzauflösung bei empfundenem Identitätszerfall hervor und kann mittelfristig zu einer beschädigten sprachlichen Identität führen. Oberste pädagogische Prämisse zur Verhinderung von Identitätsbeschädigungen bei (sprach)behinderten Schülerinnen und Schülern muss deshalb die Integration sprachlicher Identität sein. Raum für Rekonstruktion desintegrierter Sprachlichkeit kann auf drei Ebenen gegeben werden: Vermittlung von identitätsrekonstruierenden Lösungswegen mittels sprachlichen Kompetenzerlebens, Wechsel von einem sprachwissenschaftlich bestimmten normativen Bildungsziel der linguistischen Homogenität zu einem sprachpädagogisch bestimmten autonomen Bildungsziel der Differenzanerkennung (Lüdtke 2004) sowie permanente Reflexion möglicher identitätsbeschädigender Akte des Pädagogen selbst (vgl. Tab. 1). Tab. 1: Vulnerabilität und Differenz der Sprachlichkeit: Anthropologische Zugänge
KULTUR
Beeinträchtigungen der Sprachlichkeit von Schülerinnen und Schülern mit (Sprach)Behinderungen
(Sonder)Pädagogische Prämissen
– Abjektion: Ausstoßung aus kulturellsymbolischer Ordnung – Einschränkung oder gar Verwehrung der kulturellen Teilhabe
– Offenheit für Vulnerabilität und Synkretismus – Ermöglichung von Bildungsteilhabe
GESELLSCHAFT – Abwertung und Marginalisierung sprachlicher Defizite – Gate-keeping: institutionelle Produktion sprachlicher Homogenität
– Anerkennung von Differenz und Einzigartigkeit – Inklusion sprachlicher Heterogenität
INDIVIDUUM
– Raum für Rekonstruktion beschädigter Sprachlichkeit – Integration sprachlicher Identität
– Verlorenheit bei Verlust des sprach lichen Selbst – Kohärenzauflösung und Identitätszerfall
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3 Vulnerabilität und Differenz der Bildbarkeit: Sprachpädagogische Konzeptionen Neben anthropologischen Überlegungen zur Sprachlichkeit beschäftigt sich die Sonderpädagogik und speziell die Sprachbehindertenpädagogik von jeher mit der pädagogischen Grundsatzfrage der Bildbarkeit von Personen mit Behinderungen insbesondere Sprachbehinderungen (vgl. Lüdtke 2014), denn wenn Bildung als Prozess und Resultat von sprachlich konstruiertem und repräsentiertem Wissen verstanden wird, dann stellt sich bei Akteuren mit Beeinträchtigungen, insbesondere mit solchen sprachlich-kommunikativer Art, die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von sprachbasierten Konstruktionsprozessen und Repräsentationen. Da Sprache somit insbesondere auch der Konstituente ‚Inhalt‘ bzw. Zugang zum Inhalt inhärent ist, erläutert dieses Kapitel übersichtsartig die zweite Eingangsfrage, indem es vor dem Hintergrund des jeweiligen sozioökonomischen Kontextes exemplarisch drei wesentliche Epochen sonderpädagogischer Konzeptionalisierung mit ihren je dominierenden sprachpädagogischen Paradigmen inklusive der darin enthaltenen Rollenkonzeption der SonderpädagogInnen bzw. SprachheilpädagogInnen sowie der Schülerinnen und Schüler mit Sprachbehinderung skizziert (vgl. Tab. 2).
3.1 Die Sprachheilschule: ‚Besondere‘ Bildung für Sprachbehinderte Das aus heutiger Sicht als klassisch zu bezeichnende Paradigma einer sprach (heil)pädagogischen Konzeptualisierung der Bildbarkeit von sprachbehinderten Schülerinnen und Schülern reichte von den Wirtschaftswunderjahren nach 1945 bis knapp vor die Jahrtausendwende – eine Epoche, in der nahezu ungebrochenes ökonomisches Wachstum mit dem Auf- und Ausbau des weltweit einmaligen, hoch spezialisierten, aber eben auch segregierenden deutschen Sonderschulsystems einher ging. Untermauert durch die KMK-Empfehlung zur „Ordnung des Sonderschulwesens“ (1972), war die ‚Schule für Sprachbehinderte‘ für diejenigen sprachgestörten Kinder und Jugendliche gedacht, die „in den allgemeinen Schulen dem Bildungsgang nicht oder nicht ausreichend zu folgen vermögen“ (KMK 1972, o. S.). Zugleich war dieser Schultyp als ‚Durchgangsschule‘ entworfen, da: […] die meisten Schüler nach etwa ein bis zwei Jahren von ihrer Sprachstörung befreit oder soweit gebessert werden können, dass sie in der Lage sind, dem Unterricht der allgemeinen Schule zu folgen […]. (KMK 1972, o. S.)
Der in diesem Schultyp tätige Sonderpädagoge verstand sich entsprechend als ‚Sprachheillehrer‘, dessen Hauptaufgabe in der ‚Sprachheilschule‘ „die behinderungsspezifische Vermittlung von Bildungsgütern nach Maßgabe der amtlichen
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Richtlinien und Lehrpläne für Regel- und weiterführende Schulen“ (Knura 1982, 6) war. Die Bildbarkeit der Schülerinnen und Schüler mit Sprachbehinderung war in dieser Zeit überhaupt keine Frage, da die Sprachstörung als völlig isoliertes, gut zu heilendes Symptom angesehen wurde, das die Wissenskonstruktion unter besonderen pädagogischen Bemühungen kaum einschränkte: Innerhalb der Sonderpädagogik wird der Begriff „Sprachbehinderte“ konventionell nur auf solche Personen angewandt, die dominant sprachbehindert sind, d. h. deren Sprachstörung beispielsweise nicht als Folge einer Hörstörung oder im Zusammenhang mit einer dominierenden Intelligenzminderung zu sehen ist. (Knura 1982, 3)
Zudem war in diesen Jahrzehnten das Verständnis von Sprachstörungen auf die entwicklungsbezogenen Phänomene fokussiert, so dass das Störungsbildspektrum auf die „individuell unterschiedlich verursachte und ausgeprägte Unfähigkeit zum regelhaften, der Altersnorm entsprechenden Gebrauch der Muttersprache“ beschränkt war (ebd., 3, Herv. v. Verf.) (vgl. Tab. 2).
3.2 Phänomene des Überganges: Sprachförderprogramme für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf Sprache Eine Art konzeptionelle Übergangszeit stellen die beiden Jahrzehnte um die Jahrtausendwende dar. Mitten in den Übergang von Moderne zu Postmoderne brachen Wiedervereinigung, PISA-Schock und Bologna-Reform in die deutsche Bildungslandschaft ein und angesichts von Finnlands Erfolgen wurden erste Zweifel am und Brüche im deutschen Sonderschulsystem laut und deutlich. Eine Entsprechung fand dies zum einen in den neuen ‚gesamtdeutschen‘ KMK-Empfehlungen zur „Sonderpädagogischen Förderung“ von 1994, speziell im darin enthaltenen paradigmatischen Wechsel von der Schul-Systemorientierung zur Schüler-Individuumszentrierung, zum anderen in einer Art flächendeckendem Aktionismus, Sprachstandserhebungen und Sprachförderprogramme zur Verbesserung der Bildungssprache Deutsch im Vorschul- und Primarbereich zu implementieren (Lüdtke/Kallmeyer 2007). Die hierin enthaltenen Veränderungen waren vielfältig: Die eher simplifizierende Sicht von Sprachstörungen wurde in eine umfassendere Perspektive überführt: Die Komplexität der Entstehungsbedingungen von Sprach- und Kommunikationsstörungen samt ihrer Verbindungen und Rückwirkungen auf das Lernen und das Erleben erfordern einen mehrdimensional angelegten sonderpädagogisch gestalteten Unterricht. (KMK 94, 11)
Der klassische „Sprachbehinderte“ wurde zu einem Kind mit „Sprachbeeinträchtigung“ und einem festzustellenden „sonderpädagogischen Förderbedarf Sprache“. Zugleich wurde der veränderten Schülerschaft Rechnung getragen, indem das Störungsbildspektrum auf Beeinträchtigungen bei mehrsprachiger Entwicklung bei
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Kindern mit Migrationshintergrund sowie Probleme im Bereich des Schriftspracherwerbs ausgeweitet wurde. Die Frage nach der spezifischen Bildbarkeit wurde aufgrund von PISA insbesondere mit in die Verantwortlichkeit des vorschulischen Bereiches genommen: Die spezifischen Maßnahmen müssen frühzeitig einsetzen zur Sicherung einer erfolgreichen Mitwirkung des Kindes an der im wesentlichen sprachlich vermittelten schulischen Bildungsarbeit und Kulturaneignung; […]. (ebd.)
Für die SprachheilpädagogInnen bedeutete dies einen hohen Professionalisierungsdruck, denn ihre klassische Rolle im Unterricht wurde vielfältig gebrochen und erweitert durch die Anfänge des gemeinsamen wie des zieldifferenten Unterrichts sowie durch eine neue Mobilität aus der Stammschule heraus als ExpertInnen für ein breites Feld von Primarschulen agieren zu müssen (vgl. Tab. 2).
3.3 Die ‚Inklusive Wende‘: Abbau von sprachlich-kommunikativen Lernbarrieren zur Sicherung der Bildungsteilhabe von allen Mit den KMK-Empfehlungen von 2011 zur „Inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen“ war der vorläufig letzte Paradigmenwechsel vollzogen: die Inklusion. Im Zeitalter der Globalisierung ist sie ein hervorragendes Beispiel dafür, wie eine tiefgreifende nationale Umstrukturierung des Schulsystems durch Global Governance-Mechanismen in die Wege geleitet wird, nämlich durch die Implementierung der UN-Behindertenrechtskonvention (2006) auf nationalstaatlicher und föderaler Ebene (Lüdtke/Schütte 2014). Die Frage der Bildbarkeit von allen Schülerinnen und Schülern mit Behinderung wird nun zur zentralen und wichtigsten Frage: In allen Lebensbereichen haben Menschen mit Behinderungen die gleichen und unveräußerlichen Rechte. Dies gilt auch für die schulische Bildung und bezieht sich auf den gleichberechtigten Zugang zu den Schulen und auf eine die Entwicklung des Einzelnen unterstützende Teilnahme am Unterricht und Teilhabe am Schulleben. (KMK 2011, 2)
Aus sprachheilpädagogischer Sicht ist die wohl weitreichendste Veränderung, dass durch den Einsatz in allgemeinbildenden Schulen alle Schülerinnen und Schüler mit sämtlichen Förderbedarfen in ihr Aufgabenfeld rücken, so dass das bisherige Störungsbildspektrum auch auf Sprach- und Kommunikationsstörungen bei anderen primären Beeinträchtigungen ausgeweitet werden muss, z. B. auf Dialogaufbau und Unterstützte Kommunikation beim Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung oder auf zentrale Sprach-, Sprech- und Schluckstörungen beim Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung (Frank/Lüdtke 2012):
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Inklusive Bildungsangebote ermöglichen Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen oder mit einem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf den gleichberechtigten Zugang zu allen Angeboten des Unterrichts, zu den Angeboten der verschiedenen Bildungsgänge und des Schullebens. (KMK 2011, 8)
Das Professionsverständnis des Sprachheilpädagogen/der Sprachheilpädagogin muss sich wandeln zu dem einer generellen Sonderpädagogin/eines generellen Sonderpädagogen, deren/dessen zentrale Aufgabe in interdisziplinärer Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit der Grundschulpädagogin/dem Grundschulpädagogen die Sicherstellung der Barrierefreiheit zur Ermöglichung der Bildungsteilhabe von allen ist – eine Entwicklung, die aufgrund des Verlustes von sprachspezifischer Fachexpertise als Deprofessionalisierungstendenz kritisiert werden kann (vgl. Tab. 2). Tab. 2: Vulnerabilität und Differenz der Bildbarkeit: Sprachpädagogische Konzeptionen Sozioökonomischer Kontext
Bildungspolitische Rahmenbedingungen
Professionelle Rolle der Sprachheil pädagogInnen
Bild der SchülerInnen mit Sprachbehinderung
– der „Sprachheillehrer“ in der „Sprachheilschule“ – Vermittlung von Bildungsgütern gemäß Regelschullehrplänen
– der „Sprachbehinderte“ – „dominant“ sprachbehindert – „Unfähigkeit“ zum Gebrauch der Muttersprache
– Anfänge des gemeinsamen Unterrichts – Mobilität des Experten aus Stammschule heraus – Zieldifferenter Unterricht
– SchülerInnen mit sonderpädagogischen Förderbedarf Sprache – Beeinträchtigungen der Sprachentwicklung auch bei Mehrsprachigkeit und im Schriftspracherwerb
– Einsatz in allen Schulformen auf Augenhöhe – Sicherstellung der Barrierefreiheit – Deprofessionalisierungstendenzen
– SchülerInnen mit allen Förderbedarfen – erweitertes Störungsbildspektrum auch bei anderen primären Beeinträchtigungen
PARADIGMA: SYSTEMORIENTIERUNG nach 1945 – Wirtschaftswunder
– Ausbau des segregierenden Sonderschulsystems – KMK (1972): Schule für Sprachbehinderte als Durchgangsschule
PARADIGMENWECHSEL: PERSONORIENTIERUNG ~ 1990–2000 – Übergang Moderne – Postmoderne – ‚Wende‘ – PISA-Schock – Bologna-Reform
– erste Brüche im Sonderschulsystem – Flächendeckende Sprachförderprogramme – KMK (1994): von Systemorientierung zur Individuumszentrierung
PARADIGMENWECHSEL: INKLUSION ~ 2010 – Globalisierung – Wirtschaftskrise – UN-Behindertenrechts-Konvention
– Umstrukturierung des Schulsystems durch Global Governance Effekte – KMK (2011) „Inklusion“
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4 Vulnerabilität und Differenz des Lernens: Sprachdidaktische Ansätze Da Sprache ja auch der Konstituente ‚Vermittlung‘ inhärent ist, wird in diesem Kapitel übersichtsartig die dritte Eingangsfrage erläutert, wie in Weiterführung der anthropologischen und sprachpädagogischen Aspekte die Sonderpädagogik und insbesondere die Sprachbehindertenpädagogik die sprachdidaktische Herausforderung der Erzeugung und Vermittlung von sprachlich konstruiertem und repräsentiertem Wissen bei Kindern und Jugendlichen mit (Sprach-)Behinderungen beantwortet hat (vgl. Lüdtke 2012b). Dazu werden die wichtigsten Ansätze im historischen Verlauf skizziert, und zwar unter Herausarbeitung der je rezipierten allgemeindidaktischen Modelle und deren wissenschaftstheoretischer Bezugspunkte (vgl. Tab. 3).
4.1 Persönlichkeitsentwicklung in der Erziehung zur Sprachlichkeit Die Ursprünge einer besonderen, spezifischen Sprachdidaktik für Schülerinnen und Schüler mit Sprachbehinderungen liegen zum einen in der Phoniatrie und zum anderen in der Taubstummenpädagogik. Ende des 19. Jahrhunderts prägten vor allem die Berliner Schule um Gutzmann mit ihren Stotterklassen und die Wiener Schule um Fröschels und seine ‚Kaumethode‘, die didaktische Landschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich mit der Rezeption der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik (u. a. Bollnow 1959) und der Bildungstheoretischen Didaktik (Klafki 1963) eine subjektorientierte Wendung: vom sprachlichen Symptom auf dessen Träger, von der Übungsbehandlung zur ganzheitlichen Erziehung. Einhergehend mit dem expansiven Aufbau der Sprachheilschule (vgl. 3.1) erreichte sie Ende der 1960er Jahre sowohl in der Schweizer Heilpädagogik als auch in der deutschen Sprachbehindertenpädagogik ihren Höhepunkt. Auch das Komplexe, das nicht unmittelbar als Symptom Wahrnehmbare in den Unterricht einzubeziehen, wird zu einer pädagogischen Aufgabe, der sich insbesondere der Ansatz von Westrich (1974) verschreibt. Auf Basis einer phänomenologischen Reflexion der Lebenswirklichkeit von Kindern mit Sprachstörungen wird die Persönlichkeitsentwicklung des sprachbehinderten Schülers, seine „Erziehung zur Sprachlichkeit“ oberstes Ziel einer hermeneutisch-geisteswissenschaftlich orientierten Sprachbehindertenpädagogik. Sie korrespondiert mit einer reifungstheoretischorganismischen Vorstellung des Spracherwerbs, in dem ‚der Pädagoge‘ sich bemüht, auf Basis eines tragenden Erzieher-Schüler-Verhältnisses die Störungen der Sprachentwicklung durch „ordnendes“ pädagogisches Eingreifen in „rechte Bahnen“ zu lenken.
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4.2 Lernzielüberprüfbarkeit im Sprachtherapeutischen Unterricht In den 1970er Jahren wurde in einer pendelartigen Gegenbewegung von der phänomenologischen Einzelerfahrung zu objektivierbaren und messbaren Tatsachen das empirisch-analytische Wissenschaftsverständniss der Allgemeinen Pädagogik und Didaktik für die sprachheilpädagogische Didaktik prägend. Entsprechend der nun dominierenden kritisch-rationalistischen Erkenntnistheorie sollten nur noch die unmittelbar beobachtbaren Tatsachen, die allein zu allgemein gültigen, nachprüfbaren oder widerlegbaren Aussagen führen, die Lehr-Lern-Praxis bestimmen (vgl. Roth 1957). In der Sprachheilpädagogik zeigte sich dieser Wandel besonders in Anknüpfungen an das Didaktik-Modell der „Berliner Schule“ (Heimann/Otto/Schulz 1965) und dem Bestreben, mittels genauer Analyse der sachlichen und anthropogenen Voraussetzungen der sprachbehinderten Schülerinnen und Schüler den sprachlichen Lernprozess optimal steuern und überprüfen zu können – ein sprachdidaktischer Ansatz, der mit behavioristisch-lerntheoretischen Spracherwerbsmodellen korreliert. Das bis heute maßgebliche Konzept des „Sprachtherapeutischen Unterrichts“ (Braun 1980) trug gerade aufgrund der Überprüfbarkeit von sprachlich-formalen Lernzielen zur Konsolidierung der uneingeschränkten Vorherrschaft der Sprachheilschule als erfolgreiche Durchgangsschule (vgl. 3.1) ins Regelsystem bei (vgl. Tab. 3).
4.3 Handlungsorientierung im Zentrum der Kooperativen Sprachdidaktik In einem neuen Umschwung entfaltete sich Ende der 1970er Jahre das pragmatische Paradigma mit dem neuen pädagogischen Primat der Handlungsorientierung. Mitte der 1980er Jahre entwickelte sich beispielwiese die „Kooperative Pädagogik“ Jetters (1985). Die Kategorie der „Handlung“ als Idee der gemeinsamen, kooperativen Zusammenarbeit war hier die zentrale Bezugsgröße pädagogisch-didaktischer Planung und Reflexion, theoretisch fundiert im Genetischen Strukturalismus Piagets (1923). Wellings Ansatz der „Kooperativen Sprachdidaktik“ (2004) adaptierte und spezifizierte diese Konzeption für die Sprachbehindertenpädagogik durch eine Ausarbeitung der sprachlichen Dimension des Handlungsbegriffs. Mit hoher Anschlussfähigkeit an die aktuelle Individuumszentrierung der neuen KMK-Empfehlungen (1994) und die ersten Versuche gemeinsamen Unterrichts von Sonder- und Regelschülern (vgl. 3.2) steht hier die kooperative sprachliche Handlungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler mit (Sprach)Behinderungen im Mittelpunkt der Unterrichtsplanung und nicht mehr ein sprachsystematisch abgeleitetes Lernziel. In Abgrenzung vom administrativ zugeschriebenen sprachlichen Förderbedarf (vgl. 2.2) rückt in diesem sprachdidaktischen Ansatz als letzte Konsequenz das innere Förderbedürfnis der Kinder und Jugendlichen in den Vordergrund (vgl. Tab. 3).
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4.4 Emotionale Regulation in der Konstruktivistisch-Relationalen Sprachdidaktik Um die Jahrtausendwende begann sich in der Allgemeinen Pädagogik und Didaktik das konstruktivistische Paradigma (u. a. Reich 2000; 2002) zu etablieren (vgl. Tab. 3). Zentraler Gedanke ist, dass Wissen selbstorganisiert, sozial situiert und emergent ist und Wissenserwerb deshalb nicht wie in klassischen Lehr-Lern-Modellen determiniert und gesteuert, sondern nur in seinem sozialen Ausgehandelt-Werden durch Lernimpulse angestoßen, initiiert werden kann. Da sich Lernen nicht auf die Reproduktion vorhandener Wissensbestände reduzieren lässt, sondern im Wechselspiel zwischen innerer Konstruktion und Instruktion durch die Umwelt geschieht, vollzieht sich auch ein paradigmatischer Wechsel von den klassischen Inhalts- zu den postmodernen ‚Beziehungsdidaktiken‘. In der Sprachbehindertenpädagogik wird dieser Ansatz durch Bahr (2003) und Lüdtke (2004; 2010) rezipiert und sprachspezifisch adaptiert. Ausgehend von einem Verständnis der kindlichen Sprachentwicklung als „koevolutiv-selbstorganisiertem Konstruktionsprozess“ erweitert Bahr (2003) den Ansatz des klassischen „sprachtherapeutischen Unterrichts“ um konstruktivistische Ideen. In der „Relationalen Didaktik“ (Lüdtke 2004) werden diese Impulse vertieft, indem die konstruktivistischen Grundgedanken mit einer Relationalen Spracherwerbstheorie verknüpft werden, welche auf Grundlage jüngster entwicklungsneuropsychologischer Erkenntnisse speziell die Bedeutung der Emotionen für die gemeinsame Konstruktion sprachlicher Repräsentationen betont. Die didaktische Valenz der Emotionen, nicht nur für sprachliche Konstruktionen sondern auch für den basalen nonverbalen Dialogaufbau, öffnet diesen sprachdidaktischen Ansatz für die Erfordernisse einen Unterrichts in inklusiven Kontexten (vgl. 3.3), z. B. für die Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit den Förderschwerpunkten Emotionale und Soziale, Geistige oder Körperliche und motorische Entwicklung (Frank/Lüdtke 2012) (vgl. Tab. 3).
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Tab. 3: Vulnerabilität und Differenz des Lernens: Sprachdidaktische Ansätze Wissenschaftstheoretische Bezugspunkte
Pädagogische Positionen
Allgemein-Didak tische Modelle
~ 1960 HERMENEUTISCHES PARADIGMA → – Hermeneutik – Phänomenologie
– Geisteswissenschaftliche Pädagogik
– Bildungstheore tische Didaktik
~ 1965 ANALYTISCHES PARADIGMA → – Kritisch-rationale (empirische) Erziehungswissenschaft
– Kritischer Rationalismus
– Lerntheoretische Didaktik (Berliner Schule)
~ 1975 PRAGMATISCHES PARADIGMA → – Genetischer Strukturalismus
– Kooperative Pädagogik
– Kooperative Didaktik
SonderpädagogischSprachdidaktische Rezeption PERSÖNLICHKEITSENTWICKLUNG – Erziehung zur Sprachlichkeit LERNZIELÜBER PRÜFBARKEIT – Sprachtherapeu tischer Unterricht HANDLUNGS ORIENTIERUNG – Kooperative Sprachdidaktik EMOTIONALE REGULATION
~ 2000 KONSTRUKTIVISTISCHES PARADIGMA → – Systemtheorie – Konstruktivismus
– Systemischkonstruktivistische Pädagogik
– Konstruktivistische Didaktik
– KonstruktivistischRelationale Sprachdidaktik
5 Ausblick: Inklusion zwischen Verlust und Nivellierung der Fachlichkeit Betrachtet man abschließend den Stand der sonderpädagogischen Sprachpädagogik und Sprachdidaktik in Zeiten der Inklusion, so droht Gefahr an den Flanken von zwei Seiten: Zum einen eine Nivellierung der sprachspezifischen Fachlichkeit insbesondere durch die Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens und der emotionalen und sozialen Entwicklung sowie die Grundschulpädagogik, welche indirekt beispielsweise durch neue inklusionsorientierte Aus- und Weiterbildungsstrukturen die sprachspezifischen Studienanteile verdrängen; zum anderen ein direkter Verlust der Fachlichkeit an die Akademische Sprachtherapie bzw. Logopädie, die mit ihrer sprachtherapeutischen Expertise in das neue Arbeitsfeld Grundschule drängen (vgl. Abb. 1).
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VERLUST FACHLICHKEIT
– Akademische Sprachtherapie – Logopädie
Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation
NIVELLIERUNG FACHLICHKEIT – Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens – Pädagogik bei Beeinträchtigungen der emotionalen und sozialen Entwicklung – Grundschulpädagogik
Abb. 1: Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation in Zeiten der Inklusion zwischen Verlust und drohender Nivellierung der Fachlichkeit
Gegenmaßnahmen dazu, dass sich Sprachbehindertenpädagogik nicht nur von jeher, sondern auch weiterhin in ihrer ganzen Breite und Tiefe mit der sprachlichen Konstruktion von Bildung unter den besonderen Bedingungen von (Sprach-)Behinderung widmen kann, könnten u. a. auf zwei Ebenen ansetzen: Im Bereich der Praxis müsste ein spezifisches ‚Unterstützungsprofil Sprache und Kommunikation‘ entwickelt werden, welches folgende fünf Dimensionen beinhaltet: (1) Abbau von Lernbarrieren durch Schaffung einer besonderen Lernumgebung und Aufbereitung der Unterrichtsgegenstände, (2) Einsatz von hoch spezifischer Sprach- und Kommunikationsförderung, (3) Modulation der Sprache der Lehrkraft und Vorgabe adäquater Sprachmodelle, (4) Gestaltung des sprachlich-kommunikativen Milieus und der Kooperation sowie (5) Ausbau von Beziehungsgestaltung, emotionaler Stärkung und förderlicher intersubjektiver Kontexte (vgl. Stitzinger 2013; Lüdtke/Stitzinger 2014); und im Bereich der inklusiven Unterrichtsforschung müssten verstärkt empirische Studien initiiert werden (vgl. Glück/Reber/Spreer 2013).
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IV Empirische Ansätze und Befunde zur sprachlichen Wissenskonstruktion
Jens Siemon
20. Sprachliche Konstruktion gesellschaftlich relevanten Wissens für die berufliche Bildung an ausgewählten Beispielen Abstract: Die Fähigkeit eines Menschen, gesellschaftlich relevantes Wissen sprachlich zu konstruieren, wird als ein zentraler Prädiktor für Bildungserfolg und damit für die Art der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gesehen. Für die meisten Teilsysteme des deutschen Bildungssystems liegen verlässliche Daten bzgl. der Ausprägungen dieser Fähigkeiten vor. Für eines der größten Teilsysteme des Bildungssystems, der beruflichen Bildung, ist dies allerdings nicht der Fall. Der vorliegende Text soll einen Überblick über die spezifischen Forschungsansätze und Erkenntnisse geben, die bzgl. der sprachlichen Konstruktion gesellschaftlich relevanten Wissens in der beruflichen Bildung vorhanden sind. Zunächst werden eine Beschreibung der Bedeutung von Sprache in der beruflichen Bildung und eine Abgrenzung kommunikativer Teilkompetenzen vorgenommen. Anschließend werden für die Forschungsfelder Kompetenzanforderungen, Sprachgebrauch, Sprachkompetenz von Jugendlichen, Sprachförderung sowie dem Zusammenhang von Sprachkompetenz und beruflichem Erfolg Studien vorgestellt, die zusammengenommen einen Überblick über die empirische Forschung zum Themenfeld geben. 1 2 3 4 5 6
Die Bedeutung von Sprache in der beruflichen Bildung Sprachkompetenz und kommunikative Kompetenz Anforderungen an kommunikative Kompetenz in der beruflichen Bildung und der Arbeitswelt Sprachkompetenz von Jugendlichen Untersuchungen zur Sprachförderung an Berufsschulen Zusammenhang zwischen beruflichen Anforderungen und kommunikativen Kompetenzen von Berufsschülerinnen und Berufsschülern 7 Fazit 8 Literatur
1 Die Bedeutung von Sprache in der beruflichen Bildung Dass sprachliche Kompetenzen ein bedeutender Faktor für schulischen Erfolg sind, haben in den letzten zwei Jahrzehnten mehrere Bildungsvergleichsstudien gezeigt. Und das Vorhandensein außerschulischer Sprachtests, deren Ergebnisse dann für Entscheidungen über Bildungsverläufe herangezogen werden, zeigt, dass mit der Beherrschung von Sprache die Verteilung gesellschaftlicher Chancen und Ressourcen
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eng verbunden ist (Lenz 2009). Aus sprachlichen Defiziten erwachsen leicht soziale Geringschätzung und gesellschaftliche Ausgrenzung. Zudem sind die Auswirkungen sprachlicher Defizite lebens- und bildungsabschnittübergreifend (Pätzold 2010). Unter den Bedingungen eines modernen, auf den Prinzipien der Handlungsorientierung sowie der Individualisierung von Lernprozessen basierenden Lehr- und Lernverständnisses erfährt Sprachkompetenz einen weiteren Bedeutungszuwachs. So werden schon die Lernsituation und die darin enthaltene Problemstellung zumeist sprachlich vermittelt. Eine Schülerin oder ein Schüler wird aber kaum in der Lage sein, die für den weiteren Lernprozess relevanten Handlungsziele zu bilden, wenn sie oder er die Lernsituation und die Problemstellung nicht vollständig rekonstruieren kann. Auch der Rückgriff auf fachbezogene Informationsquellen zum Aufdecken möglicher Handlungsalternativen ist fast immer sprachbasiert. Gerade unter den Bedingungen der Individualisierung müssen Schülerinnen und Schüler die relevanten Informationen recherchieren, rekonstruieren, auf ihre Anwendbarkeit hin prüfen, selektieren und transferieren, um sie auf eine gegebene Problemstellung anzuwenden. Letztlich sind auch die eine vollständige Lernhandlung abschließenden Phasen der Artikulation und Reflexion ohne das Vorhandensein entsprechender kommunikativer Kompetenz kaum vorstellbar. Nicht nur im beruflichen Schulsystem ist die kommunikative Kompetenz von zentraler Bedeutung. Durch den kontinuierlichen Wandel der Ökonomie, den eine Abnahme landwirtschaftlicher und industrieller Produktion und eine Zunahme des Dienstleistungssektors kennzeichnet (Baethge 2007), wurde Wissen und der Umgang damit zum erfolgsentscheidenden Produktionsfaktor (Busse u. a. 1997). Der vergleichsweise wissensintensive Dienstleistungssektor ist sowohl bezogen auf die Wertschöpfung als auch auf die Beschäftigung mit jeweils über 70 % der weitaus größte Sektor der deutschen Volkswirtschaft (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, 14). Mit etwas zeitlicher Verzögerung folgt das Ausbildungssystem in quantitativer Hinsicht dem Beschäftigungssystem. Der Dienstleistungssektor bietet über die Hälfte der insgesamt angebotenen Ausbildungsplätze in Deutschland an (Lenz 2009, 11 f.). Mehr als der primäre und sekundäre Sektor ist dieser Sektor durch die Informatisierung der Geschäfts- und Arbeitsprozesse gekennzeichnet. Das gemeinsame Symbolsystem, auf das wissensintensive Aktivitäten einer Dienstleistung zurückgreifen, ist die Sprache. Sprachliche Aktivitäten machen den größten Teil der beruflichen Tätigkeiten aus, gleichgültig um welche Hierarchieebene es sich handelt (Brünner 2007, 39 ff.; Efing/Janich 2007, 2). Es verwundert daher nicht, dass die kommunikative Kompetenz ein Einstellungskriterium für die Aufnahme einer Berufsausbildung oder eines neuen Beschäftigungsverhältnisses ist. Gerade im Falle der Veränderung von Arbeitsbedingungen ist sie aber auch für den Erhalt des Arbeitsplatzes unabdingbar und damit nicht nur Zugangsvoraussetzung, sondern auch ein Stabilisator für die Teilnahme an beruflicher Arbeit und Bildung (Pätzold 2010, 161).
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2 Sprachkompetenz und kommunikative Kompetenz Durch das schlechte Abschneiden des deutschen Bildungssystems in internationalen Bildungsvergleichsstudien ist unter anderem die Sprachkompetenz von Kindern und Jugendlichen stärker in den Fokus von bildungs- und erziehungswissenschaftlicher Betrachtung gerückt. Eine wenig ausgeprägte Sprachkompetenz wird als ein gewichtiger Faktor dafür angesehen, dass Jugendliche mit, oft aber auch ohne Migrationshintergrund Bildungsrückstände auch in nicht sprachlichen Fächern aufweisen. Sie sind in der Folge an Gymnasien unterrepräsentiert und überproportional unter den Schulabgängern ohne Hauptschulabschluss zu finden (Deutsches PISA-Konsortium 2001). Da die Bezeichnungen Sprachkompetenz und kommunikative Kompetenz bisher wenig einheitlich verwendet werden, sollen diese zunächst unabhängig von der Betrachtung des beruflichen Bildungssystems definiert werden. Eine solche Definition dient dazu, im weiteren Verlauf des Textes verdeutlichen zu können, in welchen Bereichen der betrachteten Kompetenz für die berufliche Bildung Studien und Erkenntnisse vorliegen und in welchen Bereichen eher Forschungsdesiderate anzutreffen sind. Unter Kompetenz wird im weiteren Verlauf dieses Textes Folgendes verstanden: […] die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. (Weinert 2001, 27 f.)
Chomsky (1965) sieht (Sprach-)Kompetenz als ein endliches Inventar von Elementen und Verknüpfungsregeln bzw. später Prinzipien und Parametern an, über die ideale Sprecher und Hörer einer Sprachgemeinschaft verfügen. Als (Sprach-)Performanz bezeichnet Chomsky die Nutzung dieser Regeln zur Generierung einer im Prinzip unendlichen Zahl von Sprachverwendungen. Diese regelbasierte Kompetenzauffassung wurde vielfach kritisiert. Insbesondere fehlt den Kritikern der Einbezug von Bedingungen bzw. der soziale Kontext der Sprachverwendung. Hymes (1972; 1974) stellt dem Ansatz Chomskys das Konzept der kommunikativen Kompetenz gegenüber. Dies ist bis heute ein vorherrschendes Paradigma in der Sprachlehrlernforschung und der Sprachdidaktik. Kommunikativer Kompetenz werden gemeinhin vier Komponenten zugeschrieben: – Grammatische Kompetenz beschreibt die Fähigkeit, Wissen über Lexikon und Grammatik, d. h. Phonologie, Morphologie, Syntax, Satzgrammatik und Semantik für Produktion und Verständnis wörtlicher Bedeutungen von Aussagen anwenden zu können (Canale und Swain 1980, 29). – Soziolinguistische Kompetenz beschreibt die Fähigkeit, soziale Regeln des Gebrauchs von Sprache wie Passung und Angemessenheit von Sprachproduktion und-rezeption anwenden zu können (Hymes 1974).
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– Diskurskompetenz beschreibt die Fähigkeit, durch Kombination von Bedeutungen und grammatischen Formen zieladäquate Sprachproduktion zu generieren (Canale 1983, 9). – Strategische Kompetenz beschreibt letztlich die Fähigkeit, die Effektivität der Kommunikation zu erhöhen sowie ein drohendes Scheitern einer Kommunikation abzuwenden (Canale 1983, 14). Im deutschen Sprachraum werden Sprachkompetenz und kommunikative Kompetenz vielfach synonym (vgl. z. B. Nodari 2002) oder undifferenziert (vgl. z. B. Grundmann 2007; Pätzold 2010) verwendet. Efing nutzt die Begriffe der Sprachsystemkompetenz und Sprachgebrauchskompetenz. Mit Ersterer beschreibt er die Fähigkeit eines Individuums, die Vorgaben eines Sprachsystems bzw. einer Sprachnorm ohne Berücksichtigung des Kontextes einzuhalten. Unter Sprachgebrauchskompetenz wird die Fähigkeit eines Individuums verstanden, im Kontext konkreter kommunikativer Situationen unter Einbezug soziolinguistischer, diskursiver und strategischer Fähigkeiten sprachsystematische Fähigkeiten adäquat anzuwenden. Die Bewertung erfolgt nach Ausprägungsgraden wie angemessen, effizient oder zielführend (Efing 2012; vgl. ähnlich auch Trim 2001, 109). Im deutschen Sprachraum setzt sich vor allem in der Sprachdiagnostik zunehmend das Modell der sprachlichen Basisqualifikationen von Ehlich u. a. (2005, vgl. Abb. 1) durch. Auch wenn darin von einem Modell der Basisqualifikationen gesprochen wird, ist in den Ausführungen unschwer erkennbar, dass es sich um ein Kompetenzmodell handelt. Lautung und Intonation (produktiv und rezeptiv)
phonisch
Zuordnung sprachlicher Ausdrücke zur Wirklichkeit
semantisch morpho-
Handlungsziele, soziale Kontexte, erfolgreiche pragmatisch Kommunikation
diskursiv
sprachliche Formen, syntaktisch Kombination von Sätzen
literal
Zuhören, turntaking, Sprachhandlungen, Narration
Schriftlichkeit, Sprachbewusstheit Abb. 1: Modell der Basisqualifikationen von Ehlich u. a. (2005)
Im weiteren Verlauf des Textes wird das Konzept der kommunikativen Kompetenz verwendet. Es wird angenommen, dass es von dem Grad des Vorhandenseins kommunikativer Kompetenz abhängt, wie und in welchem Umfang gesellschaftliches
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Wissen vermittelt und verwendet werden kann. Kategorien zur Beschreibung und Diagnose kommunikativer Kompetenz sind die von Ehlich u. a. beschriebenen Basisqualifikationen.
3 Anforderungen an kommunikative Kompetenz in der beruflichen Bildung und der Arbeitswelt 3.1 Mindestanforderungen aus der Sicht von Expertinnen und Experten Das Konzept Ausbildungsreife wird als universale Mindestanforderung an personelle und kognitive Dispositionen verstanden, die bei einem Individuum gegeben sein müssen, um eine Berufsausbildung aufnehmen zu können. Sobald ein Kriterium für die Ausbildungsreife eine berufsabhängige Gewichtung oder Modifikation erfährt, handelt es sich nicht mehr um Ausbildungsreife, sondern um Berufseignung (Ebbinghaus 2000). Fähigkeiten und Fertigkeiten, die erst während der Ausbildung erworben werden sollen, gehören ebenfalls nicht zur Ausbildungsreife (Ehrenthal u. a. 2005). Im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit hat ein Arbeitskreis aus Experten der Arbeitgeberverbände, beruflicher Schule, der Wissenschaft sowie der Bundesagentur selbst einen Versuch unternommen, einen Kriterienkatalog zur Definition von Ausbildungsreife vorzulegen. In den Merkmalsbereichen schulische Basiskenntnisse, psychologische Leistungsmerkmale, physische Merkmale, psychologische Merkmale des Arbeitsverhaltens der Persönlichkeit sowie Berufswahlreife werden insgesamt 25 Basismerkmale beschrieben und mit einer Vielzahl von Indikatoren ausgestattet. In den Bereich der kommunikativen Kompetenzen fallen die Basismerkmale Rechtschreiben, Lesen – mit Texten und Medien umgehen sowie Sprechen und Zuhören unter die schulischen Basiskenntnisse. Das Basismerkmal Sprachbeherrschung fällt in den Bereich der psychologischen Leistungsmerkmale. Kommunikationsfähigkeit zählt zu dem Merkmalsbereich der psychologischen Merkmale des Arbeitsverhaltens und der Persönlichkeit (Bundesagentur für Arbeit 2006). Verwendung findet der Kriterienkatalog zur Ausbildungsreife im Rahmen der Berufsberatung, er dient Bildungsinstitutionen als Richtlinie in der Berufsorientierung und soll Jugendlichen, Eltern, Schulen und Betrieben eine Orientierung darüber geben, welche Anforderungen gestellt werden oder gestellt werden können. Auch können mit dem Katalog Problembereiche von Jugendlichen leichter identifiziert werden, um eine zielgenaue Unterstützung bei der Bewältigung der Schwelle zwischen allgemeinbildendem Schulsystem und Ausbildungssystem zu ermöglichen (Bundesagentur für Arbeit 2006). Trotz der mittlerweile breiten Verwendung wird aber auch Kritik an dem Konzept der Ausbildungsreife geübt. Im weiteren Verlauf des
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Textes werden mehrere Arbeiten vorgestellt, die Zweifel an der Anwendbarkeit und der Definition aufkommen lassen. Auf der Basis einer Befragung von 911 ausbildungsaktiven Unternehmen stellt das Institut der deutschen Wirtschaft einen Katalog von Kompetenzen auf, über die Schulabsolventinnen und Schulabsolventen im Sinne einer Ausbildungsreife verfügen sollten. Allein im Fach Deutsch werden 21 Kompetenzen identifiziert, die acht von zehn Unternehmen für unverzichtbar oder eher unverzichtbar halten. Diese Kompetenzen reichen von Informationen einholen über Rechtschreibung beherrschen oder schriftlich argumentieren und Stellung nehmen bis zu Schreiben sachgerecht formulie ren. Der Katalog ist explizit als Forderungskatalog an das allgemeinbildende Schulsystem gerichtet und wird mit Vorschlägen verknüpft, wie diese Standards erreicht werden könnten (Klein/Schöpper-Grabe 2012). Fleuchaus (2004) sieht Schülerinnen und Schüler selbst in der Rolle von Experten über das eigene Wissen und den eigenen Lern- und Ausbildungsprozess. Sie ging mit der Methode leitfragengestützter Interviews sowie Fragebögen der Frage nach, welche Bedeutung die im Lehrplan des Faches Deutsch an beruflichen Schulen ausgewiesenen Ziele für die Lernorte Schule, Betrieb sowie den Alltag haben. Gleichzeitig wurden auch die Einschätzungen der Ausbilderinnen und Ausbilder sowie der Lehrerinnen und Lehrer erhoben. Die Schülerinnen und Schüler wurden zudem gebeten, eine Selbsteinschätzung bezüglich ihrer kommunikativen Fähigkeiten in den Bereichen Umgang mit Informationen, Aktivitäten im Team, Lesen und Verstehen von Texten sowie selbstständige Produktion von Informationen abzugeben. Eine allgemeine Einschätzung zu diesen kommunikativen Fähigkeiten von Auszubildenden zu Beginn und zum Ende der Ausbildung sollten auch die Ausbilderinnen und Ausbilder sowie die Lehrerinnen und Lehrer abgeben. Zudem sollten sie den selbst zu verantwortenden Beitrag zur Entwicklung dieser Kompetenzen beurteilen. Ziel der Untersuchung war es, didaktische und methodische Anknüpfungspunkte für das unterrichtliche Handeln und die Förderung kommunikativer Kompetenzen zu finden. Insgesamt halten die Befragten alle aufgelisteten kommunikativen Kompetenzbereiche im Hinblick auf zukünftiges schulisches und betriebliches Tun für wichtig. Ihre kommunikativen Stärken liegen nach Einschätzungen der Jugendlichen eher im Bereich der personalen und sozialen kommunikativen Kompetenz. Die befragten Auszubildenden attestieren sich gute Kenntnisse im Umgang und in der Zusammenarbeit mit anderen, im selbstständigen Arbeiten und im Arbeiten im Team. Beim Ausfüllen von Formularen, beim Umgang mit Fachbüchern, Fachbegriffen und Schaubildern sowie im Grundlagenbereich der Rechtschreibung und Zeichensetzung halten sie sich für kompetent, gemessen an den Anforderungen der Schul- und Berufswelt. Schwächer ausgeprägt sind nach ihrer eigenen Einschätzung die Fähigkeiten im Umgang mit Arbeitsberichten, Geschäftsbriefen, Diagrammen, Handbüchern, Fremdwörtern, im aktiven kommunikativen Vortrag sowie in der Präsentation vor einer Gruppe. Das trifft auch für die Beurteilung der Kenntnisse im Umgang mit Zeitungsartikeln und Folien zu, die offenbar auch nur ‚teils/teils‘ vorhanden sind. Dieses Bild ändert sich
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auch nicht wesentlich, wenn man die Aussagen der Jugendlichen aus dem ersten und dritten Ausbildungsjahr gegenüberstellt. Die älteren Jugendlichen sind eventuell kritischer im Umgang mit ihren eigenen Kenntnissen oder konnten aufgrund mangelnder Anforderungssituationen diese mangelnden Kompetenzbereiche über die Dauer der Berufsausbildung kaum ausbilden (Fleuchaus 2004). Die befragten Ausbilderinnen und Ausbilder sowie Lehrerinnen und Lehrer bestätigen die Aussagen der Jugendlichen zu deren kommunikativen Fähigkeiten im Wesentlichen. Sie bemängeln die kommunikativen Kenntnisse zu Beginn der Ausbildung, beurteilen aber auch den Lernzuwachs bis zum Ende der Ausbildung als den Anforderungen der Berufswelt nicht angemessen. Zwar sind die Ausbilderinnen und Ausbilder insgesamt positiver in ihrer Einschätzung des Lernerfolgs als die Lehrerinnen und Lehrer, doch bei beiden Gruppen ist deutlich eine Forderung nach einer vermehrten kommunikativen Schulung im Hinblick auf Arbeitsplatzanforderungen erkennbar. Bei der Beurteilung des kommunikativen Kenntnisstandes der Jugendlichen am Anfang der Ausbildung gestehen Ausbilderinnen und Ausbilder sowie Lehrerinnen und Lehrer den Jugendlichen lediglich im Bereich des Lesens und Verstehens vor allem von literarischen Texten akzeptable bis gute Fähigkeiten zu. Diese spielen aber in der Arbeitswelt eine untergeordnete Rolle. Im Zusammenhang mit dem Themenbereich Beschaffen, Verarbeiten und Präsentieren von Informationen wird hauptsächlich der Aspekt des Verarbeitens stärker gewichtet. Hier werden nach Meinung der Unterrichtenden die meisten Kenntnisse eingefordert. Zudem haben Jugendliche Defizite, wenn es darum geht, Texte zu exzerpieren und zu strukturieren. Das Beherrschen von Grundlagenkenntnissen der deutschen Sprache ist nach Meinung aller Befragten im Zusammenhang mit dem selbstständigen Produzieren von Informationen von hoher Wichtigkeit. Den Jugendlichen werden zwar grundlegende Fähigkeiten zugesprochen, diese werden aber über die Dauer der beruflichen Ausbildung nicht weiter entwickelt, sodass das, was die Auszubildenden am Ende ihrer Ausbildung beherrschen, immer noch bei weitem nicht den Anforderungen der Arbeitswelt entspricht. Die berufsnahen Textformen bereiten den Auszubildenden Probleme, obwohl gerade solche Kenntnisse und Fähigkeiten für die Ausübung des erlernten Berufs benötigt werden. Weniger wichtig sind die erzählenden Textformen, hier vor allem das Verfassen von Interpretationen (Fleuchaus 2004).
3.2 Tatsächlicher Sprachgebrauch in der Berufsausbildung und der Arbeitswelt Bereits 1983 ging Buhofer (1983) der Frage nach, welche Rolle das Schweizerdeutsch gegenüber dem Hochdeutschen im Alltag der Beschäftigten eines größeren Schweizer Industrieunternehmens mit etwa 1000 Beschäftigten spielt. Durch diese explorative Studie, die die Erhebungsmethoden schriftliche Befragung, Tiefeninterview und teilnehmende Beobachtung miteinander kombiniert, konnte die Wissenschaftlerin auch
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Ergebnisse darüber vorlegen, auf welchen Hierarchieebenen welche sprachlichen Anforderungen anzutreffen sind. Buhofer stellt zunächst fest, dass es Abteilungen mit einem Schwerpunkt auf schriftsprachlicher Produktion gibt. Dies sind zum Beispiel das Marketing oder der Kundendienst, nicht aber in der Warenproduktion. Auch zu erwarten war, dass die Schreibtätigkeit in höheren Hierarchieebenen zunimmt (Buhofer 1983, 147). Die Autorin identifiziert auf der Basis ihrer Erhebung drei verschiedene Typen von Text sorten. Den Typ 1 kennzeichnet ein grammatikalisch korrekter Aufbau. Beispiel dafür sind Briefe, Berichte oder auch schriftlich verfasste Weisungen. Dieser Typ wird von Mitarbeitern in vorgesetzter Funktion benutzt. Typ 2 ist eher stichwortartig und in die normalen Arbeitsabläufe integriert. Dazu zählen Dokumenttypen wie Formulare, Karten oder Rapporte. Auch Typ 3 ist stichwortartig. Allerdings ist er nicht formal in den Arbeitsablauf integriert, sondern basiert auf individuellen Entscheidungen. Typische Beispiele sind Notizzettel oder individuelle Arbeitspflicht. Der am häufigsten vorkommende Typ schriftsprachlicher Kommunikation im Industriebetrieb ist der Typ 2. Er wird charakterisiert durch eine starke Reduktion der Syntax, eine Standardisierung der Wortstellung, einen korrekten Gebrauch des Wortschatzes sowie die Verwendung fachspezifischer Verben (Buhofer 1983, 156). Schweizerdeutsch wird im untersuchten Betrieb nur in der mündlichen Kommunikation verwendet. Es findet hier je nach Situation ein permanenter Wechsel zwischen dem Hochdeutschen und dem Schweizerdeutschen statt. Hochdeutsch wird in der mündlichen Kommunikation vermehrt verwendet, wenn der Sprecher vermutet, dass es bei der Verwendung vom Schweizerdeutsch zu Missverständnissen oder Unklarheiten kommen kann (Buhofer 1983, 163 ff.). Knapp u. a. (2008) gehen anhand von Interviews mit 18 Ausbildungsverantwortlichen aus den Bereichen Kraftfahrzeugmechanik, Schlosserei, Industriemechanik, Schreinerei, Steinmetz, Einzelhandel, Friseurgewerbe, Nahrungsmittelhandel, Metzgerei, Bäckerei, Gastronomie und Kinderpflege der Frage nach, wo im betrieblichen Teil der dualen Ausbildung Kenntnisse von Schriftlichkeit nötig sind. Damit sollte ermittelt werden, welche Kompetenzen im Lesen und Schreiben zur Erreichung der Ausbildungsreife im Handwerk erforderlich sind. Die Auswertung erfolgte sowohl quantitativ als auch qualitativ. In der betrieblichen Ausbildung dominierten mündliche Informationen gegenüber den praktischen Tätigkeiten. Diese werden nur gelegentlich durch Texte ergänzt. Die für die konkreten Tätigkeiten zu lesenden Texte sind meist ‚überschaubar‘, d. h. bei einer Länge von einer halben DIN A4-Seite gelten sie bereits eher als lang. Im Betrieb werden Texte zur Organisation (z. B. Stundenabrechnungen), instruktive Texte (Arbeitsanweisungen, Betriebsanleitungen für Maschinen, Auftragslisten), deskriptive Texte (Arbeitsvorgänge, Tätigkeitsbeschreibungen) und Informationstexte über Materialien und Innovationen gelesen. Zudem werden vereinzelt normative Texte (Sicherheitsvorschriften, Geschäftsbedingungen), diskontinuierliche Texte (Zeichnungen, Wartungspläne, Skizzen), umfangreichere Informationstexte über den
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gewählten Beruf für das Berichtsheft der Auszubildenden, Unterlagen der Meister sowie Fachliteratur zum selbstständigen Durcharbeiten außerhalb der Arbeitszeit rezipiert. Auszubildende werden im Betrieb mit einer begrenzten Anzahl von Fachtexten konfrontiert, die u. a. die Merkmale fachspezifischer Wortschatz, besondere Strukturen des Textaufbaus (Textschemata oder Makrostrukturen), komplexer Satzbau, z. B. durch Verwendung von Nominalisierungen, Einbettung in praktische Handlungszusammenhänge und diskontinuierliche Merkmale wie der Einbezug von Abbildungen, Grafiken, Tabellen etc. aufweisen. Die befragten Handwerksmeister weisen darauf hin, dass ihre Auszubildenden aufgrund mangelnder Konzentrationsfähigkeit und geringer Lesemotivation die Texte zu oberflächlich angehen und kaum in der Lage sind, Schlüsselstellen, Zusammenhänge sowie die Bedeutung zu erkennen. Das Schreiben von Texten ist ebenfalls Teil einer betrieblichen Ausbildung. Jedoch wird es in geringerem Umfang benötigt als das Lesen. Der größte Teil der geschriebenen Texte ist für den internen Bedarf bestimmt und besteht in der Regel aus Stichworten von Fachwörtern, Zahlenangaben (Mengenverhältnissen etc.) und Abkürzungen. Diese Kurzformen werden explizit vom Meister gefordert. Rechtschreibung und Grammatik werden überwiegend als defizitär wahrgenommen. Weitere Probleme sind der parataktische Stil (Beispiel: und dann, und dann, und dann) sowie fehlende syntaktische Vollständigkeit. In Dokumenten und Erklärungen betrachten Vertreterinnen und Vertreter der Unternehmerseite sprachliche Kompetenzen als relevant. Bei der Frage nach den Kriterien der Einstellung wird aber deutlich, dass sie eher Wert auf personale und soziale Kompetenzen legen. Auf die Mathematiknote wird von den befragten Meisterinnen und Meistern mehr Wert gelegt als auf die Deutschnote. Obwohl sprachliche Mängel wahrgenommen werden, unterschätzen wahrscheinlich viele der Ausbildungsverantwortlichen die Rolle der sprachlichen Kommunikation für den Erfolg der Ausbildung (Knapp u. a. 2008). In zwei Untersuchungen geht Efing zum Teil mit anderen Kollegen der Frage nach, welche Ziele im Deutschunterricht an Haupt- und Realschulen erreicht und welche Inhalte vermittelt werden sollten, um Jugendliche auf den Übergang in die Berufsausbildung vorzubereiten. Ausgangspunkt der Überlegungen ist ein weit gefasstes Bildungsverständnis, das die Fähigkeiten zur Bewältigung alltäglicher und beruflicher Anforderungen in den Bereich der allgemeinen Bildung einbezieht. In der ersten Untersuchung (Efing/Häußler 2011) wurde die kommunikative Situation in den Ausbildungsberufen Industriemechaniker, Mechatroniker, Elektroniker sowie Technischer Zeichner untersucht. Die Erhebung fand in sieben klein- und mittelständischen Betrieben statt. Begleitet wurde der Berufsalltag von Auszubildenden über zwei Tage. Es wurden Gespräche, schriftliche Kommunikation und handwerkliche Tätigkeiten dokumentiert. Zusätzlich wurde eine Sammlung von Kopien der Textsorten, mit denen Auszubildende in Berührung kommen, angelegt. Abschließend wurden Interviews mit den Ausbildungsmeistern und den Auszubildenden geführt,
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um die Gültigkeit der anlässlich der teilnehmenden Beobachtung festgestellten Eindrücke zu überprüfen. Alle Betriebe weisen eine aktive Einbindung der Auszubildenden in das tägliche betriebliche Geschehen auf. Die Auszubildenden müssen dabei kompetent mit Kollegen, Kunden und Vorgesetzten kommunizieren können und ihre handwerkliche Tätigkeit selbstbewusst und kritisch argumentativ präsentieren. Dabei müssen die Auszubildenden in der Lage sein, ein dem jeweiligen Kommunikationspartner, dem jeweiligen Ziel und der jeweiligen Situation angemessenes sprachliches Register auszuwählen. Zentral sind in den untersuchten Betrieben aber vor allem auch mündliche Absprachen. Auszubildende müssen über eine hohe Auffassungsgabe und Konzentrationsfähigkeit sowie die Fähigkeit verfügen, wichtige Information zu filtern. Auffällig ist, dass die Kommunikation oft nicht zwischen Meister und Auszubildendem verläuft, sondern ältere Auszubildende die jüngeren instruieren und ihnen Tätigkeiten und Arbeitsabläufe erklären. Sie sind auch erste Ansprechpartner für Probleme und Fragen der jüngeren Auszubildenden. Der quantitative Anteil der kommunikativen Tätigkeiten wird von Auszubildenden und Ausbildungsmeistern unterschiedlich eingeschätzt. Es wird deutlich, dass die Auszubildenden der Kommunikation einen weit höheren Anteil beimessen als ihre Ausbildungsmeister. Es gibt aber einen Konsens, dass alle untersuchten Ausbildungsberufe kommunikationsintensiv sind und gelungene Kommunikation ausschlaggebend für erfolgreiches Arbeiten ist. Häufig wird von den Ausbildungsmeistern angemerkt, dass den Bewerbern viele (nicht nur handwerkliche) Fähigkeiten fehlen, die eigentlich Ausbildungsvoraussetzung sind. Die Interviews und Beobachtungen zusammenfassend, ist Kommunikation gelungen, wenn mit wenig Zeichen ausreichend viel vermittelt wird. Im betrieblichen Alltag ist kaum Raum und Zeit für ausschweifende Gespräche. Der aus der Schule gut bekannte kohärente, situationsentbundene, ausformulierte Fließtext spielt kaum eine Rolle. Textsorten werden nach dem Kriterium einer schnellen und vor allem übersichtlichen Sinnentnahme gewählt und eingesetzt, um mit Kollegen oder Kunden kommunizieren zu können. Dies erklärt den häufig anzutreffenden Formularcharakter von Texten (zum Beispiel Auftragsformulare). Die Auszubildenden müssen rezeptiv und produktiv v. a. mit den Textsorten und Darstellungsformen Bericht, Liste, Tabelle, Zeichnung, Kurznotiz, Bedienungsanleitung sowie kleinen Fließtexten in Katalogen, Sicherheitshinweisen, Unterweisungen und Fachbüchern (wie z. B. Tabellenbüchern) umgehen können. Die Verwendung dieser Textsorten dient hauptsächlich der Dokumentation von Arbeitsaufträgen und deren Ausführung. In der mündlichen Kommunikation sprechen Auszubildende oft in einer Face-toFace-Situation mit einem Vorgesetzten oder Kollegen anhand einer Zeichnung über die zu verrichtende handwerkliche Tätigkeit. Gesprächssorten wie Besprechungen und Vorträge sind wichtig für eine sachgerechte Präsentation der handwerklichen Tätigkeit. Dabei ist die Kommunikation nicht nur deskriptiv, sondern auch argumentativ aufgebaut, da Arbeitsvorgänge gerechtfertigt werden müssten. Die häufigste
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Gesprächsform ist der Dialog. Dieser findet nicht zwangsweise eingebettet in einer Face-to-Face-Situation statt, sondern kann auch medial vermittelt werden (Internet, Telefon). Generell kennzeichnend für den Umgang mit allen Text- und Gesprächssorten ist die geforderte Verwendung der Fachsprache. Es ist jedoch deutlich, dass diese sachgerechte Verwendung für die Auszubildenden keinesfalls eine Selbstverständlichkeit ist, wie beispielsweise Probleme beim Ausfüllen des Berichtsheftes zeigen. Aus Sicht der Ausbildungsverantwortlichen besteht ein Konsens bezüglich der Wünsche an den Deutschunterricht. Die bei den Auszubildenden verfügbaren Textund Gesprächskompetenzen sind für die betriebliche Kommunikation selten ausreichend. Textsortenkenntnis und angemessene soziale Verhaltensweisen können integriert in einem ausbildungsvorbereitenden Deutschunterricht vermittelt werden. Die Fähigkeit zur angemessenen, adressatenspezifischen Registerwahl, also eine muttersprachliche Mehrsprachigkeit sowie das Verfügen über ein umfangreiches sprachliches Repertoire, ist der Weg zu einer zufriedenstellenden Kommunikation auf Seiten der Kommunikationspartner. Bezüglich der Heranführung an ausbildungsrelevante schriftliche Kompetenzen der Auszubildenden sollte die Textsorte Beschreibung, die in der Schule oft als Bildbeschreibung eingeübt wird, im Deutschunterricht bereits häufiger als Tätigkeitsbeschreibung z. B. handwerklicher Aktivitäten stärker in den Fokus rücken. Generell ist ein verstärkter Aufbau von Routinen für die Textproduktion sinnvoll, da Auszubildende im schriftlichen Umgang mit Kunden, Kollegen und Vorgesetzten häufig unsicher sind, wobei sich diese Unsicherheit hemmend auf die Kommunikation auswirkt. Bewerbungen, die eine derartige Schwäche erahnen lassen, werden unverzüglich zurückgesendet. Während im Deutschunterricht Fließtexte, basierend auf einer relativ geringen Menge an Sach- und Fachwissen, produziert und rezipiert werden, sind in der Ausbildung kurze, präzise, pointierte Berichte sowie Tabellen etc. üblich. Hauptsächlich in der Produktion dieser Textsorten konnten Schwierigkeiten festgestellt werden. (Efing/Häußler 2011) Bereits zuvor hatte Efing (2010) eine ganz ähnliche Fragestellung in einem großen deutschen Industriebetrieb mit Auszubildenden zum Industriemechaniker, Mechatroniker, Elektroniker für Geräte und Systeme sowie zum Technischen Zeichner untersucht. Es konnte gezeigt werden, dass die kommunikativen Anforderungen in allen vier gewerblich-technischen Ausbildungsberufen in etwa gleich sind. Auszubildende rezitieren Texte häufiger, als sie diese produzieren. Bei den zu produzierenden Texten überwiegen standardisierte Darstellungsformen. Insgesamt fällt auch in dieser Studie ein Abschied vom klassischen, herkömmlichen Textbegriff auf. Vertextung und Kohäsionsmittel sind keine typischen Merkmale betrieblicher Textsorten. Zudem wird Sprache im Rahmen der Ausbildung zunehmend als Reflexionsinstrument eingesetzt.
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Beide Studien zusammengenommen empfiehlt Efing für einen ausbildungsvorbereitenden Deutschunterricht an Haupt- und Realschulen, 1. das Vermitteln einer muttersprachlichen Mehrsprachigkeit im Sinne eines breiten sprachlich-kommunikativen Repertoires, das flexibel ziel- und situationsangemessen sowie adressatengerecht eingesetzt werden kann, 2. das Vermitteln von alltäglich wie beruflich relevanten kommunikativen Fähigkeiten wie Präsentieren, Beschreiben, Erklären, Dokumentieren, (Nach-)Fragen, 3. das Vermitteln des rezeptiven wie produktiven Umgangs mit kondensierten, diskontinuierlichen Textformen (Tabelle, Formular etc.), insbesondere der Produktion pointierter, prägnanter, kurzer Texte, 4. das verstärkte Arbeiten in Kleingruppen, um die kommunikativen Fähigkeiten, die Projekt- und Teamarbeit sowie die Teamkoordination verlangen, anzubahnen, 5. die verstärkte Kooperation mit anderen Sachfächern, in denen explizit Kommunikation zum Gegenstand gemacht werden muss. In diesen Fächern kann Kommunikation an echten, relevanten Sachverhalten und Ergebnissen, mit denen weitergearbeitet wird, thematisiert werden. (Efing 2010; 2011). Auch Kimmelmann und Berg (2013) untersucht die kommunikativen Anforderungen an Arbeitsplätzen. Sie grenzt Arbeitsplätze auf solche ein, die von niedrigqualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besetzt werden und bei denen zudem ein hoher Anteil an Beschäftigten mit einer anderen Erstsprache als Deutsch anzutreffen ist. Ihre Fragestellung lautet, welche sprachlich-kommunikativen Anforderungen an diesen Arbeitsplätzen gestellt werden. Untersucht wurde an 15 Unternehmen aus den Branchen Altenpflege/Pflege psychisch Kranker (2), Elektro- und Metallbranche (4), Gastronomie (2), Konsumgüterindustrie (1), Kunststoffbranche (3), Logistik (1), Möbelfertigung (1), Gebäudereinigung (1). Befragt wurden in den jeweiligen Betrieben jeweils mehrere Personen unterschiedlicher Funktionen wie Geschäftsführer, Werkstattleiter, Fachkräfte oder Beschäftigte in Helfertätigkeiten. Es wurde die Methode der ethnographischen Interviews eingesetzt, die Aspekte zur Betriebsorganisation, zu Arbeitsabläufen und Arbeitsplätzen, zur Mitarbeiterstruktur, zur Einarbeitung und besonders zu den kommunikativen Anforderungen im Gesamtbetrieb oder an speziellen Arbeitsplätzen zum Thema hatten. Dabei wurden sowohl die objektiven kommunikativen Bedarfe als auch Haltungen, Erwartungen und subjektive Bedürfnisse auf Seiten der Führungskräfte und der Mitarbeitenden untersucht. Die Ergebnisse wurden qualitativ ausgewertet und anschließend in ethnographischen Firmenportraits dokumentiert. Darüber hinaus wurde in diesen sowie weiteren ähnlichen Unternehmen authentische mündliche und schriftliche Kommunikation unter Berücksichtigung betrieblicher Organisationsstrukturen und Arbeitsinhalten aufgezeichnet und dokumentiert. Insgesamt 56 Gespräche und 100 Dokumente wie E-Mails, Aushänge, Dokumentationen aus den Bereichen Küche, Lager, Kunststoffproduktion, Altenpflege und Büro
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wurden transkribiert und hinsichtlich der grammatischen Strukturen, des Wortschatzes und der Sprachhandlungen sprachwissenschaftlich analysiert. Anhand der Daten wird deutlich, dass in der heutigen Arbeitswelt sprachlichkommunikative Kompetenzen konstitutiver Bestandteil beruflicher Handlungskompetenz für alle Mitarbeitende, also auch auf den unteren hierarchischen Ebenen, sind. Umstrukturierungen in der Arbeits- und Betriebsorganisation, die in den letzten Jahren stattgefunden haben, haben ferner dazu geführt, dass von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch in Beschäftigungsverhältnissen im Helferbereich deutlich höhere kommunikative Kompetenzen zur Bewältigung der Arbeitsaufgaben und Abläufe gefordert werden. Ein zentraler Faktor ist die Flexibilisierung der Arbeitsplätze, die dazu führt, dass viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an unterschiedlichen Arbeitsplätzen eingesetzt werden und damit auch immer wieder mit neuen sprachlichen Anforderungen konfrontiert sind. Insbesondere im Segment niedrig qualifizierter Arbeit zeigt sich zugleich eine Diskrepanz zwischen den niedrigen, für die unmittelbare Durchführung der eigentlichen Tätigkeit notwendigen kommunikativen Kompetenzen und den wesentlich höheren Anforderungen, die mit der flexiblen Arbeitsorganisation zusammenhängen. In der Summe verringern sich damit die Chancen von Arbeitnehmern mit einer anderen Erstsprache als Deutsch auf Beschäftigungsverhältnisse, die sie früher problemlos ausfüllen konnten. Dabei zeigen die Interviews zugleich, dass zunehmend auch Mitarbeiter mit Deutsch als Erstsprache Schwierigkeiten haben, den neuen sprachlich-kommunikativen Praktiken und Anforderungen gerecht zu werden (Kimmelmann/Berg 2013).
4 Sprachkompetenz von Jugendlichen Wyss (1995) versucht in einer Studie zum Sprachstand Jugendlicher herauszufinden, ob sich dieser tatsächlich, wie vielfach behauptet, im Vergleich zu früheren Generationen verschlechtert hat. Dazu wurden 30 Aufsätze deutsch-schweizerischer Lehrlinge im Alter zwischen 18 und 21 Jahren der Ausbildungsberufe Apothekenhelfer, Audio-Videoelektroniker, Augenoptiker, Damenschneider, Elektromonteur, Elektroniker, Fotolithograf, Hochbauzeichner, Maler, Maschinenzeichner und medizinischer Laborant untersucht. Ergänzend wurden Deutschlehrkräfte schriftlich zu den sprachlichen Fähigkeiten ihrer Schülerschaft und zum Aufsatzunterricht so wie die Lehrlinge zu ihren Schreibgewohnheiten und zu ihrem Deutschunterricht befragt. Die sprachlichen Qualitäten der Texte wurden durch eine qualitative Fehleranalyse ermittelt. Als Analysemethode wurde das Zürcher Textanalyseraster (Nussbaumer/Sieber 1994) verwendet. Die Ergebnisse wurden mit den Daten aus drei anderen schweizerischen Untersuchungen verglichen.
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Das Korpus der Aufsätze zeichnet sich durch eine große Heterogenität hinsichtlich der Textlängen, der durchschnittlichen individuellen Satz- und Wortlängen, der syntaktischen Komplexität sowie der Anzahl und Art der sprachlichen Irrtümer und der Auffälligkeiten im Bereich der Angemessenheit aus. Im Vergleich mit ähnlichen Texten von Maturandinnen und Maturanden erwiesen sich die Aufsätze der Berufsmittelschülerschaft als signifikant kürzer. Die durchschnittliche Wortlänge von 5,37 Buchstaben in den Texten der Lehrlinge ist um ein halbes Wort kürzer als jene der gymnasialen Vergleichstexte. In 30 Aufsätzen sind insgesamt 515 sprachliche Irrtümer und 175 Fälle von unangemessener Verwendung eines Sprachmittels aufgefallen. Die charakteristischen Fehler treten in einem häufigen sprachlichen Phänomen auf und beeinträchtigen die Rezeption nur unwesentlich. Über alle Fehlerkategorien hinweg findet sich in den Texten der Lehrlinge eine deutlich höhere Fehlerdichte als in gymnasialen Vergleichstexten. Im Bereich der Schreibung beträgt sie das Dreifache, im Bereich der Grammatik ist sie doppelt so hoch. Knapp 75 Prozent der Fehler betreffen das Gebiet der Schreibung, d. h. Orthographie und Interpunktion. Die häufigsten Normverstöße betreffen fehlende Kommata im zusammengesetzten Satz und die Groß- und Kleinschreibung sowie die Getrennt- und Zusammenschreibung, ferner die Textverknüpfung und die Selektion. Dem Bereich der Sprachrichtigkeit kommt in den Texten der Lehrlinge eine signifikant höhere Bedeutung zu als jenem der Angemessenheit sprachlicher Mittel. Während in den Gymnasialaufsätzen der Zürcher Studie auf jeden Fehler eine sprachliche Unangemessenheit zu finden ist, sind es in den Texten der Lehrlinge drei Fehler auf eine Unangemessenheit. Die orthographische Fehlerdichte eines Lehrlingstextes ist kein zuverlässiger Indikator für die Häufigkeit der übrigen Fehler. Im Bereich der Angemessenheit sprachlicher Mittel betreffen knapp 60 Prozent der Auffälligkeiten die beiden Rubriken Semantik komplexer Ausdrücke und Wortformen-, Phrasen- und Satzbau. Die Ergebnisse bestätigten weitgehend die von den Lehrkräften in der Umfrage erwähnten sprachlichen Stärken und Schwächen. Sie widerlegten aber die der jungen Generation gegenüber oft angeführte pauschale Klage vom Sprachverfall. Der Grund für beobachtbare Differenzen ist vielmehr im vergleichsweise seltenen Umgang mit Standardsprache im Betrieb, in der zum Teil ungenügenden Schreibpraxis, primär aber in der geringen Schreibmotivation im Allgemeinen sowie in der Abneigung gegen das Aufsatzschreiben im Besonderen zu suchen. Da Maturandinnen und Maturanden häufiger die Schriftsprache benutzen, haben sie einen Vorsprung, der für einen nicht unwesentlichen Teil der Leistungsunterschiede verantwortlich sein dürfte. Um die gravierendsten sprachlichen Problemtypen im Bereich Lese- und Schreibkompetenz zu identifizieren und darauf aufbauend Förderkonzepte zu entwickeln, diagnostizierte das Team um Efing (2008) 415 Berufsschülerinnen und Berufsschüler in 32 Klassen an elf Schulen aus den Bereichen Verkäufer/Einzelhandel, Ernährung/ Hauswirtschaft, Konditor/Bäcker, Fleischer, Maurer/Beton- und Tiefbauer, Metallbauer, Friseur, Gastgewerbe, Karosserieinstandhaltungsmechaniker, Maler/Lackierer und Industriemechaniker. Eingesetzt wurden eine Abfrage der Einschätzungen der
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Lehrerinnen und Lehrer, ein etwa 90-minütiger Problemtypentest zum Erkennen der schwerwiegendsten sprachlichen Problemlagen der Berufsschülerinnen und Berufsschüler sowie qualitative Interviews mit Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern. Bezüglich der Textproduktion ist zu erkennen, dass mit viel Rekonstruktionsarbeit zu den Gedankengängen der Schülerinnen und Schüler sowie mit guter Kenntnis des Themas und des zu bearbeitenden Textes die Schülertexte verstanden werden können. Kennt ein Leser die Textvorlage nicht, sind die Schülertexte meist zu implizit, vage und inkohärent. Den Schülerinnen und Schülern ist diese Implizitheit ihres Schreibstils nicht bewusst. Das Problem scheint in der Verbalisierung der Gedanken sowie in der Formulierung und Strukturierung zu liegen, also in der medialen und konzeptionellen Umsetzung dessen, was die Schülerin oder der Schüler kognitiv repräsentiert hat und ausdrücken möchte. Die konzeptionell mündliche Struktur wird verschriftlicht und erscheint in diesem Medium als unangemessen und defizitär. Um die Sprachkompetenz von Schülerinnen und Schülern geht es auch in der Untersuchung von Nickolaus (2000). Die Kompetenz wurde allerdings nicht direkt getestet. Vielmehr wurden 29 Lehrerinnen und Lehrer an Haupt- und Realschulen zu den zurückgehenden Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler bezogen auf Deutsch und Mathematik befragt, um eventuelle Ursachen zu erkennen und praktikable Handlungsmöglichkeiten zu ergründen. Überwiegend wird zumindest die Tendenz abfallender Leistungen bestätigt. Zum großen Teil werden Differenzierungen vorgenommen, sei es, dass die Gültigkeit der Aussage, die Leistungen in Deutsch und Mathematik seien im Verlauf der vergangenen Jahre abgesunken auf einen Teil der Klasse eingeschränkt wird, sei es, dass bezogen auf das Fach Deutsch Leistungsabfälle in Rechtschreibung bestätigt, im mündlichen Ausdruck aber in Zweifel gezogen werden. Es wird auf erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Klassen verwiesen. Einige Befragte verbinden die Aussagen zur Leistungsabsenkung in bestimmten Bereichen mit der Verschiebung der Leistungsanforderungen. Typisch war bei den Interviewverläufen, dass auf die Frage nach den Ursachen zunächst außerschulische Ursachen und die Übergangsproblematik angeführt und innerschulische Ursachen erst nach ergänzenden Nachfragen genannt wurden. Als außerschulische Ursachen für einen Leistungsabfall wurden insbesondere die Veränderungen der Schülerpopulation genannt. Auch die kognitiven Voraussetzungen, insbesondere in städtischen Schulen, sind ein möglicher Grund. Innerschulische Ursachenzuschreibungen im Fach Deutsch sind methodische und mediale Aspekte wie eine Abnahme der Zeitkontingente und hieraus resultierende Änderung methodischen Vorgehens wie z. B. dem Üben der Rechtschreibung sowie der Einsatz von Lehrmitteln und Methoden, die die Schülerinnen und Schüler vom Schreiben entlasten. Zudem lassen aber auch neue Fächer z. B. als Reaktion auf veränderte Anforderungen im beruflichen Feld die Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler und die Ansprüche an die Schule anwachsen. In der Wahrnehmung der befragten
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Lehrerinnen und Lehrer geht die verstärkte Förderung kommunikativer Kompetenz zu Lasten von Fachwissen wie z. B. der Rechtschreibung. Aber auch Defizite, die auf den Besuch vorangehender Schulen bis hin zur Grundschule zurückzuführen sind, werden von den befragten Lehrerinnen und Lehrern als Begründung für schwächer werdende kommunikative Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler gesehen (Nickolaus 2000).
5 Untersuchungen zur Sprachförderung an Berufsschulen Ausgehend von Untersuchungen zu den beruflichen Leseanforderungen entwickelten Keimes u. a. (2011) in einer Interventionsstudie ein Treatment, mit dem erprobt wurde, ob sich die subjektive Bedeutsamkeit von Lerninhalten steigern lässt. Ausgangspunkt war die Annahme, dass eine problematische motivationale Einstellung von Schülerinnen und Schülern zum Lesen der Wirksamkeit von Fördermaßnahmen entgegensteht. Erhoben wurden in einer Pre- und Post-Testung das Leseverständnis, das Lesestrategiewissen sowie die Fähigkeiten des Zusammenfassens und des Fragenstellens. Zusätzlich wurden im Eingangstest die Lesegeschwindigkeit und die kognitiven Grundfähigkeiten der Schülerinnen und Schüler erfasst. Zum Abschluss des Lesestrategietrainings wurden mit den Schülerinnen und Schülern der Interventionsklasse ergänzende leitfadengestützte Interviews mit Fragen zu ausbildungsrelevanten Text sorten, konkreten Leseanlässen im Ausbildungskontext und der persönlichen Einstellung zum Lesen durchgeführt. Die Experimentalgruppe für ein Lesestrategietraining bestand aus Auszubildenden zum Mechaniker für Land- und Baumaschinentechnik (N = 28), als Kontrollgruppe wurde eine Klasse mit Auszubildenden zum Tischler (N = 27) herangezogen. Im Eingangstest unterschieden sich Experimental- und Kontrollklasse kaum. Im Abschlusstest blieben die Testwerte der Experimentalklasse eher konstant, wogegen ein deutlicher Abfall der Kontrollklasse bei allen Testwerten beobachtet werden konnte, der auf mangelnde Testmotivation zurückzuführen war. Wenngleich auf globaler Ebene kaum Verbesserungen der Lesekompetenz zu verzeichnen sind, deuteten die Ergebnisse zur Lesestrategie an, dass leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler hier profitiert haben. Zu den ausbildungsrelevanten Textarten gehörten für die befragten Auszubildenden an erster Stelle das Werkstatthandbuch, daneben Fachzeitschriften, Tabellen, Betriebsanleitungen und Diagramme. Als konkrete Lesesituationen innerhalb der beruflichen Ausbildung wurden dem gegenüber am häufigsten der Berufsschulunterricht und die Prüfungsvorbereitungen genannt. Entsprechend schätzten die Schülerinnen und Schüler die Bedeutung von Lesekompetenz für ihren Ausbildungsberuf
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als gering ein. Lesen hat in der betrieblichen Ausbildungspraxis eine eher untergeordnete Bedeutung und wird nur selten gefördert. Vielmehr werden Auszubildende angehalten, bei Verständnisfragen den Gesellinnen und Gesellen bzw. Meisterinnen und Meister zu konsultieren, statt sich Informationen eigenständig durch Lesen anzueignen (Keimes u. a. 2011).
6 Zusammenhang zwischen beruflichen Anforderungen und kommunikativen Kompetenzen von Berufsschülerinnen und Berufsschülern Eine etwas andere Perspektive auf die Bedeutung von Sprache in der beruflichen Bildung führt Baumann (2014) durch ihre Dissertation in die Diskussion ein. Sie stimmt grundsätzlich den zuvor genannten Positionen zur Ausbildungsreife zu, nach denen es eine Grundmenge von Fähigkeiten gibt, die zu Beginn einer Berufsausbildung bei einem Individuum bereits vorhanden sein müssen. Baumann stellt dann allerdings die Frage, ob alle Anforderungen, die derzeit diskutiert werden und zum Beispiel im Kriterienkatalog für die Ausbildungsreife der Bundesagentur für Arbeit niedergeschrieben sind, tatsächlich dazugehören. Eine zu weitreichende Definition der Mindestanforderung könnte gerade für die Jugendlichen, die es ohnehin am schwersten haben einen Ausbildungsplatz zu finden, eine nicht erforderliche und schwer überwindbare Barriere darstellen. Nach der Annahme von Baumann ist es eventuell gar nicht erforderlich, alle im Kriterienkatalog für Ausbildungsreife oder in vergleichbaren Dokumenten definierte Kriterien zu erfüllen, um eine Ausbildung erfolgreich anzutreten, diese zu durchlaufen, erfolgreich abzuschließen und letztlich sogar eine Anstellung im ersten Arbeitsmarkt zu erlangen. Wenn sich Jugendliche identifizieren lassen, die nachweislich über bestimmte Fähigkeiten, die den Mindestanforderungen für die Aufnahme eines Ausbildungsplatzes zugerechnet werden, nicht verfügen und die trotzdem einen Ausbildungsplatz gefunden haben, die Ausbildung erfolgreich absolvieren, erfolgreich abschließen und im Anschluss sogar im erlernten Beruf eine Anstellung finden, muss das Kriterium fehlerbehaftet sein. Gegebenenfalls sollte dann insgesamt über die Verwendung derartiger Kriterien grundsätzlicher nachgedacht werden bzw. zunächst empirisch nachgewiesen werden, dass es sich bei einem solchen Kriterium tatsächlich um eine Mindestanforderung handelt. Eine solche empirische Überprüfung ist bisher leider nicht vorgenommen worden. Durch die Arbeit von Baumann werden lediglich schriftsprachliche Fähigkeiten von Jugendlichen untersucht. Begründen lässt sich die Auswahl dadurch, dass alle Jugendlichen allgemeinbildenden Unterricht zu schriftsprachlichen Fähigkeiten erhalten haben. Die Fähigkeiten müssen also grundsätzlich vorhanden sein und lassen sich daher gut prüfen. Zudem wird insbesondere die Rechtschreibfähigkeit von
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Jugendlichen von Seiten der Wirtschaft bemängelt (vgl. auch weiter oben in diesem Text) und auch die aktuellen Bildungsvergleichsstudien weisen auf zum Teil sehr schwache Leistungen in Teilen der untersuchten Kohorte hin. Wie bei allen Mindestanforderungen für die Aufnahme eines Ausbildungsplatzes stellt sich auch bei den schriftsprachlichen Fähigkeiten die Frage, ob diese dann in einem definierten Umfang vorhanden sein müssen, um eine Ausbildung antreten zu können. Dafür spricht sicherlich, dass Sprache in unserer Gesellschaft immer noch das dominierende Zugangsmedium zu Wissen ist und ohne die Aufnahme und Verarbeitung von Wissen eine Ausbildung nicht gelingen kann. Gegen eine solche Mindestanforderung spricht, dass sich sprachliche Fähigkeiten durchaus auch noch im Jugendalter und auch im Erwachsenenalter entwickeln können. Dies betrifft insbesondere solche Fähigkeiten, die für die Berufsausübung von hoher Relevanz sind, also zum Beispiel Fachvokabular und bestimmte grammatikalische Konstrukte, die im Berufsalltag häufig vorkommen. Demgegenüber sind das inhaltliche Erfassen längerer zusammenhängender Texte sowie eine kritische und reflektierende gedankliche Auseinandersetzung mit diesen in vielen Ausbildungsberufen eher selten anzutreffen (vgl. ebenfalls oben). Aus den vorangegangenen Überlegungen ergeben sich für die hier zu beschreibende Studie von Baumann (2014) folgende Fragestellungen: – Lassen sich Jugendliche identifizieren, die trotz des Fehlens einer angenommenen Mindestmenge an schriftsprachlichen Fähigkeiten einen Ausbildungsplatz erlangt haben, ihre Ausbildung erfolgreich beenden oder gar eine auf Dauer angelegte Anstellung nach Abschluss ihrer Ausbildung erreichen? – Welche Bedeutung hat das Fehlen solcher Mindeststandards für die Ausbildungsbetriebe und wie gehen sie im konkreten Fall damit um? Um Jugendliche zu identifizieren, die die angenommenen schriftsprachlichen Mindestanforderungen für die Aufnahme einer Berufsausbildung möglicherweise nicht erfüllen, mussten zunächst Ausbildungsberufe ausgewählt werden, in denen diese Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit anzutreffen sind. Nach der Einteilung von Ausbildungsberufen im Bildungsbericht (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008) sind diese am ehesten im so genannten unteren Segment zu finden, das dadurch gekennzeichnet ist, dass die diesem Segment zugeordneten Ausbildungsberufe vorrangig von Jugendlichen angetreten werden, die über einen Hauptschulabschluss verfügen. Zudem sollte es sich um solche Berufe handeln, die typisch für eine Gruppe beruflicher Fachrichtungen sind und es sollten solche Ausbildungsberufe sein, die vorrangig von männlichen Jugendlichen, vorrangig von weiblichen Jugendlichen oder auch etwa zu gleichen Teilen von männlichen und weiblichen Jugendlichen angetreten werden. In der Gruppe der Ausbildungsberufe, die den personenbezogenen Dienstleistungen zugerechnet werden können, fiel die Wahl auf den Ausbildungsberuf der Friseurin bzw. des Friseurs. Dieser hat einen Anteil an weiblichen Auszubildenden von etwa 88 Prozent. Die Quote der Auszubildenden mit Hauptschulabschluss liegt bei etwa 68 Prozent. Aus der Gruppe der Ausbildungs-
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berufe des gewerblich-technischen Bereichs fiel die Wahl auf die Anlagenmechanikerin bzw. den Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizung-und Klimatechnik. In diesem Ausbildungsberuf gibt es ein Prozent weibliche Auszubildende. Die Quote der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss liegt bei etwa 58 Prozent. Der Ausbildungsberuf Verkäuferin bzw. Verkäufer repräsentiert das untere Segment der kaufmännischen Ausbildungsberufe. Der Anteil der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss liegt bei 59 Prozent, der Anteil der weiblichen Auszubildenden bei 60 Prozent. Nach der Auswahl der Ausbildungsberufe wurden Schulen in Hamburg identifiziert, an denen die Auszubildenden den schulischen Teil ihrer dualen Berufsausbildung absolvieren. Durch den Zugang über die Schule ließ sich eine Stichprobe von insgesamt 164 Auszubildenden zusammenstellen, wobei die Geschlechterverteilung innerhalb der Ausbildungsberufe in etwa dem zuvor genannten Bundesdurchschnitt entspricht. Um sowohl die erste Frage nach der Aufnahme der Ausbildung als auch die zweite Frage nach dem erfolgreichen Abschluss innerhalb einer gegebenen Zeit beantworten zu können, wurden 88 Auszubildende im ersten Ausbildungsjahr und 76 Auszubildende im letzten Ausbildungsjahr des jeweiligen Ausbildungsberufs ausgewählt. Die deutsche Staatsangehörigkeit hatten insgesamt 85 Prozent der Auszubildenden, 86,6 Prozent sind in Deutschland geboren. Deutsch als Erstsprache gaben 72,4 Prozent der Auszubildenden an. Baumann prüfte zunächst ein ungewöhnlich breites Spektrum schriftsprachlicher Fähigkeiten ihrer Stichprobe. Sie setzte einen Rechtschreibtest mit geschlossenem Antwortformat (Lehmann u. a. 2005), einen Test zur Textproduktion (Dürscheid u. a. 2010) und einen Test zur Leserlichkeit der Handschrift (Mahrhofer 2004) ein. Orthografie und Interpunktion überprüfte sie anhand des Vorgehens von Dürscheid u. a. (2010) und quantifizierte diese Ergebnisse mithilfe des Oldenburger Fehleranalysewerkzeuges (Thomé/Thomé 2010). Zusätzlich wurden unter Rückgriff auf verschiedene Ansätze auch Verständlichkeit und Kohärenz beurteilt. Neben den Tests wurden Selbst- und Fremdeinschätzungen zu den schriftsprachlichen Fähigkeiten der Auszubildenden erhoben (Baumann 2014). Baumann kommt bzgl. der schriftsprachlichen Fähigkeiten ihrer Stichprobe zu einem Ergebnis, das aufgrund der vielfältigen eingesetzten Instrumente ausdifferenzierter ist, in der Grundrichtung aber den weiter oben berichteten Ergebnissen der Sprachstandserhebungen bei Auszubildenden entspricht. Insgesamt erreichen lediglich 8,3 Prozent der Probanden ein schriftsprachliches Niveau, das als normnah bezeichnet werden kann. Auch alle weiteren Kennzahlen zeigen ein ernüchterndes Bild bzgl. der schriftsprachlichen Fähigkeiten der Probanden. In den Kontext der Fragestellung ergibt sich für Baumann dann allerdings ein anderes Bild. Den Auszubildenden ist es offenbar trotz mangelnder schriftsprachlicher Ausbildungsreife gelungen, einen Ausbildungsplatz zu finden. Es gibt zudem Auszubildende, die ihre Ausbildung trotz immer noch mangelhafter schriftsprachlicher Fähigkeiten erfolgreich abschließen und letztlich finden diese auch eine unbefristete sozialversicherungspflichtige Anstellung in ihrem erlernten Beruf. Mangelnde
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schriftsprachliche Fähigkeiten hindern also nicht daran, einen Ausbildungsberuf zu erlernen und auch nicht, diesen Beruf im Anschluss auszuüben. Zur Ergründung der Ursache für die Diskrepanz zwischen den immer wieder geäußerten Anforderungen (vgl. oben) und der aufgedeckten Realität kann auf die Interviews mit 49 Ausbildungsverantwortlichen der Ausbildungsbetriebe ihrer Stichprobe mit zurückgegriffen werden. Auch die Interviewpartner bewerteten zunächst die schriftsprachlichen Fähigkeiten ihrer Auszubildenden als wichtig oder sehr wichtig. Sie testen diese allerdings im Auswahlprozess für neue Auszubildende nur selten. Konfrontiert mit den gemessenen Leistungen der Stichprobe verändern sich die Positionen der Ausbildungsverantwortlichen grundlegend. Letztlich sind es nicht die schriftsprachlichen Fähigkeiten, die zu einer insgesamt positiven Bewertung ihrer Auszubildenden führen. Dazu tragen doch eher andere Merkmale der Auszubildenden bei. Es scheint sogar, dass diese anderen Merkmale mangelnde schriftsprachliche Fähigkeiten kompensieren können. Zusammengenommen lässt sich aus der Untersuchung von Baumann schließen, dass, obwohl schriftsprachliche Fähigkeiten gemeinhin als Minimalvoraussetzung im Sinne einer Ausbildungsreife gesehen werden, sie doch eben keine Aussagekraft im Sinne eines Prädiktors über einen erfolgreichen Abschluss einer Ausbildung haben. Vielmehr werden sie wahrscheinlich aus einem gesellschaftlichen Konsens heraus und mangels alternativer Ideen und Ansätze als derart bedeutsam angesehen. Konfrontiert mit empirischen Daten bricht diese Auffassung schnell in sich zusammen. Baumann bestreitet keineswegs die Wichtigkeit schriftsprachlicher Fähigkeiten für alle Bereiche des individuellen und gesellschaftlichen Lebens. Aus diesen aber eine conditio sine qua non für die Aufnahme einer Berufsausbildung oder gar für die Teilhabe am Arbeitsleben zu machen, scheint vor dem Hintergrund der vorliegenden Daten ein Fehler zu sein (Baumann 2014).
7 Fazit Auch wenn für die berufliche Bildung die großen Bildungsvergleichsstudien weitgehend fehlen, gibt es doch aufschlussreiche Forschungsarbeiten, die einen insgesamt brauchbaren, aber noch lückenhaften Eindruck vermitteln. Offensichtlich ist, dass die Auffassung der ‚Expertinnen und Experten‘ zu den sprachlichen Mindestanforderungen zur Aufnahme einer Berufsausbildung sich nicht mit den sprachlichen Anforderungen decken, die aus empirischen Beobachtungen, Analysen und Befragungen zu betrieblichen Anforderungssituationen entstanden sind. In den Bereichen der beruflichen Bildung, die zumeist von Jugendlichen ohne oder mit einem Hauptschulabschluss gewählt werden, lässt das Niveau an kommunikativen Fähigkeiten viele Wünsche offen. Designstudien, die darauf abzielen, diese Fähigkeiten zu fördern, sind erst in den Anfängen und zeigen teilweise ernüchternde
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Ergebnisse. Hier ist noch viel Arbeit erforderlich, um adäquate Maßnahmen für die heterogenen Zweige der beruflichen Bildung zu entwickeln. Es steht außer Frage, dass ein möglichst hohes Niveau an kommunikativer Kompetenz für alle Jugendlichen überaus wünschenswert ist. Allerdings sollte man Jugendlichen ohne ein solches Niveau nicht den Zugang zu einer Berufsausbildung erschweren. Es konnte gezeigt werden, dass auch Jugendlichen mit kommunikativen Kompetenzen deutlich unter den Anforderungen der Ausbildungsreife dazu in der Lage sind, eine Berufsausbildung zu absolvieren und den erlernten Beruf nach der Ausbildung auch ausüben. Das Berufsbildungssystem scheint in diesem Sinne adaptiv zu sein und ggf. auch andere kommunikative Anforderungen zu stellen, als sie in der allgemeinbildenden Schule vermittelt und anschließend bewertet werden.
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21. Sprachliche Konstruktion gesellschaftlich relevanten Wissens für die Bildung in der Schule am Beispiel des Immersionsunterrichts Abstract: Mehrsprachigkeit wird sowohl als förderlicher Faktor für Bildungserfolg als auch als notwendige Voraussetzung für die berufliche Zukunft gesehen. Immersionsunterricht, bei dem die Schülerinnen und Schüler (fast) ausschließlich in einer Zweitsprache unterrichtet werden, stellt eine zunehmend beliebte Alternative zu dem teilweise stark kritisierten schulischen Zweitspracherwerb in Deutschland dar. Im folgenden Beitrag sollen die Charakteristika und internationalen Befunde zu den Effekten von Immersionsunterricht vorgestellt werden, bevor basierend auf einer Längsschnittstudie zu englischem Immersionsunterricht in Deutschland die Übertragbarkeit der internationalen Befunde geprüft wird. Dabei werden auch erste Einblicke in zugrunde liegende Prozesse gegeben, die diese Effekte vermitteln. Abschließend erfolgt ein Ausblick auf eine weitere Längsschnittstudie zur dualen Immersion in Deutschland, die zukünftig auch Erkenntnisse über die Gelingensbedingungen von kompetenter Mehrsprachigkeit und schulischem Erfolg für Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Sprache liefern soll.
1 Einleitung 2 Immersion als Variante des Zweitspracherwerbs 3 Entstehung und Charakteristika des Immersionsunterrichts 4 Effekte des Immersionsunterrichts 5 Diskussion 6 Ausblick 7 Literatur
1 Einleitung In vielen gesellschaftlichen und beruflichen Bereichen ist nicht nur die Fähigkeit zur Verständigung in der Erstsprache (L1) eine zentrale Anforderung, sondern es werden auch vertiefte Kenntnisse in (mindestens) einer Zweitsprache (L2), insbesondere in Englisch, als erforderlich erachtet (Europarat 2001; Köller/Trautwein 2004). Diese Anforderungen sind u. a. in der 3-Sprachenformel des Europarats formuliert, wonach jedes Kind am Ende der Pflichtschulzeit zusätzlich zu seiner Erstsprache L1 in zwei weiteren Sprachen zur alltäglichen Kommunikation befähigt sein sollte (Europarat
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2001). Daneben ist jedoch auch indirekter Einfluss von Mehrsprachigkeit auf kognitive Fähigkeiten und auf insbesondere (bildungs-)sprachliche Kompetenzen von Bedeutung. Wie Gogolin und Duarte (Art. 23 in diesem Band) genauer darstellen, wird Mehrsprachigkeit auch aufgrund der Förderung metalinguistischer Kompetenzen als gute Voraussetzung für die Aneignung von Bildungssprache und somit ebenfalls für den Bildungserfolg im Allgemeinen betrachtet. Unterschieden werden muss bei entsprechenden Überlegungen insbesondere zwischen Kindern der Majoritätssprache, die eine zumeist elitäre Zweitsprache (L2) erlernen (z. B. deutschsprachige Kinder mit Englischkenntnissen), und Kindern einer Minoritätssprache, die die Majoritätssprache des Landes als L2 erlernen (z. B. türkischsprachige Kinder, die Deutsch erlernen). In den folgenden Kapiteln wird es primär um Kinder der Majoritätssprache gehen. Betrachtet man die L2-Kenntnisse von deutschen Schülerinnen und Schülern, so zeigen sich deutliche Defizite am Ende der schulischen Ausbildung (Klieme 2008; Köller u. a. 2004). Diese finden sich vor allem im nicht-gymnasialen Bereich, während in der Oberstufe des Gymnasiums manche Schülerinnen und Schüler bei der Lösung von Aufgaben zur Erfassung der Bildungsstandards in der ersten Fremdsprache Englisch (s. Rupp/Vock/Harsch/Köller 2008) sowohl im Lese- als auch im Hörverstehen Werte erreichen, die die Aufnahme eines Studiums an deutschen und US-amerikanischen Universitäten erlauben (Leucht u. a. 2010; Leucht u. a. 2014). Die teilweise unzureichenden L2-Kenntnisse werfen die Frage auf, ob konventioneller Fremdsprachenunterricht in Deutschland den Anforderungen der schulischen Leistungsstandards (Kultusministerkonferenz [KMK] 2004; 2005) gerecht wird. Gleichzeitig ist unter diesen Bedingungen auch fraglich, ob auf diesem Niveau der Mehrsprachigkeit ein positiver Effekt auf Bildungssprache und Bildungserfolg überhaupt möglich ist. Immersionsunterricht in der Grundschule stellt eine alternative Form des schulischen L2-Erwerbs dar, die das Erreichen eines höheren L2-Kompetenzniveaus ohne Einbußen in der L1 verspricht (Dörnyei 2009). Für den L2-Erwerb wird in Immersionsprogrammen auf dem Prinzip des natürlichen Sprachenlernens (Krashen 1982) basierend eine L2 zusätzlich oder anstelle der L1 als Unterrichtssprache verwendet, während das reguläre Curriculum beibehalten wird (Genesee 2005). Angesichts des reduzierten schulischen L1-Inputs durch die L2-Instruktion stellt die erfolgreiche Entwicklung erstsprachlicher Fertigkeiten im Immersionsunterricht eine wichtige Zielsetzung dar, deren Erreichung gewährleistet sein muss (vgl. Genesee 2005). Zahlreiche internationale Studien sprechen für den Erfolg immersiven Unterrichts (für eine Übersicht Genesee/Jared 2008; Knell u. a. 2007): Es zeigen sich Vorteile im L2-Erwerb bei vergleichbaren und langfristig sogar besseren erstsprachlichen Leistungen (z. B. Cheng u. a. 2010). Für Deutschland liegen bisher nur vereinzelte Untersuchungen vor, die aber ebenfalls einen günstigen Effekt der Immersion auf den Erwerb von L2-Kenntnissen ohne Nachteile bei erstsprachlichen Leistungen belegen (Zaunbauer/Möller 2006; 2007; 2010). Die Ursachen für die genannten Befunde, insbesondere die erstsprachlichen Leistungen betreffend, sind bislang noch nicht geklärt. Die Interdependenzhypo-
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these und die Schwellenhypothese (Cummins 1998) sowie Befunde aus der Bilingualismusforschung z. B. von Bialystok (2011) legen einerseits Transferprozesse und andererseits kognitive Vorteile als Erklärungsansätze für verbesserte L1-Leistungen immersiv unterrichteter Schülerinnen und Schüler nahe. Es ist jedoch unklar, wie sich diese Ansätze, die für bilinguale Schülerinnen und Schüler mit hoher Kompetenz in beiden Sprachen entwickelt wurden, auf immersiv unterrichtete Schülerinnen und Schüler übertragen lassen, die zunächst über eine geringere bilinguale Sprachkompetenz verfügen. Ebenfalls zu klären ist im Rahmen der Untersuchung von Effekten immersiven Unterrichts, ob die Effekte durch die Verwendung der L2 als Instruktionssprache im Unterricht oder durch konfundierende Variablen bewirkt werden. Denn es ist denkbar, dass Selektions- und Kompositionseffekte (z. B. Becker u. a. 2006) auf Seiten der Schülerschaft und institutionale Effekte wie die didaktische Unterrichtsgestaltung oder Lehrereigenschaften wie Enthusiasmus einen Einfluss auf die L1-Leistungsentwicklung haben und die vergleichbaren bis besseren Leistungen bedingen. Vor diesem Hintergrund werden in diesem Beitrag zunächst unterschiedliche Varianten immersiven Unterrichts beschrieben. Anschließend wird auf die Geschichte der Entstehung immersiven Unterrichts eingegangen, und es werden Besonderheiten immersiven Unterrichts dargestellt. Schließlich werden die Befunde unserer eigenen Längsschnittstudie zu den Effekten immersiven Unterrichts an deutschen Grundschulen präsentiert. Im abschließenden Ausblick wird zudem kurz auf eine aktuell laufende Studie eingegangen, die stärker auf minoritätssprachige Kinder, die die Majoritätssprache Deutsch lernen, fokussiert.
2 Immersion als Variante des Zweitspracherwerbs Immersiver Unterricht gilt als geeignetes Mittel, Bilingualismus mit hoher Kompetenz in beiden Sprachen zu erzielen. Nach Johnson und Swain (1997) richten sich Immersionsprogramme an Schülerinnen und Schüler der Majoritätssprache des Landes (z. B. an deutschsprachige Schülerinnen und Schüler in Deutschland). Da die Bezeichnung Immersion nicht einheitlich verwendet wird, wird nachfolgend das Konzept der kanadischen French Immersion nach Johnson und Swain (1997) verschiedenen bilingualen Lernformen im schulischen Kontext gegenübergestellt. Diese Kategorisierung bilingualer Lernformen ist nicht umfassend (für weitere Differenzierungen siehe z. B. Hu 2008), ermöglicht aber eine Eingrenzung der hier im Zentrum stehenden Formen der Immersion. Eine erste Unterteilung der verschiedenen bilingualen Lernformen kann auf der Grundlage des angestrebten sprachlichen Niveaus in der L2 vorgenommen werden (Baker 2011). Entsprechend werden schwache und starke bilinguale Lernformen unterschieden. Darüber hinaus lassen sich die Lernformen in Abhängigkeit davon, welche sprachliche Zielsetzung ihnen zugrunde liegt, in subtraktiven und additiven Bilingualismus (Lambert 1975) unterteilen. Weitere Unterschiede ergeben
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sich vor allem hinsichtlich der Zielpopulation sowie der Gewichtung des L1- und L2-Sprachgebrauchs im Unterricht (für eine Übersicht siehe Tab. 1). Die Unterteilung der verschiedenen bilingualen Lernformen in subtraktiven und additiven Bilingualismus (Lambert 1975) resultiert aus historisch unterschiedlichen Ansätzen und Zielsetzungen des Zweit-/Fremdsprachenlernens. Insbesondere ältere bilinguale Programme zielten auf eine schnelle Assimilierung von Minoritätskindern in eine etablierte Kultur der Majoritätsgesellschaft ab (z. B. lateinamerikanische Schülerinnen und Schüler in den USA, Baker 2011). Diese Lernform, auch Submersion (oder structured immersion) genannt, strebt den Erwerb einer L2 an. Die L1 und kulturelle Eigenheiten der L1 werden zunehmend weniger genutzt, so dass es zu einem (weitgehenden) Verlust der L1 kommt (subtraktiver Bilingualismus). Submersion wird aufgrund dieses L1-Verlusts als eine monolinguale Art von bilingualen Lernformen bezeichnet, die häufig mit Defiziten nicht nur in der L1, sondern auch in der L2 einhergeht. Sie wird daher nicht als Form bilingualen Lernens in der Tabelle 1 aufgeführt. Um L1- und L2-Defizite, wie sie in Submersionsprogrammen auftreten können, zu verhindern, wurden sogenannte transitionale Programme eingeführt. Transitionale Programme sehen vorübergehend Instruktionen sowohl in der L2 als auch in der L1 vor, bis die L2 soweit beherrscht wird, dass die Schülerinnen und Schüler dem Unterricht in der L2 folgen können. Im Unterschied zur Submersion führt dieser Übergang zu besseren Leistungen in der L1, der L2 und in den Naturwissenschaften sowie zu einer positiveren Einstellung zur Schule (Willig 1985). Die Beherrschung der L2 bis zum Ende der Grundschule bleibt jedoch auch in transitionalen Programmen primäres Ziel, so dass auch hier die L1 zumindest teilweise verloren geht (BournotTrites/Tellowitz 2002). Obwohl transitionale Programme bereits zu den sogenannten schwachen bilingualen Lernformen gezählt werden, entspricht ihre Zielsetzung eher einer monolingualen Art der Lernformen. Neben den angesprochenen transitionalen Programmen wird ebenso der konventionelle Fremdsprachenunterricht (z. B. das Fach Englisch in Deutschland) den schwachen bilingualen Lernformen zugeordnet. Auch der herkömmliche Unterricht in der Majoritätssprache bildet für Schülerinnen und Schüler, deren L1 eine andere Sprache als die Majoritätssprache ist (z. B. wegen eines Migrationshintergrunds), eine schwache Form bilingualen Lernens. Auf den sogenannten additiven Bilingualismus zielen Programme ab, die den Erwerb (schrift-)sprachlicher Kompetenzen sowohl in der L1 als auch in der L2 vorsehen. Kulturerhaltender L1-Unterricht (z. B. das Fach Türkisch für Schülerinnen und Schüler mit der L1 Türkisch in Deutschland) hat zwar additiven Bilingualismus als Ziel, gehört aber zu den schwachen bilingualen Lernformen, da nur wenig Zeit für die L1-Unterweisung vorgesehen ist. Zu den starken Formen bilingualen Lernens, die ein hohes Niveau der Sprachbeherrschung (einschließlich schriftsprachlicher Fertigkeiten) in der L1 und der L2 anstreben, gehören der Immersionsunterricht nach kanadischem Vorbild, aber auch die duale Immersion. Auf die kanadische Form der Immersion wird in den folgenden Kapiteln genauer eingegangen. Duale Immersion bedeutet, dass für einen Teil (optimal 50 %) der Schülerinnen und Schüler die Majori-
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tätssprache die L1 darstellt (z. B. Englisch), während für den anderen Teil der Schülerinnen und Schüler eine Minoritätssprache die L1 ist (z. B. Spanisch). Beide Sprachen werden gleichwertig im Unterricht gebraucht und sollen gleichwertig weiterentwickelt werden. Ein wichtiger Aspekt der dualen Immersion ist die Zusammensetzung zweier Gruppen von Erstsprachlern, die ihre L1 fließend beherrschen und mit den Sprechern der anderen Sprache kommunizieren müssen. Eine solche Form dualer Immersion wird beispielsweise an den Staatlichen Europa-Schulen Berlins (s. u.) umgesetzt. Als starke bilinguale Lernform gilt zudem kulturerhaltender bilingualer Unterricht, der sich an eine sprachliche Minderheit, wie z. B. die dänische Minderheit in SchleswigHolstein, wendet und im Unterricht primär die Minoritätssprache, die L1 der Schülerinnen und Schüler (z. B. Dänisch), einsetzt. Gleichzeitig wird jedoch zumeist, wenn auch in geringerem Umfang, die Majoritätssprache der Umgebung (also die L2 der Schülerinnen und Schüler) verwendet, um beide Sprachen ausreichend zu fördern. Längere Aufenthalte in Ländern mit einer anderen Majoritätssprache gelten nicht direkt als schulisches Programm, werden jedoch häufig im Verlauf der schulischen oder universitären Ausbildung (Schüleraustausch, Auslandssemester) zur Förderung der L2-Kenntnisse genutzt. Aufgrund des intensiven L2-Kontakts durch das temporäre Leben in einer L2-sprachigen Gesellschaft und durch den Besuch einer L2-sprachigen Schule oder Universität erreichen solche Schülerinnen und Schüler oder Studierende einen hohen Grad des Bilingualismus (zu L2-Leistungen von Austauschschülern z. B. Köller/Trautwein 2004), so dass auch derartige Auslandsaufenthalte zu den starken bilingualen Lernformen gezählt werden können. Der knappe Überblick verdeutlicht die große Variation in Bezug auf sprachliche Ziele, angesprochene Zielgruppen und damit einhergehende kulturelle Unterschiede, die mit diesen Programmen verbunden sind. Selbst wenn die Programmkonzeption ähnlich gestaltet ist, können Befunde nicht ohne weiteres über verschiedene Länder und Sprachen hinweg generalisiert werden. Soziale, politische und kulturelle Gegebenheiten, im Zusammenhang mit speziellen sprachlichen Zielsetzungen, können zu wesentlichen Unterschieden in Gestaltung und Effektivität der bilingualen Programme führen. Daher ist auch nicht selbstverständlich anzunehmen, dass sich die Befunde aus dem kanadischen Raum, in dem immersiver Unterricht seinen Anfang nahm (Lambert/Tucker 1972), uneingeschränkt auf die deutsche Situation übertragen lassen.
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Schwache Formen
Starke Formen
Tab. 1: Typisierung bilingualer Lernformen (basierend auf Hu 2008) Typ
Zielpopulation
Kultur-erhaltender bilingualer Unterricht
Sprachgebrauch im Klassenraum
Zielsetzung
Beispiele im deutschen Raum
Sprachliche L1 und L2 Minderheit (Schwerpunkt auf L1)
Additiver Bilingualismus, kulturelle Bereicherung, linguistischer Pluralismus
Friesischer Unterricht in einzelnen Fächern
Duale Immersion/Bilingualer Unterricht
Sprachliche L1 und L2 Minder- und (gleichwertig) Mehrheiten
Additiver Bilingualismus, kulturelle Bereicherung, sozialer Zusammenhalt
Inhalt auf Deutsch und Portugiesisch dargeboten von jeweils einem Lehrer
Immersions unterricht in Regelschulen
Sprachliche L1 und L2 Mehrheit (unterschiedlich starker Schwerpunkt auf L2)
Additiver Bilingualismus, kulturelle Bereicherung, sozialer Zusammenhalt, sozialer Aufstieg, wirtschaftliche Vorteile
Englisch ab erster Klasse in allen Fächern; das Fach Deutsch zur Alphabetisierung
Transitionaler/ vorübergehender bilingualer Unterricht
Sprachliche L1 und dann L2 L2-Erwerb, begrenzter – Minderheit und subtraktiver Bilingualismus, Assimilation
Fremdsprachenunterricht in Regelschulen
Sprachliche L1 mit Mehrheit L2-Unterricht
L2-Erwerb, begrenzter Bilingualismus, begrenzte kulturelle Bereicherung
Regulärer Englischunterricht
3 Entstehung und Charakteristika des Immersionsunterrichts Der Terminus Immersion fasst, wie erwähnt, unterschiedliche Programme zusammen. Baker (2011) definiert als Elemente von Immersionsprogrammen, dass die Zielgruppe die Majoritätssprache des Landes spricht und dass das reguläre Curriculum in der Schule beibehalten wird. Besonders etabliert sind solche Programme in Kanada. Bereits in den 1960er Jahren entstanden in Québec die ersten französischsprachigen Immersionsprogramme, um englischen Muttersprachlern Chancengleichheit im frankophonen Kanada zu sichern (Swain/Johnson 1997). Mittlerweile existieren in allen zehn Provinzen französische Immersionsprogramme, die von ungefähr einem Zehntel
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der Schülerinnen und Schüler – vornehmlich in New Brunswick und Québec – genutzt werden (Statistics Canada 2008). Unabhängig von der jeweiligen sprachlichen Zielsetzung ist das zentrale Kennzeichen von Immersionsunterricht die gleichwertige Integration von sprachlicher und fachlicher Instruktion (vgl. Genesee 2004), so dass der Art der Vermittlung der L2 entsprechend große Bedeutung zukommt. Der pädagogi sche Ansatz der L2-Vermittlung wird in Immersionsprogrammen als focus on meaning bezeichnet, da die L2 durch ihren Gebrauch zur schulischen Kommunikation oder in anderen authentischen Situationen erworben werden soll. Dies steht im Kontrast zum Vorgehen im konventionellen Fremdsprachenunterricht, das eher dem Ansatz focus on forms (Long/Robinson 1998) zuzuordnen ist. Im konventionellen Fremdsprachenunterricht gilt häufig das isolierte Lernen der formalen Strukturen und grammatikalischen Regeln der Sprache als Voraussetzung für einen funktionalen Sprachgebrauch, der die Kommunikation zu einem bestimmten Zweck ermöglicht. Die Kombination beider Ansätze im Rahmen immersiven Unterrichts erweist sich als besonders erfolgreich, wie empirische Studien zeigen (Genesee 2004). Dadurch können über den Erwerb kommunikativer Kompetenzen hinaus auch linguistische Strukturen in der L2 vermittelt werden, insbesondere beim Einsatz von expliziten Hinweisen auf formale Strukturen (vgl. Norris/Ortega 2000). Im Einklang mit diesen Befunden enthalten heutzutage viele Immersionsprogramme explizite formale L2-Lehrsituationen. Der kommunikative, bedeutungsorientierte Kontext bleibt jedoch auch bei einer stärkeren Fokussierung auf linguistische Strukturen erhalten (Lyster 2007). Immersionsunterricht in Deutschland wird im weiteren Sinne als eine Form des europäischen Content and Language Integrated Learning (CLIL) betrachtet, da in Immersionsprogrammen eine Integration von Sachfach- und Sprachlernen angestrebt wird (Vollmer 2002). So wird zum einen das reguläre Curriculum beibehalten. Zum anderen wird die L2 jedoch nicht nur implizit aufgrund der Verwendung als Unterrichtssprache erworben, sondern zusätzlich durch explizites Lernen von Sprachstrukturen in der L2 gefördert (Genesee 2005). In Bezug auf die Lehrmethoden im immersiven Unterricht werden der individu alisierte, der anschauliche und der aktivitätsbasierte Unterricht im Sinne von erfahrendem Lernen mit praktischen Schüleraktivitäten unterschieden (Genesee 1983). Zusätzlich passen Lehrer ihre Sprache den Schülerinnen und Schülern im Sinne eines comprehensible inputs an (Krashen 1982), indem sie zum einen Vokabular und Grammatik auf einem verständlichen Niveau verwenden und zum anderen das Verständnis fördernde Strategien einsetzen (Baker 2011). In Bezug auf das verständliche Sprachniveau ist zentral, dass zur Berücksichtigung der limitierten Sprachkenntnisse der Schülerinnen und Schüler verschiedene verbale und nonverbale ScaffoldingTechniken (vgl. Genesee 2005) eingesetzt werden, um den L2-Input verständlich zu machen. Der Fokus liegt auf einer kontinuierlichen Erhöhung der sprachlichen Anforderungen (Baker 2011). Um die Anforderungen zu erhöhen, wird vor allem indirekte Fehlerkorrektur mit direktem Bezug auf die Situation eingesetzt. Zur Förderung des Verständnisses werden zudem Inhalte häufig wiederholt, zusammengefasst und
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umformuliert (vgl. Fortune/Tedick 2008). Daneben gewährleisten weitere Lehrmethoden das Verständnis der Schülerinnen und Schüler: die Verwendung verschiedener Beschreibungsformen, ausführliche Einführungen von neuen Wörtern und Konzepten sowie Sensibilität gegenüber nonverbalem Schülerfeedback. Gleichzeitig sind die Unterstützung der Sprache durch Kontext (Mimik, Gestik, Körpersprache) sowie die Nutzung visueller und audiovisueller Unterstützungsmöglichkeiten und die Veranschaulichung anhand konkreter Objekte für den L2-Erwerb hilfreich. Diese Ansätze wirken zusätzlich auch motivierend auf die Schülerinnen und Schüler (Baker 2011). Hinsichtlich der didaktischen Gestaltung des Unterrichts stehen außerdem die Strukturierung des Unterrichts, die Variation der Aufgaben sowie die Überprüfung des Verständnisses seitens der Schülerinnen und Schüler im Vordergrund (vgl. Baker 2011). Viele Anweisungen ermöglichen eine ausgeprägte Strukturierung der schulischen Situation, z. B. durch das Signalisieren von Anfang und Ende verschiedener Routinesituationen. Effektive Immersionslehrer variieren zudem allgemeine Lernaufgaben (wie auch Sprachaufgaben) und setzen sie abwechslungsreich ein. Um den Unterricht erfolgreich zu gestalten ist es daneben sinnvoll, häufig und auf unterschiedliche Weise das Verständnis der Schülerinnen und Schüler zu überprüfen (vgl. Snow 1990). Bei immersiven wie auch anderen bilingualen Programmen zeigt sich, dass erfolgreicher Unterricht nicht nur eng mit einer spezifischen Unterrichtsgestaltung, sondern auch mit besonderen Lehrereigenschaften verbunden ist (Fortune/Tedick 2008). Auf Seiten der Lehrer sind drei Eigenschaften besonders für den Erfolg von Immersionsprogrammen günstig: die Qualifikation, die bilinguale Sprachkompetenz sowie das Engagement. Immersionslehrer müssen nicht nur fachlich in der Lage sein, die Förderung der Schülerinnen und Schülerleistung über das Curriculum hinweg sicherzustellen, sondern auch selbst über ausreichende L2-Kompetenz zur Vermittlung der fachlichen wie sprachlichen Aspekte verfügen (Baker 2011). Diese spezielle Kombination von Anforderungen an Immersionslehrer wird bislang in der Lehrerausbildung bzw. Qualifikation der Lehrer nur vereinzelt berücksichtigt (Björklund 1997). Immersionslehrer mit einer hohen bilingualen Kompetenz sind zudem wichtige Sprachmodelle für bilinguales Lernen, die nicht nur der Nachahmung durch die Schüler dienen, sondern auch der Instruktionssprache zusätzliches Prestige verleihen (Baker 2011). Daneben ist das Engagement der Lehrer im Immersionsunterricht eine zentrale Komponente für den schulischen Erfolg (Roberts 1985). Aufgrund dieser engen Verknüpfung von L2-Instruktion mit einer bestimmten Zielgruppe, Zielsetzung, Unterrichtsdidaktik und besonderen Lehrereigenschaften ist es schwierig zu bestimmen, inwieweit Effekte des Immersionsunterrichts auf die Verwendung einer L2 als Unterrichtssprache oder auf konfundierende Faktoren wie die Qualität des Unterrichts zurückzuführen sind. Häufig werden Effekte immersiven Unterrichts jedoch mit Effekten der L2-Instruktion gleichgesetzt.
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4 Effekte des Immersionsunterrichts Die meisten Forschungsergebnisse zum bilingualen Lernen in der Variante des Immersionsunterrichts stammen aus Kanada. Empirische Studien konnten die Befürchtungen der Eltern bezüglich etwaiger Leistungseinbußen in der Erstsprache oder anderen Schulfächern durch immersiven Unterricht weitgehend widerlegen (vgl. z. B. Genesee 2004). Die meisten Schülerinnen und Schüler zeigen eine funktionale Beherrschung der L2 ohne Verschlechterung der L1 (Marsh/Hau/Kong 2002; Reeder/Buntain/Takakuwa 1999). Häufig übertreffen die L1-Leistungen immersiv unterrichteter Schülerinnen und Schüler sogar die entsprechenden Leistungen monolingual unterrichteter Schülerinnen und Schüler, u. a. in Bezug auf Grammatik, Zeichensetzung und Lesekompetenzen (Turnbull/Hart/Lapkin 2003; Turnbull/Lapkin/Hart 2001). Hinsichtlich der L2-Kompetenzen belegen verschiedene Autoren höhere rezeptive und produktive Fertigkeiten bei immersiv unterrichteten Schülerinnen und Schülern im Vergleich zu Schülerinnen und Schülern im regulären Fremdsprachenunterricht (aus linguistischer Perspektive vgl. Wode u. a. 2002). Nold u. a. (2008) fanden beim Vergleich von bilingualem Sachfachunterricht mit regulärem Fremdsprachenunterricht ebenfalls bessere L2-Kompetenzen bei bilingualen Schülerinnen und Schülern, insbesondere in Bezug auf das L2-Hörverstehen. Genesee (1978) berichtet zudem von Leistungen im L2-Leseverständnis, die mit denen von Muttersprachlern vergleichbar sind. Diese Befunde konnten auch in Deutschland repliziert werden. So entsprach das englische Leseverständnis von deutschen Viertklässlern, die immersiv unterrichtet wurden, dem Durchschnittsbereich australischer Drittklässler (Zaunbauer/ Bonerad/Möller 2005). Allerdings weisen andere Studien auf gewisse Schwierigkeiten beim Lesen von L2-Texten hin (Geva/Clifton 1994). Zudem erreichten nach Kowal und Swain (1997) die produktiven L2-Fertigkeiten selbst bei immersivem Unterricht nicht das Niveau von Muttersprachlern. Für die L2-Kompetenz scheinen insbesondere Umfang und Intensität des Kontakts mit der L2 und die Qualität des immersiven Unterrichts entscheidend zu sein (vgl. Turnbull/Hart/Lapkin 2000). Bezüglich der Leistungen in Mathematik und den Naturwissenschaften werden meist positive Effekte immersiven Unterrichts gefunden (Dubé/MacFarlane 1991), auch wenn die Leistungstests in der L1 vorgegeben werden. Eine ausreichende Kompetenz in der L2 stellt allerdings die Voraussetzung für den Lernerfolg dar. Für mittlere und späte Immersion werden anfängliche Schwierigkeiten im mathematischen Bereich berichtet (Dubé/MacFarlane 1991). Starke negative Effekte auf die Leistungen in nichtsprachlichen Fächern (Geschichte, Erdkunde, Naturwissenschaften) fanden Marsh u. a. (2002), die sie auf mangelnde L2-Fertigkeiten sowohl auf Seiten der Schülerinnen und Schüler als auch auf Seiten der Lehrer in Kombination mit hohen sprachlichen Anforderungen durch die Unterrichtsmaterie zurückführten. Entsprechend fanden Hoare/Kong (2001) einen förderlichen Einfluss der Sprachbewusstheit des Lehrers auf die Unterrichtsqualität.
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In den nächsten Abschnitten werden die Generalisierbarkeit der internationalen Befunde zu den Effekten des Immersionsunterrichts auf immersiv unterrichtete Schülerinnen und Schüler in deutschen Grundschulen untersucht und der daraus resultierende Erkenntnisgewinn sowie praktische Implikationen diskutiert.
4.1 Die MoBi–Studie In Deutschland wurde eine Längsschnittstudie mit regulär monolingual und immersiv unterrichteten deutschen Grundschulkindern durchgeführt. Die MoBi-Studie (Mono- und Bilinguales Lernen) fand im Rahmen unseres DFG-Projekts „Lernen im immersiven Unterricht: Die Bedeutung von Schülervariablen“ (MO 648/18-1, 18-2, 19-1) statt. Untersucht wurden insgesamt N = 657 Schülerinnen und Schüler (46.5 % weiblich, 53.4 % immersiv) aus fünf Schulen in Schleswig-Holstein und Hamburg. Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler wies einen monolingualen Sprachhintergrund auf: Deutsch war ihre erste und einzige zu Hause erlernte Sprache (98.1 %) und wurde zu Hause am häufigsten verwendet (89.3 %). Der Immersionsunterricht erfolgte als Teilimmersion, indem der Unterricht mit Ausnahme der Alphabetisierung im Fach Deutsch in allen Fächern in Englisch stattfand. Die Gruppe konventionell unterrichteter Kinder fungierte als Vergleichsgruppe. Da die Schülerinnen und Schüler nicht zufällig den beiden Gruppen immersiv versus konventionell unterrichtet zugeordnet wurden, sondern Elternwille und schulische Belange die Zuordnung eines Kindes bestimmten, war mit Selektionseffekten zu rechnen. Die kognitiven Grundfähigkeiten und der sozioökonomische Hintergrund der Familien wurden als Kovariaten in die statistischen Analysen aufgenommen, um für Gruppenunterschiede in diesen Variablen zu kontrollieren (vgl. Zaunbauer/Möller 2007).
4.2 MoBi – Die Ergebnisse L1: Im Rahmen dieser Längsschnittstudie wurde die Entwicklung erstsprachlicher Leseflüssigkeit und Rechtschreibleistung in den ersten vier Jahrgangsstufen von n = 351 immersiv und n = 306 konventionell unterrichteten Schülerinnen und Schülern verglichen. Aufgrund möglicher Selektionseffekte wurden kognitive Grundfähigkeiten und der sozioökonomische Hintergrund als Kovariaten berücksichtigt. Latente Wachstumskurvenmodelle zeigten, dass beide Schülergruppen in beiden Domänen dasselbe Ausgangsniveau in der ersten Jahrgangsstufe aufwiesen. In der Leseflüssigkeit zeigte sich jedoch ein schnellerer Leistungszuwachs bei den immersiv unterrichteten Schülerinnen und Schülern, während sich die Rechtschreibleistung in beiden Gruppen ähnlich positiv entwickelte. Damit bestätigt sich, dass Immersionsschüler mindestens keine Nachteile im L1-Lesen und Schreiben erleiden, obwohl sie vor allem
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in einer Fremdsprache unterrichtet werden (für Details s. Gebauer/Zaunbauer/Möller 2012). L2: Zaunbauer/Gebauer/Möller (2012) befassten sich in ihrem Beitrag mit den Englischleistungen immersiv unterrichteter Schülerinnen und Schüler und ihrer Vorhersage. Dabei wurden ebenfalls die immersiv unterrichteten Kinder (englischsprachiger Unterricht in allen Fächern außer Deutsch) mit den konventionell unterrichteten Kindern im Regelunterricht verglichen. Bei N = 590 Schülerinnen und Schülern (48.4 % weiblich, 52 % immersiv) wurden während der Grundschuljahre Englischleistungen in den Bereichen Wortschatz, Leseflüssigkeit und Leseverständnis bei Kontrolle von Intelligenz und sozioökonomischem Hintergrund untersucht. In beiden Gruppen nahm der Wortschatz von der ersten bis zur vierten Jahrgangsstufe zu, wobei immersiv unterrichtete Schülerinnen und Schüler konventionell unterrichteten Schülerinnen und Schülern zu jedem Messzeitpunkt deutlich überlegen waren. Die Leseflüssigkeit und das Leseverständnis immersiv unterrichteter Schülerinnen und Schüler verbesserten sich von der dritten zur vierten Jahrgangsstufe. Sie lagen am Ende der Grundschulzeit im Durchschnittsbereich der muttersprachlichen Norm und deutlich über dem Englischniveau konventionell unterrichteter Schülerinnen und Schüler. Die Englischleistungen wurden also durch die Unterrichtsform und die erstsprachliche Leseflüssigkeit vorhergesagt. Die Ergebnisse sollten vor dem Hintergrund reflektiert werden, dass immersiver Unterricht sich durch das Ausmaß des Englisch-Kontaktes, der Authentizität und der inhaltlichen Schwerpunktsetzung von konventionellem Unterricht unterscheidet. Mit Bezug zu Cummins’ Interdependenz-Hypothese ergibt sich die Vermutung, dass die immersiv unterrichteten Kinder die kritische Schwelle überschritten haben, so dass Zugewinne in beiden Sprachen möglich sind. L1 & L2: In der Studie von Gebauer/Zaunbauer/Möller (2013) wurde untersucht, ob verbesserte L1-Leistungen durch die Existenz sprachspezifischer Transfereffekte zwischen L1 und L2 bedingt sein können. In Anlehnung an Cummins’ Interdependenz- und Schwellenhypothese wurden zum Nachweis von Transferprozessen wechselseitige Effekte zwischen Leseverständnis und Leseflüssigkeit in der L1 und der L2 bei teilimmersiv unterrichteten Schülerinnen und Schülern in den Jahrgangsstufen 3 und 4 analysiert (die Leseflüssigkeit wurde nur in der vierten Jahrgangsstufe erfasst). Latente Strukturgleichungsanalysen ergaben in Bezug auf das Leseverständnis moderate interlinguale Effekte. Daneben fanden sich kleine bis mittlere Effekte vom Leseverständnis auf die Leseflüssigkeit sowohl innerhalb der jeweiligen Sprache als auch zwischen den Sprachen. Die größten interlingualen Effekte zeigten sich in dieser Studie von der L2 auf die L1. Die Befunde deuten auf die Existenz von positiven Transferprozessen zwischen den Sprachen hin. Mathematik: Insbesondere für Mathematik finden sich in der internationalen Literatur konsistente Belege für Vorteile immersiv unterrichteter Schülerinnen und Schüler, die auf einen förderlichen Effekt von Immersionsunterricht auf mathematische Leistungen hindeuten (z. B. Cheng u. a. 2010; Turnbull/Hart/Lapkin 2003). In
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der MoBi-Studie wurde daher längsschnittlich die mathematische Leistungsentwicklung mithilfe von deutschsprachigen, curricular validen Mathematiktests untersucht. Die Ergebnisse der Wachstumskurvenanalysen zeigten bereits Ende der ersten Jahrgangsstufe Vorteile zugunsten der immersiv unterrichteten Schülerinnen und Schüler sowie im gesamten Verlauf eine schnellere Leistungsentwicklung als bei den konventionell unterrichteten Schülerinnen und Schülern. Dies ist besonders bemerkenswert vor dem Hintergrund, dass Mathematik in den immersiven Klassen auf Englisch unterrichtet wird, die Tests aber deutschsprachig waren. Die Befunde geben deutliche Hinweise auf positive Effekte des Immersionsunterrichts, an deren Zustandekommen Exekutivfunktionen, interlinguale Transferprozesse, aber auch (fremd-)sprachbedingte spezifische Lehrmethoden und Lernmechanismen beteiligt sein können. Lern- und Gedächtnisleistungen: Kuska/Zaunbauer/Möller (2010) untersuchten in einer experimentellen Studie, inwiefern sich unterschiedliche Lern- und Gedächtnisleistungen zwischen immersiv und konventionell unterrichteten Schülern ergeben. Um den Einfluss der didaktischen Gestaltung des Unterrichts und der Lehrereigenschaften konstant zu halten, wurde der Lernstoff immersiv und konventionell unterrichteten Schülern in einer standardisierten Lernsituation als Film zum Thema Das Ohr dargeboten. Die Lernleistung wurde anschließend anhand eines Wissenstests erfasst. Eine Follow-Up-Erhebung nach drei Monaten ermöglichte zusätzlich die Erfassung von Gedächtnisleistungen. Unterschiede zwischen immersiv und konventionell unterrichteten Schülerinnen und Schülern in den kognitiven Fähigkeiten sowie im sozioökonomischen Hintergrund wurden wie in den anderen Studien in den Analysen statistisch kontrolliert. Die Ergebnisse bestätigten die Annahme besserer Lern- und Gedächtnisleistungen immersiv unterrichteter Schülerinnen und Schüler gegenüber konventionell unterrichteten Schülerinnen und Schülern auch in dieser standardisierten Lernsituation. Sie stellen einen Hinweis auf das Bestehen kognitiver Vorteile durch Immersionsunterricht dar, für deren Auftreten die Unterrichtsgestaltung und Lehrereigenschaften eher eine untergeordnete Rolle spielen dürften.
5 Diskussion Den zunehmenden gesellschaftlichen und beruflichen Anforderungen an Englischkenntnisse in Deutschland stehen Befunde entgegen, die zeigen, dass deutsche Schülerinnen und Schüler im konventionellen Fremdsprachenunterricht häufig keine ausreichende Kompetenz in der L2 Englisch erwerben (Klieme 2008; Köller u. a. 2004). Diesem Problem begegnen verschiedene Schulen in Deutschland dadurch, dass sie Schülerinnen und Schülern durch englische Teilimmersion einen intensiveren und authentischeren Kontakt mit der L2 Englisch bei gleichwertiger Betonung des Erwerbs von erstsprachlichen Kenntnissen ermöglichen. Internationale Studien belegen den Erfolg immersiven Unterrichts: Verglichen mit Schülerinnen und Schülern im kon-
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ventionellen Fremdsprachenunterricht erreichen immersiv unterrichtete Schülerinnen und Schüler sowohl bessere L2-Kenntnisse als auch ähnliche oder sogar bessere L1-Leistungen (z. B. für eine Übersicht vgl. Baker 2011; Genesee 2005). Die eigenen Analysen ergaben ebenfalls Leistungsvorteile immersiv unterrichteter Schülerinnen und Schüler. Zur Erklärung der besseren Leistungen immersiv unterrichteter Schülerinnen und Schüler lassen sich in Anlehnung an die Interdependenz- und Schwellenhypothese zwei Ansätze nennen: förderliche Effekte aufgrund von a) Transferprozessen und von b) kognitiven Vorteilen. Dem Transfer-Ansatz zufolge können Leistungsvorteile durch Transferprozesse zwischen L2 und L1 verursacht sein. So nimmt Cummins (2000a, 2000b) an, dass es aufgrund eines gemeinsamen Speichers (common underlying proficiency; CUP) zwischen Sprachen zu Austauschprozessen kommt. Gewisse Aspekte wie Leseverständnis oder Leseflüssigkeit, die in der einen Sprache gelernt wurden, müssen dann in der anderen Sprache nicht mehr separat gelernt werden. Dagegen werden Oberflächenmerkmale der Sprache, die auch in der alltäglichen Kommunikation relevant sind, kaum transferiert (z. B. die Orthographie; vgl. Deacon/Wade-Woolley/Kirby 2009). Interlinguale Transferprozesse wurden empirisch vielfach nachgewiesen (z. B. van Gelderen/Schoonen/Stoel/Glopper/Hulstijn 2007). Sie wurden bei immersiv unterrichteten Schülerinnen und Schülern bisher jedoch kaum untersucht. Gemäß dem kognitiven Ansatz könnten Leistungsvorteile immersiv unterrichteter Schülerinnen und Schüler durch verbesserte kognitive Fertigkeiten (z. B. verbesserte Gedächtnisleistungen) infolge einer zunehmenden L2-Kompetenz bedingt sein, wie es bei Bilingualen mit hoher Sprachkompetenz in beiden Sprachen beobachtet wurde (vgl. Bialystok 2005). Kognitive Vorteile durch den Erwerb einer L2 werden in Cummins Modell dann erwartet, wenn sowohl in der L1 als auch in der L2 eine kritische Schwelle überschritten wurde, wobei diese Schwelle bisher nicht operationalisiert wurde (vgl. Takakuwa 2005). Eine weitere kognitive Erklärung bezieht sich auf die schulleistungssteigernde Wirkung bilingualen Lernens an sich. Sprachliche und mathematische Leistungen, aber auch Fertigkeiten wie Kreativität, kognitive Flexibilität, divergentes Denken, Aufmerksamkeit, Konzentration und insbesondere metalinguistische Kompetenzen und das phonologische Kurzzeitgedächtnis können vom Fremdsprachenlernen profitieren (vgl. Bialystok 2005). Vor allem scheint es, dass Mehrsprachigkeit die Kontrollprozesse fördert, die mit der Unterdrückung irrelevanter Informationen verbunden sind (Bialystok/Martin 2004). Diese Förderung resultiert anscheinend aus der besonderen Beanspruchung eines zentralen kognitiven Mechanismus bei Bilingualität. Vereinfacht ausgedrückt ist bei mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern die Unterdrückung der lexikalischen Repräsentation der gerade nicht verwendeten Sprache notwendig (Bialystok 2005). Bei bilingualen Personen wird dieser Inhibitionsprozess stärker trainiert als bei monolingualen Personen, da jeder Gebrauch einer Sprache zur Aktivierung des Unterdrückungsmechanismus führt. Bialystok (2005) argumen-
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tiert, dass diese Förderung der Inhibition linguistischer Prozesse auf andere kognitive Bereiche übertragen werden kann und somit auch die Leistung bei anderen Aufgaben fördert, die die Inhibition irrelevanter Informationen erfordern. Dieser Inhibitionsmechanismus bewahre zudem das Arbeitsgedächtnis davor, mit irrelevanten Informationen überlastet zu werden und dadurch die Effektivität kognitiver Prozesse zu verringern (Hasher/Zacks/May 1999). Neben der L2-Instruktion können zusätzlich oder auch gänzlich unabhängig institutionelle Effekte auf die Schülerleistungen wirken. Die besondere didaktische Gestaltung des Unterrichts sowie bestimmte Eigenschaften von Immersionslehrern fanden jedoch in Studien zum immersiven Unterricht bisher nicht ausreichend Berücksichtigung. Weder wurden die verschiedenen möglichen Einflussfaktoren auf die Leistung explizit erfasst, um sie separat in den statistischen Analysen zu behandeln, noch wurden sie statistisch kontrolliert (vgl. Baker 2011). Dadurch ist die Interpretation von Leistungsvorteilen als direkte Effekte der L2-Instruktion eingeschränkt. Ein weiterer Kritikpunkt bisheriger Studien zur Immersion ist darin zu sehen, dass die meisten dieser Studien querschnittliche Vergleiche vornahmen. Längsschnittlich angelegte Studien, die eine Entwicklungsperspektive ermöglichen, existieren kaum. In Deutschland sind Studien, die Effekte immersiven Unterrichts auf sprachliche und fachliche Leistungen untersuchen, insgesamt äußerst selten. Das ursprüngliche Forschungsinteresse am immersiven Unterricht galt der Überprüfung von potentiellen Defiziten in der Muttersprache und in den Schulleistungen, die aus dem fremdsprachlich geführten Unterricht resultieren könnten. Einbußen in den Schulleistungen wurden, wie der hier überblicksartig und exemplarisch an den eigenen Studien präsentierte Forschungsstand zeigt, selten gefunden. Stattdessen wurden oft Leistungsvorteile der immersiv unterrichteten Schülerinnen und Schüler festgestellt. Diese sind naturgemäß in der L2 besonders ausgeprägt, so dass insgesamt ein positives Fazit für den immersiven Unterricht im Bundesgebiet gezogen werden kann.
6 Ausblick Die beschriebenen Ergebnisse unserer Studie sind auf den Immersionsunterricht an deutschen Grundschulen beschränkt, der zumeist Schülerinnen und Schüler der Majoritätssprache betrifft. Zu Effekten der dualen Immersion in Deutschland, wie sie beispielsweise an den Staatlichen Europa-Schulen Berlins (SESB) realisiert wird, fehlen bisher empirische Befunde. Um zu untersuchen, ob duale Immersion eine geeignete Form der Integration und sprachlichen wie akademischen Förderung von Schülerinnen und Schülern, die eine Minoritätssprache sprechen, ist, werden wir in den nächsten Jahren ein Projekt zur Evaluation der Staatlichen Europa-Schulen Berlins durchführen (EUROPA-Studie). Dieses Projekt (das Land Berlin hat Jürgen
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Baumert und Jens Möller mit der wissenschaftlichen Evaluation der Staatlichen Europa-Schule Berlin beauftragt; die EUROPA-Studie wird zudem durch die Stiftung Mercator in Essen finanziell gefördert) soll hier abschließend kurz beschrieben werden. An den 30 Standorten der Staatlichen Europa-Schule Berlin (SESB) werden Schülerinnen und Schüler mit verschiedenen Erstsprachen gemeinsam zweisprachig unterrichtet. Jede Schule konzentriert sich auf eine der neun angebotenen nichtdeutschen Sprachen (Englisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Türkisch). Jede Klasse setzt sich aus 50 Prozent erstsprachlich deutschen Kindern und 50 Prozent Kindern mit der nichtdeutschen Erstsprache zusammen. Beide Sprachen werden gleichwertig als Unterrichtssprache eingesetzt, so dass ungefähr die Hälfte der Fächer auf Deutsch und die andere Hälfte in der nichtdeutschen Sprache unterrichtet wird. Die SESB strebt eine hohe bilinguale Sprachkompetenz der Schülerinnen und Schüler bei gleichzeitiger Stärkung der interkulturellen Kompetenz an. Eine systematische wissenschaftliche Evaluation des Schulkonzepts steht bislang noch aus. Im Rahmen der EUROPA-Studie sollen ab 2014 sprachliche, fachliche und interkulturelle Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler mit konventionell unterrichteten Schülerinnen und Schülern verglichen werden. Darüber hinaus soll die Umsetzung des SESB-Konzepts in Bezug auf die Zusammensetzung der Schülerschaft und den Einsatz der Lehrkräfte überprüft werden. Begleitend erfolgt eine Elternbefragung. Ein besonderer Vorteil der EUROPA-Studie liegt in der Erfassung der Kompetenzen in den nichtdeutschen Sprachen anhand von Tests aus den internationalen Schulleistungsstudien TIMSS, PIRLS und PISA. Dieses Vorgehen ermöglicht es, die Leistungen der SESB-Schülerinnen und -Schüler mit denen von Kindern aus den Ländern, in denen diese Sprachen gesprochen werden, zu vergleichen. Die EUROPA- wie auch die MOBI-Studie ermöglichen Einblicke in die Effekte, aber auch in die Gelingensbedingungen von frühem Fremdsprachenunterricht. Die bisherigen Ergebnisse scheinen vielversprechend und weisen für Kinder der Majoritätssprache sprachliche, kognitive und akademische Vorteile nach. Inwiefern diese Befunde auf Kinder, die Minoritätssprachen sprechen, übertragbar sind, wird die EUROPA-Studie zeigen. Diese Studie soll Erkenntnisse über den erfolgreichen Erwerb der (Bildungs-)Sprache und den damit verbundenem Bildungserfolg ermöglichen.
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22. Sprachliche Konstruktion gesellschaftlich relevanten Wissens am Beispiel des Biologieunterrichts Abstract: Der Beitrag stellt die wesentliche Rolle von Sprache und Kommunikation im Biologieunterricht unter fachlichen und fachdidaktischen Perspektiven dar. Dafür werden zunächst die Besonderheiten des naturwissenschaftlichen Diskurses im Fach – und hier insbesondere die Mittel fachlicher Kommunikation – als Bezugspunkt aufgezeigt. Mit Blick auf die Zielstellung des Biologieunterrichts sind sprachliche und kommunikative Aspekte in Konzepten der naturwissenschaftlichen Grundbildung verankert. Steuerungsdokumente für den Biologieunterricht beschreiben und konkretisieren diesbezüglich Anforderungen, die an die Schülerinnen und Schüler im Unterricht gestellt werden. Sprachliche und kommunikative Aspekte sind jedoch nicht nur Zieldimensionen des naturwissenschaftlichen Unterrichts, sondern auch Bestandteil einer fachlichen Unterrichtsqualität, die auf der Basis von zugrundeliegenden theoretischen Modellen und Ergebnissen empirischer Studien dargestellt wird. Darauf aufbauend werden Ansatzpunkte für weitere fachdidaktische Forschungen aufgezeigt. 1 Einleitung 2 Mittel fachlicher Kommunikation in den Naturwissenschaften 3 Sprache und fachliche Kommunikationsfähigkeit im Kontext naturwissenschaftlicher Grundbildung 4 Sprache und fachliche Kommunikation – Zieldimensionen für den Biologieunterricht 5 Sprache und fachliche Kommunikation als Qualitätsmerkmale des Biologieunterrichts: Theoretische Modelle und empirische Ergebnisse 6 Desiderata und Ausblick 7 Literatur
1 Einleitung In der heutigen Wissensgesellschaft prägen naturwissenschaftliche Erkenntnisse und technologischer Fortschritt den öffentlichen Diskurs – man denke hier beispielsweise an die kontroversen Diskussionen zu Themen wie Gentherapie und Gentechnik oder an die Berichterstattung über die Ebola-Epidemie im Jahr 2014. Dies sind nur wenige Beispiele, die aufzeigen, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Technologien auch im alltäglichen Leben eine wesentliche Rolle spielen und Entscheidungen auf gesellschaftlicher, politischer und persönlicher Ebene berühren. Das Verständnis
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zugrundeliegender naturwissenschaftlicher Konzepte und Prozesse ist daher fundamental für die Abwägung von Alternativen und eine informierte Entscheidungsfindung. Vor diesem Hintergrund gehören naturwissenschaftliche Kenntnisse zu einer Allgemeinbildung mündiger Bürgerinnen und Bürger. Eine nicht nur im naturwissenschaftlichen Unterricht der allgemeinbildenden Schulen anzustrebende naturwissenschaftliche Grundbildung orientiert sich an diesen Anforderungen moderner Wissensgesellschaften und rückt die Befähigung des Individuums zur aktiven Partizipation am gesellschaftlichen Diskurs über naturwissenschaftliche Entwicklung und Forschung in den Mittelpunkt (für eine Übersichtsdarstellung siehe beispielsweise Gräber/Nentwig 2002). Eine wesentliche Voraussetzung hierfür ist, dass das Individuum über eine fachbezogene Kommunikationskompetenz verfügt. Sie erst ermöglicht es, sich über naturwissenschaftliche Themen in verschiedenen Quellen zu informieren, neues Wissen zu erwerben und dieses Wissen zu kommunizieren. Dem naturwissenschaftlichen Unterricht kommt dementsprechend die Aufgabe zu, Heranwachsende zum angemessenen Umgang mit den Mitteln fachlicher Kommunikation, zu denen insbesondere die naturwissenschaftliche Fachsprache sowie weitere fachspezifische Darstellungsformen zählen, zu befähigen, so dass diese auch im späteren Leben aktiv am gesellschaftlichen Diskurs über naturwissenschaftliche Themen teilhaben können. Im Folgenden wird zunächst erläutert, mit welchen Mitteln fachliche Kommunikation in den Naturwissenschaften und insbesondere in der Biologie erfolgt, wobei Sprache und fachspezifische Darstellungsformen eine wesentliche Rolle spielen. Anschließend werden im Kontext der naturwissenschaftlichen Grundbildung die Relevanz von Sprache und fachlicher Kommunikationsfähigkeit dargestellt. Anhand der Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (Kultusministerkonferenz, 2005), die ein zentrales Steuerungsdokument für den Biologieunterricht darstellen, werden Anforderungen beleuchtet, die an Schülerinnen und Schüler hinsichtlich sprachlicher und kommunikativer Aspekte im Biologieunterricht gestellt werden. Sprache und fachliche Kommunikation sind jedoch nicht nur Zieldimensionen von Unterricht, sondern auch Bestandteil fachlicher Unterrichtsqualität. Das Konstrukt der fachspezifischen Unterrichtsqualität sowie relevante Aspekte werden auf der Basis von theoretischen Modellen und Ergebnissen empirischer Studien dargestellt. Zum Abschluss des Beitrags werden fachdidaktische Forschungsdesiderata formuliert.
2 Mittel fachlicher Kommunikation in den Naturwissenschaften Was zeichnet die Kommunikation von fachlichen Konzepten, Prozessen und Methoden in den Naturwissenschaften aus? Die naturwissenschaftliche Fachsprache ist per
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definitionem ein wesentliches Mittel der fachlichen Kommunikation. Häufig wird die Fachsprache einer Disziplin mit ihrem Fachwortschatz gleichgesetzt. Gerade in der Biologie, der eines der umfangreichsten Begriffssysteme zugrunde liegt (vgl. Wüsten 2010, 29), scheint diese Tendenz nachvollziehbar zu sein, sind es doch häufig Nichtfachleuten unbekannte Fachbegriffe, an denen das Verständnis fachlicher Texte scheitert. Der Fachwortschatz ist „Teil der kulturellen Identität einer jeden wissenschaftlichen Disziplin“ (Rincke 2010, 235). Fachbegriffe bezeichnen eindeutig wesentliche Konzepte der Disziplin und ermöglichen so eine effektive Kommunikation über bestimmte Sachverhalte, zumindest wenn der Begriff den Kommunikationspartnern bekannt ist. Begriffssysteme werden durch den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess neu geordnet und weiterentwickelt (ebd., 235). Insbesondere für den rasanten Erkenntniszuwachs in der Biologie spielen solche Prozesse eine wesentliche Rolle. Der Fachwortschatz vermag zwar, ein Fach gegen ein anderes abzugrenzen (wobei auch hier die Grenzen fließend sind, vgl. Roelcke 2005, 38), beschreibt jedoch nicht hinreichend die Fachsprache innerhalb eines Faches (Rincke 2010, 237). So zeichnet sich die naturwissenschaftliche Fachsprache (im Allgemeinen) durch weitere Eigenschaften aus, z. B. ein vorherrschender Nominalstil und die häufige Verwendung von Passiv-, Reflexiv- und Infinitivkonstruktionen (Fluck 1996, 55 ff.). Diese Merkmale kommen zwar auch in alltagssprachlichen Texten vor, sind dort aber relativ selten. Dennoch ist eine eindeutige linguistische Abgrenzung zwischen Fachsprache und der ihr häufig kontrastierend gegenüberstellten Alltagssprache bisher nicht zufriedenstellend gelungen (Fluck 1996, 160 ff.; Roelcke 2005, 20). So können in der Fachsprachenlinguistik verschiedene Perspektiven unterschieden werden, unter denen Fachsprache betrachtet und beschrieben wird, z. B. unter lexikalischen, syntaktischen, textlinguistischen, kommunikativen und pragmatischen Gesichtspunkten (Hahn 1981, zitiert nach Rincke 2010, 237). Unter kognitionslinguistischer Perspektive werden entsprechend der Interdependenz von Sprache und Wissen die intellektuellen und emotionalen Voraussetzungen der Produzenten und Rezipienten von Fachsprache und die Funktion von Fachsprache für die Fachkommunikation in den Blick genommen. Nach Hoffmann (1993, 614) ist Fachkommunikation die von außen oder von innen motivierte bzw. stimulierte, auf fachliche Ereignisse oder Ereignisabfolgen gerichtete Exteriorisierung und Interiorisierung von Kenntnissystemen und kognitiven Prozessen, die zur Veränderung der Kenntnissysteme beim einzelnen Fachmann und in ganzen Gemeinschaften von Fachleuten führen.
In den Wissenschaftsdisziplinen dient die jeweilige Fachsprache also der Kommunikation von wissenschaftlichen Erkenntnissen, Prozessen und Methoden. Sie ist dabei präzise, verständlich (für Experten der jeweiligen Disziplin), ökonomisch und dient der Anonymisierung von fachlichen Texten sowie der Identitätsstiftung (z. B. Roelcke 2005, 28 ff.). Fachsprache bildet die Grundlage, auf der unterschiedliche wissen-
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schaftliche Argumentationslinien formuliert werden, und sie erlaubt das Aushandeln von Sichtweisen. Für eine Beschreibung der fachlichen Kommunikation insbesondere in den Naturwissenschaften greift jedoch eine alleinige Fokussierung auf verbalsprachliche Aspekte zu kurz: Science is not done, is not communicated, through verbal language alone. It cannot be. The ‚concepts‘ of science are not solely verbal concepts, though they have verbal components. They are semiotic hybrids, simultaneously and essentially verbal, mathematical, visual-graphical, and actional-operational. […] To do science, to talk science, to read and write science it is necessary to juggle and combine in various canonical ways verbal discourse, mathematical expression, graphical-visual representation, and motor operations in the world. (Lemke 1998, 87)
Ein wesentliches Charakteristikum von fachlicher Kommunikation in den Naturwissenschaften ist also, dass sie nicht nur über verbalsprachliche Mittel (Fachsprache im engeren Sinne) erfolgt, sondern dass der naturwissenschaftliche Diskurs von einer Vielzahl verschiedener externer Darstellungsformen (Repräsentationen) geprägt ist (siehe hierzu auch z. B. Ainsworth/Prain/Tytler 2011, 1096). Diese stehen für Objekte oder Prozesse und zeichnen sich durch die Verwendung verschiedener Symbolsysteme aus (Eco 1994, 77). Hierzu zählen beispielsweise gegenständliche, bildliche, verbalsprachliche, symbolische und gestische Repräsentationen, die spezifische Kulturtechniken darstellen (z. B. Lemke 1998, 87). Dennoch nimmt die Verbalsprache einen besonderen Stellenwert ein und stellt nach Kozma und Russell (1997, 964) gewissermaßen einen „semantic glue“ dar. So werden die verschiedenen, im Unterrichtsgeschehen verwendeten Repräsentationen häufig explizit durch die Verbalsprache aufeinander bezogen.
3 Sprache und fachliche Kommunikationsfähigkeit im Kontext naturwissenschaftlicher Grundbildung Die Kommunikation über fachliche Inhalte ist natürlich keine direkte Spiegelung der Fachkommunikation in den Wissenschaften. Dennoch orientiert sie sich an fachlichen Begebenheiten und fachliche Kommunikationskompetenz muss sich an den charakteristischen Inhalten und Darstellungsformen des Faches entwickeln (Stäudel/ Franke-Braun/Parchmann 2008). Solche Erwägungen gehen auch in die Formulierung von Zielen für den naturwissenschaftlichen Unterricht ein. Wesentliches Bildungsziel des naturwissenschaftlichen Unterrichts ist, dass Schülerinnen und Schüler eine naturwissenschaftliche Grundbildung oder Scientific Literacy erwerben. Im Folgenden werden solche Aspekte naturwissenschaftlicher Grundbildung dargestellt, die für eine Betrachtung von sprachlichen und kommunikativen Aspekten des Unterrichts relevant sind.
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Es können verschiedene inhaltliche Konzeptionen von naturwissenschaftlicher Grundbildung unterschieden werden, wobei diese sich jedoch immer an Kompetenzen orientieren, die zur Bewältigung der Anforderungen moderner Wissensgesellschaften grundlegend sind und das Individuum befähigen am gesellschaftlichen Diskurs über naturwissenschaftliche Themen teilzuhaben (zur Übersicht siehe Gräber/Nentwig 2002). Im Sinne naturwissenschaftlicher Grundbildung, wie sie beispielsweise der PISAStudie zugrunde liegt, sollen Lernende in die Lage versetzt werden, naturwissenschaftliche Fragestellungen zu erkennen, Phänomene naturwissenschaftlich zu erklären und naturwissenschaftliche Beweise in realen wissenschafts- und technologiebezogenen Situationen zu nutzen, um diese zu interpretieren, zu lösen und entsprechende Entscheidungen zu treffen. (OECD 2007, 39)
Naturwissenschaftliche Grundbildung umfasst neben dem naturwissenschaftlichen Wissen und der Fähigkeit einer Person, dieses Wissen in verschiedenen Kontexten anzuwenden, gleichermaßen die Fähigkeiten, die charakteristischen Eigenschaften der Naturwissenschaften zu verstehen, zu erkennen, wie Naturwissenschaften und Technik die Gesellschaft beeinflussen, und die Bereitschaft sich mit naturwissenschaftlichen Inhalten auseinanderzusetzen, die von Interessenslage und Einstellung einer Person zu Naturwissenschaften beeinflusst ist (ebd., 41 f.). Eine Schlüsselstellung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs über naturwissenschaftliche Themen nimmt das Verständnis der naturwissenschaftlichen Sprache bzw. fachlicher Kommunikation ein: Language is an integral part of science and scientific literacy—language is a means to doing science and to constructing science understandings; language is also an end in that it is used to communicate about inquiries, procedures, and science understandings to other people so that they can make informed decisions and take informed actions. (Yore/Bisanz/Hand 2003, 691)
Die Rolle der Sprache im Kontext naturwissenschaftlicher Grundbildung heben Norris und Phillips (2003) hervor und unterscheiden explizit zwischen einer grundlegenden naturwissenschaftlichen Grundbildung (fundamental sense of scientific literacy) und einer abgeleiteten Dimension (derived sense of scientific literacy). Letztere bezieht sich auf das Wissen über und das Verständnis von naturwissenschaftlichen Konzepten und Prozessen. Die Betonung von Sprache erfolgt in der Beschreibung der grundlegenden Aspekte von Scientific Literacy. Der Tradition des literacy-Begriffs folgend verstehen Norris und Phillips (2003) darunter die Fähigkeiten naturwissenschaftliche Texte zu erfassen und zu produzieren – also eine domänenspezifische Lese- und Schreibfähigkeit. Fokussiert wird dabei, ähnlich der Konzeption zur Lesekompetenz in den PISA Studien, die aktive Bedeutungserschließung aus Texten, die das Verstehen, Interpretieren, Analysieren und Kritisieren dieser Texte umfasst.
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Diese Differenzierung der Aspekte naturwissenschaftlicher Grundbildung führen Yore, Pimm und Tuan (2007) weiter aus. In der abgeleiteten Dimension verorten sie das konzeptuelle und epistemologische Verständnis von Naturwissenschaften sowie ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Die grundlegende Dimension umfasst in dieser Ausdifferenzierung nicht nur eine domänenspezifische Lese- und Schreibfähigkeit. Ihr werden verschiedene kognitive, linguistische und technische Fähigkeiten zugeordnet, die es Lernenden ermöglichen naturwissenschaftliche Inhalte zu interpretieren, zu verstehen und zu kommunizieren. Neben kognitiven und metakognitiven Fähigkeiten, der Fähigkeit zum kritischen und logischen Denken, naturwissenschaftsbezogenen Einstellungen und Werthaltungen und dem angemessenen Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien wird insbesondere auch das Verständnis und Beherrschen der naturwissenschaftlichen Fachsprache herausgestellt. Ein umfassendes Verständnis von naturwissenschaftlichen Konzepten und Prozessen im Sinne der abgeleiteten Bedeutung ist ohne eine fundamentale Scientific literacy nicht möglich (Norris/Phillips 2003, 236 f.; Yore/Pimm/Tuan 2007, 568). Sprachbezogene Fähigkeiten spielen also eine wesentliche Rolle für den Erwerb naturwissenschaftlicher Grundbildung. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse werden jedoch, wie oben dargestellt, nicht nur über sprachliche Mittel kommuniziert. Der naturwissenschaftliche Diskurs ist geprägt durch die Verwendung verschiedener fachspezifischer Darstellungsformen, wie beispielsweise Diagramme, Tabellen, Gleichungen etc., die spezifische kulturelle Werkzeuge darstellen (siehe hierzu Kapitel 2). Tang und Moje (2010, 83) betonen die Relevanz dieser Kulturtechniken im Kontext der naturwissenschaftlichen Grundbildung: From our perspective, we see science literacy, and disciplinary literacy in general, as the cultural practices that encompass specific ways of talking, writing, viewing, drawing, graphing, and acting, within a specialized discourse community (Moje 2008). Not only does this incorporate what Norris and Phillips (2003) call the “fundamental sense” of science literacy, which is “about how readers cope with text, and how they use the resources of text to determine what they mean, or might mean” (p.231), but it also extends Norris and Phillips’s notion of text in two ways. First, text goes beyond words and textual elements to include multiple modes of representation. Second, the text typically used in the discourse community of science is unique in that it differs significantly from the text used in the home communities where most students come from.
Mit dieser Konzeption wird der Blick insbesondere auf die Besonderheiten des naturwissenschaftlichen Diskurses und auf eine fachliche Kommunikationsfähigkeit gelenkt. Ein Bildungsziel des naturwissenschaftlichen Unterrichts ist es hiernach, Heranwachsende nicht nur zum Umgang mit der naturwissenschaftlichen Fachsprache zu befähigen, sondern zu fachgerechter Kommunikation, die über rein verbalsprachliche Aspekte hinausgeht und den Besonderheiten des naturwissenschaftlichen Diskurses Rechnung trägt.
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4 Sprache und fachliche Kommunikation – Ziel dimensionen für den Biologieunterricht Welche Rolle sprachliche und kommunikative Aspekte für unterrichtliche Überlegungen zum Biologieunterricht spielen, soll hier am Beispiel der national gültigen Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss im Fach Biologie (Kultusministerkonferenz 2005) aufgezeigt werden. In diesen werden in einem eigenständigen Kompetenzbereich Kommunikation diesbezügliche Anforderungen dargelegt, die im Biologieunterricht an Schülerinnen und Schüler gestellt werden und konkrete Kompetenzen beschreiben, die die Schülerinnen und Schüler nach Abschluss der zehnten Klassenstufe erreicht haben sollen. Der Kompetenzbereich Kommunikation umfasst dabei das sach- und fachbezogene Erschließen und Austauschen von Informationen. Bereits im einleitenden Kapitel des Dokuments werden sprachliche Aspekte naturwissenschaftlicher Grundbildung herausgestellt und konstatiert, dass es Ziel naturwissenschaftlicher Grundbildung sei, „die Sprache […] der Naturwissenschaften zu verstehen, ihre Ergebnisse zu kommunizieren […]“ (ebd., 6). Fachliche Kommunikation wird sowohl als „direkter Lerngegenstand“ als auch als „Mittel im Lernprozess“ angesehen (ebd., 11). Es wird davon ausgegangen, dass fachbezogener Wissensund Spracherwerb einander bedingen und Kommunikationskompetenz grundlegend für das Lehren und Lernen von Biologie ist (ebd., 11). In der Beschreibung des Kompetenzbereichs werden sodann wesentliche Teilbereiche fachlicher Kommunikationskompetenz beschrieben. Hierzu gehören die Interpretation biologischer Informationen in verschiedenen Quellen und ein strukturierter, sach-, situations- und adressatengerechter Austausch von Informationen, womit Rezeptions- und Produktionsaspekte abgedeckt sind. Dabei werden insbesondere die Beziehung zwischen Fach- und Alltagssprache und die Relevanz unterschiedlicher Darstellungsformen (Repräsentationen), wie Bilder, Grafiken, Diagramme, Tabellen, Gleichungen, etc. für die fachliche Kommunikation herausgestellt (ebd., 11). Der adäquate Umgang mit Fachsprache und fachlichen Repräsentationsformen ist, wie in Kapitel 2 dargestellt, ein wesentlicher Teil naturwissenschaftlicher Grundbildung und spiegelt sich in den normativen Erwartungen an die Schülerinnen und Schüler für den Erwerb des mittleren Bildungsabschlusses wider, die im Folgenden etwas näher beschrieben werden. Für den Wissenserwerb und den Ausbau von Sprachkompetenz ist insbesondere die Wortsprache relevant. In den Standards wird dabei zwischen Fach- und Alltagssprache unterschieden und diese in Verbindung mit Schülervorstellungen gesetzt (ebd., 11). Konkretisiert wird von Schülerinnen und Schülern beispielsweise erwartet, dass sie biologische Phänomene erklären und Alltagsvorstellungen dazu in Beziehung setzen (K 8) oder den Bedeutungsgehalt von fachsprachlichen bzw. alltagssprachlichen Texten in strukturierter sprachlicher Darstellung beschreiben und
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erklären (K 9) (ebd., 15). Was dabei unter Fach- bzw. Alltagssprache zu verstehen ist, wird allerdings nicht näher spezifiziert. Der Umgang mit den in der Biologie genutzten Informationsträgern (Repräsentationsformen) ist Bestandteil einer erweiterten Lesekompetenz und spielt im Kontext der fachlichen Kommunikation eine wesentliche Rolle (ebd., 11). Von den Lernenden wird erwartet, dass sie diese Informationsträger interpretieren, sie aufeinander beziehen und selber erstellen. Beispielsweise beschreiben und erklären sie Originale und naturgetreue Abbildungen mit Zeichnungen oder idealtypischen Bildern (K 2) oder wenden idealtypische Darstellungen, Schemazeichnungen, Diagramme und Symbolsprache auf komplexe Sachverhalte an (K 10) (ebd., 15). Kompetenzmodelle, die diesen Kompetenzbereich insbesondere der empirischen Überprüfung zugänglich machen sollen, unterscheiden ähnliche Teilkompetenzen und Gesichtspunkte fachlicher Kommunikation. So wird im Projekt ESNaS (Evaluation der Standards in den Naturwissenschaften) zwischen den Teilbereichen Informationen erschließen, Informationen weitergeben und Argumentieren sowie den Aspekten Sprache/Fachsprache, Darstellungsform und Adressatenbezug/Sachbezug unterschieden (siehe hierzu z. B. Klöpfel/Schwanewedel/Mayer 2011). Eine empirische Überprüfung dieses Modells steht allerdings noch aus.
5 Sprache und fachliche Kommunikation als Qualitätsmerkmale des Biologieunterrichts: Theoretische Modelle und empirische Ergebnisse Sprachbezogene Kompetenzen und Aspekte fachlicher Kommunikation sind nicht nur Zieldimensionen des Unterrichts im Sinne der naturwissenschaftlichen Grundbildung. Eine aus fachdidaktischer Perspektive äußerst relevante Frage bezieht sich auf die Qualität des Fachunterrichts. Was macht guten Fachunterricht aus? Welche Merkmale zeichnet ein Unterricht aus, der dafür Sorge trägt, dass Schülerinnen und Schüler fachbezogene Kommunikationskompetenz erwerben können? Welche Rolle spielt dabei die Sprache? Welche Rolle spielen andere Darstellungsformen? Um diese Fragen zu beantworten, werden im Folgenden zunächst relevante theoretische Grundlagen und Modelle bezüglich der Unterrichtsqualität kurz dargelegt, um dann sprachliche und kommunikative Aspekte in diesem Bedingungsgefüge näher zu beleuchten. Anschließend werden Ergebnisse empirischer Studien dargestellt, die sprachliche oder kommunikative Aspekte des Biologieunterrichts in den Blick nehmen.
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5.1 Qualität von Biologieunterricht – Definition und Modelle Allgemein kann Unterrichtsqualität aus zwei Perspektiven betrachtet werden (Ditton 2002, 98 f.): Zum einen kann der Unterrichtsprozess anhand normativer Maßstäbe (z. B. eine fachlich adäquate Gestaltung des Unterrichts, auch bezogen auf die sprachliche Gestaltung) bewertet werden. Zum anderen kann Unterrichtsqualität am Output, z. B. dem angestrebten sprachbezogenen Kompetenzerwerb der Schülerinnen und Schüler, gemessen werden. Nach Einsiedler ist Unterrichtsqualität ein Bündel von Unterrichtsmerkmalen, die sich als ‚Bedingungsseite‘ (oder Prozessqualität) auf Unterrichts- und Erziehungsziele (‚Kriterienseite‘ oder Produktqualität) positiv auswirken, wobei die Kriterienseite überwiegend von normativen Festlegungen bestimmt ist und der Zusammenhang von Unterrichtsmerkmalen und Zielerreichung von empirischen Aussagen geleitet ist. (2002, 195)
Die Frage der Unterrichtsqualität hat in der empirischen Unterrichtsforschung eine lange Forschungstradition, die durch verschiedene Paradigmen der Lehr-Lernforschung bestimmt ist. Als Grundlage für die Untersuchung der Unterrichtsqualität zieht die aktuelle Lehr-Lernforschung vor allem mehrebenenanalytische Angebots-Nutzungs-Modelle heran (vgl. hierzu beispielsweise Helmke 2008, 73; Neuhaus 2007, 248). Unterricht wird dabei als Gelegenheitsstruktur oder Angebot verstanden, welches von der Lehrkraft basierend auf ihrer professionellen Kompetenz bereitgestellt wird und von den Schülerinnen und Schülern wahrgenommen, interpretiert und genutzt werden muss, um effektiv zu sein (Helmke 2008, 74; Lipowsky u. a. 2009, 528). Unterschiede auf der Ertragsseite, z. B. Leistungsunterschiede der Schülerinnen und Schüler, sind daher multipel determiniert. Die Unterrichtsqualität stellt dabei einen zentralen Einflussfaktor dar. Im Rahmen empirischer Studien konnten verschiedene Merkmalskriterien guter Prozessqualität identifiziert werden (für eine Übersicht siehe z. B. Ditton 2002, 202 ff.; Helmke 2008, 78 ff.; Neumann/Kauertz/Fischer 2012). Diese führen jedoch in der Regel nur allgemeine Qualitätsmerkmale, wie beispielsweise Aspekte der Klassenführung, auf, die fachunabhängig gelten. Verschiedene Autoren verweisen auf die Notwendigkeit, fachspezifische Unterrichtsqualitätskriterien zu identifizieren (Lipowsky 2009; Neuhaus 2007; Neumann/Kauertz/Fischer 2012), also der Frage nachzugehen, was z. B. guten Biologieunterricht ausmacht. Helmke (2002, 265 f.) argumentiert hierzu, dass die Diskussion nach der Publikation der TIMS-Studie und die jetzt, nach PISA 2000, einsetzenden Überlegungen […] immer deutlicher [zeigen], dass eine bereichsspezifische Sichtweise des Unterrichts und seiner Qualität, die die spezifische Eigenart des Faches, den Aufbau seines Curriculums, die sehr unterschiedlichen Fachdidaktiken außer Acht lässt, nicht mehr zeitgemäß ist.
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Für den Biologieunterricht stellt Neuhaus (2007, 248) in Anlehnung an Helmke ein modifiziertes Angebots-Nutzungs-Modell auf, welches neben fachunabhängigen auch fachspezifische Merkmale der Lehrperson, des Unterrichts und der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt. Der adäquate Umgang mit Fachsprache ist dabei ein wesentlicher Aspekt fachspezifischer Unterrichtsqualität im Biologieunterricht (Neuhaus 2007, 248; Nitz 2012, 16f; Wüsten 2010, 29 ff.). Natürlich sei an dieser Stelle angemerkt, dass der Umgang mit der jeweiligen Fachsprache auch für andere Fächer ein relevantes Qualitätsmerkmal ist. Die Ausgestaltung dieses Merkmals auf Unterrichtsebene unterliegt dabei jedoch fach- bzw. inhaltsspezifischen Strukturen und spiegelt Eigenheiten der zugrundeliegenden Fachdisziplin wider (vgl. Wüsten 2010). Die Kommunikation im Biologieunterricht über biologische Themen ist demzufolge von den Besonderheiten der biologischen Fachsprache gekennzeichnet (siehe Kapitel 2), muss aber gleichzeitig auch den Erfahrungen und der divergierenden Wissensstruktur der Beteiligten Rechnung tragen. Die Sprache im Unterricht bildet demzufolge nicht einfach nur eine vereinfachte wissenschaftliche Fachsprache ab, sondern ist unter Einbezug der Lernerperspektive didaktisch zu rekonstruieren (vgl. Harms/ Kattmann, 2013, 380). In empirischen Untersuchungen zu diesen Aspekten fachspezifischer Unterrichtsqualität rücken Neuhaus (2007) und Wüsten (2010) vor allem die Auswahl und Sequenzierung von Fachbegriffen in den Mittelpunkt, um dem umfangreichen Begriffssystem der Biologie Rechnung zu tragen (siehe oben, Kapitel 2). Nitz (2012) bezieht sich auf Aspekte fachlicher Kommunikationsfähigkeit und inkludiert den Umgang mit fachspezifischen Repräsentationsformen, um die charakteristischen Eigenschaften des naturwissenschaftlichen Diskurses vollständig abzudecken.
5.2 Qualität von Biologieunterricht – Empirische Ergebnisse zu sprachlichen und kommunikativen Aspekten im naturwissenschaftlichen Unterricht Nur wenige empirische Studien stellen die Untersuchung von sprachlichen und kommunikativen Aspekten explizit in den Kontext der fachspezifischen Unterrichtsqualität und analysieren diese Unterrichtsmerkmale mit Blick auf den Kompetenzerwerb von Schülerinnen und Schülern. Dennoch lassen sich auch in anderen Kontexten untersuchte Aspekte des Biologieunterrichts bzw. des naturwissenschaftlichen Unterrichts unter dem Gesichtspunkt von fachspezifischen Unterrichtsqualitätsmerkmalen betrachten. Unterrichtssprache und Unterrichtsmaterialien wurden insbesondere in Hinblick auf die Verwendung von Fachbegriffen untersucht. Gerade das Begriffssystem der Biologie ist, selbst verglichen mit der Chemie oder Physik, sehr umfangreich (Wüsten 2010, 29). Weiterhin stellen Fachbegriffe im Rahmen des Wissenserwerbs und dessen Überprüfung häufig wesentliche Bezugspunkte dar (Rincke 2010, 240). Empirische Studien zeigten, dass die Schülerinnen und Schüler im Biologieunterricht mit einer
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immensen Fülle von Fachbegriffen in Berührung kommen, die häufig so speziell sind, dass sie nur wenige Male im Unterricht auftreten (z. B. Berck/Graf 1992). Neben daraus resultierenden Verständnisschwierigkeiten auf Schülerseite rufen auch insbesondere alltägliche Begriffe, die im naturwissenschaftlichen Kontext genutzt werden, Verständnisschwierigkeiten hervor (Wellington/Osborne 2001). Aus fachdidaktischer Perspektive wird daher im Sinne einer Begriffsökonomie empfohlen, nur die nötigsten Fachbegriffe gezielt einzusetzen (Berck/Graf 1992, 83; Harms/Kattmann 2013, 383). Welche Begriffe im Rahmen einer Unterrichtseinheit als am relevantesten angesehen werden, ist dann Gegenstand fachdidaktischer Überlegungen und geprägt von Zielvorstellungen. Die Anzahl der Fachbegriffe im Biologieunterricht wurde in zwei empirischen Studien konkret im Zusammenhang mit Schülerleistungen untersucht. Im Rahmen einer Videoanalyse, in der die Fachbegriffe im Biologieunterricht gezählt wurden, konnte Wüsten (2010) keinen empirischen Zusammenhang zwischen der objektiv ermittelten Anzahl der Fachbegriffe und den im Anschluss erhobenen Schülerleistungen feststellen. Wird jedoch die Anzahl von Fachbegriffen im Unterricht durch die Schülerinnen und Schüler selbst eingeschätzt, zeigte sich, dass die individuelle Wahrnehmung des einzelnen Schülers, ob im Unterricht nun viele oder wenige Fachbegriffe genutzt wurden, mit seiner/ihrer jeweiligen Leistung zusammenhängt (Nitz/Ainsworth/Nerdel/Prechtl 2014): Lernende, die mehr Fachbegriffe in ihrem Unterricht wahrgenommen hatten, zeigten geringere Leistungen im Posttest. Ausschlaggebend für die Unterrichtsgestaltung wäre demnach weniger die objektive Anzahl von Fachbegriffen, die im Biologieunterricht verwendet werden, sondern die individuelle Wahrnehmung von Fachbegriffen durch die einzelnen Schülerinnen und Schüler. Im Sinne eines differenzierenden Unterrichts, der sprachliche Aspekte berücksichtigt, sollten deshalb der Kenntnisstand des einzelnen Lernenden bezüglich der verwendeten Fachbegriffe diagnostiziert und entsprechende Unterstützungsmaßnahmen angeboten werden. Ein weiterer sprachlicher Aspekt des Unterrichts, der unter fachdidaktischer Perspektive insbesondere für den Physikunterricht untersucht wurde, ist der Wechsel zwischen Fach- und Alltagssprache, da eine Vermischung von Sprachebenen im Unterricht problematisch ist. Obgleich eine eindeutige Abgrenzung von Fach- und Alltagssprache (auch unter linguistischen Gesichtspunkten) schwerfällt, da Elemente der Alltagssprache in die Fachsprache einfließen und umgekehrt (Harms/Kattmann 2013, 381; Rincke 2010), sollten im Unterricht Unterschiede zwischen fach- und alltagssprachlichen Ausdrucksformen thematisiert werden (Lemke 1990; Rincke 2010). Insbesondere die Polysemie von Begriffen auf Ebene der Fach- und Alltagssprache, z. B. bei Begriffen wie Herz oder Energie, birgt Probleme, da unterschiedliche Konzepte (Alltagsvorstellung vs. fachlich korrekte Vorstellung) durch dieselben Wörter ausgedrückt werden (Fischer 1998). Weitere Studien untersuchten sprachliche Aspekte des naturwissenschaftlichen Unterrichts vor dem Hintergrund sozialkonstruktivistischer Ansätze, wonach sprachlicher Wissenserwerb durch das kommunikative Aushandeln von Begriffsbedeutun-
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gen im Diskurs bestimmt ist. Die vorherrschende asymmetrische Kommunikationskultur insbesondere im naturwissenschaftlichen Unterricht, die sich durch ein durch die Lehrkraft dominiertes Unterrichtsgespräch und eine geringe Sprachaktivität der Lernenden auszeichnet, verhindert dabei das kommunikative Aushandeln von Begriffsbedeutungen (z. B. Mortimer/Scott 2000; Sumfleth/Pitton1998). Nach Stäudel, Franke-Braun und Parchmann (2008) müssen sich Schülerkompetenzen an den charakteristischen Inhalten und Darstellungsformen eines Faches entwickeln. Eine explizite Untersuchung der Prozessqualität des Biologieunterrichts bezogen auf den Umgang mit verschiedenen Darstellungsformen und dessen Wirkung auf Schülerleistungen führten Nitz u. a. (2014) durch. Hierbei wurde auf der Grundlage vorangegangener Studien im Physikunterricht (z. B. Hubber/Tytler/Hastam 2010) angenommen, dass eine explizite Thematisierung repräsentationaler Aspekte als Teil fachspezifischer Unterrichtsqualität eine positive Auswirkung auf Schülerleistungen hat. Ausgehend von dieser Annahme wurde untersucht, wie häufig im Biologieunterricht explizit die Interpretation und Konstruktion verschiedener naturwissenschaftlicher Repräsentationen angesprochen wurde. Als unterrichtliches Thema wurde eine Unterrichtseinheit der gymnasialen Oberstufe zum Thema Fotosynthese ausgewählt. Einbezogen wurden verbale, bildliche und symbolische Repräsentationen, die für die Kommunikation über das Unterrichtsthema relevant sind. Hierzu gehörten beispielsweise Fachtexte, die die Abläufe der Fotosynthese beschrieben, Diagramme, die die Abhängigkeit der Fotosyntheseleistung von Außenfaktoren darstellten, Schemazeichnungen, die Abläufe zusammenfassten sowie Reaktionsgleichungen und Strukturformeln der beteiligten Stoffe. Die Schülerinnen und Schüler wurden nach der Unterrichtseinheit aufgefordert, ihren Biologieunterricht anhand eines Fragebogens mit entsprechenden Items (Nitz/Prechtl/Nerdel 2014) einzuschätzen. Beispielsweise wurde gefragt, ob im Biologieunterricht darüber gesprochen wird, welche Variable welcher Achse bei Achsendiagrammen zuzuordnen ist. Aus Schülersicht wurde der Umgang mit den genannten Repräsentationen bis auf die Interpretation von bildlichen Repräsentationen relativ selten im Verlauf des Unterrichts explizit angesprochen. Die angenommene Hypothese, dass eine häufige explizite Thematisierung repräsentationaler Aspekte einen positiven Einfluss auf die Schülerleistungen hat, wurde mit Mehrebenen-Regressionsanalysen überprüft und konnte nicht für alle Aspekte bestätigt werden (Nitz u. a. 2014). Vielmehr zeigte sich ein differenzielles Wirkungsmuster der Prozessqualität auf die Schülerleistung. Ausschlaggebend für Schülerleistungen im Umgang mit Repräsentationen war insbesondere der Umgang mit bildlichen Repräsentationen. Je häufiger in den Klassen thematisiert wurde, wie bildliche Repräsentationen zu interpretieren sind, desto besser waren die Schülerleistungen. Überraschenderweise hatte die Häufigkeit, mit der die Konstruktion bildlicher Repräsentationen thematisiert wurde, einen negativen Effekt auf die Schülerleistungen. Insbesondere dieses Ergebnis, das im Widerspruch zu anderen Forschungsarbeiten steht (für eine Übersicht siehe z. B. Ainsworth u. a. 2011), wirft weitere Forschungsfragen auf, die im Folgenden aufgezeigt werden.
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6 Desiderata und Ausblick Sprachliche und kommunikative Aspekte sind integrale Bestandteile der Naturwissenschaften und naturwissenschaftlicher Grundbildung. Dementsprechend ist die Förderung fachbezogener Sprach- und Kommunikationskompetenz eine wesentliche Aufgabe des Biologieunterrichts. Ziel ist hier, dass Schülerinnen und Schüler eine Kommunikationsfähigkeit im Fach erwerben, die sie auf Anforderungen der heutigen Wissensgesellschaft vorbereitet und sich auf naturwissenschaftliche Themen in gesellschaftlichen, politischen und persönlichen Kontexten erstreckt. Vor dem Hintergrund, dass sich der naturwissenschaftliche Diskurs jedoch nicht nur über verbalsprachliche Anteile abbilden lässt, schließt eine umfassende Kommunikationskompetenz in der Biologie den Umgang mit fachspezifischen Darstellungsformen ein. Aus fachdidaktischer Perspektive stellt sich die Frage, wie fachliche Kommunikationskompetenz im Biologieunterricht erworben wird und welche Merkmale des Unterrichts relevant für eine Förderung dieser Kompetenz sind. Einige empirische Studien geben erste Hinweise auf mögliche Unterrichtsqualitätskriterien. Dennoch fehlen in diesem Bereich weiterführende Studien, die diese Merkmale vertiefend betrachten sowie weitere Sprache und Kommunikation berührende Aspekte in den Blick nehmen. So wurden in bisherigen Studien fachsprachliche Aspekte des Biologieunterrichts vor allem unter lexikalischen Gesichtspunkten betrachtet. Um die Komplexität fachlicher Kommunikationsprozesse im Unterricht adäquat beschreiben zu können, bietet es sich in zukünftigen Studien an, quantitative Ansätze um qualitative Ansätze zu ergänzen sowie pragmatische und kognitionslinguistische Perspektiven einzubeziehen (vgl. Rincke 2010). Gleiches gilt für die Einbettung verschiedener Repräsentationsformen in den Biologieunterricht. Lerngelegenheiten, die die Rolle und Funktionsweise von fachspezifischen Repräsentationen explizit machen und den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, in vielfältigen Kontexten aktiv mit unterschiedlichen Repräsentationsformen umzugehen, sind von entscheidender Bedeutung für die Kompetenzentwicklung (vgl. z. B. Hubber/Tytler/Hastam 2010). Eine detaillierte Analyse von Gelingensbedingungen unter Rückbezug auf die Kompetenz entwicklung der Lernenden steht allerdings noch aus. In diesem Kontext sollten darüber hinaus Maßnahmen entwickelt und überprüft werden, die Schülerinnen und Schüler bei sprachlichen Produktionsprozessen unterstützen. Auch muss untersucht werden, wie die Konstruktion weiterer Repräsentationsarten im Unterricht thematisiert wird, so dass das Lernpotential dieser Aktivitäten ausgenutzt wird und zur Kompetenzentwicklung beiträgt (Nitz u. a. 2014). Nicht nur vor dem Hintergrund sprachlicher Heterogenität müssen die (fach-) sprachlichen Anforderungen, die an Schülerinnen und Schüler im Biologieunterricht gestellt werden, differenziert betrachtet werden. Sprachsensible Unterrichtsmaterialien für verschiedene Bereiche der Naturwissenschaften stehen bereits zur Verfügung (Leisen 2013), jedoch fehlt bisher Evidenz für deren Förderlichkeit bezogen auf das
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sprachliche und fachliche Lernen im Biologieunterricht insbesondere unter Berücksichtigung individueller Unterschiede auf Schülerseite. Ausgehend von empirischen Studien, die die Rolle von Sprache und Kommunikation im Biologieunterricht in den Blick nehmen und Gelingensbedingungen für die Entwicklung von fachbezogener Kommunikationskompetenz beschreiben, sind dann evidenzbasiert Instrumentarien für Lehrkräfte zu entwickeln bzw. weiterzuentwickeln, die eine Förderung von Schülerkompetenzen im Unterricht ermöglichen, um so einen wesentlichen Beitrag zur naturwissenschaftlichen Grundbildung zu leisten.
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Ingrid Gogolin/Joana Duarte
23. Bildungssprache Abstract: Der Begriff ‚Bildungssprache‘, wie er in diesem Beitrag verstanden und erläutert wird, hat in einem knappen Jahrzehnt sehr weite Verbreitung gefunden. Er wurde auf der Grundlage von Beobachtungen zu den Gründen dafür entwickelt, dass Schüler(innen) mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem geringere Leistungen erzielen als solche aus altansässigen Familien. Solche Gründe liegen in benachteiligenden Aspekten der Lebenslage, etwa der sozio-ökonomischen Lage zugewanderter Familien. Untersuchungen zeigen aber, dass diese nicht zur Erklärung differenziellen Bildungserfolgs von Schüler(inne)n mit und ohne Migrationshintergrund ausreichen. In der Bildungsforschung wurde daher die Frage gestellt, welche Merkmale der sprachlichen Gestaltung von Schule und Unterricht für die Differenzen mitverantwortlich sind, und komplementär dazu: wie diese sich zu den sprachlichen Bildungsvoraussetzungen der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund verhalten. Unser Beitrag führt in die Entstehungsgeschichte sowie die theoretische Fundierung des Begriffs Bildungssprache ein. Vorgestellt werden sodann Forschungsergebnisse zur Gestalt von Bildungssprache im Deutschen sowie zum Lehren und Lernen dieser Variante der Sprache. 1 Einleitung 2 Bildungssprache – die Genese eines Leitbegriffs 3 Sprachwissenschaftliche Fundierung von ‚Bildungssprache‘ 4 Merkmale des Deutschen als Bildungssprache 5 Familiäre Sprachpraxis als Quelle für Bildungssprache 6 Bildungssprache, Mehrsprachigkeit und schulischer Erfolg 7 Bildungssprache und Lehrerhandeln 8 Fazit 9 Literatur
1 Einleitung Der Begriff Bildungssprache findet sich seit den frühen 2000er Jahren weit verbreitet in Texten der unterschiedlichsten Provenienz, die sich im engeren oder weiteren Sinne um die Frage drehen, wie man Kinder und Jugendliche – unabhängig von ihrer Herkunft – zu gutem Bildungserfolg führen kann. Er findet sich in bildungspolitischen Texten (Bandenburger u. a. 2012), in Richtlinien und Bildungsplänen (Brameier/Frae drich 2011; von Rein u. a. 2011), in Berichten aus der Bildungspraxis oder/und (Jäger 2008) in didaktischen und wissenschaftlichen Publikationen (Gogolin u. a. 2010; Lange/Gogolin 2010; Gogolin/Lange 2011; Gogolin u. a. 2013). Anlass für die ‚Karri-
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ere‘ dieses Begriffs war es, dass wiederkehrend enorme Disparitäten im Bildungserfolg und in gemessenen Kompetenzen zwischen Kindern und Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund festgestellt wurden. Der Versuch der Erklärung dieses Befunds richtete sich vor allem auf Merkmale der Lebenslage der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sowie ihre speziellen Bildungsvoraussetzungen. Jenseits davon aber etablierte sich auch ein Forschungszusammenhang, in dem die Frage leitend war, welche Merkmale der Bildungseinrichtungen und ihrer Praxis auch zu dem unerwünschten Resultat der Bildungsbenachteiligung beitragen. Aus diesem Forschungszusammenhang stammt das Nachdenken über Bildungssprache in dem Verständnis, das in diesem Beitrag vorgestellt wird. Grundannahme ist, dass spezielle Eigenschaften schulischen Sprachgebrauchs mitverantwortlich dafür sind, dass Kindern oder Jugendlichen Zugang zum schulisch relevanten Wissen eröffnet wird oder verschlossen bleibt. Je nach ihrer Lebenslage bringen die Lernenden sprachliche Bildungsvoraussetzungen in die Schule und den Unterricht mit, die diesen Eigenschaften näher oder ferner sind. Je näher die Voraussetzungen den sprachlichen Anforderungen der Bildungsinstitution sind, desto eher – so die Grundannahme – eröffnen sich den Lernenden Chancen auf Bildungserfolg. Verschiedene Lebensbedingungen machen es mehr oder weniger wahrscheinlich, dass Kinder oder Jugendliche die bildungsrelevanten sprachlichen Mittel in die Bildungseinrichtung mitbringen. Das Leben in einer Familie mit Migrationsgeschichte, das möglicherweise zudem geprägt ist durch materielle Sorgen und eine geringe Bildungsnähe der Familie, gehört zu den Bedingungen, die es weniger wahrscheinlich machen, dass reiche bildungsrelevante Spracherfahrungen vorliegen. Diese Grundannahmen leiten die Forschung und Entwicklung, die sich unter dem Thema Bildungssprache im Verständnis dieses Beitrags versammeln lassen. Wir stellen im zweiten Kapitel die Genese des Begriffs genauer vor und beleuchten die verschiedenen Facetten seiner Bedeutung je nachdem, welche Fragestellung und disziplinäre Perspektive im Vordergrund steht. Das dritte Kapitel unseres Beitrags richtet sich auf die eingehendere Erläuterung sprachwissenschaftlicher Grundlagen für die Füllung des Begriffs Bildungssprache. Vor diesem Hintergrund wird im vierten Kapitel die Forschung vorgestellt, die sich mit der Identifizierung und Beschreibung von Merkmalen der deutschen Sprache als Bildungssprache befasst. Die folgenden Kapitel unseres Beitrags richten sich auf die Frage, welche Faktoren daran mitwirken, dass Kinder sich mit der Aneignung bildungssprachlicher Mittel leichter oder schwerer tun. Zunächst berichten wir über die Forschung zum Einfluss der familialen Sprachpraxis auf die Entwicklung bildungssprachlicher Fähigkeiten. Daran anschließend beziehen wir uns auf Studien, die nach den Voraussetzungen fragen, die Lehrkräfte für die Erfüllung von Aufgaben der Förderung bildungssprachlicher Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern mitbringen. Wir schließen mit einem zusammenfassenden Fazit, in dem noch einmal reflektiert wird, auf welches gesicherte Wissen zum Problem Bildungssprache wir uns stützen können – und wo noch Forschungsbedarf besteht.
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2 Bildungssprache – die Genese eines Leitbegriffs Die heute verbreitete Bedeutung des Begriffs Bildungssprache ist das Resultat einer eklektischen Genesis, die sich in unterschiedlichen Forschungsdisziplinen vollzog und sich verschiedener Perspektiven und Forschungsergebnisse bedient hat. Bil dungssprache ist im pädagogischen Sprachgebrauch keine neue Erfindung. Der Begriff taucht in Texten des 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts bereits auf. Dabei wurde er vor allem benutzt, um eine Hierarchisierung der verschiedenen Varianten zum Ausdruck zu bringen, die jede Sprache aufweist. Es ging also nicht um die Bezeichnung einer Sprache (also etwa Deutsch, Griechisch). Vielmehr ging es darum, eine ‚besonders wertvolle‘ Varietät zu kennzeichnen. In diesem Sinne wird Bildungssprache vor allem als Gegensatz zur Mundart aufgefasst: Sie ist die Sprache der Gebildeten und gehobenen Sozialschichten, während die weniger Begüterten und Angesehenen sich der Mundarten bedienen. Ein Beispiel für dieses Verständnis findet sich in einem pädagogischen Lexikon aus den 1920er Jahren, in dem zum Stichwort Bildungssprache die Beschreibung geboten wird, dass es sich um eine ‚hohe‘ und ‚reine‘ Sprache handele (Drach 1928). Dieses Verständnis des Begriffs ist vermutlich im Alltagssprachgebrauch auch heute noch weit verbreitet. Davon unterscheidet sich jedoch der wissenschaftliche Sprachgebrauch, der sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts, und besonders intensiv seit Anfang der 2000er Jahre, im Kontext des Nachdenkens über Zusammenhänge zwischen Mehrsprachigkeit und Bildung herauskristallisiert hat. Diesem wissenschaftlichen Sprachgebrauch liegen empiriebasierte bildungswissenschaftliche und linguistische Erkenntnisse zugrunde. Mario Wandruszka (1981) verwendete den Begriff der Bildungssprache als einer der ersten Autoren, die auf die Verschiedenheit der Varietäten einer Sprache hinwiesen. Seine Intention war es, aus linguistischer Perspektive die unterschiedlichen innersprachlichen Varianten einer Sprache aufzuzeigen. Damit verband er das Ziel, den Begriff der Mehrsprachigkeit auch als zutreffend für die Kennzeichnung einer einzelnen Sprache in das Bewusstsein zu heben. Nach diesem Verständnis verfügt jeder Mensch über – mehr oder weniger – verschiedene Ausdrucksweisen seiner Sprache, die jeweils in unterschiedlichen Kontexten funktional und angemessen sind. Die Verschiedenheit der Funktionalität weist zugleich darauf hin, dass aus dieser linguistischen Perspektive alle Varianten gleichwertig sind, vorausgesetzt, dass sie im angemessenen Kontext benutzt werden. Bildungssprache in diesem Verständnis ist die Variante, die für Bildungskontexte angemessen und in diesen funktional ist. Im Zusammenhang mit der Forschung über die Folgen der Migration für Bildung und Erziehung wurde diese Sichtweise aufgegriffen, jedoch in Nuancen differenziert. Es tauchte die zusätzliche Frage auf, welche Zusammenhänge zwischen der Beherrschung der Sprachvariante Bildungssprache und der Chance auf Bildungserfolg bestehen. Besonders intensiv wurde diese Frage zuerst in den Forschungen und Entwicklungen behandelt, die im Kontext des Modellprogramms FörMig (Förderung von
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Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund) initiiert wurden (Gogolin u. a. 2011). Die in diesem Kontext entwickelte Definition des Begriffs ist weit verbreitet; an ihrer empirisch begründeten inhaltlichen Füllung wird sowohl in theoretischen als auch in empirischen Kontexten intensiv gearbeitet (Berendes u. a. 2013; Gantefort 2013). In dieser Sichtweise werden zusätzlich zu den sprachlichen die sozial-strukturellen Aspekte berücksichtigt, die mit Sprachaneignung und Sprachgebrauch verbunden sind. Ein Ausgangspunkt waren Basil Bernsteins schichtbezogene Studien zum Zusammenhang zwischen sprachlicher Sozialisation und Schulerfolgschancen (Bernstein 1972; Bernstein 1974; s. a. Steinig, Art. 4 in diesem Band). Diese betonten die Relevanz sozio-ökonomischer Lebensbedingungen für die Entwicklung eines ela borierten Sprachcodes. Dieser Code (also diese Variante von Sprache) umfasst auch schul- und bildungsrelevante Merkmale des Sprachgebrauchs. In seiner Gestalt unterscheidet er sich von dem restringierten Code, in dem spezifische Merkmale normorientierter bildungsrelevanter Sprechweisen zu beträchtlichen Teilen fehlen. Bernstein legte dar, dass in bürgerlich-bildungsorientierten Familien ein hohes Maß an Überlappung zwischen außer- und innerschulischen Kommunikationsmerkmalen vorfindlich sei. Die Kinder seien mit einem elaborierten Code schon aus familialer Praxis vertraut, was erhöhte Bildungschancen für sie mit sich bringe. Bernstein sieht somit einen der Hauptgründe für die Reproduktion von Chancenungleichheit im Bildungssystem darin, dass schichtspezifische Unterschiede im Zugang zum schulspezifischen Sprachcode bestehen. Ein elaborierter Code zeichnet sich nach Bernstein durch detailreichen, kontextentbundenen und begrifflich expliziten Sprachgebrauch aus (Bernstein 1964; Schleppegrell 2001; Schleppegrell 2004; Harren 2011). Hieran wurde bei der Einführung des Begriffs der Bildungssprache im Kontext der Forschung über Folgen der Migration für Bildung und Erziehung angeknüpft. Die Grundidee von sprachbezogenen Bildungsbarrieren wurde nun aber angereichert um eine weitere Theoriedimension, nämlich das Zusammenspiel von Sprache und Macht bzw. gesellschaftlicher Teilhabe. Aufgegriffen wurde hierfür Bourdieus Begriff der legitimen Sprache (Bourdieu 1991), verbunden mit seinen Reflexionen darüber, welchen Stellenwert der gesellschaftliche Ort eines Menschen für die Anerkennung von Sprachvermögen besitzt. Als ‚illegitim‘ gilt demnach nicht das in irgendeiner Weise von einer Norm abweichende Sprechen an und für sich: Den Mitgliedern herrschender Klassen werden Normverstöße (etwa das dialektgefärbte Sprechen) ‚verziehen‘; bei den Mitgliedern sozialer Unterklassen werden sie als Ausweis der niederen Klassenzugehörigkeit interpretiert und entsprechend geahndet. Im Kontext der Folgen von Migration für Bildung und Erziehung wird dieser Mechanismus daran deutlich, dass der ‚fremde Akzent‘ eines Kindes aus einer hochangesehenen Familie schmunzelnd, wenn nicht wohlwollend zur Kenntnis genommen wird, wogegen ein vergleichbarer Akzent beim Kind aus einer ‚Migranten-Arbeiterfamilie‘ als Kennzeichen für Unvermögen oder Gefährdung gewertet wird.
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Einen weiteren Grundstein für die Füllung des Begriffs Bildungssprache nach unserem Verständnis bilden Erkenntnisse über Zusammenhänge zwischen sprachlichen Anforderungen und den mit ihnen verbundenen kognitiven Leistungen, auf die vor allem in der Zweitspracherwerbsforschung in Kanada und den USA aufmerksam gemacht wurde. Vorreiter hier ist Jim Cummins (Cummins 1979; Cummins 2000), der die Begriffe Cognitive Academic Language Proficiency (CALP) und Basic Interpersonal Communicative Skills (BICS) prägte, um die in Bildungskontexten gesetzten Anforderungen von denen im alltäglichen Sprachgebrauch zu unterscheiden. In CALP sind demnach eng an die schriftförmige Sprache gebundene Fähigkeiten enthalten, die kognitiv anspruchsvoll und abstrakt sind und in Lehr-Lern-Kontexten gebraucht werden. BICS hingegen sei die sprachliche Form, in der sich alltägliche Verständigung – tendenziell im Medium der Mündlichkeit – vollzieht. Ein ungenügender Erwerb von CALP sei also mitverantwortlich für schulischen Misserfolg. Bei Kindern, die in zwei oder mehr Sprachen leben, nimmt Cummins an, dass grundlegendes sprachliches Wissen, das in einer der Sprachen bereits erworben wurde, auf die nächste(n) übertragen werden kann. Er formulierte die Interdepen denzhypothese (Cummins 1991), die von der Existenz einer common underlying pro ficiency ausgeht. Die metasprachlichen Fähigkeiten, also implizites oder explizites Wissen über Sprachen, die einen Teil von CALP ausmachen, sind demnach einzelsprachunabhängig und übertragbar. Das Wissen betrifft zum Beispiel Ansprüche, die an die Gestaltung von Äußerungen gestellt werden. Hier wird angeschlossen an Ryles (Ryle 1973) Unterscheidung von sprachlichem Wissen und sprachlichem Können. Das Erste betrifft die Funktionsweisen von Sprachen, das Zweite den konkreten Einsatz der einzelsprachlichen Mittel. Im Falle zwei- oder mehrsprachiger Kinder stelle es einen Vorteil dar, wenn sie ausdrücklich dazu angehalten und befähigt werden, ihr implizites oder explizites Wissen über Sprache für das Lernen von Sprache einzusetzen (Cummins 2006). Mit diesem Hinweis knüpft Cummins auch an Ergebnisse der psycholinguistischen Forschung an, in der der Aspekt des Wissens über Sprache im Vergleich einsprachig und zwei- oder mehrsprachig aufwachsender und lebender Menschen untersucht wird. Gezeigt wird hier, dass die Zwei- und Mehrsprachigen solches Wissen in besonderer Weise besitzen. Daher ist Zwei- oder Mehrsprachigkeit mit kognitiven Vorteilen verbunden, die im Übrigen nicht nur in der Kindheit bestehen, sondern auch im Alter (Bialystok 2001; Bialystok/Poarch 2014). An der Auffassung, dass es spezifische Sprachregister gibt, die einen Schlüssel zum Bildungserfolg bergen, und dass die Verwendung dieser Register mit höheren kognitiven Leistungen verbunden sei, wird auch Kritik geübt (Rolstad 2005). Sie verleite zu einer Hierarchisierung zwischen literaten und nicht-literaten Sprechern und zu einer defizitorientierten Sichtweise auf Menschen, die noch dabei sind, ihre Sprachkompetenzen zu entwickeln (Gee 1986). In der Beschreibung von academic language sei ein ‚Mittelklassen-Bias‘ enthalten (Hart/Risley 1995), der der Sprachpraxis der höheren Schichten den höheren Wert zuerkenne. Der hier geführte ethischmoralische Diskurs verkennt freilich zum einen, dass die gesellschaftliche Bewertung
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sprachlicher Fähigkeiten nicht durch das Bildungssystem bestimmt und veränderbar ist; hier wird die Machtfülle dieses Systems verkannt. Zum anderen wird übersehen, dass der Zugang zu möglichst vielen Varianten von Sprache auch gesellschaftliche Teilhabechancen mit sich bringt. Die ethisch begründete Anerkennung der prinzipiellen Gleichwertigkeit von Sprachen und Varietäten steht deshalb in keinerlei Widerspruch dazu, dass es jungen Menschen ermöglicht wird, sich verschiedene, funktional differenzierte und in ihrer Form unterschiedliche Varietäten anzueignen. Die hier angesprochenen Theorien, Forschungsergebnisse und Diskurse sind im Kontext der deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Forschung über Folgen der Migration miteinander verknüpft worden. Insbesondere bei der Entwicklung der Grundlagen für das Modellprogramm FörMig wurden sie aufgegriffen und auf den deutschen Bildungsraum übertragen. Für den deutschen Sprachraum war eine unmittelbare Übernahme des Begriffs academic language, der in der englischen Forschung verbreitet ist, aufgrund der üblichen Bindung an den tertiären Bildungsbereich – also die Universitäten und Hochschulen – nicht adäquat. Hingegen erschien der Begriff der Bildungssprache, wie er Ende der 1970er Jahre von Jürgen Habermas definiert wurde, des Aufgreifens wert (Habermas 1977). In seinen Überlegungen zum unterschiedlichen Sprachgebrauch in Alltag, Schule und Universität verwendete Habermas den Begriff der Bildungssprache für die Bezeichnung desjenigen Sprachregisters, mit dessen Hilfe man sich in der Schulbildung Wissen verschaffen kann (Gogolin 2007). Damit wird die spezifische Bedeutung dieser Form von Sprache für die schulische Laufbahn deutlich: Einerseits besitzt Bildungssprache die Funktion des Transportmittels für die Wissensbestände, zu der die Schulbildung Zugang verschaffen soll, und andererseits wird die Schule selbst als diejenige Instanz identifiziert, die die Verantwortung dafür übernimmt, dass sich Lernende die erforderlichen Kompetenzen aneignen können. Somit fand ein Rekurs des ‚neuen Begriffs‘ auf europäische Bildungstraditionen statt, da auf die Bringschuld der Schule als zuständige Institution für die Aneignung von Bildung verwiesen wird. Zusammenfassend kann der Diskussionsstand zum Begriff der Bildungssprache wie folgt umrissen werden: a) Soziologisch gesehen ist Bildungssprache ein soziales Distinktionsmittel; das Verfügen über diese Form der Sprache kann als Ausdruck kulturellen Kapitals (Bourdieu 1992) verstanden werden. b) Erziehungswissenschaftlich betrachtet ist Bildungssprache das Register, in dem Wissensaneignung in Bildungsinstitutionen erfolgt und zu dem diese Institutionen deshalb Zugang verschaffen müssen. c) Linguistisch betrachtet besitzt Bildungssprache die spezifischen Merkmale konzeptioneller Schriftlichkeit, auch wenn sie im mündlichen Medium gebraucht wird. Zudem ist sie in Varianten ausdifferenziert, die verschiedene Funktionen erfüllen – etwa fachliche Varianten. d) Bildungssprache wird mit abstrakten, kognitiven Leistungen assoziiert (Morek/ Heller 2012).
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Zwei- oder Mehrsprachigkeit sollte einerseits gute Voraussetzungen für die Aneignung von Bildungssprache mit sich bringen, da sie mit kognitiven Vorteilen verbunden sind. Gegenwärtig ist aber – mindestens im deutschen Bildungssystem – nicht erkennbar, dass diese Vorteile sich niederschlagen in guten Lernergebnissen oder hohen Bildungserfolgen. Die sprachtheoretische und sprachwissenschaftliche Charakterisierung von Bildungssprache als Register sind für die deutsche Sprache nicht so vorangeschritten wie für das Englische, aber erste Grundlagen sind vorhanden (Lengyel 2010; Gogolin/ Lange 2011; Morek/Heller 2012; Gantefort 2013). Seit seiner Wiedereinführung und spezifischen Füllung im Kontext des Modellprogramms FörMig wurde der Begriff in Forschung, Bildungspolitik und Praxis breit aufgegriffen; er ist zu einem Leitbegriff in den Debatten zur Frage geworden, wie der Bildungserfolg von benachteiligten Kindern und Jugendlichen, zu denen diejenigen mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich häufig gehören, erhöht werden kann. Reich konstatiert hierzu, dass sich Leitbegriffe verbreiten, weil sie die Lösung von Problemen versprechen, die die Menschen einer Epoche beschäftigen, und weil sie zu der Problemwahrnehmung dieser Menschen passen. (Reich 2013, 55)
Bildungssprache ist zu einem Leitbegriff der PISA-Ära geworden.
3 Sprachwissenschaftliche Fundierung von ‚Bildungssprache‘ Die sprachwissenschaftliche Fundierung des Begriffs Bildungssprache soll es erlauben, sowohl sprachübergreifende als auch auf Einzelsprachen bezogene Eigenschaften des Registers zu beschreiben. In Untersuchungen im englischsprachigen Raum, die bei der Entwicklung des Begriffs Bildungssprache einbezogen wurden, wird z. B. der Terminus language of schooling verwendet (Schleppegrell 2001; Schleppegrell 2004). Theoretischer Rahmen ist hier die systemisch-funktionale Linguistik (Halliday/Hasan 1989; Halliday 1994). Diese distanziert sich von einer normativen Beschreibung einzelsprachlicher grammatischer Regeln. Sprache wird vielmehr als eine Quelle von Optionen für die Konstruktion unterschiedlicher Bedeutungen aufgefasst. Äußerungen werden also nicht in einer generischen Weise als normgerecht oder nicht normgerecht beurteilt. Kriterium ist vielmehr, ob Äußerungen der Thematik, der Kommunikationssituation und der medialen Form entsprechen, zu denen sie angewendet werden. Um innersprachliche Varietäten und die spezifischen Semantiken differenzieren zu können, die etwa für Kommunikation in Alltag, Technik, Institutionen, Wissenschaft geeignet sind (Becker/Hundt 1998), hat Halliday den Begriff des Registers eingeführt. Register sind
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demnach Sprachvarietäten, die „marked out not by region but by function – by the contexts they are called on to construe“ (Halliday 1994, 307) sind. Sie weisen je nach Funktion spezifische semantische und grammatische Merkmale auf. Die Verwendung der unterschiedlichen Register hängt mit den Anforderungen der Kommunikationskonstellation zusammen. Diese lassen sich anhand dreier Bausteine der Registertheorie determinieren: field, mode und tenor. Field bezieht sich auf das Themenfeld der Kommunikation, also auf das Sach- und Fachgebiet, über das gerade gesprochen wird. Mit mode ist die mediale Form der Äußerung angesprochen; diese bewegt sich in einem von geschrieben zu gesprochenen Formen reichenden Kontinuum. Riebling erläutert, dass sich dies nicht auf die Unterscheidung der beiden medialen Realisierungsformen sprachlicher Äußerungen phonisch/graphisch beschränkt, sondern in erster Linie auf strategische Konzeptionsmöglichkeiten bezogen [ist], die zahlreiche Abstufungen kennen […]. (Riebling 2013, 113)
Mit tenor, dem dritten Element der Registervariation, wird auf die sozialen Beziehungen zwischen den Sprechern rekurriert. Das field des Registers der Bildungssprache ist schulische Bildung. Ihre normativen Ziele gelten einem Zugang zu differenziertem Sprachgebrauch, dessen Merkmale sich vom Alltagssprachgebrauch unterscheiden (Gogolin 2008; Reich 2008). Für Ortner ist Bildungssprache [...] die Sprache, in der besonderes Wissen auf eine besondere Weise behandelt wird: Besonderes Wissen heißt: Wissen, das über das Alltagswissen hinausgeht – sowohl was die Herkunft des Wissens betrifft als auch im Hinblick auf die Breite und Tiefe der Verarbeitung. (Ortner 2009, 2227, Hervorhebung im Original)
Das bildungssprachliche Register wird also in Kommunikationssituationen verwendet, in denen es um Vermittlung und Aneignung von Wissen geht, wobei es sich im Verlaufe der Bildungsbiographie um zunehmend komplexe Sachverhalte handelt (Snow/Uccelli 2009). In Anlehnung an Bernsteins Terminologie geschieht diese Kommunikation überwiegend in vertikalem Diskurs (Bernstein 1999; Bourne 2003), womit darauf angespielt wird, dass es sich um kontextentbundene, inhaltlich auf „specialized, explicitly assembled, symbolic structures“ (Bernstein 1996, 172) konzentrierte Äußerungsformen handelt – also um vorwiegend auf kognitive Tätigkeiten rekurrierende Sprech- oder Schreibweisen. Im modus unterscheidet sich bildungssprachliche von alltagssprachlicher Kommunikation. Bildungssprache weist tendenziell die Merkmale formeller, monologischer schriftförmiger Kommunikation auf, während Alltagssprachgebrauch eher dialogisch gestaltet ist und die Merkmale informeller mündlicher Kommunikation aufweist. (Gogolin 2009, 270; vgl. auch Habermas 1977, 39)
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Im Verlaufe der Bildungsbiographie zunehmend, kommt bildungsbezogenes Wissen schriftlich zum Ausdruck. Die Differenz zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit wurde von Koch und Oesterreicher auf die Perspektiven Sprache der Nähe und Sprache der Distanz bezogen (Koch/Oesterreicher 1985). Demnach ist die Sprache der Distanz nicht zwingend durch die Verwendung im schriftlichen Medium gekennzeichnet, sondern vielmehr durch ihre konzeptionelle Gestalt, die von Monologizität, räumlicher Distanz, einem hohen Grad an Explizitheit geprägt ist. Folgerichtig kommt die konzeptionelle Schriftlichkeit der Bildungssprache „auch dann [zum Tragen], wenn es sich um Sprache im Medium des Mündlichen handelt“ (Gogolin 2007, 73). Auf der Interaktionsebene tenor, also mit Blick auf den Status und die Rollen der in die Kommunikation Involvierten, besitzt Bildungssprache den Charakter öffentlichen und institutionellen Diskurses. Die Kommunikation ist gekennzeichnet durch emotionale Distanz, relative Fremdheit und eine offenkundige Hierarchie zwischen den Gesprächspartnern (vgl. auch Ortner 2009, 2228). Reich spricht von schultypischen Diskursen wie Lehr-Lern-Dialogen, Aufgabenstellen-Aufgabenlösen-Lösungsbewertung, Wissensaufnahme-Wissensabfrage/Wissensbekundung-Wissensbeurteilung. (Reich 2008, 9)
Zur weiteren Charakterisierung von Bildungssprache gehört die Ebene spezifischer Texte. Auch hier kann an Schleppegrell (2004) angeknüpft werden, die schultypische Genres beschrieben hat. Sie unterscheidet Texte, in denen auf persönliche Erfahrungen zurückgegriffen wird (Narration oder Nacherzählung), von solchen, die der Darstellung von Fakten dienen (Berichten), und von solchen, die analytische Fähigkeiten voraussetzen (Erklärungen oder Argumentationen). Auch in Bezug auf diesen Aspekt ist es kennzeichnend, dass die sachlichen, und damit verbunden: sprachlichen Erfordernisse im Laufe der Bildungsbiographie zunehmen. „As students proceed through the levels of schooling, the kinds of genres they are expected to produce become more complicated [...]“ (Schleppegrell 2004, 85). Deutlich sollte geworden sein, dass die Merkmale des Registers Bildungssprache nicht an eine Einzelsprache gebunden sind. Bildungssprache ist also nicht eine Sprache (also etwa die deutsche, weil sie hierzulande die Sprache der Schule ist), sondern vielmehr ein spezifischer, an den Kontext schulischer Bildung gebundener Typus des Sprachgebrauchs. Eine weitergehende Einbettung in eine allgemeine Sprachtheorie unterstützt die Klärung sprachlicher Merkmale und ihrer Zusammenhänge mit mentalen Aktivitäten (Gantefort 2013). Aber wohlgemerkt: Es geht bei allen diesen Charakterisierungen nicht darum, wünschenswerte oder gar ideale Formen der Kommunikation im Bildungskontext vorzustellen. Es geht nicht einmal darum, die kommunikative Praxis in Bildungskontexten umfassend zu beschreiben. Diese mag sehr wohl, wie das in vielen Unterrichtsbeobachtungen
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dokumentiert ist, die Züge alltagssprachlicher Redeweisen besitzen. Ein gutes Beispiel hierfür ist ein Dialog aus dem Chemieunterricht: L: Wir haben uns bisher mit den Fetten beschäftigt. Grundstruktur. Was brauchen wir für die Fette? Was für beide/welche beiden Grundsubstanzen sind notwendig für Fette? S1: Glycerin und Fettsäure. L: Sehr schön. Glycerin als Grundbaustein. Was ist Glycerin? S2: Ein Stoff. L: Ein Stoff. Wenn du jetzt noch gesagt hättest, ein chemischer Stoff, okay, hätte ich nicht mal nein sagen können. Kannst du es etwas mehr präzisieren? S3: Ein fettischer Stoff? L: Nein. Was ist Glycerin? Von seiner Stoffklasse? In welche Stoffklasse zum Beispiel gehört/ Sx (Gemurmel) Doppelbindung L: Nee, nix von alledem. Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein. S4: Alkohol? L: Alkohol. Richtig. Glycerin ist ein Alkohol und zwar ein mehrwertiger Alkohol. (Zeichnet die Strukturformel an die Tafel) Warum ist dieses hier jetzt ein Alkohol? S2: Weils ne OH-Gruppe hat. L: Genauer. Du bist auf dem richtig Weg, also durchatmen, aber genauer gucken. Du sagtest, ich sag den Satz nochmal, weil es eine OH-Gruppe hat. S5: Nur eine. S2: Mindestens eine. L: Gut. Damit wird die Aussage richtig. Mindestens eine. Es hat exactement eins von diesen Dingern […]. (Riebling 2013, 41)
Der Begriff Bildungssprache bezieht sich also weder auf wünschenswerte noch notwendigerweise auf die reale Kommunikation im Bildungskontext, sondern vielmehr auf die mit Bildung assoziierten Ziele der Aneignung von Wissen in Formen, die über die alltägliche Erfahrung hinausgehen. Dieses Wissen kann in spezifische Redemittel gekleidet sein, zu denen ein junger Mensch durch Bildung Zugang erhalten muss.
4 Merkmale des Deutschen als Bildungssprache Eine steigende Zahl von empirischen Untersuchungen befasst sich mit der Identifizierung sprachlicher Merkmale des deutschen bildungssprachlichen Registers (Gogolin/ Lange 2011; Morek/Heller 2012; Gantefort 2013). Einige dieser Untersuchungen sind verknüpft mit der Frage, ob und in welcher Weise das Verfügen über die entsprechenden sprachlichen Mittel zur Erklärung von Kompetenzunterschieden beiträgt, die zwischen einsprachig und zwei- oder mehrsprachig aufwachsenden Kindern und Jugendlichen wiederkehrend ermittelt werden (Berendes u. a. 2013; Redder/Lambert 2013). Erste Meilensteine für die Identifizierung spezifischer Merkmale des Deutschen als Bildungssprache bot eine sechsjährige wissenschaftliche Begleitung von bilingualen Grundschulklassen in Hamburg und Sachsen (Roth u. a. 2007; Grevé u. a. 2007;
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Neumann/Roth 2009; Duarte 2011; Duarte/Pereira 2011). Mit dem Ziel, die Entwicklung schulrelevanter Sprachfähigkeiten zu beobachten, wurden mehrere Sprachstandsmessungen auf der Basis von Bildimpulsen durchgeführt, die mündliche und schriftliche Sprachproben in den unterschiedlichen Sprachen elizitierten. Theoretisch leitend bei der Entwicklung der Instrumente zur Sprachstandsmessung in diesen Untersuchungen waren Erkenntnisse über bi- bzw. multilingualen Spracherwerb sowie Modelle der Komplexitätserweiterung der deutschen Sprache, verbunden mit Beobachtungen zur Sprachentwicklung im Schulalter (vgl. Überblick in Ehlich u. a. 2008). Konstruiert wurden auf dieser Grundlage Instrumente, die dem Prinzip folgen, die vorhandenen Fähigkeiten und sprachlichen Potenziale der Getesteten zu identifizieren. Die Auswertungsrationale wurde in Anlehnung an Methoden der Profilanalyse entwickelt (Clahsen 1986). Betrachtet wurden die Bereiche Lexik, Morphosyntax, kommunikative Fähigkeiten sowie mehrsprachigkeitsbezogene Übergangserscheinungen. Die theoretischen Annahmen über die Komplexität sprachlicher Äußerungen, die mit den Impulsen elizitiert werden konnten, wurden in anschließenden Faktorenanalysen überprüft. Diese bildeten die Grundlage für die Unterscheidung zwischen alltäglichen und bildungssprachlichen Mitteln des Deutschen. Im ersten Zugriff bezeichneten Gogolin und Roth die Letzteren als Mittel im akademischen Modus, noch stark angelehnt an das englische Vorbild academic language (Gogolin/ Roth 2007). Konform mit den theoretischen Grundlagen bestand das aus den Untersuchungen vorliegende Korpus an Äußerungen im akademischen Modus aus Nominalisierungen, Komposita, unpersönlichen Ausdrücken, Passivkonstruktionen und der Benutzung des Konjunktivs. In Korrelationstests zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Verwendung dieses Modus und den Leistungen im Lesen, die vermittels standardisierter Tests aus dem Bestand der PIRLS-Untersuchung (PIRLS: Progress In Reading Literacy Study) geprüft wurden (Gantefort 2012). In verschiedenen weiteren Untersuchungen wurden darüber hinausgehend lexikalische, morpho-syntaktische und diskursive Aspekte des Deutschen als Bildungssprache identifiziert. Tabelle 1 präsentiert eine Auflistung ausgewählter sprachlicher, lexikalisch-semantischer und morpho-syntaktischer Indikatoren für das bildungssprachliche Register des Deutschen, ferner Beispiele und die Quellen, aus denen sie gewonnen wurden.
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Tab. 1: Merkmale der Bildungssprache (nach Riebling 2013; Reich 2008; Gogolin/Lange 2011; Berendes u. a. 2013) Lexikalisch-semantische Merkmale Linguistische Mittel
Beispiele
Quellen
Fachvokabular
rechtwinklig, Metapher, Ökosystem, Dreisatz
Reich (2008); Gogolin u. a. (2010); Leisen (2010); Ahrenholz (2010)
nichtfachliche Fremdwörter
Desiderat, Definition
Ortner (2009)
unpersönliche Ausdrücke
man, es lässt sich, der Autor/der Gogolin/Roth (2007); Reich Verfasser (2008)
selten verwendete Wörter
Obhut, Salzbergwerk
Ortner (2009); Nippold (2007)
nominale Zusammensetzungen
Winkelmesser, Periodensystem
Gogolin/Roth (2007); Ohm u. a. (2007)
Präfix-/Suffixverben
erhitzen, sich entfalten, sich beziehen
Reich (2008); Ohm u. a. (2007)
Präfix-/Suffixadjektive
verformbar
Reich (2008)
Abkürzungen und Akronyme
OECD, cm., m.
Ohm u. a. (2007)
Nominalisierungen
Erzeugung, Entstehung
Gogolin/Roth (2007); Reich (2008); Ohm u. a. (2007)
anaphorische und kataphorische diese/-r/-s, jene/-r/-s, hier, dort Referenten
Gogolin u. a. (2004)
differenzierende und abstrahierende Ausdrücke
hochverdichtet, dünnflüssig
Reich (2008)
viele und seltener verwendete Strukturwörter (Artikel, Partikeln, Pronomen, Zahlwörter, adverbiale Konstruktionen, Konjunktionen)
obgleich, nach oben
Eckhardt (2008)
Attribution durch Adjektive
geradlinig, präzis
Maas (2009); Chlosta/Schäfer (2008)
Verwendung von Operatoren
beschreiben, vergleichen, analysieren
Gogolin u. a. (2010)
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Tab. 1 (fortgesetzt) Morpho-syntaktische Merkmale Tempus (Futur, Präsens, Imperativ)
Sauerstoff ermöglicht die Verbrennung. Beschreibe!
Riebling (2013); Gogolin (2009); Roth/Gogolin (2007)
Satzgefüge (Relativsatz, Konjunktionalsätze, erweiterte Infinitive)
Der Span, der zum Glühen gebracht wird. Das Blut wird in die Venen gepumpt, nachdem der Sauerstoff in den Kapillaren abgeben wurde.
Reich (2008); Maas (2009); Van Dijk/Kintsch (1983)
Junktionen
sowie, sowohl… als auch, da, sodass
Reich (2008)
Konjunktiv
Er sagte, es sei ein Unfall gewesen
Gogolin (2009); Roth/Gogolin (2007)
Passiv (Zustands- und Vorgangs- Das Blut ist geronnen. passiv) Das Blut wird gepumpt.
Gogolin (2009); Roth/Gogolin (2007);Riebling (2013); Reich (2008)
Passiversatzformen
Es lässt sich festhalten. Der Stoff ist nicht wasserlöslich.
Reich (2008)
Proformen
Er wird zum Glühen gebracht.
Kuplas (2010)
Funktionsverbgefüge
in Abhängigkeit befinden von; etwas in Betracht ziehen
Reich (2008); Koch/Österreicher (1985)
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das bildungssprachliche Deutsch im lexikalisch-semantischen Bereich durch eine hohe lexikalische Dichte, durch den Einsatz von unterschiedlichen Reduzierungsmerkmalen wie Nominalisierungen und zusammengesetzten Wörtern sowie durch differenzierende und spezifizierende lexikalische Ausdrücke gekennzeichnet ist, die meist von niedriger Frequenz und abstrakter Natur sind (Tolchinsky 2004; Reich 2008; Nippold 2007). Auf der syntaktischen Ebene sind Kohäsionsmarker wie Konjunktionen, Adverbien oder ähnliche Satzgliederungselemente als Indikatoren für bildungssprachliche Äußerungen zu betrachten, ferner komplexe attributive Formen, meist in einer prä-nominalen Position (Ortner 2009). Nippold (2007) weist darauf hin, dass mittelschwere unterordnende Konjunktionen sowie adverbiale Konjunktionen Marker für bildungssprachliche Äußerungen darstellen. Weitere syntaktische Merkmale sind die Verwendung von unpersönlichen Konstruktionen, wie z. B. das Passiv (Gogolin/Roth 2007). Bezüglich diskursiver Merkmale der Bildungssprache betont Reich (2008) die klare Festlegung von Sprecherrollen und Sprecherwechseln, wie sie auch die Kommunikation in Bildungseinrichtungen bestimmt. Ferner weist er auf den hohen Anteil
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monologischer Formen wie Aufsätze, Vorträge und Referate hin. Angelehnt an den genrebezogenen Zugang Schleppegrells (2004) identifiziert er ferner fachgruppentypische Textsorten wie Erörterungen, Berichte und Protokolle als Schulgenres, die eine bildungssprachliche Gestaltung verlangen. Kennzeichnend seien des Weiteren starke stilistische Konventionen wie Sachlichkeit, logische Gliederung oder angemessene Länge der Produktionen. Die Verwendung bildungssprachlicher Mittel zielt auf sprachliche Dichte, Spezifizierung, Abstraktion, Textualität (Schleppegrell 2004; Leseman u. a. 2009; Duarte 2011). Dichte wird zum Beispiel durch den Gebrauch von Nominalisierungen und Komposita erzeugt. Spezifizierung wird z. B. durch attributive Ausdrücke und spezifizierendes bzw. technisches Vokabular erreicht. Der Abstraktion dienen Mittel der Entpersonalisierung wie der Gebrauch von Passivkonstruktionen oder anderer unpersönlicher Ausdrücke. Konnektivität von Texten kommt durch Satzgefüge (Van Dijk/ Kintsch 1983) oder Attributkonstruktionen (Chlosta/Schäfer 2008) zustande.
5 Familiäre Sprachpraxis als Quelle für Bildungssprache Die Institutionen der Bildung sind per definitionem für den Zugang zu bildungssprachlichen Fähigkeiten verantwortlich. Die Voraussetzungen aber, die Kinder für die Eroberung dieser Fähigkeiten in die Institutionen mitbringen, sind von Merkmalen der Lebenslage und individuellen Merkmalen beeinflusst. Zu den Merkmalen der Lebenslage gehört die familiale Sprachpraxis. Eine Reihe von Untersuchungen geht der Frage nach, ob und wie diese Praxis die Entwicklung bildungssprachlicher Fähigkeiten begünstigt bzw. erschwert. Diese Studien nehmen überwiegend mehrsprachige Kinder in den Blick und verfolgen das Ziel, Faktoren zu identifizieren, die für Bildungsdisparitäten zwischen mono- und multilingualen Kindern und Jugendlichen mitverantwortlich sind. Die Forschung konzentriert sich auf die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Home literacy-Aktivitäten und der Entwicklung von Bildungssprache. Unter home literacy werden sowohl Formen der sprachlichen Interaktion zwischen Eltern und Kindern verstanden – z. B. das Sprechen über Bücher, Geschichten, gesellschaftliche Themen oder Erlebtes in der Schule – als auch gemeinsame schriftbezogene Aktivitäten im engeren Sinne, wie gemeinsames Bücherlesen oder Schreiben. Solche Praxen kommen den schulrelevanten Mustern nahe. Für die Entwicklung von Prinzipien der Schriftsprache konnten Studien aufzeigen, dass gesprochene Kommunikation in der Familie, die das gemeinsame Entdecken des Alphabets vor der Einschulung oder das Einüben von Schriftzeichen einschließt, die anfängliche Lesekompetenz in der Schule positiv beeinflusst (Schneider u. a. 2000; Sénéchal/LeFevre 2002). Die Autoren schlussfolgern, dass gemeinsame
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mündliche Sprachpraxen, die sich auf solche Aktivitäten beziehen, dazu verhelfen, die für das Lesen erforderlichen – unter anderem phonologischen – Fähigkeiten der Kinder zu erweitern. In longitudinaler Perspektive untersuchten Leseman und andere die Einflüsse des elterlichen Sprachinputs bei mono- und bilingualen Grundschulkindern auf die Sprachkompetenzen (Leseman 2007; Leseman u. a. 2009). Sie fanden einen starken Zusammenhang zwischen schriftnahen Sprachpraxen und einer hohen getesteten sprachlichen Performanz in allen überprüften Sprachen. Die literalen Aktivitäten in der Familie führten zu besseren Resultaten in den Tests, unabhängig von der Sprache, in der diese Praxen geschahen. Ferner wurden Hinweise darauf gefunden, dass es einen positiven Transfer zwischen einem bildungssprachnahen Input in der Familiensprache und der Performanz in den niederländischen Sprachtests gibt. Die vorliegenden Untersuchungen konzentrieren sich weitgehend auf den frühkindlichen Bereich und die Phase des Schuleintritts bzw. der Sprachentwicklung in der Grundschule. Zu den wenigen mit älteren Sprecherinnen und Sprechern durchgeführten Untersuchungen gehört Ganteforts Analyse von Home-literacy-Aktivitäten. Er untersuchte 71 mono- und bilinguale Hauptschüler(innen) im Hinblick auf den Einfluss solcher Aktivitäten auf den alltagssprachlichen bzw. bildungssprachlichen Wortschatz. Ermittelt wurde, dass es einen starken Einfluss der familialen Praxen auf den schriftlichen Gebrauch des bildungssprachlichen Vokabulars zu geben scheint, sowohl bei den untersuchten Zweisprachigen als auch bei der monolingualdeutschen Stichprobe. Insgesamt weiß man recht wenig über den Einfluss familialer sprachlicher Praxis auf die Sprachentwicklung Jugendlicher (Ilić 2012).
6 Bildungssprache, Mehrsprachigkeit und schulischer Erfolg Das Verfügen über bildungssprachliche Fähigkeiten wurde als bedeutend für den Schulerfolg herausgestellt (Gogolin u. a. 2011). Hingewiesen wurde insbesondere auf Differenzen in der Beherrschung dieses Registers bei Kindern unterschiedlicher Herkunft als mögliche Erklärung für Disparitäten im Bildungserfolg. Inzwischen sind erste Untersuchungen der Frage nachgegangen, ob diese Annahme zutrifft und für welche Bildungsstufen oder Bereiche sie gilt. Die Befundlage hier ist jedoch noch recht unbefriedigend und in Teilen widersprüchlich. Heppt u. a. (2012) gingen der Frage nach, ob sich bildungssprachliche Aspekte schon im frühen Lernen differenzierend auf Leistung auswirken. Sie haben dafür Grundschulkinder mit und ohne Migrationshintergrund sowie Kinder aus bildungsfernen Familien mit zwei Aufgaben getestet. Diese bezogen sich auf das Hörverstehen komplexerer Texteinheiten und die Verwendung von Konnektoren. Im Ergebnis steht, dass – unabhängig vom sprachlichen Hintergrund – sprachlich anspruchsvolle Hör-
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aufgaben allen Kindern erhöhte Schwierigkeiten bereiteten. Beim Gebrauch der Konnektoren zeigten die Schülerinnen und Schüler nicht-deutscher Herkunft signifikant geringere Leistungen als die Kinder deutscher Herkunft (Heppt u. a. 2012; vgl. auch bereits Eckhardt 2008). Insgesamt gesehen sei aber der differenzielle Effekt bildungssprachlicher Anforderungen in diesem Lernalter eher gering zu veranschlagen. Eine ganz andere Sicht auf die Frage nach dem möglichen Zusammenhang zwischen (bildungs-)sprachlichen Fähigkeiten und Bildungserfolg werfen Studien auf, die sich der Leistungsfähigkeit von schulischen Modellen der Sprachförderung zuwenden. Im Kontext von Migration und Mehrsprachigkeit sind hier die Untersuchungen bilingualer Schulen hervorzuheben. Aus Deutschland liegen hierzu vor allem Studien über Modelle in Hamburg, Berlin und Sachsen vor (Roth u. a. 2007; Grevé u. a. 2007; Neumann/Roth 2009; Duarte 2011; Duarte/Pereira 2011). In einer Studie über die Sprachentwicklung in bilingualen Modellen, in der Schüler(innen) über sechs Jahre beobachtet wurden, wurde für die Beherrschung des bildungssprachlichen Registers ein signifikanter Vorsprung derjenigen Schülerinnen und Schüler festgestellt, die die Zeit gemeinsam in einem bilingualen Unterrichtsmodell verbracht hatten. Dies bezog sich gleichermaßen auf die mündliche und schriftliche Sprachbeherrschung. In einer Teilstudie mit einer monolingualen Kontrollgruppe in der Familiensprache Portugiesisch wurde überdies aufgezeigt, dass die bildungssprachlichen Kompetenzen der bilingual beschulten Kinder im Portugiesischen sich sogar signifikant positiv von denen der Monolingualen in Portugal unterschieden (Duarte 2011). Hier scheint sich Jim Cummins Feststellung zu bestätigen: Bilingual instructional strategies are more effective than monolingual instructional strategies in promoting literacy engagement among immigrant and minority group students. (Cummins 2013, 19)
Entsprechende Ergebnisse finden sich auch in anderen Untersuchungen, die zeigen, dass produktive Kompetenzen in Familiensprache und der Sprache der Schule für die Entwicklung der Bildungssprache von Vorteil sind (August/Shanahan 2006). In diese Richtung deutet auch eine Studie über den Zusammenhang zwischen produktiven schriftsprachlichen Fähigkeiten in den Familiensprachen und bildungssprachlichen Kompetenzen im Deutschen bei 94 türkisch- und russischsprechenden 15-Jährigen (Duarte, im Druck). Unter Kontrolle von sozio-ökonomischen und individuellen Merkmalen erwies sich hier das Verfügen über schriftsprachliche Fähigkeiten in der Familiensprache als der beste Prädiktor für Varianz in den bildungssprachlichen Fähigkeiten im Deutschen (Varianzaufklärung von 31 %). Insgesamt gesehen ist jedoch der Stand des gesicherten Wissens über Zusammenhänge zwischen Mehrsprachigkeit, der Aneignung von Bildungssprache und den Bildungserfolgschancen von Schülerinnen und Schülern noch eher rudimentär.
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7 Bildungssprache und Lehrerhandeln Eine weitere Facette der Betrachtung des bildungssprachlichen Registers im Zusammenhang mit Lernen und Bildungserfolg gilt den Fragen nach dem Lehrerhandeln bzw. dem Lehrerwissen über diese Zusammenhänge. Dabei geht es vor allem um das sprachbezogene Lehrerhandeln in den Unterrichtsfächern. Der Fachunterricht, so Riebling (2013, 39), sei „zentraler Ort der Aneignung der domänenspezifischen Bildungssprache“. Gogolin (2007) geht davon aus, dass solche domänenspezifischen Ausprägungen der Bildungssprache umso mehr auftreten, je stärker der Unterricht fachlich ausdifferenziert wird. Ortner (2009, 2228) charakterisiert Bildungssprache als „innersprachliche Verkehrssprache“ zwischen den unterschiedlichen Registern der Fächer. In verschiedenen Analysen von unterrichtlichen Aufgabenstellungen wird aufgezeigt, dass die Texte, in denen den Schülerinnen und Schülern das Sach- und Fachwissen angeboten wird, zunehmende Anforderungen an ihre Beherrschung von bildungssprachlichen Mitteln stellen. Ein Beispiel hierfür ist Kuplas‘ (2010) Analyse eines Beispielstextes aus dem Fach Biologie; ein anderes Beispiel bietet Ahrenholz‘ Auseinandersetzung mit dem Sachunterricht (Ahrenholz 2010). In diesen Analysen wird darauf hingewiesen, dass Schüler(innen) mit und ohne Migrationshintergrund, mit oder ohne Mehrsprachigkeitserfahrung Schwierigkeiten mit der Aneignung von bildungssprachlichen Mitteln haben. Vermutet wird aber eine höhere Herausforderung für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, und zwar insbesondere in späteren Abschnitten der Bildungsbiographie. Vor diesem Hintergrund wurden Untersuchungen angestellt, die das Wissen von Lehrkräften über diese Zusammenhänge zu ermitteln und in Erfahrung zu bringen suchten, ob sie die Förderung des bildungssprachlichen Registers explizit als ihre Aufgabe sehen. Riebling (2013) untersuchte 229 Fachlehrkräfte der Naturwissenschaften zu diesen Fragen. Ihre Analysen zeigen, dass nur ein geringer Teil der Befragten die Förderung von domänenspezifischen sprachlichen Strukturen in den eigenen Unterricht einbezog. Die Lehrkräfte sahen überwiegend ihre sprachbildende Aufgabe fokussiert auf die Vermittlung von Fachtermini, aber auf textliche Zusammenhänge. Zudem berichtete der weit überwiegende Teil der Lehrkräfte, dass die Aufgabe der expliziten Förderung schul- und bildungsrelevanter sprachlicher Mittel vor allem in der Grundschule und der Eingangsstufe der Sekundarschulen stattfinde. Bereits in den mittleren Jahren der Sekundarstufe finde keine explizite Sprachförderung mehr statt (vgl. ähnliche Ergebnisse bei Tajmel 2010). Es ist nicht überraschend, dass die Auskünfte aus Untersuchungen zu den Voraussetzungen, die Lehrkräfte für ihre Aufgabe der Förderung bildungssprachlicher Fähigkeiten mitbringen, auf ein eher geringes professionelles Repertoire deuten. In der grundlegenden Lehrerbildung ist eine Vorbereitung auf dieses Aufgabenfeld bislang kaum verbreitet. Qualifizierungsmaßnahmen für Lehrkräfte sind ebenfalls eher rar. Aber auch der Stand der Forschung zu diesem Problem ist noch wenig zufriedenstellend. Allgemeine Untersuchungen zur Frage nach professioneller Kompetenz
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von Lehrkräften haben die Frage nach ihren Voraussetzungen für Aufgaben sprachlicher Bildung nicht tangiert (Kunter u. a. 2011).
8 Fazit Der Stand der Theoriebildung und Forschung zum Thema Bildungssprache ist – je nachdem, wie man dies betrachtet – weit vorangeschritten oder eher rudimentär. Wenig umstritten ist die grundsätzliche Feststellung, dass das Verfügen über bildungssprachliche Fähigkeiten zu den wichtigen Voraussetzungen dafür gehört, dass Kinder und Jugendliche gute Bildungserfolgsaussichten besitzen. Einigkeit besteht außerdem darüber, dass die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen sich mehr oder weniger günstig darauf auswirken, dass sprachliche Bildungsvoraussetzungen zustande kommen, die die Aneignung bildungssprachlicher Fähigkeiten erleichtern oder erschweren. Konsens kann auch in Bezug darauf festgestellt werden, dass es eine Kernaufgabe der Bildungsinstitutionen selbst ist, die Lernenden an die sprachlichen Fähigkeiten heranzuführen, die sie für die Aneignung von Wissen und die Konstruktion von Bildung benötigen. Was aber die Details dieser globalen Feststellungen anbelangt, ist der Stand des gesicherten Wissens noch nicht befriedigend. So fehlt es an Untersuchungen, auf deren Basis der Zeitpunkt und die Merkmale des sprachlichen Könnens und Wissens genauer eingegrenzt werden könnten, die für die Disparitäten in Kompetenzen und Bildungserfolg von Schüler(innen) mit und ohne Migrationshintergrund mitverantwortlich sind. Ebenfalls eher rudimentär ist das forschungsgestützte Wissen darüber, welche Kenntnisse und Fähigkeiten Lehrkräfte mitbringen müssten, damit sie imstande sind, ihren sprachbildenden Aufgaben – einem Kernelement ihrer fachlichen Aufgaben – gerecht werden zu können. Vor allem aber fehlt es an Forschung, die den Weg der Umsetzung von analytischen Erkenntnissen und Erklärungswissen in eine Bildungspraxis zeigen kann, die sich dafür eignet, Schülerinnen und Schülern eine Sprachentwicklung zu ermöglichen, die ihre Bildungschancen verbessert. Erste Schritte in die Richtung, die Lücken zu füllen, wurden getan. Im Modellprogramm FörMig (Gogolin u. a. 2011) wurden Konzepte entwickelt, erprobt und empirisch überprüft, die den Weg zu einem bildungssprachförderlichen Unterricht weisen. Für die Qualifizierung von Lehrkräften wurden Konzepte entwickelt, die sich freilich erst noch in der Praxis bewähren müssen (Roth u. a. 2012). Erste empirische Untersuchungen nehmen die Frage in den Blick, welche Merkmale bildungssprachförderlicher Unterricht (Lengyel 2010; Fürstenau u. a. 2012; Fürstenau/Lange 2013) oder das darin zu beobachtende Lehrerhandeln (Riebling 2013) besitzt. Großangelegte Förderinitiativen sorgen dafür, dass sowohl auf der Ebene der Forschung als auch auf der Ebene forschungsbegleiteter Bildungspraxis Entwicklungen in Gang kommen, von denen sowohl die Erweiterung der grundlegenden Wissensbasis erwartet werden kann als
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auch die Konsolidierung handlungsbezogener Erkenntnisse (Redder/Weinert 2013). In einem Forschungsschwerpunkt, der seit 2014 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird, entstehen Untersuchungen, die diese Lücke schließen. Im Thema Bildungssprache steckt also eine starke Dynamik. Unser Beitrag bietet eine Momentaufnahme; es wird sich lohnen, die Entwicklung weiterzuverfolgen.
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24. Umgang mit sprachlicher Heterogenität im Klassenzimmer Abstract: Heterogenität in Lerngruppen ist breit gefächert, insbesondere wenn es um das Unterscheidungsmerkmal Sprache geht. Der Beitrag geht unter Berücksichtigung theoretischer und empirischer Erkenntnisse der Frage nach, wie Lehrkräfte mit sprachlicher Heterogenität im Klassenzimmer angemessen umgehen können. Die für den Schulerfolg entscheidenden Kompetenzen in der Sprache der Schule, der „Bildungssprache“, sind ebenso zu berücksichtigen wie die in der interkulturellen Pädagogik artikulierte Forderung, die individuelle Mehrsprachigkeit der Schüler/-innen zu erhalten. Ausgehend von einem historischen Rückblick werden zwei relevante Konzeptionen im deutschsprachigen Raum – die durchgängige Sprachbildung und das Curriculum Mehrsprachigkeit – vorgestellt und didaktische Ansätze zur Förderung der Bildungssprache und/oder Mehrsprachigkeit kritisch diskutiert. Anhand erster empirischer Erkenntnisse wird erläutert, worin die aktuellen Herausforderungen für Lehrkräfte liegen und wie die Gestaltung bildungssprachförderlichen Unterrichts in mehrsprachigen Klassenzimmern erfolgreich verlaufen kann. 1 Einleitung 2 Umgang mit sprachlicher Heterogenität: historischer Rückblick und erste Forschungsergebnisse zur monolingualen Orientierung im Bildungssystem 3 Modelle und Konzepte zum Umgang mit sprachlicher Heterogenität in der Schule 4 Gestaltung bildungssprachförderlichen Unterrichts im mehrsprachigen Klassenzimmer – erste empirische Erkenntnisse 5 Methodisch-didaktische Ansätze zur sprachlichen Bildung in mehrsprachigen Konstellationen 6 Fazit 7 Literatur
1 Einleitung Lerngruppen sind per se heterogen zusammengesetzt. Neben dem Unterscheidungsmerkmal Sprache, das im heutigen Heterogenitätsdiskurs wie auch in der Praxis heraussticht, unterscheiden sich Schüler/-innen grundsätzlich in Bezug auf ihre Sozialisationsbedingungen und -erfahrungen, ihre Lernvoraussetzungen und -motivationen, ihre Interessen und Fähigkeiten. Nicht erst seit diesem Jahrtausend stellt sich also die Frage, wie Lehrkräfte mit dieser Heterogenität umgehen können und sollten. Da wir es heute mit einer Zunahme der sprachlichen Vielfalt zu tun haben – einerseits sind wir je nach Region mit unterschiedlichen Sprachen und Sprachgruppen konfrontiert,
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andererseits finden wir eine große Bandbreite sprachlicher Praxen vor –, steht Schule allerdings vor anderen Herausforderungen als vor dreißig oder vierzig Jahren. Sprachlich heterogen sind Lerngruppen in Bezug auf die in der Primärsozialisation angeeigneten Sprachen und Varietäten und die hierin entwickelten Fähigkeiten. Heterogen sind auch die Nutzungsmöglichkeiten dieser in informellen (Familie, Peer-group, Medien) und formellen (Kita, Schule) Bildungs- und Erziehungskontexten. Sprachliche Heterogenität kann sich also auf mindestens drei Aspekte von Sprache beziehen: die Kompetenzen in der bzw. den Sprachen, die Sozialisation in einer oder mehreren Sprachen sowie die Nutzung der Sprache(n) im Allgemeinen und zu Bildungszwecken im Speziellen. In diesem Beitrag liegt der Schwerpunkt auf sprachlicher Heterogenität in Schulklassen, die durch die mehrsprachige Sozialisation der Kinder zustande kommt. Viele dieser Kinder weisen einen sog. Migrationshintergrund auf. Die internationalen wie nationalen Schulleistungsstudien haben dem deutschen Bildungssystem nicht nur Mittelmäßigkeit bescheinigt, sondern insbesondere gezeigt, dass Bildungserfolg hier weiterhin eng mit sozialer Herkunft zusammenhängt. Verlierer des Systems sind vor allem Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. Auch wenn sich der Unterschied zu Kindern ohne Migrationshintergrund zwischen PISA (Programm for International Student Assessment) 2000 und 2009 im Durchschnitt verringert hat, ist er dennoch signifikant (vgl. Klieme u. a. 2010). Das allgemeine Bildungssystem löst sein Versprechen, Chancengerechtigkeit für alle Kinder unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Sprache usw. herzustellen, also nicht ein. Für diese wiederkehrenden Befunde hat die empirische Bildungsforschung eine Reihe von Erklärungsansätzen entwickelt und diskutiert deren Gültigkeit und Reichweite. Wegweisend ist der Ansatz, der die Besonderheiten der Sprache der Schule, die auch Bildungssprache genannt wird, ins Zentrum stellt: Danach ist entscheidend, inwieweit Schüler/-innen über bildungssprachliche Kompetenzen verfügen und welche Hürden bei der rezeptiven und produktiven Aneignung dieses sprachlichen Registers zu bewältigen sind (vgl. Gogolin u. a. 2011a; s. a. Gogolin/Duarte, Art. 23 in diesem Band). Da Sprechen und Denken eng verknüpft sind, hat Sprache für den Bildungsprozess und die Aneignung von Wissen eine herausragende Bedeutung; sie kann als Werkzeug des Denkens und als Medium des Lernens angesehen werden. Über die Sprache der Instruktion zu verfügen, ist daher eine Grundvoraussetzung, um sich die schulischen Lerngegenstände anzueignen. Schon Habermas (1977) definierte den Begriff Bildungssprache als sprachliches Register, mit dessen Hilfe man sich Orientierungswissen aneignen könne, und betonte, dass demokratische Bildungssysteme die zentrale Funktion hätten, Bürgerinnen und Bürgern sprachliche Zugänge zur Verständigung über Themen des öffentlichen Interesses zu vermitteln. In diesem Sinne ist es also eine genuine Aufgabe der Schule, dafür zu sorgen, dass diese Sprache allen Schüler/-innen vermittelt wird, unabhängig davon, welche Sprache oder Varietät sie zu Hause sprechen. Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie Lehrkräfte mit sprachlicher Heterogenität im Klassenzimmer umgehen können: dies bezieht sich einerseits auf die o. g. Forde-
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rung, die deutsche Bildungssprache zu vermitteln, und andererseits auf die weniger prominente, aber nicht weniger relevante Forderung der interkulturellen Pädagogik, die individuelle Mehrsprachigkeit der Schüler/-innen zu erhalten, wenn nicht gar auszubauen. Zunächst wird rückblickend betrachtet, wie in der Bundesrepublik nach der ersten großen Migrationswelle ab den 1950er und 1960er Jahren mit sprachlicher Heterogenität umgegangen wurde. Daran anschließend werden Studien diskutiert, die den Umgang mit einer vielsprachigen Schülerschaft im Unterricht genauer untersucht und den Nachweis der monolingualen Orientierung des deutschen Bildungssystems erbracht haben. Im nächsten Schritt werden mit der Durchgängigen Sprachbildung und dem Curriculum Mehrsprachigkeit zwei Konzepte vorgestellt, die mit dieser Orientierung brechen und sprachlich-kulturelle Heterogenität nicht als Ausnahme oder Randerscheinung sehen, sondern als eine Grundvoraussetzung unterrichtlichen Handelns wie auch von Schulentwicklung. Ausgehend von dieser Darstellung werden erste empirische Ergebnisse einer Studie diskutiert, die bildungssprachförderlichen Unterricht videografiert und analysiert hat. Anschließend werden methodisch-didaktische Ansätze zur Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen in sprachlich heterogenen Klassen beleuchtet. Da in einem Überblicksbeitrag nicht alle verfügbaren Ansätze dargestellt werden können, beschränke ich mich auf solche, die im deutschsprachigen Raum breit diskutiert werden. In einem kurzen Fazit werden abschließend zentrale Forschungsdesiderate ausgewiesen.
2 Umgang mit sprachlicher Heterogenität: historischer Rückblick und erste Forschungsergebnisse zur monolingualen Orientierung im Bildungssystem In der Bundesrepublik ist vor allem durch die Arbeitsmigration der 1950er bis 1970er Jahre die sprachliche Vielfalt in der Gesellschaft und damit auch im Bildungssystem gestiegen. Allerdings war sprachliche und kulturelle Heterogenität in deutsch(sprachig)en Klassenzimmern kein neues Phänomen, das erst durch diese Migrationswelle entstand: Bereits Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts lebten in den deutschen Staaten unterschiedliche ethnische, kulturelle und sprachliche Bevölkerungsgruppen. Zu diesem Zeitpunkt gab es im Bildungskontext noch keine Nationalsprache Deutsch, vielmehr herrschte durch die verschiedenen Dialekte und regionalen Varietäten (Mundarten) sowie die Sprachen der angestammten Minderheiten (wie Friesisch, Böhmisch, Mährisch oder Sorbisch) sprachliche Heterogenität. Erst als im Zuge der Nationalstaatenbildung Deutsch an Schulen durchgesetzt und die ‚deutsche Bildung‘ (Erziehung mit dem Ziel, Eins zu sein mit dem deutschen Volk) eingeführt wurde, zu der sich die schulischen Akteure bekennen und die sie
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den Schüler/-innen vermitteln sollten, erschien diese sprachliche Heterogenität „als etwas ‚Unnatürliches‘“ (vgl. Krüger-Potratz 2011, 56). Migrant/-innen bzw. Ausländer/-innen mussten zu dieser Zeit im Bildungssystem nicht berücksichtigt werden, da sie nicht schulpflichtig, sondern nur schulberechtigt waren. Als im 20. Jahrhundert Migrant/-innen in die Bundesrepublik kamen und Sprachen wie Türkisch, Griechisch, Italienisch, Jugoslawisch, Portugiesisch usw. mitbrachten, reagierte die Bildungspolitik und entwickelte verschiedene Maßnahmen zum Umgang mit sprachlicher Vielfalt. In der ersten Phase (1960er und 1970er Jahre) stand die Förderung der Herkunftssprachen im Zentrum, da die Zugewanderten perspektivisch in ihre Heimatländer zurückkehren sollten. Es wurden national homogene Klassen gebildet, in denen die Herkunftssprachen unterrichtet wurden. Diese Klassen sollten zugleich auf den Regelunterricht vorbereiten. Daneben gab es Förderunterricht im Deutschen und versuchsweise auch bilinguale Klassen. In dieser Phase sahen die Bildungsinstitutionen ihre Aufgabe darin, sprachliche Defizite der Schüler/-innen im Deutschen zu beheben und gleichzeitig ihre Kompetenz in den Herkunftssprachen zu erhalten. In den späten 1970er und den 1980er Jahren stand dann stärker im Vordergrund, Kinder aus Zuwandererfamilien schulisch und gesellschaftlich zu integrieren. Die schulpflichtigen Kinder wurden in Regelklassen gemeinsam mit deutschen Kindern beschult und erhielten zusätzlichen Deutschförderunterricht. Dies führte einerseits zu einer „Entwertung des herkunftssprachlichen Unterrichts“ (vgl. Reich 2010, 451), andererseits zu ersten Bemühungen, eine Didaktik für Deutsch als Zweitsprache zu entwickeln. Die Existenz mehrsprachiger Schüler/-innen, deren Primärsprache nicht die Sprache der Schule war, führte allerdings nicht dazu, die Strategien der Sprachvermittlung zu überdenken, die sich an Muttersprachler/-innen orientierten. Ende der 1980er Jahre und Anfang der 1990er Jahre wurde der herkunftssprachliche Unterricht in der Weise modernisiert, dass Zweisprachigkeit und eine bikulturelle Identität gefördert wurden (vgl. Thürmann 2003). Eine bildungspolitische Wende bildete 1996 die KMK-Empfehlung Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule: Darin wurde die Erkenntnis festgeschrieben, dass die Schülerschaft in Deutschland sprachlich-kulturell heterogen sei. Auf diese Heterogenität könne nicht einfach mit Sondermaßnahmen reagiert werden, vielmehr sei interkulturelle Erziehung und Bildung eine Querschnittsaufgabe der Schule. In diesen Zeitraum fielen die ersten bilingualen Schulversuche und erste große Forschungsprojekte wie FABER (Folgen der Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung) wurden initiiert. In Kontext von FABER brachten Gogolin und Neumann 1997 die erste Fallstudie heraus, die untersuchte, wie sich die ganz normale Großstadtgrundschule den Herausforderungen stellt, die sprachlich-kulturelle Heterogenität mit sich bringt. Zuallererst arbeiteten die Autorinnen die Komplexität und innere Differenziertheit der sprachlichen Situation heraus. Außerdem belegte die Studie, dass die Beteiligten im untersuchten Fall von der gemeinsam getragenen Grundidee von „öffentliche[r] Einsprachigkeit im Deutschen“ (Gogolin 1997, 311) ausgingen, die ihr Handeln leitete.
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Diese Grundidee wurde auch dadurch nicht durchbrochen, dass das Umfeld und die Schülerschaft faktisch mehrsprachig agierten oder dass im sprachlichen Selbstkonzept der Kinder und ihrer Eltern Mehrsprachigkeit ebenso zentral war wie der Wunsch, die Herkunftssprache zu pflegen und zu erhalten. Im Gegenteil akzeptierten die Familien die Vormachtstellung der Einsprachigkeit (des Deutschen) in der öffentlichen Sphäre, während sie in der privaten Sphäre mehrsprachig agierten; die Autorinnen fassen dies mit dem Begriff des Arrangements. Der untersuchte Fall legt Gogolin (1997) zufolge nahe, daß der ‚monolinguale Habitus‘ doch eher unangefochten regiert. Es ist, wie es scheint, eine Grundvoraussetzung für seine Konversion gegenwärtig nicht gegeben – nämlich die öffentliche, explizite Artikulation von Opposition. Zumindest gilt das für die Schule. (ebd., 311)
Diesen Befund stützt eine international vergleichend angelegte Untersuchung (Gogolin/Kroon 2000) aus den 1990er Jahren. Anhand von Fallstudien in niederländischen, englischen, belgischen und deutschen Großstädten wurde der Umgang mit sprachlicher Heterogenität in der Schule untersucht. Dabei zeigte sich, dass trotz der unterschiedlichen Schulsysteme und Traditionen in den vier Ländern der Umgang mit der mehrsprachigen Schülerpopulation zentrale Gemeinsamkeiten aufwies; eine davon war eine monolinguale Grundhaltung der Lehrkräfte. Diese manifestierte sich u. a. darin, dass die Unterrichtssprache nicht explizit und systematisch vermittelt wurde. Vielmehr wurde implizit unterstellt, dass die Kinder und Jugendlichen sich diese Sprache außerhalb der Schule aneignen könnten, sozusagen auf natürlichem Weg. Die eingangs genannten Forderungen, die Sprache der Schule zu vermitteln und individuelle Mehrsprachigkeit als Kapital anzusehen, das es auszubauen gilt, bleiben somit bestehen. Erst die Ergebnisse der PISA-Studie aus dem Jahr 2000 leiteten – zumindest auf programmatischer Ebene – einen Prozess des Umdenkens ein. In der Folge begann die empirische Bildungsforschung, Faktoren zu untersuchen, die die Sprachentwicklung beeinflussen. Spezifische Förderansätze für sprachliche Teilfertigkeiten im Deutschen wurden evaluiert (z. B. Stanat u. a. 2005). In dieser Situation legte die Bund-Länder-Kommission das Programm Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf, das eine neue Kultur der Sprachbildung in Deutschland initiierte.
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3 Modelle und Konzepte zum Umgang mit sprach licher Heterogenität in der Schule 3.1 Durchgängige Sprachbildung Das Konzept Durchgängige Sprachbildung orientiert sich u. a. am angelsächsischen Modell language across the curriculum. Es wurde im Rahmen des Modellprogramms Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (FörMig) entwickelt, das von 2004 bis 2009 in zehn Bundesländern durchgeführt wurde. In der Anschlussphase von 2010 bis 2013 wurde das Konzept mit Unterstützung des FörMigKompetenzzentrums weiter in die Fläche getragen; daran beteiligten sich vier Länder und die Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien (RAA, seit 2013 Kommunale Integrationszentren). Mit dem Begriff Sprachbildung sind alle erzieherischen Maßnahmen des pädagogischen Personals gemeint, die darauf abzielen, dass Kinder sich die Sprache aneignen und die sprachlichen Fähigkeiten ausbilden, die sie zur Bewältigung gesellschaftlicher Anforderungen benötigen. ‚Durchgängige Sprachbildung‘ sieht sprachliche Heterogenität als Ausgangspunkt schulischen Lernens und zielt darauf ab, das dafür benötigte sprachliche Register (Bildungssprache) durch kooperative Sprachfördermaßnahmen zu vermitteln. Sie greift Forschungsbefunde auf, die zeigen, dass Ansätze der impliziten Vermittlung von Bildungssprache in der Schule bei Kindern und Jugendlichen aus wenig schriftnahen Familien weniger effektiv sind als explizite bzw. eine Kombination aus impliziten und expliziten Ansätzen (für einen Überblick zum damals vorherrschenden Forschungsstand, der Ausgangspunkt für die erarbeitete Struktur von FörMig war, vgl. zsf. Gogolin/Neumann/Roth 2003). Daraus wird der Anspruch abgeleitet, in Lernsituationen mit unterschiedlichen sprachlichen Ausgangslagen und Bedürfnissen alle Schüler/-innen explizit und systematisch im Rahmen des üblichen Unterrichts an Bildungssprache heranzuführen. Das Konzept beinhaltet drei Dimensionen: (1) In einer bildungsbiografischen (auch vertikal gedachten) Dimension richtet sich kooperative Sprachbildung an Schnittstellen und Übergängen im Bildungssystem aus. Mit institutionenübergreifenden, kooperativen Strategien der Sprachbildung sollen Brüche in den Bildungsbiografien der Schüler/-innen, die besonders an den institutionellen Übergängen auftreten, vermieden werden. (2) Die zweite (auch horizontal gedachte) Dimension des Rahmenkonzepts bezieht sich unmittelbar auf unterrichtliche Lehr-Lern-Prozesse. Hier stehen die Themen der Lernbereiche und Fächer und ihre kooperative Bearbeitung im Zentrum. Lehrkräfte aller Lernbereiche und Fächer sollen immer auch an der ‚sprachlichen Seite der Lerninhalte‘ arbeiten, indem sie Verbindungen zwischen Allgemein- und Bildungssprache herstellen, bildungssprachliche Mittel (z. B. Passivkonstruktionen, Nebensatzstrukturen, Kollokationen) explizit bereitstellen und den Schüler/
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-innen Gelegenheiten bieten, bildungssprachliche Fähigkeiten aktiv einzusetzen. Im Hinblick darauf wurden im Modellprogramm u. a. Qualitätsmerkmale für einen bildungssprachförderlichen Unterricht entwickelt, die Orientierungspunkte bei der praktischen Umsetzung liefern sollen (vgl. Gogolin u. a. 2011b). Sprache soll also explizit zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht werden, wenn sie für fachliches Lernen gebraucht wird. Bildungssprachliche Fähigkeiten sollen auf Lernvoraussetzungen und curriculare Lernanforderungen abgestimmt vermittelt werden, damit sie kumulativ aufgebaut werden können. Der Erwerb der Bildungssprache wird also nicht als isolierte Sprachlernaufgabe gesehen. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass die fachliche Auseinandersetzung mit einem Gegenstand und die explizite Herstellung von Beziehungen zwischen Sprachund Sachlernen die Aneignung bildungssprachlicher Fähigkeiten unterstützen. Unterricht, der in diesem Sinne die Bildungssprache fördert, kann zwar punktuell durch zusätzliche Fördermaßnahmen ergänzt werden; solche Maßnahmen allein können aber nicht die bildungssprachlichen Kompetenzen vermitteln, die für Bildungserfolg notwendig sind (vgl. die Ergebnisse der FörMig Evaluation in Gogolin u. a. 2011a). Zu einem Fachunterricht, der Bildungssprache fördern soll, gehört auch die Analyse und Beurteilung sprachlicher Kompetenzen. Die empirische wie auch die interkulturelle Bildungsforschung zeigt wiederkehrend, dass bei mehrsprachigen Schüler/-innen die Sprachkompetenz in der Regel entweder über- oder unterschätzt wird (vgl. Baumert u. a. 2001; Allemann-Ghionda u. a. 2006). Für Fachlehrkräfte ist es i. d. R. schwer zu unterscheiden, ob ein fachliches Problem nicht verstanden wurde und deshalb nicht angemessen versprachlicht bzw. verschriftlicht werden kann oder ob es in der Sache durchdrungen wurde und ‚nur‘ sprachlich nicht adäquat formuliert werden kann. Darum wurde im Rahmen des Modellprogramms ein Instrument entwickelt, mit dem die Schreibentwicklung in sozial- und naturwissenschaftlichen Fächern prozessbegleitend beobachtet werden kann (vgl. Lengyel/Roth 2012). Kooperative Sprachbildung sieht auch vor, dass schulische und außerschulische Instanzen der sprachlichen Sozialisation und Bildung in Sprachbildungsnetzwerken zusammenarbeiten, um Ziele und Aktivitäten der Sprachbildung zu koordinieren (vgl. Salem u. a. 2013). Die Aufgabe der Sprachbildung in allen Fächern – in der Tradition des Deutschen als Fremdsprache auch sprachsensibler Fachunterricht genannt – ist mittlerweile in einigen Bildungsplänen verankert und ist auch in die Neufassung der KMKEmpfehlungen (2013) zur interkulturellen Bildung und Erziehung in der Schule eingegangen: Schule ist zentraler Ort für den Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen. [...] Den Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen organisiert die Schule als durchgängige Aufgabe aller Schulstufen und Fächer. (ebd., 5, Hervorh. i. Orig.)
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Die programmatischen Vorgaben sind bislang nur partiell in der Unterrichtspraxis angekommen, wie die Ergebnisse einer Befragung von Lehrkräften zeigen, die ein naturwissenschaftliches Fach in der Sekundarstufe I unterrichten (Riebling 2013). Inzwischen gibt es eine Reihe von Publikationen, die sprachliche Bildung im Fachunterricht aufgreifen (vgl. z. B. Beese u. a. 2014; Becker-Mrotzek u. a. 2013; Schmölzer-Eibinger u. a. 2013). (3) Die dritte Dimension des Konzepts bezieht sich auf die Mehrsprachigkeit in Institutionen und in der Gesellschaft allgemein. Hierzu stellt Reich fest: Jedes sprachfähige Kind wird im Verlaufe seiner Biographie zum mehrsprachigen Menschen. Dies kann früher oder später, in unterschiedlichen situativ-thematischen Kontexten, vermittelt durch unterschiedliche sprachsozialisatorische Instanzen geschehen und zu sehr verschiedenartigen Sprachprofilen führen, tritt aber in jeder Biographie als Gestaltungs- und Reflexionsanlass in Erscheinung. (2013, 66 f.)
Angesichts der je individuellen Sprachbiografien erscheint es geraten, einen konstruktiven und koordinierenden Umgang mit Mehrsprachigkeit zu entwickeln, um den (sprachlich-sozialen) Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken. Eine koordinierte Mehrsprachenbildung zielt darauf ab, mit Situationen der Vielsprachigkeit „selbstbestimmt und produktiv umgehen zu lernen“, sprachliche Lernprozesse zu ökonomisieren, Transferprozesse zu nutzen, Sprachbewusstsein auszubilden, Sprachlernprozesse bewusst zu reflektieren und somit sprachliche Fähigkeiten „zielbewusst“ auszubauen (vgl. Gogolin u. a. 2011a, 58 f.). Die multilinguale Dimension der durchgängigen Sprachbildung knüpft somit an die Sprachpolitik der EU wie auch des Europarats an, ist aber im Modellprogramm am wenigsten bearbeitet worden. Die Forderung nach dem Umgang mit bzw. der Einbeziehung und Förderung von Mehrsprachigkeit kann weiterhin als uneingelöst gelten.
3.2 Das Curriculum Mehrsprachigkeit Reich und Krumm (2013) legen mit ihrem Buch „Sprachbildung und Mehrsprachigkeit“ ein Curriculum für Österreich vor, das die multilinguale Dimension durchgängiger Sprachbildung von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe II bzw. zur beruflichen Bildung ausformuliert. Neben differenzierten Zielen, Modellen zur schulorganisatorischen Umsetzung und möglichen Lehrstoffen bietet es auch didaktische Grundsätze, um sprachliche Vielfalt im Unterricht wahrzunehmen und zu bewältigen. Die Zielsetzung dieses Curriculums liegt darin, sprachliche Bildung über die Fächer hinweg im Unterricht zu integrieren und persönliche Sprachenprofile auszu bilden. Die Schüler/-innen sollen befähigt werden, sich in der vielsprachigen Welt zu orientieren und sich selbstbestimmt und zielbewusst sprachliche Qualifikationen anzueignen. Vermittelt werden sollen Kompetenzen wie Aufmerksamkeit für Spra-
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chen, die Fähigkeit, die eigene sprachliche Situation zu reflektieren und die von anderen zu analysieren, außerdem ein Orientierungswissen über Sprachen und ihre Bedeutung für Menschen, linguistische Grundkenntnisse sowie Sprachlernstrategien und sprachliches Selbstbewusstsein (vgl. Reich/Krumm 2013, 10). Dabei sollen die primärsprachliche Sozialisation und persönliche Spracherfahrungen ebenso berücksichtigt werden wie die institutionellen Lernprozesse im Sprachunterricht und die Zugänge zu Sprachen, die neue Medien eröffnen. Die Dichotomie von Muttersprache und Fremdsprache wird überwunden, indem auch Sprachen berücksichtigt werden, die nicht zum Kanon der Schulsprachen gehören, aber biographisch bedeutsam sind und als Lernhilfen dienen können. Sprachenübergreifende Ziele und Inhalte schaffen laut Reich und Krumm (2013, 11) „gemeinsame Bezugspunkte und erleichter[n] dadurch fächerübergreifende Zusammenarbeit“. Das Curriculum richtet sich an alle, die an der Planung und Organisation von Bildungsprozessen beteiligt sind: Lehrkräfte, Lehrerkollegien und Schulleitungen, aber auch Lehrplanentwickler/-innen, Produzent/-innen didaktischer Materialien sowie Aus-, Fort- und Weiterbildner/-innen von Lehrkräften. Es ist in Stufen aufgebaut. Mit dem Schuleintritt lernen die Schüler/-innen neue sprachliche Register kennen, sie werden in Fremdsprachen oder in den Herkunftssprachen unterrichtet. Diese neuen sprachlichen Erfahrungen sollen aufgearbeitet werden, und die Kinder sollen die sie umgebende sprachliche Vielfalt handelnd erkunden. In den höheren Stufen des Primarbereichs werden Sprachbewusstheit und Sprachlernstrategien aufgebaut. Im Sekundarbereich wird Sprache vergleichend analysiert und Wissen über Sprachenvielfalt außerhalb der eigenen Erfahrungswelt vermittelt, auch Techniken des Sprachlernens werden trainiert. Im weiteren Verlauf werden Sprachstrukturen und Sprachlernprozesse erarbeitet und biographische, kulturelle und geographische Aspekte der Mehrsprachigkeit systematisch behandelt. In der Sekundarstufe II steigen die Anforderungen weiter: Hier sollen die Schüler/-innen selbstständig komplexe Sprachstrukturen vergleichend analysieren, soziologische und geschichtliche Aspekte von Mehrsprachigkeit erörtern sowie kritisch und emanzipiert sprachenpolitische Diskussionen führen (ebd., 6). Damit knüpfen Reich und Krumm an Ziele allgemeiner Bildung an (vgl. Klafki 1990). Im berufsbildenden Bereich ist dann zu klären, welche sprachlichen Anforderungen einerseits die Arbeitswelt stellt und welche Sprache/n für die jeweils eingeschlagene Berufsrichtung wichtig ist bzw. sind. Wie kann man sich einen so angelegten Unterricht vorstellen? Handelt es sich dabei um ein neues, eigenständiges Fach oder ist das Curriculum in die Fächer zu integrieren? Reich und Krumm schlagen vier Formen der Unterrichtsorganisation vor: 1. eine fächerintegrative Lösung, d. h. zwei oder drei einzelsprachliche Fächer (z. B. Deutsch Englisch, Spanisch) setzen die Aufgabe des Curriculums Mehrsprachig keit um; 2. eine dauerhafte Verteilung des Stoffs, d. h. die Schule legt fest, wofür die Fächer in den einzelnen Schulstufen jeweils verantwortlich sind; 3. ein Modell wechselnder Verantwortung, d. h. das Curriculum obliegt in den Schulstufen im Wechsel jeweils einem einzelsprachlichen Fach (z. B. in Stufe 3 dem Fach Deutsch, in Stufe 4
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dem Fach Englisch); 4. Mehrsprachigkeitsunterricht als eigenständiges Fach (vgl. Reich/Krumm 2013, 19 f.). Die beiden hier vorgestellten Modelle zu sprachlicher Bildung in sprachlich heterogenen Konstellationen sind als Rahmenkonzepte zu verstehen. Die Mikroebene des Unterrichts bzw. des didaktischen Handelns der Lehrkräfte wird darin zwar als eine Ebene mitberücksichtigt, aber es werden keine methodisch-didaktischen Vorgehensweisen ausgearbeitet. Bevor solche im übernächsten Kapitel vorgestellt werden, soll im nächsten Schritt die Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen im mehrsprachigen Klassenzimmer ausgehend von ersten empirischen Erkenntnissen diskutiert werden.
4 Gestaltung bildungssprachförderlichen Unterrichts im mehrsprachigen Klassenzimmer – erste empirische Erkenntnisse Eine der ersten empirischen Studien im deutschsprachigen Raum, die die integrierte sprachliche Bildung qualitativ erforscht und dabei sprachlich heterogene Gruppen ins Zentrum stellt, ist die BilLe-Studie (Bildungssprachförderliches Lehrerhandeln; vgl. Fürstenau/Lange 2013). Sie untersucht, wie Lehrkräfte bildungssprachförderlichen Unterricht an Schulen gestalten, an denen mehr als 50 Prozent der Schüler/ -innen einen Migrationshintergrund haben. Die Schulen für die Studie wurden nach Leistungsdaten schulexterner Erhebungen ausgewählt, bei denen Schüler/-innen mit Deutsch als Zweitsprache vor dem Hintergrund ihres sozialen und kulturellen Kapitals erwartungswidrig gut abgeschnitten hatten. Zusätzliches Kriterium war, ob die Schulen ein Konzept zur sprachlichen Bildung hatten und ob diese dort als Querschnittsaufgabe definiert wurde. Die Schulleitungen wurden in Gesprächen mit den guten Ergebnissen konfrontiert und um Erklärungen gebeten. Daraufhin wurden in allen Fällen Expertenlehrkräfte benannt, die die entsprechenden Klassen unterrichtet hatten und gleichzeitig an der Erstellung des Konzepts beteiligt gewesen waren. Dann wurde an vier Schulen der Unterricht dieser Lehrkräfte gefilmt und analysiert. Da das Projekt noch nicht beendet ist, liegen bislang keine abschließenden Befunde vor. Aus den bisherigen Veröffentlichungen, die Einblick in die Analysen und Erkenntnisse geben, wird aber Folgendes deutlich: 1) Die Lehrkräfte zeigen tendenziell ein ko-konstruktives Gesprächsverhalten, d. h. der lehrerzentrierte Diskurs wird „systematisch durch reziproke Interaktionsmuster“ erweitert oder ersetzt (Fürstenau/Lange 2013, 215). 2) Die analysierten Sequenzen lassen vermuten, dass die Lehrkräfte Kommunikationsmuster etabliert haben, mit denen sie Kindern bildungssprachliches Handeln zutrauen, es von ihnen fordern und sie bei seiner Umsetzung unterstützen.
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3) Die Lehrkräfte verweisen wiederholt darauf, wie wichtig Miteinander-Sprechen sei, dass es zum gemeinschaftlichen Lernerfolg führe, und sie ermuntern die Schüler/-innen dazu. 4) Die Lehrkräfte bereiten die Kinder planvoll auf das Reflektieren vor. In den Unterrichtsausschnitten zeichnet sich ab, dass sie Sozial- und Interaktionsformen schaffen, in denen die Schüler/-innen insgesamt hohe sprachliche Anteile haben und bildungssprachliches Handeln gefordert ist. Zudem beinhaltet das Material vielfältige Reflexionsphasen im Unterricht, in denen die Schüler/-innen ebenfalls hohe Redeanteile haben und von der Lehrkraft bei der Bedeutungskonstruktion unterstützt werden. 5) Auffällig ist, dass die Lehrkräfte von den Schüler/-innen „in hohem Maße und zeitlichem Umfang Formulierungsarbeit“ einfordern (ebd., 210). Sie greifen die Sätze der Schüler/-innen häufig auf, um durch Wiederholung oder Reformulierung ggf. grammatikalische Fehler im Satzzusammenhang zu korrigieren. Diese Expertenlehrkräfte scheinen also eine ko-konstruktive didaktische Herangehensweise ausgebildet zu haben und messen der Arbeit an der sprachlichen Seite des Sachlernens ebenso viel Bedeutung bei wie der Sache an sich. Sie thematisieren die sprachbezogene Arbeit und fordern sie von den Schüler/-innen, jedoch nicht ohne diese dabei zu unterstützen. Vor dem Hintergrund der soziokulturellen Lerntheorie (vgl. Mercer 1995, Littleton/Mercer 2013) können die dargelegten Befunde theoretisch eingeordnet werden. Diese Auffassung von Lernen (die im deutschsprachigen Raum auch als sozialkon struktivistische Perspektive bezeichnet wird) fußt auf Erkenntnissen des russischen Psychologen Vygotskij und der Ansicht, dass die kognitive Entwicklung ein sozialer und kommunikativer Prozess ist, d. h. Wissen und Verstehen werden vermittelt durch Sprache sozial, also in der Interaktion, konstruiert. Vygotskij (1934/2002) beobachtete beispielsweise, dass sich das Kind im Spracherwerb die äußere Struktur Gegen stand – Wort aneignet, bevor es die innere Beziehung Zeichen – Bedeutung erfasst. Diese Aneignung erfolgt vermittelt durch sozialen Austausch: Wissen wird gemeinsam konstruiert und somit interpsychisch verfügbar gemacht, bevor es verinnerlicht und damit intrapsychisch verarbeitet werden kann. Dies geschieht vor allem über die Aushandlung von Bedeutungen, die nach Vygotskij den Kern bilden, in dem sich Sprechen und Denken treffen (Vygotskij 2002, 49–52). Sprache ist aus dieser Perspektive also ein kognitives Werkzeug, was sich insbesondere in höheren geistigen Tätigkeiten wie Planung, Evaluation und Reflexion zeigt. Gleichzeitig ist sie ein kulturelles Werkzeug, das dazu dient, Erfahrungen über Generationen hinweg in Wissen und Verstehen zu transformieren. In diesem Sinne ist der Lehr-Lern-Prozess ein Interaktionsprozess, in dem eine Person einer anderen hilft, Wissen und Verstehen zu entwickeln. Lehren und Lernen werden hier als zusammengehörig, als ein gemeinsamer Prozess betrachtet.
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One of the opportunities school can offer pupils is the chance to involve other people in their thoughts – to use conversations to develop their own thoughts. (Mercer 1995, 4)
Für den Zweitspracherwerb belegt eine Reihe von Studien die Relevanz von Interaktion. Mackey (1999) etwa ließ in einer Studie zum Erwerb von Fragewörtern erwachsene Lerner/-innen Lückentests bearbeiten. Einige der Teilnehmer durften sich dabei mit Muttersprachler/-innen austauschen, während andere die Aufgaben allein lösen sollten. Es wurden Pre- und Posttests durchgeführt, deren Resultate zeigen, dass sich bei den Lerner/-innen, die bei den Aufgaben interagierten, die Formulierung von Fragen und die Verwendung von Fragewörtern in statistisch signifikanter Weise entwickelt hat. In der Vergleichsgruppe hingegen war keine signifikante Progression zu verzeichnen (vgl. Mackey 1999, 565). Eine Studie von McCafferty u. a. (2001) zeigt ebenfalls, dass Zweitsprachlerner/-innen unbekannte Begriffe besser memorieren können, wenn sie darüber mit anderen reden und dabei auch Verbindungen zu ihren eigenen Sprachlernerfahrungen herstellen können. Interaktive Aushandlung von Bedeutungen und der Bezug auf eigene (Sprachlern-)Erfahrungen scheinen also – zumindest aus linguistischer und lerntheoretischer Sicht – den (Zweit-) Spracherwerb zu fördern. Aus der soziokulturellen Perspektive nehmen Schüler/-innen eine aktive Rolle ein, indem sie sprachlich handeln, d. h. erklären, begründen, argumentieren, berichten usw. Die Klasse ist eine Art „Wissensbildungsgemeinschaft“: Schüler/-innen übernehmen durch ihre Beiträge Verantwortung für die Wissensgenerierung bzw. Problemlösung. Die Interaktion im Unterricht gleicht somit einem kooperativen Problemlösungsprozess. Mit der soziokulturellen Perspektive auf Lehr-Lern-Prozesse verändert sich auch die Sicht auf Lehrkräfte. Diese haben nach Reusser (2000, 86) eher die Rolle der „Gestalter und Gestalterinnen von fachlichen und reflexionsbetonten, interaktiven Lehr-Lernumgebungen“. Der Unterricht der Expertenlehrkräfte, der in der Studie von Fürstenau und Lange videografiert und analysiert wurde, weist viele Parallelen zu der hier skizzierten Auffassung von Lehr-Lern-Prozessen auf: So ist der Aneignungsprozess von Wissen unterrichtlich als Ko-Konstruktionsprozess angelegt, der sich auch auf die Gestaltung der Unterrichtsinteraktion auswirkt; die Schüler/-innen werden von den Lehrkräften auf die Relevanz der sprachlichen Formulierungsarbeit hingewiesen und übernehmen auf diese Weise Verantwortung für die Wissensgenerierung in der Klasse. Gleichzeitig haben sie die Möglichkeit, im Unterrichtsgeschehen zu interagieren und Bedeutungen auszuhandeln, eine Vorgehensweise, die dem Zweitspracherwerb zuträglich ist.
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5 Methodisch-didaktische Ansätze zur sprachlichen Bildung in mehrsprachigen Konstellationen In diesem Kapitel werden nun konkrete methodisch-didaktische Ansätze zur sprachlichen Bildung vorgestellt, die Unterricht unter der Bedingung sprachlicher Heterogenität konzeptualisieren.
5.1 Scaffolding in Prozessen sprachlicher Bildung Ein didaktischer Ansatz zu sprachlicher Heterogenität im Klassenzimmer, der in Deutschland in den letzten Jahren prominent diskutiert wurde, ist das sogenannte Scaffolding (‚Gerüstbau‘), das seine Wurzeln in der soziokulturellen Lerntheorie hat. Er wird vor allem im Sachunterricht der Grundschule angewendet (vgl. Quehl 2009; Quehl/Trapp 2013), aber auch im Fachunterricht der Sekundarstufe (vgl. Hawighorst 2010). Er bezieht sich nicht explizit auf sprachliches Lernen, ist auf dieses aber ebenso anwendbar wie auf anderes Lernen. Beim Scaffolding wird der Lernprozess durch geeignete Hilfestellungen unterstützt. Sobald der/die Lernende fähig ist, eine bestimmte Aufgabe eigenständig zu bearbeiten, entfernt man das Gerüst. Das Konzept betont die Konstruktionsleistungen der Lernenden und gleichzeitig die Aufgabe der Pädagog/-innen, im sozialen Austausch passende Lerngerüste bereitzustellen. Die australische Sprachpädagogin Pauline Gibbons (2002, 2006) hat den Ansatz eigens für den Unterricht mit einer sprachlich heterogenen Schülerschaft entwickelt, die zum Teil die Unterrichtssprache als neue Sprache lernen muss und gleichzeitig in dieser Sprache fachliche Inhalte lernen soll. Der Ansatz basiert auf ethnografischen Forschungen in Regelklassen, vor allem an Grundschulen: Gibbons hat beobachtet, wie Lehrkräfte Unterricht so gestalten, dass er sprachliches und fachliches Lernen verknüpft und Zweitsprachlernende in dieser doppelten Aufgabe unterstützt. Daraus leitet sie vier Elemente ab: Bedarfsanalyse, Lernstandsanalyse, Unterrichtsplanung und Unterrichtsinteraktion (Gibbons 2002). Das letztgenannte Element wird im Folgenden ausführlicher dargestellt. Gibbons schlägt vor, Unterricht systematisch in Phasen einzuteilen, in denen sich die Komplexität des sprachlichen Handelns der Schüler/-innen und die ‚bildungssprachliche Nähe‘ ihrer Äußerungen beim fachlichen Lernen auf vorhersagbare Weise ändern. Diese Phasen orientieren sich am von Halliday (1994) beschriebenen sogenannten mode continuum (Gibbons 2002, 128 ff.; 2006, 275 ff.). Insbesondere durch Veränderungen im Unterrichtsdiskurs sollen die Lernenden Gelegenheit erhalten, Bildungssprache aktiv zu erproben und so auszubilden. Mit Unterstützung der Lehrkraft (und der Mitschüler/-innen) wird ein sprachliches Lerngerüst gebaut, das es den Lernenden ermöglicht, sprachlich bewusst zu handeln, die für das jeweilige Thema erforderlichen Redemittel anzuwenden und zu verinnerlichen.
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In der ersten Phase (building the field) findet eine erste Auseinandersetzung mit den fachlichen Lerninhalten statt; dabei werden alle denkbaren Kommunikations- und Informationsmittel genutzt. Hier steht nicht die Sprache im Vordergrund, sondern der handelnde Umgang mit dem Lerngegenstand. Die Lernenden sammeln auf der konkret-anschaulichen Ebene erste Erkenntnisse über den Gegenstand und entwickeln ein eigenes Verständnis des zentralen Lerninhalts, das an ihre jeweiligen Lernvoraussetzungen und persönlichen Erfahrungen anknüpft. Dafür sind besonders Formen des experimentellen und entdeckenden Lernens geeignet. Wenn die Lernenden z. B. in Kleingruppenarbeit ein Experiment durchführen, ist kontextualisiertes, d. h. im „Hier und Jetzt“ eingebettetes Sprechen pragmatisch angemessen: Da sich die Gegenstände im geteilten Wahrnehmungsfeld der Schüler/-innen befinden, müssen Gegenstände und Abläufe nicht explizit bezeichnet oder beschrieben werden. In der zweiten Phase (modeling the genre) geht es darum, die Schüler/-innen explizit in das geforderte Register einzuführen und ihnen dieses bewusst zu machen; das soll ihre Aufmerksamkeit auf den spezifischen Diskurs des jeweiligen Fachs lenken. Es sollen Gelegenheiten geschaffen werden, sprachliche Mittel und Strukturen zu erproben, die dem schriftlichen Modus nahekommen. Das Kernstück ist die dritte Phase (joint construction): Hier werden in einem ko-konstruktiven Prozess inhaltliche und sprachliche Aspekte des Themas zusammengebracht. In der Grundschule liegt der Schwerpunkt hier auf den mündlichen Berichten. Die Gruppe handelt gemeinsam mit der Lehrkraft Bedeutungen aus, die zur sprachlichen Durchdringung des Lerngegenstands wichtig sind. Die Lehrkraft führt, indem sie nachfragt, umformuliert und die Lernenden zu kognitiv und sprachlich zunehmend anspruchsvollen Mitteilungen anregt. So wird ein gemeinsames Verständnis vom Lerngegenstand erarbeitet und zugleich eine Brücke zu der situationsentbundenen Sprache geschlagen, die in schriftlichen Diskursen gefordert ist. In der letzten Phase erfolgt das sog. fading out, d. h. das sprachliche Lerngerüst wird sukzessive abgebaut: Auf der Basis der gemeinsamen Arbeit am sprachlichen und inhaltlichen Verständnis schreiben die Schüler/-innen nun selbstständig Texte; sie üben sich also in einem Diskurs, der sich auf dem mode continuum weiter von Mündlichkeit und vom Handlungsgeschehen entfernt und sich an den Regeln konzeptioneller Schriftlichkeit orientieren soll. Diese Texte zeigen, ob der Unterstützungsprozess (zumindest für den Moment) erfolgreich war und ob die Lernenden über die sprachlichen Mittel verfügen, die für die Darstellung des Themas notwendig sind. Gibbons’ Forschungsergebnisse legen nahe, dass dies vielfach gelingt. So zeigt die Befragung von Schüler/-innen nach Abschluss dieser Phase, dass der soziale Austausch mit Unterstützung der Lehrkraft für fast alle eine wichtige Hilfe gewesen war; darüber hinaus gaben einige an, dass das Zuhören (beim mündlichen Berichten) eine Rolle gespielt habe (Gibbons 2006, 287). Der Ansatz des Scaffolding erscheint für sprachlich heterogene Lerngruppen insofern geeignet, als dabei sprachliche Anforderungen explizit gemacht werden. Es wird thematisiert, dass unterschiedliche Situationen und Interaktionspartner jeweils
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anderes Sprechen erfordern. Die Schüler/-innen lernen dabei zu erkennen, wann welches Register angemessen ist. Im Unterschied zu anderen Ansätzen wird hier von den Lernenden nicht verlangt, nur anhand ihrer individuellen Erfahrungen mit dem Lerngegenstand einen Text zu verfassen oder schriftliche Aufgaben zu lösen. Die von Gibbons vorgeschlagene Abfolge von Unterrichtsaktivitäten, die durch die unterschiedlichen Kontexte jeweils einen anderen sprachlichen Modus erfordern, folgt der allgemeinen Entwicklungslogik: von kontextbasierter Sprache über mündliches Berichten hin zu dekontextualisiertem Sprachgebrauch. Im deutschsprachigen Raum wurde diese Herangehensweise im Rahmen des Modellprogramms FörMig etliche Male erprobt und explorativ, aber noch nicht hinsichtlich seiner Wirkungen erforscht (vgl. Lengyel 2010). Ungeklärt ist derzeit auch, wie die multilinguale Dimension der durchgängigen Sprachbildung beim Scaffolding einbezogen werden kann, wie Gibbons es schon 2002 (69 ff.) gefordert hat. Denkbar wäre, die Gruppenarbeit zu Beginn der Unterrichtseinheit mit der Bildung von Sprachgruppen zu koppeln, die sich dann sowohl in ihrer Herkunftssprache als auch auf Deutsch austauschen können. Weitere Möglichkeiten sind z. B., Wörterbücher zu benutzen, thematische Glossare in Herkunfts- und Zweitsprachen anzulegen und in beiden (Bildungs-)Sprachen zu schreiben, vorausgesetzt, die Schüler/-innen sind bzw. werden in ihren Herkunftssprachen alphabetisiert. Denkbar ist auch, wie Flores und Garcia (2014) anhand von Fallstudien aufzeigen, „linguistic third spaces“ (ebd., 246) im Klassenzimmer zu etablieren. Damit sind sogenannte Translanguaging Praktiken gemeint, in denen die am Unterricht Beteiligten ihr gesamtes sprachliches Repertoire nutzen können, um Bedeutungen auszuhandeln (s. u.) und sich Wissen anzueignen. Der Begriff Translanguaging hebt die Dynamik der kommunikativen Praktiken Mehrsprachiger und das Ineinander-Übergehen der verwendeten Sprachen hervor. Die Autorinnen verdeutlichen, dass Lehrkräfte, die selbst translanguaging im Unterricht betreiben oder dieses zulassen, ihrerseits einen pädagogischen Beitrag im Umgang mit sprachlicher Heterogenität leisten, den Rückgriff auf mehrere Sprachen beim Lernen als legitime Praxis anzuerkennen.
5.2 Sheltered Instruction Observation Protocol – das SIOP-Modell Ein anderer Unterrichtsansatz in sprachlich heterogenen Gruppen ist das Sheltered Instruction Observation Protocol (SIOP-) Modell, das eine Integration von sprachlichem und fachlichem Lernen vorsieht. Es dient dazu, Unterricht mit Blick auf die sprachliche Heterogenität einer Lerngruppe zu analysieren und zu optimieren und insbesondere Schüler/-innen zu integrieren, die die Sprache der schulischen Instruktion lernen. Das Modell wurde in den USA ab den 1990er Jahren in Kooperation mit Lehrkräften entwickelt (Echevarria u. a. 2010). Es operationalisiert das Konzept der Sheltered Instruction (SI), einen in den USA und Kanada weit verbreiteten Ansatz für den Fachunterricht, in dem Sprache und Inhalte miteinander verbunden werden. Die
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Fachlehrkräfte bereiten die Unterrichtsinhalte systematisch so auf, dass sie den Lernenden einen Zugang dazu eröffnen und gleichzeitig deren sprachliche Entwicklung fördern. Das Ziel von SIOP selbst ist, Fachinhalte durch einen Sprachbildungsansatz zu vermitteln, der sich an den Entwicklungswegen der Zweitsprachlernenden orientiert (vgl. Echevarria u. a. 2010, 13). Für die Planung und Vorbereitung des Unterrichts sowie seine Umsetzung und Evaluation wurden auf empirischer Basis Kriterienkataloge entwickelt, die in acht sogenannten Komponenten zusammengefasst sind. Für den vorliegenden Zusammenhang sind besonders jene Komponenten aufschlussreich, die an die deutschsprachige Diskussion zum Umgang mit sprachlicher Heterogenität anknüpfen und den Stellenwert der Interaktion im Klassenzimmer untermauern, nämlich die Komponenten verständlicher Input, Strategien und Interaktion. Diese beinhalten, dass Aufgabenstellungen verständlich und eindeutig formuliert und Scaffolding-Techniken genutzt werden, dass regelmäßig Gelegenheit zu interaktiver Bedeutungsaushandlung gegeben und bei Schülerantworten hinreichend lange gewartet wird. Ein weiteres Kriterium trägt der Mehrsprachigkeit von Schüler/-innen Rechnung: In Interaktionsphasen sollen sie Material und genügend Zeit bekommen, um wichtige fachliche Konzepte in ihren Erstsprachen zu klären. Das SIOP-Modell weist deutliche Parallelen zu den oben genannten Qualitätsmerkmalen für sprachbildenden Unterricht auf, die im Modellprogramm FörMig entwickelt wurden (Gogolin u. a. 2011b). Der kriteriale Differenzierungsgrad ist aber deutlich höher und das Modell und die Zusammenstellung der Komponenten basiert auf empirischen Erkenntnissen. Eine Übertragung des Modells für den deutschen Sprachraum hat noch nicht stattgefunden, dementsprechend gibt es noch keine Untersuchungen, welche Erträge SIOP als umfassendes didaktisches Modell für die Gestaltung eines bildungssprachförderlichen Fachunterrichts, in dem auch die Mehrsprachigkeit der Schüler/-innen Einzug erhält, bietet.
5.3 Der Language-Awareness-Ansatz Dieser Ansatz stammt ursprünglich aus England und wurde im Grunde nicht für sprachlich heterogene Gruppen entwickelt, er kommt aber vor allem in diesem Kontext zum Einsatz (vgl. Hawkins 1984/1987; James/Garrett 1992). Er verfolgt allgemein das Ziel, dass die Schüler/-innen sich bewusst mit Sprache und Sprachen auseinandersetzen. Dies soll sie vor allem auf das Leben in einer mehrsprachigen Gesellschaft vorbereiten; auch Dialekte können mit dem Ansatz berücksichtigt werden. Nach dem Language-Awareness-Ansatz sollen sich die Schüler/-innen auf vier Ebenen mit Sprache/n beschäftigen (vgl. James/Garrett 1992): Auf der kognitiven Ebene soll an Regeln und Mustern unterschiedlicher Sprachen gearbeitet werden, um metasprachliches Wissen zu gewinnen. Auf der emotionalen Ebene soll eine positive Einstellung zu Sprache, Fremd- und Herkunftssprachen und Sprachenvielfalt an sich entwickelt werden. Auf der sozialen Ebene sollen die Schüler/-innen Zusammenhänge zwischen
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Sprache, Sprecher/-innen und deren schulischer wie gesellschaftlicher Bewertung erkennen, während sie auf der Ebene von Macht die Rolle von Sprache z. B. in Institutionen, den Medien und der Politik bearbeiten und sich vergegenwärtigen sollen, wie Sprachen – und damit auch ihre Sprecher/-innen – unterdrückt oder gefördert werden. Ausgehend von diesem Ansatz wurden im europäischen Raum eine Reihe von Projekten durchgeführt, in denen Unterrichtsmaterialien für Grundschulen entwickelt und erprobt wurden, wie z. B. das Evlang-Projekt (Candelier 2004) oder das Schweizer Projekt ELBE, in dem Language awareness-Materialien in den regulären (Fach-)Unterricht eingebunden wurden (vgl. Nordwestschweizerische EDK 2007). In Deutschland wurde der Ansatz zunächst im Sinne einer Begegnung mit Sprachen vor allem auf den frühen Fremdsprachenunterricht in der Schule bezogen, später auch auf die interkulturelle Deutschdidaktik, in der die Beschäftigung mit Sprache(n) und Mehrsprachigkeit, besonders die Sprachreflexion, einen zentralen Stellenwert hat (Oomen-Welke 2000; Luchtenberg 2010; Wildemann 2013). Language Awareness fördert das Nachdenken über Sprache/n (metasprachliche Reflexionen); die Aufmerksamkeit wird hier auf Sprache als Lerngegenstand gerichtet. Neugierde auf und Interesse an Sprachen, Sprachvielfalt und sprachlichen Phänomenen, kulturspezifischen Regeln und Mustern sollen ebenso geweckt werden wie die Fähigkeit zur Sprachanalyse, auch unter vergleichenden Gesichtspunkten. Zudem sollen die unterschiedlichen sprachlichen Register in verschiedenen Kontexten bewusst werden (z. B. Bildungssprache in der Schule, auf Ämtern, in der Öffentlichkeit; Umgangssprache in der Freizeit, unter Peers). Auf diese Weise sollen die Schüler/-innen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Sprachen erkennen und damit die eigene Sprachverwendung besser reflektieren können. Für die konkrete Umsetzung in die Unterrichtspraxis hat insbesondere Schader (2012) umfangreiche Vorschläge erarbeitet; Chadwik (2012) hat ein Toolkit entwickelt, in dem LanguageAwareness-Aktivitäten an die Vermittlung von Bildungssprache im Sprach- wie auch im Fachunterricht gekoppelt werden. Allerdings liegen noch keine empirischen Untersuchungen vor, die Aufschluss geben, wie der Language-Awareness-Ansatz (auf Dauer) implementiert werden kann oder darüber, wie Language Awareness auf individuelle Schüler/-innen z. B. bezogen auf ihr metasprachliches Bewusstsein und auf Lerngruppen z. B. im Hinblick auf ein sprachförderliches und -freundliches Klima wirkt.
5.4 Content and Language Integrated Learning (CLIL) und bilingualer Unterricht Bilinguale Schulmodelle sind in Deutschland nicht sehr verbreitet, bieten aber eine gute Grundlage, um mit sprachlicher Heterogenität produktiv umzugehen (vgl. den Beitrag von Gebauer u. a. in diesem Handbuch). Es gibt die staatlichen Europaschu-
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len in Berlin mit neun verschiedenen zu lernenden Sprachen, bilinguale Grundschulen mit vier Sprachen in Hamburg und weitere einzelne Schulen über das ganze Bundesgebiet verteilt. Weiter verbreitet ist der bilinguale Sachfachunterricht (CLIL) in der Sekundarstufe: Einzelne Sachfächer – in der Regel gesellschafts- und sozialwissenschaftliche Fächer – werden in einer anderen Sprache als der üblichen Instruktionssprache (hier Deutsch) unterrichtet (Wolff 2013). Dieses Modell hat sich besonders in „elitären Kontexten“ (französische Gymnasien in verschiedenen Ländern, englischsprachige Internate, deutsche Auslandschulen; vgl. ebd., 285) bewährt. Sukzessive und vereinzelt wurde CLIL deshalb in Schulen des allgemeinen Bildungssystems in Europa übertragen, so auch in den deutschen Bildungskontext. Ungeklärt ist dabei allerdings, ob die vorherrschende (lebensweltliche) Mehrsprachigkeit in den Schulen die Einführung und Umsetzung des CLIL-Ansatzes befördert oder eher behindert. Wolff (2013, 296–298) kommt zu dem Schluss, dass es durchaus möglich sei, den Ansatz auf größere Lernergruppen auszudehnen, auch solche, die nicht aus „elitär mehrsprachigen Menschen“ (ebd., 297) bestünden. Eine Voraussetzung dafür sei allerdings, dass die Kinder in ihren Herkunftssprachen schulisch gefördert würden und in ihren Sprachen früh Lese- und Schreibfähigkeiten ausgebildet hätten. Neben dem Erreichen sachfachlicher Lernziele ist eins der Ziele von CLIL, Fachsprachlichkeit in zwei Sprachen zu erreichen und die Fähigkeit zum interkulturellen Lernen auszubilden. Dabei werden Sprache und Inhalt gleichermaßen vermittelt, Sprache ist also nicht nur Medium, sondern auch Inhalt des Unterrichts (vgl. ebd.). CLIL arbeitet ebenfalls nach dem Language-Awareness-Ansatz: Alle Schüler/-innen sollen auch metasprachliche Kompetenzen erwerben. Ähnlich wie CLIL verfolgen bilinguale Schulmodelle das Ziel, Bilingualität und Biliteralität und nicht zuletzt Interkulturalität auszubilden. Bei alldem soll sichergestellt werden, dass die Bildungssprache Deutsch in der Grundschule so weit ausgebildet ist, dass die Schüler/-innen die Sekundarstufe erfolgreich absolvieren können. Ohne auf die unterschiedlichen Konzeptionen bilingualen Unterrichts einzugehen oder auf die Debatten zur Frage, ob die Förderung der Herkunftssprachen sich positiv auf den Zweitspracherwerb auswirkt und ob wir sie uns ‚leisten‘ können (vgl. Esser 2009), soll im Folgenden erörtert werden, welche didaktisch-methodischen Erkenntnisse aus diesem Unterricht für den multilingualen Regelunterricht gezogen werden können. Neumann, die an der Einführung und wissenschaftlichen Begleitung bilingualer Schulklassen an Hamburger Grundschulen (für die vier Sprachenpaare Italienisch-Deutsch, Portugiesisch-Deutsch, Spanisch-Deutsch und TürkischDeutsch, vgl. Gogolin/Neumann/Roth 2009) beteiligt war, leitet aus den Ergebnissen einige didaktisch-methodische Prinzipien ab, die aus ihrer Sicht für sprachlich heterogene Klassen geeignet sind und hier den Unterricht bereichern und innovieren können (vgl. Neumann 2009, 327–329): Aufgrund der positiven Erfahrungen mit koordinierter zweisprachiger Alphabetisierung schlägt sie vor, die Alphabetisierung im herkunftssprachlichen Unterricht – sofern es solchen an den Schulen gibt – inhaltlich (z. B. Reihenfolge der Einführung von Buchstaben) und methodisch auf den Schreib-
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lehrgang in mehrsprachigen Regelklassen abzustimmen. Auch das Ziel interkultureller Erziehung, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und Handlungsfähigkeit in multikulturellen Gesellschaften zu schulen, könne durch „Rückgriff auf Texte in den Herkunftssprachen leichter erreicht werden“ (ebd., 328). Dies setzt voraus, dass die Schüler/-innen in den Herkunftssprachen alphabetisiert werden und die Schulen mit herkunftssprachlichen Lehrkräften und Eltern kooperieren. Zudem könnten die Sprachen durch andere mehrsprachige Medien stärker im Klassenzimmer präsent gemacht werden. In den bilingualen Modellen hat sich auch die Verbindung von Sprach- und Sachlernen als „sehr förderlich für den Spracherwerb“ (ebd., 328) erwiesen. Hierfür müssen die Fachlehrkräfte die sprachlichen Anforderungen ihres Fachs kennen und gleichzeitig dafür sorgen, dass in der bilingualen Unterrichtskommunikation die benötigten sprachlichen Mittel erarbeitet bzw. gesichert werden. Dies fördert nach Neumann einen bewussten Umgang mit Sprache im Unterricht. Durch das Teamteaching, bei dem zwei Lehrkräfte gemeinsam unterrichten und eine Lehrkraft jeweils eine der beiden Sprachen des Modells repräsentiert, würden die Schüler/-innen ihre Lehrkräfte als „verschieden und Sprachlernende“ (Neumann 2009, 329) erleben. Das ermögliche Sprachvergleiche und -analysen, die im Sinne des Language-AwarenessAnsatzes Sprachbewusstheit fördern. Bilinguale Modelle eignen sich außerdem gut, um neben Sprachentrennung, die entweder durch die Sache (das jeweils unterrichtete Thema/Fach) oder die Person (für unterschiedliche Sprachen verantwortliche Lehrkräfte) vorgegeben ist, auch Räume für Translanguaging zu eröffnen.
6 Fazit Sprachliche Heterogenität im Klassenzimmer ist im heutigen Bildungssystem weder eine Randerscheinung, mit der (angehende) Lehrkräfte, Schulen oder Aus-, Fort- und Weiterbildungsstätten sich nicht beschäftigen müssten, noch wird mit der Frage nach einem ‚angemessenen‘ Umgang damit Neuland betreten. Dabei geht es nicht nur um Deutsch als Zweitsprache und ihre Förderung, denn unabhängig davon, ob ein- oder mehrsprachig sozialisiert, kommen alle Kinder und Jugendlichen heute mit unterschiedlichen Sprachen, Registern, Dia-, Sozio-, und Ethnolekten in Berührung. Es ist eine lohnenswerte Aufgabe unserer Zeit, diesen sprachlichen Variantenreichtum in der Schule aufzugreifen und für die explizite Spracharbeit zu nutzen. Wie der vorliegende Beitrag gezeigt hat, gibt es bereits umfassende Konzepte, die auf unterschiedlichen Ebenen von Schule (z. B. Unterricht und Kollegium, Curriculum, Einzelschule) ansetzen. Auch didaktisch-methodische Ansätze zum Umgang mit sprachlicher Heterogenität stehen zur Verfügung, von expliziter Vermittlung des Deutschen als Zweit- und Bildungssprache über die Förderung der metasprachlichen Bewusstheit bis zu bilingualem Sach-/Fachlernen und der didaktisch-methodischen
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Einbeziehung der Herkunftssprachen, um diese als Bildungssprachen auszubauen. Allerdings sind Reichweite und Wirkungen dieser Ansätze bis dato kaum erforscht. Auch fehlen Studien, die auf der Mikroebene das Unterrichtsgeschehen und die Unterrichtsprozesse (die Arbeit an der Sprache im Detail usw.) analysieren und auch der Frage nachgehen, ob und inwiefern die jeweiligen Ansätze dazu beitragen, soziale Ordnungen im Klassenzimmer neu zu verhandeln. Aber auch subjektorientierte Untersuchungen, die die Sicht einzelner Beteiligter auf ihre sprachlichen Bildungsprozesse rekonstruieren und herausarbeiten, was sie als hilfreich erleben, können Aufschluss darüber geben, wie der Umgang mit sprachlicher Heterogenität erfolgreich gestaltet werden kann. Zu den Desideraten gehört auch, den Herkunftssprachlichen Unterricht (HU) in seinen unterschiedlichen Facetten empirisch stärker in den Blick zu nehmen, als dies bislang geschehen ist. Über die Didaktik des HU ist wenig bekannt – aber wenn über den Umgang mit sprachlicher Heterogenität nachgedacht wird, sollte der HU in jedem Fall mit berücksichtigt werden. Des Weiteren fehlt nach wie vor ein Gesamtmodell sprachlicher Bildung, das Mehrsprachigkeit als integrativen Bestandteil beinhaltet und an Bildungs- und Fachsprache(n) heranführt. Die theoretische Entwicklung eines solchen Modells sollte als integrative Aufgabe verstanden werden, die unterschiedlichen disziplinären Entwicklungen und Modellen Rechnung trägt (Deutschdidaktik, Fremdsprachendidaktik, Forschung zu (Zweit-)Spracherwerb und Mehrsprachigkeit sowie interkulturelle Bildung(sforschung) und Erziehungswissenschaft). Anknüpfungspunkte für ein solches Gesamtkonzept sprachlicher Bildung bieten die hier dargestellten Rahmenkonzepte. Der interkulturellen Bildungsforschung als Subdisziplin der Erziehungswissenschaft kann bei dieser Entwicklung (und bei der empirischen Prüfung eines solchen Gesamtkonzepts) eine Schlüsselrolle zukommen: Als ‚Integrationswissenschaft‘ bietet sie sich für diese Aufgabe geradezu an, denn das Geschäft der Erziehungswissenschaft besteht, allgemein formuliert, genau darin: Erziehungs- und Bildungsprozesse, also auch Fragen der sprachlichen Bildung in mehrsprachigen Gesellschaften, unter Einbeziehung von Erkenntnissen ihrer Nachbardisziplinen theoretisch zu modellieren und empirisch zu untersuchen.
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25. Sprachliche Fähigkeiten und Intelligenz Abstract: Im vorliegenden Beitrag beleuchten wir zum einen die Rolle der Sprache in Intelligenztheorien und -tests, zum anderen sollen die Zusammenhänge zwischen Konstrukten aus der Intelligenzforschung und der empirischen Bildungsforschung diskutiert werden. Im ersten Teil des Beitrags gehen wir auf die Rolle sprachlicher Fähigkeiten in etablierten Intelligenztheorien ein. Dabei wird herausgearbeitet, dass alle Strukturtheorien sprachliche Fähigkeiten berücksichtigen, jedoch mit unterschiedlicher Gewichtung. Im zweiten Teil fassen wir empirische Befunde zu den Beziehungen zwischen etablierten Faktoren der Intelligenzforschung und sprachgebundenen Denkleistungen, wie sie in großen Schulleistungsstudien im Bildungsbereich untersucht werden, zusammen. Im dritten Abschnitt thematisieren wir schließlich die Rolle der Sprache bei der Entwicklung, Anwendung und Auswertung von Intelligenztests. Aus dieser Zusammenschau wird deutlich, dass kein psychologisches Testverfahren vollends sprach- und kulturunabhängig ist. Abschließend gehen wir auf die Messung der kognitiven Leistungsfähigkeit in sprachlich und kulturell heterogenen Populationen ein. 1 Sprachliche Fähigkeiten in etablierten Intelligenzstrukturtheorien 2 Intelligenzfaktoren und sprachgebundene Denkleistungen in Schulleistungsstudien 3 Rolle der Sprache in Testentwicklung, Testanwendung und Testinterpretation 4 Abschließende Bemerkungen 5 Literatur
1 Sprachliche Fähigkeiten in etablierten Intelligenzstrukturtheorien 1.1 Anfänge der psychometrischen Intelligenzforschung Die prominente Rolle sprachlicher Fähigkeiten bei der Messung und theoretischen Charakterisierung von Intelligenz lässt sich bis zum Beginn der psychometrischen Intelligenzforschung im späten 19. Jahrhundert zurückverfolgen. So beschrieb bereits Ebbinghaus (1897) ein Verfahren, bei dem Schülerinnen und Schüler in kurzen Texten unvollständige Wörter sinnhaft vervollständigen sollten, und bezeichnete dieses Verhalten explizit als Intelligenztätigkeit. Ähnliche Testformate sind heute unter den Bezeichnungen C-Test, Completion Test und Cloze Test bekannt und gebräuchlich zur Messung allgemeiner sprachlicher Fähigkeiten (vgl. auch Taylor 1957).
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Zu den ersten methodisch sophistizierten Untersuchungen der Intelligenzstruktur zählen Spearmans Arbeiten zum Generalfaktor der Intelligenz (vgl. etwa Spearman 1904). Darin stellte er fest, dass Leistungstests verschiedener Art positiv miteinander korrelieren, und erklärte diese positive Vielfalt durch einen Generalfaktor, auch g-Faktor genannt. Frühe empirische Untersuchungen zeigten, dass enge Beziehungen zwischen sprachlichen Leistungen wie den Lückentext-Aufgaben nach Ebbinghaus und g bestanden (Krueger/Spearman 1907). Spearman betrachtete jedoch dekontextualisiertes schlussfolgerndes Denken als Kern des g-Faktors und somit das Erschließen von Relationen und Korrelaten als zentralen Prozess; zur Messung individueller Unterschiede in g favorisierte er dementsprechend nonverbale Aufgaben wie Matrizentests (Spearman 1927; 1938). Damit haben wir an dieser Stelle eine Unterscheidung unterschiedlicher kognitiver Leistungen angedeutet, die bereits von Binet/Simon (1905) vorgenommen wurde. Sie unterschieden zwischen einer psychologischen Methode der Intelligenzmessung, die auf weitgehend vorwissensunabhängige Denkprozesse abzielt, und einer päda gogischen Methode, welche die Ergebnisse von Bildung und Erfahrung – mithin also auch Sprachwissen – in den Vordergrund der Messung stellt. Die hierin zum Ausdruck kommende Differenzierung zwischen primär lern- und erfahrungsabhängigen Leistungen einerseits und dekontextualisierten Denkleistungen andererseits legt eine multifaktorielle Natur des Intelligenzkonstrukts nahe. Diese Ansicht wurde unter anderem von Thurstone vertreten, der die Idee eines Generalfaktors zunächst ablehnte und stattdessen sog. Gruppenfaktoren unterschied, darunter schlussfolgerndes Denken und Sprachverstehen, aber auch andere Faktoren wie Merkfähigkeit und Raumvorstellung (Thurstone/Thurstone 1941). Positive Korrelationen zwischen Tests erklärte Thurstone dadurch, dass die Tests die gleichen Gruppenfaktoren beanspruchten. Zudem wollen wir auf Hebb (1942) verweisen, der zwischen einer stark biologisch verankerten Intelligenz A, im Wesentlichen charakterisiert als schlussfolgerndes Denken, und einer erfahrungsabhängigen Intelligenz B unterschied. Während Thurstones Theorie stark auf der Anwendung der Faktorenanalyse beruhte, waren Hebbs Überlegungen durch klinische Befunde motiviert. Ausschlaggebend war dabei die Beobachtung, dass Hirnschädigungen bei Kindern meist alle Bereiche der Kognition betrafen, Hirntraumata im Erwachsenenalter jedoch oft den verbalen Bereich aussparten, was eine Dissoziation zwischen Sprache und anderen Aspekten der Kognition nahelegte.
1.2 Gf-Gc-Theorie Nahezu zeitgleich stellte Cattell (1943) die auch heute noch prominente Unterscheidung zwischen fluider Intelligenz (gf ) und kristalliner Intelligenz (gc) vor. Während gf demzufolge ähnlich wie Hebbs (1942) Intelligenz A individuelle Unterschiede in dekontextualisiertem schlussfolgerndem Denken widerspiegelt, zeigt sich kristalline
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Intelligenz in Anlehnung an Intelligenz B in Leistungen, bei denen zuvor erlernte Fertigkeiten und Wissen zentral sind. Empirische Studien zur Unterscheidung zwischen gf und gc wurden von Cattell und dessen Schüler Horn erst ab den 1960er Jahren veröffentlicht (vgl. etwa Cattell 1963; Horn/Cattell 1966). Die in diesen Studien eingesetzten gc-Tests hatten überwiegend hohe sprachliche und/oder Wissensanforderungen (z. B. Wortschatztests). Neben Strukturanalysen wurde weitere Evidenz hinzugezogen, beispielsweise zu unterschiedlichen Altersverläufen für die beiden Intelligenzfaktoren (Horn/Cattell 1967). Cattell (1971) machte deutlich, dass gc als sehr breiter Faktor zu verstehen ist, der sich auf die Gesamtheit des Wissens bezieht, das Menschen im Laufe ihres Lebens erwerben und zum Problemlösen einsetzen. Besonders deutlich wird dies in seinen Überlegungen zur Messung kristalliner Intelligenz bei Erwachsenen. Während die Lernumwelten von Kindern und Jugendlichen durch Schulbesuch und kulturelle Konventionen noch weitgehend homogen sind, nimmt mit zunehmendem Lebensalter die Spezialisierung in Form unterschiedlicher Berufswahlen und verschiedenartiger Freizeitaktivitäten zu. Nach der Schulzeit werden so die Möglichkeiten zum Wissenserwerb für verschiedene Individuen zunehmend unterschiedlich und die Lernumwelten heterogener. Eine umfassende Messung kristalliner Intelligenz im Erwachsenenalter müsste nach Cattell (1971) demnach eine nahezu unendliche Vielfalt an Wissensbereichen abdecken. Obwohl dies praktisch nicht umsetzbar ist, verdeutlichen diese Überlegungen jedoch, dass Cattells Definition von gc nicht nur Sprachwissen einschließt, sondern noch weit darüber hinaus geht. Die Gf-Gc-Theorie wurde mehrfach erweitert und beschreibt in der aktuellen Fassung (Horn 2008; Horn/Noll 1997) insgesamt neun breite Fähigkeitsfaktoren. Neben gf und gc sind dies Kurzzeitgedächtnis, Langzeitgedächtnis, Visuelle Verar beitung, Auditorische Verarbeitung, Verarbeitungsgeschwindigkeit, Entscheidungsge schwindigkeit und Quantitatives Wissen. Unterhalb dieser breiten Faktoren befinden sich in der Hierarchie jeweils weitere, vom Gegenstandsbereich her enger definierte Faktoren erster Ordnung. Die Definition von gc hat sich gegenüber der o. g. ursprünglichen Definition kaum verändert. So beschreiben auch Horn/Noll (1997, 69) kristalline Intelligenz als „akkulturiertes Wissen“, das über Aufgaben gemessen wird, die „Tiefe und Breite des Wissens der dominanten Kultur“ widerspiegeln. Die unterhalb von gc angeordneten Faktoren erster Ordnung sind stark sprachlastig. Zur Messung dieser Faktoren werden häufig Aufgaben verwendet, die neben hohen Wissensanforderungen insbesondere hohe Anforderungen an den Wortschatz stellen. So sind etwa zu vorgegebenen Wörtern Antonyme bzw. Synonyme zu finden oder es müssen einzelne Sätze oder kurze Textabschnitte sinnvoll vervollständigt werden.
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1.3 Drei-Stratum-Theorie Breiten Raum nehmen sprachliche Fähigkeiten in Carrolls (1993) einflussreicher DreiStratum-Theorie ein. Carroll reanalysierte insgesamt 461 Datensätze zu kognitiven Fähigkeitskonstrukten und erarbeitete auf dieser Grundlage eine Strukturtheorie mit Intelligenzfaktoren auf verschiedenen Schichten, sog. Strata. Auf dem dritten Stratum befindet sich der allen anderen Faktoren übergeordnete Faktor Allgemeine Intelligenz. Darunter werden acht breite Faktoren beschrieben, die denen der erweiterten GfGc-Theorie ähneln. Neben fluider und kristalliner Intelligenz sind dies Gedächtnis/ Lernen, Breite visuelle Wahrnehmung, Breite auditorische Wahrnehmung, Breite Abruf fähigkeit, Breite kognitive Geschwindigkeit und Verarbeitungsgeschwindigkeit. Auf dem untersten Stratum schließlich befindet sich eine Vielzahl schmaler Fähigkeitsfaktoren, welche die Faktoren des zweiten Stratums näher bestimmen. Carroll beschäftigte sich zeitlebens intensiv mit dem Spracherwerb und der Sprachentwicklung (vgl. etwa Stansfield/Reed 2004). Daher verwundert es nicht, dass Carroll (1993) in seine umfangreichen Reanalysen zahlreiche faktoranalytische Studien zu verschiedenen sprachlichen Fähigkeitskonstrukten wie Wortschatz, Leseverstehen, Schreibfähigkeiten, mündliche Sprachproduktion und Fremdsprachenbeherrschung einbezog. Dabei ging er nicht davon aus, dass sich alle untersuchten sprachlichen Konstrukte empirisch voneinander abgrenzen lassen, und konstatierte in vielen Fällen eine unklare oder widersprüchliche Befundlage. Sprachliche Fähigkeiten werden in der Drei-Stratum-Theorie unterhalb des breiten gc-Faktors verortet. Wissensleistungen behandelte Carroll (1993) hingegen nur am Rande und dokumentierte deren hohe Korrelation mit dem gc-Faktor. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Definition von gc in der Drei-Stratum-Theorie im Unterschied zu Cattells (1971) Auffassung weniger auf Wissen fokussiert, sondern individuelle Unterschiede in fremd- und verkehrssprachlichen Fähigkeiten in den Vordergrund stellt.
1.4 Cattell-Horn-Carroll (CHC)-Theorie In jüngster Zeit wurde mit der Cattell-Horn-Carroll (CHC)-Theorie der Versuch unternommen, die erweiterte Gf-Gc-Theorie und die Drei-Stratum-Theorie zu vereinen und weiterzuentwickeln (vgl. etwa McGrew 2009). Die CHC-Theorie umfasst daher einerseits die Konstrukte aus den bereits angesprochenen Theorien – teilweise in leicht veränderter Form –, andererseits aber auch zusätzliche Konstrukte, deren Status als abgrenzbare Intelligenzfaktoren zumeist noch unzureichend untersucht ist. Für eine Betrachtung der Überlappungsbereiche zwischen Intelligenz und Sprache besonders bedeutsam ist der Faktor grw, der individuelle Unterschiede in schriftsprachlichen Leistungen (reading-writing) widerspiegelt, im Unterschied zu Carrolls Theorie jedoch nicht unterhalb, sondern neben gc und somit als davon abgrenzbares Konstrukt vergleichbarer Breite konzeptualisiert wird. Der gc-Faktor im CHC-Modell bezieht sich
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hingegen auf kulturell geteiltes Wissen, das „universelle Erfahrungen der Individuen einer Kultur“ widerspiegelt (McGrew 2009, 6) sowie auf mündlich erfasste Sprachfähigkeiten wie Wortschatz und Sprechen. Erste empirische Untersuchungen deuten darauf hin, dass eine Abgrenzung sprachlicher Leistungen von Faktenwissen in anderen Domänen empirisch haltbar und sinnvoll sein kann (Schipolowski/Wilhelm/ Schroeders 2014; Woodcock 1998). Fragwürdig erscheint jedoch die unterschiedliche Faktorzuordnung von mündlichen im Vergleich zu schriftsprachlichen Leistungen. Ferner wird im CHC-Modell eine konzeptuell wie empirisch streitbare Abgrenzung des durch den gc-Faktor repräsentierten „Allgemeinwissens“ von bereichsspezifischem Wissen vorgenommen, das durch das ebenfalls auf der zweiten Generalitäts ebene verortete Konstrukt gkn (knowledge) repräsentiert werden soll (McGrew 2009).
1.5 Berliner Intelligenzstrukturmodell (BIS) Mit dem Berliner Intelligenzstrukturmodell (Jäger 1984; Jäger/Süß/Beauducel 1997) soll abschließend eine Strukturtheorie angesprochen werden, die inhaltliche und operative Attribute von Leistungstests in den Vordergrund rückt und als Fortsetzung der facettentheoretischen Ansätze in der Intelligenzstrukturforschung gesehen werden kann (vgl. etwa Guttman/Levy 1991). Das BIS beruht auf der Sichtung von ca. 2000 Aufgabentypen aus der Intelligenzforschung, die systematisch reduziert mehreren Personenstichproben zur Bearbeitung vorgelegt und anschließend mit explorativen Faktoren- und Clusteranalysen hinsichtlich der zugrunde liegenden Struktur untersucht wurden. Die Theorie nimmt zwei Strukturdimensionen bzw. Facetten („Modalitäten“) an, nach denen Intelligenzleistungen klassifiziert werden können: Operationen (Verarbeitungskapazität, Bearbeitungsgeschwindigkeit, Einfallsreichtum, Merkfähigkeit) und Inhalte (verbal, numerisch, figural-bildhaft). Mit der Bündelungstechnik (Jäger 1982) werden diese beiden Modalitäten gegeneinander ausbalanciert, so dass sie unabhängig voneinander untersucht werden können. Daneben wird auch im BIS von einer Fähigkeitshierarchie ausgegangen und eine übergeordnete Allge meine Intelligenz angenommen. Sprachliche Fähigkeiten stellen keine eigenständige Fähigkeit dar, sondern werden als basale Bestandteile des verbalen Aspektes der Inhaltsmodalität, der Fähigkeit zum sprachgebundenen Denken, betrachtet (Süß/ Beauducel 2011). Auch breit gefächerte Wissensleistungen, die in den zuvor besprochenen Theorien gc zugeordnet werden, finden im BIS keine eigenständige Berücksichtigung.
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1.6 Zusammenfassung Die Zusammenschau der Intelligenzstrukturtheorien verdeutlicht, dass der in der Fachliteratur vertretene Intelligenzbegriff nahezu alle Verhaltensäußerungen umfasst, die Cronbach (1949) unter „maximales Verhalten“ subsumierte. Intelligenz kann somit als Oberbegriff für kognitive Leistungen gedeutet werden (Wilhelm/ Schipolowski 2010). Diese allgemeine Definition schließt natürlich auch sprachgebundene Leistungen mit ein, weshalb Sprache Bestandteil aller etablierten Strukturtheorien ist, wenngleich je nach Theorie unterschiedlich prominent. Betrachten wir die hier vorgestellten Theorien, so werden sprachliche Fähigkeiten meist dem Faktor kristalline Intelligenz (gc) zugeschrieben. Ausnahmen stellen zum einen das BIS und zum anderen die CHC-Theorie dar. Letztere ordnet schriftsprachliche Fähigkeiten in Abgrenzung zu den Theorien von Carroll und Cattell einem gesonderten Faktor grw zu. Der je nach Theorie sehr breiten Definition von gc steht dessen inhaltlich eingeschränkte Erfassung über vorwiegend sprachliche Indikatoren wie Wortschatztests gegenüber. Diese Praxis entspricht am ehesten dem sprachbetonten gc Carrolls bzw. einer Mischung aus den Faktoren gc und grw in der CHC-Theorie. Versuche, der Breite des gc-Faktors sensu Cattell Rechnung zu tragen, sind hingegen selten. Eine Ausnahme stellen hier vor allem die Arbeiten von Ackerman und Kollegen dar (vgl. etwa Ackerman 2000). Mit Blick auf standardisierte Testverfahren finden sich entsprechende Ansätze beispielsweise im Intelligenzstrukturtest in der Fassung I-S-T 2000 R (Liepmann u. a. 2007), der einen Wissenstest umfasst, sowie im Berliner Test zur Erfassung fluider und kristalliner Intelligenz (BEFKI; Wilhelm/Schroeders/Schipolowski 2014), der Wissen ebenfalls breit über 16 Inhaltsbereiche erfasst.
2 Intelligenzfaktoren und sprachgebundene Denkleistungen in Schulleistungsstudien Im vorhergehenden Abschnitt wurden sprachliche Fähigkeiten zunächst aus der Perspektive der Intelligenzstrukturforschung betrachtet. Im Folgenden wollen wir die Betrachtung auf die empirische Bildungsforschung ausweiten, in deren Rahmen ebenfalls sprachgebundene Denkleistungen untersucht wurden. So ist die Messung sprachgebundener Leistungen wie Schreiben und Leseverstehen zum Teil seit mehreren Jahrzehnten fester Bestandteil internationaler Programme zum Bildungsmonitoring (vgl. etwa das US-amerikanische National Assessment of Educational Progress; beispielsweise für das Schreibassessment Persky/Daane/Jin 2003). Auch in Deutschland wurden sprachliche Fähigkeiten seit der ersten Erhebung im Rahmen des Pro gramme for International Student Assessment (PISA 2000; Baumert u. a. 2001) in verschiedenen Large-Scale Assessments untersucht (vgl. etwa DESI-Konsortium 2008).
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2.1 Vergleich von Kompetenz- und Intelligenzbegriff Bei der Rezeption einschlägiger Veröffentlichungen zu Schulleistungsstudien (etwa Baumert u. a. 2001; Köller/Knigge/Tesch 2010; OECD 2009) fällt aus der Perspektive der Intelligenzforschung zunächst auf, dass trotz offensichtlicher Überschneidungen zwischen den in diesen Studien erhobenen Konstrukten und den oben besprochenen Intelligenzfaktoren nur selten ein expliziter Bezug zum Intelligenzbegriff hergestellt wird. Schulleistungsstudien im deutschsprachigen Raum beziehen sich stattdessen meist auf den Kompetenzbegriff (F. E. Weinert 1999). Kognitive Kompetenzen werden dabei als kognitive Leistungsdispositionen und Resultate kumulativer Wissenserwerbsprozesse definiert (Baumert u. a. 2009) und anhand der Merkmale Erlernbarkeit, Kontextspezifität und Lebensweltbezug von Intelligenzleistungen abgegrenzt (Hartig/Klieme 2006; Koeppen u. a. 2008). Eine solche Abgrenzung ist in verschiedener Hinsicht problematisch (Wilhelm/Nickolaus 2013; Wilhelm/Schipolowski 2010). So sind Effekte von Training und Beschulung auch für Intelligenzleistungen gut belegt – dies gilt auch für fluide Intelligenz (Becker u. a. 2012; Ceci 1991; Klauer 2014). Mit Blick auf die für kognitive Kompetenzen postulierte höhere Kontext- bzw. Bereichsspezifität ist festzuhalten, dass einerseits auch die in Schulleistungsstudien gemessenen Kompetenzen sehr breit definierte Konstrukte darstellen, denen übergreifende Bedeutung für verschiedenste Lern- und Lebensbereiche zugeschrieben wird (vgl. etwa die Definition von Lesekompetenz als „wesentliche Voraussetzung für den weiteren Kompetenzerwerb in der Schule“ und „die Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben“, Jude u. a. 2013, 201). Andererseits werden auch in konsensualen Intelligenztheorien Konstrukte unterschiedlicher Generalität beschrieben (vgl. die oben dargestellten hierarchischen Strukturtheorien). Schließlich zeichnen sich Aufgaben in Kompetenztests im Vergleich zu typischen Intelligenztestaufgaben zwar häufig durch eine stärker lebensweltbezogene Einbettung aus, die Bedeutsamkeit der in Intelligenztests gemessenen Konstrukte für den gesellschaftlichen und persönlichen Erfolg ist jedoch gut belegt (vgl. etwa die umfangreiche Literatur zum Zusammenhang zwischen Intelligenz und Berufserfolg; Ones/Viswesvaran/Dilchert 2004). Aus konzeptueller Perspektive besteht die größte Überlappung zwischen Kon strukten der Schulleistungs- und Intelligenzforschung zwischen global verstandenen kognitiven Kompetenzen und kristalliner Intelligenz, da für beide die Abhängigkeit von Lernen und Erfahrung als zentraler Definitionsbestandteil gelten kann (Carroll 1993; Cattell 1971). Darüber hinaus umfassen Kompetenzdefinitionen auch Aspekte schlussfolgenden Denkens (vgl. etwa OECD 2009). Die von Kompetenztests erfassten kognitiven Leistungsdispositionen können also durchaus den Faktoren etablierter Intelligenzstrukturmodelle zugeordnet werden, wobei gc im Sinne mehr oder minder bereichsspezifischen Wissens, einschließlich Sprachwissen, eine bedeutsame Rolle zukommt (Baumert u. a. 2009). Eine konzeptuelle Abgrenzung zwischen Intelligenzund Kompetenzbegriff gelingt allenfalls auf Basis einer engeren Intelligenzdefinition,
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die anspruchsvolle Sprach- und Wissensleistungen ausklammert (Süß 1996). Dies bedeutet jedoch nicht, dass Schulleistungstests vollständig durch standardisierte Intelligenztestverfahren ersetzt werden können, da Intelligenztests die Ergebnisse schulischen und außerschulischen Lernens nur unvollständig erfassen. Die Vernachlässigung der Wissenskomponente in vielen etablierten Intelligenztestverfahren wurde verschiedentlich kritisiert (Ackerman 2000; Wilhelm/Schipolowski 2010).
2.2 Empirische Befunde zum Zusammenhang zwischen Intelligenzfaktoren und sprachgebundenen Denkleistungen Angesichts der konzeptuell engen Beziehungen zwischen den in Intelligenztheorien beschriebenen Konstrukten und den Fähigkeiten, die in Schulleistungsstudien getestet werden, stellt sich die Frage nach den empirischen Zusammenhängen zwischen den Konstrukten aus beiden Forschungstraditionen (Brunner 2008; Vanderwood u. a. 2002). Eine differenzierte Analyse dieser Zusammenhänge setzt voraus, dass sowohl verschiedene Intelligenzfaktoren als auch unterschiedliche sprachliche Fähigkeiten breit operationalisiert und adäquat modelliert werden (Brunner/Nagy/Wilhelm 2012). Eine Beschränkung der Diskussion auf einen Faktor der Allgemeinen Intelligenz (Frey/ Detterman 2004; Rindermann 2006) ist dabei ebenso wenig aufschlussreich wie eine Operationalisierung sprachlicher Fähigkeiten anhand von Prüfungsnoten in den entsprechenden Schulfächern (Deary u. a. 2007). Dies vorausgeschickt wollen wir im Folgenden die Beziehungen verkehrs- und fremdsprachengebundener Denkleistungen zu dekontextualisierter fluider Intelligenz (gf ) und deklarativem Wissen (gc) in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen. Nicht thematisieren wollen wir hingegen Fragen nach der Kausalrichtung (Deary/Johnson 2010). Aus Platzgründen ebenfalls unberücksichtigt bleiben die entwicklungspsychologischen Befunde zum Zusammenhang zwischen Sprache und anderen kognitiven Fähigkeiten (vgl. etwa S. Weinert 2000) sowie die verhaltensgenetische Perspektive (vgl. etwa Petrill/Wilkerson 2000). In einer computerbasierten Studie untersuchten Schroeders/Wilhelm/Bucholtz (2010) die Beziehungen zwischen Lese-, Hör- und Hör-Sehverstehen im Englischen als erster Fremdsprache und fluider sowie kristalliner Intelligenz. In einem withinsubjects-Testdesign bearbeiteten 485 Schülerinnen und Schüler der neunten und zehnten Jahrgangsstufe an Realschulen und Gymnasien Tests zum englischsprachigen Leseverstehen (LV) und Hörverstehen (HV), deren Items auf Basis der Bildungsstandards im Fach Englisch als erster Fremdsprache konstruiert worden waren. Zusätzlich wurde ein neu entwickelter Test zum Hör-Sehverstehen (HSV) eingesetzt, der auf kurzen Videosequenzen zu landeskundlichen Themen basiert. Nach jedem Stimulus (Lesetext, Hörtext bzw. Video) sollten die teilnehmenden Personen eine Reihe von Verständnisfragen beantworten. Zudem wurde die figurale Facette der fluiden Intelligenz (gff ) sowie kristalline Intelligenz auf Basis eines deklarativen Wissenstests zu 16 breit gestreuten Inhaltsbereichen erhoben. Mit Strukturgleichungsmodellen konnte
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gezeigt werden, dass die drei rezeptiven fremdsprachlichen Fähigkeiten untereinander hoch korrelierten, aber empirisch differenzierbare Konstrukte darstellten: ρ(LV, HV) = .86, ρ(LV, HSV) = .85 und ρ(HV, HSV) = .94. Die hohen Korrelationen zwischen den auf den ersten Blick recht unterschiedlichen Verstehensleistungen legen nahe, dass ein Großteil der interindividuellen Unterschiede durch eine oder mehrere modalitätsunabhängige Fähigkeiten erklärt werden kann, die allen Verstehensleistungen zugrunde liegen. Für die gemessenen fremdsprachlichen Fähigkeiten wurden hohe Zusammenhänge mit kristalliner Intelligenz in der Operationalisierung als deklaratives Weltwissen gefunden: ρ(LV, gc) = .83, ρ(HV, gc) = .72 und ρ(HSV, gc) = .85. Dass die Zusammenhänge mit gc fast ebenso hoch ausfielen wie die Beziehungen der fremdsprachlichen Fähigkeiten untereinander, wurde von den Autoren als Unterstützung für die Verortung fremdsprachlicher Leistungen unter einem breiten gc-Faktor im Sinne Carrolls interpretiert (Schroeders u. a. 2010). Die Zusammenhänge mit figuraler fluider Intelligenz waren ebenfalls substanziell, fielen jedoch deutlich niedriger aus: ρ(LV, gff ) = .55, ρ(HV, gff ) = .36 und ρ(HSV, gff ) = .45. In einem Regressionsmodell mit gff und gc als Prädiktoren der fremdsprachlichen Fähigkeiten erwies sich gc erwartungsgemäß als starker Prädiktor. Die direkten Effekte figuraler fluider Intelligenz auf die Sprachfähigkeiten waren hingegen mit Ausnahme des Leseverstehens statistisch nicht bedeutsam. Unklar bleibt, inwieweit die hier für gff gefundenen Zusammenhänge auf fluide Intelligenz verallgemeinert werden können, da eine breite Messung von gf auch numerische und verbale Inhalte berücksichtigen sollte (Wilhelm 2004). Über die Zusammenhänge verschiedener verkehrs- und fremdsprachlicher Fähigkeitskonstrukte mit breit operationalisiertem schlussfolgerndem Denken und deklarativem Wissen soll im Folgenden berichtet werden. Datenbasis für die korrelativen Analysen waren die Normierungsstudien zu den länderübergreifenden Bildungsstandards (vgl. etwa Pöhlmann u. a. 2010) im Fach Deutsch in der Sekundarstufe I sowie im Fach Englisch als erster Fremdsprache, in deren Rahmen auch die Normierung der Mittelstufenform des Berliner Tests zur Erfassung fluider und kristalliner Intelligenz erfolgte (BEFKI 8–10; Wilhelm u. a. 2014). In die Analysen wurden Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 8 bis 10 aus allen Schularten des allgemeinbildenden deutschen Schulsystems einbezogen, die entweder Aufgaben im Fach Deutsch (ND = 6.701) oder Englisch (NE = 5.416) bearbeiteten. Es wurden sowohl rezeptive (Lese- und Hörverstehen) als auch produktive sprachliche Leistungen (Orthografie und Schreiben) erhoben. Dabei kamen jeweils mehrere hundert Testitems zum Einsatz; lediglich die Testung des Schreibens stellte eine Ausnahme dar, hier wurden im Fach Deutsch elf verschiedene Aufgaben zur Textproduktion eingesetzt. Nähere Informationen zur Entwicklung der sprachbezogenen Testaufgaben und zu den zugrunde liegenden Konstruktdefinitionen können Köller u. a. (2010) sowie Rupp u. a. (2008) entnommen werden. Insgesamt 5.708 Schülerinnen und Schüler bearbeiteten zusätzlich zu sprachlichen Aufgaben eine oder mehrere Skalen zum schlussfolgernden Denken (gf ) und/ oder deklarativen Wissen (gc). Das schlussfolgernde Denken wurde mit drei Skalen mit verbalen, numerischen bzw. figuralen Inhalten erhoben. Die gc-Testung erfasste
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deklaratives Wissen in insgesamt 16 Inhaltsbereichen aus den Naturwissenschaften (z. B. Biologie, Geografie, Medizin), den Geisteswissenschaften (z. B. Literatur, Philosophie, Kunst) und den Sozialwissenschaften (z. B. Politik, Wirtschaft, Geschichte). Aufgrund der großen Menge an Testitems wurde, wie in groß angelegten Schulleistungsstudien üblich, jedem Schüler bzw. jeder Schülerin nur ein Teil der insgesamt eingesetzten Aufgabenmenge vorgelegt. Zur Berechnung der Korrelationen zwischen den sprachlichen Fähigkeiten und gf sowie gc wurden paarweise zweidimensionale Skalierungen auf Basis des Rasch-Testmodells durchgeführt. Die resultierenden messfehlerbereinigten Korrelationen auf latenter Ebene und deren Standardfehler sind in Tabelle 1 angegeben. Tab. 1: Messfehlerbereinigte Korrelationen zwischen verkehrssprachlichen (Deutsch) und fremdsprachlichen Fähigkeiten (Englisch) und fluider sowie kristalliner Intelligenz. Konstrukt
Deutsch
Englisch
Lesen
Zuhören
Orthogr.
Schreiben
Leseverst.
Hörverst.
gf verbal gf numerisch gf figural gf gesamt
.77 (.03) .64 (.03) .66 (.02) .73 (.02)
.72 (.03) .69 (.04) .65 (.04) .75 (.03)
.67 (.04) .67 (.05) .69 (.02) .74 (.03)
.73 (.07) .58 (.08) .66 (.06) .72 (.06)
.78 (.02) .72 (.03) .64 (.03) .78 (.02)
.75 (.03) .68 (.03) .60 (.03) .73 (.02)
gc Wissen Naturw. gc Wissen Geistesw. gc Wissen Sozialw. gc gesamt
.75 (.03) .81 (.03) .80 (.03) .80 (.02)
.77 (.05) .79 (.04) .76 (.06) .79 (.04)
.67 (.05) .69 (.04) .70 (.04) .71 (.03)
.71 (.07) .75 (.07) .78 (.08) .79 (.06)
.77 (.03) .81 (.02) .73 (.03) .79 (.02)
.78 (.03) .81 (.02) .70 (.03) .78 (.02)
Anmerkungen: In Klammern ist der Standardfehler (SE) angegeben. gf gesamt/gc gesamt: Skalierungen unter Einbezug aller gf- bzw. gc-Items aus den in den Zeilen darüber angegebenen Bereichen. Naturw.: Naturwissenschaften, Geistesw.: Geisteswissenschaften, Sozialw.: Sozialwissenschaften, Orthogr.: Orthografie, Leseverst.: Leseverstehen, Hörverst.: Hörverstehen. Die Ergebnisse zeigen, dass alle untersuchten sprachlichen Fähigkeiten sowohl mit deklarativem Wissen als auch mit fluiden Denkfähigkeiten substanziell assoziiert waren. Dabei ergab sich über die verschiedenen sprachlichen Fähigkeiten betrachtet ein erstaunlich homogenes Bild. Nominell am höchsten fielen die Beziehungen zu gc aus. Unter Berücksichtigung der Standardfehler ergaben sich für die unterschiedlichen Wissensdomänen (Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften) keine differenziellen Befunde. Ähnlich hoch wie die Korrelationen mit gc waren die Beziehungen der sprachlichen Konstrukte zum verbalen schlussfolgernden Denken. Die Zusammenhänge mit der numerischen und der figuralen fluiden Intelligenz fielen demgegenüber geringfügig niedriger aus. Lediglich für Orthografie ergaben sich vergleichbar hohe Beziehungen zu allen untersuchten Intelligenzkonstrukten. Eine
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aus konzeptueller Sicht verschiedentlich vorgeschlagene Differenzierung zwischen produktiven und rezeptiven sprachlichen Fähigkeiten oder zwischen verkehrs- und fremdsprachlichen Fähigkeiten konnte in dieser Studie nicht empirisch gestützt werden. Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit Strukturanalysen der Leistungsdaten im Fach Deutsch, bei denen sich für die sprachlichen Konstrukte durchweg hohe bis sehr hohe Interkorrelationen ergaben (Schipolowski/Böhme/Schroeders 2013). Auch die Analysen von Bremerich-Vos/Böhme/Robitzsch (2009) beruhten auf Testaufgaben, die zur Evaluation des Erreichens der Bildungsstandards entwickelt wurden. Ausschlaggebend waren hier jedoch die Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Primarstufe, die ähnlich wie die Standards im Sekundarbereich zwischen Lesen, Zuhören, Schreiben, Sprache und Sprachgebrauch untersuchen sowie Orthografie (als Teilbereich des Schreibens) unterscheiden. Insgesamt wurden Daten von 5.076 Schülerinnen und Schülern der dritten Jahrgangsstufe einbezogen. Neben Testaufgaben zu sprachlichen Leistungen kam auch eine Skala zu Wortanalogien zum Einsatz (Skala V3 des KFT 4-12+ R; Heller/Perleth 2000), die einerseits verbales schlussfolgerndes Denken erfasst, aber auch nicht-triviale Anforderungen an den Wortschatz stellt. Für alle sprachlichen Fähigkeitskonstrukte ergaben sich auf latenter Ebene substanzielle Korrelationen mit verbaler Intelligenz, die jedoch mit Werten zwischen .50 (Zuhören/Rechtschreibung) und .67 (Schreiben) niedriger ausfielen als in der Sekundarstufe. Schließlich wollen wir mit der DESI-Studie (Deutsch Englisch Schülerleistungen International; DESI-Konsortium 2008) noch eine weitere groß angelegte Schulleistungsstudie zur breiten Erfassung verschiedener sprachgebundener Denkleistungen ansprechen. Im Rahmen von DESI wurde eine bundesweit repräsentative Stichprobe von Schülerinnen und Schülern an allgemeinbildenden Schulen zu Beginn und erneut am Ende der neunten Jahrgangsstufe untersucht. Da Intelligenzindikatoren nur zum zweiten Messzeitpunkt (NT2 = 10.632) berücksichtigt wurden, beziehen sich die folgenden Ausführungen nur auf den Retest. Die Messung sprachlicher Fähigkeiten im Deutschen umfasste neben Lesen, Textproduktion/Schreiben und Rechtschreiben auch Sprachbewusstheit, Argumentation und Wortschatz. Unter Sprachbewusstheit fassten die Autoren dabei Aufgaben zum sprachlichen Regelsystem, insbesondere zur Grammatik, sowie sprachreflektorische Leistungen. Die Aufgaben zur Argumentation erforderten keine komplexen Schreibleistungen, sondern basierten auf den Antwortformaten Multiple Choice und Kurzantwort. Im Englischen wurden ebenfalls Testaufgaben zu den Bereichen Lesen, Textproduktion/Schreiben und Sprachbewusstheit eingesetzt. Darüber hinaus kamen im Englischen weitere Sprachindikatoren zum Einsatz, darunter C-Tests (Lückentexte) sowie Aufgaben zum Hörverstehen. Neben den Aufgaben zu sprachlichen Konstrukten wurden verschiedene Intelligenzskalen eingesetzt, darunter eine Skala zu Figurenanalogien (Skala N2 des KFT 4-12+ R; Heller/Perleth 2000). Jude (2008) untersuchte mit Hilfe von Mehr ebenenanalysen die Beziehungen zwischen den genannten sprachlichen Fähigkeiten und der figuralen fluiden Intelligenz. Die dort berichteten Zusammenhänge beziehen
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sich also einerseits auf die Klassenebene unter Kontrolle interindividueller Unterschiede innerhalb der Schulklassen und andererseits auf Individuen innerhalb von Klassen unter Kontrolle der Unterschiede zwischen den Klassen und Schulen. Dieses Vorgehen erschwert den Vergleich mit den bisher berichteten Befunden, die als totale Korrelationen zu verstehen sind und die Varianz auf beiden Ebenen einbeziehen. Zur besseren Vergleichbarkeit haben wir deshalb die Angaben aus Jude (2008) zu den unterschiedlichen Ebenen für die folgende Darstellung in totale Korrelationen umgerechnet (Snijders/Bosker 2012). Hierzu wurde für die figurale fluide Intelligenz eine Intraklassenkorrelation von .40 angenommen, die mit Blick auf das in der Sekundarstufe stark gegliederte deutsche Schulsystem als moderat einzuschätzen ist (vgl. Jude 2008, 129). Im Deutschen ergaben sich die höchsten Zusammenhänge zur figuralen fluiden Intelligenz für Lesen (ρ = .50), Sprachbewusstheit (ρ = .54) und Wortschatz (ρ = .51). Produktive sprachliche Fähigkeiten wie Textproduktion (ρ = .37) und Rechtschreiben (ρ = .42) zeigten hingegen etwas niedrigere Zusammenhänge mit gff. Im Vergleich zum Deutschen ergab sich im Englischen ein homogeneres Bild mit Korrelationen zwischen ρ = .43 (Hörverstehen) und ρ = .54 (C-Tests). Dass die nominell höchste Korrelation mit gff für C-Tests gefunden wurde, steht dabei im Einklang mit Überlegungen zur besonderen Bedeutung von Inferenzleistungen für die erfolgreiche Bearbeitung von Aufgaben zur Textrekonstruktion (Ackerman/Beier/Bowen 2000; Carroll 1972).
2.3 Einordnung der Befunde Die Befunde zeigen, dass zwischen schlussfolgerndem Denken/gf und Faktenwissen/ gc, gemessen mit Intelligenztestverfahren, und sprachlichen Konstrukten in aktuellen Schulleistungsstudien substanzielle Zusammenhänge bestehen. Die Zusammenhänge fallen umso stärker aus, je breiter die Intelligenzfaktoren operationalisiert sind. Die engsten Beziehungen zu sprachlichen Fähigkeiten wurden für die besonders lern- und bildungsabhängige kristalline Intelligenz gefunden. So wurde etwa in der Sekundarstufe I die geteilte Varianz zwischen prominenten sprachgebundenen Fähigkeiten wie Lese- oder Hörverstehen und gc auf Basis deklarativer Faktenwissensfragen zu einer Vielzahl schulischer und außerschulischer Themengebiete auf etwa 50 bis 65 Prozent geschätzt (Schroeders u. a. 2010; Wilhelm u. a. 2014). Zunächst überraschend erscheint, dass für unterschiedliche sprachliche Konstrukte überwiegend ähnlich hohe Beziehungen zu gf und Wissen gefunden wurden und sich etwa produktive versus rezeptive oder verkehrs- versus fremdsprachliche Fähigkeiten in ihren Beziehungen zu den Intelligenzfaktoren nicht stärker voneinander abgrenzen. Dieser Befund steht jedoch im Einklang mit Analysen zur Struktur breit erfasster sprachlicher Fähigkeitskonstrukte, die fast ausnahmslos hohe Interkorrelationen zwischen den verschiedenen sprachlichen Konstrukten aufzeigen (Bremerich-Vos u. a. 2009; Eckes/Grotjahn 2006; Schipolowski u. a. 2013).
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Umfassende Erklärungsansätze für die hohen korrelativen Zusammenhänge zwischen komplexen sprachlichen Fähigkeitskonstrukten und prominenten Intelligenzfaktoren müssen unterschiedliche Ebenen wie die Konstruktdefinitionen und -operationalisierungen, das Zusammenspiel verschiedener kognitiver Fähigkeiten in der Ontogenese und den Einfluss institutioneller Kontexte berücksichtigen. Bereits die Definitionen sprachlicher Konstrukte in Schulleistungsstudien verweisen häufig implizit auf grundlegende kognitive Fähigkeitsfaktoren wie fluide Intelligenz. So schließt etwa die Definition der Lesekompetenz in den länderübergreifenden Bildungsstandards anspruchsvolle textbezogene Inferenzleistungen und die Verknüpfung des Gelesenen mit Vorwissen ein (Böhme/Neumann/Schipolowski 2010; Jude u. a. 2013). Folgerichtig wird im Zusammenhang mit Lese- und Höraufgaben häufig von Verstehensleistungen (engl. comprehension measures) gesprochen, um anzudeuten, dass diese weit über basale Dekodierfertigkeiten hinausgehen. Auch auf Ebene der Konstruktoperationalisierung sind häufig Abhängigkeiten verschiedener sprachlicher Fähigkeiten untereinander sowie von Intelligenzfaktoren festzustellen, beispielsweise wenn Aufgaben zur Textproduktion umfangreiche Textstimuli einsetzen, die für eine Bewältigung der Schreibanforderungen zunächst gelesen und verstanden werden müssen (Schipolowski u. a. 2013). Es wurde schon früh in der Diskussion zum Zusammenspiel von Sprache und Intelligenz darauf hingewiesen, dass es unmöglich ist, Aufgaben so zu konzipieren, dass sie sprachliche Leistungen unabhängig von Vorwissen, Gedächtnis und fluider Intelligenz erfassen (Carroll 1972). Durch geschickte Testkonstruktion kann jedoch angestrebt werden, die unerwünschten Varianzanteile zu minimieren. Ein weiterer Erklärungsansatz für die substanziellen Beziehungen zwischen sprachgebundenen und anderen kognitiven Leistungen liegt in der engen Verflechtung von Sprache und Denken im Entwicklungsverlauf (S. Weinert 2000). So ist die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten einerseits mit der Beherrschung der Verkehrssprache verknüpft, da die Sprache ein effektives System zur Kodierung und Verarbeitung von Informationen darstellt und wesentliches Medium der Wissensvermittlung ist (vgl. auch Wuttke/Seifried, Art. 16 in diesem Band). Andererseits beruht der Spracherwerb auf grundlegenden Mechanismen der Informationsverarbeitung wie implizitem Lernen und dem Erkennen von Beziehungen (S. Weinert 2000). Auf die Wechselwirkungen zwischen Intelligenzfaktoren und Wissenserwerb im Entwicklungsverlauf wiesen auch Baumert u. a. (2009) hin, indem sie die hohen Zusammenhänge zwischen Intelligenz und schulischem Lernerfolg vor dem Hintergrund individueller und institutioneller Matthäus-Effekte diskutierten. Abschließend wollen wir darauf hinweisen, dass die hier besprochenen empirischen Befunde auch abhängig von der untersuchten Population sind. So sind für sehr leistungsheterogene Populationen, wie sie in den meisten Schulleistungsstudien untersucht werden, höhere Zusammenhänge zu erwarten als in leistungsstarken Subgruppen (etwa für Schülerinnen und Schüler, die das Gymnasium besuchen). Des Weiteren bedeuten hohe korrelative Zusammenhänge nicht zwangsläufig, dass die
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Unterscheidung zwischen den fraglichen Konstrukten aus empirischer Sicht aufgegeben werden sollte. So konnten Schipolowski/Wilhelm/Schroeders (2014) zeigen, dass Sprach- und Wissensleistungen auf latenter Ebene zwar hoch assoziiert sind, die voneinander unabhängigen Varianzanteile dieser Konstrukte jedoch unterschiedliche Beziehungen zu Kovariaten aufweisen. Weitgehend unabhängig von der Höhe der Korrelation können sich Konstrukte zudem mit Blick auf Mittelwertdifferenzen zwischen Subpopulationen unterscheiden (Trautwein u. a. 2007).
3 Rolle der Sprache in Testentwicklung, Testan wendung und Testinterpretation 3.1 Testentwicklung Die Beschreibung etablierter Intelligenzstrukturtheorien im ersten Abschnitt unseres Beitrags verdeutlicht, dass Intelligenz ein Oberbegriff für eine Vielzahl verschiedener kognitiver Fähigkeiten ist, für deren Definition Sprache und Wissen eine unterschiedliche Rolle spielen. Inwieweit bei der Konstruktion eines Tests sprachliches Material oder Wissensanforderungen bedeutsam sind, hängt also vom zugrundeliegenden Intelligenzstrukturmodell und der konkreten Messintention ab. Mit Blick auf kristalline Intelligenz besteht der Messgegenstand in individuellen Unterschieden im Wissen, einschließlich Sprachwissen. Es werden daher insbesondere solche Aufgaben als prototypisch betrachtet, die Fakten- und Sprachwissen erfassen und zugleich minimale Anforderungen an andere Fähigkeiten wie das schlussfolgernde Denken oder mentale Geschwindigkeit stellen. Sollen hingegen Unterschiede in fluider Intelligenz erfasst werden, steht dekontextualisiertes schlussfolgerndes Denken mit verbalen, numerischen und figuralen Inhalten im Vordergrund (Wilhelm 2004). Das eingesetzte Material (sprachliche Begriffe, Grundrechenarten, Zeichnungen usw.) soll für eine valide und faire Messung idealerweise allen Testteilnehmern gleichermaßen bekannt oder gleichermaßen unbekannt sein, so dass Unterschiede in den Testleistungen nicht durch Unterschiede in der Sprachbeherrschung oder im Vorwissen bedingt sind. Dass bei der Messung fluider Intelligenz auch verbale Inhalte berücksichtigt werden sollten und damit auf das Bezugssystem Sprache zurückgegriffen wird, verdeutlicht, dass sprachliche Inhalte nicht unmittelbar mit einem bestimmten Fähigkeitskonstrukt gleichzusetzen sind. Ein Test, der sprachliches Material verwendet, stellt nicht zwangsläufig einen guten Indikator für kristalline Intelligenz dar. Entscheidend für die Konstruktvalidität eines Tests ist vielmehr, hinsichtlich welcher Aufgabenanforderungen in einer gegebenen Population individuelle Unterschiede bestehen.
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Bei genauerer Betrachtung können viele Leistungstests – dies trifft insbesondere auch auf die im vorigen Abschnitt besprochenen sprachgebundenen Verstehensleistungen zu – als Funktion verschiedener prominenter Intelligenzfaktoren verstanden werden („mixed bag of functions“; Carroll 1972, 2), die Sprach- und Wissensanforderungen mit Leistungen im Bereich des schlussfolgernden Denkens und weiteren Fähigkeitsfaktoren verbinden. So erhielt Carroll (1993) bei seinen umfangreichen Reanalysen in vielen Fällen einen Hybridfaktor gh, der inhaltlich als Mischung aus gf und gc beschrieben und als methodisches Artefakt einer Testkonstruktion gedeutet werden konnte, die nicht hinreichend zwischen den Konstrukten differenziert. Bei der Entwicklung von Tests ist daher ausgehend von einer konkreten Konstrukt- und Populationsdefinition anzustreben, irrelevante Varianzanteile zu minimieren. Eine vollständige Vermeidung unerwünschter Varianzanteile ist jedoch nicht möglich. Dies gilt auch für sogenannte kulturfreie oder kulturfaire Tests (Cattell 1940) und nonverbale Tests (McCallum 2003). Diese sind weder völlig kultur- noch sprachunabhängig (Lohman 2005; Ortiz/Ochoa/Dynda 2012). Zum einen ist jedes Testergebnis zu einem gewissen Grad von der Kommunikation zwischen Testleiter und Testperson abhängig – sei es in Form mündlicher Verständigung oder schriftlicher Instruktionen zur Testdurchführung. Zum anderen beeinflusst die Sprachentwicklung die Entwicklung anderer kognitiver Fähigkeiten (S. Weinert 2000). Hierbei wurden auch differenzielle Effekte für unterschiedliche Sprachen nachgewiesen. So konnten Gopnik/Choi/ Baumberger (1996) zeigen, dass die Art des sprachlichen Inputs (koreanische versus englische Sprache) je nach betrachteter kognitiver Fähigkeit mit einer beschleunigten oder verlangsamten frühkindlichen Entwicklung der jeweiligen Fähigkeit einhergehen kann. Studien, in denen die Probanden während der Bearbeitung nonverbaler Tests wie Matrizenaufgaben zur Verbalisierung ihres Lösungswegs aufgefordert wurden, haben gezeigt, dass Verbalisierung die Lösung bestimmter nonverbaler Aufgaben negativ beeinflusst, während sie für andere Aufgaben desselben Tests keine negativen Konsequenzen hatte (DeShon/Chan/Weissbein 1995). Daraus schlossen DeShon u. a. (1995), dass die Lösung von Aufgaben in nonverbalen Tests teilweise auf verbal-analytischen Prozessen beruht. Die Abhängigkeit visuell-räumlicher und figuraler Tests von Sprache zeigt sich auch darin, dass die Leistung bei bestimmten nonverbalen Aufgaben durch Benennungstrainings verbessert werden kann (Kendler/Glasman/Ward 1972). Zusammengenommen verdeutlichen diese recht unterschiedlichen Befunde, dass kein Testverfahren zur Messung von Intelligenz völlig unabhängig von kulturellen und sprachlichen Einflüssen ist.
3.2 Testanwendung und -interpretation Die Sprach- bzw. Kulturgebundenheit kognitiver Tests stellt eine Herausforderung für die Diagnostik in sprachlich und kulturell heterogenen Populationen dar. Konkret
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stellt sich die Frage, wie eine aussagekräftige Testung mit Personen durchgeführt werden kann, die die Testsprache nur eingeschränkt beherrschen und deren kultureller Hintergrund nicht dem Hintergrund entspricht, der der Testkonstruktion und -normierung zugrunde lag. Während diese Problematik im deutschen Sprachraum bisher kaum untersucht wurde, liegen aus den USA umfangreiche Forschungsarbeiten zur Gleichbehandlung von Minoritäten in psychologischen Testungen vor (für einen Überblick siehe Ortiz u. a. 2012). Eine denkbare Strategie besteht darin, ausschließlich auf nonverbale Tests zurückzugreifen, die zweifelsohne weniger sprachabhängig sind als Tests mit sprachlichem Material. Wie oben ausgeführt, sind jedoch auch diese Tests nicht frei von kulturellen Einflüssen. Zudem werden durch ausschließlich nonverbale Tests wesentliche Aspekte der kognitiven Leistungsfähigkeit nicht erfasst. So ist eine rein nonverbale Testung nicht aufschlussreich, wenn es um die Diagnostik bestimmter Teilleistungsstörungen wie Dyslexie geht. Eine Intelligenztestung, die nur auf nonverbalen Indikatoren beruht, betont spezifische Varianzanteile und widerspricht dem Prinzip, dass umfassende Konstrukte auch umfassend operationalisiert werden müssen (vgl. das Prinzip der Brunswik-Symmetrie; Wittmann 2002). Eine zweite Strategie zur Intelligenzprüfung bei Personen mit abweichendem sprachlichen und kulturellen Hintergrund stellt die Anpassung vorhandener Testformen dar. Hierunter fallen etwa sprachliche Vereinfachungen, das Auslassen einzelner vermeintlich kulturell ver zerrter Items oder die Gewährung einer längeren Bearbeitungszeit. Problematisch ist hierbei in erster Linie, dass jede Veränderung an den standardisierten Testformen den Bezug zu den vorliegenden Normen ungültig und damit eine Neustandardisierung erforderlich macht. Als dritte Strategie kann die Testung in der Erstsprache der Testperson entweder durch Rückgriff auf übersetzte Testformen oder unter Verwendung von Tests aus einem anderen Sprachraum angesehen werden. Eine vollständig in der Sprache der Testperson erfolgende Testung würde allerdings voraussetzen, dass auch der Testleiter diese Sprache flüssig beherrscht und die Sprachbeherrschung der Testperson ggf. unabhängig sicherzustellen ist. Wie im Fall von Testanpassungen stellt sich die Frage, inwieweit adäquate Vergleichsnormen zur Verfügung stehen. Die Frage, welche Vergleichswerte heranzuziehen sind, stellt sich letztlich bei allen angesprochenen Strategien (Ortiz u. a. 2012). Da jedes Testverfahren mehr oder minder stark kulturabhängig ist, werden für alle Testverfahren strenggenommen kulturspezifische Normwerte benötigt und dieses Erfordernis ist umso dringlicher, je zentraler die Sprachbeherrschung für die erfolgreiche Testbearbeitung ist. Dabei ist zu beachten, dass die Bedingungen von Spracherwerb und Akkulturation bei Personen mit Zuwanderungshintergrund weder denen von Personen aus dem jeweiligen Herkunftsland entsprechen noch mit den Bedingungen bei Personen ohne Zuwanderungshintergrund vergleichbar sind. Daher macht es beispielsweise wenig Sinn, bei der Verwendung einer türkischsprachigen Testform für in Deutschland lebende Menschen mit türkischem Zuwanderungshintergrund einen Vergleich mit Normwerten anzustellen, die in der Türkei ermittelt wurden (Kubinger 2010). Stattdessen
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sollten für die jeweilige Zuwanderungsgruppe spezifische Normwerte herangezogen werden (vgl. etwa das Fallbeispiel von Wilflinger/Holocher-Ertl 2010 zur Abklärung einer Intelligenzminderung bei einem Jugendlichen mit Türkisch als Muttersprache). Dabei sollten sich derartige Normwerte nicht auf oberflächliche Merkmale wie das Geburtsland der Eltern der Testperson stützen, sondern auf die tatsächlich für die Testleistung bedeutsamen Dimensionen Grad der Sprachbeherrschung und Akkulturation. Konkrete Empfehlungen zum diagnostischen Vorgehen geben etwa Ochoa/ Ortiz (2005), diese beziehen sich dabei allerdings auf den US-amerikanischen Raum. Sofern keine standardisierten kulturspezifischen Testverfahren und -normen vorliegen, empfiehlt sich der Einsatz standardisierter Verfahren in der Verkehrssprache, ergänzt um nonverbale und/oder angepasste (einschließlich übersetzter) Testformen, um aus dem Vergleich der Ergebnisse Rückschlüsse zu deren Interpretation ziehen zu können (Ortiz u. a. 2012).
4 Abschließende Bemerkungen Die im Beitrag zusammengetragenen Überlegungen und Befunde zeigen, dass sowohl auf konzeptueller als auch auf empirischer Ebene enge Beziehungen zwischen den in Intelligenztests erfassten Konstrukten und den in aktuellen Schulleistungsstudien gemessenen sprachlichen Konstrukten bestehen. Aus empirischer Sicht können individuelle Unterschiede in sprachgebundenen Denkleistungen zum großen Teil als Funktion etablierter Intelligenzkonstrukte wie fluider und kristalliner Intelligenz beschrieben werden; auf konzeptueller Ebene erscheint die Abgrenzung zwischen Intelligenz- und Kompetenzbegriff artifiziell. Bei einer Inklusion sprachgebundener Denkleistungen in den Bereich etablierter Intelligenzfaktoren ist allerdings auf eine erweiterte Konnotation des Intelligenzbegriffs hinzuweisen. Offenkundig weitgehend kulturell vermittelte Fähigkeiten und Fertigkeiten werden dann nämlich einem Konstrukt der Persönlichkeitspsychologie zugeordnet, das insbesondere durch weniger einschlägig vorgebildete Personen als kulturunabhängig gedeutet wird. Eine entsprechende Anpassung des Verständnisses des Intelligenzbegriffs ist folglich erforderlich. Vor diesem Hintergrund plädieren wir für mehr Anstrengungen zur Integration der Erkenntnisse aus empirischer Bildungsforschung und psychometrischer Intelligenzforschung (vgl. Brunner 2008). Hierbei gilt es, die angesprochene Trennung zwischen pädagogischer und psychologischer Methode zu überwinden, wovon unseres Erachtens Intelligenz- und Bildungsforschung gleichermaßen profitieren können (Wilhelm/Schipolowski 2010).
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Renate Valtin
26. Lese-Rechtschreibschwierigkeiten Abstract: Lesefähigkeit ist eine wichtige Schlüsselkompetenz für schulisches und außerschulisches Lernen. Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (LRS) gelten deshalb in mehrfacher Hinsicht als eine Behinderung der Lebenschancen, und zwar in Bezug auf schulisches und außerschulisches Lernen, Qualifikation für einen anspruchsvollen Beruf sowie Teilhabe am kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Leben. In diesem Beitrag werden die vorliegenden empirischen Forschungsergebnisse in Bezug auf drei Fragen gesichtet: a) Wie viele Personen sind in Deutschland von LRS betroffen? Die Antwort auf diese Frage hängt auch von den Konzepten und Definitionen von Lese- und/oder Rechtschreibschwierigkeiten ab. b) Was erfahren wir aus den vergleichenden internationalen Studien über Personen mit Leseschwierigkeiten in Bezug auf motivationale und leistungsbezogene Persönlichkeitsmerkmale, soziale Herkunft (Bildungsstand der Eltern, Familiensprache, Migrationshintergrund), Bildungsbeteiligung und gesellschaftliche Teilhabe? Da es sich um Querschnittstudien handelt, können nur Aussagen über Zusammenhänge, nicht über Ursache und Wirkung getroffen werden. c) Welche didaktischen und schulischen Maßnahmen werden vorgeschlagen, um den Anteil der Kinder und Jugendlichen auf den niedrigen Lesekompetenzstufen zu verringern? 1 Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (LRS) als Behinderung 2 Konzepte und Definitionen von LRS 3 Auftretenshäufigkeit von LRS bei Tests mit sozialer Bezugsnormorientierung 4 Definition und Vorkommenshäufigkeit von LRS auf der Grundlage kompetenzorientierter Tests 5 Zusammenhänge von Leseschwierigkeiten mit psychischen und sozialen Merkmalen 6 Welche Ursachen haben Lese-Rechtschreibschwierigkeiten? 7 Didaktische und schulische Maßnahmen 8 Literatur
1 Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (LRS) als Behinderung „Sprache macht uns menschlich – Schriftsprache macht uns kultiviert.“ – David Olson (1977, 257; aus dem Englischen übersetzt v.d. Verf.) verweist mit dieser Feststellung auf die besondere Bedeutung der geschriebenen Sprache. Weil beim Schreiben von Situation und Kommunikationspartner abstrahiert wird, erfordert dies eine maximal entfaltete Sprachform, die sich durch Elaboriertheit, Kontextunabhängigkeit, Präzision,
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Kohärenz und Differenziertheit auszeichnet (vgl. Vygotski 1934). Diese Art der Sprachverwendung potenziert die Möglichkeiten der Sprache als Werkzeug der Welt- und Selbsterkenntnis sowie des Problemlösens. „Das Schreiben konstruiert das Denken neu“, wie Walter Ong (1987, 81) es formuliert. Erst diese Sprachform ermöglicht ein wissenschaftliches Vorgehen, wie es uns heute selbstverständlich ist. Erst wenn man Gedanken, begriffliche Zusammenhänge und Argumente schriftlich festhält, werden vertieftes Problembewusstsein, gründliche Reflexion und Kritik (eigene und fremde) möglich ebenso wie die Tradierung von Kultur. Allen Kindern und Jugendlichen Lesekompetenz bzw. Schriftkultur nahezubringen, ermöglicht also nicht nur die Teilhabe an der Kultur, sondern auch die Möglichkeit der Selbstbildung. Die international vergleichenden Studien zur Lesekompetenz wie IGLU (Internationale Grundschulleseuntersuchung) und PISA (Programme for International Student Assessment) haben die entscheidende Bedeutung der Schlüsselkompetenz Lesen ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Jedoch wird bislang vorwiegend nur ein Aspekt diskutiert: Lesen als Verstehen und Verarbeiten von schriftlich dargelegten sprachlichen Informationen. Schreiben als kulturelle Tätigkeit wird in der empirischen Bildungsforschung bislang vernachlässigt, möglicherweise wegen der schweren Messbarkeit. Vernachlässigt wird deshalb auch vermutlich der übergreifende Aspekt des Erlernens und Verwendens von Schriftsprache als einer besonderen Form von Sprache, wie sie als elaborierter Code, Bildungssprache oder konzeptionelle Schriftlichkeit charakterisiert werden kann. Während die Fähigkeit des Schreibens wenig Beachtung findet, hat die Rechtschreibleistung nicht nur einen hohen Stellenwert im Bewusstsein der Öffentlichkeit, sie wird auch empirisch vielfältig erforscht, da sie sich leicht mit Gruppentests messen lässt. Die Beherrschung der Orthographie gilt in vielen Kreisen als Anzeichen akademischer Bildung, obwohl die Korrelation mit der Intelligenz nur im mittleren Bereich liegt (Valtin u. a. 2004). Rechtschreibfehler in Bewerbungsschreiben, Werbeanzeigen oder im beruflichen Schriftverkehr machen einen schlechten Eindruck. Im privaten Schriftverkehr betrachten manche Personen eine Sorglosigkeit in der Befolgung orthographischer Normen als Zeichen mangelnder Wertschätzung ihnen gegenüber. In der Schule hat die Rechtschreibleistung ebenfalls eine große Bedeutung und – so lässt sich aus einigen Studien folgern – stellt einen bedeutsamen schulischen Auslesefaktor dar (Beck/Thomé/Thomé 2009). Häufig führen bei Kindern und Jugendlichen die mit LRS verbundenen Misserfolgserlebnisse zu Leistungsängstlichkeit, niedrigem Selbstkonzept und mangelnder Motivation, die wiederum im Sinne eines Teufelskreises die Minderleistungen im Lesen und Rechtschreiben verstärken. Auch sind negative Auswirkungen auf andere Schulfächer zu erwarten, da die Lesekompetenz mit zunehmenden Schuljahren wichtiger wird. Aus diesem Grund gelten Kinder und Jugendliche mit schwerwiegenden Störungen beim Schriftspracherwerb auch im Sinne des KJHG (Kinder- und Jugendhilfegesetz) als behindert oder von Behinderung bedroht. Einschränkungen sind auch auf dem Arbeitsmarkt zu erwarten, da heutzutage bei der großen Mehrheit der
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Arbeitsplätze hohe Anforderungen an Lese- und Schreibfähigkeit, auch am Computer, gestellt werden. Laut einer Erhebung der OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) berichten Erwachsene in Deutschland, dass sie bei der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeiten lesen (95 Prozent) bzw. Schreibtätigkeiten (über 80 Prozent) ausüben müssen (Rammstedt 2013). Von einer häufigen Nutzung des Computers am Arbeitsplatz berichten 13 Prozent, eine Zahl, die unter dem OECDDurchschnitt von 18 Prozent liegt, in den nächsten Jahren aber ansteigen wird, denn die digitale Umwälzung erfasst nicht nur den privaten, sondern auch den öffentlichen Sektor mit tief greifenden Veränderungen, auf die Donald Leu hinweist: Wir leben in einer Zeit epochaler Umwälzungen. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hat eine Generation im Verlauf ihres Lebens solche profunden Veränderungen in Bezug auf Leseund Schreibkompetenz, Lernen und Lebensführung erfahren. (Leu 2013, 4; aus dem Englischen übersetzt v.d. Verf.)
Digitale Medien wie Computer, Tablets oder Laptops ermöglichen neue Kommunikationsformen und den Zugang zum Internet mit einer unermesslichen Fülle von Informationsangeboten. 2010 verfügten bereits mehr als 80 Prozent der deutschen Privathaushalte über einen Internetzugang (OECD 2013a). Die Ergebnisse der Studie „Medien, Kultur und Sport bei jungen Menschen“ (MediKuS) (Grgic/Züchner, 2013) zeigt, dass die Neuen Medien auch in der Alltagswelt junger Menschen eine große Rolle spielen: Bereits 90 Prozent der 9- bis 10-Jährigen sind online und haben also bereits im frühesten Kindesalter Erfahrungen mit dem Internet gemacht (Holzmayer 2013,189). 85 Prozent der Kinder im Alter von 9–13 Jahren nutzen das Internet bereits als Informationsmedium. Für das Lesen und Nutzen digitaler Nachrichten müssen neue Kompetenzen erworben werden, denn Print und Online-Lesen stellen unterschiedliche Anforderungen. Beim Lesen von Büchern bzw. gedruckten Materialien geht es im Wesentlichen um die Leseprozesse, wie sie den Kompetenzmodellen von IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) und PISA (Programme for International Student Assessment) zugrunde liegen: Lokalisieren von Informationen, Schlussfolgerungen ziehen, Bedeutungskohärenz über eine längere Textpassage herstellen sowie einen Text auf inhaltliche und strukturelle Merkmale beurteilen. Beim Lesen von digitalen Informationen sind die Anforderungen komplexer. Leu (2013) unterscheidet fünf Aspekte: 1. die genaue Fragestellung bzw. das Problem herausarbeiten, 2. das Lokalisieren der Informationen, wozu auch ausgedehnte Internetrecherchen zu bestimmten Schlüsselwörtern und das Lesen von Tabellen, Graphiken oder Bildern gehören, 3. das Bewerten der Quellen und der im Netz verfügbaren Daten auf ihre Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit, 4. das Zusammenfassen aller Informationen von unterschiedlichen Netzseiten und 5. die Kommunikation des Erlernten, z. B. durch E-Mails, Blogs oder Wikis.
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Personen, die nicht über digitale Kompetenzen verfügen, werden zunehmend größere Benachteiligungen im Berufsleben, aber auch in der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erfahren, denn viele Dienstleistungen (Bestellungen, Finanz- und Steuerangelegenheiten, Krankenkassenabrechnungen) werden über das Internet abgewickelt. Lese-Rechtschreibschwierigkeiten – so lässt sich also zusammenfassen – bedeuten deshalb eine Behinderung in mehrfacher Hinsicht: in Bezug auf schulisches und außerschulisches Lernen, Qualifikation für einen anspruchsvollen Beruf sowie Teilhabe am kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Leben. In den folgenden Abschnitten werden die Ergebnisse der vorliegenden empirischen Untersuchungen daraufhin betrachtet, welche belastbaren Zahlen zu Ausmaß und Bedeutung von LRS vorliegen.
2 Konzepte und Definitionen von LRS Seit mehr als 50 Jahren gibt es fast unzählige empirische Untersuchungen zum Thema LRS. Damit ist dieser Bereich der am besten und intensivsten erforschte in der empirischen Bildungsforschung. Trotzdem gibt es keine Klarheit in Bezug auf Auftretenshäufigkeit, Ursachen und Fördermöglichkeiten. Dies hängt auch damit zusammen, dass nicht nur zahlreiche Disziplinen mit unterschiedlichen Perspektiven und Interessen diesen Gegenstand untersuchen, sondern auch innerhalb einer Disziplin völlig unterschiedliche Definitionen verwendet werden: LRS im Sinne von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten oder -schwäche, Lese-Rechtschreibstörung oder Legasthenie. Seitdem sich die Erkenntnis durchsetzt hat, dass Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten nicht immer gekoppelt auftreten, redet man heute auch von Lese- und/oder Rechtschreibschwierigkeiten (-schwächen, -störungen). Von Lese-und/oder Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS) wird gemeinhin gesprochen, wenn die Leistungen der Kinder oder Jugendlichen in einem standardisierten Test deutlich unter der klassen- oder alterstypischen Durchschnittsleistung liegen. In der internationalen Literatur spricht man von struggling readers; struggling spel lers erfahren bislang wenig Aufmerksamkeit. In der psychologisch-medizinischen Forschung wird diese Gruppe in drei verschiedene Untergruppen differenziert, die sich je nach Intelligenz der Kinder unterscheiden und wobei unterschiedliche Klassifikationen verwendet werden. Charakteristisch ist aber eine ‚Diskrepanz‘ zwischen fachlichen Minderleistungen und einer vergleichsweise höheren Intelligenz. Diese Unterscheidungen beruhen auf der (fragwürdigen) Annahme, dass die Lese- und Rechtschreibleistung im Wesentlichen von der Intelligenz abhängt, und der Erwartung, dass ein Kind mit unbeeinträchtigter Intelligenz auch keine Minderleistungen im Lesen/Rechtschreiben zeigen sollte.
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Unterschieden werden: – Kinder mit Lese- und/oder Rechtschreibschwierigkeiten (LRS) und gleichzeitig unterdurchschnittlicher Intelligenz. International ist für diese Gruppe auch die etwas abschätzig klingende Bezeichnung „garden variety poor achievers“ üblich (Büttner/Hasselhorn 2011, 77). – Lese- und/oder Rechtschreibschwäche bei Kindern mit unbeeinträchtigter Intelligenz. International spricht man von specific reading difficulties. – Lese- und/oder Rechtschreibstörung. Bei einer Teilgruppe der Kinder mit Leseund/oder Rechtschreibschwäche besteht laut ICD 10-Klassifikation (World Health Organization 2005, 39) eine als klinisch definierte Störung im Sinne von „specific developmental disorders of scholastic skills“. Diese Kinder liegen mit ihren Leistungen im Lesen und/oder Rechtschreiben nicht nur deutlich unter der klassentypischen Durchschnittsleistung, sondern weisen auch eine besonders hohe Diskrepanz zu ihrer Intelligenz auf. Für diese Gruppe ist international der Ausdruck dyslexia üblich. In Deutschland wird für Lese- und/oder Rechtschreibschwächen bzw. -störung auch die Bezeichnung Legasthenie verwendet. Bei Erwachsenen spricht man von Analpha betismus oder funktionalem Analphabetismus.
3 Auftretenshäufigkeit von LRS bei Tests mit sozialer Bezugsnormorientierung Je nach Definition und Vorgehen schwanken die Angaben zur Häufigkeit von LRS. Erfolgt die Operationalisierung über das Kriterium der Abweichung von der klassenbezogenen Norm in einem standardisierten Test, so sind die gefundenen Häufigkeiten trivial, d. h. definitionsgemäß festgelegt: jeweils 1, 5, 10 oder 15 Prozent bei einer Leistung, die unterhalb einer Standardabweichung vom Mittelwert liegt, unabhängig davon, ob sich die Leistungen in der Referenzgruppe verbessern oder verschlechtern. Teilt man diese Gruppe nach ihrer Intelligenz auf (in Kinder mit unterdurchschnittlicher Intelligenz und in Kinder mit nicht beeinträchtigter Intelligenz, den sog. Lese- und/oder Rechtschreibschwachen), so ergeben sich unterschiedliche Häufigkeiten, die von der Art des verwendeten Intelligenztests abhängen. Da Kinder mit LRS häufig sprachliche Schwierigkeiten haben, ist ihr Verbal-IQ geringer als ihr Handlungs-IQ (Valtin 1981). Daraus folgt, dass es bei Verwendung von sprachlichen Intelligenztests weniger Leseschwache gibt als bei Verwendung eines sprachfreien Intelligenztests, da relativ weniger Kinder das Kriterium eines IQ > 85 bzw. > 95 bzw. > 100 erfüllen. Bei Fischbach u. a. (2013) wurde eine Einteilung nach IQ < 85 vorgenommen. Etwa 9.5 Prozent der Schülerinnen und Schüler aus 2. und 3. Klassen wiesen
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einen derartig niedrigen IQ bei gleichzeitig niedriger Lese-Rechtschreibleistung auf (eigene Berechnung). Die Angaben zum Auftreten von Lese- und/oder Rechtschreibschwäche schwanken auch je nach Verwendung unterschiedlicher Lese- und/oder Rechtschreibtests. Valtin hat dies bereits 1981 anhand einer größeren Stichprobe nachgewiesen: Je nach Test wird ein Kind mal in die Gruppe der Lese- oder Rechtschreibschwachen (damalige Bezeichnung: Legastheniker) eingeordnet, mal nicht. Auch aktuelle Studien zeigen, dass je nach Test und Kriterium die Angaben in Bezug auf Leseschwäche zwischen 5.9 Prozent (Wyschkon u. a. 2009) und 11.5 Prozent (Fischbach u. a. 2013) schwanken. Der Anteil der Kinder mit Rechtschreibschwächen beträgt laut Fischbach u. a. (2013) 12.2 Prozent. Bei der Definition von Lese- bzw. Rechtschreibstörungen werden unterschiedliche Werte für die Diskrepanz zwischen schwachen Fachleistungen und hoher Intelligenz verwendet, so dass auch hier die Angaben stark schwanken: In der Studie von Fischbach u. a. (2013) wurde eine Diskrepanz von mindestens 1.2 SD zugrunde gelegt und führte zu 6.6 Prozent Kindern mit Lesestörungen und 8.2 Prozent mit Rechtschreibstörungen. Wyschkon u. a. (2009) ermittelten – je nach Kriterium – zwischen 0.8 und 11.5 Prozent Kinder mit Lesestörungen und 0.9 bis 10.3 Prozent mit Rechtschreibstörungen. Die wenigen Studien, die sich dem Zusammenhang von Lese- und Rechtschreibproblemen widmen, verweisen darauf, dass Lese- und Rechtschreibschwächen zwar häufig gekoppelt, aber auch jeweils isoliert auftreten können (Valtin 1981; Beck/ Thomé/Thomé 2009). Insgesamt ist die Ergebnislage aus zwei Gründen sehr unbefriedigend: Die Zahlen zur Häufigkeit sind artefakt-anfällig: Sie schwanken je nach Art des verwendeten Tests und der angewendeten Kriterien, was zu einer Beliebigkeit und Zufälligkeit der Feststellung LRS oder der Diagnose Legasthenie führt. Besonders schwierig ist eine Abgrenzung von Kindern mit Schwierigkeiten, Schwächen und Störungen. Wegen Messungenauigkeiten ist ohnehin keine trennscharfe Differenzierung möglich. Auch in der internationalen Literatur wird zunehmend die Unterteilung nach Schweregrad kritisiert, da es sich nicht um distinkte Kategorien handelt (Snowling 2013). Bereits im Jahr 1978 hat die Kultusminister-Konferenz empfohlen, von Lese-RechtschreibSchwierigkeiten (LRS) zu sprechen und den bis dato verwendeten Begriff Legasthenie nicht mehr zu verwenden. LRS gilt seitdem bei vielen Pädagogen als ein Sammelbegriff für alle Probleme beim Schriftspracherwerb, die unterschiedlichste Ursachen haben können. Der Versuch, innerhalb dieser Gruppe eine Teilgruppe von Kindern mit mindestens durchschnittlicher Intelligenz als Legastheniker zu definieren, denen andersartige Ursachen und besondere Fördermaßnahmen zugeschrieben werden, hat sich nicht als zweckmäßig erwiesen, denn eine klare differentialdiagnostische Trennung ist nicht möglich. Je nach verwendetem Intelligenz-, Lese- und/oder Rechtschreibtest werden jeweils andere Kinder als Legastheniker ausgewiesen (Valtin 1981).
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Zusätzlich ist zu kritisieren, dass in den bisherigen Studien zur Auftretenshäufigkeit von Lernschwierigkeiten (-schwächen, -störungen) bei der Operationalisierung soziale Bezugsnormen verwendet wurden, d. h. Werte wie Prozentränge oder Standardabweichung, die anhand einer Vergleichsgruppe empirisch ermittelt wurden. Wir erfahren zwar etwas über die Position innerhalb der Normverteilung, dies allein gibt noch keine Auskunft darüber, ob und inwieweit ein Schüler oder eine Schülerin bestimmte schulische Anforderungen erfüllt. Um diese Frage beantworten zu können, bedarf es lernzielorientierter oder kriteriumsorientierter Testverfahren, die Aufschluss geben über Stärken und Schwächen im Lernprozess. Obwohl diese Forderung nach Diagnose mithilfe lernzielorientierter Verfahren schon alt ist (Valtin 1975), ist sie bis heute in der pädagogisch-psychologischen und medizinischen Forschung zu Lese-Rechtschreibstörungen nicht eingelöst. Erste Lösungen bieten Tests, die sich an Kompetenzstufen orientieren wie IGLU, PISA oder die für die Ländervergleiche 2011 entwickelten Testinstrumente auf der Grundlage der Bildungsstandards (Stanat u. a. 2012). Diese (bisher nicht veröffentlichten) Tests liefern Aufschlüsse darüber, welchen Leseanforderungen die Befragten gerecht werden.
4 Definition und Vorkommenshäufigkeit von LRS auf der Grundlage kompetenzorientierter Tests Das Konzept von Lesekompetenz wird bei IGLU ähnlich wie bei PISA unter Bezug auf die angelsächsische Literacy-Tradition bestimmt. Demnach ist Lesekompetenz als Fähigkeit, Texte verschiedener Arten zu verstehen und zu nutzen, eine notwendige Voraussetzung für eine Lebensführung, die persönlichen und gesellschaftlichen Zielen gerecht wird. Zur Bestimmung der Kompetenzstufen wurden Testverfahren entwickelt, die sich auf ein theoretisches Rahmenmodell beziehen. Bei IGLU sind dies die Textsorten (informierend oder literarisch) sowie vier Leseprozesse: (1) explizit angegebene Informationen lokalisieren, (2) einfache Schlussfolgerungen ziehen, (3) komplexe Schlussfolgerungen ziehen und Interpretieren des Gelesenen sowie (4) Prüfen und Bewerten von Inhalt und Sprache. In der IGLU-Rahmenkonzeption wird zusätzlich die Freude am Lesen berücksichtigt, die mithilfe eines Fragebogens erfasst wird. Die Leistungen der Kinder in IGLU-Lesetests lassen sich auf einer Skala verorten, die in fünf verschiedene Abschnitte mit bestimmten Referenzwerten (benchmarks) eingeteilt ist. Die Bereiche, die zwischen diesen Referenzwerten liegen, werden als Kompetenzstufen bezeichnet, die inhaltlich anhand der Anforderungen der Aufgaben charakterisiert werden, die von Kindern auf dieser Stufe bewältigt werden. Die Zielpopulation von IGLU sind die Neunjährigen bzw. Kinder der vierten Grundschulklasse. Als Schülerinnen und Schüler mit Leseschwierigkeiten sind jene zu bezeichnen, deren Leistung im IGLU-Lesetest unter Kompetenzstufe III liegt. Diese
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Kinder sind in der Lage, Wörter und Sätze zu dekodieren, benötigen dafür zuweilen aber viel Zeit. In einem altersangemessenen Text können sie explizit angegebene Einzelinformationen identifizieren. Ihr Anteil liegt in Deutschland bei 15 Prozent. In IGLU 2001 wurde zusätzlich ein Wortlesetest eingesetzt. Aus den Ergebnissen kann gefolgert werden, dass die Leseschwachen die basalen, niedrighierarchischen Leseprozesse beherrschen, wenngleich die Worterkennung bei einigen noch nicht automatisiert abläuft und relativ viel Zeit in Anspruch nimmt, so dass diese Kinder keine oder nicht hinreichende kognitive Ressourcen für die integrativen Leseverstehensprozesse besitzen (Valtin u. a. 2010, 54). Da die IGLU-Erhebung 2011 gleichzeitig mit TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study) stattfand, sind auch Aussagen über den Zusammenhang von Leseschwierigkeiten mit Problemen in Mathematik und Naturwissenschaften möglich. Die Tests zur Erfassung dieser Domänen setzen jeweils die Leseleistung voraus, deshalb erstaunen die starken Zusammenhänge nicht: Fast jedes zweite Kind mit Leseschwierigkeiten hat ebenfalls eine niedrige Kompetenzstufe in Mathematik bzw. Naturwissenschaften. Gut sieben Prozent der Kinder sind mit ihren Leistungen in allen drei Domänen auf den unteren Kompetenzstufen (Valtin/Voss/Bos 2015). Diese Zahlen verweisen darauf, dass sich Leseschwierigkeiten langfristig auch auf andere Schulfächer auswirken. Vergleichbar zu IGLU werden auch in PISA die Lesekompetenzen der erfassten Jugendlichen (Zielpopulation: 15 Jahre) auf Kompetenzstufen verortet. Jugendlichen, die sich auf Kompetenzstufe I oder darunter befinden, gelingt nur das oberflächliche Verständnis einfacher Texte. Sie werden deshalb als potenzielle Risikogruppe betrachtet, weil aufgrund ihrer niedrigen Lesekompetenz erhebliche Probleme beim Übergang von der Schule in den Beruf zu erwarten sind. In den fünf PISA-Erhebungen ist der Anteil der Jugendlichen auf den unteren Kompetenzstufen kontinuierlich gesunken: von 22.6 Prozent (im Jahr 2000), 22.3 Prozent (2003), 20.3 Prozent (2006) auf 18.5 Prozent (2009) (Klieme u. a. 2010, 7) und schließlich auf 14.5 Prozent bei der letzten PISA-Erhebung 2012 (OECD 2013). Während Deutschland im Jahr 2000 mit seinem hohen Anteil von Jugendlichen in der ‚Risikogruppe‘ weit oberhalb des OECDDurchschnitts lag, liegt der neue Wert von 2012 nun unterhalb des OECD-Durchschnitts (von 18 Prozent). Aufschluss über die Verbreitung von Lese- und auch Rechtschreibschwierigkeiten bei Erwachsenen gibt die leo. – Level-One Studie (Grotlüschen/Riekmann 2011), in die über 8000 Personen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren einbezogen waren. Diese Studie verortet die Fähigkeiten im Lesen und Schreiben auf den sog. Alpha-Levels, die sich auf die sprachlichen Einheiten Wort, Satz und Text beziehen. Personen auf dem Alpha-Level 1–2 unterschreiten die Satzebene, d. h. sie können einzelne Wörter, nicht jedoch ganze Sätze, lesen und schreiben. Sie werden als Analphabeten bezeichnet. Von funktionalem Analphabetismus wird gesprochen, wenn ein Unterschreiten der Textebene vorliegt, d. h. wenn eine Person zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben kann, nicht jedoch zusammenhängende Texte. Als weitere Kategorie wurde in dieser
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Studie „Fehlerhaftes Schreiben trotz gebräuchlichen Wortschatzes“ eingeführt: Auf Satz- und Textebene werden selbst gebräuchliche Wörter langsam und/oder fehlerhaft gelesen und geschrieben. Die Beherrschung der Rechtschreibung ist lückenhaft und erreicht nicht das Niveau, das am Ende der Grundschulzeit zu erwarten wäre. Betrachtet man den Anteil der Erwachsenen auf den einzelnen Alpha-Levels, so ergeben sich die folgenden Häufigkeiten: 0.6 Prozent erreichen nicht die Wortebene beim Lesen und Schreiben (Alpha-Level 1). Mit den weiteren 3.5 Prozent, die AlphaLevel 2 erreichen und nur einige Wörter lesen und schreiben können, bilden sie die Gruppe der Analphabeten (insgesamt 4.5 Prozent oder geschätzte 2.3 Millionen in Deutschland). Auf der Alpha-Stufe 3, bei der eine Person mit kurzen Sätzen umgehen kann, aber an Texten scheitert, befinden sich 10 Prozent. Diese drei Gruppen werden dem funktionalen Analphabetismus zugerechnet. Sie machen mehr als 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung aus, was einer geschätzten Größenordnung von 7,5 Millionen entspricht. Bei weiteren 25.9 Prozent der Befragten stellte sich heraus, dass ihre Schriftsprache auch bei gebräuchlichen Wörtern fehlerhaft ist. Hochgerechnet sind davon über 13 Millionen Menschen in Deutschland betroffen. Weitere Angaben zu den Erwachsenen (im Alter von 16 bis 65 Jahren) liefert die ebenfalls von der OECD durchgeführte Studie PIAAC (Programme for the Internatio nal Assessment of Adult Competencies), in der drei wichtige Schlüsselkompetenzen erfasst werden: Lesekompetenz, alltagsmathematische Kompetenzen und technologiebasierte Problemlösefähigkeit (OECD 2013; Rammstedt 2013). Die Definition von Lesekompetenz in PIACC ist ebenfalls einem funktionellen Ansatz verpflichtet. Lesen wird als Schlüsselkompetenz zur Informationsverarbeitung aufgefasst, deren Erwerb notwendig ist für die soziale Integration, Bildung, Ausbildung und Erwerbstätigkeit sowie die Beteiligung am sozialen und zivilgesellschaftlichen Leben. Lesekompetenz ist definiert als die Fähigkeit, geschriebene Texte zu verstehen, zu bewerten, zu nutzen, und sich mit ihnen ausein anderzusetzen, um aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, eigene Ziele zu erreichen und das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln. (OECD 2013, 4)
So enthält der Lesetest Aufgaben wie das Lesen eines Medikamentenbeipackzettels oder eines kurzen Zeitungsartikels. Die Ergebnisse werden ebenfalls in Form von Zugehörigkeit zu einer von fünf Kompetenzstufen berichtet. Erwachsene mit gravierenden Leseproblemen sind jene, die lediglich die Kompetenzstufe 1 oder darunter erreichen. Diese Personen können nur kurze Texte mit eher einfachem Grundwortschatz und übersichtlicher Struktur lesen. Es gelingt ihnen, einzelne Informationen in einem relativ kurzen Text zu lokalisieren, wenn in der Frage oder der Testanweisung explizit diese Informationen enthaltenen sind. In Deutschland erreichen 3.3 Prozent der Erwachsenen nicht die Stufe 1, auf Stufe 1 befinden sich 14.2 Prozent. Mit diesen insgesamt 17.5 Prozent liegt Deutschland im OECD-Vergleich etwas über dem Durchschnitt. Günstigere Werte
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weist beispielsweise Finnland mit 10.7 Prozent auf. In PIACC wurden bei Erwachsenen mit einem niedrigen Kompetenzniveau zusätzlich verschiedene grundlegende Komponenten der Lesekompetenz gemessen. Leider werden bislang nicht alle Ergebnisse dazu berichtet. Aus den Tabellen B2:4a (OECD 2013b, Annex B) ist lediglich Folgendes zu erfahren: Von den Personen in Deutschland, deren Leseleistung unterhalb von Kompetenzstufe 1 liegt, haben 21.7 Prozent Probleme mit der Verarbeitung von Sätzen, 6.1 Prozent Probleme mit dem Verstehen einfacher Textpassagen und 4 Prozent Worterkennungsschwierigkeiten, d. h. sie beherrschen vermutlich (ebenso wie die Viertklässler von IGLU) die basale Lesefertigkeit. PIACC gibt ferner erstmalig Auskunft darüber, wie viele Personen in Deutschland den digitalen Anforderungen unserer Informations- und Wissensgesellschaft nicht gewachsen sind. Erfasst wurde technologiebasiertes Problemlösen, das die Kompetenz im Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT Literacy) beinhaltet und definiert ist als die Fähigkeit, digitale Technologien, Kommunikationswerkzeuge und Netzwerke zu verwenden, mit dem Ziel, Informationen zu beschaffen und zu bewerten, mit anderen zu kommunizieren sowie alltagsbezogene Aufgaben zu bewältigen. Die Befragten hatten Aufgaben zu bearbeiten wie das Sortieren und Versenden von E-Mails und den Umgang mit virtuellen Formularen. Ferner mussten der Informationsgehalt und die Vertrauenswürdigkeit verschiedener Internetseiten beurteilt werden. Betrachtet man den Anteil der Personen, deren Leistungen in technologiebasiertem Problemlösen unter bzw. auf Kompetenzstufe 1 liegen, so sind dies im OECDDurchschnitt 42 Prozent, in Deutschland 45 Prozent (davon 14.4 % unter Stufe 1). Ihnen gelingt nur mit Hilfe einer vertrauten technologischen Anwendung die Bewältigung einfacher und klar definierter Probleme, die wenige Lösungsschritte erfordern. Insgesamt zeigen die kompetenzorientierten Testverfahren, dass es einen erheblichen Anteil von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gibt, die nur elementare Anforderungen im schriftsprachlichen Bereich erfüllen können. Ob es sich dabei jeweils um dieselbe Gruppe handelt, kann aufgrund der querschnittlichen Designs der Studien nicht beantwortet werden. Jedoch ist zu erwarten, dass die fünfzehnjährigen Jugendlichen, die bei PISA zur Risikogruppe gehören und zum größten Teil die Hauptschule besuchen, keinen anspruchsvollen Ausbildungs- und Arbeitsplatz finden werden und deshalb vermutlich auch im Erwachsenenalter ihre Lesekompetenzen nicht verbessern können, was wiederum ihre Bildungschancen weiterhin verringert.
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5 Zusammenhänge von Leseschwierigkeiten mit psychischen und sozialen Merkmalen 5.1 Ergebnisse aus IGLU und PISA In den verschiedenen IGLU-Erhebungen von 2001, 2006 und 2011 wurden durch Schüler- und Elternfragebögen zahlreiche Informationen zu psychischen und sozialen Merkmalen der Befragten erhoben. Ausführliche Analysen zu der Gruppe der Kinder auf dem untersten Lesekompetenzniveau liegen für IGLU 2006 vor (Valtin u. a. 2010). In dieser Gruppe befinden sich etwas mehr Jungen als Mädchen, jedoch ist der Unterschied nicht erheblich. Verglichen mit Kindern auf den beiden obersten Lesekompetenzstufen gehen die Leseschwachen zwar gern zur Schule, sie fühlen sich aber in der Schule nicht sicher, berichten ein hohes Ausmaß von Gewalterfahrungen (körperliche und seelische Verletzungen) und weisen eine hohe Leistungsängstlichkeit und ungünstige motivationale Überzeugungen auf: eine geringe Erfolgszuversicht, eine starke Misserfolgsorientierung sowie eine geringere intrinsische Motivation für schulische Mitarbeit. Ferner haben Kinder mit Leseproblemen ungünstigere Werte im Leseselbstkonzept, in der Einstellung zum Lesen und im Leseverhalten. Sie selbst geben an, sich im Deutschunterricht häufig mit anderen Dingen zu beschäftigen. Die ungünstigen motivationalen Überzeugungen lassen sich als Reaktionen auf schulische Misserfolge und schlechte Zensuren deuten. Dass Zensurengebung bei schwachen Schülerinnen und Schülern zu größerer Leistungsangst und Misserfolgsorientierung führt, ist auch längsschnittlich belegt (Wagner/Valtin 2003). Auch in Bezug auf das Freizeitverhalten ergaben sich bedeutsame Unterschiede. Kinder mit Leseproblemen greifen selten freiwillig zum Buch und verbringen deutlich häufiger als Lesestarke ihre Zeit mit Fernsehen und Computerspielen. Dieses Ergebnis bekräftigt die Annahme, dass die Chancen zum Erwerb von Lesekompetenz dann eingeschränkt sind, wenn die Medien in der Umgebung der Kinder vorwiegend zu Unterhaltungszwecken gebraucht werden (Ennemoser/Schneider 2007). Bedeutsame Unterschiede zwischen Kindern auf der unteren Lesekompetenzstufe und den oberen Lesekompetenzstufen zeigten sich auch in Bezug auf die Lesesozialisation. Die Ergebnisse verweisen insgesamt auf ungünstige häusliche Bedingungen, sowohl in Bezug auf Strukturvariablen, wie soziale Herkunft und berufliche Position der Eltern, als auch in Bezug auf Prozessmerkmale, wie pädagogische Ressourcen zuhause, kulturelle Praktiken, Lesevorbildwirkung der Eltern sowie gezielte Anregung und Unterstützung kultureller, schriftsprachlicher und kommunikativer Aktivitäten des Kindes durch die Eltern im Vorschul- und im Schulalter. Bei allen untersuchten Aspekten zeigte sich ein durchgängiges Muster: Die günstigsten Werte finden sich bei den lesestarken Kindern, die ungünstigsten bei den Leseschwachen. Zwischen Leseschwachen mit unterdurchschnittlicher und durchschnittlicher Intelli-
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genz gab es keine Unterschiede, ein weiteres Argument dafür, auf das Intelligenzkriterium zu verzichten. Erste Auswertungen zu 2011 zeigen, dass von den Leseschwachen 45.9 Prozent aus Haushalten mit Armutsgefährdung stammen, im Vergleich zu 25.4 Prozent in der Gesamtstichprobe. Ein deutlicher Zusammenhang zeigt sich in IGLU 2011 auch mit der Familiensprache und der Migrationsgeschichte. In der Gesamtstichprobe haben 82.8 Prozent der Kinder Deutsch als Muttersprache, bei den Leseschwachen trifft dies nur für 64 Prozent zu. Während in der Gesamtstichprobe 72.3 Prozent der Kinder in Deutschland geborene Eltern haben, sind es bei den Leseschwachen nur 52.8 Prozent (Valtin/Voss/Bos 2015). Zum Abschluss sollen noch Befunde dazu berichtet werden, welche Bedeutung die Lesekompetenz für eine der wichtigsten Gelenkstellen der schulischen Auslese hat, dem Übergang in weiterführende Schulen, der in Deutschland recht früh auf der Grundlage der Grundschulempfehlungen erfolgt. Da das dreigliedrige Schulsystem auf der Vorstellung beruht, dass Kinder mit unterschiedlichen schulischen Leistungen auch unterschiedliche weiterführende Schulformen besuchen, wäre ein sehr starker Zusammenhang zwischen der Lesekompetenz und der Übergangsempfehlung der Lehrkräfte zu erwarten. Die zu jeder IGLU-Erhebung durchgeführten Analysen zeigen jedoch, dass die Lesekompetenz, wie sie in IGLU gemessen wird, bei der Empfehlung der Lehrkräfte zwar eine wichtige, aber nur eine untergeordnete Rolle spielt. Am wichtigsten sind die Noten – und diese stehen mit der Testleistung nur in einem losen Zusammenhalt: Auf jeder Lesekompetenzstufe erhalten die Schülerinnen und Schüler Noten, die zwischen 1 und 5 und schlechter streuen. Über ein Drittel der Kinder auf den untersten Lesekompetenzstufen erhalten eine Note ‚befriedigend‘ oder sogar besser (Valtin u. a. 2010). Das führt dazu, dass sich die Testleistungen der Kinder, die von den Lehrkräften Übergangsempfehlungen für Hauptschule, Realschule oder Gymnasium erhalten, sehr stark überlappen. Vergleichbares gilt für die Noten und die Testleistungen in Mathematik und Naturwissenschaften. Bei der Übergangsempfehlung spielt die soziale Lage der Schüler und Schülerinnen eine bedeutsame Rolle: Bei gleichen kognitiven Fähigkeiten und Lesekompetenzen haben Kinder der oberen sozialen Schichten eine 3.14 mal größere Chance, eine Gymnasialempfehlung von den Lehrkräften zu erhalten, als Kinder von (Fach-)Arbeitern und an- und ungelernten Arbeitern (Stubbe/Bos/Euen 2012, 220). Die entsprechenden Zahlen für 2001 und 2006 lauten: 2.63 und 2.72 und verweisen sogar auf einen Anstieg der sozialen Disparitäten. Besonders eindrucksvoll lässt sich dies an den sog. ‚kritischen Werten‘ veranschaulichen. Dies sind die Werte, von denen an mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit eine Gymnasialempfehlung erteilt wird. Während bei IGLU 2011 Kinder von un- und angelernten Arbeitern 609 Punkte benötigen, um gute Chancen auf eine Gymnasialpräferenz ihrer Lehrkräfte haben, brauchen Kinder aus der obersten Sozialschicht nur 530 Punkte – eine Leistung weit unterhalb des deutschen Mittelwerts von 563. Der kritische Wert für Kinder der obersten Sozialschicht ist in den drei IGLUErhebungen kontinuierlich gesunken: Bei IGLU 2001 betrug er 551, bei IGLU 2006 537.
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Dass in Deutschland ein besonders straffer Zusammenhang von Schulerfolg und sozialer Lage besteht, wird in zahlreichen Studien belegt. Dass die Gymnasialempfehlung entscheidend zu dieser sozialen Benachteiligung von Kindern der unteren sozialen Schichten beiträgt, wird indessen selten thematisiert. Im Bereich des Jugendalters haben vor allem Stanat/Schneider (2004) Ergebnisse zu Jugendlichen vorgelegt, die in PISA-E nicht die Kompetenzstufe II erreicht haben. Rund 59 Prozent davon sind Jungen. Ebenso wie in der IGLU-Stichprobe weisen leseschwache Jugendliche in allen motivationalen Variablen ungünstigere Ergebnisse auf (vgl. dazu Tabellen 9.2 und 9.4 in Stanat/Schneider 2004, 260 f.). Dies betrifft domänenübergreifende Merkmale wie das akademische Selbstkonzept, die Anstrengung/ Ausdauer beim Lernen sowie die instrumentelle Motivation, ferner das Interesse am Lesen, das verbale Selbstkonzept und die Selbstwirksamkeitsüberzeugungen. Auch im Fernsehkonsum unterscheiden sich die beiden Gruppen: 58 Prozent der leseschwachen Jugendlichen geben an, an Wochentagen im Durchschnitt drei Stunden und länger Fernseh- oder Videofilme anzuschauen, bei den nichtschwachen Jugendlichen sind es nur 38 Prozent; bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist der Fernsehkonsum insgesamt noch höher. Aus den Angaben von Stanat/Schneider (2004, 267) ist ferner zu entnehmen, dass leseschwache Jugendliche im Vergleich zu nichtleseschwachen Jugendlichen ungünstigere Werte in Bezug auf soziokulturelle Strukturmerkmale (Sozialschicht, Bildungsniveau der Eltern, Anzahl der Kinder in der Familie) und – in etwas geringerem Maße – in Bezug auf soziokulturelle Prozessmerkmale (Investition in Wohlstandsgüter, kulturelle Ressourcen, kulturelle Aktivitäten, kommunikative Praxis) aufweisen. 37.8 Prozent der leseschwachen Jugendlichen haben einen Migrationshintergrund (davon 31.9 Prozent mit Eltern, die im Ausland geboren wurden, s. Stanat/ Schneider 2004, 257). In der Gruppe der nichtschwachen Leser (Kompetenzstufe II und höher) befinden sich nur 17.6 Prozent mit Migrationshintergrund (davon 11.2 % mit Eltern, die im Ausland geboren wurden). Zwar spielt der Migrationshintergrund eine Rolle, doch ist darauf zu verweisen, dass über 60 Prozent der leseschwachen Jugendlichen in Deutschland geboren wurden, in Deutschland geborene Eltern haben und dass 73 Prozent angeben, in der Familie Deutsch zu sprechen – verglichen mit 92.6 Prozent in der Gruppe der Nichtleseschwachen (Stanat/Schneider 2004, 257). Die Ergebnisse von IGLU und PISA sind also in vielfacher Hinsicht vergleichbar, was den Zusammenhang mit leistungsbezogenen Persönlichkeitsmerkmalen, soziokulturellen und migrationsbezogenen Faktoren betrifft.
5.2 Ergebnisse von leo. – Level-One Studie und PIACC Sowohl die leo. – Level-One Studie (Grotlüschen/Riekmann/Buddeberg 2011) als auch PIACC (Rammstedt 2013) liefern wichtige Informationen zum Zusammenhang von Leseschwierigkeiten mit Merkmalen wie Alter, Geschlecht, soziale Herkunft,
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Familiensprache, Bildungsabschluss, Teilhabe am Arbeitsmarkt sowie Erwerbslosigkeit und gelangen zu weitgehend übereinstimmenden Befunden. So auch in Bezug auf das Alter: Die jüngeren Jahrgänge zeigen etwas bessere Leistungen als die älteren. Lediglich in Bezug auf die Kategorie „Fehlerhaftes Schreiben häufiger Wörter“ ist in der leo.-Studie der Anteil der Betroffenen in der Altersgruppe derjenigen Personen, die zwischen 1967 und 1971 eingeschult wurden, etwas geringer als in den jüngeren Alterskohorten. Was die Geschlechtsunterschiede betrifft, kommen beide Studien zu leicht divergierenden Ergebnissen. So wie bei PISA signifikant häufiger männliche Jugendliche zu der ‚Risikogruppe‘ zählen, sind auch in der leo.-Studie Männer stärker von funktionalem Analphabetismus betroffen als Frauen. Bei PIACC sind jedoch auf den untersten Kompetenzstufen die Frauen überrepräsentiert. Diese Geschlechterunterschiede verschwinden allerdings bei Kontrolle weiterer wichtiger Einflussfaktoren wie Bildung, Migrationshintergrund (Sprache), sozialer Herkunft und Erwerbsstatus. Die Lesekompetenz steht in einem bedeutsamen Zusammenhang mit dem Bildungsabschluss. In der leo.-Studie sind fast 60 Prozent der Personen, die keinen Schulabschluss haben, von funktionalem Analphabetismus betroffen. Bei PIACC ist dieser Anteil noch höher: Drei Viertel der Personen ohne Schulabschluss erreichen nur die Lesekompetenz der Stufe 1, von denjenigen mit Hauptschulabschluss, aber ohne Berufsausbildung sind es 45 Prozent. Wie schon in IGLU und PISA wurde auch bei der leo.-Studie und PIACC ein starker Zusammenhang der Lesekompetenz mit der sozialen Herkunft (Bildungsabschluss der Eltern) festgestellt. Von den Personen mit funktionalem Analphabetismus in der leo.-Studie haben 18 Prozent eine Mutter, die selbst keinen Schulabschluss hat, und weitere 60 Prozent eine Mutter mit einem unterem Bildungsabschluss (Grotlüschen/ Riekmann/Buddeberg 2013, 31). Wenn die Eltern keinen oder nur einen niedrigen Schulabschluss haben, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder (funktionale) Analphabeten (leo.-Studie) sind bzw. zur niedrigen Lesekompetenzstufe gehören (PIACC). Grotlüschen, Riekmann und Buddeberg (2013, 28) sprechen von sozialer Vererbung und verweisen auf die Problematik des Befunds, dass Mehrpersonenhaushalte mit vier oder fünf Personen überproportional häufig von funktionalem Analphabetismus betroffen sind, die Kinder also von ihren Eltern wenig Anregungen zum Gebrauch der Schriftsprache erfahren. Wie PIACC verdeutlicht, besteht ein derartiger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lesekompetenz in allen OECD-Ländern, ist aber in Deutschland besonders stark ausgeprägt. Weitere Analysen deuten darauf hin, dass dieser Zusammenhang vorwiegend indirekt vermittelt wird, und zwar über den eigenen Bildungsabschluss. Personen mit geringer Qualifikation werden vermutlich geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder auf einen anspruchsvollen Beruf haben, der ihnen Gelegenheiten zum Weiterlernen bieten könnte, so dass ein Teufelskreis entstehen kann. Auch die Familiensprache erwies sich als bedeutsam für die Lesekompetenz. Von denjenigen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, befinden sich bei PIACC 42 Prozent auf Stufe 1, von denjenigen mit deutscher Muttersprache sind es lediglich 15,4
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Prozent. Dies verweist auf einen großen Einfluss migrationsbedingter Faktoren. Wenn allerdings andere mögliche soziodemografische Einflussfaktoren (Geburtskohorte, Bildungsabschluss, soziale Herkunft, Erwerbsstatus) kontrolliert werden, verringern sich die Kompetenzunterschiede zwischen Personen mit Muttersprache Deutsch und Personen mit einer anderen Muttersprache auf 25 Punkte, d. h. es bleibt ein Effekt der Muttersprache bestehen. Dies trifft auch bei der leo.-Studie zu: Geringere deutsche Sprachkenntnisse tragen zu geringen schriftsprachlichen Leistungen bei. Erwartungsgemäß besteht ein enger Zusammenhang zwischen den Lesekompetenzen und der Teilhabe am Arbeitsmarkt. In der leo.-Studie sind über 30 Prozent der Arbeitslosen und über 25 Prozent der Erwerbsunfähigen von funktionalem alphabetismus betroffen. Auch bei PIACC weisen Erwerbslose und NichterAn werbspersonen eine geringere Lesekompetenz auf, vermutlich bedingt durch eine Auslese am Arbeitsmarkt. Ferner bestehen wesentliche Einkommensunterschiede; Erwerbspersonen auf der niedrigsten Kompetenzstufe verdienen laut PIACC im Mittel 60 Prozent weniger als diejenigen auf der höchsten Lesekompetenzstufe. In beiden Studien wurden zusätzlich Daten zu subjektiven Befindlichkeiten und Einstellungen erhoben. Bei der leo.-Studie stimmten die Erwachsenen mit funktionalem Analphabetismus seltener Aussagen zu, in denen es im Rückblick um positive Schulerfahrungen ging: Die Schule hat mir Spaß gemacht, Ich wäre gern länger zur Schule gegangen, Ich habe den Schulabschluss erreicht, den ich haben wollte, Ich habe in der Schule viel Interessantes gelernt. Hohe Zustimmung gab es zu den Aussagen, dass sie sich in der Schule schlecht gefühlt hätten und ihnen das Lernen schwer gefallen sei. Derartige Klagen hatten ja auch die Schülerinnen und Schüler in IGLU geäußert. Bei PIACC wurden folgende Bereiche erfasst: Das Vertrauen in andere (Es gibt nur wenige Menschen, denen ich voll vertrauen kann), die Einschätzung der politischen Wirksamkeit, die Teilhabe an gesellschaftlichen, religiösen, politischen oder sonstigen ehrenamtlichen Aktivitäten sowie die Einschätzung der eigenen Gesundheit. Auch bei der Kontrolle von Bildungsabschluss, sozialer Herkunft, Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund zeigten sich in allen Ländern positive Zusammenhänge mit der Lesekompetenz (OECD 2013b). Personen auf der niedrigsten Lesekompetenzstufe hatten ein geringeres Vertrauen in ihre Mitmenschen, glaubten seltener, Einfluss auf politisches Geschehen ausüben zu können, zeigten ein geringes gesellschaftliches Engagement und berichteten einen schlechten Gesundheitszustand. In Deutschland war dieser Zusammenhang – im Vergleich mit anderen OECD-Staaten – jeweils besonders hoch. Die hier berichteten Ergebnisse stammen aus Querschnitterhebungen, so dass keine Ursache-Wirkungs-Aussagen getroffen werden können. Dennoch ist es plausibel anzunehmen, dass geringe Lesekompetenz – wie es die OECD als zentrale Botschaft zitiert – wesentliche Auswirkungen auf die Lebenschancen hat (OECD 2013a, 6).
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6 Welche Ursachen haben Lese-Rechtschreibschwierigkeiten? Zahlreiche Disziplinen befassen sich mit LRS und ihren Ursachen, entsprechend vielfältig sind die theoretischen Ansätze und die Ergebnisse. In der medizinischen Literatur wird den intelligenten leseschwachen Kindern eine krankhafte Eigenschaft (in Form von genetischen Teilleistungsstörungen) zugeschrieben, die sie an einem erfolgreichen Lese-Rechtschreiberwerb hindert. Ob ein solches Krankheitskonstrukt sinnvoll ist, muss sich an seiner Brauchbarkeit erweisen. Und die Befunde sprechen dagegen: Dieses Konstrukt ist weder in diagnostischer noch therapeutischer Hinsicht sinnvoll (Scheerer-Neumann 2003). Meyerhöfer (2011) hat die Annahme einer Krankheit in Bezug auf die Rechenschwäche diskutiert und schlägt stattdessen das Konstrukt der nicht bearbeiteten stofflichen Hürden vor, das zu einem Nichtverstehen mathematischer Inhalte führt. In ähnlicher Weise hat Valtin (2000) im Rahmen der Theorie der kognitiven Klarheit dargelegt, dass Kindern mit LRS die erforderliche Klarheit in Bezug auf Funktion und Aufbau der Schrift fehlt und dass sie die für das Begreifen und den Erwerb des Lerngegenstands Schriftsprache notwendigen Einsichten (noch) nicht erworben haben. Die Bezeichnung struggling readers macht dies sehr anschaulich. In pädagogisch-psychologischen Ansätzen werden eigenschaftsbezogene Erklärungen auch deshalb als unangemessen kritisiert, da individuelle Eigenschaften und Lernvoraussetzungen des Kindes stets in Wechselwirkung mit Umweltfaktoren stehen. Die Befunde von PISA und IGLU legen eine ökopsychologische Betrachtungsweise nahe. Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten können als verzögerte oder fehlgeleitete Lernentwicklung angesehen werden, die ein Ergebnis kumulativer Lernerfahrungen ist und beeinflusst wird durch die Wechselwirkung zahlreicher Faktoren: individueller Lernvoraussetzungen (z. B. sprachliche, kognitive, emotionale und motivationale Faktoren), sozialkultureller Merkmale (Bildungsnähe des Elternhauses, elterliche Anregung und Unterstützung) sowie Schule und Unterricht (z. B. fehlende Anknüpfung an die Lernausgangslage, unzureichende Förderung in der Schule). Diese verschiedenen Bedingungsfaktoren können sich gegenseitig im Sinne eines Teufelskreises verstärken (Valtin u. a. 2010).
7 Didaktische und schulische Maßnahmen Eine Metaanalyse der vorliegenden Interventionsstudien (Galuschka u. a. 2014) belegt die fehlende Wirksamkeit von Therapiemaßnahmen, die – basierend auf dem medizinischen Modell von Legasthenie – an vermeintlich gestörten basalen Funktionen ansetzen. Der Therapie-Erfolg ist auch nicht von der Intelligenz der Kinder abhängig (vgl. Weber/Marx/Schneider 2001), so dass auch hinsichtlich der Förderung eine
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Unterscheidung von intelligenten und weniger intelligenten Kindern mit Leseschwierigkeiten nicht sinnvoll ist. Insgesamt – so das Fazit von Galuschka u. a. (2014) – haben sich nur pädagogische Ansätze als erfolgreich erwiesen, die gezielt an die individuellen Probleme des Kindes angepasst sind. Zu den Fördermaßnahmen, wie sie in pädagogisch-psychologischen Ansätzen vorgeschlagen werden (vgl. zusammenfassend Scheerer-Neumann 2015), gehören drei Bausteine: 1. Ein gezieltes Training der Leistungen im Lesen, Schreiben und Recht-schreiben aufgrund einer individuellen Diagnose von Stärken und Schwächen des Kindes. Je nach Lernstand müssen die Fördermaßnahmen im Lesen ansetzen an Übungen auf der Wortebene (basales Lesen, automatisiertes Worterkennen), der Wortund Satzebene (Leseflüssigkeit) und auf der Textebene (Textverstehen). Auch in Bezug auf die Rechtschreibung sind die Fördermaßnahmen auf den Lernstand abzustimmen. Aus den zahlreichen Studien wissen wir, dass sich der Erwerb der Rechtschreibung in einer Abfolge von charakteristischen Strategien beschreiben lässt, in denen sich die Einsichten und Kenntnisse des Lernenden widerspiegeln: figurative Strategie (Kritzeln, Schreiben einzelner Buchstaben bzw. buchstabenähnlicher Formen), alphabetische Strategie (mit der Einsicht, dass unsere Schrift Sprachlaute aufzeichnet, beginnen die Lernenden, lautorientiert zu schreiben) sowie orthographische Strategie (die zunehmende Kenntnis orthographischer Besonderheiten wie Großschreibung, Markierung der Vokaldauer oder Interpunktion). 2. Ein Training von Lern- und Lesestrategien sowie Strategien der Selbst-kontrolle. Schwache Leser lesen häufig Wort für Wort und sie wenden selten Lesestrategien an, die bei der Verarbeitung und dem Behalten des Gelesenen helfen können. Häufig fehlt ihnen schon das Wissen um geeignete Lesestrategien, wie Aktivierung des Vorwissens, Vorhersagen treffen, lautes Denken, visuelles Vorstellen und Zusammenfassen. Wichtig sind auch metakognitive Strategien der Planung, Überwachung und Kontrolle des Leseprozesses (Wie gehe ich vor? Habe ich alles verstanden? Was kann ich tun bei Schwierigkeiten?). Für den Bereich der Rechtschreibung müssen die Lernenden Techniken des Abschreibens, Übens, Behaltens und Kontrollierens erwerben. 3. Die Berücksichtigung motivationaler Faktoren. Als Grundsätze für den Aufbau und den Erhalt der Lesemotivation gelten: freie Wahl von Leselektüre, Herausforderungen bei der Aufgabenstellung, Ermöglichung von Erfolgserlebnissen, Interaktion und Kommunikation mit anderen über das Gelesene. Für die Förderung in der Grundschule liegt eine Fülle von Materialien bereit, zum Beispiel umfassende Programme, wie das Material „Das schaffe ich!“ (Valtin/Naegele/ Sasse 2013), oder Ansätze zum Training einzelner Fähigkeiten, die auch empirisch evaluiert wurden, wie die Förderung von Teilleistungen im Lesen (Scheerer-Neumann 2003). Im Sekundarschulalter haben sich ein Training der Leseflüssigkeit (Rosebrock
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u. a. 2011) und das Einüben von Lesestrategien (Gold 2010) als wirksam erwiesen. Leider gelingt es aber unter den gegenwärtigen schulischen Verhältnissen nicht immer, LRS zu verhindern. Obwohl in allen Bundesländern Erlasse zur Förderung von Kindern mit LRS bestehen, wird eine derartige schulische Förderung nicht wirkungsvoll realisiert. So erhielt laut IGLU nur ein Drittel der leseschwachen Kinder in der Schule eine Förderung (Valtin/Hornberg u. a. 2010). Ein ähnliches Bild zeigen die Daten von Stanat u. a. (2012). Welche schulischen und gesamtgesellschaftlichen Maßnahmen notwendig sind, um die Anzahl der Kinder und Jugendlichen mit LRS in Europa zu verringern, verdeutlicht ein Bericht der EU-Kommission (High Level Group of Experts on Literacy 2012, der auch die Verfasserin angehört). Gefordert werden unter anderem eine Verbesserung der Lehreraus- und -fortbildung, die Entwicklung von Mindeststandards und die obligatorische Förderung von Schüler und Schülerinnen, sofern sie diese Mindeststandards nicht erreichen, die Schaffung von Unterstützungssystemen für Schülerinnen und Schüler mit geringen schriftsprachlichen Kompetenzen sowie das Heranziehen von Fachleuten mit besonderer Expertise in Bezug auf Sprach- und Leseförderung. Hervorgehoben wird auch die Bedeutung früheinsetzender Fördermaßnahmen, denn Sprache – gesprochene und geschriebene – ist ein wichtiger Schlüssel für Bildung und gesellschaftliche Teilhabe.
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27. Unterrichtskommunikation – gesprächsanalytisch rekonstruiert Abstract: In diesem Beitrag wird es um verschiedene Formen der Realisierung von Unterricht gehen. Bevor dies jedoch im zweiten Teil der Schwerpunkt sein wird, müssen zuvor die zentralen Ansätze der linguistischen Perspektive auf Unterrichtskommunikation vorgestellt werden, nämlich zunächst der angelsächsische diskurs analytische Ansatz, der konversationsanalytische Ansatz aus den USA, weiter ausdifferenziert in Deutschland am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim – er wird dann interaktionistischer Ansatz genannt – und schließlich der Ansatz der funktio nalen Pragmatik. Im zweiten Teil werden dann drei Unterrichtsmodelle vorgestellt, nämlich erstens der lehrerzentrierte Ansatz am Beispiel eines Gesprächs über Literatur im Deutschunterricht, zweitens ein schülerzentriertes Dokument, in dem Schüler einer gymnasialen Oberstufenklasse (Jg. 12) über einen Studieninformationstag diskutieren und sich dabei relativ heftig über die selbst gemachten Erfahrungen streiten, und schließlich ein verfahrensgeregelter Ansatz, in dem Schüler in einem InnenkreisAußenkreis-Arrangement über die Frage diskutieren, ob die Zugänge im Internet altersbeschränkt sein sollten. Eine differenzierte Würdigung schließt dieses Kapitel dann ab. In Teil 3 geht es um die Frage, welche Formen von Unterrichtskommunikation in der schulischen Praxis genutzt werden sollen. 1 Ansätze zur Analyse von Unterrichtskommunikation 2 Analyse von Transkriptionen 3 Abschließende Diskussion der Ergebnisse 4 Literatur
1 Ansätze zur Analyse von Unterrichtskommunikation Es gibt verschiedene Ansätze zur Analyse von Unterrichtskommunikation, wobei für diesen Beitrag drei ausgewählt werden, nämlich der diskursanalytische Ansatz, der in den 70er Jahren von Sinclair/Coulthard entwickelt wurde (1977) und der im Jahr 2003 von dem Pädagogen Lüders genutzt wurde, um empirisch erhobene Unterrichtsdaten zu analysieren (vgl. Lüders 2003), der interaktionistische Ansatz, der eine Weiterentwicklung des konversationsanalytischen Ansatzes nach Mehan (1979) ist und der in Deutschland insbesondere von Mitarbeitern des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim vertreten wird (z. B. Schmitt 2011a), sowie der funktional-pragmatische
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Ansatz von Ehlich/Rehbein (1986), der immer noch das am weitestgehend ausgearbeitete Konzept in der Analyse von Unterrichtskommunikation ist. Die Grundlagen dieser drei Konzepte werden in diesem Teil des Aufsatzes herausgearbeitet, beschrieben und abschließend kritisch kommentiert.
1.1 Diskursanalytischer Ansatz Der diskursanalytische Ansatz in angelsächsischer Tradition wurde von Sinclair/ Coulthard in den 70er Jahren entwickelt und entsprechend ausdifferenziert. Ausgehend von Unterrichtsdokumentationen wurde in diesem Ansatz versucht, ein spezifisches Modell zu entwickeln, um das Interesse an Unterrichtskommunikation auch methodologisch zu begründen: In unserem Bemühen, die Dinge für den Anfang so einfach wie möglich zu gestalten, wählten wir Unterrichtssituationen, in denen der Lehrer vor der Klasse „frontal unterrichtete“ und deshalb wohl ein Maximum an Kontrolle über die Struktur des Unterrichtsgesprächs ausübte. (Sinclair/ Coulthard 1977, 19)
Die Daten, die aufgrund dieser Entscheidung erhoben wurden, waren (auditive) Aufnahmen von sechs Schulstunden, die der jeweilige Klassenlehrer mit Kleingruppen (bis zu acht 10- bis 11-jähriger Schüler) gehalten hatte. Auf der Grundlage dieser Erhebungen wurde das Kategoriensystem entwickelt (s. u.) und anhand von neuem, allerdings nicht weiter spezifiziertem Material verfeinert. Die jeweils erhobenen auditiven Daten werden verschriftlicht, und auf der Grundlage dieses Materials werden jene funktionalen Kategorien entwickelt, die sich in übersatzmäßigen Zusammenhängen bewähren sollen. Die Transkription berücksichtigt beispielsweise Pausen, Akzente und Intonationsverläufe; die Dokumentation der mitgeschriebenen Äußerungen erfolgt so, dass sie die entwickelten Strukturmuster abbildet. Nun zum Kategoriensystem, das die beiden Autoren anhand der von ihnen erhobenen empirischen Daten entwickelt haben. Zunächst werden die Verlaufsformen des Unterrichts beschrieben: Dabei unterscheiden sie zwischen drei Ebenen, nämlich der außerlinguistischen Dimension, der Diskursdimension und der Grammatik. Diese werden im Einzelnen durch spezifische Kategorien weiter ausdifferenziert. Die Position auf der obersten Ebene nimmt die lesson (Lektion) ein – das entspricht im Wesentlichen dem Umfang einer Unterrichtsstunde –, die sich aus transactions (Phase oder Transaktionen) zusammensetzt. Allerdings bleibt diese Zuordnung ebenso vage wie problematisch: Weder geben die Autoren Auskunft über die Verknüpfung von trans actions zu lessons, noch können sie plausibel begründen, dass die größte Diskurseinheit gerade die Bezeichnung trägt, die institutionenspezifisch ist. Genauer werden die transactions beschrieben: Sie sind durch einrahmende strukturierende Äußerungen gekennzeichnet. Transactions bestehen aus exchanges (Äußerungsfolgen oder
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Redewechseln), nämlich den strukturierenden – sie erfüllen eine strukturierende oder organisierende Funktion – und den didaktischen – mit deren Hilfe der Lehrer den Lernprozess organisiert. Die charakteristische Struktur dieser exchanges ist dreischrittig: Einer Initiierung folgt eine Respondierung und dieser ein Feedback. Diese Organisation in moves (Schritte oder Züge) wird weiter ausdifferenziert in acts (Akte), die nicht selbständig auftreten können. Damit sind die Rahmenbedingungen für die Strukturierung von Unterrichtskommunikation angemessen beschrieben. Der zweite zu berücksichtigende Aspekt ist die Einteilung der im Unterricht genutzten Sprechakte. Entsprechend werden sie auch nach genau diesen Kriterien genutzt, indem die unterschiedlichen Funktionen beschrieben werden nach den Kategorien Diskurs, Situation und Grammatik: So ist beispielsweise ein Informationsakt situativ gesehen eine Feststellung und grammatisch eine Aussage, während der Auslöseakt als Frage und grammatisch als Interrogation analysiert werden kann, und schließlich gibt es noch den Anweiseakt, der als Befehl fungiert und der in Form eines Imperativs artikuliert wird. Diese Formen der Organisation der verbalen Interaktion werden noch weiter ausdifferenziert, indem die einzelnen Akte klassifiziert werden. Diese Übersicht soll kurz dargestellt werden. Strukturierende Akte: initiative Akte: responsive Akte: evaluative Akte: kommunikative Akte:
markieren (m), starten (s), sich vergewissern (v), erläutern (er), betonte Pause (A), zusammenfassen (z); auslösen (elizitieren) (al), anweisen (anw), informieren (i), antreiben (ant), einhelfen (ein); antworten (aw), ausführen (aus); akzeptieren (ak), bewerten (b); antreiben (ant), einhelfen (ein), zum Melden auffordern (auf), melden (me), aufrufen (ar), nachfragen (n), zur Kenntnis nehmen (ke), MetaAussagen machen (ma), beiseite sprechen (bei).
Eine Phase besteht aus einem vorbereitenden, einem (oder mehreren) zentralen sowie einem abschließenden Schritt(en). Diese Schritte setzten sich zusammen aus Äußerungsfolgen und lassen sich als strukturierende bzw. sachbezogene Funktionsklassen beschreiben. Die zentralen Funktionen der Unterrichtskommunikation finden sich hier wieder: Sinclair/Coulthard (1977, 86 f.) unterscheiden zwischen Informations-, Anweisungs- und Auslösungs-Phasen. Ihre Strukturbeschreibungen weisen sowohl am Anfang als auch am Ende Strukturierungen auf, während die Binnenstruktur die jeweils funktional charakterisierten Äußerungsfolgen aufweist. Schwierig ist die Bestimmung der Lektion, der größten diskursanalytischen Einheit: Es reicht, sie als Aneinanderreihung von mehreren Phasen zu betrachten. Manfred Lüders hat in seinem Buch „Unterricht als Sprachspiel“ (2003) diesen Ansatz aufgegriffen und weiterentwickelt, und zwar aus zwei unterschiedlichen Perspektiven – einer theoretischen und einer empirischen. Das von ihm hauptsächlich herangezogene Werk sind die 1952 erschienenen „Philosophischen Untersuchungen“ von Wittgenstein. Daraus greift er das Konzept des Sprachspiels auf und bezieht es auf
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die Kommunikationssituation Unterricht, indem er zwei mögliche Schritte entwickelt, nämlich die Darstellung der jeweiligen prozessierten Interaktion sowie im Anschluss daran den Vergleich mit anderen Situationen. Im Mittelpunkt steht dabei der Aspekt, den spielerischen Charakter der Sprache zu nutzen. Auf dieser Grundlage wird ein Konzept für die Analyse von Unterricht entwickelt. Im Anschluss daran beschäftigt sich der Autor mit den einschlägigen sprechakttheoretischen Konzepten – dabei muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass diese nicht empirisch fundiert sind. Dies gilt auch für den universalpragmatischen Ansatz von Jürgen Habermas, der ebenfalls berücksichtigt wird. Damit sind die theoretischen Voraussetzungen etabliert, um empirische Untersuchungen zu starten. Bei der Empirie bezieht sich Lüders auf den Ansatz von Sinclair/Coulthard (1977), den er weiter ausdifferenziert. Dabei erweitert er das analytische Potenzial um einige Aspekte, so dass er im Anschluss daran relativ differenzierte Untersuchungen durchführen kann. Bei der Auswertung der von ihm erhobenen empirischen Daten wird davon ausgegangen, dass ein im Hinblick auf die forschungsrelevanten Merkmale von Unterricht auskunftsfähiger Unterrichtsbegriff nicht verfügbar ist und dass für die Mehrzahl der in den letzten Jahren erhobenen Befunde empirischer Forschung häufig nicht oder nur in Form von Andeutungen angegebenen werden kann, wie sie zu erklären sind. (Sinclair/Coulthard 1977, 265)
Er schlägt – um diese Problematik angemessen zu bearbeiten – nunmehr eine Unterrichtstheorie vor: Es muss eine Theorie der Unterrichtssprache sein. Dabei entwickelt er eine eigene Theorie, indem er sich auf die Phasierung des Unterrichts bezieht (Eröffnungs- Instruktions- und Abschlussphase). In der Instruktionsphase dominiert das I-R-E-Schema (s. u.) den Interaktionsprozess im Klassenzimmer. In der von ihm selbst durchgeführten Untersuchung von jeweils drei Deutschstunden in zwei 10. Gesamtschulklassen thematisiert er die Frage, ob sich gegenüber jüngeren Klassen aufgrund der komplexeren Inhalte Änderungen in der Form der Unterrichtskommunikation ergeben. Dabei werden folgende Ergebnisse herausgearbeitet: – Nicht immer sind explizite Eröffnungsphasen zu finden, stattdessen ist ein kontinuierlicher Übergang in den Unterricht festzustellen, auch deshalb, weil nicht immer alle Schüler zu Beginn anwesend sind. – Viele Stunden enden ankündigungslos mit dem Klingelzeichen, was entweder als Ausdruck mangelnden Zeitmanagements oder zu kurzer Unterrichtsstunden gedeutet werden kann. – In den Instruktionsphasen finden sich komplexere Varianten des I-R-E-Schemas, beispielsweise in Form diskontinuierlicher Realisierungen, was Lüders als Ausdruck der höheren kognitiven Anforderungen deutet. – In Bezug auf freie Schüleräußerungen stellt er fest, dass diese – soweit sie nicht als Störungen einzuordnen sind – in der Regel kurz und ohne Einfluss auf das weitere Unterrichtsgeschehen sind.
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Die Arbeit von Lüders bestätigt damit die Notwendigkeit, die sprachlich konstituierten Lehr-Lernprozesse kategorial hinreichend differenziert zu erfassen, um belastbare Aussagen über Funktionen, Strukturen und Wirkungen von Unterricht machen zu können.
1.2 Konversationsanalyse und Interaktionsanalyse Die Schule hat bisher nur am Rande zu den Gegenständen der Konversationsanalyse gehört – wohl aber zu denen der Ethnomethodologie. Die ethnomethodologisch orientierte Arbeit Hugh Mehans „Learning lessons“ (1979) wird immer noch als Bezugsarbeit – auch in der Konversationsanalyse – herangezogen, so dass hier die oben problematisierte Verknüpfung beider Forschungstraditionen unter einem Etikett endlich ihre Begründung findet. Mehan vertritt einen Ansatz, den er „constitutive ethnography“ nennt: Mithilfe dieses Ansatzes gelingt es ihm, das soziale Handeln im Klassenzimmer zu beschreiben. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Struktur der dort etablierten sozialen Ordnung und die Art und Weise, wie diese hergestellt wird. Dabei spielen vor allem die strukturierenden Aktivitäten eine Rolle, mit deren Hilfe der Unterricht als sozial organisiertes Ereignis konstituiert wird. Auf der Grundlage in ethnographischer Tradition entwickelter Standards wird zunächst beschrieben, welche Struktur eine Unterrichtsstunde hat – sie ist als geordnete Abfolge von Phasen strukturiert – und wie die Verteilung des Rederechts organisiert ist. Zudem geht es um den Aspekt, aufzuzeigen, wie Kinder die Fähigkeiten erwerben, zu einem kompetenten Mitglied der sozialen Organisation ‚Klasse‘ zu werden. Dabei bezieht er sich auf einige methodologische Standards, die der ethnographischen Tradition verpflichtet sind: Verlässlichkeit der Daten, interpretative Datenauswertung, Konvergenz zwischen Forscher- und Teilnehmerperspektive und schließlich Fokussierung der Interaktion. Eine audiovisuelle Dokumentation von neun Stunden in einer Klasse von Erstklässlern, Grundstufen-Schülern einer elementary school in San Diego, Kalifornien, fundiert die Arbeit. Die Daten werden aus Gründen der leichteren Zugänglichkeit transkribiert und schaffen auf diese Weise eine verlässliche Grundlage der Analyse. Die Transkripte sind bereits an Kategorien orientiert (initiation – reply – evaluation), sie hätten jedoch noch genauer sein können, da bestimmte Aspekte wie Akzente und Tempo nicht berücksichtigt werden. Die Analyse erfolgt aus einer Perspektive, indem die durch das empirisch dokumentierte Handeln der Beteiligten deutlich werdenden Orientierungen rekonstruiert werden. Vor allem steht die Art und Weise der Interaktion im Mittelpunkt des Interesses, und zwar unter Berücksichtigung der dem Unterricht zugrunde liegenden Konzeption. Zudem wird das sequentielle und hierarchische Arrangement rekonstruiert und die interaktionalen Aktivitäten, mit deren Hilfe die thematische Aufarbeitung rekonstruiert wird. Die Phasen und die Organisation einer Unterrichtsstunde (lesson) stehen im Mittelpunkt der Untersuchungen Mehans (1979). Der sequentiellen Analyse des Stun-
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denverlaufs folgt die der Ordnung herstellenden Lehreraktivitäten, bezogen auf die Verteilung des Rederechts und auf die Disziplinierung derjenigen Schüler, die sich nicht an die geltenden Regeln halten. Eine Unterrichtsstunde weist eine sequentielle Organisation auf, d. h. sie lässt sich in verschiedene, aufeinander folgende Abschnitte einteilen: die Eröffnungs-, die Instruktions- und die Abschlussphase (Mehan, 1979, 49). In der Eröffnungsphase legt der Lehrer seinen Schülern in einer informativen Sequenz das Programm der Stunde offen; eine direktive Sequenz bereitet die darauf folgende Phase vor. In der Instruktionsphase vermittelt der Lehrer den Schülern in direktiven und informativen Sequenzen die vorgesehenen Wissensbestände, während die Abschlussphase der evaluativen Rückschau über das zuvor Erarbeitete dient. Die Phasen werden jeweils durch dreischrittige interaktionale Sequenzen gebildet, deren Positionen Mehan (1979) als initiation, reply und evaluation bezeichnet. Sie lassen sich als miteinander verknüpfte adjacency pairs klassifizieren: Die beiden ersten Schritte initiation und reply bilden nicht nur das erste dieser Paare, sondern auch zusammen den ersten Schritt des zweiten Paares, da sich die evaluation nicht nur auf die durch reply ausgedrückte Form bezieht, sondern auf das Paar. Initiation
Reply
Evaluation
Abb. 1: Struktur Sequenzen in der Instruktionsphase (Mehan 1979, 54)
Die Abfolge und Anordnung dieser Sequenzen sind abhängig vom Thema, so dass sich eine gewisse Folge zu einem topically related set zusammenfassen lässt, das aus einer das Thema bestimmenden Basissequenz (basic sequence) und einer oder mehreren Folgesequenzen (conditional sequences) besteht (Mehan1979, 65). Insgesamt lassen sich die beschriebenen Strukturen als ein rekursives System aufschreiben, in der die hierarchisch höhere Kategorie jeweils durch elementarere Kategorien beschrieben werden können (vgl. Abbildung 2). Lesson --------------------------------------Opening, Closing Phase ---------------Instructional Phase ---------------------TRS ------------------------------------------Instructional Sequence -----------------
Opening Phase + Instructional Phase + Closing Phase Directive + Informative Topically related Set (TRS) + TRS Basic + Conditional Sequence (or interactional Sequence) Initiation + Reply + Evaluation
Abb. 2: Rekursive Struktur einer Unterrichtsstunde (Mehan 1979, 75)
Der interaktionistische Ansatz in der Gesprächsforschung hat sich vor ca. 14 Jahren vor allem in Deutschland etabliert. Diese wurde in erster Linie auf der Grundlage der Konversationsanalyse entwickelt – wobei auch andere Paradigmen eine Rolle spielen. Das Ziel ist die Beschreibung linguistischer Strukturen als Ressourcen der
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Organisation natürlicher Interaktion. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn das von Reinhold Schmitt (2011a) herausgegebene Buch über unterrichtliche Kommunikationsprozesse den Titel „Unterricht ist Interaktion!“ trägt. Dies ist allerdings eine triviale Feststellung, denn Unterricht ist immer interaktiv organisiert. Zudem gibt es ganz bestimmte zusätzliche Konventionen, die das Handeln der Beteiligten bestimmen, wie z. B. die allgemeine Schulpflicht, die Vorgaben der Lehrpläne oder der Stundenplan der Klasse. Dies sind Faktoren, die für die Beobachtung von unterrichtlicher Interaktion eine Rolle spielen müssen und die keinesfalls ignoriert werden dürfen – die aber in diesem Buch keine Rolle spielen. Entscheidend für diese Perspektive ist der gleichsam voraussetzungslose Blick auf die interaktiven Prozesse. Nach der Konstruktion von Schmitt steht die Lehrperson im Zentrum des Interesses, sie ist die sogenannte Fokusperson, eine Fixierung, die allerdings nicht unproblematisch ist, weil sie u. a. ignoriert, dass die Schülerinnen und Schüler immer auch wieder in Einzel- oder Gruppenarbeit beschäftigt werden. Viel sinnvoller wäre es in diesem Zusammenhang, die Aufgabe der Lehrperson aufgrund der institutionellen Rahmenbedingungen zu bestimmen. Wenn man diese wie Schmitt ignoriert oder als für die Interaktion unerheblich abtut, werden relevante Aspekte ausgeblendet. Dass Unterricht ein Prozess der Interaktion ist, dürfte selbstverständlich sein – dass aber auf diese Weise das Konzept der sogenannten Interaktionalen Linguistik als analytisches Instrumentarium herangezogen wird, erscheint problematisch. Wie nun sieht dieses Konzept aus? Es umfasst mehrere Aspekte. So behauptet Schmitt in seiner Einleitung, kommunikative Prozesse im Unterricht seien multimo dal, dass also die räumlichen, situativen und artikulatorischen Bedingungen berücksichtigt werden müssten (Schmitt 2011b). Auch das erscheint selbstverständlich, denn bereits in den 80er Jahren wurde im Paradigma der funktionalen Pragmatik dies schon berücksichtigt. Der Aspekt der wechselseitigen Wahrnehmung thematisiert die Art und Weise, wie sich die am Unterricht beteiligten Personen aufeinander beziehen, was angesichts der Situation – eine Lehrperson vor 15 bis 30 Schülerinnen und Schülern – eine eher problematische Konstruktion ist. Für den Wechsel von Sprecher- und Hörerrolle gibt es verschiedene Verfahren; das am meisten genutzte ist das Aufrufen der Schüler/-innen durch die Lehrperson. Es genügt allerdings in diesem Fall nicht, sich nur darauf zu beziehen, denn es gibt noch andere Ordnungen des Unterrichts wie die schülerzentrierte oder die verfahrensgeregelte. Dann steht die lokale Herstellung und Aushandlung im Mittelpunkt, wobei vor allem der Aspekt der Initiativen von Schülerinnen und Schülern in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wird. Zudem muss beachtet werden, dass die Beteiligten unterschiedliche Relevanzen berücksichtigen – ob Lernende sich für ein Unterrichtsthema interessieren, hängt von verschiedenen Faktoren ab, u. a. von der Art und Weise, wie Lehrer fachspezifische Inhalte einbringen. Und da dies für alle Fächer gilt, muss für jeden Bereich ein eigenes Modell entwickelt werden, weil die zu vermittelnden fachlichen Inhalte sehr unterschiedliche didaktische Maximen erfordern: So unterscheidet sich beispielsweise der Englischunterricht vom Deutschunterricht, der Unterricht im Fach
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Biologie von dem im Fach Geschichte – dies ließe sich noch weiter fortschreiben. Und schließlich gibt es noch die Perspektive auf sogenannte emergente Entwicklungen, die seitens der Schülerinnen und Schüler durch eigene Relevanzen und Perspektiven bestimmt sind, seitens der Lehrperson durch eine eingeschränkte Kontrolle des Interaktionsverlaufs. Abschließend wird das Konzept einer sogenannten De-facto-Didaktik entwickelt, auch einer nicht unproblematischen Perspektive auf die Interaktion im Unterricht. Insgesamt zeigt sich, dass dieser Ansatz nicht unbedingt zu den überzeugenden Konzepten von der Analyse des Unterrichtens gehört, vor allem deshalb, weil man sich auf eine sogenannte mikroskopische Analyse verlässt. Dabei werden aber die institutionellen Rahmenbedingungen nicht weiter berücksichtigt, denn es geht vor allem darum, den unterrichtlich organisierten Interaktionsprozess zu thematisieren.
1.3 Funktionale Pragmatik Zentraler Begriff im Ansatz der funktionalen Pragmatik ist der des sprachlichen Handlungsmusters, wie er von Konrad Ehlich und Jochen Rehbein in zahlreichen Arbeiten entwickelt worden ist. Sprechhandlungen stellen gesellschaftlich ausgearbeitete Formen dar, derer sich die Subjekte bedienen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Sprechhandlungen sind auf bestimmte Abläufe bezogen, es sind die Formen standardisierter Handlungsmöglichkeiten, die Subjekte im konkreten Agieren aktualisieren. Sprachliche Handlungsmuster sind abhängig von Zwecken, die die Handelnden verfolgen. Zwecke sind charakterisiert durch die Verbindung von Konstellationen und Bedürfnissen. Ehlich/Rehbein (1979, 244) gehen davon aus, dass Handelnde sich nicht auf immer Neues einzustellen haben, sondern dass durch Identitäten und Entsprechungen von Wirklichkeitspartikeln sich gewisse Konstellationen ergeben, die für die individuell Handelnden als Konstanz aufgrund von Erfahrung und Wissen wahrnehmbar sind: Handelnde bringen ihre Bedürfnisse in Standardkonstellationen ein. Innerhalb einer so konstruierten Handlungsvoraussetzung treten Defizienzen – also solche Zustände, die vom Handelnden als mangelhaft beurteilt werden – auf, deren Beseitigung der Zweck einer Handlung sein dürfte. Nun gibt es wohl kaum eine Standardkonstellation, in der sich nicht mehrere, alternative Handlungsmöglichkeiten zum Erreichen von Suffizienz – ein vom Handelnden als ausreichend oder genügend beurteilter Zustand – finden ließen. Die Gesamtheit solcher standardisierten Wege in sich wiederholenden Defizienzkonstellationen bezeichnen Ehlich/Rehbein als „Ablaufsysteme“ (1979, 246). In dem 1986 erschienenen Buch „Muster und Institution“ thematisieren Ehlich und Rehbein relevante Aspekte der Analyse von Unterrichtskommunikation. Dabei haben sie Daten ausgewertet, die sie in einem Forschungsprojekt in den 70er Jahren empirisch dokumentiert haben. In diesem Buch werden einzelne Handlungsmuster vorgestellt – wie beispielsweise das „Aufgaben-stellen/Aufgaben-lösen“. Dabei zeigt
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sich, dass hier eine Weiterentwicklung des Handlungsmusterkonzepts geboten wird, die auf die institutionellen Rahmenbedingungen der Institution Schule bezogen sind. Dabei werden auch die jeweils relevanten Besonderheiten des Rahmens der unterrichtlichen Interaktion fixiert und für die Analyse fruchtbar gemacht. Dieser Bezug auf die organisatorischen Voraussetzungen unterrichtlicher Interaktion ist auf das Erkenntnisinteresse der Autoren zurückzuführen, die zum einen ihre Theorie des sprachlichen Handelns weiter entwickeln, zum anderen aber liefern sie die analytischen Voraussetzungen für Lehrpersonen, die eigenen sprachlichen Handlungen im Unterricht zu thematisieren und zu reflektieren (Ehlich/Rehbein 1986, 178). In diesem Zusammenhang entwickeln sie eine Theorie des sprachlichen Handelns, mit der die gesamte Komplexität der sprachlichen Aktivitäten im Unterricht erfasst wird. Die Theorie sprachlichen Handelns sehen sie als notwendige Weiterentwicklung einer nicht-reduktionistischen Sprachtheorie an, also eines Ansatzes, der nicht den formalen und illokutiven Eigenschaften einer Äußerung bloß deren Umgebungsbedingungen hinzufügt, sondern die Komplexität des gesamten sprachlichen Handelns innerhalb der Gesellschaft mit berücksichtigt. Insofern gelingt es ihnen, die kommunikativen Verhältnisse in der Schule, verstanden als versprachlichte Institution, angemessen zu berücksichtigen. Exemplarisch untersuchen Ehlich/Rehbein (1986) die Form und Funktion von insgesamt vier sprachlichen Handlungsmustern „Aufgaben-stellen/Aufgaben-lösen“, „Rätselraten“, „Lehrervortrag mit verteilten Rollen“ und „Begründen“. Dies sind Handlungsmuster, in denen die Vermittlung von Wissen durch den Lehrer im Vordergrund steht. Um auch diese Handlungsmuster in einen größeren Zusammenhang zu bringen, machen sie den folgend dokumentierten Lösungsvorschlag, in dem sie die Funktionsbestimmung der einzelnen Handlungsmuster bestimmten Diskurstypen zuordnen: Andere Diskurstypen betreffen die Organisation des Unterrichts (z. B. unmittelbare Handlungsaufforderungen), wieder andere die Herstellung praktikabler Kommunikationsbedingungen (z. B. Ermahnungen). Noch andere kommunikative Formen betreffen die Organisation der Teilnahmeverteilung (turn-Organisation) im Unterricht […] schließlich: der Unterricht ist nicht die ganze schulische Kommunikation, andere Konstellationen gehören ebenso zur Kommunikation in der Schule, Pausengespräche und Gespräche im Lehrerzimmer, Konferenzen, Beurteilungen usw. In den meisten dieser Kommunikationszusammenhänge spielen Muster eine essentielle Rolle. (Ehlich/Rehbein 1986, 7)
Insofern lässt sich feststellen, dass im Unterricht verschiedene Handlungsmuster genutzt werden. Diese wiederum können unterschiedlichen Diskurstypen zugeordnet werden. Nicht ganz geklärt ist jedoch die Frage, wie sich solche Handlungsmuster von sogenannten kommunikativen Formen abgrenzen lassen. Für die Beantwortung dieser Frage wird allerdings keine hinreichende Klärung erreicht. Klar ist jedoch, dass es bei der Verteilung der turns im Unterricht auch auf die Schülerinnen und Schüler ankommt, die ihre Redebereitschaft durch eine Meldung mit dem Arm anzeigen
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können. Diese Formen der Teilnahme am Unterricht lassen sich aber auch durchaus in ein solches Praxeogramm integrieren, indem etwa beim „Rätselraten“ zwei Positionen hinzugefügt sind, nämlich erstens die Bitte um turn seitens des Schülers sowie der anschließenden turn-Zuweisung durch den Lehrer. Diese kommunikativen Formen sind in das Handlungsmuster integriert, was insofern auch sinnvoll ist, als es um die Beschreibung der an die Institution Schule gebundene Ausprägung geht. Allerdings werden die ausgewählten Handlungsmuster nicht im Rahmen des Gesamtzusammenhangs der Stunde analysiert, sondern nur in Hinblick auf relativ kurze Einheiten. Hier könnte gezeigt werden, dass es funktional unterscheidbare Diskurstypen gibt, die im Unterricht von den Lehrern genutzt werden. Auch in einer anderen Perspektive steht der Aspekt der Wissensvermittlung im Zentrum des Interesses. Bei der Auseinandersetzung mit der Funktion der Schule als Institution konzentrieren Ehlich/Rehbein sich auf die Qualifizierungs- und Selektionsfunktion. Ihrer Meinung nach hat die Schule die Aufgabe, gesellschaftlich relevantes Wissen auf die gesellschaftlichen Klassen zu verteilen (Ehlich/Rehbein 1986, 168 f.). Um allerdings die besonderen Aufgaben der Institution Schule herauszuarbeiten, kontrastieren sie diese mit der „gesellschaftlichen Wirklichkeit“. Auf diese Weise gelingt es ihnen zwar, einen antithetischen Bezug herzustellen, allerdings bleibt dieser wegen seiner Einfachheit problematisch. Die außerschulische Realität oder auch die praktischen Dinge, die dort passieren, sind relativ vielfältig – und in dieser Perspektive auch sehr differenziert zu betrachten, denn es gibt neben den familiären auch andere Domänen, z. B. die peer-group, mit jeweils eigenständigen kommunikativen Praktiken bzw. Kommunikationskonventionen, so dass eine solche pauschalisierende Gegenüberstellung nicht unproblematisch ist. Diese so gewonnenen Kategorien machen ein sehr stringentes methodisches Vorgehen möglich. Die beiden Autoren entwickeln ihre Kategorien für die institutionsspezifische Kommunikationsform. Als Beispiel soll dafür das Handlungsmuster „Rätselraten“ herangezogen werden. Die eben nachgewiesene Antithetik wird auch in der Überschrift dieses Kapitels genutzt: „Rätselraten als Spiel in der Schule“. Dabei werden die Komponenten des alltäglichen Handlungsmusters „Spiel“ zunächst empirisch am Beispiel eines Kindergeburtstags aufgezeigt, anschließend wird dann dieses Handlungsmuster in Hinblick auf die Lehrertätigkeit übertragen, indem geprüft wird, wie dieses Muster im Unterricht vom Lehrer genutzt werden kann. Dabei gelingt ihnen der Nachweis, dass dieses Handlungsmuster durch die Adaption einiger Positionen institutionell deformiert wird. Wie lässt sich nun dieser Ansatz auf das bereits in verschiedenen Perspektiven untersuchte Unterrichtsbeispiel beziehen? Zunächst erfolgt die Beschreibung des „Frage-Antwort-Musters“.
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Sprecher mentaler Bereich
Hörer interaktionaler Bereich
mentaler Bereich
0
Wissensdefizit 1
Frage 2 3
Assertion (Antwort) 5
6
NichtWissen 4b
Wissen 7
Legende
Wissen 4a
Kundgabe 8
Grenze des Handlungsmusters Symbol für den Eintritt in das Handlungsmuster mentale, interaktionale und aktionale Tätigkeiten
Kenntnisnahme 9
Handlungsmuster offen Anschlusshandlung Verlaufsrichtung Exothese Entscheidungsknoten (mit Eingang und mehreren Ausgängen)
Abb. 3: Frage-Antwort-Muster
Zentral für die graphische Darstellung der Handlungsmuster ist die Unterscheidung zwischen dem mentalen und dem interaktionalen Bereich. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass für die Analyse der verbalen Äußerungen auch die gedanklichen Aktivitäten der an der Interaktion Beteiligten eine Rolle spielen sollten. Für das unterrichtlich relevante Handlungsmuster – es prägt weitgehend die Form des lehrerzentrierten Unterrichts – ist wichtig, dass eine Frage aufgrund eines Wissensdefizits gestellt wird (1 und 2). Der Befragte muss sich entscheiden, ob er über das Wissen verfügt und eine entsprechende Antwort gibt (3 bis 5). Wenn er nicht darüber verfügt, muss er dies auch kenntlich machen. Im nächsten Schritt überprüft der Fragende, ob das Wissensdefizit durch die Antwort ausgeglichen ist oder nicht (6) – im zweiten Fall hat er die Möglichkeit, die Frage noch einmal zu wiederholen bzw. sie modifiziert einzubringen. Im ersten Fall wird er dann kundgeben, dass die Antwort ihn überzeugt
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hat (7 und 8), während der Antwortende die Bestätigung zur Kenntnis nimmt (9) – dies könnte er auch in verbaler Form tun und somit die Interaktion beenden. Mit diesem Schritt endet das Handlungsmuster. Danach kann ein neues etabliert werden. Insgesamt erweist sich dieses Analysemodell als sehr viel differenzierter, als die beiden zuvor vorgestellten, und zwar insofern, als hier in dem Analysemodell der sprachlichen Handlungsmuster ein eigenständiges Konzept entwickelt wird, das sehr gut geeignet ist, die unterrichtlichen Interaktionsformen zu beschreiben und zu kommentieren.
1.4 Zusammenfassung Die Auseinandersetzung mit den ‚klassischen‘ Konzepten hat gezeigt, wie schwierig es ist, ein differenziertes Bild vom Unterricht bzw. angemessene Analysekonzepte zu entwickeln. Da ist zunächst der diskursanalytische Ansatz, in dessen Konzept eine stärkere empirische Orientierung der Disziplin Linguistik vertreten wird – vor allem gegen die damals dominierende Konzeptualisierung der Grammatik als theoretische Konstruktion – wie beispielsweise die generative Transformationsgrammatik von Chomsky. Diese hatte jedoch immer auf eine empirische Fundierung der theoretischen Konzeption verzichtet, so dass eine gewisse Umorientierung der sprachwissenschaftlichen Interessen von Autoren aus Großbritannien eingebracht wurde. Dieser Ansatz erwies sich insofern als anspruchsvoll, als die Autoren (Sinclair/Coulthard 1977) dieses Ansatzes eine sprachwissenschaftliche Fundierung angeregt haben – dies zeigt sich nachdrücklich in der Liste der für den Unterricht relevanten Äußerungen, die aufgrund von empirischen Untersuchungen gewonnen wurden. Diese Konzeption hat dann Manfred Lüders (2003) aufgenommen, indem er das Kategoriensystem weiter ausdifferenziert und daneben auch einen eigenen theoretischen Hintergrund systematisch erarbeitet hat. Allerdings stellt sich hier die Frage, ob der in den 70er Jahren erschienene Text (Sinclair/Coulthard 1977) diese Perspektive möglicherweise nicht berücksichtigt hat. Bei Lüders zeigt sich jedoch sehr ausdifferenziert, wie sich die einzelnen theoretischen Punkte auch konkret auf das Unterrichtsgeschehen beziehen lassen. Dennoch ist seine empirische Basis mit insgesamt sechs Unterrichtsstunden doch etwas reduziert – dies hätte mit mehr Beispielen auch tatsächlich zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der Kommunikationsform Unterricht führen können. Kommen wir nun zum Ansatz der Konversationsanalyse – entwickelt in den 70er Jahren in den USA. Hier war es Mehan (1979), der diesen Ansatz auf empirisch erhobenes Material bezogen hat. Dabei untersuchte er jedoch vor allem Unterricht in der ersten Klasse, was zur Folge hat, dass bestimmte Perspektiven nicht von ihm berücksichtigt wurden. Denn wenn man Unterricht in der Primarstufe mit dem Unterricht in der Sekundarstufe I oder II vergleicht, zeigt sich, dass die Unterschiede auf den
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einzelnen Schulstufen relativ ausgeprägt sind. Dieser Ansatz ist dann weiter entwickelt unter der neuen Bezeichnung „interaktionistischer Ansatz“ (vgl. Schmitt 2011b), der sich vor allem für die „mikroskopische Perspektive“ interessiert. Dabei zeigt sich jedoch auch, dass diese Perspektive insofern Defizite aufweist, als sie sich nur am Rande mit den jeweiligen Verpflichtungen der Schüler und Lehrer beschäftigt. Einfach nur zu sagen, der Lehrer sei eine Fokusperson, greift insofern zu kurz, als der gesamte äußere Rahmen der unterrichtlichen Tätigkeit dabei nicht berücksichtigt wird, etwa die allgemeine Schulpflicht, die Verteilung der Schülerinnen und Schüler nach ihren Leistungen auf Haupt- und Realschule sowie auf das Gymnasium. Und auch der anvisierte „mikroskopische“ Blick auf das Unterrichtsgeschehen unterschlägt die formal sehr wohl geregelten Rahmenbedingungen. Insofern findet auch hier eine reduzierte Auseinandersetzung mit den unterrichtlichen Aktionsformen statt. Abschließend noch eine Würdigung des Ansatzes der funktionalen Pragmatik. Das von Ehlich und Rehbein (1986) in ihrer Veröffentlichung „Muster und Institution“ entwickelte Konzept ist um einiges ausdifferenzierter als die beiden zuvor vorgestellten Ansätze, denn mit dem Modell des sprachlichen Handlungsmusters ist es ihnen gelungen, einen differenzierten Zugang zum Unterrichtsgeschehen zu entwickeln, indem auf dieser Grundlage relativ differenzierte Analysen des Geschehens möglich ist. Und mit diesen Mustern zeigen sie sehr deutlich, wie in den verschiedenen Unterrichtssituationen auch sie realisiert werden können. Allerdings fehlt ihnen beispielsweise das Muster „Erklären“ oder „Lehrervortrag“ – dies hätte dann eine weitere Ausdifferenzierung der jeweiligen Handlungsmuster zur Folge gehabt. Nichtsdestotrotz ist dieser Ansatz derjenige, der sich am intensivsten mit der Kommunikationsform Unterricht auseinandersetzt, weil die spezifischen Eigenschaften des Unterrichts sehr wohl herausgearbeitet werden – und zwar wesentlich differenzierter als in den beiden zuvor vorgestellten Ansätzen. Dieser in den 80er Jahren entwickelte Ansatz ist um einiges ertragreicher als die zuvor vorgestellten Konzepte – und von daher auch immer noch für die Analyse von Unterricht wichtig.
2 Analyse von Transkriptionen Bei der Analyse von Transkriptionen hat sich das folgende Verfahren bewährt: Zunächst werden im ersten Schritt die Rahmenbedingungen beschrieben, im Anschluss erfolgt im zweiten Schritt eine Darstellung des Stundenablaufs. Dann wird im dritten Schritt ein ausgewählter Transkriptauszug herangezogen, um eine detaillierte Analyse des jeweils dokumentierten Unterrichtsverhaltens zu ermöglichen. Dabei werden die folgenden Analyseschritte vollzogen: Nach einer kurzen Paraphrasierung der jeweils sprachlich eingebrachten thematischen Schwerpunkte werden die Äußerungen im Kontext sprachlich klassifiziert. Dann wird ggf. auch noch die Frage thematisiert, wie sich ein solcher Text auf der Grundlage von anderen Medien
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nutzen ließe, und schließlich folgt ein Resümee der eingebrachten Äußerungen auf der Grundlage einer gesprächsanalytischen Perspektive. Ein abschließendes Fazit lässt sich als vierter Schritt klassifizieren. Bei der Analyse wird zunächst ein lehrerzentrierter Unterricht dokumentiert (2.1), im Anschluss daran ein schülerzentrierter (2.2) und schließlich ein verfahrensgeregelter Unterricht (2.3). In einem Resümee werden die Ergebnisse der Analysen zusammengefasst (2.4).
2.1 Lehrerzentrierter Unterricht: Über einen literarischen Text sprechen Im ersten Beispiel geht es um einen lehrerzentrierten Unterricht im Fach Deutsch. Thematischer Schwerpunkt ist die Kurzgeschichte „Die Tochter“ von Peter Bichsel. Darin wird beschrieben, wie die Eltern von Monika auf sie warten. Zunächst werden die Rahmenbedingungen beschrieben – die Tochter arbeitet in der Stadt, die Eltern wohnen auf dem Lande – und sie warten abends darauf, dass ihre Tochter erst gegen 19:30 Uhr nach Hause kommen wird. Dabei sitzen sie am Tisch und unterhalten sich nur sporadisch. Dem Autor gelingt es angemessen, diese Rahmenbedingungen zu beschreiben, auch unter Berücksichtigung der Perspektive der Eltern. Die Geschichte endet dann damit, dass die Mutter darauf verweist, dass sie den Zug gehört habe – und was dann passiert, wird nicht weiter berücksichtigt. Also eine klassische Kurzgeschichte, die zeigt, wie sich die Eltern mit dem Problem, eine Stunde später als gewöhnlich zu Abend zu essen, beschäftigen. Für die Analyse ist es auch wichtig, die Sitzordnung zu bestimmen. Die Schüler sitzen in einem lehrerzentrierten Tableau und sind insofern auf die Aktivitäten der Lehrerin orientiert. Die Stunde beginnt damit, dass die Schüler die Kurzgeschichte lesen, im Anschluss dann werden erste Einschätzungen der Geschichte abgegeben, dann folgt eine Phase, in der es um die Frage geht, wie sich das Verhältnis der Tochter zu ihren Eltern beschreiben lässt. Dabei werden verschiedene Aspekte berücksichtigt, nämlich der der Entfremdung und der gegenseitigen Abhängigkeit. Im ausgewählten Transkriptauszug geht es um die Frage des Respekts – die wird gleich dokumentiert. Aber zuvor noch die weiteren Schritte des Unterrichts, denn nach den jeweiligen inhaltlichen Orientierungen werden die Schüler aufgefordert, ihre Einschätzungen auch schriftlich zu formulieren. Die Ergebnisse werden dann wiederum mündlich eingebracht, und danach ist die Stunde zu Ende. Der ausgewählte Auszug dokumentiert eine spezifische Form des lehrerzentrierten Unterrichts, nämlich die inhaltliche Auseinandersetzung mit einem literarischen Text.
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(1) Textdeutungen Im Deutschunterricht eines Gymnasiums haben die Schüler Peter Bichsels Kurzgeschichte „Die Tochter“ gelesen. Die Lehrerin hat zu Beginn dieser Phase die Frage thematisiert, wie sich das Verhältnis der Tochter zu den Eltern beschreiben ließe. Teilnehmer-Siglen L: Lehrerin, Si: Simon, Ro: Rolf, Ar: Artur, Jö: Jörg, Ha: Hans, Ru: Rusti, S1,2,3: nicht identifizierbare Schüler, Sm: männlicher Schüler, mS: mehrere Schüler; Aufnahme, Transkription & Überarbeitung: Vogt. 01 L okay entsetzlich Hans 02 Ha respektlos beziehungsweise also die Tochter hat kein Respekt vor den Eltern 03 S2 hihi 04 L die Tochter hat keinen Respekt vor den Eltern ja 05 Ha die antwortet nicht auf Fragen die kommt halt später zum Essen dann haben die später auch das Essen 06 L ja hm Jörn 07 Jö das is nich gesacht die Eltern lieben ja so sehr das Kind dass die gern auf die warten 08 S3 ja genau 09 L da is ne Schwierigkeit dabei 10 Ar em die behandeln die noch noch glaub ich wien kleines Kind oder so also als ob sie noch nicht richtig erwachsen wird als ob sie das noch nicht richtig könnte . und das was der Hajo gesacht hat dass die auf Fragen nicht antwortet eh antworten kann das is vielleicht auch weil sies einfach nich kann wirklich nicht kann sie auch gar nicht das war die vielleicht halten die Eltern sie für schlauer als sie ist 11 L hmhm . das könnte auch sein das müsste man am Text doch noch mal überprüfen 12 Ja also grad zu dem der Artur grad gesagt hat 13 Ar Onkel 14 Ha mein Neffe … auf jeden Fall eh ja statt flüchtet die Tochter ja nur davor wie der Artur gesagt hat die behandeln die eigentlich wie‘n Kleinkind die flüchtet davor und wird nicht wie ein Erwachsener 15 L hmhm . das könnte auch ne Erklärung dafür sein dass …
Bei der Analyse dieses Transkripts steht zunächst vor allem die unterrichtliche Organisation im Vordergrund: Es handelt sich bei diesem Transkript um das Beispiel eines lehrerzentrierten Unterrichts. Dies ist vor allem daran zu erkennen, dass die Lehrerin die einzelnen Schritte in der Besprechung des gemeinsam gelesenen Textes festlegt und auch die turn-Verteilung an die Schüler selbst kontrolliert. Mit der ersten Äußerung bestätigt die Lehrerin den zuvor eingebrachten Beitrag, um im Anschluss dem Schüler Hans das Rederecht zu erteilen. Dieser thematisiert den Aspekt, dass die Tochter offenbar keinen Respekt vor ihren Eltern habe – ein Schüler kommentiert dies mit einem hihi. Die Lehrerin nimmt auch diese Antwort zustimmend zur Kenntnis, indem sie den Inhalt der Äußerung wiederholt. Im nächsten Schritt erläutert Hans die Gründe, die ihn zu seiner Aussage gebracht haben: Die Tochter sei zurückhaltend, weil sie nicht auf Fragen antworte, und eben weil sie in der Stadt arbeitet, kommt sie halt später zum Essen. Auch diese Äußerung nimmt die Lehrerin positiv auf (ja hm) und ruft im Anschluss Jörg auf. Der wendet gegen den Vorschlag von Hans ein, dass
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die Eltern gerne auf das Kind warten, weil sie es so sehr lieben. Ein Schüler bestätigt dies mit einem ja genau und macht damit deutlich, dass er sich dieser Position anschließt. Die Lehrerin sieht diese Äußerung allerdings kritisch, indem sie darauf hinweist, dass dort noch eine Schwierigkeit dabei sei. Dann ergreift der Schüler Artur das Wort: In einem längeren Beitrag arbeitet er zwei Aspekte heraus, nämlich erstens, dass die Eltern ihre Tochter noch immer wie ein kleines Kind behandeln, und zweitens, dass sie auf bestimmte Fragen einfach nicht antwortet. Diese beiden Aspekte werden differenziert begründet, und schließlich formuliert er die Hypothese, dass die Eltern sie für schlauer halten. Die Lehrerin nimmt dies mit einem hmhm zur Kenntnis, um anschließend darauf hinzuweisen, dass man dies noch einmal am Text überprüfen müsse. Im Anschluss ergreift Hans noch einmal das Wort, um zu dem, was Artur gesagt hat, Stellung zu beziehen. Artur ärgert ihn, indem er ihn Onkel nennt, woraufhin Hans einfach Neffe sagt – ein kleines Intermezzo. Im Anschluss erarbeitet er die Position, dass die Eltern ihre Tochter Monika wie ein Kleinkind behandeln, und deswegen sei sie gegenüber den Eltern eher zurückhaltend. In einem zweiten Schritt soll die Struktur dieser Sequenz herausgearbeitet werden. Es handelt sich um das sprachliche Handlungsmuster „Aufgabe stellen/ Aufgabe lösen“, insofern die Lehrerin die von ihr eingebrachten Aspekte sehr zielgerichtet verfolgt. Zudem kommentiert sie die Beiträge der Schüler relativ angemessen und erreicht auch so, dass die Schüler für die Interpretation des Textes relevante Beiträge einbringen. Dies führt dazu, dass unterschiedliche Perspektiven entwickelt werden: Während Hans beispielsweise die These vertritt, dass die Tochter keinen Respekt vor ihren Eltern habe und dies auch angemessen begründet, meint Jörg, dass die Eltern gerne auf ihr Kind warten. Der Beitrag von Artur macht deutlich, wie differenziert man eine in dieser Kurzgeschichte beschriebene Variante einbringen kann, woraufhin dann auch Hans wieder eingreift. Allerdings ist es auch so, dass die Lehrerin durch ihre Kommentare zu einer gut begründeten Einschätzung der Situation beiträgt, vor allem auch deshalb, weil sie relativ flexibel auf die Schüleräußerungen reagiert. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der inhaltliche Gegenstand – nämlich ein literarischer Text – relativ angemessen behandelt wird, und auch die Reaktionen der Schüler zeigt, dass sie an der Behandlung dieses Gegenstands interessiert sind. Der Lehrerin gelingt es auch, die Schüler in den Interpretationsprozess mit einzubeziehen. Nun ein Blick auf andere Formen der Auseinandersetzung mit dieser Geschichte. So hat der Klett-Verlag im Jahr 2009 insgesamt vier Seiten zu diesem Text ins Internet gestellt, auf deren Grundlage man sich mit dem Text befassen könnte – wenn es denn auch berücksichtigen würde, wie wichtig auch die inhaltlich Auseinandersetzung in Form eines Unterrichtsgesprächs wäre (Homepage des Klett-Verlags: Nr. 927206-0001). Hier werden insgesamt vier Arbeitsschritte vorgesehen, um abschließend die Frage zu beantworten, wie die Zeitgestaltung in dieser Geschichte organisiert ist und welche Wirkung sie auf den Leser habe. Insgesamt werden die folgenden Arbeitsschritte festgelegt: Nach einem schnellen „überfliegenden“ Lesen des Textes sollen Hypothesen
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zum Inhalt aufgestellt werden, und es werden auch zwei formuliert, die sich gegenüber stehen: „Die Eltern haben sich nichts mehr zu sagen“ steht der zweiten Formulierung entgegen, nämlich: „Eltern fällt der langsame Abschied schwer, denn sie können nicht loslassen.“ Danach hat der Schüler die Möglichkeit, seine eigene Erwartung in Worte zu fassen. Im zweiten Schritt wird ein Arbeitsplan vollzogen, der sich auf die genaue inhaltliche Lektüre des Textes bezieht: Er soll genau gelesen werden, um im Anschluss Hypothesen aufstellen zu können zum Textinhalt und zur Zeitgestaltung. Drei weitere Aufgaben beschäftigen sich mit den folgenden Schwerpunkten: Zunächst sollen die W-Fragen (Wer?, Wann?, Wozu?, Was?) zum Inhalt beantwortet werden, im Anschluss sollen die in Frage stehenden Aspekte geprüft werden. Abschließend stehen die Zeitgestaltung sowie das Verhältnis von Eltern und Tochter im Mittelpunkt des Interesses. Im Arbeitsschritt drei sollen einzelne Wörter des Textes markiert und im Anschluss kommentiert werden. Anschließend wird geprüft, ob die selbst formulierten Hypothesen zur Zeitgestaltung und zum Verhältnis Eltern-Tochter und die damit erzielte Wirkung im Zentrum des Interesses stehen. Im vierten Arbeitsschritt soll dann ein Schreibplan entwickelt werden, um auf das fokussierte Thema der Zeitgestaltung einzugehen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass hier ein interessantes Modell zur unterrichtlichen Auseinandersetzung mit den Inhalten der Kurzgeschichte entwickelt worden ist, allerdings unter Vernachlässigung der Dimensionen des interaktiv organisierten Unterrichtsgesprächs. Zumindest die ausgewählte Transkription hat gezeigt, dass hier die Inhalte des Textes relativ gründlich analysiert und interpretiert werden. Die lehrerzentrierte Form des Unterrichts im Fach Deutsch, bezogen auf literarische Texte, stellt eine wichtige Form dar, die es den Beteiligten eher erleichtert, sich mit den jeweils ausgewählten Inhalten auseinanderzusetzen. Vor allem dann, wenn – wie in dem dokumentierten Beispiel gezeigt – die Lehrperson relativ offen agiert, indem sie auf einzelne Schüleräußerungen relativ flexibel eingeht.
2.2 Schülerzentrierter Unterricht Eine Möglichkeit, das Mittel der inhaltlichen Auseinandersetzung in der Gruppe mit den eigenen Aktivitäten zu verbinden, besteht darin, entweder gemeinsame Unternehmungen zu planen, also z. B. einen Ausflug oder ein Klassenfest, oder aber bereits durchgeführte Unternehmungen gemeinsam zu reflektieren. Auch für diese Gespräche gilt, dass sie in der Regel relativ engagiert geführt werden, zumindest dann, wenn beispielsweise die Planungen direkt in Aktivitäten umgesetzt werden oder aber wenn man mit dem Verhalten von Mitschülern nicht unbedingt einverstanden ist. In dem gewählten Gesprächsausschnitt aus einer 12. Klasse geht es um die Nachbereitung eines Besuchs bei den sog. Studieninformationstagen, die in der Regel für Schüler der 12. oder 13. Klasse angeboten werden. Die meisten Schüler dieser Klasse
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sind in die nahe gelegene Universitätsstadt gefahren und haben dort die Informationsveranstaltungen besucht. Die Schüler sitzen im „Hufeisen“, das eigens für diese Form der Diskussion eingerichtet wurde. Zudem ist bekannt, dass die Lehrerin die Anordnung der Schülerinnen und Schüler variiert, um entsprechende unterrichtliche Vorteile zu erzielen. Das für diese Stunde gewählte Thema „Studientage“ bezieht sich auf die Erfahrungen, die die Schüler beim Besuch von Informationsveranstaltungen für Oberstufenschüler an Universitäten (und Pädagogischen Hochschulen) gemacht haben. Im Verlauf dieser Stunde diskutieren die Schüler verschiedene Probleme der Berufsberatung, am Ende entwickeln sie dann Vorschläge, wie eine solche Veranstaltung zum Schwerpunkt Berufsvorbereitung verbessert werden könnte. Nun im dritten Schritt zum dokumentierten Transkript. In diese Stunde fragt die Lehrerin, wie denn solche Aktivitäten wie die Studientage ausgewertet werden könnten. Zwei Schüler plädieren für eine gemeinsame Auswertung. Im Anschluss daran kommt es zu einem Disput zwischen zwei Schülern, nämlich Olli und Leonie. (3) Studieninformationstag (Jg. 12) Sprecher-Siglen: Kl: Klaus, Le: Leonie, Ol: Olli, Pe: Peter, Ut: Ute. 01 Kl und am wichtigsten is ja auch dass man son Fach kriegt wie Arbeitslehre und dann sollte es besucht werden halt von Leuten die da wirklich Interesse dran haben und die Leute die kein Bock drauf haben die lassens dann bleiben und ich mein es ist doch meine Zukunft da muss ich mich doch drum kümmern mein Gott und nich hier irgendwelche Lehrer anhauen was soll ich denn machen und bla und mich da und mir da einen absäuseln 02 Le
03 Pe ich weiss doch nicht was ich machen soll du musst es ja wissen 04 Ol ich find das wirklich bescheuert ich find das is son son son son sone (Haltung) dass man alles nachgetragen haben will ich würd das nich so sehn 05 Le
06 Ol aber das ist mein Pech da deswegen mach ich doch die andern net verantwortlich und das sind die Lehrer da 07 Le wir habn ja jetzt gesagt das is die Schule wir wolln das jetzt irgendwie mal net eh abspalten irgendwie und [alles verdrehn 08 Ol [von mir aus auch die Schule aber 09 Le findest du es denn gut dass nur weil wir jetzt hier im Gymnasium sitzen dass wir keine Berufsberatung gekricht haben 10 Ol ne deswegen sag ich ja ja also es soll angeboten werden aus diesen theoretischen Sachen und den Rest dass man zur Berufsberatung geht und bla ich find das sollte man selber machn genau so wie die Uni-Tage und alles andere 11 Ut ja aber Berufsberatung wär doch schon mal n Anfang gewesen für Gymnasiasten wenn wir hier kein Fach Arbeitslehre haben 12 Kl [das sagt es sagt doch keiner die Lehrer sollen 13 Ol [die Berufsberatung hätte hier an die Schule kommen sollen da [kann man auch hingehn und sich anmelden
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Kl Pe
[die Lehrer sollen überhaupt nicht …
In der Diskussion kommt die Sprache auf den Aspekt, wie in der Schule die Berufs orientierung der Schüler gefördert werden könnte, ein aus Sicht von Olli ganz wesentlicher Aspekt. Zudem sollte es freiwillig zu besuchen sein, so dass nur diejenigen, die daran Interesse haben, es besuchen – und andere, die dazu keine Lust haben, bräuchten es dann nicht zu besuchen. Als Begründung für diese These führt er an, dass es um seine eigene Zukunft gehe, um die er sich kümmern müsse, und es helfe nicht, beispielsweise Lehrer zu befragen. Es geht ihm also um eine fundierte Beratung in der Schule (01). Diese Aussage empört Leonie, die ihn sehr laut kritisiert (02). Peter will etwas einwerfen (03), aber Olli insistiert auf dem von ihm eingebrachten Standpunkt: Er kategorisiert die Position der anderen als bescheuert, weil er diesen Schülern unterstellt, dass sie alles angeboten bekommen, ohne selbst aktiv zu werden (04). Wieder antwortet Leonie sehr laut, sie wirft Olli vor, dass er für seine Zukunft nichts getan habe, denn er sei nicht bei den Studientagen an der Universität gewesen (05). Olli räumt dies ein, stellt aber heraus, dass er und nicht andere dafür verantwortlich ist und er die anderen auch nicht beschuldigen will (06). Leonie besteht auf ihrer Einschätzung in Hinblick auf die Aufgaben der Schule, die nicht verdreht werden solle (07). Olli orientiert darauf, dass auch die Schule etwas verändern könne (08). Nun fragt Leonie ihn, ob er es denn akzeptabel finde, dass in der Schule bzw. im Gymnasium keine Berufsberatung stattgefunden habe (09). Er begründet seine engagiert eingebrachte Position durch den Hinweis darauf, dass er der Meinung sei, so etwas solle angeboten werden, auf einer theoretischen Ebene. Und für die konkrete Beratung solle man eigenständig Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung nutzen, wie beispielsweise die Berufsberatung oder auch die Uni-Tage (10). Ute weist ihn darauf hin, dass eine Berufsberatung an der Schule schon mal ein guter Schritt in die richtige Richtung gewesen wäre (11). Klaus und Olli konkurrieren um die Übernahme des Rederechts (12–14) mit dem Ergebnis, dass Olli seinen Beitrag einbringen kann, indem er die Möglichkeit skizziert, dass auch an der Schule eine solche Beratung hätte stattfinden können. Damit ist das Transkript zu Ende, die Diskussion zum Thema geht jedoch weiter, und zwar relativ lange nämlich eine ganze Stunde. Was bei dieser Szene auffällt, ist, dass die Lehrperson nicht eingreift. Sie hat zwar die Diskussion angestoßen, aber hält sich auch im weiteren Verlauf zurück und greift nur dann ein, wenn es kritische Momente gibt. Auch dies ist ein Beispiel für einen Unterricht, der als schülerzentriert zu kategorisieren ist, insofern die Schüler relativ eigenständig die Schwerpunkte ihrer thematischen Auseinandersetzung bestimmen. Und dass dieses Thema für Oberprimaner relevant ist, dürfte naheliegend sein, da sie kurz vor der Entscheidung stehen, welches Studium oder welchen Beruf sie auszuüben beabsichtigen. Insofern erklärt sich auch das Engagement der Schüler an diesem Thema: Sie erkennen durchaus die Defizite in der schulischen Beratungstätigkeit, sie verweisen darauf, dass eine Berufs-
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beratung in dieser Zeit ganz besonders wichtig sei und suchen nach Möglichkeiten, wie diese im gegebenen Rahmen umzusetzen ist. Interessant an diesem Ausschnitt ist die Kontroverse zwischen Leonie und Olli. Die Art und Weise, wie Olli seine Position vorbringt, erlebt Leonie als provozierend. Das zeigt sich vor allem an ihren spontanen Reaktionen: Sie werden laut und entschieden eingebracht. Leonie wählt zudem die Form einer persönlichen Ansprache, auf die Olli entsprechend Bezug nimmt, indem er seine Position verteidigt. Letztlich zeigt sich jedoch, dass die Positionen der beiden nicht weit auseinanderliegen, dass sie beide von der Notwendigkeit der schulischen Information über die Perspektiven nach dem erfolgreich absolvierten Abitur überzeugt sind. Diese Form der direkten Aushandlung von Meinungsgegensätzen ist nur deshalb erfolgreich, weil es in dem Zusammenhang keine regulierenden Aktivitäten eines Diskussionsleiters gibt, der darauf besteht, dass die für Diskussionen relevanten Gesprächsregeln eingehalten werden. Wichtig ist auch, dass – zumindest in dem dokumentierten Ausschnitt – die beteiligten Schüler sehr engagiert das Thema behandeln, auch kontroverse Positionen markieren und sie dadurch in den Fokus der Aufmerksamkeit aller bringen. Das ist einer der besonderen Kennzeichen solcher Diskussionsthemen, in denen Schüler aufgrund der Voraussetzungen näher am Thema sind, ihnen dieses wichtig ist, und sie aus ihrem Engagement für die Sache heraus zu differenzierten Formen der Auseinandersetzung kommen. An diesem Beispiel zeigt sich, dass bei großem Engagement der beteiligten Schüler die organisierenden Eingriffe der Lehrperson durchaus reduziert werden können. Das hängt vermutlich auch mit dem Alter (17 bis 19 Jahre) und dem Bildungsgrad (Gymnasiasten) zusammen, aber ganz sicher mit dem Thema Berufsberatung, das für Schüler in der Situation kurz vor dem Abitur ganz zentral ist. Und es zeigt, dass die Beteiligten ihre zum Teil konträren Meinungen gut aushandeln können, auch wenn es im obigen Beispiel manchmal auch laut geworden ist. Insofern gehört auch dieses Gespräch zu den Formen, die aufgrund ihres thematischen Schwerpunktes die beteiligten Handelnden dazu bringt, sich interessiert damit auseinanderzusetzen.
2.3 Schüler diskutieren im Innenkreis-Außenkreis-Arrangement Ein oft genutztes räumliches Arrangement für das Diskutieren ist eine Anordnung, in der Schüler andere Schüler beim Diskutieren beobachten können: Während die aktiven Schüler im Innenkreis diskutieren werden sie von den anderen Schülern im Außenkreis beobachtet. In dieser Diskussion über die Nutzung von Internet-Seiten bei der Erledigung der Hausaufgaben werden verschiedene Aspekte wie Kosten, Zuverlässigkeit etc. diskutiert. Die Diskussion war durch mehrere Materialien vorbereitet, die den Schülern bereits eine Woche vor der Diskussion zur Verfügung gestellt wurden. Die Diskussion
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ist mit ca. 26 Minuten relativ lang, und auch Teilnehmer aus dem Außenkreis werden an einer Stelle mit einbezogen. Gesprächsinventar: Sollen Internetseiten altersbeschränkt werden? Teilnehmer: Mo: Moderator, Do: Doro (pro), EB: Eike-Brian (contra), Sa: Sarah (pro), Ve: Velten (contra); Dauer 26 Minuten Beitrag Nr. Sprecher Thematischer Schwerpunkt 000 Mo Anmoderation, Fixierung des Themas 001–007
Mo, Ve, EB,
008–020
Sa; EB, Ve
021–046 047–071 072–092 093–106 107–110 111–137 138–163 164–171 172–198 199–215 216–248 249–264 265–272
Einbringen des Contra-Standpunktes
Einbringen des Pro-Standpunktes in kontroverser Diskussion mit den Vertretern der Contra-Position Mo: Sa, EB, Ve, Diskussion der These: Internetseiten fördern das Diskussionsverhalten: Gefahren (Dialer) und Potenziale Mo, Ve, Sa, EB, Do Altersbeschränkung bei Internetseiten Sa, EB, Ve, Do Vor- und Nachteile von kostenlosen Hausaufgabenseiten EB, Do, Sa, Beispiel Französische Revolution Mo, EB, Sa Erinnerung der Teilnehmer an das Thema Sa, Ve, EB, Mo Diskussion der These: Bei der Internetnutzung ist der Lerneffekt weg Mo, Ve, Sa, Plagiatsproblematik: Arbeiten werden als eigene ausgegeben, obwohl man sie nicht selbst verfasst hat EB, S2, Selbständige Erledigung der Hausaufgaben Mo, Ve, EB, S2, Verarbeitung von Informationen aus dem Internet – Kosten S2, EB, Mo, Sa Altersbeschränkung für Wikipedia Mo, Sa, EB Wie funktioniert Wikipedia? Sind die Informationen richtig? Soll es eine Altersbeschränkung geben? EB, Mo Thema Holocaust Mo, Sa, Ve, EB Schlussrunde
Die an der Diskussion teilnehmenden fünf Schülerinnen und Schüler beteiligen sich mit Ausnahme von Doro intensiv an der Diskussion, vor allem auch in der Auseinandersetzung mit divergierenden Positionen vor allem zwischen Sarah auf der einen Seite und Eike-Brian und Velten auf der anderen. Aber auch ein anderer Teilnehmer (2) ist vor allem in den letzten Abschnitten der Diskussion daran beteiligt, eingebrachte Standpunkte kontrovers zu diskutieren. Thematisch liegt der Schwerpunkt zum einen auf der Frage, ob die Schüler mit der Nutzung von Internetseiten für die eigene Aufgabenbearbeitung überhaupt Lerneffekte erzielen, zum anderen um die Problematik des Nutzens fremder Ideen. Nun zur kontextuellen Analyse dieses Ausschnitts. Dabei wird zunächst die Länge der einzelnen Beiträge der an der Diskussion beteiligten Schüler genutzt. Die Verteilung der insgesamt 256 Beiträge auf die fünf teilnehmenden Schüler dokumentiert die folgende Übersicht.
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1–10
11–20
21–30
Mo
22
6
3
Do
5
3
EB
41
12
6
4
2
3
2
1
1
72
Sa
30
6
4
7
5
4
2
2
1
61
Ve
28
5
2
4
5
S2
24
5
2
2
150
37
18
14
Ges.
31–40
41–50
51–70 1
71–90 91–110
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1
1
>110
Ges.
2
36
1
15
9
1
45 33
4
6
4
4
256
Abb. 4: Länge der Beiträge der beteiligten Schüler
Mehr als die Hälfte der Beiträge sind nicht länger als 10 Wörter, sie sind also sehr kurz. Es sind in der Regel spontane Äußerungen und direkte Reaktionen auf andere Beiträger. Dieses Ergebnis ist deswegen interessant, weil selbst in der InnenkreisSituation, also gleichsam unter Beobachtung, die Aktivitäten der Schüler als durchaus interessiert und engagiert einzustufen sind. Dabei gibt es jedoch deutliche Unterschiede: Während der Moderator, Eike-Brian, Sarah und Velten mit relativ vielen und auch komplexen Beiträgen wesentlich die Entwicklung der Argumentation gestalten, beteiligen sich Doro und S2 nur gelegentlich an der Diskussion. Diese Beobachtung bestätigt auch die Feststellung, dass vor allem die zuerst genannten Schüler eine relativ große Zahl auch von längeren Beiträgen in die Diskussion einbringen. Es sind insgesamt 65 (ca. 25 %) Beiträge, die länger als 20 Wörter sind, mit denen sie zu einer intensiven Weiterentwicklung der Diskussion beitragen – 5 davon werden von Doro und S2 eingebracht. Dieses Faktum zeigt, dass die im Innenkreis sitzenden Schüler sich insgesamt sehr gut auf das Thema der Diskussion vorbereitet haben. Insgesamt ergibt sich ein interessantes Profil für die Teilnehmer dieser Diskussion, das sich in allen quantitativen Befunden nachweisen lässt: Es sind vor allem die Schüler Eike-Brian, Sarah und Velten, die mit Engagement und Interesse die Diskussion weiterentwickeln. Aber auch der Moderator trägt seinen Teil dazu bei, indem er mit seinen Interventionen bestimmte thematische Fokussierungen vornimmt und so zu einer stringenten Diskussionsorganisation beiträgt. Die beiden anderen Schüler (Doro, S2) nehmen dagegen nicht so intensiv an der Diskussion teil. Der Blick auf einen Transkriptauszug, in dem es um die Problematik der Nutzung von kostenlos im Internet erhältlichen Informationen geht, zeigt deutlich, dass die Teilnehmer relativ gut vorbereitet sind: Sie verfügen über hinreichende Informationen, die es ihnen ermöglichen, differenziert über die Problematik zu diskutieren. Zudem gelingt es ihnen auch, die zuvor erarbeiteten Pro- und Contra-Standpunkte pointiert zu artikulieren. Wie sie dies tun, soll an dem Transkriptbeispiel „Kostenlose Seiten im Internet“ rekonstruiert werden.
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(3) Beispiel: Kostenlose Seiten im Internet Sprecher-Siglen: Mo: Moderator, Do: Doro, EB: Eike-Brian, Sa: Sarah, Ve: Velten 72 Sa /1/ja aber ich mein aehm aehm (-) wie=s gesagt (-) es gibt ja auch kOStenlose seiten und aehm man kann sich=ja auch, also es muss ja nicht gleich alle geSCHLOSSENn werden, die kinder können ja auch auf die kostenlosen seiten gehen (-) und es hat ja auch wirklich viele VORteile, wenn s diese hausaufgabenseiten noch gibt, weil (-) die KINder befassen sich (-) oder die JUGENDlichen befassen sich viel intenSIVER mit dem THEma und aehm also viele sagen ja auch,dass es halt nichts BRINGT, wenn man sich die hausaufgaben aus dem internet zieht, aber (-) [aehm] 73 EB [was ja ] auch bewIEsen ist, oder? (-) ich mein, wenn du (-) [jetzt] (-)] 74 Ve [ausreden lassen!] 75 EB [du (--)] 76 Sa [nein] reden Sie ruhig, ich kann ja auch (-)((gelächter)) 77 EB /2/du kommst aus=e SCHUle, (-) ne::? (-) und dann hast=hausaufgaben auf (-) und was machst du:? setzt dich an=n PC und guckst auf irgendwelchen internetseiten, ob du INfos darüber hast (-) und wenn du dann=ne arbeit schreibst [-] hast also::=n exAMEN oder so was (--) ne klauSUR [-] dann kannst du natürlich auch schnell sagen hier (--) hm:: LAPtop: dschhjj:::t ich zieh mir kurz die INfos raus und schreib die hier runter (-) also der LERNneffekt ist doch ganz anders! 78 Sa ja schon, aber aehm (-) NUr durch die aehm durch die comPUTER ist das doch nicht schlimmer geworden [-] früher sind die kinder doch auch in die bücheREI gegangen, haben=n LEXIkon genommen haben sich alles AUSgeschrieben (-) genauso wie es im LEXikon steht, das ist das (--) 79 Ve [Aber is=es=is] (-)pscht((macht eine Handbewegung in Richtung Mo)). 80 Sa [is=kein unterschied!] 81 Ve /3/aber ((lacht)) is=es=es=is ((lacht)) nicht was ANderes? ob man sich selber (.) von verschiedenen seiten informationen zusammensucht und die arbeit SELber verfasst oder die [hausaufgabe 82 EB [genau= oder (.) rausschreibst] 83 Ve (-)oder ob man sich auf hausaufgaben] (-) seiten schon fertige hausaufgaben herunterlädt, [so was was]. 84 EB [von de=man] gar nicht weiß [.], ob sie überhaupt richtig sind.! (.) 85 Do NE:: ich denke, man [liest sich das (doch)=vorher erstmal alles durch] (-) 86 EB [was im LEXIkon steht, ist ja auch bewiesen!] 87 Mo /4/ich würde gerne dorothee mal einmal zuhören! 88 Do /5/ja, weil du liest dir das vorher doch erstmal alles DURCH, ob das überhaupt DAS entspricht, was du da AUF=hast? (-) ich mein du n=immst doch nicht irgendwas, was dann [-] was du gar nicht weißt, ob das dann EHRlich stimmt (-) 89 EB [ja] 90 Do [du] lies::=man=lies` (-) JEDER liest sich das erst durch. 91 EB ja aeh ja [sicher!] 92 Do /6/…
Dieser Transkriptauszug lässt sich in 5 Teile gliedern. Zunächst ergreift Sarah die Initiative, um ihren Standpunkt zum Thema einzubringen/1/: Sie befürwortet die Nutzung kostenloser Internetseiten, da sie viele Vorteile brächten, da sie sich intensiver mit einem Thema beschäftigten. Dann möchte sie sich kritisch mit der These auseinan-
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dersetzen, dass es nichts bringe, wenn man sich Hausaufgaben aus dem Internet ziehe, was aber durch einen spontanen Widerspruch von Eike-Brian in Frage gestellt wird. Nach einer kurzen Kontroverse um die Ausübung des Rederechts ergreift EikeBrian das Wort, um die Problematik der Nutzung von aus dem Internet verfügbar gemachten Informationen zu verdeutlichen. Am Beispiel einer imaginierten Situation – Hausaufgaben werden unter Nutzung des Internets bearbeitet – macht er deutlich, dass es eine andere Form des Lernens sei, genauer: Er behauptet, der Lerneffekt sei doch ganz anders. Sarah reagiert direkt darauf, indem sie darauf hinweist, dass es durch den Computer doch nicht schlimmer geworden sei, vielmehr seien auch schon früher andere Medien wie Lexika genutzt worden/2/. Velten ergreift nun die Initiative, um die Frage nach der Differenz zwischen den beiden thematisierten Formen der Informationsbeschaffung zu stellen. Eike-Brian unterstützt diese Position mit weiteren zustimmenden Einwürfen. Dann versucht Doro das Wort zu bekommen, was ihr aber nicht gelingt, da ihr Vorredner seinen Beitrag noch nicht zu einem Ende gebracht hat/3/. So sieht sich der Moderator veranlasst, metakommunikativ einzugreifen, indem er seinem Wunsch Ausdruck verleiht, dass er Doros Meinung gerne zur Kenntnis nehmen würde/4/. Schließlich begründet Doro ihren Standpunkt, dass diejenigen, die das Internet nutzen, zuvor prüfen, ob die dort verfügbaren Informationen auch wirklich zutreffen. Dies findet die Zustimmung von Eike-Brian/5/. Im Anschluss wird das Thema am Beispiel „Französische Revolution“ weiter diskutiert. Betrachten wir nun den Transkriptausschnitt unter den vier dominierenden Analysegesichtspunkten. Für die kontextuelle Ebene lässt sich feststellen, dass die beteiligten Interaktanten sich engagiert mit dem Thema beschäftigen. Das lässt sich vor allem an den zahlreichen turn-Übernahmeversuchen bzw. den spontanen Kommentaren und Einwürfen zeigen. Zudem sind die Schüler relativ gut auf das Thema vorbereitet, so dass sie sich durchaus kompetent und differenziert mit einzelnen Aspekten auseinandersetzen können. Auf der elokutionellen Ebene lässt sich folgendes beobachten: Die Länge der zentralen inhaltlichen Beiträge zeigt, dass die Schüler sich gut in das Thema eingearbeitet haben. Das von den Schülern genutzte Register lässt sich als durchaus elaboriert charakterisieren, weil sie gründlich vorbereitet sind. Auch der Perspektivierungsgrad ist bei den meisten Beiträgern relativ elaboriert, sie bringen ihre Positionen differenziert und gut begründet ein. Betrachtet man die kog nitive Dimension, so lässt sich zeigen, dass vor allem die den thematischen Schwerpunkt setzenden Beiträge der Schüler in erweiterten bzw. in komplexen Beitragsformaten argumentieren. Bei der Betrachtung der sozialen Dimension fällt auf, dass die Schüler relativ engagiert am Thema sind. Es sind zahlreiche spontane Äußerungen dokumentiert, und bisweilen muss das Rederecht geradezu erstritten werden. Insgesamt lässt sich diese Innenkreis-Diskussion als durchaus engagiert charakterisieren. Die Schüler bearbeiten die ihnen gestellte Aufgabe mit großem Interesse, das womöglich auch auf die besondere Situation (Beobachtung durch Mitschüler und Kamera) zurückgeführt werden kann.
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2.4 Zusammenfassung An den drei ausgewählten Beispielen lassen sich sehr genau differenzierte Beobachtungen von unterrichtlicher Kommunikation ableiten, insofern die Unterschiede zwischen den einzelnen Unterrichtsformen dabei deutlich werden. Während sich der lehrerzentrierte Unterricht – die am meisten genutzte Form überhaupt – vor allem durch die Aktivitäten der Lehrperson auszeichnet, sind die anderen beiden beschriebenen Formen durchaus unterschiedlich, wobei auch an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen werden muss, dass sie in der Realisierung von Lehr- und Lernprozessen im Unterricht relativ selten genutzt werden. In dem Beispiel – das Gespräch über die Kurzgeschichte „Die Tochter“ von Peter Bichsel – zeigt sich die Lehrerin sehr offen für die Beiträge der Schülerinnen und Schüler, und zwar insofern, als sie die darin artikulierten Inhalte relativ differenziert kommentiert und somit für eine angemessene Bearbeitung sorgt. Zudem gelingt es ihr auch, die Schüler zu längeren eigenständigen Beiträgen zu bringen und sie insoweit auch zu einer erfolgreichen Bearbeitung der Kurzgeschichte zu veranlassen. Damit kann diese Form von Unterricht durchaus als gelungen bezeichnet werden, und zwar deshalb, weil es der Lehrerin gelingt, die Schüler für das Thema zu interessieren. Das zweite Beispiel – hier wird ein schülerzentrierter Unterricht realisiert – zeigt dagegen auch, wie sinnvoll es sein kann, wenn Lehrpersonen sich im Prozess der Diskussion eines Themas zurückhaltend verhalten. Dann können die Schüler nämlich selbst eigene Positionen entwickeln, diese einander gegenüber stellen und so zu einer differenzierten Sichtweise des ausgewählten Themas kommen. Interessant an dem hier dokumentierten Ausschnitt ist die Realisierungsform, nämlich die Kontroverse zwischen Leonie und Olli, die die beiden sehr engagiert realisieren. Interessant ist auch, dass sich auch andere Schüler an dieser Stelle einschalten und so zu einer differenzierten Auseinandersetzung beitragen. Es zeigt sich auch hier, dass die Zurückhaltung der Lehrperson an dieser Stelle durchaus positiv ist, denn auf diese Weise können die Schüler ihre Konflikte selbst austragen, ohne dass irgendwelche Einschränkungen hingenommen werden müssen. So kann es ihnen gelingen, die offensichtlichen Kontroversen auch angemessen zu bearbeiten. In dem im letzten Beispiel als verfahrensgeregelt beschriebenen Modell einer Diskussion unter den innen sitzenden Schülern, die – beobachtet von den außen sitzenden – ein Gespräch zum Thema „Altersbeschränkung im Internet“ führen, in dem unterschiedliche Sichtweisen entwickelt werden und auch gegensätzliche Positionen eingebracht und argumentativ gestützt werden müssen, zeigt sich, dass die an dem Gespräch beteiligten Schülerinnen und Schüler durchaus kontrovers diskutieren, und dieses sich auch in der quantitativen Auswertung des Gesprächs zeigt. In dem ausgewählten Transkriptausschnitt geht es vor allem um die Frage, ob es im Internet kostenlose Seiten gibt. Dieser thematische Schwerpunkt zeigt jedoch, dass man diese Frage relativ differenziert diskutieren kann, vor allem auch, weil die Beteiligten sich bemühen, die jeweils unterschiedlichen Positionen auch angemessen einzubringen. Insofern gelingt ihnen auch eine relativ differenzierte Form der inhaltlichen Ausei-
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nandersetzung. Abschließend muss allerdings festgestellt werden, dass weder der schülerzentrierte noch der verfahrensgeregelte Unterricht eine große Bedeutung für den Unterricht hat, der in der Regel in lehrerzentrierter Form realisiert wird (s. o.). Dies müsst eigentlich geändert werden – aber eine Änderung bereitet angesichts der allgemein formulierten Voraussetzungen auch Probleme, zumal viele Lehrpersonen nicht unbedingt so flexibel sind, dass sie die beiden alternativen Formen auch berücksichtigen würden. Insofern muss bei allen Aspekten darauf hingewiesen werden, dass der Unterricht in Schulen sich bestimmten Standards beugen muss, formuliert etwa durch Lehrpläne. Und diese Standards gilt es durchzusetzen, wie auch immer das realisiert werden kann.
3 Abschließende Diskussion der Ergebnisse Nach dieser kritischen Bestandsaufnahme sollen abschließend einige Normen formuliert werden, die geeignet sind, zu einem angemessenen Unterricht in den verschiedenen Fächern zu finden. (vgl. dazu Becker-Mrotzek/Vogt 2009, 202–205). Aus den vorgestellten linguistischen Untersuchungen zur Kommunikation in Schule und Unterricht werden im Folgenden einige didaktische Maximen hergeleitet. Damit soll die linguistische Theorie fruchtbar für die analysierte Praxis gemacht werden. Die vorgestellten Ansätze gründen auf einer qualitativ-empirischen Basis, wie sie nur wenigen didaktischen und pädagogischen Konzepten zugrunde liegt. Dies ist ein gewichtiges Argument, weil erst in der Empirie sichtbar wird, ob die intendierten Lehr-Lern-Prozesse in der Praxis auch so stattfinden. Und hier hat die linguistische Pragmatik eine Methodologie anzubieten, die dem Gegenstand in besonderer Weise angemessen ist. Anders als quantitativ-empirisch verfahrene Untersuchungen gelingt es hier, den kommunikativ vermittelten Zusammenhang von Lehren und Lernen so detailliert zu beschreiben, dass kognitive Prozesse auf Schülerseite nicht nur rekonstruierbar werden, sondern auch ins Verhältnis gesetzt werden können zu den vorausgehenden Lehrmaßnahmen. Das bedeutet jedoch nicht, dass schon alle Fragen geklärt wären. Es ist vielmehr so, dass immer noch viele Desiderata bestehen – aber es ist ein Weg gewiesen, diese zu bearbeiten: 1. Reflektiere die Bedingungen von Unterricht und mache sie dir bewusst. In der Institution Schule handeln Lehrer und Schüler als Agenten und Klienten dieser Einrichtung. Insofern können sie ihre Aktivitäten nicht frei aushandeln, vielmehr müssen sie sich auf die Ziele und Zwecke dieser Einrichtung konzentrieren – diese sind in den jeweiligen Schulvorschriften genau festgelegt. Qualifikation und Selektion sind die zentralen Aufgaben der Institution Schule, und zwar insofern, als der Unterricht im schulischen Rahmen die Aufgabe hat, das gesellschaftliche Wissen auch den jüngeren Menschen zu vermitteln und auf diese Weise jeden einzelnen zu qualifizieren. Darüber hinaus hat die Schule die
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Aufgabe, das jeweilige Wissen in altersbezogener Form zu vermitteln, es also aufzuteilen auf die verschiedenen Klassen und Gruppen der Gesellschaft. Und der einzelne Schüler hat somit nur die Möglichkeit, einzelne Teile des Gesamtwissens aufzunehmen. Insgesamt ist mit dieser Konstruktion die Selektionsfunktion bestimmt, insofern es Selektionsinstrumente wie fachliche Zensuren oder Schulabschlüsse konstituieren. Diese Bedingungen konstituieren den Rahmen schulischen Handelns, und zwar so, dass spezifische Handlungsräume konstituiert werden, die jeder daran Beteiligte in eigener Verantwortung nutzen kann. Wenn man die Institution Schule in dieser Perspektive wahrnimmt, dann kommt zu einer realistischen Einschätzung der Potenziale der Schule. 2. Stelle für alle Beteiligten Transparenz her. Der genaue Blick auf die sprachliche Interaktion im Klassenzimmer verschafft dem linguistischen Analytiker eine gewisse Einsicht in die Bedingungen des sprachlichen Handelns, aber auch in ungenutzte Potenziale. Das vom Lehrer ausgewählte Handlungsmuster ist immer auch eine Auswahl aus mehreren Möglichkeiten, auch die Formen der Äußerung sind variabel. Auf diese Weise können für bestimmte Situationen Potenziale bestimmt werden, zusätzlich können aber auch noch alternative Möglichkeiten bestimmt werden. So können differenzierte Formen der unterrichtlichen Interaktion entwickelt werden, die gleichsam selbstreflexiv nutzbar sind. Auch dies sollte der Lehrer den Schülern deutlich machen, sie gleichsam einbeziehen, um auf diese Weise zu einer differenzierten Sichtweise auf den Unterricht zu orientieren. Insofern ist es beispielsweise sinnvoll, auch die Inhalte von Lehrplänen zu berücksichtigen – etwa durch eine Festlegung der Jahresplanung –, und auch die einzelnen Unterrichtseinheiten müssen konzipiert werden. Alles dies findet seinen Abschluss in der Planung der einzelnen Unterrichtsstunde. Als Beispiel sei hier auf das Handlungsmuster „Rätselraten“ verwiesen, denn durch dieses Konzept werden die Schülerinnen und Schüler zu Statisten der Realisierung der Unterrichtsstunde, weil ihnen die Hintergründe nicht angemessen verdeutlicht werden. Zu aktiven Teilnehmern können die Schüler nur dann werden, wenn der Lehrer ihnen die Bedingungen des eigenen Handelns vermittelt. Erst dann ist es ihnen möglich, Strategien zu entwickeln, die es ihnen ermöglichen, den Erwartungen des Lehrers zu genügen. Es lohnt sich deshalb für den Lehrer immer, mit offenen Karten zu spielen, selbst seine Erwartungen zu verdeutlichen, sei es in der Lehrerfrage, im Unterrichtsgespräch oder in der Festlegung des organisatorischen Rahmens in der Diskussion. 3. Praktiziere eine bewusste Methodenvielfalt Aus den drei vorgestellten Analysen – lehrerzentriert, schülerzentriert und verfahrensgeregelt – ergibt sich als Ergebnis, dass die verschiedenen Methoden unterschiedlich organisiert sind, und auch entsprechend unterschiedliche Potenziale aufweisen. Allerdings haben sie auch Stärken und Schwächen, und zwar insofern, als sowohl die Inhalte als auch die jeweiligen Methoden durchaus unterschiedlich sind. Auch im Vergleich mit anderen Fächern verfügt der
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Deutschunterricht über ein relativ breites Spektrum an thematischen und organisatorischen Potenzialen, wobei auch zu berücksichtigen ist, dass dies an den spezifischen Inhalten liegt – wie beispielsweise die Auseinandersetzung mit literarischen Texten oder das Format der Diskussion. Zentraler Aspekt ist jedoch die Berücksichtigung der Methodenvielfalt, also die für den Unterricht genutzten Formen der jeweiligen Arbeitsschritte, um auf diese Weise möglichst alle Schülerinnen und Schüler für die Beteiligung am Unterricht zu motivieren. Ziel dabei ist, die Methoden an die Potenziale der Schüler, die sachlichen Erfordernisse und die Interessen der Lehrperson anzupassen. Auf diese Weise wird eine reflektierte Unterrichtspraxis konstituiert, insofern als die verschiedenen Potenziale der einzelnen Arbeitsformen wie Lehrervortrag, Unterrichtsgespräch, Diskussion oder Gruppenarbeit für den Unterricht genutzt werden können – insofern mit ihnen bestimmte Ziele erreicht werden können. Allerdings muss die Methode je nach inhaltlichem Schwerpunkt, dem fachlichen Bezug und anderen für den Unterricht relevanten Kriterien gewählt werden. 4. Mache die Interaktionsverfahren der Klassengemeinschaft regelmäßig zum gemeinsamen Thema Lehrerinnen und Lehrer können die sozialen Zwecke der Schule fördern, indem sie ihren Schülerinnen und Schülern mehr Interaktionsräume schaffen. Die schülerzentrierte Bearbeitung eines Gegenstands steht dabei im Mittelpunkt: Dies lässt sich im projektorientierten Unterricht realisieren, denn in dieser schülerzentrierten Bearbeitung eines Themas organisieren beide – Lehrer und Schüler – den Lehr- und Lernprozess. Mit den so eröffneten Handlungsspielräumen wird es möglich, inhaltliche Diskussionen intensiver zu führen und einen reflektierten Wissenstransfer zu ermöglichen. Dabei kann es auch zu sozialen Spannungen kommen, die dann interaktiv bearbeitet werden. Probleme und Konflikte in der sozialen Gruppe gehören dann auch zu den Unterrichtsinhalten und sollten differenziert bearbeitet werden. Dazu eignen sich vor allem Diskussionen, in denen dann die kontroversen Einschätzungen der Schülerinnen und Schüler bearbeitet werden sollten. Dieser Rahmen lässt sich noch erweitern auf den traditionellen Unterricht, in dem auch eine solche Schwerpunktsetzung möglich ist. 5. Sei offen für ungeplante und unerwartete Interaktionsprozesse Der Lehrer erwartet von seinen Schülern einiges: So sollen sie aufmerksam sein, sie sollen auf seine Impulse reagieren und möglichst nichts ‚Falsches‘ sagen. Allerdings tun Schüler dies oft nicht oder sie reagieren anders. Dann hat der Lehrer zwei Möglichkeiten: Er könnte erstens den Gang der verbalen Interaktion auf den von ihm konzipierten Weg zurückführen, indem er den Schülerbeitrag beurteilt und auf diese Weise anderen Schülern die Möglichkeit eröffnet, eine eigene Sichtweise einzubringen. Alternativ könnte er aber zweitens die jeweilige Differenz deutlich machen, und auf diese Weise andere interessierte Schüler mit einbeziehen. So könnte ein Perspektivenabgleich entwickelt werden, indem Kriterien für die Beurteilung der jeweiligen Beiträge formuliert werden. Auf diese Weise
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entstehen Kontroversen, die für die Beteiligten im Klassenzimmer fast immer relativ spannend sind. Für den Lehrer würde es sich lohnen, dieses Modell zu nutzen, um die kontroversen Einschätzungen der Schüler aufeinander zu beziehen. Gegensätzliche Positionen entwickeln im öffentlichen Raum Unterricht eine gewisse Eigendynamik, denn die Beiträger sind gezwungen, ihre Positionen zu möglichen konträren oder kontroversen Beiträgen in Beziehung zu setzen. Wenn Lehrer solche Kontroversen fördern, leisten sie zweifellos einen Beitrag für die Herausbildung einer Konfliktfähigkeit, die zu den zentralen Qualifikationen in einer ausdifferenzierten Gesellschaft gehört. 6. Hinterfrage die eigene Beurteilungspraxis Zu den zentralen Aufgaben des Unterrichts gehört es zweifellos, die Leistungen von Schülern zu beurteilen und zu bewerten. Allerdings wird dieser Aspekt in der Lehrerausbildung nicht so recht beachtet – dies zeigt sich sowohl für schriftliche Formen der Leistungserbringung, aber auch und besonders für die mündlichen Leistungen. Mündliche Leistungen sind aus mehreren Gründen problematisch. Da ist zunächst die Flüchtigkeit der mündlichen Äußerung, die es dem Lehrer erschwert, die einzelnen Beiträge auch angemessen einzuschätzen. Und es ist zudem noch schwieriger als bei Texten, Qualitätsmaßstäbe zu benennen. Ein Gespräch, und zumal ein Unterrichtsgespräch, ist dadurch gekennzeichnet, dass sich mehrere Personen daran beteiligen. Von daher ist es schwierig, die Leistungen einzelner Schüler zu beurteilen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn jemand eine Geschichte erzählt, die ihn sehr bedrückt, ist das geduldige Zuhören genau die richtige und angemessene kommunikative Aktivität. Dies kann aber bei der gemeinsamen Erarbeitung einer Lösung des Problems problematisch werden. Im Unterrichtsgespräch kann das Schweigen eines Schülers, der darauf verzichtet, eine bereits gegebene Antwort ein weiteres Mal zu wiederholen, kommunikativ angemessen sein, obwohl er dadurch nicht in den Fokus des Lehrers rückt. Es ist also empfehlenswert, auf vorschnelle und unreflektierte Beurteilungen vor dem Hintergrund nur erinnerter Eindrücke zu verzichten.
4 Literatur Becker-Mrotzek, Michael/Rüdiger Vogt (2009): Unterrichtskommunikation. Linguistische Analysemethoden und Forschungsergebnisse. 2. Aufl. Tübingen. Brünner, Gisela/Gabriele Graefen (Hg.) (1994): Texte und Diskurse. Methoden und Forschungsergebnisse der Funktionalen Pragmatik. Opladen. Deleuze, Gilles (1990): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972–1990. Frankfurt a. M., 254–262. Ehlich, Konrad/Jochen Rehbein (1979): Sprachliche Handlungsmuster. In: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Stuttgart, 243–275. Ehlich, Konrad/Jochen Rehbein (1986): Muster und Institution. Untersuchungen zur schulischen Kommunikation. Tübingen.
Unterrichtskommunikation – gesprächsanalytisch rekonstruiert
593
Fend, Helmut (1981): Theorie der Schule. 2. Aufl. München u. a. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Frankfurt a. M. Lüders, Manfred (2003): Unterricht als Sprachspiel. Bad Heilbrunn. Mehan, Hugh (1979): Learning Lessons. Social Organization in the Classroom. Cambridge (Mass.)/ London. Schmitt, Reinhold (Hg.) (2011a): Unterricht ist Interaktion! Analysen zur De-facto-Didaktik. Mannheim. Schmitt, Reinhold (2011b): „Unterricht ist Interaktion! Zur Rahmung des Bandes“. In: Schmitt (2011a), 7–30. Searle, John R. (1969): Speech Acts. Cambridge. Sinclair, John McH./Malcolm Coulthard (1977): Analyse der Unterrichtssprache. Ansätze zu einer Diskursanalyse dargestellt am Sprachverhalten englischer Lehrer und Schüler. Heidelberg.
Sachregister A Akkommodation 33 f. Akkulturation 373, 525, 538 Alltagssprache 10, 95, 107, 199, 211, 216, 265, 337 f., 464, 468, 472 Analphabetismus ––funktionaler 548, 551, 557 Ansatz ––konstruktivistischer 53, 123, 130 f., 133, 299, 324 f., 334, 414 f., 472 argumentieren 72, 76, 84, 96, 168, 171, 273, 307 f., 533 Assimilation 33 f., 45 Ausbildung 170, 180, 184, 215, 223, 244, 366, 427 f., 436 Ausbildungsbetrieb 428, 430 Ausbildungsreife 425 f., 437, 441 B Barrierefreiheit 411 Begriffsbildung 38, 214–216, 245, 319, 321, 324 f., 327 f., 337 Behinderung 198, 400–402, 404, 407 f., 410, 412, 544 f., 547 Beruf 74, 85 f., 215, 234, 249, 429, 439, 547 Berufsausbildung 184, 198, 215, 229, 244, 247, 347, 366, 421, 425, 427, 429, 438, 440 Berufsschule 426, 436 Bild 141, 143, 145, 150, 152, 155 f., 338 Bildung 3–6, 18, 28, 31, 48, 50 f., 63, 68, 70–74, 76, 78 f., 122, 142, 153, 164, 166, 172, 183, 186, 192 f., 198, 202, 205, 229, 238 f., 241, 244, 249, 253 f., 257, 266 f., 272, 276, 279, 289, 297, 302, 311, 320, 322, 327, 362, 380, 396, 400 f., 408, 410, 421, 440, 444 ––sprachliche 3 f., 8 f., 25, 27, 34, 36 f., 39, 43, 45, 48, 50, 52 f., 58, 62, 92, 117 f., 163, 165 f., 169, 172, 229 f., 233 f., 237, 240–242, 244 f., 247, 375 f., 507 Bildungsbegriff 5 f., 28 f., 51, 63, 72, 78, 229, 244, 257, 260, 262, 265, 267, 272, 306 Bildungschance 10, 77, 258, 288, 347, 357, 479–481, 495, 501, 553 Bildungserfolg 58 f., 363, 368, 421, 444, 458, 478–480
Bildungsprozess 3 f., 7, 9, 25, 29, 36, 40, 52, 69, 193, 276 f., 319, 329, 335 f., 338, 380 Bildungssprache 10, 69, 87, 106, 116, 171, 177, 188 f., 205, 211–214, 225, 291, 304 f., 321, 329, 336–339, 362 f., 371, 384 f., 391, 445, 458, 478–480, 482–487, 489, 494 f., 500 f., 506, 545 Bildungsstandard 51 f., 217, 268, 287–289, 362, 364–367, 372, 394, 445, 468, 533 Bildungssystem 7, 106, 136, 138, 163, 253–256, 259, 266, 421, 478, 501 Bildungsteilhabe 245, 362, 371, 373, 403, 405, 410 Bildungswesen 163, 231, 244, 382 Biologieunterricht 215, 462, 468–471, 473 f. C Code ––sprachlicher 69, 91, 95, 129, 132, 245 f., 481, 545 Content Language Integrated Learning 450, 516 f. D Denken ––schlussfolgerndes 524, 531, 533 f., 536 Deutschunterricht 220 f., 238, 240, 284 f., 363, 365, 392, 431 f., 564, 591 Diagnostik 319, 329, 334, 383, 537, 539, 549 Didaktik 99, 114, 165, 194, 199, 244, 247, 265, 272, 291, 340, 384, 388, 393 f., 413 f., 544, 559, 571 Differenz 77, 111–113, 369, 400, 402, 407 f., 412 Diskriminierung 198, 369 Diskurs 105, 125, 272 f., 290, 297, 299 f., 304 f., 307, 311, 363, 485 f. ––deskriptiver 272 f., 279, 291 ––explikativer 272 f., 276, 290 ––normativer 272 f., 283 Diskursanalyse 123, 132 f., 272, 290, 313, 564 f., 572, 575 Distinktion ––soziale 167, 483
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Sachregister
E Empirie 48 f., 63, 133, 165, 277–279, 282 f., 298, 421, 469–471, 500, 509, 523, 530, 539, 545, 567, 575, 589 Entwicklung ––kognitive 3 f., 7, 13, 17 f., 35, 410, 510, 535 Erfolg ––schulischer 80, 338, 362 f., 368 f., 371, 384, 421, 444, 478, 492, 500 Erklären 72, 84, 92 f., 96, 215, 309 f., 349, 468, 576 Erzählfähigkeit 83 Erziehung 6, 72, 82, 85, 164 f., 169, 183–185, 187, 189, 193, 198–201, 241, 253 f., 257 f., 261–263, 266 f., 412 Erziehungswissenschaft 255, 263 ––kritische 244, 261 f., 268, 415 F Fachdidaktik 462, 472 Fachsprache 205, 209–211, 214, 219, 222, 384, 394, 431, 463 f., 471 Fachunterricht 452 ––sprachsensibler 214, 217, 375 f., 380, 395, 474, 494, 506, 514 Fähigkeit ––kognitive 6, 12, 51, 55, 423, 445, 453, 455, 529, 535, 537 ––sprachliche 26, 218, 249, 305, 338, 437, 479, 482, 491, 493, 495, 505 f., 523, 526, 528, 530, 532, 534 Familie 8, 48, 58, 63, 68, 72, 81, 83, 87, 93, 100, 102, 136, 254, 259, 336, 368 Family Literacy 48, 59–62 Feedback 346, 349, 352, 354, 357, 383, 566 FörMig 362, 480, 483, 495, 505 Forschungsmethode 48–50, 57, 63, 283, 298, 329, 348, 421, 524 Frage 61, 72, 83 f., 92, 303, 309, 346, 349, 352 f., 357, 566, 574, 580 Fremdsprache 5, 137, 172, 174 f., 445, 530 Fremdsprachenunterricht 223, 445, 447, 450, 452, 455 G Gender Awareness 247 Gesellschaft 5, 71, 85, 99, 111, 118, 127 f., 244–246, 254, 260–262, 297, 299, 306, 403 f., 407, 421, 447, 462, 507, 590
Gespräch 69 f., 75, 85, 87, 94 f., 124, 130, 133, 333, 391, 393, 430 f., 564, 569, 572, 580, 583, 592 Grammatik 25, 30, 40 f., 165, 167, 171, 173, 175, 178, 231–233, 240, 255, 304, 423, 575 Griechisch 74, 163, 166 f., 170, 174, 177 f., 231, 238 Grundbildung ––naturwissenschaftliche 51, 214, 279, 462 f., 465–468, 474 H Habitus 69, 71, 111, 122, 130 Herkunft ––soziale 58, 68, 74, 77, 80, 164, 245, 373, 481, 544, 556–558 Herkunftssprache 369, 503 f., 514, 517 Heterogenität 362, 371 f., 500, 523 ––sprachliche 99, 117, 375, 381, 404, 474, 500–503, 505, 512, 514, 516, 518 I Identität 122, 125 f., 128–137, 406 f. Identitätsentwicklung 126–128, 134–136 Ideologie 125, 246 f., 253, 262, 300, 302 Immersion ––duale 444, 447, 457 Immersionsunterricht 18, 444–447, 450, 452, 457 Inklusion 373, 400 f., 404, 407, 411 Integration 29, 285, 297, 370 f., 406 f., 450, 514, 519 Intelligenz 12 f., 51, 246, 523 f., 526–530, 535 f., 547–549 ––fluide 6, 12, 524, 526, 529, 531 f., 536, 539 ––kristalline 13, 525 f., 528 f., 539 Interaktion 88 ––lehrerzentrierte 564, 574, 577, 580, 590 ––schülerzentrierte 564, 570, 580, 590 ––sprachliche 14, 91, 93, 126, 131, 298, 301, 346 f., 351, 376, 491, 566, 590 f. ––verfahrensgeregelte 564, 570, 583, 588, 590 Interaktionismus ––symbolischer 126–128, 131 J Jugendlicher 100, 253, 421, 426 f., 433, 438, 556
Sachregister
K Kapital ––kulturelles 80, 368, 483 Kindes- und Jugendalter 8, 14, 50, 54, 102, 122, 134–136, 201, 319, 321, 328 Kommentar 73, 82, 274, 290 Kommunikation 17, 32, 55, 59, 68 f., 76 f., 81, 84, 87–91, 93, 99, 125, 127, 137, 166, 205, 214, 219, 244, 256, 291, 298, 300, 319, 323, 336, 346, 349, 390, 393, 416, 423, 428, 430, 450, 462–465, 468 f., 484–486, 572 Kommunikationsanalyse 330, 347 f., 357, 571 Kommunikationskompetenz 423–425, 450 ––fachliche 205, 215, 220, 224, 250, 384, 394, 462 f., 465, 467 f., 474 Kommunikationsqualität 351, 357 Kompetenz 6, 51 f., 77 f., 156, 163, 169, 174, 247, 278 f., 288, 297, 306, 311, 364, 376, 380, 384, 391, 394, 423 f., 469, 495, 529, 545, 552 Kompetenzanforderung 421, 425, 441 Konfessionalisierung 163, 232 Konstruktivismus 123, 130, 325, 347, 386, 414 f. Konversationsanalyse 129, 348, 564, 568 f., 575 Konzepterwerb 3, 14, 19, 327 Kritik 190, 196, 229, 241, 244, 257, 297, 306, 308 Kultur 26, 29, 44, 72 f., 99, 108, 111, 183, 188, 276 f., 289, 403, 407, 523, 537, 545 L Language Awareness 515–517 Latein 74, 163, 166–168, 170–180, 231, 235, 237 f. Legasthenie 547–549, 559 Lehrerhandeln 478, 494, 509, 589 Lehrwerk 150, 152, 154, 179, 184, 188, 224, 307 Leistung ––kognitive 246, 482 f., 528 f., 535 ––sprachliche 380, 385 f., 388, 390, 392, 445, 527 f., 535 Leistungsbewertung 376, 380, 382, 386 f., 392, 395 f., 592 Leistungsmessung 276–278, 282, 388, 528 Leistungsverständnis ––erweitertes 380, 383 Lernbereich 220, 229, 238, 278, 288 f., 364 f., 370, 393, 505
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Lernchance 346, 348–350, 357 Lernerfolg 51, 346, 352, 357, 535 Lesekompetenz 48 f., 56, 279 f., 436, 466, 469, 529, 535, 550–552, 554 f., 557 f. Lesemotivation 48 f., 55 f., 59, 62, 429, 544, 554, 560 Lesen ––Kompetenzstufe 280 f., 550–552, 554 Lese-Rechtschreibschwäche 544 f., 547 f., 559, 561 Lese-Rechtschreibschwierigkeit 544, 547, 549 Lese-Rechtschreibstörung 547–549 Lesesozialisation 56, 58 f., 62, 554 Lesestrategie 48, 56 f., 221, 436, 560 Leseverstehen 52, 54, 454, 532 Lexik 25, 37, 40 f., 209 f., 220, 488 Lexikon 304, 322, 329 ––mentales 321 f., 326–328, 333, 337, 341 Linguizismuskritik 113 f. Literalität 59, 61, 76–78, 116, 279, 303 M Majoritätssprache 445–447 Mehrsprachigkeit 4, 18, 99, 105–107, 115–117, 136–138, 166, 372, 375, 411, 432, 444 f., 456, 480, 507 ––migrationsbedingte 99 f., 103, 109–112, 493 Mehrsprachigkeitsdidaktik 114, 116, 500, 507, 509 Metakognition 4, 16, 57, 560 Metaphorik 38 f., 188, 192–195, 202, 211, 266, 274 f., 277, 290 Milieu ––soziales 68, 70 f., 80, 83, 86, 90, 92 f. Minoritätssprache 445, 458 MoBi-Studie 453, 458 Modell ––didaktisches 99, 114, 116, 283, 413, 500, 505 Multikodalität 141, 149, 151 Mündlichkeit 45, 52, 63, 77, 82, 231 f., 247, 300, 336, 428, 486 O Ontogenese 26, 32, 41, 45, 131, 134, 142 Orthographie 231, 234 f., 532, 545, 560 P Pädagogik ––geisteswissenschaftliche 259–262, 412, 415
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Sachregister
Phylogenese 26 f., 32, 41, 45, 131, 141 Physikunterricht 210, 214, 216, 350, 394, 472 Pictorial Turn 141 f. PISA 49, 55 f., 74, 77, 80, 115, 279, 291, 368, 411, 501, 504, 545 f., 551, 554, 556, 559 Politik 254 f., 268, 272, 275, 400 Postmoderne 122, 131 f., 136, 411 Pragmatik 413 ––funktionale 27, 42, 299 f., 304, 564, 570 f., 576 Programmatik ––didaktische 283, 287, 291 Prototypentheorie 35, 324 f. Prozessbewertung 387 R Redeanteil 347, 349 f., 352, 357 Rhetorik 142, 163–165, 167, 169 f., 232, 274, 289 S Scaffolding 82, 87, 115, 375, 450, 512–514 Schrift 30, 44, 53, 57, 63, 142, 300 Schriftlichkeit 53, 78, 166, 174, 231 f., 234 f., 243, 247, 545 ––konzeptionelle 77, 88, 91, 336, 486, 545 Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit 44 f., 166, 174, 336, 390, 435, 486 Schule 3, 60, 87, 91, 95, 114, 165, 167–169, 171–173, 180, 183 f., 195, 197, 202, 242, 255, 257 f., 260, 264, 272, 277, 283, 286, 302, 336, 338, 362 f., 365, 368, 391, 412, 444, 457, 483, 573, 589 ––nationale 112, 117 Schulleistung 456 f., 529 Schulsprache 18, 183, 186 f., 190, 192, 195, 197, 199 f., 362 f., 384, 395 Schulsystem 163, 197, 366, 408, 410, 534, 555 Selbststeuerung 3 f., 12, 15 f., 19 Semantik 35, 38 f., 165, 168, 324, 326 Sonderpädagogik 334, 400 f., 408 Sozialisation 48, 50, 52, 57, 68, 80, 82, 128, 245 Sprachbildung 10, 166, 222, 245, 505 f. ––durchgängige 374–376, 385, 500, 502, 505, 507 Sprachcode. s.a. Code Sprachdiagnose 319 f., 332, 338 f., 424 Sprachdidaktik 311, 400, 412–414
Sprache 3–5, 11–13, 15–17, 29 f., 32, 34, 36, 39–41, 48, 50, 52 f., 57, 63, 68, 70, 74, 77, 88, 99, 105, 107–114, 118, 122–124, 126, 128, 130 f., 133–135, 141, 145, 155, 163–165, 170, 175 f., 178 f., 183, 187, 189, 192, 201, 205 f., 208, 229–233, 237–239, 244 f., 247, 249, 253, 256, 292, 297 f., 301 f., 304, 311, 319, 322, 327, 336 f., 340, 357, 362, 364 f., 368, 371, 380, 392, 394, 400–403, 409, 421, 438, 451, 454, 462, 465 f., 468 f., 471, 475, 510, 523, 528, 535 f., 544, 561 ––deutsche 91, 111, 173, 231 f., 235 f., 240 Sprachenlernen 136, 445, 456 Spracherwerb 3, 5, 8 f., 12, 14, 26, 29, 34, 37, 39, 42, 81, 87, 99, 135 f., 230, 237, 319, 321, 329, 370, 412, 526, 535, 538, 549 Sprache und Denken 7, 71, 104, 215, 220, 501, 510 Sprachförderung 9, 60, 62 f., 117 f., 221, 246, 250, 362, 369 f., 372, 375, 409, 421, 436 Sprachgebrauch 32, 34, 37–39, 44, 100, 102 f., 109, 116, 133, 168, 199, 223, 312, 363, 421, 424, 427, 450, 456, 479 f., 483, 485 Sprachkompetenz 8, 17, 37, 40, 43, 52, 63, 106, 109, 132, 135, 212, 249, 362, 403, 421–424, 433, 451, 523 Sprachmischung 100, 103 f., 472 Sprachpädagogik 400, 408, 411 Sprachphilosophie 174 f. Sprachpraxis ––familiäre 59, 68, 81, 84, 86 f., 91, 93, 478, 491, 544, 557 Sprachwissen 301–303, 305 Sprechhandlung 300, 304, 309 f., 313, 571 T Technolekt 124, 222 Terminologienormung 207 Testfairness 536 Text 43 f., 54, 82, 88, 141, 143, 145, 300, 307, 313, 387, 393, 428 Text-Bild-Kombination 145, 152 f. Textualität 25, 43 Textverstehen 43, 48, 52, 54 f., 57, 62, 83, 466, 550 f., 560 Theory-of-Mind 4, 8, 15 Traktat 276 Transfereffekt 18, 454 Translanguaging 116, 514
Sachregister
U Unterricht 50, 76 f., 89, 91, 94 f., 104, 118, 141, 150 f., 167, 171, 179, 183 f., 187, 193 f., 214, 230, 233, 236–239, 242, 245, 255, 259, 264, 292, 307, 338, 340, 346, 364 f., 368, 391, 413, 446 f., 450, 454, 470, 472 Unterrichtskommunikation 68, 87, 89 f., 242, 245, 346 f., 349 f., 353, 564, 566 f., 571, 588 Unterrichtsqualität 279, 451, 462 f., 470 f., 474, 515 Unterrichtssprache 11, 179, 187, 200, 215, 305, 347, 363 f., 369, 371, 445, 458, 504, 512 V Verstehen 44, 76, 81, 123, 141 f., 149, 216, 233, 240, 247, 281, 310, 313, 328, 333, 510, 530, 545 Vulnerabilität 400, 402, 407 f., 412 W Wissen 3, 15 f., 28, 44 f., 70–72, 75 f., 81 f., 95, 103, 110, 123, 144, 169, 225, 230 f., 242,
599
245, 289, 297–299, 301 f., 306 f., 309–313, 319, 326 f., 336, 400, 414, 421 f., 444, 462, 466, 482, 485, 510, 525, 527, 529, 532, 536, 589 Wissenschaftssprache 11, 30, 207, 219, 222, 273, 305 Wissenserwerb 12, 28, 33, 48, 53, 55, 84, 103, 302, 307, 312, 319, 341, 380 f., 396, 400, 414, 468, 471 f., 525, 535 Wortschatz 14, 88, 231, 239, 319–321, 338 f., 454, 464, 533 Z Zeichenbildung 32, 40 Zeit 263 f. Zweitsprache 103, 106, 109 f., 137, 370, 444 f., 455, 509 Zweitspracherwerb 8, 18, 109 f., 371, 444, 446 f., 450, 482, 511, 517