Handbuch psychoanalytisch-interaktionelle Therapie: Behandlung von strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen [3 ed.] 9783525401606, 9783647401607, 3525402465, 9783525402467

Der mit der psychoanalytisch-interaktionellen Methode arbeitende Therapeut bietet sich dem Patienten als ein erreichbare

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German Pages 280 [240] Year 2014

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Handbuch psychoanalytisch-interaktionelle Therapie: Behandlung von strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen [3 ed.]
 9783525401606, 9783647401607, 3525402465, 9783525402467

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Ulrich Streeck / Falk Leichsenring

Handbuch psychoanalytischinteraktionelle Therapie Behandlung von Patienten mit strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401606 — ISBN E-Book: 9783647401607

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40160-6

c 2009 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de  Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu §52a UrHG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: PTP-Berlin, Protago TEX-Production GmbH (www.ptp-berlin.eu) Druck und Bindung: A Hubert & Co GmbH und Co KG, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Zu diesem Handbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wegweiser durch das Handbuch . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Gebrauch des Handbuches . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode . . . . . . . Zur Entwicklung der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benachbarte Therapiemethoden . . . . . . . . . . . . . . . .

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Strukturelle Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik Die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung . . . . . Aufklärung des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufklärung des Patienten über die Diagnose . . . . . . Aufklärung des Patienten über die Behandlung . . . . . Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwerpunkt der Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . Suizidales und selbstverletzendes Verhalten . . . . . . . Umgang mit Medikamenten . . . . . . . . . . . . . . . Therapie außerhalb der Therapiezeiten . . . . . . . . . Dauer der Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausfall von Stunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Honorarfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstehen Patient und Therapeut die vereinbarten Bedingungen gleich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modifikationen des Rahmens im Verlauf der Therapie . . Die Vereinbarung verbindlicher Rahmenbedingungen misslingt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ringen um Rahmenbedingungen als Therapie . . . . . . . Die Haltung des Therapeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . Beziehungsstörungen im therapeutischen Gespräch . . . . . Zur Manifestation struktureller Beeinträchtigungen im therapeutischen Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Erleben von Beziehungen (Objektbeziehungen) . . . . . Stabilität von Beziehungen (Beziehungskonstanz, Objektkonstanz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstwahrnehmung und Selbstregulierung in interpersonellen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmen und Ausdruck von Gefühlen . . . . . . . . Psychische und interpersonelle Abwehr . . . . . . . . . . Gewissen und Idealansprüche . . . . . . . . . . . . . . . Antizipation der Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlungsimpulse, Befriedigungsaufschub und Frustrationstoleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regression und interpersonelle Beziehungen . . . . . . . Die Behandlungstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der antwortende Modus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutungen und Alltagsgespräche . . . . . . . . . . . . Antworten und Alltagsgespräche . . . . . . . . . . . . Antwortende Interventionen und Toleranzgrenzen . . . Antworten und die therapeutische Arbeit an und mit Gefühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum antwortenden Umgang mit Idealisierungen . . . Antworten und Antizipation habituellen Verhaltens . Antworten und das Primat der Progressionsorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . Motivation zur Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Funktionen von Interventionen im antwortenden Modus . . . . . . . . . . . . . . . . Der Therapeut als realer und als virtueller Interaktionsteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum therapeutischen Umgang mit Affekten . . . . . . . . Wahrnehmung und Differenzierung von Gefühlen . . . Ausdruck von Gefühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum therapeutischen Umgang mit nichtsprachlichem Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Primat der Selbstregulierung . . . . . . . . . . . . . . Besondere therapeutische Probleme . . . . . . . . . . . . . Schweigen des Patienten und Initiative zum Kontakt . . Schweigen während der Behandlung . . . . . . . . . . . Affektives und impulsives Verhalten . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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Negative Übertragungen . . . . . Suizidalität . . . . . . . . . . . . . Zum Umgang mit Träumen . . . Zur Beendigung der Behandlung

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoanalytisch-interaktionelle Arbeit in der Gruppe . . . Die Grundeinheit sozialer Interaktion . . . . . . . . . . . Konzepte zum Verständnis von Mehr-Personen-Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Definition der Situation . . . . . . . . . . . . . . . Die Grundregel für die Gruppe und die Offenheit der Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Explizite und implizite Situationsdefinitionen . . . . . . Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktionsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbereitung der Patienten auf die Gruppentherapie . . . Das Vorgespräch für die Gruppentherapie . . . . . . . . Der Nutzen von Gruppentherapie . . . . . . . . . . . . Die Grundregel für die therapeutische Arbeit in der Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modifikationen der Grundregel für besondere Patientengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick auf die bevorstehende Gruppenbehandlung . Zur Rolle des Gruppentherapeuten . . . . . . . . . . . . Gruppe ohne Gruppentherapeut . . . . . . . . . . . . . Verpflichtung zur Verschwiegenheit . . . . . . . . . . . Wie hat der Patient die Hinweise des Gruppentherapeuten verstanden? . . . . . . . . . . . . . Haltung und Aufgaben des Therapeuten in der Gruppe Zur therapeutischen Technik in der Gruppenbehandlung . . Der antwortende Modus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erläuterungen zu grundlegenden Aspekten interpersoneller Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . Schwerpunkte der therapeutischen Arbeit in der Gruppe . . Explizite und implizite Themen . . . . . . . . . . . . . . . Wie wird die aktuelle Situation definiert? . . . . . . . . .

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Inhalt

Geltungsansprüche normativer Erwartungen . . . . . . . . Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beziehungserleben und Beziehungsgestaltung (Objektbeziehungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komplikationen in der Gruppentherapie . . . . . . . . . . . Gefährdungen des Rahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . Normen in der Gruppe, die Entwicklung behindern . . . Häufiger Wechsel von Gruppenteilnehmern . . . . . . . . Sozial ängstliche Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wiederkehrende interpersonelle Probleme in der Gruppe In Kontakt treten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aggressivität und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Toleranzgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionale Nähe und Intimität . . . . . . . . . . . . . Gleichheit und Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . Trennung und Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Psychotherapie bei strukturellen Störungen: Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Aus- und Weiterbildung in der psychoanalytisch-interaktionellen Methode . . . . . . . . . 217 Checkliste für Therapeuten und Rater . . . . . . . . . . . . 219 Globale Einschätzung der Kompetenz des Therapeuten durch Rater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Globale Einschätzung der Schwierigkeiten, die der Patient dem Therapeuten bereitet hat . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Ergänzende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

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Zu diesem Handbuch

Dem vorliegenden Handbuch der psychoanalytisch-interaktionellen Methode liegen Erfahrungen aus über drei Jahrzehnten klinisch-psychotherapeutischer, psychiatrischer und psychoanalytischer Tätigkeit in der Versorgung von Patienten zugrunde, die überwiegend unter beeinträchtigten und vernachlässigenden, oftmals auch gewalttätigen und traumatisierenden Verhältnissen aufgewachsen sind und die in ihrer Entwicklung – wenn überhaupt – nur sehr eingeschränkte Erfahrungen mit ausreichend guten Beziehungen haben machen können, deshalb grundlegende Funktionen der Selbst- und Beziehungsregulierung nicht oder nur bedingt haben entwickeln können und oftmals am sozialen Leben nur am Rande teilnehmen. Das Handbuch wendet sich an Psychotherapeuten, Psychiater, Kinder- und Jugendpsychiater, Suchtkrankentherapeuten, Pflegepersonal in der Psychiatrie und Psychotherapie, aber auch an Angehörige anderer sozialer Berufe, die mit diesen Patienten und Klienten zu tun haben. Im Mittelpunkt stehen neben diagnostischen Gesichtspunkten die behandlungstechnischen Mittel, die die psychoanalytischinteraktionelle Methode kennzeichnen, in erster Linie die Haltung, mit der der Therapeut an der Beziehung zu dem Patienten teilnimmt, sowie der sogenannte antwortende Modus, der die Art und Weise charakterisiert, wie der Therapeut das Gespräch mit dem Patienten und die therapeutische Beziehung gestaltet.

Wegweiser durch das Handbuch Die Gliederung des Handbuches lehnt sich an die Abfolge der Schritte an, wie sie auch in der klinischen Praxis aufeinander folgen. Der erste Teil beginnt mit Hinweisen zur Vorbereitung des Patienten auf die bevorstehende Behandlung nach Abschluss der diagnostischen Untersuchungen; zur Vorbereitung des Patienten

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Zu diesem Handbuch

gehören die Aufklärung über die Diagnose und über die bevorstehende Behandlung sowie die Vereinbarung von Rahmenbedingungen, die möglichst individuell auf den einzelnen Patienten und dessen jeweilige Problematik abgestimmt werden. Daran anschließend wird dargestellt, wie sich die strukturellen Störungen, insbesondere die Beeinträchtigungen der interpersonellen Beziehungen, in den Äußerungen und Erzählungen des Patienten und in der therapeutischen Beziehung selbst zeigen; dabei sollen Leitfragen dem Therapeuten die diagnostische Orientierung im Gespräch mit dem Patienten erleichtern. Schließlich werden die besonderen therapeutischen Techniken der psychoanalytisch-interaktionellen Methode ausführlich beschrieben, und anhand von Beispielen aus dem klinischen Alltag wird dargestellt, wie interpersonelle Beziehungen in der Behandlung in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden und wie und auf welchen Wegen der Patient es erreichen kann, seine interpersonellen Beziehungen und sich selbst stabiler zu regulieren und sich in seiner sozialen Lebenswelt sicherer zu verankern. Dem schließt sich das Kapitel zur psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie an; dabei wird in dem Teil zur therapeutischen Arbeit in der Gruppe auf die vorangegangenen Kapitel Bezug genommen. Das Handbuch beschließen Hinweise zum aktuellen Forschungsstand sowie eine ursprünglich für Forschungszwecke entwickelte Checkliste für Rater, die sich aber auch zur Selbstkontrolle für praktizierende Psychotherapeuten anbietet.

Zum Gebrauch des Handbuches Das Handbuch soll den Psychotherapeuten bei der Anwendung der Behandlungsmethode in der täglichen klinischen Praxis unterstützen. Zweifellos gewährleistet die genaue Kenntnis eines Handbuches oder Manuals noch nicht, dass die Behandlung, die der Therapeut durchführt, für diesen Patienten auch hilfreich ist. Eine psychotherapeutische Behandlung lässt sich nicht in der Weise realisieren, dass in einem Manual zusammengefasste Hinweise an einem Patienten ausgeführt werden. Kein Manual kann einem Psychotherapeuten die Fähigkeit vermitteln, sich in seinen Patienten einzufühlen und sich vor Augen zu führen, wie dieser Patient in diesem Moment

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Zum Gebrauch des Handbuches

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vermutlich erlebt und fühlt und wie es für diesen Patienten in dieser Sequenz vermutlich sein wird, wenn er als Therapeut sich in dieser Situation so oder anders verhalten und sich in dieser oder jener Weise äußern wird. Das aber ist für jede Therapie, die einem Patienten nicht nur übergestülpt wird, eine wichtige Voraussetzung. Psychotherapie ist ein Gespräch, ist soziales Handeln, und es gibt kein Manual, das die Fähigkeit vermitteln könnte, ein Gespräch zu führen. Zwar kann eine Sprache gelernt werden, aber die Kenntnis der Sprache gewährleistet noch nicht die Fähigkeit, ein Gespräch zu führen. Und wenn ein Sprecher ein Gespräch so führen würde, wie ein Manual das empfehlen könnte, wäre er noch kein kompetenter Gesprächsteilnehmer. Ein Handbuch kann und soll auch das Lernen mittels Supervision nicht ersetzen. Die Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Psychotherapeuten dürfte wohl in allen Therapieformen das wichtigste Lernmedium sein. Gleichwohl sollte der Nutzen eines Handbuches auch nicht unterschätzt werden. Psychotherapeuten, die die psychoanalytischinteraktionelle Methode erlernen oder mit der Methode bereits arbeiten, wird empfohlen, die entsprechenden Kapitel wieder und wieder zu lesen, wenn sich ihnen in ihrer praktischen Arbeit oder in der Supervision Fragen stellen. Je weiter sie sich in den Text vertiefen und das Gelesene mit ihren praktischen Erfahrungen verknüpfen, desto häufiger werden sie feststellen, dass sich die Hinweise in dem Handbuch für die praktische Arbeit oftmals wie selbstverständlich aus den Besonderheiten struktureller Beeinträchtigungen des Patienten und aus den Anforderungen der Behandlung selbst ergeben. Am Ende der meisten Kapitel findet sich eine kurze Zusammenfassung (»Merke«) einiger wichtiger, in dem Kapitel behandelter Hinweise. Sie ersetzen nicht die Lektüre des gesamten Kapitels, können aber dem Psychotherapeuten, der mit der Methode arbeitet, als Erinnerungsstütze dienen.

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode

Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie ist eine entwicklungsorientierte psychotherapeutische Methode für die Behandlung von Patienten mit sogenannten strukturellen Störungen und Persönlichkeitsstörungen. Mit der Zusammenführung der Begriffe »psychoanalytisch« auf der einen und »interaktionell« auf der anderen Seite in der Bezeichnung »psychoanalytisch-interaktionelle Methode« wird zum Ausdruck gebracht, dass die Störung der Patienten psychodynamisch verstanden wird, die Therapie aber auf interaktives Geschehen und auf interpersonelle Beziehungen ausgerichtet ist. Der Schwerpunkt liegt in der Behandlung nicht vorrangig auf der intrapsychischen Welt des Patienten und auf unbewusstem Erleben, sondern im Vordergrund stehen die Schwierigkeiten des Patienten, sich selbst und seine zwischenmenschlichen Beziehungen zu regulieren und zu gestalten. Dementsprechend führt der Weg zu psychischer Stabilisierung hier zuvorderst über eine Verbesserung der Möglichkeiten des Patienten, am sozialen Leben teilzunehmen. In diesem Sinne kann die moderne psychoanalytisch-interaktionelle Therapie auch als eine »Beziehungstherapie« verstanden werden. Während psychotherapeutisches Handeln meist auf den seelischen Zustand des Patienten ausgerichtet ist, ist die therapeutische Arbeit in der psychoanalytisch-interaktionellen Methode vorrangig auf das Selbst des Patienten im Kontakt mit anderen, seine soziale Lebenswelt und auf die Fähigkeit eingestellt, reziproke interpersonelle Beziehungen zu gestalten und mitzugestalten. Die immense Bedeutung einer ausreichend sicheren Verankerung in der sozialen Lebenswelt sowohl für die psychische wie für die physische Gesundheit ist unstrittig. Nicht nur bedarf es relativer psychischer Stabilität für das Zusammensein mit anderen, sondern ausreichend gute und verlässliche zwischenmenschliche Beziehungen sind auch der sicherste Garant für relative seelische Gesundheit. Darin ist die psychoanalytisch-interaktionelle Methode entwicklungsorientiert. Im Vordergrund steht das Bemühen um Förderung der Möglichkeiten des Patienten, ausreichend befriedigende interpersonelle Beziehungen zu gestalten und sich in seiner sozialen

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode

Lebenswelt tragfähiger zu verankern, über die er aufgrund schwieriger Bedingungen in seiner Entwicklung bis dahin nicht oder nur eingeschränkt verfügt. Die durchgängige Ausrichtung der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie auf die soziale Lebenswelt des Patienten und auf die Schwierigkeiten, sich mit seiner Umwelt in ein von Wechselseitigkeit bestimmtes Verhältnis zu setzen, geht mit einer spezifischen Handhabung der therapeutischen Beziehung einher. Die therapeutische Beziehung wird hier genutzt, um dem Patienten sein Erleben und Verhalten in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen und die Art und Weise, wie er diese Beziehungen mitgestaltet, transparent und verständlich werden zu lassen. Damit ist verbunden, dass sich die therapeutische Arbeit in großer Nähe zur sozialen Alltagswelt des Patienten bewegt. Das trägt dem Umstand Rechnung, dass Patienten mit strukturellen Störungen über grundlegende Fähigkeiten und Funktionen der Selbst- und der Beziehungsregulierung, die die Teilnahme an und die Gestaltung von interpersonellen Beziehungen möglich machen, die von Reziprozität und wechselseitiger Anerkennung bestimmt sind, nicht oder nur bedingt verfügbar sind. Die oft äußerst schwierigen Umstände in der Entwicklung der Patienten, die häufig von vernachlässigenden, emotional höchst kargen, manchmal misshandelnden und traumatisierenden Beziehungserfahrungen bestimmt waren, haben tiefe Spuren in der Persönlichkeit und deren Struktur hinterlassen. Dass es den Patienten in der Folge nicht oder nur schwer möglich ist, an einer sozialen Welt teilzunehmen, in der das Zusammensein mit anderen zugleich von Wechselseitigkeit und Selbstbestimmung geprägt ist, gehört vielleicht zu den gravierendsten Folgen der schwierigen Bedingungen, die ihre Entwicklung begleitet haben. Sie sind, wenn überhaupt, nur eingeschränkt in der Lage, die Perspektive der anderen zu übernehmen, um von einem dritten Standort aus auf sich selbst zu blicken und sich selbstreflexiv mit dem eigenen Erleben und Verhalten oder mit einem interpersonellen Geschehen, an dem sie selbst gerade beteiligt sind, auseinanderzusetzen. Diese Fähigkeit, die Perspektive der anderen zu übernehmen, ist ein für das soziale Leben so grundlegendes, aber im Alltag meist auch als so selbstverständlich vorausgesetztes Können, dass leicht übersehen wird, wie schwierig sich das Zusammensein mit ande-

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Zur Entwicklung der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie

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ren gestaltet, wenn das nicht oder nur bruchstückhaft möglich ist. Mit ihrer spezifischen Ausrichtung auf zwischenmenschliche Beziehungen und der Fokussierung auf das Selbst im Zusammensein mit anderen, auf interpersonelle Beziehungen und Interaktion und auf den engen Zusammenhang von Selbst- und Beziehungsregulierung unterscheidet sich die psychoanalytisch-interaktionelle Methode von anderen aus der Psychoanalyse hervorgegangenen Behandlungsmethoden. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie ist seit ihren Anfängen im Feld der klinischen Versorgung schwer gestörter Patienten verankert. Seit den 1970er Jahren wird die Methode in der klinisch-stationären Versorgung – in erster Linie von strukturell gestörten Patienten – erfolgreich eingesetzt, anfangs als Therapie in der Gruppe. Seither wurde die Methode vor dem Hintergrund vieljähriger klinischer Erfahrungen mit strukturell gestörten Patienten ständig weiterentwickelt. Sie stützt sich auf Erfahrungen und psychodynamische Konzepte, die ihren Ursprung in der Psychoanalyse haben und die zu einem Teil für die besonderen Bedingungen strukturell gestörter Patienten adaptiert wurden, oder auch auf Erkenntnisse, die in Nachbargebieten, für die soziales Alltagsleben und damit Interaktion und Interpersonalität zentrale Themen sind, gewonnen wurden. Die moderne psychoanalytisch-interaktionelle Methode wird als Einzel- und als Gruppentherapie im ambulanten wie im stationären Bereich eingesetzt.

Zur Entwicklung der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode hat ihre Entwicklung vom Krankenhaus Tiefenbrunn aus genommen, einer im Jahr 1903 gegründeten psychiatrischen Klinik mit psychotherapeutischem Schwerpunkt. Die Klinik Tiefenbrunn hatte von 1949 an die Aufgabe, komplementär zu den psychiatrischen Landeskrankenhäusern in Niedersachsen die psychotherapeutische Versorgung von Patienten im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter zu übernehmen, die psychiatrisch krank waren, die mit den in der damaligen

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode

Psychiatrie zur Verfügung stehenden Mitteln jedoch nicht ausreichend behandelt werden konnten und für deren therapeutische Versorgung psychotherapeutische Mittel erst entwickelt und erprobt werden mussten. Weder waren die traditionellen psychiatrischen Kliniken für diese Aufgabe eingerichtet, noch standen für diese Patientenklientel geeignete psychotherapeutische Methoden schon zur Verfügung. Zwar hat es Mitte des vorigen Jahrhunderts vereinzelte Versuche gegeben, Patienten, deren Störungen sich hinter Diagnosen wie Psychopathie, Soziopathie oder abnorme Persönlichkeit verbargen, psychoanalytisch zu behandeln, dennoch war die Behandlung psychiatrisch kranker Patienten mit psychotherapeutischen Mitteln ein zu dieser Zeit noch weitgehend unbearbeitetes Gebiet. Um für diese Aufgabe nutzbringend eingesetzt werden zu können, mussten Konzepte und therapeutische Techniken, die mit der Psychoanalyse – die Mitte des vorigen Jahrhunderts einzige entwickelte Therapiemethode – verbunden waren, an die spezifischen Anforderungen, die der therapeutische Umgang mit dieser schwer gestörten psychiatrischen Patientenklientel stellte, deren Beeinträchtigungen sich überwiegend als interpersonelle Störungen zeigen, angepasst und zu diesem Zweck teilweise weitgehend verändert werden. Das wiederum stieß auf beiden Seiten auf skeptische Zurückhaltung, wenn nicht Ablehnung, bei Psychiatern ebenso wie bei Psychoanalytikern. Viele Psychiater standen der Psychoanalyse ablehnend, gelegentlich sogar feindselig gegenüber und widersetzten sich jeglichen Bemühungen, psychoanalytische Erkenntnisse für die Behandlung ihrer Patienten zu nutzen. Auf der anderen Seite betrachteten einflussreiche Vertreter der Psychoanalyse sämtliche Anstrengungen, psychoanalytische Konzepte und Behandlungstechniken mit Blick auf diese Patientengruppen zu modifizieren, als fragwürdiges Unternehmen, das eine als »richtig« oder »eigentlich« verstandene Psychoanalyse zu verzerren und zu verwässern drohte. Aus ihrer Sicht hatte sich die Psychoanalyse um die Erforschung des Unbewussten zu kümmern; therapeutische Aufgaben wurden demgegenüber als sekundär betrachtet und dem Aufgabenspektrum von Psychotherapie zugerechnet, nicht dem der Psychoanalyse. »Angewandte Psychoanalyse« – so die Bezeichnung, die Psychoanalytiker, die die klinische Versorgung psychisch schwer beeinträchtigter Patienten als ihre Aufgabe ansahen, für ihr Aufgabenfeld verwendeten – galt manchen Reprä-

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Benachbarte Therapiemethoden

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sentanten der Psychoanalyse oftmals als verdächtig (vgl. Mentzos, 2006). Die ebenso schwierige wie anspruchsvolle Aufgabe, von psychoanalytischen Erfahrungen und Erkenntnissen in einer Weise Gebrauch zu machen, dass auch in ihrer Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigte, psychiatrisch kranke Patienten davon würden profitieren können, brachte Heigl und Heigl-Evers (1983) in den 1970er Jahren in der Klinik Tiefenbrunn dazu, eine an der Psychoanalyse orientierte Gruppentherapie zu entwickeln, die für die Behandlung von Patienten mit sogenannten strukturellen Störungen günstige Entwicklungsbedingungen bot.

Benachbarte Therapiemethoden In den letzten Jahren haben sich der psychoanalytisch-interaktionellen Methode zwei weitere aus der Psychoanalyse entwickelte Methoden zur Seite gestellt, die übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP; Clarkin et al., 2006) und das Mentalization Based Treatment (MBT; Bateman und Fonagy, 2004; Bolm, 2009), beide speziell für die Behandlung von Patienten mit Borderline-Störungen entwickelt. Wie die psychoanalytisch-interaktionelle Methode sind beide Methoden von der Erfahrung bestimmt, dass für die Behandlung von Borderline-Patienten mehr oder weniger weit reichende Modifikationen unverzichtbar sind. Die übertragungsfokussierte Psychotherapie bewegt sich sowohl in ihrer Auffassung von der therapeutischen Beziehung und deren nützlicher Handhabung wie in ihrer Auffassung von therapeutisch wirksamen Techniken und Strategien nahe an der Psychoanalyse. Die Borderline-Störung wird als Folge verinnerlichter pathologischer Beziehungserfahrungen verstanden. In dieser Hinsicht besteht Übereinstimmung mit der Auffassung von der Genese struktureller Störungen, wie sie auch in Zusammenhang mit der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD; 2006) verstanden wird. Auch in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie werden strukturelle Störungen als Folge der Verinnerlichung beeinträchtigender, vernachlässigender oder traumatisierender Beziehungserfahrungen verstanden, die – wie im Rahmen der OPD beschrieben –

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode

zu strukturellen Störungen geführt haben mit der Folge, dass den Patienten wichtige Funktionen der Selbst- und der Beziehungsregulierung nicht zur Verfügung stehen und auch durch Interpretationen ihres Verhaltens nicht verfügbar gemacht werden können. Das therapeutische Vorgehen konzentriert sich bei der übertragungsfokussierten Psychotherapie auf die Deutung unbewusster Repräsentanzen, die sich in Übertragung und Gegenübertragung manifestieren. Klärungen, Konfrontationen und Interpretationen sollen die Integration von Affekten und Handlungen ermöglichen. Dabei wird angenommen, dass die Patienten in der Lage sind, von Interpretationen unbewusster Determinanten ihres Erlebens und Verhaltens nützlichen Gebrauch machen zu können. Dementsprechend ist auch die Haltung des Therapeuten in der übertragungsfokussierten Psychotherapie der des Psychoanalytikers insoweit ähnlich, als sie von technischer Neutralität bestimmt ist. Ihrem Selbstverständnis nach werden supportive Elemente wie Empfehlungen, Ratschläge oder Erläuterungen in der übertragungsfokussierten Psychotherapie nicht eingesetzt. Die »Mentalization Based Treatment« genannte Methode, ebenfalls eine Therapie für die Behandlung von Patienten mit BorderlineStörungen, versteht die Borderline-Störung als Folge einer beeinträchtigten Fähigkeit zu mentalisieren, die wiederum in erster Linie als Folge intensiver Verlassenheitsangst aufgefasst wird. Das bei Borderline-Patienten häufige selbstverletzende Verhalten wird als Ausdruck des Versuches verstanden, der psychischen Dekompensation in Zuständen hoher emotionaler Erregung entgegenzuwirken. Im Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit steht die Mentalisierungsfähigkeit des Patienten. Anders als bei der übertragungsfokussierten Psychotherapie werden die aktuelle Patient-TherapeutBeziehung und damit Übertragung und Gegenübertragung lediglich soweit genutzt, als sie für die Arbeit an der Fähigkeit zu mentalisieren förderlich sind. Bateman und Fonagy haben die Auffassung vertreten, dass die Fähigkeit zu mentalisieren in verschiedenen psychotherapeutischen Methoden eine Rolle spielt und nicht allein durch spezifische, methodengebundene Techniken gefördert wird. Der psychoanalytisch-interaktionellen Methode liegt ebenfalls ein psychodynamisches bzw. psychoanalytisches Verständnis psychischen und psychopathologischen Erlebens und Verhaltens zugrunde, allerdings ergänzt durch Einbeziehung der sozialen All-

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Benachbarte Therapiemethoden

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tagswelt des Patienten und unter Fokussierung auf interpersonelle Beziehungen der strukturell gestörten Patienten. Die therapeutische Arbeitsweise unterscheidet sich deutlich von der therapeutischen Arbeitsweise der Psychoanalyse und der übertragungsfokussierten Psychotherapie. Das kommt nicht nur in dem entschiedenen Verzicht auf Interpretationen des unbewussten Verhaltens der Patienten zum Ausdruck, sondern vor allem in der progressionsorientierten Fokussierung der therapeutischen Arbeit auf die soziale Lebenswelt der Patienten und auf die Entwicklung von Fähigkeiten, interpersonelle Beziehungen zu verstehen und zu gestalten und sich in der sozialen Welt ausreichend sicher zu verankern. Dazu benötigt der Psychotherapeut neben theoretischen und klinischen Kenntnissen ein differenziertes Verständnis von zwischenmenschlicher Interaktion und des sozialen Alltagslebens (vgl. Streeck, 2007).

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Strukturelle Störungen

Strukturelle Störungen sind Störungen der Persönlichkeitsentwicklung. In der Psychiatrie wird die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung dann gestellt, »wenn durch den Ausprägungsgrad und/oder die besondere Konstellation von psychopathologisch relevanten Merkmalen (Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Wollen, Beziehungsgestaltung) erhebliche subjektive Beschwerden und/oder nachhaltige Beeinträchtigungen der sozialen Anpassung entstehen« (Sass, 2000; Hervorh. v. Verf.). Das internationale Klassifikationssystem der Krankheiten (ICD) knüpft die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung an die Bedingung, dass die betroffene Person »gegenüber der Mehrheit der betreffenden Bevölkerung deutliche Abweichungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in den Beziehungen zu anderen« zeigt (Hervorh. v. Verf.). Ähnlich fordert das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) für Persönlichkeitsstörungen, dass zwei der vier Bereiche Kognition, Affektivität, Impulskontrolle und zwischenmenschliche Beziehungen ein überdauerndes, von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweichendes Muster von innerem Erleben und Verhalten zeigen. In allen drei Definitionen sind Beeinträchtigungen von interpersonellen Beziehungen zwar ein mögliches, aber kein obligates Merkmal von Persönlichkeitsstörungen; die soziale Lebenswelt muss demnach nicht notwendigerweise beeinträchtigt sein, damit die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung gestellt werden kann. Im klinischen Alltag zeigen sich schwerere Persönlichkeitsstörungen bzw. strukturelle Störungen allerdings so gut wie immer und oftmals in erster Linie als interpersonelle Störungen. Dort sind strukturelle Störungen, bei denen die Beziehungen zu anderen nicht erheblich belastet und beeinträchtigt sind, eine seltene Ausnahme. Wie häufig und in welchem Maß das soziale Leben bei Persönlichkeitsstörungen beeinträchtigt ist, lässt sich bereits daran erkennen, dass ein großer Teil der Kriterien, die erfüllt sein müssen, um eine der Diagnosen einer Persönlichkeitsstörung zu stellen, sowohl in der ICD-10 als auch im DSM-IV sich nicht nur auf psychologische Merkmale, sondern auch auf interpersonelle Verhältnisse bezieht.

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Strukturelle Störungen

Attribute wie »tiefgreifendes Muster von Misstrauen und Argwohn gegenüber anderen, so dass deren Motive als böswillig ausgelegt werden«, »ist lange nachtragend, d. h. verzeiht Kränkungen, Verletzungen oder Herabsetzungen nicht« oder »verdächtigt wiederholt ohne jede Berechtigung den Ehe- oder Sexualpartner der Untreue«, die für die paranoide Persönlichkeitsstörung im DSM-IV genannt werden, oder ein »tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen« und ein »verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder erwartetes Verlassenwerden zu vermeiden« als Kennzeichen der Borderline-Persönlichkeitsstörung sind keine Eigenschaften, die ausschließlich in einer Person verankert sind, sondern sind Verhaltensweisen, die auf interpersonelle Verhältnisse, auf einen sozialen Kontext und damit auf das Verhalten zwischen Personen verweisen. Die zwischenmenschliche Welt ist bei Patienten mit strukturellen Störungen davon geprägt, dass Beziehungen, die auf wechselseitiger Anerkennung gründen, nicht gelingen; die Beziehungen sind häufig instabil und scheitern oft schon nach kurzer Zeit. Andere sind unflexibel und folgen immer wieder den gleichen starren, manchmal destruktiven Mustern. Nicht wenige Patienten meiden soziale Kontakte weitgehend und leben zurückgezogen, leiden aber daran, dass es ihnen nicht gelingt, in halbwegs befriedigender Weise am sozialen Alltagsleben teilzunehmen. Vor diesem Hintergrund wurden Persönlichkeitsstörungen auch »Störungen des Sozialen« genannt (z. B. Möller et al., 1996). Dabei manifestieren sich nicht nur die als dramatisch, emotional und launisch beschriebenen, zu Affektualisierung und Impulsivität neigenden Beeinträchtigungen von Patienten mit histrionischer, narzisstischer, antisozialer oder Borderline-Persönlichkeitsstörung (sog. Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen im DSM-IV) als »Störungen des Sozialen«, sondern auch die als exzentrisch, affektarm und misstrauisch geltenden Störungen von Patienten mit paranoider, schizoider und schizotypischer Persönlichkeitsstörung (sog. Cluster-APersönlichkeitsstörungen im DSM-IV), die häufig zurückgezogen leben und anderen Menschen so weit wie irgend möglich aus dem Weg gehen. Als Folge vernachlässigender und traumatisierender Beziehungserfahrungen in der Entwicklung stehen Patienten mit strukturellen Störungen grundlegende Funktionen der Beziehungs- und der Selbstregulierung zur Ausübung nicht oder nur eingeschränkt zur

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Strukturelle Störungen

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Verfügung (Fürstenau, 1977; Heigl-Evers und Heigl, 1983; Rudolf, 2004). Das Selbstwertgefühl der Patienten ist chronisch instabil und geht häufig mit Gefühlen von Leere und Sinnlosigkeit, Grandiosität oder Wertlosigkeit einher. Um sich ausreichend wichtig fühlen zu können, verlangen die Patienten von anderen übermäßige Aufmerksamkeit und Beachtung. Sie benötigen andere Personen zur Aufrechterhaltung selbstregulativer Funktionen wie die Regulierung des Selbstwertgefühls, des Reizschutzes oder des Identitätsgefühles. Heftigere Gefühle und Impulse, insbesondere aggressive und destruktive Gefühle, können sie oftmals nur schwer aushalten. Andere Patienten müssen »weiche« Gefühle vom Erleben fernhalten, weil sie sich damit in unzuträglicher Weise schwach, bedürftig, abhängig und auf andere Menschen angewiesen fühlen. Als schlecht und böse erlebte Eigenschaften werden häufig auf die Außenwelt projiziert (Externalisierung sogenannter böser und verfolgender innerer Objekte). Viele Patienten haben sich von ihrer Umgebung weitgehend abgeschirmt und nehmen ihre soziale Umwelt wie aus der Ferne wahr, so dass beim Gegenüber leicht der Eindruck entsteht, die Patienten nicht wirklich zu erreichen und nicht in der Lage zu sein, eine emotionale Verbindung zu ihnen herzustellen. Andere Patienten haben kein Gefühl für die Wirkung ihres Verhaltens auf ihr Gegenüber und verstehen nicht, warum ihre Beziehungen so instabil sind. Patienten mit strukturellen Störungen gehen häufig davon aus, dass andere Menschen so wie sie selbst funktionieren (partielle Fixierung auf den kognitiven Modus psychischer Äquivalenz; Fonagy et al., 2004). Auch wenn sie wissen, dass es unterschiedliche psychische Realitäten gibt und andere Menschen die Welt aus ihrer je eigenen Perspektive wahrnehmen, gelingt es ihnen nicht, die Perspektive der anderen zu übernehmen und sich und ihre Beziehungswelt aus der Sicht ihres Gegenübers zu betrachten. Entsprechend unbestimmt und verschwommen ist häufig das Bild, das sich die Patienten von anderen Menschen machen. Aufgefordert, für sie wichtige andere Menschen zu beschreiben, nennen manche Patienten ausschließlich sichtbare Merkmale, als seien andere ihnen nur von außen zugänglich, nicht jedoch als Wesen, die aus ihrer je eigenen Subjektivität heraus handeln. Einzelheiten werden oftmals für das Ganze genommen. Die andere Person ist nur so lange wichtig, wie sie physisch anwesend ist und sich in Übereinstimmung mit eigenen Bedürfnissen verhält und solange deren Eigenschaften noch ausreichend

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kompatibel mit eigenen Idealvorstellungen sind. Ist das nicht mehr gewährleistet, verliert die andere Person ihre psychische Relevanz und wird innerlich fallengelassen oder ausgelöscht. Kohut (1973) hat dafür den Begriff Selbstobjekt-Beziehungen geprägt. Um selbstregulative Funktionen erfüllen zu können, muss die andere Person sich nach Möglichkeit in ganz bestimmter Weise verhalten und bestimmte Rollen übernehmen (z. B. Sandler, 1976). Um die Person zu solchem Verhalten zu veranlassen, greifen die Patienten auf psychosoziale Abwehr- und Anpassungsmechanismen, insbesondere auf Mittel zurück, die aus psychoanalytischer Sicht meist als projektive Identifikationen beschrieben werden und die hier eine größere Rolle als bei neurotischen Störungen spielen (zur Kritik des Konzepts der projektiven Identifikation vgl. Grefe und Reich, 1996). Vor diesem Hintergrund konnten Heigl-Evers et al. (1993) die zentrale Pathologie von Patienten mit strukturellen Störungen auch eine »Beziehungspathologie« nennen. Stehen andere Personen für selbstregulative Zwecke nicht zur Verfügung oder versagen in entsprechenden Funktionen, stellen sich bei den Patienten schwer aushaltbare Unlust- und Spannungszustände ein, die nicht selten mit Mitteln wie Alkohol und Drogen, die die Spannungsregulierung unterstützen sollen, bekämpft werden. Andere Patienten greifen zu übermäßigem Essen, zu selbstverletzendem Verhalten, zwanghaftem Spielen (Computerspiele, Videospiele), promiskuösem Verhalten, exzessivem Fernsehen und ähnlichen Mitteln. Aufgrund der entwicklungsbedingten Beeinträchtigungen sind Patienten mit strukturellen Störungen nicht in der Lage, aus einer exzentrischen Position auf sich selbst und ihr eigenes Verhalten zu blicken und in dieser Position sich selbst und das eigene Erleben zum Gegenstand ihres Nachdenkens zu machen. Ihre Gefühle erscheinen wenig differenziert und sind als Signale im Dienst von Selbstund Beziehungsregulierung und als Steuerungshilfen für reziproke Beziehungen oft ungeeignet. Nichtsprachliches Verhalten, dem üblicherweise vielfältige Funktionen für die Regulierung interpersoneller Beziehungen zukommen und das als implizites Beziehungswissen eng mit Interaktionsmustern verbunden ist, »passt« bei strukturell gestörten Patienten oftmals zu missbrauchenden, vernachlässigenden oder ausbeuterischen Beziehungen, taugt aber nicht dazu, »neutrale« Beziehungen auf der Grundlage von Wechselseitigkeit zu regulieren.

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Man kann annehmen, dass die pathogenen Beziehungserfahrungen der Patienten nicht Teil ihres episodischen, deklarativen Wissens und ihres narrativen Gedächtnisses sind, sondern dass sie im impliziten Gedächtnis verankert und als körperliches (BCPSG, 2007), nicht als symbolisches Wissen repräsentiert sind. Als implizites Wissen können die Beziehungserfahrungen nicht erinnert und sprachlich mitgeteilt und darum auch nicht aus den Erzählungen der Patienten rekonstruiert werden, sondern sie werden im Verhalten aktualisiert und zeigen sich im Zusammensein mit anderen, auch in der therapeutischen Beziehung. In diesem Sinn ist das implizite Beziehungswissen der Patienten ein Vollzugswissen, ein Wissen, das sich als Wissen erst im Vollzug seiner Anwendung zu erkennen gibt, indem es in Interaktion aktualisiert wird, nicht als symbolisches Wissen in Erzählungen, sondern als Verhalten im Zusammensein mit anderen. Was es einem strukturell gestörten Patienten schwer macht oder ihn daran hindert, auf Wechselseitigkeit gründende Beziehungen zu gestalten, lässt sich somit nicht oder nur sehr bedingt daraus ableiten, wie der Patient sich über sich und über Beziehungen mit Worten äußert.Vielmehr zeigt sich das vor allem darin, wie er sich im Zusammensein mit anderen verhält und seine soziale Lebenswelt gestaltet und mitgestaltet. Insofern findet sich das Beziehungswissen strukturell gestörter Patienten nicht allein »in« der Person, sondern wird als interaktives Wissen jeweils erst im Zusammensein mit anderen aktuell, in interpersonellen Kontexten. Das gilt es, in der Therapie und in der Wahl der Gestaltung des therapeutischen Gespräches zu berücksichtigen. Dem Umstand, dass strukturelle Störungen sich vor allem als »Störungen des Sozialen« manifestieren, trägt die psychoanalytischinteraktionelle Methode in mehrfacher Weise Rechnung. Zum einen liegt der Schwerpunkt der therapeutischen Arbeit auf interpersonellen Beziehungen, auf dem Wie der Gestaltung des Zusammenseins mit anderen, auf dem Selbst-mit-anderen-Sein. Weiter ist der Therapeut auf Interaktion mit dem Patienten eingestellt, auf das Wie der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und damit auf implizites Beziehungswissen der Patienten. Und schließlich sind die behandlungstechnischen Mittel in erster Linie auf Interaktion, interpersonelle Beziehungen und Selbstregulierung ausgerichtet.

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Strukturelle Störungen

Merke: Die Beeinträchtigungen von Patienten mit strukturellen Störungen kommen meist nicht im Inhalt dessen zum Ausdruck, was die Patienten mit Worten mitteilen, sondern sie zeigen sich in ihrem Verhalten, vor allem in ihrem Verhalten im Zusammensein mit anderen. Wenn der Therapeut sich in erster Linie darauf stützt, was die Patienten mit Worten ausdrücken, läuft er Gefahr, die zentralen Probleme der Patienten zu verfehlen. Der Therapeut muss deshalb immer und oft in erster Linie dafür aufmerksam sein, was sich im Verhalten der Patienten im Zusammensein mit anderen, einschließlich der therapeutischen Beziehung zeigt. Bei der psychoanalytisch-interaktionellen Methode liegt der Schwerpunkt der Therapie auf den interpersonellen Beziehungen des Patienten.

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

Um einen Patienten mit einer strukturellen Störung mit der psychoanalytisch-interaktionellen Methode zu behandeln, müssen drei grundlegende Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss der Patient auf die Behandlung gründlich vorbereitet werden. Zweitens muss der Therapeut sowohl für die Beziehungserfahrungen aufmerksam sein, über die der Patient im therapeutischen Gespräch berichtet, als auch dafür, wie der Patient an der therapeutischen Beziehung selbst teilnimmt und diese Beziehung mitgestaltet. Und drittens muss der Psychotherapeut dem Patienten gegenüber eine auf Interaktion und Austausch eingestellte Haltung einnehmen und das Geschehen in der therapeutischen Beziehung in einem antwortenden Modus (s. Abschnitt »Der antwortende Modus«) für den Patienten transparent und verstehbar werden lassen, wo dies für den Patienten entwicklungsförderlich ist. Um seine Interventionen auf den Patienten abstimmen zu können, muss sich der Therapeut in das Erleben des Patienten gut einfühlen können.

Die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung Jeder Patient muss auf die Behandlung gründlich genug vorbereitet werden. Dazu gehört, dass der Patient weiß, aus welchen Gründen der Therapeut ihm eine bestimmte Behandlung empfiehlt. Das beinhaltet wiederum, dass der Patient wissen sollte, wie der Therapeut seinen Zustand beurteilt und wie er über die Beeinträchtigungen denkt, deretwegen die Behandlung erforderlich ist. Weiter sollte der Patient sich möglichst anschaulich vorstellen können, wie die zukünftige gemeinsame Arbeit mit dem Therapeuten aussieht; insbesondere sollte er wissen, was er in der Therapie aus welchen Gründen tun sollte, und er muss darauf vorbereitet sein, wie der Therapeut seinerseits sich in der Behandlung verhalten wird und weshalb

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

er das tut. Schließlich muss es zwischen Patient und Therapeut klare Verabredungen darüber geben, welche Rahmenbedingungen für die ins Auge gefasste Behandlung gelten und eingehalten werden müssen und was zu tun ist, wenn die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind, die für eine potentiell wirksame Behandlung erforderlich sind. Im Einzelnen gehört zur Vorbereitung auf die bevorstehende Behandlung, dass – der Patient über sein Krankheitsbild aufgeklärt wird, – der Patient über die Art der ins Auge gefassten Behandlung einschließlich der zugehörigen Verteilung der Aufgaben zwischen Patient und Therapeut gründlich informiert wird, – Patient und Therapeut sich über Schwerpunkte der Therapie und über Behandlungsziele verständigt haben und – eindeutige und unmissverständliche Rahmenbedingungen für die bevorstehende Behandlung verabredet werden.

Aufklärung des Patienten Wenn die Eingangsuntersuchungen zu dem Ergebnis geführt haben, dass den Symptomen und Beschwerden des Patienten eine strukturelle Störung zugrunde liegt, folgt als nächster Schritt, dass der Patient über die Diagnose aufgeklärt wird. Dazu gehört, dass der Therapeut seinem Patienten ausführlich erläutert, wie aus seiner Sicht die Beeinträchtigungen, mit denen der Patient zu tun hat, zu verstehen sind. Sodann wird der Patient über Sinn und Zweck der Behandlung informiert, die der Therapeut ihm empfiehlt. Noch vor Beginn der Therapie sollte der Patient auch wissen, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit er von der in Aussicht genommenen Therapie Besserung erwarten kann und wie die beiderseitigen Aufgaben verteilt sind. In diesem Zusammenhang muss der Therapeut dem Patienten ausreichend Gelegenheit geben, Fragen zu stellen. In jedem Fall sollte er sich vergewissern, ob und wieweit er sich seinem Patienten hat verständlich machen können. Das erweist sich oftmals als besonders wichtig dann, wenn der Patient von sich aus keine Fragen stellt. Für die Aufklärung des Patienten sollte sich der Therapeut ausreichend Zeit nehmen. Es genügt nicht, dass er den Patienten mit einigen mehr oder weniger flüchtig hingeworfenen Hinweisen auf die

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Die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung

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Diagnose und auf die ins Auge gefasste Therapie versorgt. Zusätzliche schriftliche Informationen zur Therapie können ein Hilfsmittel sein, können aber das aufklärende Gespräch nicht ersetzen. Merke: Der Patient wird sowohl über die Diagnose als auch über die Art der Behandlung, die der Therapeut ihm empfiehlt, ausführlich aufgeklärt. Dazu gehört, dass der Therapeut dem Patienten anschaulich erläutert, wie die beiderseitigen Aufgaben in der Behandlung verteilt sind.

Aufklärung des Patienten über die Diagnose Ärzte sind verpflichtet, ihre Patienten über die Diagnose aufzuklären. Das gilt auch für den Bereich der Psychotherapie. Dass der Psychotherapeut vor Beginn der Behandlung mit dem Patienten ausführlich darüber spricht, wie seine Diagnose lautet und wie er die Beschwerden des Patienten im Rahmen dieser Diagnose versteht, ist über diese Verpflichtung hinaus für die therapeutische Arbeit mit Patienten mit strukturellen Störungen wichtig. Nicht nur kann jeder Patient erwarten, über die Diagnose und darüber, wie der Therapeut sein Störungsbild versteht, angemessen und ausführlich informiert zu werden; auch die Tatsache allein, dass es für die eigenen Beeinträchtigungen einen Namen gibt, kann entlastend und beruhigend wirken. Zudem ist für manche Patienten die Vorstellung schwer erträglich, dass der Therapeut in Form einer Diagnose, deren Bedeutung nur ihm verständlich ist, über Kenntnisse zu ihrer Person verfügt, die ihnen selbst nicht zugänglich sind. Nicht wenige Patienten haben dann das für sie unzumutbare Gefühl, dass der Therapeut etwas über sie weiß, das sie von sich selbst nicht wissen – eine Vorstellung, die mit einer schwer erträglichen Angst vor Abhängigkeit einhergehen und der der Psychotherapeut entgegenwirken kann, indem er dem Patienten seine diagnostischen Überlegungen ausführlich und verständlich genug erläutert. Das kann dem Patienten nicht zuletzt das Gefühl vermitteln, die Kontrolle nicht ganz aus der Hand zu geben und von dem Psychotherapeuten als gleichberechtigt respektiert zu werden. Die Diagnosen, die in den formalen diagnostischen Klassifikationssystemen (ICD, DSM) aufgeführt sind, sind wenig aussagekräftig. Es dabei zu belassen, einem Patienten eine Diagnose wie Depres-

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

sion, Borderline-Störung oder soziale Phobie zu nennen und sich vielleicht sogar mit dem Hinweis zu begnügen, dass es sich dabei um eine biologisch bedingte Erkrankung handelt, die der medikamentösen Behandlung bedarf, bedeutet noch nicht, den Patienten über die Diagnose aufgeklärt zu haben, und kann an Missachtung des Patienten und seiner Lebensgeschichte grenzen. Für die in Aussicht genommene Therapie ist ein dermaßen flüchtiger Hinweis nicht nützlich und kann im Hinblick auf die erforderliche Kooperation in einer psychotherapeutischen Behandlung sogar schädlich sein, weil der Verzicht auf ausführliche Aufklärung über die Diagnose leicht dazu führen kann, eine Neigung des Patienten zu unkritischer, gläubiger Unterwerfung zu unterstützen. In Zusammenhang mit der Diagnose erläutert der Psychotherapeut dem Patienten – wie er dessen Beschwerden versteht, – welche Umstände vermutlich zu den Beeinträchtigungen geführt haben und – welche aktuellen Bedingungen gegebenenfalls daran beteiligt sind, die Beschwerden aufrechtzuerhalten. Die Aufklärung zur Diagnose sollte so umfassend sein, dass es dem Patienten möglich ist nachzuvollziehen, wie sein zukünftiger Therapeut über seine Störung denkt. Beispiel: Auf der Grundlage einer ausführlichen Anamnese oder eines nach den Richtlinien der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD, 2006) durchgeführten Interviews, eventuell ergänzt durch gezielte Fragebogenuntersuchungen (z. B. Leichsenring, 1997; Leichsenring und Chabrol, 2006) sei bei einem Patienten die ICD-Diagnose »emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typus« gestellt worden. Der Psychotherapeutteilt seinem Patienten die Diagnose mit, indem er ihm beispielsweise sagt: »Ich möchte Ihnen mitteilen, zu welchem Ergebnis ich aufgrund der bisherigen Untersuchungen und Gespräche mit Ihnen gekommen bin. Ich denke, dass Sie das haben, was heute eine Borderline-Störung genannt wird. Wichtiger als Ihnen dieses Etikett mitzuteilen, ist mir aber, Ihnen zu erläutern, was damit gemeint ist. Borderline-Störung nennt man eine Beeinträchtigung, die sich unter anderem darin zeigt, dass die betroffene Person Schwierigkeiten hat, ihre Gefühle zu regu-

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Die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung

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lieren, so dass Gefühlszustände abrupt wechseln können. Bei der Borderline-Störung handelt es sich um eine Entwicklungsstörung, also um eine Problematik, die ihren Ursprung in der Zeit Ihrer Kindheit und Jugend hat, in der sich die Persönlichkeit entwickelt hat. Dabei können verschiedene Einflussfaktoren eine Rolle gespielt haben, die wir nicht im Einzelnen kennen. Ziemlich sicher scheint aber – wie bei anderen Entwicklungsstörungen auch – zu sein, dass die Bedingungen, unter denen Sie aufgewachsen sind, dabei von einiger Bedeutung gewesen sind. Von den Schwierigkeiten und Problemen, die mit Entwicklungsstörungen einhergehen und die Ihnen heute zu schaffen machen, kann man sagen, dass sie in der Vergangenheit einmal ihren guten Sinn gehabt haben. Denn darin zeigt sich, wie Sie früher mit den Umständen, unter denen Sie aufgewachsen sind, versucht haben, fertig zu werden. Problematisch ist nur, dass die gleichen Verhaltensweisen, die Ihnen früher von Nutzen sein sollten, für Sie heute von Nachteil sind oder Ihnen sogar schaden, weil sie für Ihre gegenwärtigen Lebensbedingungen nicht mehr taugen. Wenn ihre Gefühle sich beispielsweise plötzlich verändern oder ihre Einstellung zu anderen Menschen oder auch ihre Einstellung zu sich selbst, dann ist das für Sie früher vermutlich einmal eine Möglichkeit gewesen, mit sehr schwierigen Umständen fertig zu werden. Für Ihre jetzigen Lebensbedingungen gilt das nicht mehr, und das gleiche Verhalten, das für Sie früher wichtig gewesen sein mag, führt heute dazu, dass Sie selbst oder Ihre Beziehungen zu anderen Menschen Schaden nehmen. Dass Sie beispielsweise keine länger dauernden Beziehungen haben, die Sie sich auf der anderen Seite wünschen, hat unter anderem damit zu tun, dass es Ihnen nicht möglich ist, zu der gleichen Person, zu der Sie eben noch ein gutes Verhältnis hatten, die Beziehung aufrechtzuerhalten, wenn Sie sich über diese Person einmal sehr geärgert haben oder wütend waren, weil Sie dazu neigen, die Dinge schwarz-weiß zu sehen . . . Vielleicht war das jetzt viel auf einmal. Bitte fragen Sie, was unverständlich geblieben ist.«

Nicht alle Patienten fragen den Psychotherapeuten von sich aus danach, zu welchen Erkenntnissen er aufgrund der Anamnese und der weiteren Untersuchungen gelangt ist. Manche Patienten erleben den Experten wie eine übermächtige, einschüchternde Autorität, der sie nicht wagen, Fragen zu stellen. Allein eine Frage zu stellen kann für sie bedeuten, eine abstrakte, bedrohliche Autorität in Frage zu stellen und anzugreifen. Andere Patienten stellen keine Fragen, weil sie fürchten, der Therapeut könnte die Dinge, die sie

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

wissen möchten, für Bagatellen halten und sie könnten angesichts ihrer Unwissenheit beschämt werden. Wieder andere Patienten sind aufgeregt und in der aktuellen Situation ganz mit ihrer Selbstregulierung beschäftigt und zu ängstlich, um Fragen stellen zu können. Wenn Patienten nicht danach fragen, welche Diagnose der Psychotherapeut gestellt hat und wie er ihre Beschwerden versteht, bedeutet das nicht, dass den Patienten bekannt ist, was sie über ihren eigenen Zustand wissen sollten. Manche Patienten stellen sich auch selbst mit einem diagnostischen Etikett vor wie »ich bin ein Borderliner« oder »ich will mein Trauma aufarbeiten« und haben sich im Internet mehr oder weniger brauchbare Informationen zu dem Störungsbild besorgt, dessen diagnostische Bezeichnung ihnen irgendwo mitgeteilt wurde. Das sollte den Therapeuten nicht daran hindern, mit dem Patienten darüber ins Gespräch zu kommen, wie er über dessen Beeinträchtigungen denkt. Sich dem Patienten gegenüber in Schweigen zu hüllen grenzt – zumal bei Patienten mit basalen strukturellen Störungen – an einen Kunstfehler. Wenn der Psychotherapeut dem Patienten ausführlich genug verständlich macht, wie er über die Diagnose und die Beeinträchtigungen, die damit verbunden sind, denkt, kann das nicht zuletzt ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine verlässliche therapeutische Zusammenarbeit sein. Je mehr der Psychotherapeut nicht nur mit Worten, sondern auch mit seiner Haltung dem Patienten zu verstehen gibt, dass er in ihm einen Kooperationspartner bei einer gemeinsamen Unternehmung sieht, und je mehr er seine Seite der Kooperation für den Patienten nachvollziehbar macht, desto eher wird der Patient sich seinerseits auf die gemeinsame Unternehmung einlassen und Verständnis für sich selbst aufbringen können (vgl. Luborsky, 1995, Crits-Christoph et al., 1988). Strukturelle Störungen und Persönlichkeitsstörungen müssen nicht mit umschriebenen Symptomen und Beeinträchtigungen einhergehen. Es kann sein, dass die Patienten über lange Zeit hinweg ohne Beschwerden geblieben sind, weil sie sich relativ stabil an die Bedingungen, unter denen sie leben, haben anpassen können. Nicht selten treten erst dann, wenn sich die äußeren Bedingungen verändern, schwerwiegende Beeinträchtigungen zutage, weil die Mittel und Wege, mit denen der Patient sein relatives Gleichgewicht bis dahin angesichts weitgehend gleich bleibender äußerer Lebensbedingungen hat aufrechterhalten können, jetzt nicht mehr ausrei-

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chen, um mit den veränderten Bedingungen fertig zu werden. Das darf nicht mit einer auslösenden Situation verwechselt werden. In einer auslösenden Situation wurde ein unbewusster Konflikt aktualisiert, in dessen Folge sich eine neurotische Symptomatik entwickelt hat. Zur Dekompensation kommt es bei strukturellen Störungen demgegenüber, wenn aufgrund veränderter Bedingungen die strukturell bedingten Beeinträchtigungen nicht mehr kompensiert werden können und der Patient sein relatives Anpassungsgleichgewicht nicht mehr aufrechterhalten kann. Die neurotische Symptomatik ist eine Neuproduktion, eine kreative Konfliktlösung, während im Fall der Veränderung von Lebensbedingungen und der dadurch bedingten Störung eines relativen Anpassungsgleichgewichts die Beeinträchtigungen, die bereits zuvor bestanden haben, aber kompensiert waren, erst unter diesen Umständen zutage treten. Auch das sollte dem Patienten im Rahmen der Aufklärung über die Diagnose gegebenenfalls ausführlich genug erläutert werden. Die Beeinträchtigungen von Patienten mit strukturellen Störungen und Persönlichkeitsstörungen lassen sich in vielen Fällen nicht mit Hilfe einer einzigen Diagnose erfassen, sondern verlangen im Gegenteil mehrere Diagnosen gleichzeitig (sog. Komorbidität). Für die Aufklärung des Patienten über die Störung kann das bedeuten, dass der Therapeut sich zu mehreren Diagnosen äußern muss. Soweit dies möglich ist, sollte der Psychotherapeut versuchen, mit dem Patienten darüber zu sprechen, dass eine Mehrzahl von diagnostischen Etiketten nicht notwendigerweise bedeutet, dass er an mehreren Krankheiten gleichzeitig leidet. Im günstigen Fall kann der Psychotherapeut die Gelegenheit nutzen, dem Patienten aus psychodynamischer Sicht zu erläutern, wie die verschiedenen Beeinträchtigungen, für die unterschiedliche diagnostische Bezeichnungen verwendet werden, miteinander zusammenhängen. Beispiel: Bei einer Patientin, die schon als Kind ängstlich war, jedoch nie zuvor Angstsymptome in einem klinischen Ausmaß hatte, waren massive Ängste einschließlich sozialer Ängste nach dem Tod ihrer Mutter aufgetreten, mit der sie – inzwischen 32 Jahre alt – bis dahin in enger Verbindung zusammengelebt hatte. Bei den diagnostischen Untersuchungen hatte sich gezeigt, dass der Angstsymptomatik eine weit reichende strukturelle Störung der Persönlichkeit zugrunde lag, die bis

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dahin jedoch kaum in Erscheinung getreten war. Die Patientin hatte die psychischen und interpersonellen Beeinträchtigungen über ihre enge Bindung an die Mutter kompensieren können, indem die Mutter einige wichtige psychische und psychosoziale Funktionen für sie übernommen hatte. Außerdem war die Patientin depressiv. Der Psychotherapeut erläuterte der Patientin den von ihm angenommenen Hintergrund für ihre Symptomatik etwa in folgender Weise: »Sie haben berichtet, dass diese starken Ängste erst einige Zeit nach dem Tod ihrer Mutter aufgetreten sind. Nach unseren Gesprächen bin ich zu der Vermutung gekommen, dass es bei Ihnen deshalb zu den Ängsten gekommen ist, weil ihre Verbindung mit ihrer Mutter es ihnen ermöglicht hat, mit einigen äußeren, aber auch mit einigen inneren Umständen fertig zu werden, mit denen sie nun allein fertig werden müssen. Jetzt stellt sich heraus, dass Sie einige Schritte in der Vergangenheit möglicherweise nicht so bewältigen konnten, wie das unter günstigeren Umständen meist der Fall ist. Das ist vermutlich deshalb so, weil das für Sie in gewisser Weise nicht erforderlich war, indem Sie sich auf die Erreichbarkeit ihrer Mutter verlassen konnten. Jetzt, wo Sie Ihre Mutter nicht mehr haben und auf sich allein gestellt sind, entwickeln Sie so heftige Angst, weil Sie unsicher sind, ob Sie Ihr Verhalten selbst ausreichend steuern und kontrollieren können. Sie haben sich daraufhin immer mehr zurückgezogen und sind darüber depressiv geworden. Sie haben sicher selbst schon viel darüber nachgedacht, weshalb Sie nach dem Tod ihrer Mutter so starke Ängste entwickelt haben. Glauben Sie, dass etwas an meiner Vermutung dran sein könnte?«

Der Psychotherapeut macht seine Überlegungen und Annahmen zur Diagnose der Störung, zu deren Entwicklung und psychodynamischem Hintergrund für den Patienten so transparent wie möglich. Das trägt oftmals entscheidend zur Entwicklung einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung bei und kann auch helfen, den Patienten zu einer aufmerksameren Einstellung seinen eigenen Beeinträchtigungen gegenüber anzuregen, sich für die eigene Person und die eigene Entwicklung zu interessieren und über seine psychische und soziale Realität mehr und anders als zuvor nachzudenken. Nicht zuletzt kann sich mit dem ausführlichen, aufklärenden Gespräch zur Diagnose für manche Patienten die ungewohnte Erfahrung vermitteln, wichtig genommen zu werden.

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Die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung

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Merke: Zur Aufklärung über die Diagnose gehört auch, dass der Psychotherapeut dem Patienten unter Einbeziehung der komorbiden Störungen erläutert, wie er dessen Beeinträchtigungen versteht und welche psychodynamischen Zusammenhänge er vermutet.

Aufklärung des Patienten über die Behandlung Wie die Aufklärung über die Diagnose so verlangt auch die Aufklärung des Patienten über die Behandlung, die der Psychotherapeut ihm vorschlägt, ausreichend Zeit und ein geduldiges Eingehen auf Fragen. Ebenso wichtig wie bei der Aufklärung über die Diagnose ist bei der Aufklärung über die ins Auge gefasste Behandlung, dass der Therapeut sich dessen vergewissert, ob der Patient seine Hinweise tatsächlich so verstanden hat, wie das für die Behandlung erforderlich ist. Im Einzelnen gehört zur Aufklärung des Patienten über die vorgesehene Behandlung, dass – der Psychotherapeut die Frage mit dem Patienten erörtert, ob eine psychotherapeutische Behandlung überhaupt Aussicht auf Erfolg hat und der Patient Besserung seines derzeitigen Zustandes erwarten kann, – der Therapeut dem Patienten erläutert, welche Art von Behandlung er empfiehlt, aus welchen Gründen er das tut und in welcher Weise die ins Auge gefasste Therapie zur Besserung des derzeitigen Zustandes des Patienten beitragen kann, – der Therapeut mit dem Patienten über Ziele »verhandelt«, die mit der Behandlung erreicht werden sollen; beide legen sich schließlich auf Behandlungsziele fest, die realistisch erscheinen, – der Therapeut dem Patienten anschaulich macht, wie er sich verhalten muss, damit die Therapie potentiell erfolgreich verläuft und – der Therapeut dem Patienten deutlich macht, wie er selbst sich in der Behandlung verhalten wird. Verspricht eine psychotherapeutische Behandlung Aussicht auf Erfolg? Bevor der Therapeut den Patienten über Einzelheiten der empfohlenen Behandlung informiert, sollte er zu der Frage Stellung nehmen, ob er eine Therapie überhaupt für aussichtsreich hält und wie er deren Chancen einschätzt. Das sollte auch dann geschehen, wenn

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

der Patient von sich aus nicht ausdrücklich danach fragt, zumal bei nicht wenigen Patienten mit strukturellen Störungen mit einer Neigung zu rechnen ist, sich auf dem Hintergrund von grob idealisierenden Übertragungen in blindem Vertrauen dem Therapeuten zu überlassen, so dass sich jede prüfende und kritische Frage gleichsam zu erübrigen scheint. Andere Patienten vermeiden aus den gleichen Gründen Fragen, zumal kritische Nachfragen, zu stellen. Wieder andere Patienten sind zutiefst resigniert und rechnen nicht mehr damit, dass ihnen auch nur irgendetwas helfen könnte. Für den Fall, dass der Psychotherapeut nach Abschluss der Anamnese und der weiteren diagnostischen Untersuchungen zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der Patient zwar behandlungsbedürftig ist, eine psychoanalytisch-interaktionelle Therapie, möglicherweise eine psychotherapeutische Behandlung überhaupt, ihm aber nicht nützen wird, sollte er das dem Patienten mitteilen und in verständlicher Weise begründen.Allerdings sollte das in der Regel nicht geschehen, ohne dass dem Patienten eine Alternative in Aussicht gestellt wird. Es kann beispielsweise sein, dass eine medikamentöse Therapie vordringlich ist, etwa bei einem Patienten, der mit psychosenahen Beeinträchtigungen dekompensiert ist, so dass eine psychotherapeutische Behandlung erst dann in Aussicht genommen werden kann, wenn der Patient ausreichend stabil medikamentös eingestellt ist. Eindeutig ist die Situation auch dann, wenn sich herausstellt, dass ein Patient zu süchtig-abhängigem Verhalten neigt und eine Entzugsbehandlung psychotherapeutischen Interventionen vorangehen muss, oder wenn nach einer Entzugsbehandlung Maßnahmen, die die Strukturierung des Alltags unterstützen und die Anbindung an eine Selbsthilfegruppe sichern helfen, vor jeder psychotherapeutischen Behandlung Vorrang haben müssen. Sind die Umstände weniger eindeutig, kann die Einschätzung der Veränderungsbereitschaft und der Veränderungsmöglichkeiten bei Patienten mit schweren Entwicklungsstörungen der Persönlichkeit, bei denen es sich immer um chronische Beeinträchtigungen handelt, größere Mühe bereiten, zumal dann, wenn die Störung mit der jeweiligen lokalen Umwelt des Patienten eng verlötet ist. Es kann beispielsweise sein, dass der Patient zwar Veränderungen will, bei genauerem Hinsehen sich aber herausstellt, dass er weder sich noch sein Verhalten in eigener Anstrengung wirklich zu ändern bereit ist und im Grunde seit

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Die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung

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langer Zeit und fortdauernd passiv darauf wartet, dass Veränderungen von seiner Umwelt kommen. Als besonders schwierig erweist sich die Situation bei Patienten, deren passives Abwarten von Wiedergutmachungsansprüchen bestimmt oder zumindest unterstützt wird und die bewusst oder unbewusst davon ausgehen, ein Anrecht darauf zu haben, für erlittenes, ihnen in ihrer Entwicklung zugefügtes Unrecht entschädigt zu werden. Hier wird es meist erforderlich sein, dass der Psychotherapeut dem Patienten seine Bedenken mitteilt, diese Bedenken in für den Patienten nachvollziehbarer Weise begründet und – wenn überhaupt – eine Probebehandlung vereinbart, bei der nach einer Reihe von Sitzungen die Voraussetzungen für eine Psychotherapie, die aktive Mitarbeit und Veränderungsbereitschaft erfordern, erneut überprüft und diskutiert werden. Beispiel: Bei einem Patienten haben die Eingangsuntersuchungen ausgeprägte strukturelle Beeinträchtigungen erkennen lassen. Der Patient, der wiederholt in dem Bemühen gescheitert ist, eine Ausbildung abzuschließen, möchte einen weiteren Anlauf machen und hat auf Anraten eines entfernten Bekannten nach einer Psychotherapie nachgefragt, die ihn in diesem Bemühen unterstützen soll. Wie sich gezeigt hat, neigt der Patient nicht nur zu sporadischem Alkoholabusus, sondern auch dazu, sich sozial weitgehend zu isolieren, seine Tage im Bett zu verbringen, nachts stundenlang fernzusehen oder am Computer zu spielen. Im Anschluss an die diagnostischen Untersuchungen teilt ihm der Psychotherapeut bezüglich einer etwaigen Behandlung etwa Folgendes mit: »Ich habe den Eindruck gewonnen, dass dringend etwas geschehen muss. Ich glaube, dass Sie von einer psychotherapeutischen Behandlung im Grunde auch profitieren könnten, wenn Sie nicht dermaßen zur Passivität neigen und darauf warten würden, dass die Dinge von selbst besser werden. Eine Therapie erfordert Aktivität und aktive Anstrengungen, die eigene Situation und das eigene Verhalten zu verändern. Das ist schwierig, oft sogar sehr schwierig, aber eine Therapie kann nun einmal nicht an diesen Schwierigkeiten vorbei verlaufen, sondern nur durch sie hindurch. Ich habe Zweifel, ob Sie dazu tatsächlich bereit sind und ob Sie Ihren derzeitigen Lebensstil wirklich gewillt sind zu verändern. Ich schlage Ihnen vor, dass wir einen Versuch starten und dann in acht oder zehn Wochen noch einmal darüber sprechen. Allerdings meine ich, dass es auch für einen solchen vorläufigen Behandlungsversuch erforderlich ist, dass Sie sich darum bemühen,

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

Ihren Alkoholkonsum einzuschränken, Ihren Tag-Nacht-Rhythmus zu verändern und Ihren Alltag zu strukturieren.«

Dass ein Patient einer Behandlung skeptisch und voller Zweifel gegenübersteht oder im Gespräch nicht motiviert erscheint, heißt nicht, dass er nicht behandelbar ist oder die Prognose in jedem Fall schlecht wäre. Wäre das so, könnten viele strukturell gestörte Patienten überhaupt nicht psychotherapeutisch behandelt werden. Beispielsweise ist es Patienten mit einer schwereren narzisstischen Pathologie oft nicht möglich, sich als behandlungsbedürftig zu erkennen zu geben. Hier gilt es für den Therapeuten zu bedenken, dass der Patient sich immerhin an eine therapeutische Institution gewandt hat. Mit einem solchen Schritt hat ein narzisstisch gestörter Patient oftmals das Äußerste an Behandlungsbedürftigkeit bekundet, was ihm angesichts seines Autarkiebedürfnisses und seiner Angst vor Abhängigkeit möglich ist. Wenn der Patient die Behandlung, die potentiell hilfreich sein könnte, und diejenigen, die ihm therapeutische Unterstützung anbieten, im Weiteren immer wieder entwertet, muss auch das nicht bedeuten, dass er nicht behandelt werden will. Sein entwertendes Verhalten ist in vielen Fällen vielmehr als Ausdruck des Versuches zu verstehen, das Gefühl von Autonomie dadurch aufrechtzuerhalten, dass er diejenigen, von denen er Hilfe erhofft, aber fürchtet, in Abhängigkeit zu geraten, zu verstehen gibt, dass er sie vermeintlich nicht braucht. Der Psychotherapeut klärt den Patienten über die Art der empfohlenen Behandlung auf. Die Indikation für eine psychoanalytischinteraktionelle Therapie wird sich bei den allermeisten Patienten mit strukturellen Störungen der Persönlichkeit daraus herleiten, dass sie nicht in der Lage sind, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen und ihr alltägliches Zusammensein mit anderen so zu gestalten und so weit zu regulieren, dass sie sich in ihrer sozialen Lebenswelt halbwegs sicher verankert fühlen können und dass ihnen grundlegende Funktionen der Selbstregulierung nicht ausreichend verfügbar sind, weil sie diese Funktionen unter den Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen sind, nicht haben entwickeln können. Vor diesem Hintergrund muss der Therapeut den Patienten vor Beginn der Behandlung darüber aufklären, dass es vorrangig darum geht, die zwischenmenschliche Seite seiner Schwierigkeiten und

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Die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung

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Probleme zu erkennen und zu untersuchen und nach Möglichkeit andere und stabilere Wege für das Zusammensein mit anderen zu finden und mit sich selbst umzugehen. Dies klar zu stellen, ist insbesondere bei Patienten wichtig, die davon ausgehen, dass sie sich in der Therapie mit ihrer seelischen Binnenwelt beschäftigen werden, die damit aber – bewusst oder unbewusst – den Schwierigkeiten, die sie in ihrer alltäglichen sozialen Lebenswelt haben, aus dem Weg gehen wollen. Statt sich mit den Problemen in ihrem Alltag auseinanderzusetzen, halten diese Patienten daran fest, sich ausschließlich mit der psychischen Seite ihrer Probleme beschäftigen zu wollen, und versuchen so, ihr Vermeiden fortzusetzen. Beispiel: Eine Patientin, die für kurze Zeit in psychoanalytischer Behandlung gewesen war, muss stationär aufgenommen werden, weil sie suizidal geworden war und einen erweiterten Suizid angedroht hatte. Der Psychoanalytiker hatte die Behandlung der Patientin von sich aus beendet, und nachdem er sie mehrfach vergeblich damit konfrontiert hatte, dass es ihr offenkundig nicht darum ging, sich und ihr Verhalten zu verstehen, sondern dass sie die Behandlung missbrauchte, um einen großen Bogen um ihre tatsächlichen Probleme zu machen, die vor allem ihre äußerst destruktiven Beziehungen und ihre Schwierigkeiten betrafen, ihren Alltag einigermaßen zu strukturieren, hatte er ihr eine andere Art der Therapie empfohlen. Im Zuge des Vorgespräches gab die Patientin, deren Gedanken und deren Aufmerksamkeit ständig um sich selbst zu kreisen schienen, während sie für ihre Umwelt kaum Interesse aufbrachte und sich in der alltäglichen Lebenswelt nur schwer zurecht fand, dem Therapeuten zu verstehen, dass sie sich in der stationären Behandlung »ganz intensiv mit dem Unbewussten und ihren Träumen« beschäftigen wolle, weil – so ihre Heilungstheorie – ihre Verhältnisse »auf jeden Fall besser werden« müssten, wenn sie nur ihr Unbewusstes verstanden habe; Voraussetzung dafür, dass sich bei ihr etwas verändere, sei, dass sie zuerst einmal verstehe, aus welchen unbewussten Gründen sie sich so verhalte, wie sie das immer wieder tue. Der Therapeut erläuterte der Patientin, dass die Schwerpunkte bei der Therapie, die jetzt begonnen werden solle, etwas anders gelagert seien und dass es nicht vorrangig darum gehe, die unbewussten Motive für ihr Verhalten zu verstehen, obwohl das sicherlich auch einmal wichtig und hilfreich werden könne, aber die gemeinsame Arbeit jetzt zuerst einmal darauf ausgerichtet werden solle, die alltäglichen

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Beziehungen und die Schwierigkeiten im Verhältnis zu anderen besser zu verstehen und nach Möglichkeit auch zu verändern. Er habe den Eindruck, dass sie dem ausweiche, indem sie das Verstehen ihrer unbewussten Motive für ihr Verhalten zur Voraussetzung für dessen Veränderung mache. Daraufhin erwiderte die Patientin, dass sie ja »an die Scheißverhältnisse« nur angepasst werden solle, und was das denn für eine Therapie sei, bei der das Unbewusste keine Rolle spiele. Der Therapeut widersprach ihr; das Unbewusste spiele auch in dieser Therapieform sehr wohl eine Rolle, aber vielleicht nicht in dem Sinn, wie sie das meine; hier spiele das Unbewusste vor allem in der Weise eine Rolle, dass es wichtig sei zu erkennen und zu durchschauen, wie und mit welchen Mitteln das Zusammensein mit anderen und die gemeinsamen Beziehungen eigentlich gestaltet und abgewickelt würden, so dass es immer wieder zu so enttäuschenden und schlimmen Erfahrungen komme, wie das bei ihr seit nunmehr schon vielen Jahren der Fall sei. Ihm scheine, dass das durchaus nicht bewusst und insofern tatsächlich auch etwas Unbewusstes sei, das sich allerdings nicht aufdecken lasse, indem sie sich ausschließlich mit sich selbst und ihren Gedanken, Gefühlen und Fantasien beschäftige, sondern indem sie ihre Aufmerksamkeit auch auf die Beziehungen und damit sowohl auf sich selbst wie auf andere richte. Durch eine Analyse ihrer Träume werde sie darüber, was in den Verhältnissen mit anderen eigentlich immer wieder schieflaufe, nicht viel herausfinden, wie die vergangenen Therapieerfahrungen ja auch gezeigt hätten; wohl aber gäbe es eine Chance, das genauer zu erkennen, wenn sie sich darauf einlassen könne, ihr Verhalten in Beziehungen, das Verhalten anderer ihr gegenüber und die wechselseitigen Verhältnisse genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Patientin willigte schließlich in die Behandlung ein, nicht ohne zuvor ihrer Verachtung Ausdruck gegeben zu haben. Damit sicherte sie in dieser Situation ihren Selbstwert, indem sie nicht das Gefühl haben musste, klein beigegeben zu haben.

Der Therapeut verhandelt mit dem Patienten über Therapieziele. Bevor der Therapeut eine psychotherapeutische Behandlung empfiehlt, sollte er mit dem Patienten darüber sprechen, was sich nach dessen Meinung durch eine Therapie verändern soll und welches Ziel oder welche Ziele er mit einer Behandlung verbindet. Um sich ein Bild davon zu machen, welche Vorstellungen und Erwartungen der Patient mit einer Therapie verbindet und wie klar oder diffus die Ziele sind, die er anstrebt, kann es hilfreich sein, wenn der Therapeut

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Die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung

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den Patienten auffordert, sich einmal auszumalen, er hätte durch die Behandlung erreicht, was er erreichen möchte, und sich vor Augen zu halten, wie in diesem Fall im Unterschied zum gegenwärtigen Zeitpunkt sein Alltag aussehen sollte. Wie unrealistisch oder unbestimmt und diffus die Vorstellungen davon, was mit der Therapie zu erreichen ist, auch immer sein mögen, so sollte der Therapeut die Ziele des Patienten nicht zurückweisen. Ziele für die therapeutische Arbeit sollten mit strukturell gestörten Patienten »verhandelt« werden. Damit kann bereits ein wichtiger Teil der Therapie verbunden sein, indem Patient und Therapeut im Prozess des »Verhandelns« implizit die unbestimmten, diffusen Größenfantasien des Patienten bearbeiten, ohne dass diese Größenfantasien deshalb explizit zum Thema gemacht werden müssten. Manche Patienten haben keine auch nur annähernd konkreten Vorstellungen davon, was sich durch eine Behandlung verändern soll; sie wollen, dass es ihnen »irgendwie besser« geht, oder sie versprechen sich eine Veränderung ihres Zustandes von Veränderungen der Verhältnisse in ihrer Umwelt, ohne solche Veränderungswünsche näher benennen zu können.Andere Patienten haben illusionäre Vorstellungen von den Möglichkeiten einer Psychotherapie und verbinden mit einer Behandlung die vage Idee, »von jetzt ab alles anders« zu machen. Sie wünschen sich, ihr Leben »völlig umzukrempeln«, und erwarten, dass eine psychotherapeutische Behandlung sie in die Lage versetzt, noch einmal »neu anfangen« und sämtliche ihrer Schwierigkeiten endlich überwinden zu können. Der Psychotherapeut steht dann vor der Aufgabe, sich mit dem Patienten auf Ziele zu verständigen, die potentiell erreichbar sind. Manche Patienten werden sich dem Bemühen des Therapeuten widersetzen, sich auf konkrete und umschriebene Behandlungsziele festzulegen, weil sie von diffusen Idealen nicht Abstand nehmen oder weil sie sich nicht auf überprüfbare Schritte festlegen lassen wollen, könnte daran doch das Ausmaß ihrer Beeinträchtigungen erkennbar werden. Andere strukturell gestörte Patienten haben erhebliche Schwierigkeiten, überhaupt halbwegs konkrete Zielvorstellungen, die sie mit Hilfe der Therapie erreichen wollen, zu benennen, beispielsweise Patienten, die keine Anschauung davon haben, wie schwierig es ist, sich selbst zu verändern.

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Bei einem Patienten, dem es nicht möglich ist, für eine Behandlung halbwegs konkrete und umschriebene Ziele zu nennen, kann ein erstes Ziel darin bestehen, eben solche Zielvorstellungen zu entwickeln. Meist wird sich dann herausstellen, dass die therapeutische Arbeit, die sich explizit darauf richtet, soweit möglich, konkrete Ziele für die Behandlung zu finden, implizit meist über das Auffinden von Zielen hinausgeht: Oft handelt es sich um Patienten, bei denen mit der Zielsetzung, sich über Behandlungsziele klar zu werden, implizit daran gearbeitet wird, sich mit Bedingungen der Realität auseinanderzusetzen. Beispiel: So konnte ein Patient auf die Frage des Therapeuten, was er versuchen wolle mit Hilfe der Behandlung zu erreichen, nicht mehr sagen, als dass es ihm »besser gehen« solle, konnte aber nicht genauer sagen, was er mit diesem »besser gehen« verbindet; »so das Ganze eben« lautete seine Antwort auf die entsprechende Nachfrage des Therapeuten. Um vielleicht doch zu einer fassbareren Antwort auf die Frage nach den Therapiezielen zu kommen, regte der Therapeut den Patienten, einen Studenten, an, sich einmal vorschweben zu lassen, wie sein Alltagsleben zukünftig aussehen möge, wenn die Behandlung einmal beendet und aus seiner Sicht erfolgreich verlaufen sei. Trotz dieser Anregung war es dem Patienten nicht möglich, eine bestimmtere Antwort zu geben; er meine eben, dass es ihm »besser gehen« müsse, er sei ja zur Behandlung gekommen, weil er nicht wisse, warum es ihm »schlecht geht«. Weitere Bemühungen des Therapeuten, von dem Patienten mehr darüber zu erfahren, was er mit »besser gehen« und »schlecht gehen« verbindet, führten nicht zu konkreteren Antworten. Angesichts dieser Erfahrung schlug der Therapeut dem Patienten als ein erstes Ziel für die Therapie vor herauszufinden, um welche weiteren Ziele es gehen könnte und wie die Veränderungen in seinem Alltagsleben eventuell aussehen könnten, so dass er dann möglicherweise und hoffentlich sagen könnte, dass es ihm »besser geht«. Zwei Stunden später sprachen Patient und Therapeut darüber, wie sozial isoliert der Patient lebte und wie fremd er sich unter seinen Kommilitonen fühlte. Als der Patient meinte, dass er »vielleicht gerne eine Freundin« hätte, fragte der Therapeut, ob er meine, dass das ein aus seiner Sicht wichtiges Ziel sein könne; in diesem Fall könne man ja in der folgenden Phase der Behandlung versuchen zu untersuchen, welcher Art die Schwierigkeiten im Verhältnis zu anderen seien, die es schwer machten, mit anderen in Kontakt zu kommen und eventuell eine Freundin zu finden.

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Wieder andere Patienten möchten überhaupt keine Ziele formulieren, weil sie fürchten, wie schon so oft, ein weiteres Mal mit einer schweren Enttäuschung fertig werden zu müssen, wenn sie die ins Auge gefassten Ziele nicht erreichen. Manche Patienten sind zutiefst resigniert, und sie haben jede Hoffnung aufgegeben, dass es für sie noch irgendetwas Gutes geben und sich an ihrem Zustand irgendetwas zum Positiven verändern könnte. In diesem Fall muss bis auf Weiteres die therapeutische Arbeit an der Resignation des Patienten im Vordergrund stehen. Solange ein Patient nichts Gutes mehr erwartet und jedes Aufkeimen von Hoffnung auf Besserung seines Zustandes sofort im Keim ersticken muss, wird er auch jeden kleinen, nach vorn gerichteten Schritt in der Therapie zunichte machen müssen. Fragt man Patienten, wie sie sich vorstellen, die Ziele, die sie genannt haben, in der Therapie zu erreichen, kommen manchmal magische Erwartungen, diffuse narzisstische Vollkommenheitsideale und illusionäre Hoffnungen, von einem omnipotenten, mit Macht und Makellosigkeit ausgestatteten Therapeuten von allem Schlechten und Unansehnlichen befreit zu werden, zum Vorschein. Es soll sich Entscheidendes ändern, und was das Leben seit vielen Jahren und manchmal seit Jahrzehnten erschwert hat, soll innerhalb von wenigen Wochen zum Verschwinden gebracht sein. Beispiel: Wenn ein Patient vor Behandlungsbeginn zu verstehen gibt, dass er davon ausgeht, seine Schwierigkeiten und Probleme, mit denen er seit vielen Jahren zu tun hat, innerhalb von wenigen Wochen lösen und klären zu wollen, sollte der Therapeut diese Erwartung vor Beginn jeder Therapie zum Thema mit dem Patienten machen. Der Therapeut könnte darauf etwa in folgender Weise Bezug nehmen: »Dass Sie Ihre Schwierigkeiten so rasch wie möglich überwinden möchten, ist verständlich. Nur muss ich Ihnen sagen, dass das nicht möglich sein wird. Die meisten seelischen Probleme und die Schwierigkeiten, die sich im Verhältnis zu anderen Menschen immer wieder in ähnlicher Weise zeigen, haben fast immer eine lange Geschichte und gehen häufig auf frühe Erfahrungen in der Entwicklung zurück. Damals haben die Verhaltensweisen, die Ihnen heute zu schaffen machen, wahrscheinlich ihren guten Sinn gehabt und Ihnen einmal über längere Zeit hinweg ermöglicht, mit den Bedingungen, die für sie schwierig waren, fertig zu werden. Inzwischen haben sich Ihre Ver-

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hältnisse verändert und diese Verhaltensweisen, die einmal wichtig für Sie waren, haben inzwischen ihren Nutzen verloren und beeinträchtigen Sie. Nur: Was einmal über viele Jahre hinweg wichtig gewesen ist und seinen guten Sinn gehabt hat, kann man nicht innerhalb von kurzer Zeit verändern. Das wäre ja auch ganz beunruhigend, wenn wir uns so einfach und wie nebenher verändern und unsere Erfahrungen und unsere Geschichte beiseite lassen könnten. Um zu erreichen, etwas zu verändern, was seit vielen Jahren zu Ihnen gehört hat und noch gehört, ist ein längerer Prozess erforderlich. Das heißt aber nicht, dass das aussichtslos ist. Aber wenn Sie das ernsthaft in Angriff nehmen wollen, müssen Sie sich darauf einstellen, dass das nicht schnell zu erreichen sein wird, und Sie werden Geduld aufbringen und darauf gefasst sein müssen, dass es dabei nicht nur Erfolge gibt. Sich selbst und das eigene Verhalten zu verändern, ist nach meiner Erfahrung harte Arbeit. Wenn Sie dazu trotzdem bereit sind, können wir versuchen, die ersten Schritte in diese Richtung gemeinsam zu gehen.«

Bei Patienten, die mit Psychotherapie nie zuvor in Berührung gekommen sind, begegnet man gelegentlich der Überzeugung, dass in einer psychotherapeutischen Behandlung der Patient von eigenen Problemen berichtet und der Therapeut ihm Hinweise und Tipps gibt, was zu tun ist, um die Probleme zu bewältigen. Der Therapeut sollte in Verbindung mit der Frage von Behandlungszielen solche Annahmen richtig stellen. Der Therapeut erläutert dem Patienten, welches Verhalten von ihm erwartet wird. Der Patient muss wissen, wie er sich in der Behandlung verhalten sollte. Patienten, die keine Erfahrungen mit Psychotherapie haben, gehen manchmal davon aus, dass der Therapeut ihnen Fragen stellen und ihnen sagen wird, was er von ihnen wissen will. Der Therapeut muss dem Patienten in verständlicher Weise erläutern, dass für eine erfolgreiche Behandlung die aktive Mitarbeit des Patienten erforderlich ist. Dabei reicht gewöhnlich nicht aus, an die Mitarbeitsbereitschaft des Patienten nur zu appellieren, sondern der Therapeut sollte dem Patienten so anschaulich wie möglich erläutern, was mit aktiver Mitarbeit gemeint ist und wie er sich dabei verhalten sollte. Darüber hinaus muss der Patient vor Beginn der Behandlung wissen, dass eine effektive Behandlung nicht an seinen Schwierigkeiten vorbei erfolgen kann, sondern nur »durch die Probleme hindurch«. Er sollte darauf vorbereitet sein, dass er sich diesen

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Schwierigkeiten auch in der Behandlung immer wieder wird stellen und bislang gemiedene Situationen mit therapeutischer Begleitung in gewissem Umfang wird auf sich nehmen müssen. Patienten haben manchmal die Hoffnung, dass sie sich in der Therapie nur an vergangene Erfahrungen, die zu ihren gegenwärtigen Beeinträchtigungen beigetragen haben, erinnern und darüber reden müssen, was sie in ihrer Kindheit erlebt haben, damit ihre derzeitigen Schwierigkeiten verschwinden. Insbesondere Patienten mit sozialen Ängsten, die bei strukturellen Störungen häufig sind, hoffen oftmals insgeheim, dass ihre Scheu, ihre quälenden Schamgefühle und ihre Angst vor anderen Menschen verschwinden werden, wenn sie darüber nur ausführlich sprechen. Sie versuchen aber weiterhin, die sozialen Situationen, denen ihre Angst gilt, zu meiden. Der Therapeut muss dann klarstellen, dass eine effektive Behandlung nicht erfolgen kann, indem über Schwierigkeiten lediglich geredet wird, sondern dass der Patient auch bereit sein muss, sich mit therapeutischer Unterstützung Situationen auszusetzen, die er bislang gemieden hat. Beispiel: »Es ist wichtig für Sie zu wissen, dass eine psychotherapeutische Behandlung, wie wir Sie planen, sich nicht darauf beschränken kann, dass wir über Ihre Schwierigkeiten und Probleme nur sprechen. Sie müssen auch bereit sein, sich den Schwierigkeiten zu stellen und sich Situationen auszusetzen,um die Sie in der Vergangenheit einen großen Bogen gemacht haben. Das wird nicht immer leicht für Sie sein. Wir werden uns dann mit diesen Situationen beschäftigen und beispielsweise über ihre Befürchtungen sprechen. Aber Sie müssen sich den Situationen zu gegebener Zeit auch stellen, und wir werden uns dann damit beschäftigen, welche Erfahrungen Sie dabei machen.«

Wenn der Therapeut dem Patienten erläutert, wie er sich in der Behandlung verhalten sollte, kann das beispielsweise folgendermaßen geschehen: Beispiel: »Viele Ihrer Schwierigkeiten treten im Verhältnis zu anderen Menschen auf. Darum wird es wichtig sein, dass wir uns nicht ausschließlich mit Ihrem Erleben beschäftigen, sondern auch damit, wie es zu den Verhältnissen zwischen Ihnen und anderen kommt, die manchmal

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so schwierig sind. Ihre Beziehungen zu anderen, die Art und Weise, wie Sie Beziehungen erleben, aber auch die Art und Weise, wie Sie das Zusammensein mit anderen mitgestalten und wie Sie sich dabei verhalten, sollte ein Schwerpunkt in der Therapie sein. Damit das möglich ist und wir Ihre Erfahrungen im Verhältnis zu anderen gemeinsam untersuchen können, sollten Sie versuchen, möglichst unzensiert mitzuteilen, was Sie bemerken und was Ihnen auffällt, bei sich selbst, bei Ihrem Gegenüber, Ihre Gedanken und Ihre Gefühle oder wonach Ihnen im Moment der Sinn steht. Weil zu Beziehungen aber immer auch die andere Seite gehört, sollten Sie versuchen, auch darauf zu achten, wie Sie die andere Person erleben, wie Sie das Verhalten der anderen Person verstehen oder sich erklären und was Sie im Verhältnis zu der anderen Person im Moment vielleicht am liebsten tun würden. Darüber hinaus sollten wir dafür auch das Geschehen hier zwischen uns nutzen, und deshalb möchte ich Ihnen manchmal auch sagen, wie ich Sie und Ihr Verhalten hier erlebe.«

Je nach individuellem Störungsbild kann diese Empfehlung ergänzt oder modifiziert werden. Bei Patienten beispielsweise, die in hohem Maße sozial ängstlich sind und deren Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf die eigene Person gerichtet ist, ist es wichtig, die Erwartung zu betonen, auch für das Gegenüber und dessen Verhalten aufmerksam zu sein. Bei Patienten, die dazu neigen, Erwartungen anderer wie selbstverständlich nachzukommen und eigene Belastbarkeitsgrenzen zu missachten oder nicht wahrzunehmen, sollte der Therapeut auf die Notwendigkeit hinweisen, auf eigene Belastbarkeitsgrenzen zu achten. Weil Patienten mit strukturellen Störungen der Persönlichkeit ihre Erfahrungen oft nicht in Worten mitteilen, sondern sie handelnd darstellen, impulsiv agieren und sich selbstdestruktiv und manchmal auch fremddestruktiv verhalten, muss der Therapeut nachdrücklich betonen, dass es in der Therapie darum geht, Erfahrungen und momentanes Erleben in Worten mitzuteilen, dass augenblickliche Neigungen und Impulse aber nicht in die Tat umgesetzt werden sollten. Das kann der Therapeut seinem Patienten etwa in folgender Weise erläutern: Beispiel: »Sie neigen manchmal dazu, aus einem Gefühl oder einem Impuls heraus plötzlich zu handeln oder etwas zu tun, was Sie später bereuen.

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Sie haben mir berichtet, dass Sie manchmal auch schon dicht davor waren, gewalttätig zu werden oder in bedrohliche Situationen zu geraten und einmal ja auch schon die Grenze überschritten haben. Damit eine psychotherapeutische Behandlung möglich ist, ist es erforderlich, dass Sie mit Worten ausdrücken, was Sie tun möchten, dass Sie Ihrer Neigung, entsprechend zu handeln, aber nicht nachgeben. Wenn Sie merken, dass das für Sie schwierig wird, teilen Sie das bitte sofort mit, damit wir dafür sorgen können, dass nichts Gravierendes passiert. Unter Umständen werden wir die Behandlung dann kurzfristig unterbrechen, bis Sie die Sicherheit wiedergewonnen haben, dass Sie Ihre Gefühle und Impulse verlässlich genug steuern können.«

Angesichts dessen, dass Patienten oftmals gerade deswegen zur Behandlung kommen, weil ihnen die Fähigkeit zur Steuerung von Affekten und Impulsen nicht ausreichend zur Verfügung steht, mag diese Forderung auf den ersten Blick paradox erscheinen. Auch wenn Patienten dieser Aufforderung nicht immer verlässlich genug nachkommen können, so ist der unmissverständliche Hinweis, dass drängenden Handlungsimpulsen nicht nachgegeben werden kann, gleichwohl wichtig. Die Erwartung, die damit formuliert wird, ist der Markierung einer Grenzlinie vergleichbar, die orientierende und haltende Funktionen hat. Wenn es einem Patienten nicht möglich ist, sein Verhalten angesichts intensiverer Affekte und Impulse ausreichend zu steuern, müssen andere Steuerungshilfen herangezogen werden, beispielsweise in Form vorübergehender medikamentöser Unterstützung. Der Therapeut erläutert dem Patienten, wie er selbst sich in der Therapie verhalten wird. Die der Behandlung vorgeschaltete Information des Patienten über einige Grundzüge des therapeutischen Gesprächs sollte auch beinhalten, dass der Therapeut erklärt, wie er selbst sich in der Therapie verhalten wird. Dazu sollte er dem Patienten unter anderem mitteilen, dass er, wenn ihm das sinnvoll und nützlich erscheint, äußern wird, was ihm an dem Verhalten des Patienten auffällt, wie er dessen Verhalten versteht oder was ein bestimmtes Verhalten bei ihm selbst bewirkt. Vor allem muss er den Patienten darauf vorbereiten, dass er gelegentlich auch sagen wird, wie er selbst sich möglicherweise verhalten würde oder verhalten hätte, wenn er an Stelle des Patienten wäre, so dass der Patient prüfen kann, ob das Verhalten, zu dem der Therapeut möglicherweise gegriffen

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hätte, für ihn nützlich sein könnte. Weiter teilt der Therapeut dem Patienten mit, dass er darüber hinaus manchmal versuchen wird, sich vorzustellen, wie er das Verhalten des Patienten möglicherweise erlebt hätte oder erleben würde, wenn er an Stelle der anderen Person gewesen wäre. Schließlich bereitet er den Patienten darauf vor, dass er sich manchmal dazu äußern wird, wie er selbst den Patienten und sein Verhalten in der momentanen Therapiesituation erlebt und welche Gefühle und welche Handlungsbereitschaften sich bei ihm dem Patienten gegenüber manchmal einstellen. So weit das in einem vorbereitenden Gespräch irgend möglich ist, sollte der Therapeut den Patienten, zumal Patienten, die bereits Erfahrungen mit anderen psychotherapeutischen Verfahren haben, nachvollziehbar aufzeigen, welches Verhalten mit dem antwortenden Modus (s. Abschnitt »Der antwortende Modus«) verbunden ist, und aus welchen Gründen er es für nützlich hält, die therapeutische Beziehung dazu zu nutzen, manche Aspekte dessen, wie der Patient das Zusammensein mit anderen erlebt und sich im Kontakt mit anderen verhält, zu erkennen und zu untersuchen. Beispiel: »Wir hatten darüber gesprochen, dass Ihr Verhältnis zu anderen ein wichtiges Thema in der Therapie sein sollte. Wir können damit rechnen, dass manche der Schwierigkeiten, die sie in Ihrem Alltag haben, auch zwischen uns auftauchen werden. Darum möchte ich mich an unserem Gespräch nicht nur in der Weise beteiligen, dass ich Ihnen sage, was mir an Ihrem Verhalten auffällt und wie ich das verstehe, sondern ich möchte Ihnen bei passender Gelegenheit, wenn wir über Ihre Beziehungen zu anderen sprechen, auch sagen, wie ich mich vielleicht an Ihrer Stelle verhalten hätte oder wie ich Sie erlebt hätte, wenn ich an Stelle der anderen Person gewesen wäre. Manchmal möchte ich Ihnen auch sagen, wie ich Sie hier in unserer gemeinsamen Situation erlebe und welche Gefühle Ihnen gegenüber sich bei mir einstellen. Auf diese Weise können wir das Geschehen zwischen uns auch dazu nutzen, uns mit diesem Thema zu beschäftigen.«

Merke: Zur Aufklärung des Patienten über die Behandlung gehört, dass der Therapeut den Patienten darüber informiert, ob er eine psychotherapeutische Behandlung empfiehlt und wie er deren Chancen beurteilt; dass er dem Patienten die Art der Therapie, die er

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ihm nahe legt, erläutert und begründet; dass er mit dem Patienten über realistische Therapieziele verhandelt, ihm klar macht, welches Verhalten von ihm in der Therapie erwartet wird, und ihm deutlich macht, wie er selbst sich in der Therapie verhalten wird.

Rahmenbedingungen Für die Behandlung sind klare Rahmenbedingungen unverzichtbar. Im Zuge der Vereinbarung von Rahmenbedingungen sollte der Therapeut mit dem Patienten über alle Voraussetzungen und Bedingungen sprechen, die mindestens erfüllt sein müssen, damit die Behandlung so durchgeführt werden kann, dass sie potentiell zum Erfolg führt. Klare und unmissverständliche Vereinbarungen über Bedingungen, die für eine nützliche Therapie vorausgesetzt werden müssen, markieren Grenzen und strukturieren die therapeutische Situation. Sie vermitteln dem Patienten, aber auch dem Therapeuten, Orientierung und relative Sicherheit. Damit das möglich ist, müssen die Rahmenbedingungen verlässlich sein. Auch Rahmenbedingungen für die in Aussicht genommene Behandlung sollten wie zwischen gleichberechtigten Partnern »verhandelt«, aber nicht »verordnet« werden. Der Therapeut muss für all diejenigen Bedingungen eintreten, die nach seiner Erfahrung gewährleistet sein müssen, damit eine Behandlung überhaupt möglich ist und potentiell erfolgreich verlaufen kann. Der Patient sollte ermuntert werden zu sagen, welche Bedingungen er seinerseits zu brauchen meint, um in der Therapie mitarbeiten zu können, bzw. welche Bedingungen er seiner Erfahrung nach nicht oder nur schwer wird einhalten können. Dabei darf der Therapeut hinter Bedingungen, die nach seiner Erfahrung unabdingbare Voraussetzung für die Behandlung sind, nicht zurückgehen. Bedingungen, die der Patient geltend macht, kann der Therapeut dann akzeptieren, wenn sie mit einer effektiven Behandlung vereinbar sind; umgekehrt darf er sich auf Bedingungen nicht einlassen, die nach seiner Einschätzung mit einer effektiven Therapie nicht vereinbar sind. So darf er sich beispielsweise nicht auf halbherzige Verabredungen zum Umgang mit suizidalem Verhalten einlassen. Auf der anderen Seite wird der Patient Bedingungen nicht

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ohne Weiteres hinnehmen können, von denen er meint, dass sie seine Toleranzgrenzen überschreiten. Indem der Therapeut mit dem Patienten über Rahmenbedingungen verhandelt, stellt sich heraus, ob beide sich auf einen gültigen Rahmen für die Therapie verständigen können, die sowohl der Patient tolerieren wie der Therapeut akzeptieren kann. In jedem Fall müssen beide Seiten, Patient und Therapeut, sich über Rahmenbedingungen nicht nur einigen, sondern deren Gültigkeit auch verbindlich festlegen. Die Therapie sollte nicht eher begonnen werden, als bis das erfolgt ist. Die Rahmenbedingungen müssen in den meisten Fällen Regelungen umfassen – zum Schwerpunkt der Behandlung, – zum Verhalten in Krisensituationen wie nicht sicher steuerbare Suizidalität, bedrohliches selbstverletzendes Verhalten, Rückfallgefährdungen bei süchtig-abhängigem Verhalten, psychotische Dekompensation u. a., – zum Umgang mit Medikamenten, – zur voraussichtlichen Dauer der Therapie, – zur vorzeitigen Beendigung der Behandlung, – zu Kontakten mit dem Therapeuten außerhalb der festgelegten Therapiezeiten, – zum Umgang mit ausgefallenen Stunden und – zu Honorarfragen. Dazu gehört auch, dass der Therapeut sich mit dem Patienten darüber verständigt, was geschehen muss, wenn die vorab vereinbarten Rahmenbedingungen nicht eingehalten werden oder nicht eingehalten werden können. Der Rahmen wird möglichst auf jeden Patienten individuell abgestimmt. Gegenstand der Vereinbarungen sollte jedwedes Verhalten sein, das für die therapeutische Arbeit mit diesem Patienten unabdingbare Voraussetzung ist, bzw. jedes Verhalten, das die therapeutische Arbeit gefährden könnte. Mit Patienten, bei denen zu erwarten ist, dass sie in kritischen Situationen dazu neigen, sich in erheblichem Maße selbst- oder fremdschädigend zu verhalten, muss vorab festgelegt werden, unter welchen Bedingungen eine Verlegung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung erfolgen oder die Therapie unterbrochen werden

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Die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung

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muss, im Extremfall auch gar nicht fortgesetzt werden kann. Wurde dies vor Beginn der Therapie unmissverständlich vereinbart, lassen sich folgenreiche Belastungen der therapeutischen Kooperation oftmals vermeiden oder zumindest begrenzen, wenn es während der Behandlung tatsächlich zu krisenhaften Situationen kommt. Reagiert der Therapeut erst dann, wenn sich die Situation bereits zugespitzt hat, ohne mit dem Patienten zuvor verabredet zu haben, was unter Umständen wie denen, die jetzt eingetreten sind, zu geschehen hat, muss er damit rechnen, dass der Patient sein Verhalten als willkürlich erlebt und den nunmehr erforderlich gewordenen Schritten erheblichen Widerstand entgegensetzt. Manche Patienten geraten immer wieder in Situationen, die die eigene körperliche und seelische Gesundheit gefährden. Das verlangt meist einen auf den einzelnen Patienten und dessen individuelle Bedingungen abgestimmten therapeutischen Umgang und spezifische Vereinbarungen. Besondere und individuell auf den Patienten ausgerichtete Vereinbarungen können auch für Patienten erforderlich sein, deren Fähigkeit gering ist, Beziehungen auch unter schwierigen Umständen aufrechtzuerhalten, und die schon in Verbindung mit geringfügigen Versagungen immer wieder in tiefe Zustände von Verlassenheit und Verlorenheit geraten. Ähnlich kann es bei Patienten, die imperativ nach sofortiger Befriedigung ihrer Bedürfnisse verlangen und zu deren Befriedigungsaufschub kaum in der Lage sind, erforderlich sein, besondere, darauf abgestimmte Verabredungen zu treffen. Beispiel: Mit einer jungen Patientin, die über Jahre hinweg unter unbehausten Verhältnissen gelebt, sich Geld mit der Teilnahme an »streetfights« verdient, während dieser Zeit regelmäßig diverse Drogen konsumiert hat, neben anderen Beeinträchtigungen Zeichen einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung im Erwachsenenalter zeigte und kaum in der Lage war, auch nur minimale Versagungen zu tolerieren und die Befriedigung von Bedürfnissen aufzuschieben, wurde als Teil der Rahmenbedingungen vereinbart, dass sie in einem ersten Schritt versucht, vor mit Unlust verbundenen Erfahrungen nicht sofort zu fliehen, sondern den Versuch zu machen, die Zeitspanne mehr und mehr auszudehnen, über die hinweg sie solche Unlusterfahrungen aushält. Zu dieser Vereinbarung gehörte, dass die Patientin versuchen möge, über die gesamte Zeit hinweg bei der Gruppenthe-

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rapie anwesend zu sein. Um die Patientin allerdings nicht zu überfordern und ihr damit weitere Misserfolgserfahrungen zuzumuten, wurde mit ihr ausdrücklich verabredet, dass sie sich vorerst nicht unbedingt anstrengen solle, sich an dem Gespräch in der Gruppe aktiv zu beteiligen, wenn das für sie schwierig wäre, sondern dass es vorerst wichtiger sein solle, dass sie sich darum bemüht, statt wie sonst bei unangenehmen und schwierigen Erfahrungen wegzulaufen und den Raum zu verlassen, die Situation so weit wie irgend möglich auszuhalten und trotz unangenehmer Gefühle sich den aktuellen Umständen auszusetzen, um so die Erfahrung machen zu können, dass sich Frustrationen auch aushalten lassen. Dazu wurden der Patientin darüber hinaus einige Empfehlungen gegeben, was sie in Anwesenheit der Mitpatienten in der Gruppe möglicherweise tun könne, um sich die Situation leichter zu machen.

Allein aufgrund der Diagnose lässt sich im Vorhinein nicht sagen, wie der Rahmen gestaltet werden muss. Im Gegenteil können diagnostische Kategorien eher dazu verführen, die individuellen Besonderheiten des je einzelnen Patienten bei der Gestaltung des Rahmens außer Acht zu lassen. Vor allem weit gefasste und unspezifische Diagnosen, die ein breites Spektrum höchst heterogener Störungen umfassen, beispielsweise die der Borderline-Störung, verleiten dazu, aus dem Auge zu verlieren, wie verschieden die Patienten sind und wie wichtig es deshalb ist, die Rahmenvereinbarungen auf ihre individuellen Besonderheiten abzustimmen. Schwerpunkt der Behandlung Wo der Schwerpunkt in der Behandlung liegen soll, wird zwischen Patient und Therapeut vereinbart. Dieser Schwerpunkt oder Fokus hat die Funktion eines roten Fadens für die Therapie oder für einen Abschnitt der Therapie. Der Fokus sollte meist auf diejenigen Beeinträchtigungen ausgerichtet sein, die im Gefüge der Störung dieses Patienten einen zentralen Platz einnehmen. Gelegentlich kann es nützlich sein, mit einem Patienten nicht nur einen einzigen, sondern zwei oder auch mehrere solcher Schwerpunkte zu vereinbaren. Gewöhnlich wird ein anfangs festgelegter Schwerpunkt über eine längere Therapiephase hinweg, seltener auch für die gesamte Dauer der Behandlung beibehalten. Ob und wann es in einer Behandlung angezeigt ist, den Schwerpunkt zu verändern oder zu erweitern, richtet sich nach dem Therapieverlauf. Manchmal stellt sich kurz

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Die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung

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nach Beginn der Therapie heraus, dass der gewählte Schwerpunkt gleichsam zu hoch, seltener auch zu niedrig angesetzt ist und der Patient über die für die therapeutische Arbeit erforderlichen Voraussetzungen nicht verfügt. In diesem Fall sollte der Therapeut mit dem Patienten offen darüber sprechen, warum er den ursprünglich gewählten Schwerpunkt für ungeeignet und welchen näher liegenden Schwerpunkt er für angemessener hält. Viele Patienten verlieren den anfangs für die Behandlung vereinbarten Schwerpunkt rasch wieder aus den Augen. Es gehört zu den Aufgaben des Therapeuten, den Patienten an den verabredeten Schwerpunkt zu erinnern und das Verhalten des Patienten immer wieder mit der Problematik, die mit dem Fokus aufgegriffen wurde, zu verknüpfen. Beispiel: Bei einem Patienten erwies es sich über einige Zeit hinweg und in unterschiedlicher Weise als schwierig, sich mit ihm auf einen Schwerpunkt für die Behandlung zu verständigen. Anfangs konnte er kaum ausdrücken, was ihm aus seiner eigenen Sicht Probleme bereitete. Er wollte, dass es ihm besser geht, konnte aber nicht genauer sagen, was er damit meinte und in welcher Weise es ihm schlecht ging. »Das Ganze eben, mein ganzes Leben, wie das so läuft« schien das Konkreteste, was er dazu sagen konnte. Vor diesem Hintergrund galt das vorrangige Bemühen der Therapeutin dem Versuch, sich in einem ersten Schritt mit ihm darauf zu verständigen, dass zu Beginn der gemeinsamen Arbeit die Frage im Vordergrund stehen sollte, wo bei der dann folgenden weiteren Therapie aus seiner Sicht der Schwerpunkt liegen solle. Wenige Wochen später konnte der Patient sehr viel klarer sagen, was »das Ganze« für ihn umfasste und in welcher Weise dieses »Ganze« sich für ihn problematisch darstellte: Er kam eines Tages mit einem Zettel in der Hand in die Behandlungsstunde und hatte eine Liste mit Themen erstellt, die er in der Therapie behandeln wollte. Auch darin spiegelte sich noch seine Schwierigkeit wider, Realitäten genauer wahrzunehmen; gleichwohl hatte »das Ganze« mit seiner Liste konkretere Formen angenommen, als das noch kurz zuvor der Fall gewesen war. Dort hatte er sich unter anderem notiert, dass er in der Behandlung in Erfahrung bringen wolle, wie er eigentlich sei, er wolle mit anderen Menschen besser zurechtkommen, obwohl er nicht sagen konnte, in welcher Weise das bis dahin nicht der Fall war; dann wollte er klären, warum er sich eigentlich nicht für andere interessiere, weiter wollte er

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sich darüber im Klaren werden, was er »mal machen« könne, hinzu kamen diverse körperliche, hypochondrisch getönte Beschwerden, im Hinblick auf die er in der Therapie ausfindig machen wollte, »was das eigentlich ist«. Die Therapeutin begrüßte ausdrücklich, dass der Patient eine Liste erstellt, damit in einem ersten Ansatz in dem »Ganzen« Teile identifiziert und seine Wirklichkeit etwas genauer als zuvor in den Blick genommen hatte, indem sie meinte: »Jetzt kann ich schon etwas genauer erkennen, was für sie wichtig ist. Haben Sie eine Idee, welcher dieser Themenbereiche an erster Stelle stehen sollte?« Sie tat dies nicht in der Erwartung, dass der Patient darauf eine rasche Antwort würde geben können, sondern um ihn dazu anzuregen, im Hinblick auf seine Realität weiter zu differenzieren, wie er das mit der Erstellung der Liste begonnen hatte, indem er versuchte, darüber mehr Klarheit zu gewinnen, welches der vom ihm gleichgewichtig nebeneinander gestellten Problemfelder für ihn mehr und welches weniger Bedeutung haben sollte. Viel später in der Behandlung kam der Patient in anderem Zusammenhang, als die Frage nach seinen Maßstäben anstand, noch einmal darauf zu sprechen, dass die Therapeutin es gut gefunden habe, als er sich aufgeschrieben habe, worum es in der Behandlung gehen solle, und er meinte verlegen lächelnd, er habe das erst gar nicht glauben können, dass sie das wirklich gut gefunden habe, für ihn sei das »überhaupt nichts« gewesen, das habe gar nicht gezählt, ihm sei das nicht mal aufgefallen. Daran wurde im Weiteren deutlich, dass der Patient an sich und seine Welt, an »das Ganze«, durchweg unrealistische, unerreichbare Maßstäbe anlegte, die er – noch einige Zeit später – in der Weise kommentierte, dass etwas »Weltklasse« sein müsse, andernfalls lohne es nicht, auch nur an den Start zu gehen.

In besonderen Fällen wird auf die Festlegung eines umschriebenen Schwerpunktes bewusst verzichtet, zum Beispiel bei Patienten, die daraus eine Quelle perfektionistischer Anforderungen und masochistischen Scheiterns machen würden. Suizidales und selbstverletzendes Verhalten Unter einer psychotherapeutischen Behandlung können Suizidgedanken und Suizidimpulse, die bei Patienten mit strukturellen Störungen ohnehin häufig sind, stärker und drängender werden. Das muss für sich genommen noch kein Alarmzeichen sein. Suizidgedanken können manchmal ein Hinweis darauf sein, dass ein bis dahin starres psychisches Gleichgewicht labil geworden ist und die Therapie Wirkungen zeigt.

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Besondere Wachsamkeit ist immer dann geboten, wenn der Patient nicht mehr sicher ist, dass er angesichts von Suizidimpulsen sein Verhalten noch verlässlich steuern kann. Die Behandlung darf dann nur unter der Voraussetzung fortgesetzt werden, dass der Patient in der Lage ist, die getroffenen Vereinbarungen einzuhalten. Genauer muss er sein Verhalten noch so weit kontrollieren können, dass er in der Lage ist, sich zu melden, wenn er nicht mehr sicher ist, ob er die hinsichtlich seines suizidalen Verhaltens getroffenen Absprachen einhalten kann. Eine Behandlung ist nur möglich, solange der Therapeut sich darauf verlassen kann, dass der Patient nicht suizidal handelt, auch dann nicht, wenn ihn drängende Suizidimpulse quälen. Andernfalls gerät der Therapeut leicht in die Situation, dass er sich dem suizidalen Agieren des Patienten ausgeliefert fühlt und der Patient suizidal agiert, beispielsweise um den Therapeuten unter Kontrolle zu halten. Darum muss der Therapeut sich dessen vergewissern, ob der Patient noch so weit mit ihm kooperieren kann, dass er sich im Falle schwer beherrschbarer Suizidimpulse an ihn oder – im stationären Rahmen – an das therapeutische Personal wendet. Der Therapeut kann Suizidfantasien und Selbsttötungsimpulse des Patienten in der gebotenen Intensität und Dichte nur dann zum Gegenstand der therapeutischen Arbeit machen, wenn er absolut sicher sein kann, dass der Patient sich an die gemeinsam getroffenen Vereinbarungen hält und seine Gedanken und Impulse nicht in die Tat umsetzt. Damit umgekehrt Suizidalität Gegenstand der therapeutischen Arbeit werden kann, darf der Patient nicht den Eindruck haben, dass der Therapeut vor seinen Suizidgedanken und Suizidimpulsen ängstlich zurückweicht. Ist der Patient dessen nicht sicher, wird er leicht das Gefühl haben, den Therapeuten beispielsweise nicht belasten zu dürfen und wird in der Folge seine Suizidfantasien verschweigen. Für manche Patienten verbindet sich die Vorstellung, sich jederzeit suizidieren zu können, mit dem Gefühl von Autonomie. Sie wollen sich deshalb nicht eindeutig und verlässlich darauf festlegen, dass sie ihren Suizidimpulsen unter keinen Umständen nachgeben. Darauf darf und kann der Therapeut sich nicht einlassen. Er muss sicher sein können, dass der Patient die Vereinbarungen zum Umgang mit suizidalen Impulsen verbindlich einhält. Sagt der

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Patient das nicht verbindlich zu, sondern versichert eventuell nur, dass er sich darum bemühen werde oder dass der Therapeut sich »95-prozentig« darauf verlassen könne, sollte der Therapeut die Behandlung nicht beginnen. Tut er das doch, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Patient diese »Hintertür« für seine Zwecke – und das heißt in diesem Zusammenhang für suizidales Agieren – nutzen wird. Depressive Patienten erkennen in einer derartigen Forderung des Therapeuten zum Umgang mit suizidalem Verhalten manchmal nur das altruistische Interesse des Therapeuten, der sich um seinen Patienten sorgt, und sie reagieren darauf unter Umständen mit verstärkten Schuldgefühlen. In diesem Fall kann es hilfreich sein, wenn der Therapeut zum Ausdruck bringt, dass es durchaus auch in seinem eigenen Interesse liegt, von dem Patienten zu erwarten, die gemeinsam getroffenen Verabredungen absolut verlässlich einzuhalten, beispielsweise deshalb, weil er sich andernfalls in ständige Unruhe versetzt sieht. Eine derartige Erläuterung dem Patienten gegenüber könnte beispielsweise folgendermaßen lauten: Beispiel: »Wenn ich mich darauf verlassen können will, dass Sie Ihren Selbstmordimpulsen nicht nachgeben, dann ist das durchaus auch in meinem eigenen Interesse. Ich möchte meine freie Zeit nicht in ständiger Unruhe verbringen müssen, weil ich mich nicht darauf verlassen kann, ob sie nicht doch den Versuch machen werden, gegen sich selbst gewalttätig zu werden.«

Mit Patienten, von denen bekannt ist oder im Zuge der diagnostischen Untersuchungen zutage getreten ist, dass sie zu suizidalem Agieren neigen, sollte der Therapeut noch vor Beginn der Behandlung vereinbaren, was geschehen muss, wenn die Impulse nicht mehr sicher zu kontrollieren sind. Der Patient muss sich damit einverstanden erklären, sich im Fall nicht mehr steuerbarer Suizidimpulse zu seinem eigenen Schutz auf eine geschlossene psychiatrische Station aufnehmen zu lassen, und zwar so lange, bis er seine Fähigkeit wiedererlangt hat, sein Verhalten ausreichend verlässlich zu steuern.

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Für die Behandlung suizidaler Patienten ist in jedem Fall eine gut funktionierende Kooperation mit einer psychiatrischen Einrichtung, die über eine geschlossene Station verfügt, erforderlich. Ist eine notfallmäßige vorübergehende Einweisung oder Verlegung des Patienten in eine geschlossene psychiatrische Einrichtung unumgänglich geworden, sollte der Therapeut den Kontakt zu seinem Patienten nach Möglichkeit auch während der Zeit der Unterbringung aktiv aufrechterhalten, soweit die äußeren Bedingungen das zulassen. Das ist zumal dann wichtig, wenn der Patient zum Objektverlust neigt und ihm in seiner krisenhaften psychischen Verfassung die Beziehung zu seinem Therapeuten gänzlich verloren zu gehen droht, weil er nicht in der Lage ist, die Verbindung innerlich aufrechtzuerhalten. Gerade dann, wenn der Patient seine guten inneren Objekte zu verlieren droht oder schon aufgegeben hat, muss der Therapeut von sich aus alles unternehmen, damit er dem Patienten als »gutes Objekt« erhalten bleibt. Die meisten Patienten stimmen den notwendigen Vereinbarungen letztlich, wenn auch bisweilen widerwillig, zu. Dass alle Vereinbarungen letztlich kein Mittel sind, um mit absoluter Sicherheit zu verhindern, dass ein Patient sich suizidiert oder einen Suizidversuch unternimmt, versteht sich von selbst. Hat ein Patient die Vereinbarung nicht einhalten können und hat er unter der Behandlung tatsächlich einen Suizidversuch unternommen, muss geprüft werden, ob die Therapie fortgeführt werden kann oder ob eventuell eine andere Art der Behandlung für den Patienten besser geeignet ist. Umgang mit Medikamenten Bei einigen Patienten mit strukturellen Störungen ist neben der Psychotherapie – dauerhaft oder vorübergehend – auch eine symptomatische psychopharmakologische Behandlung unerlässlich, etwa bei depressiven Verstimmungen, bei schweren Schlafstörungen, massiven Ängsten und Panikattacken oder bei schwereren paranoiden Symptomen. In diesem Fall sollte der Therapeut immer auch dafür aufmerksam sein, welche Bedeutung die Medikamente über ihre biologischen Wirkungen hinaus für das subjektive Erleben des Patienten im Kontext der psychotherapeutischen Behandlung und insbesondere in Zusammenhang mit der therapeutischen Beziehung haben (Kapfhammer, 1999).

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Soweit vor Beginn der psychotherapeutischen Behandlung absehbar ist, dass der Patient auch psychopharmakologisch behandelt werden muss, sollte eine Vereinbarung darüber getroffen werden, wer für die medikamentöse Behandlung zuständig ist. In den meisten Fällen sollte die psychopharmakologische Therapie in den Händen eines im Umgang mit Psychopharmaka erfahrenen Psychiaters liegen. In diesem Fall ist eine vertrauensvolle Zusammenarbeit von Psychotherapeut und Psychiater – soweit der Psychiater die psychotherapeutische Behandlung nicht selbst durchführt – wichtig. Ist die Kooperation schwierig, beispielsweise deshalb, weil der Psychiater der Psychotherapie skeptisch gegenübersteht, ist die Gefahr groß, dass der Patient zu manipulativem und agierendem Verhalten eingeladen wird, ohne dass der manipulative Charakter des Verhaltens erkannt wird. Therapie außerhalb der Therapiezeiten Wenn es unter der Behandlung zu nicht vorhersehbaren Komplikationen kommt, kann es ausnahmsweise notwendig werden, von einmal getroffenen Vereinbarungen abzurücken und neue Verabredungen zu treffen. Beispielsweise kann es erforderlich werden, die zu Beginn vereinbarte Stundenfrequenz zu verändern, andere Behandlungszeiten festzulegen oder die Dauer der einzelnen Sitzung zu variieren, beispielsweise deshalb, weil ein Patient zusätzliche Krisentermine benötigt oder weil es angezeigt erscheint, mit dem Patienten häufigere Termine zu verabreden, dafür aber die Dauer der einzelnen therapeutischen Sitzung zu verkürzen. Der Therapeut sollte sich eindeutig dazu äußern, ob er im Notfall außerhalb der vereinbarten Therapiezeiten für den Patienten zu erreichen ist und wann und unter welchen Umständen der Patient sich an ihn wenden kann. Erfahrungsgemäß wird durch ein derartiges von dem Therapeuten in Aussicht gestelltes Angebot regressives Agieren kaum jemals verstärkt. Tatsächlich nehmen Patienten die Möglichkeit, den Therapeuten außerhalb der fest vereinbarten Behandlungszeiten zu erreichen, annähernd ausnahmslos nur dann in Anspruch, wenn das tatsächlich unvermeidlich ist. Im Gegenteil zeigen die meisten Patienten eher mehr Verantwortung für ihr eigenes Verhalten, wenn der Therapeut ihnen angeboten hat, dass sie sich im dringenden Notfall auch außerhalb der Behandlungszeiten an ihn wenden können.

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Dauer der Behandlung Die voraussichtliche Dauer einer Behandlung ist im ambulanten Rahmen meist durch die Richtlinien für tiefenpsychologisch fundierte Einzel- und Gruppenbehandlungen innerhalb gewisser Grenzen vorgegeben. Findet die Behandlung im stationären Rahmen statt, ist die Dauer der Therapie meist auf einige Wochen bis wenige Monate begrenzt. Unabhängig davon, wo die Behandlung stattfindet, sollte der Therapeut möglichst noch vor Beginn der Behandlung auf den begrenzten zeitlichen Rahmen hinweisen. Im Verlauf der sich anschließenden Behandlung wird der Therapeut den Patienten unter Umständen frühzeitig an das zu erwartende Ende der Therapie erinnern, um die Beendigung der Behandlung mit dem Patienten ausreichend gründlich vorbereiten zu können. Manche Patienten versuchen zum Ende der Behandlung hin, den Therapeuten durch regressives Agieren dazu zu bringen, von der anfangs festgelegten Dauer der Therapie abzurücken und die Behandlung zu verlängern. Insbesondere Patienten mit BorderlineStörungen geraten häufiger in solche regressiven Krisen, wenn das Behandlungsende naht. Ihr Zustand verschlechtert sich, und es mag dem Therapeuten unzumutbar erscheinen, die Therapie zu beenden. Gibt der Therapeut dem Agieren des Patienten nicht nach, droht er in die Rolle des ausnahmslos Bösen und Unerbittlichen zu geraten, der einen Patienten trotz dessen unübersehbaren Leids wegschickt. Wenn sich eine derartige Entwicklung abzeichnet, ist es wichtig, dass der Therapeut an den Vereinbarungen festhält und die Möglichkeit nutzt, so wie schon viele Male zuvor während der Behandlung, konsequent die therapeutische Arbeit an den Spaltungen des Patienten fortzusetzen, die sich hier an der Frage der Beendigung der Therapie bekunden. Bei einigen Patienten kann sich unter der Behandlung herausstellen, dass die anfangs ins Auge gefasste Dauer der Behandlung tatsächlich zu knapp veranschlagt ist. Inwieweit es sich darum tatsächlich handelt, lässt sich nur im Einzelfall klären. Ausfall von Stunden Viele Patienten mit strukturellen Störungen haben in ihrer Entwicklung die Erfahrung gemacht, dass Beziehungen unzuverlässig sind und für sie wichtige Personen nicht für sie da waren, wenn sie sie dringend gebraucht hätten. Weder rechnen sie damit, dass das in der

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Therapie anders ein wird, noch sind sie in der Lage, sich auf eine verbindliche Beziehung wirklich einzulassen. Wenn Behandlungstermine abgesagt werden, fühlen sie sich oftmals nur in ihrer Erfahrung bestätigt, dass dem Therapeuten andere Interessen und andere Personen wichtiger sind, als sich mit ihnen zu beschäftigen. Umgekehrt neigen sie oftmals dazu, verabredete Termine relativ beliebig einzuhalten oder nicht einzuhalten, nicht zuletzt deshalb, um sich ihrer Unabhängigkeit zu vergewissern und nicht Gefahr zu laufen, das Gefühl zu haben, die Therapie und den Therapeuten zu brauchen. Auf diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, dass der Therapeut klare Vereinbarungen zur Verbindlichkeit verabredeter Termine mit dem Patienten trifft und beide gemeinsam festlegen, welche Voraussetzungen eingehalten werden müssen, wenn es einmal unvermeidlich sein sollte, dass eine Behandlungsstunde abgesagt wird. Dazu sollte der Therapeut dem Patienten möglichst offenlegen, welche Umstände – neben »höherer Gewalt« wie beispielsweise Krankheit – dazu führen können, dass er einen Behandlungstermin absagen muss, etwa unaufschiebbare anderweitige berufliche Verpflichtungen; er sollte aber auch betonen, dass er einen verabredeten Termin nur dann und in diesem Fall auch so frühzeitig, wie ihm das möglich ist, absagen wird, wenn sich das nicht umgehen lassen sollte. Weiter sollte der Therapeut dem Patienten ankündigen, dass er sich unter solchen Umständen darum bemühen wird, einen anderen Termin zu finden. Schließlich sollte der Therapeut mit dem Patienten eine verbindliche Verabredung dazu treffen, dass auch der Patient einen Termin nur dann und in diesem Fall möglichst frühzeitig absagt, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, und er sollte dem Patienten deutlich machen, dass er sich auf diese Absprache verlässt. Manche Patienten versuchen den Therapeuten in eine Auseinandersetzung darüber zu verwickeln, wie genau die getroffene Vereinbarung zu verstehen und was genau etwa darunter zu verstehen sei, dass es »keine andere Möglichkeit« gegeben habe als die, einen Termin abzusagen. Solche Bestrebungen haben selten zum Ziel, zu mehr Klarheit und Verbindlichkeit zu gelangen, sondern im Gegenteil sich auf den Wortlaut statt auf den Sinn einer Vereinbarung zu beziehen und sich auf diese Weise gerade nicht verlässlich festlegen zu müssen.

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Honorarfragen Im stationären Rahmen spielen Honorarfragen üblicherweise keine Rolle in der Behandlung. Auch im ambulanten Bereich ist das meist nur dann der Fall, wenn entweder der Patient den Therapeuten selbst bezahlt oder der Patient zumindest ausgefallene Behandlungsstunden selbst bezahlen muss. Patienten mit schwereren strukturellen Störungen leben häufig nicht nur in äußerst schwierigen sozialen Verhältnissen, sondern auch in wirtschaftlich angespannten Situationen, sind arbeitslos, haben Schulden oder sind noch in einer Ausbildung. Auf diesem Hintergrund sollte der Therapeut das sogenannte Ausfallhonorar, soweit seine eigene Situation das erlaubt, mit den finanziellen Umständen des Patienten abstimmen. Oftmals ist es sinnvoller, auch mit Patienten, die unter schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben, ein geringes Honorar für ausgefallene Behandlungsstunden zu vereinbaren, als ganz darauf zu verzichten. Beispielsweise kann es günstig sein, auch mit jugendlichen oder jungen erwachsenen Patienten, die nur über geringe eigene finanzielle Mittel verfügen, zu verabreden, dass sie einen ihren Umständen angepassten Betrag für Behandlungsstunden, die sie haben ausfallen lassen, aufbringen. Das ist vor allem dann von Vorteil, wenn zu erwarten ist, dass für den Patienten ausschließlich symbolische Folgen seines eigenen Verhaltens keine greifbare Realität sind. Merke: Welche Rahmenbedingungen mit einem Patienten verhandelt und vereinbart werden, richtet sich nach den jeweils individuellen Besonderheiten. In die Rahmenvereinbarungen sollte möglichst alles aufgenommen werden, was erforderlich ist, damit die Behandlung potentiell erfolgreich verlaufen kann. Dazu gehört auch, dass mit dem Patienten vorab Vereinbarungen dazu getroffen werden, was zu geschehen hat, wenn die Rahmenbedingungen nicht eingehalten werden.

Verstehen Patient und Therapeut die vereinbarten Bedingungen gleich? Der Therapeut sollte sich vergewissern, wie der Patient seine Hinweise und Erläuterungen zu der bevorstehenden therapeutischen

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Arbeit verstanden hat. Er kann den Patienten beispielsweise bitten, mit seinen eigenen Worten zu wiederholen, wie dieser verstanden hat, was er ihm versucht hat zu erläutern. Um Missverständnissen vorzubeugen und damit der Patient nicht denkt, der Therapeut traue ihm nicht zu, zu verstehen, was er ihm gerade erklärt hat, oder er halte ihn gar für dumm, sollte der Therapeut begründen, weshalb er den Patienten bittet, ihm in seinen eigenen Worten zu sagen, wie er die ins Auge gefassten Rahmenbedingungen aufgefasst hat. Er kann das beispielsweise damit verständlich machen, dass es im Hinblick auf die vorgesehene Behandlung entscheidend wichtig ist, dass beide die Rahmenbedingungen gleich verstehen und »am gleichen Strang ziehen«. Der Therapeut wird häufig feststellen, dass der Patient etwas ganz anderes verstanden hat, als er meint, ihm erklärt zu haben. Er kann dann im nächsten Schritt die Gelegenheit nutzen, die Missverständnisse auszuräumen und kann dem Patienten weitere Erläuterungen geben. Beispiel: »Bitte seien Sie doch so gut, mir mit Ihren Worten noch einmal zu sagen, wie Sie verstanden haben, was wir jetzt im Hinblick auf die Therapie miteinander besprochen haben. Ich bitte Sie darum, weil es nach meiner Erfahrung sehr wichtig ist, dass Sie und ich die Voraussetzungen für unsere weitere Arbeit und die Bedingungen, die dafür gelten sollen, gleich verstehen. Und ich möchte sicher gehen, dass ich mich auch wirklich verständlich genug ausgedrückt habe.«

Merke: Es reicht nicht aus, dass der Therapeut den Patienten über die Bedingungen informiert, die für die Behandlung vorausgesetzt werden. Er muss sich auch vergewissern, dass der Patient die Rahmenvereinbarungen ausreichend verstanden hat.

Modifikationen des Rahmens im Verlauf der Therapie Je nach Stand der Behandlung können die Rahmenbedingungen im Verlauf der Therapie modifiziert werden. Es kann sich zum Beispiel herausstellen, dass die anfangs vereinbarten Bedingungen dem Patienten keine ausreichend klaren Orientierungen bieten und der Patient sich nicht ausreichend gehalten fühlt, so dass der Rahmen

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eindeutiger, klarer und engmaschiger gestaltet werden muss. Bei anderen Patienten kann es sich im Verlauf der Behandlung als sinnvoll erweisen, den Rahmen weitmaschiger zu machen, so dass die Patienten mit Bedingungen konfrontiert werden, die innerhalb des bis dahin festgelegten Rahmens nicht von großer Bedeutung waren. Das kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn es nützlich ist, dass ein Patient sich Situationen aussetzt, die er bis dahin gemieden hat. Im günstigen Fall kann der Rahmen im Verlauf der Therapie sukzessive weiter und durchlässiger und den Bedingungen der Alltagswelt mehr und mehr angenähert werden, bis der Patient in der Lage ist, mit Verhältnissen, wie sie auch unter Ernstfallbedingungen anzutreffen sind, allein fertig zu werden. Manchmal werden Rahmenbedingungen rigide aufrechterhalten, ohne dass das therapeutisch begründet werden kann. Der Rahmen kann dann leicht wie das Instrument einer starren Ordnungsmacht erlebt werden. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass Rahmenbedingungen wie unverbindliche Regelungen gehandhabt werden, die mehr oder weniger beliebig verändert werden können. In diesem Fall ist der therapeutische Raum von Willkür bedroht, so dass die Patienten sich nicht ausreichend sicher und gehalten fühlen können. Veränderungen des Rahmens angesichts von unvorhersehbaren Problemen oder sich zuspitzenden Krisensituationen sollte der Therapeut nicht vornehmen, ohne darüber mit dem Patienten verhandelt zu haben. Sowohl der Patient wie der Psychotherapeut haben mehr oder weniger klare Vorstellungen davon, welche Bedingungen angesichts der derzeitigen Umstände für die gemeinsame Arbeit erforderlich sind. Der Therapeut sollte dem Patienten nahe bringen, dass der Patient als Betroffener potentiell selbst am besten einschätzen kann, was für ihn jetzt in dieser Situation gut und zuträglich ist und in welcher Weise die derzeitigen Schwierigkeiten und kritischen Umstände am besten aufgefangen werden können. Allenfalls dann, wenn der Patient nicht mehr in der Lage ist, sein Verhalten selbstverantwortlich zu steuern, muss der Therapeut das für seinen Patienten übernehmen und notwendige Entscheidungen allein treffen, im äußersten Notfall auch einmal gegen den Willen des Patienten.

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

Merke: Die mit dem Patienten vereinbarten Rahmenbedingungen sollten nach Möglichkeit dem jeweiligen Stand der Behandlung angepasst werden. Rahmenbedingungen können zu eng und zu detailliert sein, können sich aber auch – insbesondere zu Beginn einer Behandlung – als zu weitmaschig erweisen. Immer sollte sowohl für den Patienten wie für die an der Behandlung beteiligten Therapeuten der Sinn der jeweils vereinbarten Rahmenbedingungen als Instrumente, die für eine wirksame Behandlung dieses Patienten erforderlich sind, deutlich bleiben.

Die Vereinbarung verbindlicher Rahmenbedingungen misslingt Der Therapeut muss sich darüber im Klaren sein, welche Bedingungen gewährleistet sein müssen, damit er mit diesem Patienten potentiell erfolgreich therapeutisch arbeiten kann. Der Patient seinerseits muss verstanden haben, weshalb bestimmte Voraussetzungen für die Behandlung erforderlich sind und aus welchen Gründen der Therapeut an diesen Bedingungen festhält. Nicht nur der Therapeut muss sicher sein können, dass die Bedingungen, über die beide sich verständigt haben, für den Patienten verbindlich sind, sondern auch der Patient muss sich darauf verlassen können, dass der Therapeut sich an die vereinbarten Regelungen hält. In seltenen Ausnahmefällen können sich Patient und Therapeut nicht über Rahmenbedingungen verständigen, die für beide akzeptabel sind. Es kann beispielsweise sein, dass ein Patient einer Regelung im Hinblick auf suizidales Agieren zwar »prinzipiell« zustimmt, sich aber nicht »für jeden Fall« festlegen will. Wenn es nicht gelingt zu verstehen, welche Gründe der Patient hat, sich nicht festlegen zu wollen, und wenn es nicht möglich ist, doch noch zu verbindlichen Vereinbarungen zu kommen, sollte der Therapeut die Behandlung nicht beginnen. Einige Patienten wollen sich nicht auf Rahmenbedingungen festlegen, weil sie verbindliche Regelungen als Versuch des Therapeuten missverstehen, ihnen seine Bedingungen aufzuzwingen und ihre Selbstbestimmung einzuschränken. Der Therapeut sollte dem entgegentreten, die Vermutungen des Patienten unmittelbar richtigstellen und dem Patienten den Sinn der Regelungen nachvollziehbar und verstehbar darlegen. Der Patient muss wis-

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Die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung

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sen, dass es nicht darum geht, seine Eigenständigkeit einzuschränken, auch wenn er das so erleben mag, sondern sicherzustellen, dass unter den Umständen, für die die Rahmenbedingungen gelten, tatsächlich geschieht, was zu tun therapeutisch notwendig ist – vergleichbar einem Arzt, der von einem Patienten erwartet, dass er den Fuß nicht belastet, wenn der Knöchel gebrochen ist. Zwar kann auch dieser Arzt seinen Patienten letztlich nicht daran hindern, »eigenständig« zu handeln und sich trotzdem körperlichen Schaden zuzufügen, wird als verantwortungsbewusster Arzt die weitere Behandlung unter Umständen jedoch ablehnen müssen, wenn der Patient sich weigert, sich in einer Weise zu verhalten, die für seine Heilung unverzichtbar ist. Lässt der Therapeut sich auf uneindeutige Rahmenbedingungen ein, die mehr oder weniger beliebig ausgelegt werden können, ist die Gefahr groß, dass sich die therapeutische Situation über kurz oder lang in eine Richtung entwickelt, die mit einer wirksamen Behandlung nicht vereinbar ist. Der Patient gerät leicht in agierendes Verhalten, das sich immer mehr zuspitzt, oder der Therapeut wird in Kollusionen hineingezogen, die sich nicht wieder auflösen lassen. Wenn der Therapeut dagegen vor Beginn der Behandlung für Rahmenbedingungen eintritt, die nach seiner Erfahrung gelten und eingehalten werden müssen, damit sich die gemeinsame therapeutische Arbeit gut genug entwickeln kann, wird er in den meisten Fällen sich und dem Patienten solche leidvollen Erfahrungen ersparen können. Merke: Mit dem Rahmen vereinbaren Patient und Therapeut Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit die Behandlung potentiell erfolgreich durchgeführt werden kann. Sind diese Bedingungen nicht gewährleistet, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Therapie dem Patienten nicht ausreichend nützt. Der Therapeut sollte sich nicht auf Vereinbarungen mit dem Patienten einlassen, von denen er mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen kann, dass sie mit einer wirksamen Behandlung nicht vereinbar sind.

Ringen um Rahmenbedingungen als Therapie Manche Patienten mit strukturellen Störungen greifen in Krisensituationen zu Alkohol oder Drogen, verhalten sich willkürlich,

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

neigen dazu, sich selbst Schaden zuzufügen oder sich in destruktive Aktionen mit anderen zu verwickeln. Die therapeutische Situation ist davon nicht immer ausgenommen: Angesichts geringfügiger Frustrationen entwerten sie den Therapeuten und die Therapie und neigen dazu, schon bei – von außen betrachtet – unerheblichen Versagungen die therapeutische Beziehung aufkündigen zu wollen. Weil verbindliche Absprachen und Regelungen sich mit ihrem Autarkiebedürfnis und ihrem Verlangen nach Kontrolle nicht vereinbaren lassen, werden Grenzen mehr oder weniger willkürlich überschritten. Das muss nicht bedeuten, dass die Patienten keine Therapie wollen. Sie erwarten durchaus therapeutische Hilfe, allerdings soll es sich dabei um eine Therapie zu ihren Bedingungen handeln, oftmals um eine Therapie, bei der ihre Bedürfnisse möglichst nicht eingeschränkt werden. Wenn das so ist, sind Auseinandersetzungen über den Rahmen und dessen Gültigkeit unvermeidlich. In der Folge kann das Ringen um Rahmenbedingungen zu einem zentralen Element der Behandlung werden. Wenn das der Fall ist, beginnt die Therapie nicht erst dann, wenn über die Rahmenbedingungen wechselseitiges Einvernehmen erzielt wurde. Vielmehr ist die Auseinandersetzung um die Gültigkeit eines verbindlichen Rahmens dann selbst schon zentraler Teil der Therapie. Indem Therapeut und Patient über die Verbindlichkeit von Rahmenbedingungen miteinander ringen – über notwendige Grenzen, über unvermeidbare Einschränkungen, denen der Patienten meint nicht zustimmen zu können, über die Verbindlichkeit von Absprachen und über die Verlässlichkeit von Festlegungen –, sind die Autarkiebedürfnisse des Patienten und seine Angst vor Abhängigkeit implizit Fokus der Therapie. Ein ums andere Mal macht der Therapeut dem Patienten gegenüber die Unverbrüchlichkeit des Rahmens geltend und steht dafür ein, dass die Rahmenbedingungen Gültigkeit haben und aufrechterhalten bleiben. Damit unterstützt er den Patienten auf dem Weg, schließlich Realitätsbedingungen anerkennen zu können, die – dem Gesetz vergleichbar – als ein Drittes außerhalb der beiderseitigen Beziehung liegen. Dabei darf der Therapeut sich nicht darauf beschränken, verstehen zu wollen, was auf Seiten des Patienten dazu geführt hat, dass er Vereinbarungen nicht eingehalten hat. Der Patient muss vielmehr die Erfahrung machen können, dass Rahmenbedingungen nicht beliebig außer Kraft gesetzt werden können, dass

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Die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung

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der Rahmen nicht zu unterminieren ist und dass ein Verhalten, das solche Grenzen unbeachtet lässt, mit missliebigen Folgen einhergeht. Erst an solchen Folgen des eigenen Verhaltens kann sich für den Patienten oftmals erweisen, dass Realitätsbedingungen nicht nach Maßgabe seiner jeweiligen Bedürfnislage manipulierbar sind. Allein damit, dass Patient und Therapeut sich auf Rahmenbedingungen festgelegt haben, ist noch nicht gewährleistet, dass sich der Patient bei der therapeutischen Arbeit auch tatsächlich daran halten kann. Das schmälert die Bedeutung des Rahmens jedoch nicht. Beispiel: Eine 29jährige Patientin hatte große Schwierigkeiten, sich an die Bedingungen des Alltagslebens so weit anzupassen, dass sie einer Arbeit nachgehen und anderen alltäglichen Verpflichtungen nachkommen konnte. Sie war mehrere Jahre lang von Drogen abhängig gewesen; dabei hatte sie ihren Drogenkonsum über Gelegenheitsarbeiten finanziert. Alle Versuche, eine Ausbildung zu machen, waren gescheitert, und schließlich hatte sie eine Zeit lang auf der Straße gelebt. Mit Unterstützung war es ihr gelungen, ihren Drogenkonsum aufzugeben. Sie wohnte bei ihrer Mutter, mit der es täglich heftige Spannungen und Konflikte gab. Meist stand sie erst gegen Mittag auf. Sie ließ ihre Kleidung verkommen und pflegte sich kaum. Sie ließ sich von ihrer Mutter versorgen, die ihrerseits ihre Tochter für ihr Verhalten zwar kritisierte, ihr aber dennoch die Wäsche wusch, wenn sie den Gestank der Kleider nicht mehr ertragen konnte, ihr Essen kochte und von Zeit zu Zeit, wenn ihr die Unordnung über den Kopf wuchs, deren Zimmer aufräumte. Die Patientin hatte sich auf Anraten eines Mitarbeiters einer sozialen Einrichtung um eine Therapie bemüht. Die Behandlung erfolgte unter stationären Bedingungen. Als Ziel gab die Patientin an, von ihrer Mutter unabhängig werden zu wollen und selbstständig leben zu können. Dieses Ziel wurde von therapeutischer Seite aufgegriffen und als Orientierung für die therapeutische Arbeit verbindlich festgelegt. Tatsächlich setzte sich das Verhalten, das die Patientin im Zusammenleben mit der Mutter gezeigt hatte, auch in der Klinik fort: Sie verschlief verabredete Termine, ließ ihr Zimmer verkommen und schien sich körperlich zu vernachlässigen. Gleichzeitig gelang es ihr, Mitpatienten zu veranlassen, sie mit Zigaretten und zusätzlichen Nahrungsmitteln zu versorgen. Zwar ärgerten sich ihre Mitpatienten über ihre fordernde Art und die Selbstverständlichkeit, mit der sie Versorgungsleistungen entgegennahm, ohne sich dafür zu revanchieren, schienen sich aber

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

nicht in der Lage zu sehen, sich ihren Bitten zu widersetzen, zumal die Patientin immer eine Erklärung wusste, weshalb es ihr angeblich nicht möglich sei, sich anders zu verhalten. Das Ziel, selbstständiger zu werden, sollte sich – so die therapeutische Zielsetzung – in erster Linie darin konkretisieren, dass die Patientin Anforderungen der äußeren Realität so weit würde nachkommen können, dass sie ein weitgehend unabhängiges Leben würde führen können. Tatsächlich schien sich die Patientin um Veränderung ihres Verhaltens jedoch kaum zu bemühen. Immer wieder hielt sie Vereinbarungen nicht ein und verschlief verabredete Termine. Die Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen erschien ihr unzumutbar: Sie beteuerte ein ums andere Mal, dass sie sich ja anders verhalten wolle, dazu aber aufgrund ihrer Erkrankung nicht in der Lage sei. Sie nehme sich durchaus fest vor, anderes Verhalten zu zeigen, aber ihre Störung sei doch stärker als sie. Sie nutzte ihre zweifellos vorhandenen psychischen Beeinträchtigungen als Legitimation ihres Verhaltens. Demgegenüber behandelten die Therapeuten sie als erwachsene Frau, die sie war und die für ihr Handeln selbst verantwortlich ist. Als die Patientin Vereinbarungen weiterhin nicht einhielt, wurde die Behandlung nach mehreren Vorankündigungen vorläufig beendet, allerdings unter Hinweis auf die Möglichkeit, die Therapie fortzusetzen, wenn sie in der Lage wäre, die Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und sich an die für die Behandlung erforderlichen Rahmenbedingungen zu halten. Als die Patientin einige Wochen später auf eigenen Wunsch erneut zur Behandlung aufgenommen wurde, setzte sich das Ringen um den Rahmen noch einige Zeit fort. Dabei zeigte sie sich einigermaßen erfinderisch darin sicherzustellen, morgens rechtzeitig wach zu werden und Vereinbarungen einzuhalten. Mehr und mehr war sie schließlich in der Lage, selbst ihre Neigung zu erkennen, sich auf ihre Störung zu berufen, wenn sie Vereinbarungen nicht einhielt, und die Therapie konnte unter Geltung unmissverständlicher Rahmenbedingungen effektiv fortgeführt werden. Zu einem Katamnesegespräch zehn Monate nach der Therapie kam sie in gepflegtem Zustand, wirkte aufmerksam und schien interessiert an ihrer Umgebung. Sie hatte sich von ihrem drogenabhängigen Freund getrennt, war aus der Wohnung der Mutter ausgezogen, hatte einen Ausbildungsplatz in Aussicht, hatte zwischenzeitlich einen Billigjob angenommen, weil sie nicht von Sozialhilfe leben wollte, und war einigermaßen stolz darauf, was sie geschafft hatte.

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Die Haltung des Therapeuten

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Merke: Mit einigen Patienten kann es schwierig sein, verbindliche Rahmenbedingungen zu verabreden, weil sie darin eine Einschränkung ihrer Autonomie sehen. In diesem Fall kann sich der Prozess des Verhandelns über Rahmenbedingungen über längere Zeit hinziehen und manchmal sogar den wichtigsten Teil der Behandlung ausmachen.

Die Haltung des Therapeuten Haltung meint die Art und Weise, wie der Therapeut seine Rolle in der Behandlung wahrnimmt und mit welcher von außen erkennbaren Einstellung er seinem Patienten bei der therapeutischen Arbeit gegenübertritt. Bei der psychoanalytisch-interaktionellen Methode ist der Therapeut auf interpersonellen Austausch eingestellt. Er nimmt an dem therapeutischen Geschehen als für den Patienten erreichbare andere Person im Gegenüber teil. Zwar gilt seine Aufmerksamkeit immer auch dem psychischen Hintergrund der Äußerungen und des Verhaltens des Patienten, dessen individuellem subjektiven Erleben, aber seine therapeutischen Bemühungen richten sich nicht vorrangig auf das unbewusste Selbst des Patienten, sondern auf interpersonelles Geschehen und auf das Erleben und die Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen, auf das Selbst des Patienten in seinem sozialen Kontext. Dabei beziehen sich die Interventionen primär auf den manifesten Sinn der Äußerungen des Patienten und auf die pragmatische, Beziehung konstituierende Funktion des Verhaltens des Patienten, die Art und Weise, wie der Patient mit seinen Äußerungen und seinem Verhalten dazu beiträgt, das Zusammensein mit anderen einschließlich der therapeutischen Beziehung zu gestalten. Der Patient wird somit in erster Linie im Hinblick auf seine soziale Lebenswelt angesprochen, auf den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, an denen er teilhat und die er mit seinem Verhalten im Zusammensein mit anderen immer selbst mitgestaltet. Die gemeinsame Aufmerksamkeit von Therapeut und Patient konzentriert sich – mit anderen Worten – vor allem darauf, welche Implikationen das Erleben und das Verhalten des Patienten für seine Beziehungen haben und wie sein Verhalten im Kontext

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

des Verhaltens von anderen das jeweilige Miteinander unvermeidlich mit prägt. Dabei trägt der Therapeut mit seiner Haltung, die durchweg um Präsenz bemüht ist, dem Umstand Rechnung, dass auch er selbst mit seinem eigenen Verhalten das Geschehen in der Therapie mit konstituiert. Somit wird die therapeutische Beziehung unter dem leitenden Gesichtspunkt von Entwicklungsförderung in den Dienst des Bemühens gestellt, dem Patienten interpersonelles Geschehen durchschaubar zu machen und zu Mitteln und Wegen zu verhelfen, reziproke zwischenmenschliche Beziehungen mitzugestalten. Dabei beteiligt sich der Therapeut erkennbar aktiv und manchmal auch initiativ an dem interaktiven Geschehen im Behandlungszimmer. Indem der Therapeut sich dem Patienten in der Haltung einer realen, erreichbaren anderen Person anbietet, als aufmerksames, zugewandtes Gegenüber und als Mitspieler am gegenwärtigen interaktiven Geschehen, hört er zwar immer auch auf den ungesagten, unbewussten Sinn der Äußerungen des Patienten, ist jedoch vorrangig auf die manifeste, Beziehung konstituierende Bedeutung des sicht- und hörbaren Verhaltens des Patienten eingestellt. Im Unterschied zu der zurückgenommenen Haltung des Psychoanalytikers, der darauf eingestellt ist, unbewusste Bedeutungen, die er hinter dem manifest Gesagten vermutet, zur Sprache zu bringen, nimmt der Therapeut in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie eine Haltung ein, die auf Interaktion und Austausch im Miteinander ausgerichtet ist. Das schließt die Art und Weise ein, wie der Patient sich mit seinem Verhalten zu ihm und umgekehrt er selbst, der Therapeut, sich mit seinem Verhalten zu dem Patienten ins Verhältnis setzt und beide ihre gemeinsame Beziehung im Prozess des therapeutischen Geschehens fortlaufend von Moment zu Moment hervorbringen. Wenn der Psychotherapeut sich dem Patienten in dieser Weise als Gegenüber, als eigenständige andere Person kenntlich macht, dann heißt das nicht, dass er eigenes Erleben und eigene Handlungsbereitschaften beliebig zum Ausdruck bringt. Im Gegenteil tut er das immer nur selektiv, wenn auch durchweg authentisch, in Übereinstimmung mit seinem tatsächlichen Erleben. Nur unter der Voraussetzung solcher Authentizität können dem Patienten interpersonelles Geschehen und seine oftmals von endlosen Wiederholungen – manchmal auch von Retraumatisierungen – geprägte

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Die Haltung des Therapeuten

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soziale Lebenswelt durchschaubarer werden. Wie im Alltag authentisches Verhalten nicht bedeutet, die Innenwelt beliebig und unbegrenzt offenzulegen, zwar wahrhaftig, aber immer mit Blick auf die jeweilige soziale Situation, meint authentisches Verhalten des Therapeuten auch hier wahrhaftiges Verhalten und wahrhaftiger Ausdruck eigenen Erlebens, eigener Handlungsbereitschaften und eigener Gefühle – indessen nur dort und nur soweit dem Patienten mitgeteilt, wie das jeweilige Beziehungsgeschehen für den Patienten transparenter und verstehbarer und davon eine entwicklungsförderliche Wirkung erwartet werden kann. Der Therapeut äußert sich somit nicht zuerst über den Patienten, sondern – selektiv – über sich selbst. Damit fordert er den Patienten implizit nicht zur Selbstreflexion auf und lenkt die Aufmerksamkeit des Patienten nicht vorrangig auf die eigene Person und auf das eigene psychische Erleben, sondern der Therapeut zeigt gleichsam auf sich selbst und auf das mit dem Patienten gemeinsam konstituierte Beziehungsgeschehen hin. Er regt den Patienten auf diese Weise dazu an, auf ihn als auf sein momentanes Gegenüber hinzusehen. Auf diese Weise ist er für den Patienten in erster Linie Interaktionspartner, nicht der neutrale Experte, sondern ein eigenständig erlebender Mitspieler in einem Beziehungsgeschehen, das von beiden gemeinsam gestaltet wird. Angesichts der oftmals heftigen und imperativen Affekte von Patienten mit Störungen der Persönlichkeitsentwicklung und angesichts der oft nicht weniger heftigen Gegenübertragungsgefühle, kann es für den Psychotherapeuten schwierig sein, dem Patienten gegenüber eine grundlegend akzeptierende Einstellung aufrechtzuerhalten. Weil seine Gefühle manchmal ähnlich archaisch sind wie die des Patienten, ist der Therapeut leicht in Gefahr, seine Gefühle – manchmal theoretisch rationalisiert – damit abzuwehren, dass er sie ausschließlich dem Patienten zuschreibt, der diese Gefühle vermeintlich nur in ihn verlagert oder in ihn projiziert habe. Nicht selten »passen« die Gegenübertragungsgefühle des Therapeuten zu den vernachlässigenden, von Gewalt geprägten oder ausbeuterischen Beziehungserfahrungen, die die Entwicklung des Patienten bestimmt haben. Manchmal kommt dem Therapeuten in dem Beziehungsgeschehen, das sich in der therapeutischen Beziehung ausbreitet, die Funktion des Repräsentanten eines abgespaltenen Selbstanteils des Patienten zu. Dann wieder repräsentiert der

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

Therapeut eine andere Person oder umschriebene Teilaspekte einer anderen Person, mit der die Beziehungserfahrungen des Patienten in der Vergangenheit verbunden waren. So können die Gegenübertragungsgefühle und die in der Interaktion mit dem Patienten aktualisierten Verhaltensbereitschaften zum Verständnis der vielfältigen Schwierigkeiten und der oftmals heftigen Verstrickungen beitragen, die die interpersonellen Beziehungen im sozialen Alltag des Patienten immer wieder zum Scheitern bringen und seine alltägliche soziale Lebenswelt so schwierig machen. Um eine Haltung grundlegender emotionaler Akzeptanz aufrechterhalten zu können, kann es hilfreich sein, wenn der Therapeut sich vor Augen führt, dass das Verhalten des Patienten meist aus äußerst belastenden, oft leidvollen und manchmal deprivierten Lebensumständen seiner Vergangenheit hervorgegangen ist und Versuche widerspiegelt, mit Bedingungen fertig zu werden, trotz schwierigster Verhältnisse sein psychisches und unter Umständen sogar sein physisches Überleben sicherzustellen. Sich das vor Augen zu führen mag es dem Therapeuten erleichtern, dem Patienten mit der gebührenden Achtung zu begegnen. Grundlegend emotional akzeptierend zu sein, bedeutet nicht, Rahmenbedingungen aufzuweichen. Unabhängig davon, wie verständlich das Verhalten des Patienten ist und wie grundlegend emotional akzeptierend der Therapeut sich verhält, muss er seine Verantwortung für die Aufrechterhaltung des Rahmens wahrnehmen und klar und unmissverständlich und unter Umständen auch entschieden und nachdrücklich Grenzen setzen, falls der Patient den Rahmen aufzuweichen versucht. Dazu muss der Therapeut unter Umständen seine ganze Autorität geltend machen. Merke: Der Therapeut bietet sich dem Patienten als jederzeit präsente, reale, erreichbare Person in einer Haltung an, die mehr auf den manifesten Sinn der Äußerungen des Patienten und seines Verhaltens eingestellt ist als auf etwaige dahinter verborgene unbewusste Bedeutungen. Auch wenn sich der Therapeut dem Patienten als andere Person »in ihrem eigenen Recht« zeigt, muss für den Patienten immer erkennbar sein, dass der Therapeut ihn grundlegend akzeptiert und respektiert.

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Beziehungsstörungen im therapeutischen Gespräch

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Beziehungsstörungen im therapeutischen Gespräch Vorrangiges Ziel einer psychoanalytisch-interaktionell geführten Behandlung ist, dem Patienten zu ermöglichen, in befriedigenderer Weise am sozialen Alltagsleben teilzunehmen und verlässliche, auf Reziprozität gründende interpersonelle Beziehungen zu gestalten und mitzugestalten. Die Teilnahme am sozialen Leben verlangt Fähigkeiten, sich mit seinem Verhalten auf sein jeweiliges Gegenüber beziehen und sich selbst ausreichend regulieren zu können. Wenn der Patient dazu in der Lage ist, seine Beziehungen zu anderen in befriedigender Weise zu gestalten, entwickeln sich in der Folge auch psychische Funktionen, die bis dahin aufgrund von strukturellen Beeinträchtigungen nur eingeschränkt verfügbar waren. Selbstregulative Funktionen haben – unter Entwicklungsgesichtspunkten betrachtet – ihren Ursprung in interpersonellen Beziehungen. Auch noch bei Erwachsenen entwickeln sich – unterstützt durch gute interpersonelle Beziehungen – selbstregulative Funktionen weiter, so wie umgekehrt die Fähigkeit, reziproke interpersonelle Beziehungen zu gestalten und Interaktion zu regulieren, sich verbessern kann, wenn bislang nicht verfügbare psychische Funktionen entwickelt werden. Wenn sich psychische, primär der Selbstregulierung dienende Funktionen verbessern, gewährleistet das jedoch noch nicht, dass auch das Zusammensein mit anderen befriedigender gestaltet werden kann. Die kompetente Teilnahme am sozialen Alltagsleben wird nicht durch selbstregulative psychische Funktionen gesichert, sondern verlangt Fähigkeiten, die erst in Zwei- oder Mehr-PersonenSituationen aktualisiert werden, beispielsweise die Fähigkeit, das Gegenüber als eigenständige andere Person wahrzunehmen und sowohl eigenes wie das Verhalten anderer Personen in seinem jeweiligen Kontext zu lesen; das wiederum schließt die Fähigkeit ein, Wirkungen des eigenen beabsichtigten wie tatsächlichen Verhaltens antizipieren zu können. Keine dieser Kompetenzen lässt sich ausschließlich auf selbstregulative psychische Funktionen zurückführen. Das implizite Beziehungswissen, über das Patienten mit Störungen der Persönlichkeitsentwicklung verfügen und das in Interaktion mit anderen aktualisiert wird und das interaktive Verhalten bestimmt, erschwert oder verhindert zwischenmenschliche Bezie-

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

hungen, die auf Wechselseitigkeit und wechselseitiger Anerkennung gründen. Um an reziproken interpersonellen Beziehungen teilzunehmen, muss der Patient andere Personen in ihrer Individualität wahrnehmen, erleben und behandeln können. Das kann nicht gelingen, wenn die andere Person für Zwecke der Selbstregulierung benötigt wird. Weiter muss der Patient möglichst realistisch erkennen und antizipieren können, wie sein eigenes tatsächliches oder beabsichtigtes Verhalten auf die andere Person oder die anderen Personen wirkt oder vermutlich wirken wird, was wiederum voraussetzt, dass die andere Person als andere Person und nicht wie ein Selbstobjekt wahrgenommen wird. Der Patient muss in der Lage sein, Beziehungen zu wichtigen anderen Personen auch bei deren Abwesenheit und auch dann aufrechterhalten zu können, wenn die andere Person sich nicht in Übereinstimmung mit eigenen Erwartungen und Bedürfnissen verhält. Weiter muss das Verhalten der anderen Personen auch im Kontext des eigenen Verhaltens gelesen werden können wie umgekehrt der Patient wissen muss, dass das eigene Verhalten immer in den Kontext des Verhaltens der anderen eingebettet ist. Schließlich muss der Patient sein Verhalten auch auf jeweilige situative Umstände abstimmen können. Für die diagnostische Untersuchung der Beziehungen und des Beziehungserlebens stehen standardisierte Untersuchungsverfahren, die die Anamnese ergänzen, zur Verfügung. Für eine differenzierte psychodynamische Diagnose, die strukturelle Merkmale einschließt, bietet sich in erster Linie die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD, 2006) an. Hat sich herausgestellt, dass bei einem Patienten eine Persönlichkeitsstörung, insbesondere eine Störung auf Borderline- oder auf psychosenahem Niveau, vorliegt und die Persönlichkeitsstruktur nur gering oder mäßig integriert ist, ist eine Therapie nach der psychoanalytisch-interaktionellen Methode indiziert. Hat der Therapeut sich im Zuge der Diagnostik ein Bild von der Art und Weise gemacht, wie der Patient an zwischenmenschlichen Beziehungen teilnimmt, werden die Beeinträchtigungen, die sich in der sozialen Lebenswelt des Patienten manifestieren, als Schwerpunkt der therapeutischen Arbeit gewählt. Das bedeutet, dass sich die Aufmerksamkeit des Therapeuten vorrangig auf die Erfahrungen des Patienten mit Beziehungen, die in seinen Mitteilungen und Erzählungen zum Ausdruck kommen, richtet sowie darauf, wie der

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Beziehungsstörungen im therapeutischen Gespräch

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Patient die therapeutische Beziehung gestaltet und mitgestaltet und sich in Interaktion mit dem Therapeuten verhält. Das implizite Beziehungswissen des Patienten und die Art und Weise, wie er in seiner sozialen Lebenswelt verankert ist, stellt sich im therapeutischen Gespräch demzufolge sowohl darin dar, – wie der Patient über interpersonelle Situationen und Beziehungen berichtet und – wie er die therapeutische Beziehung mitgestaltet und sich zum Therapeuten ins Verhältnis setzt. Wenn der Patient über seine soziale Lebenswelt spricht, bezieht er sich entweder – auf interpersonelle Situationen, die er von außen beobachtet oder von denen er auf andere Weise erfahren hat, ohne selbst an der Situation teilgenommen zu haben oder – auf interpersonelle Situationen, in die er selbst involviert war. Wenn der Patient in der Behandlung über Beziehungen spricht, an denen er selbst nicht unmittelbar beteiligt war, sondern die er nur von außen beobachtet oder von denen er nur auf andere Weise erfahren hat, kommen seine Wahrnehmung und sein Erleben von zwischenmenschlichen Verhältnissen vor allem darin zum Ausdruck, wie er die Interaktion von anderen gesehen hat, beispielsweise bestimmte Verhaltensweisen von anderen Personen im Kontakt miteinander, die er beobachtet hat. Dabei kann es sich auch um Szenen handeln, die der Patient im Fernsehen gesehen oder von denen er gelesen hat. Spricht der Patient von Situationen, an denen er selbst als Akteur beteiligt war, zeigen sich zentrale Aspekte seiner Einstellungen im Zusammenhang mit interpersonellen Verhältnissen und sein Erleben von zwischenmenschlichen Beziehungen an der Art und Weise, wie und mit welchen Mitteln er sich anderen Personen gegenüber verhalten hat oder zu verhalten beabsichtigt, und wie er erlebt hat, dass andere Personen sich ihm gegenüber verhalten haben. Bei strukturell gestörten Patienten ist üblicherweise nicht zu erwarten, dass sie das in Worten mitteilen, vielmehr zeigt sich in diesem Fall ihr Beziehungswissen darin, wie sie diese Situationen schildern. Wie der Patient zwischenmenschliche Beziehung gestaltet und welche Mittel ihm zur Verfügung stehen, an der sozialen Lebenswelt

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

teilzunehmen, zeigt sich noch unverstellter darin, wie er sich in der therapeutischen Beziehung verhält und sich mit dem Therapeuten ins Verhältnis setzt. Hier, in der therapeutischen Beziehung, entfalten sich die Möglichkeiten des Patienten, interpersonelle Beziehungen zu gestalten, gleichsam vor den Augen und Ohren nicht nur des Therapeuten, sondern auch des Patienten selbst, im Kontext ihres wechselseitigen Verhaltens. Auch hier kommt das implizite Beziehungswissen nicht in der symbolischen Bedeutung der Sprache zum Ausdruck, sondern zeigt sich im Verhalten des Patienten im Verhältnis zum Therapeuten, in therapeutischen Gruppen im Verhältnis zu den Anwesenden in der Gruppe. An den Schilderungen von Beziehungen und dem Verhalten des Patienten in der therapeutischen Beziehung wird erkennbar, welche Mittel und Wege ihm zur Verfügung stehen oder nicht zur Verfügung stehen, um interpersonelle Beziehungen zu gestalten. Merke: Im Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit stehen die soziale Lebenswelt des Patienten und seine Probleme im Zusammensein mit anderen. Die Schwierigkeiten des Patienten in Beziehungen kommen im therapeutischen Gespräch darin zum Ausdruck, was der Patient über soziale Situationen, an denen er entweder selbst beteiligt war oder die er nur beobachtet hat, berichtet, und darin, wie er sich in der therapeutischen Situation verhält und gemeinsam mit dem Therapeuten die therapeutische Beziehung gestaltet.

Zur Manifestation struktureller Beeinträchtigungen im therapeutischen Gespräch Die folgenden Ausführungen vermitteln dem Psychotherapeuten eine Reihe von Anhaltspunkten dafür, wie sich strukturelle Beeinträchtigungen, die die Teilnahme des Patienten am sozialen Leben erschweren, im therapeutischen Gespräch zeigen können. Diese Hinweise, die die Aufmerksamkeit für Manifestationen struktureller Beeinträchtigungen im Ablauf der Interaktion zwischen Patient und Psychotherapeut lenken, werden als diagnostische Fragen formuliert. Die Fragen beziehen sich auf die Art und Weise, wie der Patient Beziehungen erlebt und gestaltet, wie er sich selbst in inter-

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Zur Manifestation struktureller Beeinträchtigungen

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personellen Beziehungen wahrnimmt und reguliert, auf seine psychische und interpersonelle Abwehr, auf Gewissensmanifestationen und Idealansprüche, auf die Fähigkeit des Patienten, die Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere zu antizipieren, auf seine Möglichkeiten, Affekte und Impulse im Kontext von Beziehungen zu steuern, Befriedigung aufzuschieben und Frustrationen zu tolerieren und auf die Fähigkeit des Patienten zur Regressionssteuerung im Zusammensein mit anderen.

Erleben von Beziehungen (Objektbeziehungen) – Wie ist der Patient mit seinen Mitmenschen verbunden (z. B. autistischer Rückzug von anderen Menschen; narzisstische Beziehungen, symbiotische Beziehungen oder Beziehungen, die von Wechselseitigkeit und Empathie bestimmt sind)? – Nimmt der Patient andere Menschen als eigenständige Personen wahr oder aber wie Extensionen des Selbst, die in erster Linie selbstregulativen Funktionen dienen? – Wie, mit welchen Mitteln und wie flexibel kann der Patient sich in zwischenmenschlichen Beziehungen verhalten und wie autonom kann er die Interaktion mit seinem Gegenüber regulieren? – Wie genau und wie differenziert vermag der Patient andere Personen wahrzunehmen? Ist er in der Lage, das Verhalten anderer Personen aus deren je eigener psychischer und sozialer Situation heraus zu sehen und zu verstehen? Kommentar: Die Art und Weise, wie der Patient Beziehungen zu anderen wahrnimmt und erlebt, zeichnet sich im therapeutischen Gespräch unter anderem darin ab, wie der Patient zwischenmenschliche Beziehungen schildert. Der Therapeut sollte seine Aufmerksamkeit darauf richten, wie der Patient sich mit seinen Mitmenschen verbunden fühlt, ob er Beziehungen überwiegend als dyadische oder pseudodyadische Beziehungen erlebt, ob seine Beziehungen von Wechselseitigkeit bestimmt sind, ob der Patient sich in andere Menschen einfühlen kann, wie er mit Nähe und Distanz umgeht, welche Rolle Autonomie, Abhängigkeit, Dominanz oder Unterwerfung in den Beziehungen spielen, wie er eigene Bedürfnisse und Wünsche zur Geltung zu bringen und die anderer zu erkennen und zu respek-

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

tieren vermag, ob Verbundenheit mit wichtigen anderen auch unter schwierigen Umständen aufrechterhalten werden kann oder ob der Patient sich von anderen Menschen habituell zurückzieht. Weiter sollte der Therapeut versuchen zu erkennen, ob der Patient andere Personen in ihrer Eigenständigkeit sehen kann, inwieweit er andere Personen für die Aufrechterhaltung selbstregulativer Funktionen benötigt und Beziehungen narzisstische oder symbiotische Merkmale aufweisen oder ob die andere Person als unabhängig erlebt werden kann. Anhand des Verhaltens des Patienten in der therapeutischen Beziehung kann der Therapeut Fähigkeiten, am Zusammensein mit anderen teilzunehmen und Beziehungen zu gestalten, erkennen und untersuchen. Hier zeigt sich das implizite Beziehungswissen des Patienten nicht nur in symbolischer Form in Erzählungen, sondern unmittelbar im Vollzug interpersoneller Interaktion. Beispiele: Wenn ein Patient berichtet, dass er sich von anderen Menschen immer wieder unverstanden fühlt, kann das ein Hinweis darauf sein, dass der Patient andere Menschen nicht aus ihrer eigenen Realität heraus wahrnimmt, sondern in erster Linie im Hinblick darauf, welche Funktionen sie für seine Selbstregulierung haben. Die Art und Weise, wie der Patient andere Menschen schildert und wie er deren Verhalten versteht, lässt darauf schließen, dass andere ihm weitgehend unvertraut und fremd sind. Davon kann sich der Therapeut ein genaueres Bild machen, wenn er im therapeutischen Gespräch erfährt, wie der Patient andere Personen schildert und den Patienten beispielsweise bittet, ihm ein Bild von dieser oder jener Person zu vermitteln. In den Schilderungen wird dann meist deutlich, dass der Patient andere Personen so gut wie gar nicht als unabhängig und eigenständig wahrnimmt. Ein Patient hat so gut wie keine Kontakte, weder zu Arbeitskollegen noch zu Nachbarn oder Verwandten. Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass der Patient vor jeder emotionalen Beziehung zurückschreckt und von vornherein dafür sorgt, dass es nicht zu größerer Nähe kommt, wenn es einmal zu näheren Kontakten kommen könnte. Ein Patient, der von sich aus große soziale Distanz einhält, wird wegen dieses Verhaltens nicht zur Behandlung kommen. Viele Patienten mit strukturellen Störungen leben aber sozial relativ isoliert, obwohl sie

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Zur Manifestation struktureller Beeinträchtigungen

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sich nähere Kontakte wünschen, die gleichwohl nicht zustande kommen. Wenn ein Patient immer wieder Begebenheiten schildert, die erkennen lassen, dass er Streitigkeiten vom Zaun bricht oder andere destruktive Verhaltensweisen zeigt, wenn es zu Annäherungen an andere Personen kommt, was wiederum zur Folge hat, dass jede nähere Beziehung rasch zunichte gemacht wird, ist es oft hilfreich, wenn der Psychotherapeut den Patienten auffordert, solche Ereignisse möglichst genau wiederzugeben. Daran wird sich eventuell erkennen lassen, wie der Patient durch sein eigenes Verhalten dafür sorgt, dass sich die andere Person zurückzieht, worin manche Patienten dann wiederum eine Bestätigung für die Unzuträglichkeit des Verhaltens anderer erkennen. Wenn die Schilderungen Hinweise darauf erkennen lassen, dass der Patient sich an andere Menschen anklammert und nur schwer ertragen kann, von anderen getrennt zu sein, sollte der Psychotherapeut im weiteren Gespräch mit dem Patienten klären, ob der Patient sich generell auf die physische Anwesenheit anderer Personen angewiesen fühlt oder ob sich das lediglich auf eine oder wenige andere Personen bezieht, der Patient sich ansonsten aber von anderen unabhängig fühlen kann. Besteht im Gespräch mit dem Patienten der Verdacht, dass der Patient Gefühle, Meinungen und Beweggründe anderer Menschen kaum von deren eigenem Standpunkt aus nachvollziehen kann oder davon ausgeht, dass andere Menschen so wie er selbst erleben, lassen sich dafür weitere Anhaltspunkte gewinnen, indem der Therapeut den Patienten beispielsweise danach fragt, welche Gefühle die Person oder die Personen, von denen der Patient gerade spricht, seiner Meinung nach gehabt haben könnten, als sie sich so verhalten haben, wie der Patient das berichtet, aus welchen Beweggründen die anderen Personen das möglicherweise getan haben und wie sie seiner Vermutung nach denken könnten. Wenn der Patient wiederholt dysphorisch wird, sich wertlos fühlt, sich nicht leiden kann oder in noch weiter reichende psychische und Selbstwertkrisen gerät, wenn er sich durch den Therapeuten nicht ausreichend gesehen und bestätigt fühlt, liegt der Veracht nahe, dass der Patient den Therapeuten und dessen Bestätigung für seine Selbstwertregulierung braucht.

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Stabilität von Beziehungen (Beziehungskonstanz, Objektkonstanz) – Kann der Patient Beziehungen zu für ihn wichtigen anderen Menschen aufrechterhalten, auch wenn die andere Person nicht anwesend ist, sich nicht in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen des Patienten verhält oder es zu Meinungsverschiedenheiten und Konflikten kommt? – Ist der Patient in der Lage, in der Beziehung zu für ihn wichtigen anderen Menschen auch Frustration, Konflikte und Angst auszuhalten, ohne sich von der anderen Person deshalb dauerhaft zurückziehen zu müssen? Kommentar: Die Stabilität der Beziehungen des Patienten zeigt sich darin, ob in der Lage ist, die Abwesenheit für ihn wichtiger anderer Menschen zu ertragen und Frustration und Angst auszuhalten, die in der Beziehung zu dieser anderen Person erlebt werden, ohne die andere Person innerlich fallenlassen oder auslöschen zu müssen und ohne dass sich die zuvor guten Eigenschaften der anderen Person in ihr Gegenteil verkehren (Objektkonstanz). Beispiele: Wenn ein Patient schildert, wie eine Person, die ihm bis dahin wichtig war, nicht mehr zu existieren und keine Bedeutung mehr zu haben scheint, schon kurze Zeit nachdem diese Person nicht mehr physisch anwesend ist, sollte der Psychotherapeut im Gespräch versuchen, weitere Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, inwieweit der Patient in der Lage ist, Beziehungen zu anderen Menschen auch dann aufrechtzuerhalten, wenn diese anderen Personen sich nicht so verhalten, wie der Patient sich das wünscht oder zu brauchen meint. Darauf kann auch hinweisen, wenn der Patient sich fast unmerklich, undramatisch und blande von einer Person zurückzieht, die ihm bis dahin wichtig gewesen ist, nachdem diese Person sich anders verhalten hat, als von dem Patienten gewünscht oder erhofft. Wenn ein Patient große Mühe hat, die Beziehung zum Therapeuten innerlich wie nach außen hin aufrechtzuerhalten, wenn dieser einmal länger als üblich abwesend ist, liegt der Verdacht nahe, dass die Fähigkeit zur Objektkonstanz eingeschränkt ist. Sowohl dann, wenn ein Patient unter diesen Umständen unangemessen dramatisch und unan-

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gepasst reagiert, wie auch dann, wenn ein Patient auf Trennungen oder vorübergehende Trennungen mit diffusem und körperlichem Missbehagen reagiert, sollte der Therapeut aufmerksam dafür sein, ob dem mangelnde Objektkonstanz zugrunde liegt. Unter Umständen zeigt ein Patient entsprechende Reaktionen bereits bei einem Mangel an Übereinstimmung mit dem Therapeuten. Wenn ein Patient sich von einer anderen Person nicht ausreichend geliebt oder sich gekränkt fühlt, kann es zu unmerklichen, blanden, aber auch zu dramatischen Reaktionen kommen. Manche Patienten erleben auch den Verlust einer anderen Person dauerhaft als Katastrophe. Wenn der Therapeut im Gespräch mit dem Patienten den Verdacht hat, dass der Patient Trennungsangst niemals bewusst erlebt, sollte er bei entsprechender Gelegenheit im Gespräch mit dem Patienten der Frage nachgehen, wie der Patient sich generell mit anderen Menschen verbunden fühlt und wie stabil andere Menschen gleichsam in ihm verankert sind.

Selbstwahrnehmung und Selbstregulierung in interpersonellen Beziehungen – Kann der Patient Fantasien, Impulse, Wünsche, innere Verbote u. a. im Zusammensein mit anderen Menschen wahrnehmen? – Kann er im Zusammensein mit anderen sich selbst zum Gegenstand seiner Aufmerksamkeit und Betrachtung machen (Selbstreflexivität)? Ist er in der Lage, sein eigenes Beteiligtsein an einer zwischenmenschlichen Beziehung zu erkennen, zu reflektieren und sein Verhalten daraufhin gegebenenfalls zu verändern? – Ist der Patient sich im Kontakt mit anderen seiner Individualität sicher und verfügt über ein stabiles Selbstbewusstsein und über ein stabiles Körperschema, auch ohne dass er dafür der fortlaufenden Bestätigung durch andere bedarf? – Kann der Patient sein Selbstwertgefühl regulieren, ohne dafür andere Personen in den Dienst nehmen zu müssen? – Kann der Patient akzeptieren und ertragen, von anderen Menschen vorübergehend abhängig zu sein und sich abhängig zu fühlen?

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– Wie sicher und flexibel kann der Patient Grenzen zwischen sich und anderen aufrechterhalten, deren Durchlässigkeit aber auch nach Bedarf vorübergehend erhöhen? Kommentar: Der Therapeut sollte versuchen, aus den Schilderungen und dem Verhalten des Patienten zu erkennen, wie sicher der Patient sich seiner selbst ist, ob ihm eigenes Erleben in Gegenwart von anderen zugänglich ist, inwieweit er sich seiner Individualität sicher ist, wie er sein Selbsterleben und insbesondere sein Selbstwertgefühl reguliert und ob er über ein stabiles Selbstbewusstsein sowie ein stabiles Körperschema verfügt. Aus den Mitteilungen des Patienten und seinem Verhalten und Erleben in der therapeutischen Situation kann der Therapeut zudem darauf schließen, wie stabil der Patient Grenzen zwischen sich und der anderen Person bzw. der äußeren Realität ziehen und aufrechterhalten kann. Beispiele: Wenn sich im therapeutischen Gespräch der Eindruck verdichtet, dass dem Patienten im Zusammensein mit anderen eigenes psychisches Erleben kaum zugänglich ist und Gefühle, eigene Bedürfnisse, Wünsche oder auch Belastbarkeitsgrenzen nicht oder nur grob und wenig differenziert wahrgenommen werden können, sollte der Therapeut im Weiteren dafür aufmerksam bleiben oder auch durch entsprechende Nachfragen zu klären versuchen, ob es dem Patienten generell schwer fällt, sein inneres Erleben im Zusammensein mit anderen wahrzunehmen, oder das nur bestimmten Personen gegenüber oder in besonderen Situationen der Fall ist. Wenn ein Patient sich immer wieder völlig unnütz, nutz- und wertlos fühlt oder aber toll und grandios, ohne dass das mit realen Erfolgen oder Misserfolgen oder anderen guten oder schlechten Erfahrungen zusammenhängt, weist das darauf hin, dass der Patient nicht in der Lage ist, sein Selbstwertgefühl halbwegs stabil zu regulieren. Um das zu klären, ist es hilfreich, wenn der Therapeut im Gespräch in Erfahrung zu bringen versucht, welche Wirkung es für den Patienten hat, wie andere Personen ihn einschätzen und beurteilen. Bei Patienten mit strukturellen Störungen hat das so gut wie keine unterstützende Wirkung auf die Entwicklung eines stabilen und realistischen Gefühls für die eigene Person. Dass ein Patient generell und nicht nur in umschriebenen oder Extremsituationen kein sicheres Gefühl dafür hat, wie er selbst eigentlich ist, wird oftmals erst im Verlauf längerer therapeuti-

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scher Arbeit erkennbar. Das unsichere Identitätsgefühl zeigt sich oft mehr zwischen den Zeilen der Äußerungen des Patienten, als dass der Patient das explizit benennt. Wenn ein Psychotherapeut davon ausgeht, der Umstand, dass einem Patienten äußere Gratifikationen wie soziales Ansehen, Geld, Erfolg oder sexuelle Attraktivität wichtig sind, sei ein Hinweis auf eine narzisstische Problematik dieses Patienten, sollte er sich zuerst fragen, inwieweit seine Auffassung auf ein Gegenübertragungsproblem hinweist und beispielsweise Ausdruck abgewehrten Neides ist. Auf eine schwerwiegendere Beeinträchtigung der Selbstwertregulation weist das nur dann hin, wenn der Patient die äußeren Gratifikationen unbedingt braucht, um sich ausreichend wertvoll zu fühlen und sich umgekehrt dauerhaft wertlos fühlt, wenn solche Gratifikationen ausbleiben. Dass ein Patient die Grenzen zwischen sich und anderen nicht stabil aufrechterhalten kann, deutet sich häufiger beispielsweise darin an, dass der Patient unsicher ist oder sogar in Verwirrung darüber gerät, ob sein Erleben seinen Ursprung in der eigenen Person oder in anderen Menschen hat. Meist wird der Patient das nicht in Worten ausdrücken, aber der Therapeut gewinnt aus der Art und Weise, wie der Patient über Erfahrungen im Zusammensein mit anderen spricht, entsprechende Anhaltspunkte. Das sollte der Therapeut zum Anlass nehmen, dafür im weiteren Gespräch aufmerksam zu bleiben. Auf Beeinträchtigungen der Fähigkeit, Grenzen zwischen sich und anderen aufrechtzuerhalten, lässt sich zudem einmal aufgrund dessen schließen, dass der Patient danach verlangt, mit anderen Menschen bis zur Ununterscheidbarkeit eins zu sein, zum anderen aufgrund dessen, dass der Patient sich ständig gegen das Bedürfnis wehren muss, mit der anderen Person zu verschmelzen, indem er autark zu sein versucht oder seine Eigenständigkeit in anderer Weise besonders betonen muss.

Wahrnehmen und Ausdruck von Gefühlen – Kann der Patient im Zusammensein mit anderen verschiedene Gefühle wahrnehmen und voneinander unterscheiden, oder werden Gefühle nur diffus, grob und körpernah wahrgenommen? – Nimmt der Patient Gefühle erst im Nachhinein wahr, wenn die Situation, auf die sich die Gefühle beziehen, schon vorüber ist,

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oder die Person, der die Gefühle gelten, abwesend ist, oder kann der Patient die Gefühle unmittelbar in der Situation wahrnehmen? – Ist der Patient in der Lage, seine Gefühle im Zusammensein mit anderen als Signale zu nutzen, um seine Beziehungen zu regulieren, oder wird der Patient von seinen Gefühlen leicht überwältigt? – Kann der Patient den Ausdruck von Gefühlen steuern und an die jeweiligen Umstände anpassen, oder neigt der Patient dazu, Gefühle entweder wie dranghaft zu zeigen oder aber deren Ausdruck ganz zu unterdrücken? Kommentar: Patienten mit strukturellen Störungen können Gefühle oft nicht oder nur diffus und körpernah wahrnehmen, beispielsweise als diffuses Wohlbehagen oder Missbehagen. Bei anderen Patienten haben Gefühle eine impulsive Qualität und bestimmen das Verhalten, ohne dass der Patient Gefühlssignale nutzen kann, um sein Verhalten zu steuern. So kann es beispielsweise sein, dass Wut sich unmittelbar in wütend-aggressivem Verhalten ausdrückt, ohne dass zwischen Gefühl und Verhalten eine Differenz zu bestehen scheint. Einige Patienten können nur bestimmte Gefühle wahrnehmen, während sie andere Gefühle nicht zu kennen scheinen. Wieder andere Patienten können Gefühle zwar mehr oder weniger differenziert wahrnehmen, merken aber erst, wenn eine Situation vorüber ist, wie sie sich fühlen. Beispiele: Im therapeutischen Gespräch gibt es viele Hinweise dafür, dass der Patient nur grobe und diffuse emotionale Qualitäten kennt, es ihm beispielsweise immer wieder nur entweder »ganz gut« geht oder er »gut drauf« ist, oder dass es ihm auf der anderen Seite »nicht so gut« geht oder er »mies drauf« ist, während er sein seelisches Befinden nicht genauer verspüren und schildern kann. Fragen oder entsprechende Aufforderungen, sein Befinden genauer zu schildern, führen nicht dazu, dass der Patient differenziertere Qualitäten oder umschriebene Gefühle schildern kann. Einige Patienten schildern, dass ihnen Gefühle anderen Menschen gegenüber gänzlich fremd sind und dass jemand, der sich ihnen gegenüber nicht angemessen verhalte, von da an für sie nicht mehr existiere.

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Wenn ein Patient interpersonelle Situationen schildert, können sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Patient sich häufiger impulsiv verhält, sein Verhalten ganz von seiner augenblicklichen Gefühlslage bestimmt ist und er nicht in der Lage ist, sein Verhalten auf die jeweiligen Umstände abzustimmen. Wird er in der therapeutischen Situation daraufhin angesprochen, kann sich herausstellen, dass der Patient Gefühle entweder nicht bewusst wahrnimmt oder aber zumindest grobe Gefühlsqualitäten zwar wahrnimmt, aber sich nicht in der Lage sieht, sein Verhalten unter dem Einfluss dieser Gefühle zu steuern. Eine mildere Form eingeschränkter Gefühlswahrnehmung kann sich darin zeigen, dass ein Patient immer erst im Nachhinein merkt, dass jemand ihn enttäuscht hat, er sich geärgert hat, gekränkt war oder er jemanden sympathisch fand und der Person gerne näher gekommen wäre.

Psychische und interpersonelle Abwehr – Kann der Patient seine soziale Anpassung und sein seelisches Gleichgewicht mit Hilfe psychischer Mechanismen sichern und aufrechterhalten, oder muss er versuchen, die andere Person dazu zu bewegen, ihrerseits ihr Verhalten zu verändern? – Wirken sich die Mittel und Mechanismen, mit denen der Patient seine soziale Anpassung aufrechtzuerhalten versucht, beeinträchtigend auf seine zwischenmenschlichen Beziehungen und gegebenenfalls auch auf psychische Funktionen aus? Kommentar: Abwehr und Anpassung sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Bei Patienten mit strukturellen Störungen spiegelt die vorherrschende Abwehr meist das höchste erreichte Abwehrniveau wider. Die vorherrschenden Abwehrmittel und -mechanismen muss der Therapeut aus den Schilderungen des Patienten und aus seinem Verhalten erschließen; sie lassen sich nicht an ganz bestimmten Phänomenen erkennen. Der Therapeut sollte auch versuchen herauszufinden, inwieweit sich die Abwehr des Patienten beeinträchtigend auf sein Denken, auf andere psychische Funktionen und auf sein Verhalten im Zusammensein mit anderen auswirkt. Schließlich sollte der

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Therapeut darauf achten, ob die momentane Abwehr des Patienten ihren Zweck erfüllt oder nicht. Beispiele: Im Verlauf der therapeutischen Arbeit gewinnt der Therapeut anhand der Schilderungen des Patienten und seines Verhaltens den Eindruck, dass die Abwehr unflexibel ist und sich oft stärker für Anpassung behindernd als fördernd auswirkt. Darauf könnte beispielsweise hinweisen, dass der Patient immer wieder zu den gleichen Mitteln greift, um sich sicher fühlen zu können, obwohl das Verhalten den Situationen wiederholt unangepasst zu sein scheint oder nicht effektiv ist. Ein Patient berichtet von Erfahrungen, die zeigen, dass er sein psychisches Gleichgewicht und seine interpersonelle Anpassung unter Rückgriff auf Abwehrmechanismen wie Verleugnung, Projektion, projektive Identifizierung, primitive Idealisierung, Spaltung und eine impulsive Form der Identifikation mit dem Angreifer zu sichern versucht, während er über Möglichkeiten, sein Gleichgewicht unter Anerkennung von äußeren und inneren Realitätsbedingungen aufrechtzuerhalten, kaum zu verfügen scheint. Ein Patient verhält sich immer wieder sozial abweichend. Kaum fühlt er sich angegriffen, greift er seinerseits den Angreifer an, kehrt so den Spieß um und wird seinerseits aggressiv. Dieser Mechanismus der Identifikation mit dem Angreifer bestimmt in hohem Maße sein Verhalten in interpersonellen Beziehungen. Wenn ein Patient über Zustände von affektiver Erregung, die der Realität nicht angemessen sind, berichtet, ist das kein sicherer Hinweis für eine strukturell bedingte Beeinträchtigung, sollte den Therapeuten im Zuge der weiteren therapeutischen Arbeit aber dafür aufmerksam sein lassen, ob dem Patienten eventuell ausreichende und flexible Möglichkeiten fehlen, um sein psychosoziales Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.

Gewissen und Idealansprüche – Zeigt der Patient in Verbindung mit Beziehungen zu anderen Verhaltensweisen, die den Charakter von strafenden Tendenzen aufweisen, die gegen die eigene Person gerichtet sind

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und/oder der Vermeidung von Schuld- oder Schamgefühlen gelten? – Neigt der Patient zu Racheimpulsen und dazu, sich rächend zu verhalten? Haben etwaige Schuldgefühle eine realistische Grundlage? – Kann der Patient sich in Beziehungen zu wichtigen anderen Personen so zeigen, wie er ist, oder muss er wie zwanghaft »mehr scheinen als sein«? – Hat der Patient im Zusammensein mit anderen ein stabiles Gefühl für den Wert der eigenen Person und ist in der Lage, seine Selbstachtung zu regulieren? Kommentar: Der Therapeut kann im Gespräch mit dem Patienten aufgrund von Manifestationen von Schuld- und Schamgefühlen oder deren Verarbeitungen strenge Gewissenszüge erkennen. Strenge Gewissenszüge zeigen sich auch an Verhaltensweisen, die den Charakter von strafenden, gegen die eigene Person gerichteten Tendenzen aufweisen oder der Vermeidung von Scham gelten. Auch Racheimpulse und rächendes Verhalten können auf unerbittliche Qualitäten des Gewissens hinweisen. Häufig kann der Therapeut nur aufgrund des Verhaltens eines Patienten auf Eigenschaften des Gewissens schließen, beispielsweise dann, wenn Regeln von hoher Bedeutung sind oder ein Patient außergewöhnlich pflichtbewusst erscheint, um auf diese Weise Kritik und Schuld oder Schuldgefühle zu vermeiden. Manchmal lässt das Verhalten auch erkennen, dass jegliches Schuldbewusstsein oder Schuldgefühle zu fehlen scheinen. Idealansprüche zeigen sich an dem Gefühl des Patienten für den Wert der eigenen Person. Sie lassen sich auch an dem Verhältnis von Idealvorstellungen zu den tatsächlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Patienten erkennen. Auch Schilderungen, die auf die Fähigkeit des Patienten schließen lassen, seine Selbstachtung zu regulieren, geben Aufschluss über seine Idealansprüche. Beispiele: Wenn ein Patient immer wieder gegen die eigene Person gerichtete Impulse bis hin zu suizidalem Verhalten oder extremer depressiver Verstimmung äußert, kann das verschiedene Gründe haben, beispielsweise auf die eingeschränkten Fähigkeiten des Patienten zur Selbst-

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wertregulation hinweisen oder auch Ausdruck unerbittlich strenger, sadistischer Gewissenszüge sein. Dabei muss der Patient bewusst keine gegen die eigene Person gerichteten Tendenzen erleben. Aber der Psychotherapeut kann aus seinem Verhalten erkennen oder zumindest erahnen, dass solche Tendenzen erheblich sind, sich beispielsweise in Form von Suizidgedanken zeigen, die dem Patienten nicht erklärlich sind. Wenn ein Patient sich im therapeutischen Gespräch in verschiedenen Situationen, über die er berichtet, immer wieder ausgesprochen selbstgerecht zeigt und Schuld ausschließlich der Umwelt zuschreibt, lässt das auf ein sehr strenges Gewissen schließen. Zumindest in frühen Phasen der Therapie wird der Patient etwaige Versuche, seine eigene Beteiligung an Situationen, die aus der Sicht des Patienten auf Fehlverhalten hinweisen, vorsichtig in Erwägung zu ziehen, mehr oder weniger empört zurückweisen. Manchmal kann der Therapeut gleichsam aus dem gesamten Lebensstil des Patienten vermuten, dass Schuld- und Schamvermeidung für den Patienten zentral sind. Der Patient scheint gleichsam in einer Sanatoriumswelt zu leben oder leben zu müssen. Wenn der Therapeut im Gespräch auf die wiederkehrende Überzeugung eines Patienten trifft, unheilbar krank zu sein, ohne dass es entsprechende körperliche Anzeichen dafür gibt, sollte er versuchen, bei entsprechenden Gelegenheiten der Frage nachzugehen, in welchen Kontexten sich diese Krankheitsüberzeugungen des Patienten manifestieren, und er sollte die Möglichkeit im Auge behalten, dass es sich dabei um ein Indiz für ein übermäßig strenges Gewissen handelt. Auch wiederkehrende Hassgefühle können ein unerbittlich strenges Gewissen anzeigen, indem sie der Abwehr von Schuldgefühlen dienen. Unrealistische Ideale zeigen sich beispielsweise darin, dass die Vorstellungen eines Patienten, wie er sein sollte, in extremem Missverhältnis zu seinen tatsächlichen Fähigkeiten stehen. Auch wenn der Patient immer wieder massive Selbstkritik übt, sollte das die Aufmerksamkeit des Psychotherapeuten auf die Idealvorstellungen von seiner eigenen Person und seinen Fähigkeiten lenken. Sind die Ideale eines Patienten so unrealistisch und in der Folge destruktiv, dass der Patient sich häufiger selbst hasst oder Ekel vor

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sich selbst empfindet, muss das ein Warnsignal für den Therapeuten sein, und es muss vorrangig abgeklärt werden, ob der Patient trotz dieser gegen sich selbst gerichteten, von unerbittlichen Idealansprüchen gelenkten zerstörerischen Tendenzen sein Verhalten noch ausreichend steuern kann oder droht, gegen sich selbst destruktiv zu handeln. Vergleichsweise mildere Idealansprüche werden daran erkennbar, dass ein Patient für verschiedene Bereiche, in denen er sich bewegt, Leistungsstandards schildert, an denen er sich misst, die unerfüllbar scheinen, oder auch an dem Verhalten eines Patienten, das auf vielen Gebieten auf perfektionistische Ansprüche an sich selbst schließen lässt. Wenn der Psychotherapeut im Gespräch feststellt, das ein Patient sich gegenüber eigenen Leistungen und Zielen relativ gleichgültig zeigt, sollte er das zum Anlass nehmen, in der therapeutischen Arbeit zu klären, ob sich darin eine generelle Tendenz des Patienten dokumentiert, die wiederum auf strukturell verankerte Idealanforderungen verweist.

Antizipation der Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere – Kann der Patient sich Konsequenzen seines eigenen tatsächlichen oder beabsichtigten Verhaltens auf andere einigermaßen realistisch klar machen und die Folgen bedenken, die dieses Verhalten nach sich ziehen kann? – Ist der Patient in der Lage, mögliche oder mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Reaktionen anderer Menschen auf sein eigenes Verhalten hin bei der Planung und Ausführung seines Handelns in Rechnung zu stellen? – Wie angemessen erscheint das Verhalten der jeweiligen sozialen Situation und den jeweiligen Umständen? Ist der Patient in der Lage, sich emotional und mit seinem Verhalten auf verschiedene Personen und Situationen abzustimmen? Kommentar: Die Fähigkeit, sich in interpersonellen Kontakten über die Wirkung seines eigenen Verhaltens auf andere einigermaßen klar zu sein, kommt im therapeutischen Gespräch auf der einen Seite darin zum Ausdruck, dass der Patient sich in verschiedenen Situatio-

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nen zu erwartende Folgen seines tatsächlichen oder beabsichtigten Verhaltens vor Augen führt und potentielle Gefahren, etwaige Strafen, soziale Konsequenzen oder physische Folgen bedenkt, die sein Verhalten nach sich ziehen kann, und dass er im Kontakt mit anderen zu erwartende Reaktionen des jeweiligen Gegenübers auf sein eigenes Verhalten in Rechnung stellt. Auf der anderen Seite kann der Therapeut aus dem Verhalten des Patienten darauf schließen, insbesondere aufgrund dessen, wieweit der Patient in der Lage ist, sein Verhalten auf verschiedene Personen und situative Umstände abzustimmen und sich emotional auf verschiedene Personen und Situationen einzustellen. Beispiele: Im Zuge der therapeutischen Arbeit schildert eine Patientin immer wieder Situationen, in denen sie erheblich gefährdet ist, ohne dass sie sagen könnte, wie es dazu kommt. Wenn der Therapeut sie im Gespräch danach fragt, was sie darüber gedacht hat, welche Folgen ihr Verhalten haben könnte, kann sich herausstellen, dass sie wie selbstverständlich oder ahnungslos davon ausgegangen ist, dass die Situation schon gut ausgehen würde, ohne dass es Anhaltspunkte dafür gibt, dass ihr Verhalten sich aus unbewussten Absichten verstehen ließe. Es kann sein, dass sich ein Patient wiederholt so verhält, dass sein Verhalten Konsequenzen nach sich zieht, die ihm erhebliche Nachteile einbringen, er beispielsweise immer wieder erst im letzten Moment mit Prüfungsvorbereitungen beginnt, obwohl er sich dadurch inzwischen Schaden zugefügt hat, aber trotzdem nicht in der Lage ist, mögliche Folgen seines Verhaltens vorab zu bedenken. Versucht der Therapeut, die Folgen seines Verhaltens im Gespräch mit dem Patienten zu antizipieren, stellt sich ein ums andere Mal heraus, dass es dem Patienten nicht möglich ist, sich eine Situation, an der er selbst beteiligt sein wird, vorausschauend vor Augen zu führen. Die Schilderungen eines Patienten von unterschiedlichen Situationen, an denen er selbst beteiligt war, lassen darauf schließen, dass er die Wirkung seines eigenen Verhaltens auf andere Personen ein ums andere Mal grob verzerrt einschätzt und kaum in der Lage ist, Wirkungen seines Verhaltens auf andere einigermaßen realistisch zu antizipieren.

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Ein Patient schildert wiederkehrende Reaktionen der Umgebung auf sein Verhalten, die es wahrscheinlich erscheinen lassen, dass sein Verhalten für seine Umwelt häufiger grob unangemessen ist oder als befremdlich wahrgenommen wird, ohne dass der Patient selbst jedoch in der Lage wäre, diese Zusammenhänge zu erkennen und sein eigenes Verhalten mit dem Verhalten der Umgebung in Verbindung zu sehen.

Handlungsimpulse, Befriedigungsaufschub und Frustrationstoleranz – Kann der Patient Affekte und Handlungsimpulse in zwischenmenschlichen Beziehungen ausreichend sicher und flexibel steuern? – Neigt der Patient in Beziehungen zum Ausagieren und zu impulsiven Verhaltensweisen? – Verfügt der Patient über wirksame Aufschub- und Kontrollmechanismen und kann Frustrationen in interpersonellen Beziehungen tolerieren? Neigt der Patient zu übermäßiger und rigider Kontrolle, oder gibt es Hinweise dafür, dass der Patient sich öfter wenig kontrolliert verhält? Kommentar: Das Verhalten von strukturell gestörten Patienten ist häufig affekt- und impulsbestimmt. Ihre Möglichkeiten, Affekte und Impulse aufzuschieben und zu modulieren, sind gering. Wenn Affekte und Impulse mobilisiert werden, kann es sein, dass der Patient nahe daran ist, tatsächlich zu tun, wonach diese Affekte und Impulse ihn drängen. Die Fähigkeit, sich sozial anzupassen, setzt voraus, dass Affekte und Impulse halbwegs sicher gesteuert und kontrolliert werden können. Die Mittel und Wege, mit denen der Patient versucht, Affekte und Impulse zu kontrollieren und zu steuern, erscheinen wenig effektiv. Beeinträchtigungen der Affekt- und Impulssteuerung können sich sowohl in Über- wie in Unterkontrolle zeigen. Um das eigene Handeln flexibel auf die jeweiligen Umstände abstimmen zu können, ist es erforderlich, Frustrationen auszuhalten und die Befriedigung von Bedürfnissen aufzuschieben.

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Fähigkeiten zur Affekt- und Impulssteuerung lassen sich auch daraus erschließen, ob und wie der Patient Affekte und Impulse in sein Denken, seinen affektiven Ausdruck und sein manifestes Verhalten aufnehmen kann. Beispiele: Dass ein Patient Frustrationen kaum ertragen, ein anderer Patient Angst oder depressive Stimmungen nur sehr schwer aushalten kann und zu Verhaltensweisen greifen muss, die ihm das erleichtern sollen, ist oftmals ein Hinweis auf eine strukturell bedingte Einschränkung. Wenn ein Patient immer wieder von impulsivem Verhalten berichtet oder Situationen schildert, die darauf schließen lassen, sollte der Psychotherapeut die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass der Patient aus strukturellen Gründen nicht ausreichend in der Lage ist, Impulse und Affekte aufzuschieben und wiederholt Gefahr läuft, dass seine Impulse und Affekte sein tatsächliches Verhalten bestimmen. Unter Umständen stellt sich heraus, dass sexuelle und aggressive Fantasieinhalte sich von dem tatsächlichen sexuellen oder aggressiven Verhalten des Patienten kaum zu unterscheiden scheinen, unter Umständen mit der Folge, dass das Verhalten des Patienten für andere bedrohlich wird. Wenn ein Patient sporadisch zu Wutausbrüchen oder zu Impulsdurchbrüchen anderer Art wie massivem Alkoholkonsum, ungesteuerten Essattacken oder zu impulsivem sexuellen Verhalten neigt, ist das häufig ein Hinweis auf strukturelle Beeinträchtigungen. Es stellt sich dann oftmals heraus, dass der Patient nur unter erheblichen Schwierigkeiten und nur bedingt in der Lage ist, sexuelle, aggressive oder andere Bedürfnisse aufzuschieben. Auch wenn ein Patient sich immer wieder selbstschädigend verhält und zu suizidalem Verhalten neigt, sollte der Therapeut nicht nur die Hintergründe des Verhaltens selbst zu klären versuchen, sondern sich auch fragen, inwieweit das Verhalten des Patienten darauf schließen lässt, dass er nur eingeschränkt in der Lage ist, sein Verhalten unter dem Einfluss von Impulsen und Affekten zu steuern. Häufiger stellt der Psychotherapeut im Gespräch fest, dass der Patient kaum in der Lage zu sein scheint, eigene Bedürfnisse und Impulse wahrzunehmen, dass das Verhalten jedoch darauf schließen lässt. Das sollte dem Therapeuten Anlass geben, die gemeinsame Aufmerksamkeit in der Behandlung auf die Wahrnehmung von Bedürfnissen und

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Impulsen zu legen und den Patienten darin zu unterstützen, sein Verhalten auf die jeweiligen situativen Umstände besser abstimmen zu können. Wenn der Therapeut erfährt, dass der Patient seine Impulse oder Bedürfnisse kaum anders als mit Hilfe von physischen Aktivitäten wie exzessiven körperlichen Anstrengungen oder Zufuhr massiver körperlicher Reize einigermaßen unter Kontrolle halten kann, sollte der Therapeut für entsprechende strukturell bedingte Einschränkungen des Patienten aufmerksam sein. Einschränkungen der Fähigkeit, Bedürfnisse und Impulse aufzuschieben, können sich nicht nur in unterkontrolliertem Verhalten und in Impulsdurchbrüchen zeigen, sondern auch in Gestalt von Überkontrolle oder auch in psychosomatischen Reaktionen. Wenn ein Patient wiederholt zu abrupten und extremen Stimmungsschwankungen neigt, sollte das Anlass für den Psychotherapeuten sein, daran zu denken, dass dem strukturell bedingte Beeinträchtigungen der Fähigkeit zur Impulskontrolle und der Frustrationstoleranz zugrunde liegen können.

Regression und interpersonelle Beziehungen – Ist der Patient im Zusammensein mit anderen in der Lage, von realistischen Wahrnehmungen und realistischem (»vernünftigem«) Denken und Verhalten vorübergehend auch einmal Abstand zu nehmen (»Fünfe gerade sein lassen«, »die Seele baumeln lassen«)? – Kann der Patient solche vorübergehenden regressiven Veränderungen begrenzen und steuern, oder kommt es leicht dazu, dass regressives Verhalten die Anpassung behindert? – Kann der Patient sich regressive Erfahrungen (z. B. Tagträumereien, Fantasien) zunutze machen, um neue Ideen, Einfälle, Problemlösungen u. a. zu entwickeln? – Kann der Patient damit seine Möglichkeiten erweitern, mit Beziehungen umzugehen und sich an andere anzupassen?

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Kommentar: Die Fähigkeit zur Regressionssteuerung erkennt der Therapeut unter anderem daran, ob der Patient in der Lage ist, seine Realitätswahrnehmung und sein realistisches Denken gelegentlich und vorübergehend zu lockern, so dass primärprozessnäheres, vorbewusstes Erleben in das bewusste Erleben Eingang findet. Dazu gehört auch die Fähigkeit, regressives Verhalten zu begrenzen und zu steuern, ohne dass Gefahr besteht, dass die Anpassung erschwert oder gar unmöglich wird. Die Fähigkeit zur Regressionssteuerung zeigt sich auch darin, wieweit ein Patient sich regressive Erfahrungen zunutze machen kann, indem er aus regressivem Erleben beispielsweise neue Ideen, Einfälle oder Problemlösungen gewinnt und regressive Erfahrungen nutzt, um daraus auf neue Möglichkeiten zu stoßen, sich in seiner sozialen Lebenswelt zu bewegen. Beispiele: Ein Patient berichtet, dass er manchmal, wenn er allein ist, von Fantasien geradezu überschwemmt wird und in panische Angst gerät, ein Zustand, den er nur unterbrechen kann, indem er zu drastischen Reizen greift, sich beispielsweise Schmerzen zufügt. Dass ein Patient aus Gründen strukturell bedingter Beeinträchtigungen nicht in der Lage ist, seine rigiden Kontrollen auch nur ein wenig und nur vorübergehend zu lockern oder gar partiell aufzugeben, kann sich darin zeigen, dass der Patient keine spielerischen Fantasien kennt und sich beispielsweise an humorvollen, witzigen oder albernen Aktivitäten und Gesprächen nicht beteiligen kann. Wenn ein Patient davon berichtet, wie beunruhigend es für ihn ist, wenn er sich vorübergehend der äußeren Realität nicht mehr ganz sicher ist, oder es ihm sehr schwer fällt, aus einem regressiven Zustand wieder aufzutauchen und auf ein der Realität angepassteres Niveau zurückzukehren, sollte der Therapeut den Patienten im Gespräch anregen, andere und weitere Situationen zu schildern, in denen er vergleichbare Erfahrungen gemacht hat. Meist ergeben sich daraus wichtige Anhaltspunkte zur Einschätzung des psychischen Funktionsniveaus des Patienten. Der Psychotherapeut stellt im Verlauf der therapeutischen Arbeit fest, dass dem Patienten kaum jemals neue oder originelle Ideen oder Lösungen für Probleme einfallen. Was eventuell wie Originalität aus-

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sehen könnte, ist nicht das Ergebnis einer kontrollierten Lockerung des Bezugs zur Realität, sondern entpuppt sich allenfalls als Resultat mechanischen Lernens oder anderer einfacher und unkreativer Prozesse.

Die Behandlungstechnik Der Schwerpunkt liegt bei der psychoanalytisch-interaktionellen Methode auf interpersonellem Geschehen; der therapeutische Weg führt über die Arbeit an den Beeinträchtigungen des Patienten im Zusammensein mit anderen auch zu psychischer Stabilisierung. Soziales Leben wird für den Patienten in der und durch die Therapie transparent und verstehbar, und dem Patienten eröffnen sich neue Möglichkeiten, zwischenmenschliche Beziehungen ausreichend gut zu gestalten und mitzugestalten. Kennzeichnend für die Arbeitsweise des Therapeuten bei der psychoanalytisch-interaktionellen Methode ist der antwortende Modus. Im antwortenden Modus verhält sich der Psychotherapeut im Gespräch mit dem Patienten auf eine Weise, die sich charakteristisch von dem Verhalten des Psychotherapeuten bei anderen Behandlungsmethoden unterscheidet. Wenn man davon ausgeht, dass Psychotherapie ein Gespräch ist, so wie Freud von der Psychoanalyse gemeint hat, dass sie ein »Gespräch« sei, bei dem nichts anderes vorgehe »als ein Austausch von Worten« (1916/17, S. 43), unterscheiden sich Behandlungsmethoden in erster Linie durch die Art und Weise, wie das therapeutische Gespräch geführt wird. Dabei sind neben Worten nichtsprachliches und körperliches Verhalten integraler Teil der kommunikativen Mittel, mit denen sich Patient und Therapeut verständigen und das Geschehen im Behandlungszimmer einschließlich ihres Verhältnisses zueinander hervorbringen. Heute auch in der Psychotherapie weit verbreitete Begriffe wie Behandlungsmethode, Intervention, Therapiedosis und Ähnliches sind metaphorische Begriffe, die geeignet sind, eben den Umstand zu verdecken, dass Psychotherapie zuallererst ein Gespräch ist. Der Psychotherapeut wendet nicht eine Methode mehr oder weniger »richtig« an einem Patienten an, sondern Patient und Psychotherapeut führen ein Gespräch miteinander, und was sie in der Beziehung zueinander

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tun, realisieren sie sich durch die Art und Weise, wie sie miteinander sprechen. Sprechen ist soziales Handeln. Ob das Gespräch, dass ein Patient und ein Psychotherapeut miteinander geführt haben, diese oder jene Behandlungsmethode realisiert hat, der zu folgen der Therapeut behauptet, wird gewöhnlich auf der Grundlage dessen entschieden, welcher methodischen Orientierung er sich selbst zurechnet. Um die Frage empirisch zu beantworten, müsste jedoch bekannt sein, wie und mit welchen Mitteln genau beide ihr Gespräch abgewickelt haben und was sie mit ihrem kommunikativen Verhalten im Verhältnis zueinander getan haben.

Der antwortende Modus Das Ziel, dem Patienten zu einer befriedigenderen Teilnahme am sozialen Leben zu verhelfen, wird durch Veränderung seines impliziten Beziehungswissens erreicht. Zu Stabilisierungen des psychischen Zustands kommt es eher als Folge neu gewonnener Möglichkeiten, mit anderen zusammen zu sein, als dass sich die therapeutischen Interventionen primär auf die psychische Binnenwelt des Patienten richten würden. Die Art und Weise, wie der Psychotherapeut das Gespräch mit dem Patienten führt, wird »antwortender Modus« genannt. Der Psychotherapeut gibt dem Patienten gegenüber im antwortenden Modus selektiv und gezielt auch eigenes Erleben und eigene Handlungsbereitschaften zu erkennen; damit liegt der Fokus der therapeutischen Arbeit vornehmlich auf interpersonellen Beziehungen, dem Selbst des Patienten im Kontakt mit anderen. Nicht Deutungen sind das maßgebliche therapeutische Mittel, sondern Antworten, mit deren Hilfe dem Patienten interpersonelles Geschehen und seine eigene Beteiligung daran durchschaubarer und die Teilnahme an reziproken zwischenmenschlichen Beziehungen eröffnet werden. Dabei nimmt der Psychotherapeut als ein Gegenüber in Interaktion am therapeutischen Gespräch teil; demgegenüber bleibt der Therapeut, wo er sich auf Deutungen stützt, weitgehend anonymer, für den Patienten unerkennbarer Experte. Die Verbundenheit mit anderen wird in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie nicht als Nebenprodukt der Fähigkeit zu mentalisieren aufgefasst, sondern steht im Zentrum der therapeutischen Arbeit.

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»Antwort« als Bezeichnung für den therapeutischen Modus in der psychoanalytisch-interaktionellen Methode unterstreicht den auf Interaktion angelegten Charakter der therapeutischen Arbeit. Im antwortenden Modus tritt der Therapeut dem Patienten als andere Person in ihrem eigenen Recht gegenüber und bringt in Antwort auf den Patienten eigenes Erleben und eigene Handlungsbereitschaften und damit Aspekte der Gegenübertragung soweit zur Sprache, wie dies für den Patienten entwicklungsförderlich ist und dazu beiträgt, ihm die soziale Welt erkennbarer und durchschaubarer zu machen. Dabei werden sowohl das Verhalten des Patienten wie auch das Verhalten des Psychotherapeuten immer im Kontext des Verhaltens des jeweils anderen gelesen. Was »Antwort« in der psychoanalytisch-interaktionellen Methode meint, sei anhand eines Beispiels zum einen in Gegenüberstellung zu Antworten im alltagssprachlichen Sinn, zum anderen im Kontrast zu Deutungen konkretisiert: Beispiel: Der Patient fragt: »Wissen Sie noch, was ich Ihnen gestern über die Reise nach P. erzählt habe, zu der mich mein Vater mitgenommen hat?« Der Therapeut antwortet daraufhin: »Ja, ich erinnere mich«. Bei dieser Äußerung des Therapeuten handelt es sich um eine Antwort im alltagssprachlichen Sinn. Wenn der Therapeut auf die Frage des Patienten: »Wissen Sie noch, was ich Ihnen gestern über die Reise nach P. erzählt habe, zu der mich mein Vater mitgenommen hat?« sagt: »Sie rechnen damit, dass ich schnell vergesse, was Sie mir anvertrauen«, interpretiert er das – vermeintlich unbewusste – Motiv, das den Patienten dazu veranlasst haben könnte, diese Frage zu stellen. Es handelt es sich dabei um eine Deutung bzw. um den Vorläufer einer Deutung. Eine Antwort im Sinne der psychoanalytisch-interaktionellen Methode könnte – abhängig vom jeweiligen Kontext – beispielsweise lauten: »Obwohl das ja eigentlich eine einfache Frage ist, mag ich Ihnen nicht so ohne Weiteres antworten und zögere auch, das zu tun, weil ich unsicher bin, ob Sie das wirklich als Frage meinen und das tatsächlich wissen möchten. In den letzten Stunden wollten Sie mir mit ähnlichen Fragen ja meistens nachweisen, dass ich Ihnen nicht zuhöre und mich nicht für Sie interessiere.«

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In der dritten Variante bringt der Therapeut im antwortenden Modus eigenes Erleben und eigene Handlungsbereitschaften selektiv zur Sprache, die sich bei ihm in Antwort auf das Verhalten des Patienten, hier als Reaktion auf seine scheinbar neutrale und sachliche Frage eingestellt haben. Das geschieht nicht beliebig, sondern therapeutisch begründet und gezielt. Dabei richtet sich die Antwort auf das aktuelle Beziehungsgeschehen in der Behandlung, das der Therapeut für den Patienten selektiv dadurch transparent macht, dass er von seinem eigenen Erleben spricht. Deutungen und Alltagsgespräche Auch in Alltagsgesprächen kommen ständig sowohl kommunikative Ereignisse vor, die Deutungen gleichen, als auch interaktive Sequenzen, die Antworten im Sinne der psychoanalytisch-interaktionellen Methode entsprechen. Deutungen verwenden Gesprächsteilnehmer am ehesten mit Blick auf das Verhalten von Dritten, werden doch mit Deutungen der Person, auf die sich die Deutung bezieht, Beweggründe für ihr Verhalten zugeschrieben, die ihr selbst nicht zugänglich sind (»die redet doch nur so, weil sie neidisch ist«). Insofern implizieren Deutungen, dass der Adressat in diesem Augenblick nicht ganz Herr seines Handelns ist und nicht ganz weiß, was er tut. Werden Deutungen direkt an die andere Person adressiert und der Person mit der Deutung Motive unterstellt, die gemeinhin als problematisch oder gar als verpönt gelten, kann das weitreichende Folgen und schlimmstenfalls den Abbruch des Kontakts zur Folge haben. Bei Deutungen, die direkt an die andere Person adressiert werden, handelt sich somit um einen Äußerungsmodus, mit dem die eine Person – in der Behandlung der Psychotherapeut – einer anderen Person – in der Behandlung dem Patienten – sagt, was ihrem Erleben zugrunde liegen könnte und welcher ihr selbst nicht bewusste Sinn und welches unbewusste Motiv sich hinter ihren Äußerungen und ihrem Verhalten möglicherweise verbergen könnten. Weil Deutungen mit einer Infragestellung der Zurechenbarkeit des Handelns der gemeinten Person einhergehen, werden sie im Alltag der Person gegenüber, mit der man gerade im Gespräch ist, kaum jemals, es sei denn im Streit, geäußert. Einer anderen Person ihr selbst nicht zugängliche Motive für ihr eigenes Handeln und damit zu unterstellen, dass sie sich über die Beweggründe ihres eigenen Verhaltens nicht im Klaren ist und insofern nicht über sich verfügt,

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gilt als grenzenüberschreitende Indiskretion, als rüde Attacke oder als Versuch der Machtausübung, eben deshalb, weil der anderen Person – zumindest für dieses bestimmte Verhalten – mangelnde Zurechnungsfähigkeit unterstellt wird. Antworten und Alltagsgespräche Beim Antworten im Sinne des antwortenden therapeutischen Modus unterstellt nicht die eine Person der anderen bestimmte Motive für ihr Verhalten, sondern gibt etwas von ihrem eigenen Erleben im Verhältnis zu der anderen Person zu erkennen. Eine Äußerung wie »als du gesagt hast, du könntest wahrscheinlich nicht kommen, war ich sehr enttäuscht. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass du dich doch noch hast loseisen können«, lässt ganz und gar unerwähnt, welche Motive die andere Person gehabt haben mag, ihren Besuch in Frage zu stellen. Stattdessen gibt das Gegenüber mit diesen Äußerungen etwas von dem eigenen Erleben in Reaktion auf die andere Person zu erkennen: die anfängliche Enttäuschung und die Freude über den doch noch erfolgten Besuch. Wenn in Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung zwischen Ehepartnern der Mann zu seiner Frau sagt, »wenn du dich so zurückziehst, bekomme ich ein ganz schlechtes Gewissen«, beurteilt er das Verhalten seiner Frau nicht explizit und interpretiert auch ihre Motive nicht, die sie zu ihrem Rückzug veranlasst haben könnten, sondern er lässt sie wissen, was ihr Verhalten bei ihm bewirkt. Damit bleibt es ihr überlassen, wie sie im nächsten Zug ihrerseits in Rechnung stellt oder auch nicht in Rechnung stellt, was ihr Mann ihr gerade über sich und seine Gewissensnöte mitgeteilt hat. Ganz ähnlich zeichnen sich therapeutische Interventionen im Modus der Antwort dadurch aus, dass sich der Therapeut dem Patienten selektiv als anderes Subjekt erkennbar macht. Ob er das in dieser Sequenz, in diesem Moment tatsächlich tut und welche Aspekte seines Erlebens er dem Patienten offen legt, bemisst sich daran, ob der Patient von einer antwortenden Intervention in diesem Kontext voraussichtlich entwicklungsförderlichen Gebrauch wird machen können oder nicht. Darum bezieht der Therapeut meist nur ausgewählte Aspekte seines eigenen Erlebens in seine Antworten ein. Dass der Therapeut eigenes Erleben selektiv zu erkennen gibt, bedeutet nicht, dass er den Patienten mit seiner Privatheit behelligt. Weder gibt er eigenes Erleben beliebig zu erkennen, noch geschieht das in

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der Absicht, eine Beziehung mit dem Patienten zu begründen, die besonders vertrauensvolle oder gar private Züge trägt. Indem der Psychotherapeut mit Antworten dem Patienten gegenüber eigenes Erleben im aktuellen Beziehungsgeschehen selektiv transparent macht und damit die Wirkungen zu erkennen gibt, die das vorangegangene Verhalten des Patienten auf die andere Person – hier den Therapeuten – hat, rückt er momentan interpersonelles Verhalten in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Anders als mit deutenden Interventionen wird der Patient nicht zur Selbstreflexion aufgefordert. Interventionen im antwortenden Modus lassen dem Patienten vielmehr Aspekte der sozialen Lebenswelt einschließlich des interaktiven Geschehens in der therapeutischen Situation durchschaubarer und verstehbar werden und unterstützen ihn auf diese Weise dabei, seine Beeinträchtigungen im Zusammensein mit anderen allmählich zu überwinden. Aus psychoanalytischer Sicht gibt der Psychotherapeut dem Patienten Aspekte seiner Gegenübertragung zu erkennen, ein Verhalten, das in der Psychoanalyse nicht praktiziert wird. Bedenkt man allerdings, dass ähnliche Interaktionsmuster, wie sie in der therapeutischen Situation durch die Verschränkung des Verhaltens des Patienten bzw. dessen Übertragung und die dadurch induzierte Verhaltensbereitschaft des Psychotherapeuten bzw. durch dessen Gegenübertragung hervorgebracht werden, sich in der sozialen Welt des Patienten immer wieder gleichsam »blind« ereignen, so dass das Zusammensein mit anderen für den Patienten in für ihn undurchschaubarer Weise immer wieder belastet oder gar verhindert wird, wird der therapeutische Nutzen verständlich, den der Patient aus antwortenden Interventionen des Therapeuten ziehen kann. Selektive antwortende Interventionen vermitteln dem Patienten Einblicke in das Zusammenspiel seines eigenen Verhaltens und des Verhaltens seiner sozialen Mitwelt. Das ist für strukturell gestörte Patienten umso mehr entscheidend wichtig, weil sie nicht in der Lage sind, sich diesem Zusammenspiel in reflexiver Einstellung zu nähern. Implizites Beziehungswissen des Patienten zeigt sich in der Therapie zum einen darin, wie er die therapeutische Beziehung mitgestaltet, zum anderen in seinen Äußerungen über interpersonelle Beziehungen. Im Verhalten des Patienten in der therapeutischen Beziehung kommt das implizite Beziehungswissen direkt und unmittelbar zum Tragen; spricht der Patient über Beziehungen, zeigt sich

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sein implizites Beziehungswissen indirekt in der Art und Weise, wie er Beziehungen wahrnimmt und darüber spricht. Wenn der Patient über Beziehungen spricht, äußert er sich entweder über soziale Situationen, an denen er selbst beteiligt war, oder er spricht von Beziehungen, die er nur beobachtet, von denen er nur gehört oder über die er gelesen hat, ohne an den Situationen selbst beteiligt gewesen zu sein. Wenn der Psychotherapeut auf das Verhalten des Patienten im Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung eingeht, formuliert er seine antwortenden Interventionen entweder aus der Position eines Gegenübers, in diesem Fall bezieht er Aspekte der komplementären Gegenübertragung (Racker, 1978) in seine antwortenden Interventionen ein. Oder der Therapeut geht auf das Verhalten des Patienten ein, indem er sich momentan mit dem Patienten identifiziert und sich virtuell an dessen Stelle setzt, dabei bezieht er Aspekte seiner konkordanten Gegenübertragung in seine Antworten ein. Wenn die antwortenden Interventionen aus der Position des Gegenübers des Patienten (komplementäre Gegenübertragung) formuliert werden, wird die Aufmerksamkeit des Patienten auf die andere Person gelenkt, in der therapeutischen Situation auf den Therapeuten. Bringt der Therapeut im antwortenden Modus sein Erleben in passagerer Identifikation mit dem Patienten zur Sprache (konkordante Gegenübertragung), führt er ihm eine alternative Perspektive vor Augen, die dem Patienten partiell neue Mittel und Wege der Bewältigung von Situationen des Mit-anderen-in-Kontakt-Seins eröffnet, die er sich in der Folge identifikatorisch aneignen kann. Beispiel: Ein Patient hat Schwierigkeiten damit zu erkennen, dass das distanziert-abweisende Verhalten von Menschen in seiner Umgebung auch eine Reaktion auf sein eigenes, häufig taktloses, manchmal unkontrolliertes und von eigenen Bedürfnissen beherrschtes Verhalten ist. Als der Patient wieder einmal wegen seiner vermeintlichen Unzulänglichkeit über ihn schimpft und ihn mit abwertenden Äußerungen überhäuft, sagt der Therapeut: »Offensichtlich sind Sie heute wieder mit mir unzufrieden. Vielleicht rechnen Sie damit, dass mir das gar nichts ausmacht. Ich denke über Ihre Kritik durchaus nach. Manchmal – so wie jetzt - ärgere ich mich aber auch, wenn ich den Eindruck habe, dass es Ihnen ganz egal ist, wie das für mich ist, wenn Sie mich dermaßen abwertend behandeln.«

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Indem der Therapeut auf diese Weise antwortet, spricht er nicht nur über den Patienten, sondern zeigt sich als Gegenüber. Seine Antwort aus der Position des Objekts des Patienten bzw. des anderen Subjekts (komplementäre Gegenübertragung) impliziert den pragmatischen Sinn einer Aufforderung an den Patienten, im interaktiven Austausch seinen Blick auch auf die andere Person zu richten. In diesem Fall gibt der Therapeut dem Patienten zu erkennen, dass er dessen Äußerungen aufnimmt und darüber nachdenkt, wenn sie die Form von Kritik haben, dass er dagegen aversiv reagiert, wenn der Patient sich übermäßig abwertend verhält. Damit legt er dem Patienten implizit nahe, die Wirkungen seines Verhaltens auf sein Gegenüber im Auge zu haben, wenn er nicht eine nachhaltige Störung der Beziehung riskieren will. Auf diese Weise erfährt der Patient gleichsam den interaktiven Nutzen dessen, die andere Person als andere Person – in der therapeutischen Situation die Person des Therapeuten – wahrzunehmen, das Gegenüber als anderes Subjekt mit dessen eigenem Erleben und mit eigenen Gefühlen zu sehen und von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, sich bei der Regulierung seines Handelns nicht ausschließlich auf eigene Vorstellungen, Gefühle oder Wünsche zu stützen, sondern auch auf Signale von Seiten seines jeweiligen Gegenübers, mit dem er in Kontakt ist, zu achten. Interventionen im antwortenden Modus unterstützen den Patienten auch dabei, ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass er mit seinem Handeln Wirkungen auf die andere Person ausübt. Indem antwortende Interventionen ihm erkennbar machen, dass er auf das Erleben und die Handlungsbereitschaften der anderen Person, auch des Therapeuten, Einfluss nehmen kann, verweisen sie auf den Akteursstatus des Patienten. Beispiel: In einer Einzeltherapie spricht ein Patient mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung immer wieder über lange Zeit hinweg, ohne jede Pause, gleichförmig und monoton, »ohne Punkt und Komma«. Dabei kommt er von einem Thema zum nächsten, ohne dass er sich dafür zu interessieren scheint, ob und wie der Therapeut seine Äußerungen aufnimmt. Er scheint sich mehr zu ent-äußern, als sich dem Therapeuten mitteilen zu wollen. Der Therapeut sieht über längere Zeit hinweg keine Gelegenheit, seinerseits etwas zu sagen, hat aber auch

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den Eindruck, dass dem Patienten das nicht wichtig ist. Er scheint für den Patienten zwar wichtig zu sein, als konkrete andere Person aber gleichwohl keine Rolle zu spielen. Schließlich bietet sich für den Therapeuten eine Gelegenheit zu sagen: »Ich höre Ihnen zu. Es könnte sein, dass ich es nicht vermeiden kann, Sie zu kränken; ich möchte Ihnen aber trotzdem sagen, dass ich mich anstrengen muss, aufmerksam zu bleiben. Ich denke nicht, dass das mit dem Inhalt dessen zu tun hat, worüber Sie berichten. Es war wohl etwas anderes: Ich habe mich von Ihnen nicht gemeint gefühlt, während sie gesprochen haben, und ich bin zunehmend ins Zweifeln gekommen, ob Sie eigentlich mir etwas mitteilen möchten.« In der Folge spricht der Patient darüber, dass Reden für ihn Übermittlung von Information sei. Es sei sein Bestreben, sich möglichst präzise auszudrücken, damit der Therapeut möglichst alle verfügbaren Informationen erhalte. Je mehr ihm das möglich sei und je mehr an Informationen er in seinem Reden unterbringen könne, desto mehr wisse der Therapeut von ihm und desto besser werde er ihn behandeln können.

Im antwortenden Modus nimmt der Therapeut somit nicht die Rolle eines neutralen Experten in Anspruch, der über die unbewusste psychische Realität seines Patienten Mutmaßungen anstellt und mit einer deutenden Intervention eine mögliche Sichtweise oder Hypothese anbietet, wie dessen unbewusste psychische Realität aussehen mag. Indem sich der Therapeut – innerhalb bestimmter Grenzen, die sich an den vorherrschenden Beeinträchtigungen des Patienten orientieren – als eigenständige andere Person selektiv zu erkennen gibt, ist seine Rolle eher der eines kompetenten Mitspielers in Interaktion vergleichbar. An den antwortenden Interventionen, die sich auf die therapeutische Beziehung richten, kann der Patient das Verhalten des Therapeuten als motiviertes Verhalten im Kontext seines eigenen Verhaltens verstehen, das in dessen subjektiver, von seiner eigenen verschiedenen Realität gründet (vgl. Berghaus, 2005). Merke: Im antwortenden Modus als dem charakteristischen Interventionsstil gibt der Psychotherapeut sich dem Patienten selektiv und nach Maßgabe therapeutischer Gesichtspunkte als eigene andere Person zu erkennen, soweit das für den Patienten entwicklungsförderlich sein kann. Indem der Therapeut sein eigenes Erleben im Kontext des Verhaltens des Patienten zu erkennen gibt,

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macht er das interpersonelle Geschehen in der aktuellen therapeutischen Situation für den Patienten transparent. Der Patient kann auf diese Weise erkennen, wie sein eigenes Verhalten zur Gestaltung der therapeutischen Beziehung und zu Beziehungen zu anderen überhaupt beiträgt.

Antwortende Interventionen und Toleranzgrenzen Um zu verhindern, dass seine Interventionen, insbesondere seine antwortenden Interventionen, zu erheblichen Labilisierungen der Selbstregulation, insbesondere des leicht störbaren relativen narzisstischen Gleichgewichts seines Patienten beitragen, ist der Therapeut bei der Arbeit mit Patienten mit strukturellen Störungen in besonderem Maße gehalten, auf Toleranzgrenzen des Patienten zu achten, insbesondere auf die hohe Kränkbarkeit vieler Patienten. Dass Toleranzgrenzen überschritten wurden, zeigt sich in der therapeutischen Situation im Verhalten des Patienten vornehmlich als – Erstarrung, – Angriff bzw. Gegenangriff oder – Fluchtverhalten. Wenn der Patient im therapeutischen Gespräch plötzlich wie unmotiviert schweigt, das Behandlungszimmer verlassen will, körperlich reglos wird, den Therapeuten scheinbar ohne erkennbaren Anlass attackiert und dem Therapeuten die innere Verbindung zu dem Patienten abrupt verloren zu gehen droht, kann das ein Hinweis darauf sein, dass der Therapeut mit seinem Verhalten Toleranzgrenzen des Patienten überschritten hat. Merke: Bei der Behandlung strukturell gestörter Patienten muss der Therapeut sorgfältig darauf achten, Toleranzgrenzen des Patienten, insbesondere die Kränkungstoleranz, nicht zu überschreiten. Das darf jedoch nicht dazu führen, dass der Therapeut sich übermäßig vorsichtig und vermeidend verhält und den Patienten unterfordert.

Antworten und die therapeutische Arbeit an und mit Gefühlen Interventionen im antwortenden Modus werden häufig mit dem Ausdruck von Gefühlen verbunden, die sich beim Therapeuten in

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Reaktion auf das Verhalten des Patienten eingestellt haben. Auch die eigenen Gefühle teilt der Therapeut nur selektiv und therapeutisch begründet, immer jedoch authentisch mit. Dabei bemisst sich die Selektivität seiner Gefühlsantworten nicht nur an allgemeinen Regeln des Takts, wie das in jeder anderen Therapie, aber auch im sozialen Alltag üblich ist, sondern vor allem an dem auf Progression ausgerichteten Ziel der therapeutischen Interventionen sowie an den Toleranz- und Belastbarkeitsgrenzen des Patienten. Angesichts der oft besonders heftigen und archaischen Affekte, die sich in der Arbeit mit Patienten mit strukturellen Störungen leicht einstellen, sind die Beachtung von Toleranzgrenzen und die daran bemessene Selektivität der Äußerungen des Therapeuten besonders wichtig. Solche heftigen affektiven Reaktionen des Therapeuten können zu Erfahrungen des Patienten mit vernachlässigenden und traumatisierenden Beziehungen im Verhältnis stehen und auf Aspekte des Selbst verweisen, die der Patient auf den Therapeuten projiziert hat, oder sie können Aspekte missbrauchender oder gewalttätiger Objekte widerspiegeln. In einem frühen Stadium der Behandlung, solange die therapeutische Beziehung noch wenig belastbar ist, ist es nicht angezeigt, einen Patienten im antwortenden Modus darauf aufmerksam zu machen, dass er durch sein Verhalten heftigere negative Gefühle zu wecken vermag und in welcher Weise das der Fall ist. Insbesondere Gefühle wie Verachtung, Hass, Wut oder Missgunst oder aggressive und destruktive Handlungsbereitschaften können erst dann in die therapeutische Arbeit einfließen, wenn sich eine stabile therapeutische Beziehung entwickelt hat. Andernfalls würden in einem frühen Stadium der Behandlung die Toleranzgrenzen des Patienten in den allermeisten Fällen überschritten. Demgegenüber kann es in einer fortgeschritteneren Behandlung, wenn die therapeutische Beziehung belastbarer geworden ist, durchaus hilfreich sein, wenn der Therapeut auch heftigere Gefühle erkennbar werden lässt, die der Patient durch sein Verhalten bei ihm auslöst. Die Gefühlsantworten des Therapeuten zeigen dem Patienten, welche Affekte er bei seinem Gegenüber hervorrufen und welche Handlungsbereitschaften er induzieren kann. Im unmittelbar sich entwickelnden interpersonellen Geschehen zwischen Patient und Therapeut machen sie dem Patienten erkennbar, wie sich in der gegenwärtigen Beziehung, aber möglicherweise in seinen interper-

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sonellen Beziehungen überhaupt immer wieder ähnliche Muster wiederholen und er in seinem Alltag immer wieder in ähnliche Probleme im Kontakt mit anderen – ihm selbst meist unerklärlich – hineingerät und wodurch er selbst dazu beiträgt, dass das geschieht. Darüber hinaus kann der Patient ein emotionales Wissen von seinem eigenen Akteursstatus gewinnen in einem Geschehen, in dem er sich bis dahin oftmals nur als der Unterworfene und Ausgelieferte erlebt hat. Beispiel: Mit einer Patientin, die dazu neigte, die Menschen in ihrer Umgebung meist dann wütend zu attackieren, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlte, und die deswegen wiederholt in gravierende Schwierigkeiten geraten war, hatte sich nach längerer Zeit eine gute therapeutische Beziehung entwickelt. Als ihre Therapeutin sich jedoch angesichts eines Streits mit einer Mitpatientin, über die sie in einer Behandlungsstunde berichtete, nicht eindeutig auf ihre Seite schlug und für sie Partei ergriff, wurde sie wütend und war empört. Als sie abrupt aufstand und das Behandlungszimmer gerade lärmend und wortlos verlassen wollte, reagierte ihre Therapeutin sofort und sagte mit Nachdruck: »Jetzt sagen Sie mir nicht einmal auf Wiedersehen. Ärgerlich! So möchte ich mich nicht von Ihnen behandeln lassen.« Die Patientin blieb ebenso abrupt stehen wie sie aufgestanden war, drehte sich um und meinte: »Tun Sie doch nicht so, als wenn Ihnen das nicht völlig egal wäre.« Nachdem die Therapeutin erwidert hatte, dass ihr das ganz und gar nicht egal sei, kam die Patientin langsam zurück, setzte sich zögernd wieder in ihren Sessel und das Gespräch drehte sich im Folgenden darum, wie sehr ihr ihrerseits andere Menschen egal wurden, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlte.

Merke: Im antwortenden Modus gibt der Psychotherapeut dem Patienten auch eigene Gefühle zu erkennen, die sich bei ihm in Antwort auf das Verhalten des Patienten eingestellt haben. Das erlaubt dem Patienten, die affektive Seite des gegenwärtigen interpersonellen Geschehens genauer zu sehen und zu erkennen, wie er durch sein Verhalten Affekte und korrespondierende Handlungsimpulse bei der anderen Person weckt. Eigene Gefühle zeigt der Therapeut nur insoweit, als Toleranzgrenzen des Patienten damit nicht überschritten werden und eine entwicklungsförderliche Wirkung davon zu erwarten ist.

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Zum antwortenden Umgang mit Idealisierungen Idealisierungen gehören zu den Mitteln, mit denen sich strukturell gestörte Patienten vor Selbsthass und Selbstverachtung und vor der Gefahr von Objektverlust und damit einhergehenden seelischen Zuständen wie Leere, Verzweiflung und tiefe Verlassenheitsgefühle schützen. Idealisierungen des Therapeuten sind in der Arbeit mit strukturell gestörten Patienten manchmal die einzige Schiene, über die der Kontakt zwischen Patient und Therapeut aufrechterhalten werden kann. In diesem Fall darf die Idealisierung nicht als Widerstand angesprochen werden. Das würde die Gefahr mit sich bringen, dass der eben noch idealisierte Therapeut dem Patienten als gutes Objekt verloren geht und mit der einzigen Brücke zwischen Patient und Therapeut auch die therapeutische Beziehung zerstört wird. Schlimmstenfalls hat der Therapeut für den Patienten von einem Moment zum nächsten keine Bedeutung mehr und bricht als Folge der abrupten Entidealisierung die Behandlung ab. Etwaige Bemühungen des Therapeuten, das Verhalten des Patienten zu deuten, bleiben in solchen Fällen meist wirkungslos. Darum ist es bei der therapeutischen Arbeit mit strukturell gestörten Patienten immer wichtig zu erkennen, inwieweit Idealisierungen des Therapeuten eine wichtige oder sogar die einzige Grundlage des therapeutischen Kontakts sind. Beispiel: Ein 38-jähriger Patient, nach einer längeren Alkoholkrankheit seit mehreren Jahren abstinent, der mehrfach bei dem Versuch gescheitert war, in der Arbeit Fuß zu fassen, sich für einen verkannten Künstler hielt und tatsächlich einige Begabungen hatte, konnte nähere Beziehungen allenfalls für wenige Wochen aufrechterhalten, um sich dann – meist abrupt – von der jeweiligen Partnerin zu trennen. Er wurde von einem niedergelassenen Psychiater zur stationären Behandlung überwiesen; auch er selbst meinte, einer Therapie zu bedürfen. Die Schilderung seiner Beschwerden war diffus, so dass weitgehend unklar blieb, welche Probleme genau ihm zu schaffen machten. Kaum in der Klinik angekommen wertete er alles und jeden ab. Die äußeren Bedingungen in dem recht komfortablen und angenehmen Ambiente der Klinik erschienen ihm als Zumutung, das Essen war für ihn schwer genießbar, das Pflegepersonal inkompetent und die meisten Ärzte seiner Erkrankung nicht gewachsen. Nur der Chefarzt wurde von ihm idealisiert, noch bevor er ihn genauer hatte kennen lernen

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können. Obwohl er auch den Therapeuten, der für seine Einzeltherapie zuständig war, immer wieder abwertete und Zweifel an dessen Erfahrung und Kompetenz äußerte, den Chefarzt demgegenüber uneingeschränkt idealisierte und bei vielen Gelegenheiten erkennen ließ, dass er von ihm behandelt zu werden wünschte, weil nur er seine Probleme würde erfassen können, und obwohl auch die Klinik insgesamt von ihm immer wieder als für ihn nicht gut genug abgewertet wurde, schien er sich doch zu keinem Zeitpunkt ernsthaft mit dem Gedanken zu tragen, den Klinikaufenthalt zu beenden. Und auch die Einzeltherapie bei dem von ihm manifest wenig wertgeschätzten Therapeuten schien er nicht für dermaßen wertlos zu halten, wie das aufgrund dessen, was er mit Worten darüber sagte, angenommen werden musste. Der Patient hatte große Angst, sich abhängig fühlen zu müssen. Seine einzige Möglichkeit, sich auf einen therapeutischen Kontakt einzulassen, bestand darin, dass er die Personen, von denen er therapeutische Unterstützung erwarten konnte, zugleich abwertete. Dabei machte er aber keine Anstalten, seinen Aufenthalt in der Klinik ernsthaft in Frage zu stellen. Die Idealisierung des Chefarztes unterstützte die Sicherung seines Selbstwertgefühls. Was der Patient mit Worten ausdrückte, seine verbalen Abwertungen, war weit weniger informativ als das, was er tat, insbesondere, dass er tatsächlich in der Klinik blieb und an der Behandlung, die seinen Äußerungen zufolge wert- und nutzlos war, weiter teilnahm. Umgekehrt war es ihm nur unter der Voraussetzung möglich, sich auf eine Behandlung einzulassen, dass er die potentiell hilfreichen und gerade deswegen gefährlichen Objekte per Abwertung ungefährlich machte.

Hätte der Therapeut die Idealisierung als Abwehr interpretiert, wäre die zu diesem Zeitpunkt einzige Verbindung des Patienten zur Therapie und zu der therapeutischen Institution, deren Unterstützung er dringend benötigte, mit einiger Wahrscheinlichkeit zerbrochen. Solange Patienten eine therapeutische Beziehung nur auf der Grundlage von Idealisierungen eingehen und aufrechterhalten können, muss die Idealisierung unangetastet bleiben. Erst unter der Voraussetzung, dass die therapeutische Beziehung so weit tragfähig ist, dass die Gefahr eines abrupten Abbruchs der Behandlung selbst im Fall einer plötzlichen Entwertung des Therapeuten bzw. der Therapie bewältigt und repariert werden kann, kann die Idealisierung angesprochen werden. Das sollte dann in einer nichtdeu-

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tenden Weise geschehen, die die Selbst- und Selbstwertregulierung des Patienten weitgehend unangetastet lässt. Das folgende Beispiel erscheint auf den ersten Blick einfach und alltäglich. Tatsächlich ist der antwortende Umgang der Therapeutin mit der Idealisierungsneigung des strukturell gestörten Patienten jedoch wohl überlegt (vgl. Blanck und Blanck, 1974). Beispiel: Ein Patient mit einer schweren strukturellen Störung, der mehrere vorausgegangene Behandlungsversuche jeweils schon nach wenigen Stunden abgebrochen hatte, hatte die Therapeutin von Beginn an idealisiert. Die Idealisierung war über längere Zeit hinweg der einzige halbwegs tragfähige Boden, auf dem Patient und Therapeutin sich bewegen konnten. Als die therapeutische Beziehung allmählich mehr in den gemeinsamen Blickpunkt rückte, konnte schließlich auch die Idealisierung des Patienten vorsichtig zur Sprache gebracht werden. In diesem Fall meinte die Therapeutin bei passender Gelegenheit sinngemäß: »Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie mich als eine so sehr über alle Zweifel erhabene Person sehen. Ich hoffe nur, nicht zu sehr in Ihrer Achtung zu sinken, wenn ich Ihnen sage, dass ich ganz so fehlerlos nicht bin.« In der Annahme, dass die Idealisierung ihrer Person in erster Linie selbstregulative Funktionen für den Patienten erfüllte und der Stabilisierung seines narzisstischen Gleichgewichts diente, versuchte die Therapeutin, sich dem Patienten mit ihrer Antwort so zu zeigen, dass seine Neigung, sie zu idealisieren, partiell frustriert wurde. Gegenläufig zu der Tendenz des Patienten, sie als Selbstobjekt zu verwenden, gab sie sich ihm als anderes, realistischeres Subjekt zu erkennen. Indem sie dabei auch erkennen ließ, wie sie selbst zu sein glaubte, tat sie etwas, was dem Patienten nicht möglich war, nämlich ein Bild von sich selbst zu haben, das sich nicht nur aus guten Elementen zusammensetzt, sondern ganz im Gegenteil auch Seiten umfasst, die sie selbst kritisch sieht. Damit führte sie dem Patienten zugleich vor Augen, dass es und wie es möglich sein kann, unabhängiger von dem Bild zu werden, das andere von einem haben, dadurch nämlich, dass man selbst ein Bild von sich hat.

Merke: Idealisierungen bzw. idealisierende Übertragungen können manchmal die einzige Schiene sein, über die die therapeutische Beziehung aufrechterhalten werden kann. Wenn das der Fall ist,

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sollte die Idealisierung solange nicht in Frage gestellt werden, wie zu befürchten ist, dass der idealisierte Therapeut völlig entwertet wird und in der Folge die Behandlung abgebrochen zu werden droht.

Antworten und Antizipation habituellen Verhaltens Die Fähigkeit, zu erwartende Folgen des eigenen Verhaltens zu antizipieren, ist bei Patienten mit strukturellen Störungen häufig erheblich eingeschränkt. Interventionen im antwortenden Modus können den Patienten wirksam dabei unterstützen, die Folgen problematischen und dysfunktionalen Verhaltens, von dem nach allen vorangegangenen Erfahrungen zu erwarten ist, dass der Patient sich dieses Verhaltens auch aktuell wieder bedienen wird, zu antizipieren. Dabei kann der Therapeut im antwortenden Modus auch Funktionen in Verbindung mit der Gestaltung von Beziehungen übernehmen, die dem Patienten selbst momentan nicht zur Verfügung stehen, beispielsweise die Funktion der Beziehungs- und Objektkonstanz. Beispiel: Eine strukturell gestörte Patientin mit massiven sozialen Ängsten und selbstschädigendem Verhalten, die sich häufiger schwere Schnittverletzungen beibrachte, die chirurgisch versorgt werden mussten, und die darüber hinaus einen massiven Diuretika-Abusus betrieb, der gelegentlich bedrohliche Folgen hatte, geriet immer wieder in schwer auszuhaltende Spannungszustände. Wenn ihre Therapeutin auch nur vorübergehend, etwa am Wochenende, für sie nicht erreichbar war, zog sie sich bis zur völligen Abschirmung zurück und ließ selbst therapeutische Mitarbeiter, mit denen sie kurz zuvor noch ein vertrauensvolles Gespräch geführt hatte, innerlich für sich sterben. Dadurch entstanden über längere Zeit hinweg immer wieder kritische Situationen, die Maßnahmen erforderlich machten, um zu verhindern, dass die Patientin sich schweren Schaden zufügte. Aber auch nachdem das selbstschädigende Verhalten mehr in den Hintergrund getreten war und von ihr besser kontrolliert werden konnte, drohten ihre Spaltungstendenzen immer wieder in unumkehrbare Objektverluste zu münden. In der Therapie wurde ihre Neigung, auf Trennungen, insbesondere auch auf Trennungen von ihrer Therapeutin, mit massiven Spaltungen und nachfolgendem Objektverlust zu reagieren, antizipatorisch zur Sprache gebracht. In diesem Fall sagte die Therapeutin einige Zeit vor dem Ende der letzten Stunde vor einer mehrtägigen Unterbrechung

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der Behandlung: »Ich mache mir Sorgen, wenn unsere Zeit gleich zu Ende geht. Ich befürchte, dass Ihnen das, was hier heute war, nachher, wenn Sie mit sich allein sind, wieder verloren geht und dass bis zur nächsten Woche nicht viel von unseren heutigen Erfahrungen für Sie zurückbleibt. Das wird mich in der Zwischenzeit, bis wir uns wieder treffen, sicherlich gelegentlich beschäftigen, wenn ich an Sie denke.« Von ihren vorangegangenen Erfahrungen mit der Patientin ausgehend vermutete die Therapeutin, dass die Patientin gute Erfahrungen, die sie mit ihr in der Behandlung machte, als Folge mangelnder Beziehungs- bzw. Objektkonstanz nicht festhalten und sich manchmal nicht einmal an sie als Person erinnern konnte, wenn sie sich auch einmal als versagend erwies oder für sie nicht verfügbar war, sobald die Patientin meinte, ihrer zu bedürfen. Darum nahm die Therapeutin selbst aktiv die Funktion wahr, die Beziehung aufrechtzuerhalten, und teilte ihrer Patientin mit, dass sie ihrerseits durchaus gelegentlich an sie denken werde, was tatsächlich auch der Fall war, gleichsam nach dem Motto: »Wenn es schon mich für Sie nicht mehr gibt, wenn ich weg bin, bleibe ich doch in Gedanken mit Ihnen verbunden.«

Merke: Mit Interventionen im antwortenden Modus kann der Therapeut sich auf zu erwartende Schwierigkeiten des Patienten beziehen und in Antizipation dieser bei dem Patienten zu erwartenden Probleme Funktionen selbst übernehmen, die dem Patienten aktuell zur Ausübung nicht zur Verfügung stehen.

Antworten und das Primat der Progressionsorientierung Die innere Rückkehr zu verdrängten Erfahrungen der Kindheit und die regressive Wiederbelebung schon überwundener psychosozialer Entwicklungsstufen kann bei strukturell gestörten Patienten kein Ziel der Therapie sein und ist selten entwicklungsförderlich. Die Behandlung schlägt deshalb keine regressive, sondern eine progressive Richtung ein. Die Therapie soll den Patienten in die Lage versetzen, für das eigene Verhalten im Kontext des Verhaltens anderer allmählich aufmerksam zu werden,Veränderungen anzustreben, Entwicklungsschritte nachzuholen, unvermeidliche Frustrationen und Misserfolge zu ertragen, die mit dem Bemühen um Veränderung einhergehen, und sich Fähigkeiten aneignen zu wollen, die er sich aufgrund der Bedingungen in seiner Entwicklung nicht hat aneignen können.

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Was mit Progressionsorientierung der psychoanalytisch-interaktionellen Arbeitsweise gemeint ist, kann das folgende Beispiel deutlich machen. Beispiel: In einer Therapie, die schon längere Zeit dauert, kommt die Patientin eines Tages zur Behandlungsstunde, blickt die Therapeutin bei der Begrüßung musternd an, zögert einen Moment lang und fragt sie schließlich: »Geht es Ihnen heute nicht gut?« Die Therapeutin belässt es dabei, ihrer Patientin freundlich zu antworten: »Oh, danke der Nachfrage [. . . ], tatsächlich geht es mir gut.«

Mit dieser scheinbar so einfachen und leicht hingeworfenen Antwort hatte die Therapeutin reagiert, weil sie zu verstehen meinte, dass die Patientin mit ihrer Frage erstmals im Verlauf der Behandlung Sorge um eine andere Person zeigte, sich damit auf eine depressive Position zubewegte und sie, die Therapeutin, nicht mehr nur als Funktion wahrnahm. Mit ihrer kurzen antwortenden Intervention, die ausnahmsweise das Format einer Antwort auch im linguistischen Sinn hatte, versuchte die Therapeutin diesen Entwicklungsschritt zu bestätigen, indem sie die besorgte Frage der Patientin dankend aufnahm und beantwortete. Sie kommentierte das Verhalten der Patientin nicht, sondern machte ihre Erkundigung implizit als ein von ihr begrüßtes Verhalten kenntlich, weil sie darin ein Zeichen für einen Fortschritt sah (vgl. Blanck und Blanck, 1974). Dass der Therapeut bei der psychoanalytisch-interaktionellen Arbeit mit strukturell gestörten Patienten auf Progression und Entwicklung ausgerichtet ist, bedeutet nicht, dass er vermeiden würde, mit dem Patienten über dessen frühere Erfahrungen zu sprechen. Wenn der Patient von sich aus darauf zu sprechen kommt, wird der Therapeut meist auch darauf eingehen. Allerdings führt der Weg der Therapie nicht notwendigerweise über Erinnerungen des Patienten an seine Vergangenheit. Merke: Der Therapeut sollte vermeiden, regressives Verhalten des Patienten zu unterstützen, sondern sollte im Gegenteil für progressive Entwicklungsschritte des Patienten aufmerksam sein und diese bestätigen.

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Die Behandlungstechnik

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Motivation zur Behandlung Patienten mit strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen leiden oft mehr daran, dass ihre Umwelt sich ihnen gegenüber nicht so verhält, wie sie das erwarten und wünschen, als dass ihnen ihr eigenes Verhalten ein Problem wäre, auch dann, wenn sie untergründig ahnen, dass sie selbst an den Reaktionen der Umwelt beteiligt sind, gegen die sie oft so vehement aufbegehren müssen. Man kann deshalb nicht davon ausgehen, dass der Patient zu einer psychotherapeutischen Behandlung kommt, weil er sich selbst und sein eigenes Verhalten verändern will. Wenn das so ist, ist das jedoch noch kein hinreichender Grund, den Patienten für nicht behandelbar zu halten und eine Therapie abzulehnen. Dass der Patient den Weg zum Psychotherapeuten gefunden hat oder zumindest den Empfehlungen gefolgt ist, die ihm den Weg dorthin nahe gelegt haben, bedeutet für manche Patienten bereits einen großen Schritt. In Institutionen, in denen der Anteil strukturell gestörter Patienten hoch ist, ist das sogar eher die Regel als die Ausnahme: Die Patienten sind zwar zur Behandlung gekommen, ohne aber ihr eigenes Verhalten in Frage zu stellen oder für problematisch zu halten. Die Fähigkeit, die eigene Beteiligung an sich wiederholenden Schwierigkeiten im Zusammensein mit anderen zu erkennen, muss erst entwickelt und die Motivation zu einer Behandlung, die das voraussetzt, mit Hilfe der Therapie erst gewonnen werden. Die Motivation zur Behandlung ist dann nicht Voraussetzung für die Therapie, sondern ist selbst ein erstes wichtiges Ziel der Behandlung. Merke: Wenn Patienten mit strukturellen Störungen sich abweisend und abschätzig gegenüber der Behandlung und den Therapeuten äußern, muss das nicht heißen, dass sie zur Behandlung nicht motiviert sind.

Zusammenfassung: Funktionen von Interventionen im antwortenden Modus Interventionen im antwortenden Modus erfüllen die im Folgenden zusammengefassten Funktionen. Antwortende Interventionen – unterstreichen die Differenz von Selbst und anderer Person (Objekt) und betonen damit Getrenntheit und Individuierung,

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– geben selektiv Wirkungen zu erkennen, die das Verhalten des Patienten auf den Psychotherapeuten und auf dessen Erleben und dessen Handlungsbereitschaften hat, – unterstützen die Entwicklung reiferer Beziehungen, – tragen zur Verbesserung von interaktiven Kompetenzen sowie der Fähigkeit bei, im Kontakt mit anderen zu sein, – machen dem Patienten grundlegende Aspekte des Zusammenseins mit anderen transparent, – führen dem Patienten vor Augen, wie er mit seinem Verhalten zu dysfunktionalen interpersonellen Zirkeln beiträgt, in die er sich im Zusammensein mit anderen immer aufs Neue verstrickt, – unterstützen die Entwicklung nicht oder nur eingeschränkt verfügbarer psychischer Funktionen, – fördern die Funktion des Mentalisierens, – zeigen dem Patienten, dass der Therapeut sich nicht in destruktive und ausbeuterische Beziehungen verstricken lässt, sondern in der Lage ist, seine eigenen Grenzen zu beachten und für seinen eigenen Schutz zu sorgen (vgl. Ott, 2001).

Der Therapeut als realer und als virtueller Interaktionsteilnehmer Wenn das Geschehen im Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung in den Brennpunkt der therapeutischen Arbeit rückt, zeigen sich zentrale Züge des Verhaltens des Patienten im Zusammensein mit anderen oftmals in größter Dichte und Unmittelbarkeit. Der Patient führt mit seinem »Benehmen« (Freud, 1914) dem Therapeuten unmittelbar vor Augen, wie er sich in interpersonellen Beziehungen häufig verhält, und der Therapeut erfährt gleichsam am eigenen Leib die Wirkungen eines Verhaltens, zu dem der Patient im Kontakt mit anderen häufig greift. Wenn der Therapeut sich mit seinen Interventionen im antwortenden Modus auf dieses Geschehen im wechselseitigen Verhalten von Patient und Therapeut bezieht, ist er realer Teilnehmer an der Interaktion mit dem Patienten. Wenn der Patient sich stattdessen über interpersonelle Situationen und Beziehungen äußert, bezieht er sich entweder auf soziale Situationen, an denen er selbst gar nicht beteiligt war, oder er berich-

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Der Therapeut als realer und als virtueller Interaktionsteilnehmer

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tet von Situationen, an denen er selbst teilgenommen und die er selbst mitgestaltet hat. Dabei gibt der Patient in seinen Schilderungen zu erkennen, wie er Beziehungen wahrnimmt und erlebt, welche Einstellungen im Hinblick auf interpersonelle Beziehungen er hat, was er im Hinblick auf das Zusammensein mit anderen für wichtig hält, wie er sich im Kontakt mit anderen verhält oder gerne verhalten würde und welche Bedeutung Beziehungen für ihn haben. Meist bilden sich in seinen Beschreibungen vielfältige Aspekte seiner Beziehungserfahrungen und seines impliziten Beziehungswissens ab. Wenn der Therapeut sich mit seinen antwortenden Interventionen auf die Schilderungen bezieht, mit denen der Patient seine Erfahrungen im Zusammensein mit anderen darstellt und in denen sich sein Erleben und Verhalten und seine Verhaltensbereitschaften in interpersonellen Beziehungen zeigen, übernimmt er virtuell entweder die Rolle des Patienten, oder er übernimmt die Rolle der anderen Person, des Objekts des Verhaltens des Patienten. Inhaltlich nimmt der Therapeut mit seinen antwortenden Interventionen zu grundlegenden Aspekten des von dem Patienten jeweils geschilderten interpersonellen Geschehens Stellung, etwa indem er mitteilt, wie es ihm an Stelle einer der Personen ergangen wäre, oder indem er erkennen lässt, weshalb er eventuell anders gehandelt hätte oder Ähnliches. Es bleibt dann dem Patienten überlassen, wie weit er von diesen Hinweisen des Therapeuten Gebrauch macht und etwaige Alternativen für sein eigenes Handeln, die darin zum Ausdruck kommen, in Erwägung zieht oder nicht. Beispiel: Eine Patientin berichtet, dass einer Kollegin mit einer Kündigung gedroht wurde, und sie empört sich im Folgenden über den unzumutbaren Umgang des Arbeitgebers mit dieser Kollegin. Da der Therapeut weiß, dass die Patientin sich kaum vorstellen kann, wie ihr eigenes Verhalten auf andere wirken könnte, setzt er sich mit seiner Intervention virtuell an die Stelle der anderen Person und fordert die Patientin damit implizit auf, die Situation aus der Perspektive des Objekts, hier des Arbeitgebers, zu betrachten und etwaige Beweggründe des Arbeitgebers für dessen Handeln in Betracht zu ziehen: Therapeut: »Ich frage mich, was Ihren Arbeitgeber wohl dazu gebracht haben könnte, der Kollegin mit einer Kündigung zu drohen.«

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Daraufhin empört sich die Patientin ein weiteres Mal: »Wieso ›dazu gebracht haben könnte‹, das ist doch einfach mies.« Therapeut: »Mag sein . . . kann ich nicht beurteilen. Da Sie den ja kennen, hatte ich gedacht, Sie könnten sich vielleicht vorstellen, wie der dazu gekommen sein könnte, das zu tun.« (Pause) Patientin: »Na ja . . . zu mir ist der eigentlich ganz anständig. Vielleicht . . . die fehlt montags ziemlich oft . . . «

Der Therapeut kann sich angesichts vergleichbarer Schilderungen aber auch virtuell an die Stelle der anderen Person setzen. Beispiel: Eine Patientin spricht darüber, dass eine Kollegin, auf die sie nicht gut zu sprechen ist, morgens öfter einmal zu spät zur Arbeit kommt, und sie zeigt sich empört darüber, dass »die noch nicht rausgeflogen ist«. Auch diese Patientin, die häufig impulsiv handelt, hat große Schwierigkeiten damit, sich in die Lage anderer Personen zu versetzen. Zumal dann, wenn sie der anderen Person gerade nicht freundlich gesonnen ist, zieht sie nicht einmal die Möglichkeit in Erwägung, dass diese Person ihrerseits Gründe für ihr Verhalten haben könnte. In diesem Fall »identifiziert« sich der Therapeut in seiner Intervention virtuell mit dem Subjekt der Szene, der Kollegin, die zu spät kommt, und regt die Patientin implizit dazu an, sich deren Beweggründe für das Verhalten vor Augen zu führen, indem er sagt: Therapeut: »Gibt’s denn irgendwelche Hinweise dafür, aus welchen Gründen Ihre Kollegin häufiger zu spät zur Arbeit kommt?« Tatsächlich stellte sich einige Zeit später heraus, dass die Kollegin kleine Kinder zu versorgen hatte und vor allem dann gelegentlich zu spät zur Arbeit kam, wenn eines der Kinder krank war. Die anfängliche missgünstige Feindseligkeit der Patientin ihrer Kollegin gegenüber wurde dadurch merklich gemildert.

Emotional dichter wird die Situation in der Therapie, wenn der Patient über Erfahrungen und Ereignisse berichtet, in die er selbst involviert war.

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Der Therapeut als realer und als virtueller Interaktionsteilnehmer

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Beispiel: Ein Patient, der wegen einer Neigung zu impulshaftem Verhalten mehrfach seinen Arbeitsplatz verloren hatte, und der bereits einmal vor Gericht gestanden hat, weil er einem Nachbarn Gewalt angedroht hat, berichtet, dass ein Kollege ihn »von der Seite angemeckert« habe. Während der Patient darüber spricht, scheint er zunehmend in Wut zu geraten. Dann meint er, dass er seinen Kollegen am liebsten »eins in die Fresse gehauen« hätte. Therapeut: »Na, gut, dass Sie’s nicht getan haben und dass Sie Ihr Verhalten haben kontrollieren können. War vermutlich nicht ganz leicht für Sie, die Wut für sich zu behalten. Aber Sie haben’s geschafft. Wer weiß, was sonst passiert wäre.« In seiner Intervention identifiziert sich der Therapeut mit dem Patienten und übernimmt virtuell dessen Position. Zugleich bestätigt er den Patienten für die in der Situation gezeigte Fähigkeit, seine Wut und korrespondierende Handlungsimpulse zu kontrollieren. Patient: »Fühlt sich aber nicht so gut an.« Therapeut: »Erst einmal nicht?« Patient: »Jetzt bin ich natürlich froh, dass ich an mich gehalten habe.« Zu einer ganz ähnlichen Situation war es in der Behandlung eines jugendlichen Patienten gekommen. Der Jugendliche hatte berichtet, dass er den Impuls verspürt hatte, seinen Lehrherrn wütend zu beschimpfen. In der Therapie dreht sich das Gespräch in der Folge um die Frage, ob es für den Jugendlichen noch andere Möglichkeiten geben könnte, mit derartigen Situationen umzugehen, ohne Gefahr zu laufen, entweder wütend zu werden oder aber in Resignation zu verfallen. Patient: »Vielleicht sollte ich dem mal so richtig meine Meinung sagen.« Therapeut: »Hm. Was würden Sie dann sagen?« Patient: »Dass er ein verdammtes . . . ein Nazi ist.« (Pause) Therapeut: »Ernsthaft?«

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

Patient: »Fänd’ ich schon nicht schlecht.« Therapeut: »Ok, . . . Nur frag’ ich mich, wie der das aufnehmen würde und was das dann möglicherweise für Folgen hätte.« Der Therapeut übernimmt mit seiner Intervention virtuell die Position des Objekts, hier des Lehrherrn des Patienten, und fordert den Patienten implizit dazu auf zu antizipieren, welche Folgen sein anfangs beabsichtigtes impulshaftes Verhalten hätte haben können. Hätte der Therapeut sich in der gleichen Situation mit einer Intervention an die Stelle des Patienten gesetzt und virtuell dessen Rolle übernommen, hätte er, um den Patienten zur Antizipation möglicher Folgen seines beabsichtigten Handelns anzuregen, beispielsweise sagen können: Therapeut: »Wenn ich versuche, mich an Ihre Stelle in dieser Situation zu versetzen, würde es mich nach allem, was Sie über den Meister berichtet haben, möglicherweise ziemlich in den Fingern gejuckt haben, dem so etwas zu sagen. Aber ich hätte es auch nicht gemacht, weil ich damit gerechnet hätte, dass das die Sache eher noch schlimmer für mich gemacht hätte.« Hätte der Therapeut sich demgegenüber mit dem Objekt, hier dem Meister, »identifiziert« und mit seiner Intervention virtuell dessen Rolle übernommen, hätte er beispielsweise folgendermaßen intervenieren können: Therapeut: »Ich versuche gerade, mir vorzustellen, ich wäre Ihr Meister in dieser Situation, und Sie würden mich einen Nazi nennen, nachdem ich mich über Sie geärgert habe, und das auch noch, während andere dabei sind . . . verbessern würde das Ihren Stand bei mir nicht gerade, ganz im Gegenteil.«

Patienten mit strukturellen Störungen verhalten sich nicht nur auf dem Hintergrund umschriebener Übertragungen bestimmten Personen gegenüber auffällig, während sie andere interpersonelle Beziehungen in befriedigenderer Weise gestalten können, sondern das dysfunktionale Verhalten prägt meist ihre gesamte soziale Lebenswelt. Wenn der Patient sich über Beziehungen äußert, von denen er nur erfahren hat, oder über Beziehungen, an denen er selbst beteiligt war, und sich der Therapeut entweder in die Lage des Patienten

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Zum therapeutischen Umgang mit Affekten

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bzw. des Akteurs oder aber der anderen Person versetzt und dabei virtuell Funktionen in dem jeweiligen interpersonellen Geschehen, die dem Patienten nicht verfügbar sind, übernimmt, ist er gleichsam virtueller Interaktionspartner in der von dem Patienten jeweils geschilderten Szene. Merke: Wie der Patient das Zusammensein mit anderen erlebt und sich in Beziehungen verhält, zeigt sich auch darin, wie er über Beziehungen spricht. Dabei kann es sich um Beziehungen handeln, an denen er selbst beteiligt war, oder auch um Beziehungen, an denen er selbst nicht beteiligt war. Um dem Patienten beziehungsregulierende Funktionen verfügbar zu machen, versetzt der Therapeut sich in die Lage des Akteurs bzw. des Patienten oder die des Objekts bzw. der anderen Person und äußert sich aus dieser virtuellen Rolle heraus zu dem Beziehungsgeschehen, von dem der Patient berichtet hat.

Zum therapeutischen Umgang mit Affekten Affekte als biologisch verankerte Signale haben wichtige Funktionen sowohl für die Selbstregulierung als auch für die Regulierung von interpersonellen Beziehungen. Affekte vermitteln – entsprechend ihrer propositionalen Struktur (Krause, 2006) – im Verhältnis von Selbst und anderem, von Subjekt und Objekt. Um die oft gravierenden Einschränkungen des affektiven Erlebens und des Ausdrucks von Affekten bei Patienten mit strukturellen Störungen in die Behandlung einzubeziehen und zum Gegenstand der therapeutischen Arbeit machen zu können, ist es günstig, wenn der Therapeut seine Interventionen mit dem Ausdruck eigener Gefühle verknüpft, die sich bei ihm in Antwort auf das Verhalten des Patienten einstellen. Damit bietet sich für den Patienten die Möglichkeit, anhand der therapeutischen Beziehung Einblick zu gewinnen in die Funktionen, die Affekte in diesem Moment für diese Beziehung und im Weiteren für Beziehungen überhaupt und für deren Regulierung haben. Indem der Therapeut mit seinen antwortenden Interventionen dem Patienten eigenes affektives Erleben im interpersonellen Geschehen in der Therapie selektiv erkennbar und transparent macht, regt er

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

den Patienten zudem zur differenzierenden Wahrnehmung eigener Gefühle und deren Ausdruck an.

Wahrnehmung und Differenzierung von Gefühlen Patienten mit strukturellen Beeinträchtigungen der Persönlichkeit haben sich vor schmerzlichen, demütigenden, vernachlässigenden und traumatisierenden Erfahrungen, die ihnen in ihrer Entwicklung zugemutet wurden, oftmals nur dadurch schützen können, dass sie sich nach innen hin taub gemacht haben. Das hat in der weiteren Entwicklung dazu geführt, dass sie verschiedene Qualitäten von Gefühlen nicht oder nur schwer wahrnehmen können. Sie empfinden, dass sie »gut drauf« oder »schlecht drauf« sind, fühlen sich »toll« oder »mies«, empfinden Behagen oder Missbehagen. Dagegen nehmen sie differenziertere Gefühlsqualitäten oft nicht wahr, weder Freude noch Kummer, weder Dankbarkeit noch Zärtlichkeit, weder Ärger noch Zuneigung. »Schlechte Gefühle« oder andere Formen von Unwohlsein haben bei ihnen oftmals die Qualität eines körpernahen, physisch-psychischen Missbehagens, das dem Erleben diffusen Schmerzes ähnlich ist (Bellak et al., 1968). Bei anderen Patienten, etwa mit schweren Borderline-Störungen, beschränkt sich die Wahrnehmung von Gefühlen oftmals auf wenige, vergleichsweise grobe Gefühlsqualitäten, beispielsweise von ungerichteter Wut, während andere Gefühlsqualitäten nur wenig zugänglich sind. Insbesondere Gefühle, die sich mit dem Ausdruck von Bedürftigkeit verbinden, beispielsweise Enttäuschung oder Sehnsucht, oder Gefühle, die zeigen könnten, dass andere Personen nennenswerten Einfluss auf sie haben und ihnen wichtig sind, beispielsweise Kränkungen, sind den Patienten oft verschlossen. Für wieder andere Patienten sind Gefühle generell bedrohlich, weil sie fürchten, angesichts intensiver Gefühle die Kontrolle über das eigene Verhalten zu verlieren oder damit ihre Unabhängigkeit bzw. Autarkie einzubüßen. Indem sie Gefühle nicht wahrnehmen, kann die Fantasie von Unberührbarkeit und Souveränität aufrechterhalten werden. Beispiel: Eine Patientin, die in einem südeuropäischen Land aufgewachsen ist und während ihrer Kindheit über Jahre hinweg körperlich misshan-

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Zum therapeutischen Umgang mit Affekten

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delt wurde, meinte, sie habe, soweit sie sich zurückerinnern könne, Gefühle niemals bewusst empfunden. In der Behandlung sah sie sich damit konfrontiert, dass einige andere Patienten relativ offen über ihre Gefühle sprachen. Mit ihr anfangs unbehaglichem Befremden musste sie registrieren, dass Mitpatienten bei Abschieden traurig waren, sich übereinander ärgerten, manchmal wütend reagierten oder sich vor Neid grämten. Nachdem sie glaubte feststellen zu müssen, dass sie selbst gar keine Gefühle habe, ihr von therapeutischer Seite aber gesagt wurde, dass auch sie sicherlich Gefühle habe, sich wahrscheinlich aber habe schützen müssen, indem sie ihre Gefühle nicht wahrgenommen habe, schien sie erleichtert. Einige Zeit später wandte sie sich mit dem Ausdruck zunehmend neugierigen Erstaunens an Mitpatientinnen, um sie zu fragen, ob sie eigentlich keine Angst vor ihren Gefühlen hätten, immerhin seien sie doch jederzeit in Gefahr, dass ihre Gefühle außer Kontrolle gerieten, und dann könnten sie ja wohl nicht mehr sicher sein, was sie dann tun würden.

Wie bei dieser Patientin kann es bei Patienten, bei denen es Hinweise dafür gibt, dass sie seit vielen Jahren – unter Umständen sogar schon in frühen Entwicklungsphasen – kaum Zugang zu ihren Gefühlen hatten, manchmal hilfreich sein, wenn der Therapeut in einem ersten Schritt umschriebenes kognitives Wissen über Gefühle vermittelt und über deren Funktion und Bedeutung informiert, insbesondere plausibel darstellt, dass mit der eingeschränkten Wahrnehmung von Gefühlen wichtige Signale für die Selbstregulierung und für die Regulierung von interpersonellen Beziehungen nicht zur Verfügung stehen. Für viele Patienten sind insbesondere von ihnen oft negativ genannte Gefühle einfach nur unangenehm und sollen »weg« sein. Über kognitives Wissen von der Funktion von Gefühlen zu verfügen, kann dann dazu beitragen, Gefühle zu entdämonisieren, was für die weitere therapeutische Arbeit von einigem Nutzen sein kann. Indem er die Aufmerksamkeit des Patienten immer wieder auf gefühlshaftes Erleben lenkt, unterstützt der Therapeut den Patienten dabei, Gefühle nach und nach deutlicher wahrzunehmen und körperliches Erleben und diffuse Gefühlsqualitäten zu differenzieren. Dabei kann es hilfreich sein, wenn der Therapeut verschiedene Gefühlsqualitäten benennt, die dem augenblicklichen Erleben des Patienten eventuell nahe kommen könnten.

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Beispiel: Bei einem Patienten, der über viele Jahre hinweg alkoholabhängig war, zeigte sich, dass er – wie Kranke mit süchtig-abhängigem Verhalten häufig – nicht in der Lage war, Gefühle genauer wahrzunehmen. Wenn es ihm »ganz gut« ging, verspürte er – wie sich nach und nach erkennen ließ – diffuses, körperliches Behagen; wenn es ihm »schlecht« ging, empfand er ein ebenfalls körperlich empfundenes schmerzähnliches Missbehagen. Als der Patient wieder einmal berichtete, dass es ihm »schlecht« ergangen sei, nachdem er sich von einer Bekannten, für die er sich interessierte, abgewiesen gefühlt hatte, und während er das sagte, seine Hand auf die Gegend über dem Brustbein legte, meinte der Therapeut: »Ist es Ihnen möglich, sich daran zu erinnern, wie sich dieses ›schlecht‹ angefühlt hat? Sie haben das offenbar in der Brust verspürt – wie einen Schmerz, wie eine Verletzung, vielleicht wie Kummer?« Daraufhin antwortete der Patient: »Ich weiß nicht . . . ein Schmerz vielleicht . . . ja, so . . . als wenn mir jemand in die Brust gestochen hat . . . ja, so vielleicht.« In diesem Fall versuchte der Therapeut, das diffuse körperliche Missbehagen zu differenzieren, das der Patient zum Ausdruck gebracht hatte, indem er verschiedene Qualitäten in Betracht zog – körpernah als Schmerz und Verletzung, gefühlshafter als Kummer. Sein Bemühen galt der Wahrnehmung von Gefühlen und deren genauerer Unterscheidung, damit der Patient sich nach Möglichkeit deren Signalfunktion allmählich würde zunutze machen können.

Ein derartiges Vorgehen kann bei strukturell gestörten Patienten, denen Affekte so gut wie gar nicht oder nur diffus wahrnehmbar sind, immer nur in kleinen Schritten erfolgen. Wenn der Therapeut mit seinem Patienten an der Wahrnehmung von Gefühlen arbeitet, sollte er sorgsam darauf achten, dass der Patient nicht lediglich Gefühlswörter benutzt, die Gefühle aber nicht wirklich empfindet. Dazu kann es immer dann leicht kommen, wenn der Patient die Sprache, die der Therapeut verwendet, um gefühlshaftes Erleben auszudrücken, imitiert, um damit einer vermeintlichen Erwartung nachzukommen. Ein Patient sagt dann beispielsweise, dass er ärgerlich oder enttäuscht sei, während sich bei genauerem Hinsehen herausstellt, dass er weder das eine noch das andere Gefühl empfunden hat, sondern lediglich sozialen Regeln für den Gebrauch von Gefühlswörtern gefolgt ist. Andere Patienten sprechen zwar von Gefühlen, beispielsweise von Ärger, verspüren tatsächlich aber diffuses Unbehagen, oder sie nennen Enttäuschung,

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was sich tatsächlich als Kränkung erweist. Manchmal passen sich Patienten – insbesondere in stationären Einrichtungen – an Konventionen an, die sich in dem jeweiligen therapeutischen Milieu etabliert haben. In der einen Einrichtung mag es erwünscht erscheinen, in bestimmten Situationen ärgerlich zu sein oder sich durchsetzen zu können, sich einzufühlen und sich zu verstehen, in einer anderen, »nein« sagen zu können oder sich gekränkt zu fühlen oder sich zur Wehr zu setzen. So kann es leicht dazu kommen, dass Patienten eine mit sprachlichen Stereotypen durchsetzte Ausdrucksweise verwenden, sie »fühlen eine Aggression«, »sind jetzt betroffen«, merken »eine Kränkung« oder können sich »schon gut abgrenzen«, ohne dass den sprachlichen Stereotypen Gefühle korrespondierten. Viele Patienten mit strukturellen Störungen können auch die Gefühle anderer Menschen nicht verstehen und sich in andere Menschen nur schwer einfühlen. Sie gehen davon aus, dass andere genau so wie sie selbst empfinden, und missdeuten deren affektive Signale. Die Erfahrung, dass die andere Person in Wirklichkeit nicht wie sie selbst fühlt, kann dann manchmal ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Differenzierung von Selbst und anderem hin zu Beziehungen sein, bei denen die andere Person als eigenständiges Subjekt in ihrem eigenen Recht wahrgenommen wird.

Ausdruck von Gefühlen Die Folgen struktureller Beeinträchtigungen affektiven Erlebens manifestieren sich häufig auch darin, dass Gefühle, die nur diffus wahrgenommen werden, mit einem schwer aushaltbaren Spannungszustand einhergehen und leicht zu imperativen Handlungszwängen werden. Kränkungswut droht in der nächsten Sekunde in gewalttätiges Verhalten zu münden, Scham weckt den heftigen Impuls, sich selbst per Suizid zum Verschwinden zu bringen. Vor allem Patienten mit antisozialen und mit narzisstischen Störungen, aber auch Borderline-Patienten können erhebliche Probleme damit haben, intensivere Gefühle auf eine Weise auszudrücken, die von anderen toleriert werden kann. Sie halten Affekte nur schwer aus, versuchen Gefühle mit selbstschädigenden Gegenmaßnahmen unter Kontrolle zu bringen oder reagieren diese Gefühle agierend in impulsivem Verhalten ab. Manche Patienten vertreten private Ideo-

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logien, die ihr affektgetriebenes Verhalten legitimieren sollen, beispielsweise damit, dass »Gefühle rauslassen« gesund oder Gefühle zu zeigen »ehrlich« sei, gleich, ob die Grenzen anderer damit überschritten werden oder nicht. Beispiel: In einer Gruppe, in der bei einigen Patienten eine narzisstische Entwicklungsstörung im Vordergrund stand, bei mehreren anderen Patienten eine dependente Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde, hatte sich eine Patientin wütend und lauthals über die Verspätung eines Mitpatienten mit den Worten beschwert, dass sein Verhalten »zum Kotzen« sei. Nach einigem von Attacken und ängstlichem Rückzug geprägten Hin und Her wird in der Gruppe implizit darüber verhandelt, ob überhaupt und wenn ja, wie man Gefühle ausdrücken solle. Einige Patienten vertreten nachdrücklich, dass man Gefühle so, wie man sie jeweils empfinde, auch »rauslassen« solle, alles andere sei nur »Theater« und »verlogen«; die Patientin, der das Verhalten ihres Mitpatienten »zum Kotzen« erschienen war, habe ihre Gefühle »offen und ehrlich« gezeigt. Andere Patienten lassen Erschrecken erkennen und deuten ängstlich an, dass sie solche Gefühle nicht kennen; zwar könnten sie sich selbst oft nicht leiden, manchmal ekelten sie sich auch geradezu vor sich selbst, aber es bereite ihnen panische Angst, wenn es in der Gruppe so heftig zugehe. Im Weiteren bleibt die eine Fraktion dabei, dass man sich in der Gruppe äußern wolle, wie man gerade empfinde; wer so »mimosenhaft« sei, das nicht zu vertragen, müsse damit selber fertig werden. Die andere Fraktion sanktioniert diese Auffassung mit Schweigen, mit angstgetönter Abwendung und dem Ausdruck duldsamer Leidensbereitschaft. In der Folge entwickeln sich zwischen beiden Untergruppen Züge einer sadomasochistischen Kollusion, und es vergeht einige Zeit, ehe man sich bis auf Weiteres darauf verständigt, dass Gefühle zwar »spontan und ungeschminkt« geäußert werden sollten, aber nur mit Einschränkungen,nämlich dann, wenn die anderen »das auch ab können«.

Der antwortende Modus eignet sich dazu, den Patienten mit den Folgen zu konfrontieren, die sein affektbestimmtes Verhalten für die aktuelle Beziehung hat, in diesem Fall die therapeutische Beziehung, ohne dass der Therapeut auf den Patienten mit Worten hinzeigt, wie das bei Deutungen leicht der Fall sein kann. Über die selektiv und gezielt eingesetzten Antworten des Therapeuten erfährt der Patient, dass er mit dem Ausdruck seiner Gefühle Wirkungen auf sein

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Gegenüber haben kann und welche Wirkungen das in diesem Fall sind, ohne hier – anders als unter Alltagsbedingungen – mit schwerer wiegenden Folgen seines affektiv bestimmten Verhaltens rechnen zu müssen. Merke: Um bei Patienten mit strukturellen Störungen die oft erheblich beeinträchtigte Wahrnehmung von Gefühlen zu fördern, ist es hilfreich, wenn der Therapeut sich den Gefühlen des Patienten annähert, indem er ihm verschiedene Qualitäten anbietet, die sich möglichst nahe an dem augenblicklichen Erleben des Patienten bewegen. Wenn andere Patienten die Auffassung vertreten, Gefühle ungefiltert ausdrücken zu wollen, spiegelt das oftmals eingeschränkte Fähigkeiten wider, den Ausdruck von Gefühlen zu steuern und auf die jeweiligen Umstände abzustimmen.

Zum therapeutischen Umgang mit nichtsprachlichem Verhalten Implizites Beziehungswissen kommt nicht in sprachlichen Mitteilungen zum Ausdruck, sondern wird gezeigt. Patienten mit strukturellen Störungen der Persönlichkeitsentwicklung sind frühe Beziehungserfahrungen nicht als explizites, kommunizierbares Wissen verfügbar, sondern werden im Zusammensein mit anderen im Vollzug von Interaktion – auch in der therapeutischen Beziehung – aktualisiert. Sie stellen sich in dem jeweils aktuellen Beziehungsgeschehen dar (Streeck, 2000, 2004). Dabei gerät das interaktive Geschehen häufig zu szenischen Darstellungen oder Enactments, die vor allem mit körperlichen, nichtsprachlichen Mitteln gestaltet werden. Das nichtsprachliche Verhalten hat darin oft keine semantische Funktion und keine bestimmten, mehr oder weniger festen Bedeutungen (»wer sich am Kopf kratzt, ist verlegen« u. Ä.), sondern dient häufig in erster Linie der Regulierung der Interaktion. Wenn der Psychotherapeut kontrafaktisch davon ausgeht, dass nichtsprachliches Verhalten seelisches Erleben ausdrückt, gerät er leicht unbemerkt in die Haltung eines Beobachters, der meint, aus dem Verhalten des Patienten Rückschlüsse auf dessen seelisches Befinden ziehen zu können. Das kann strukturell gestörte Patienten

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leicht beunruhigen und ängstigen, weil sie die Haltung des Therapeuten wie einen Versuch erleben, durch Beobachtung ihres sichtbaren Verhaltens ihres »Inneren« habhaft zu werden. Darüber hinaus führt ein derartiger hinzeigender therapeutischer Gestus bei Patienten mit erheblicheren Unsicherheiten in interpersonellen Beziehungen leicht zu einer Verstärkung der ohnehin großen Angst vor Beschämung. Patienten, deren Selbstgrenzen instabil sind und die das Gefühl haben, sich gegenüber ihrer Umgebung nicht sicher abschirmen zu können, beispielsweise präpsychotische Patienten, erleben Interventionen, die offen lassen, ob der Therapeut aus ihrem nichtsprachlichen Verhalten möglicherweise ihr inneres Befinden zu erkennen vermag, als intrusiv und grenzenüberschreitend und fühlen sich dadurch unter Umständen sogar bedroht. Zudem wird der Patient mit dem Verweis auf sein körperlich-gestisches Verhalten implizit dazu veranlasst, sein Verhalten mehr als bis dahin zu kontrollieren, was wiederum leicht zur Folge hat, dass das Zusammensein mit anderen für den Patienten noch schwieriger als ohnehin schon wird. Wenn der Therapeut nichtsprachliches Verhalten des Patienten anspricht, muss das mit großer Zurückhaltung geschehen. Will er nicht riskieren, dass der Patient sich zum Objekt von Beobachtung gemacht fühlt, beschämt wird, sich ängstlich zurückzieht, das Gefühl bekommt, vor dem Therapeuten nichts verbergen zu können, oder sich gar in der psychotischen Fantasie bestätigt sieht, dass der Therapeut in der Lage ist, in sein Inneres zu blicken, muss er zumal von der Versuchung Abstand nehmen, dem beobachteten Verhalten irgendeine fixe Bedeutung zu unterlegen, die er im Unterschied zu seinem Patienten vermeintlich kennt. Darum sollte das nichtsprachliche Verhalten des Patienten in keinem Fall auf den Ausdruck unbewussten seelischen Erlebens hin interpretiert werden. Bei Patienten, die Gefühle kaum wahrnehmen und ausdrücken können, kann der Therapeut manchmal anhand ihres körperlichen Verhaltens erahnen, wie in diesem Moment die Beziehung zu ihm ist oder sich verändern soll. So können eine flüchtige Abwendung des Blickes oder ein geringfügiges Herabrutschen im Sessel im Kontext einer vorangegangenen Äußerung des Therapeuten ein Hinweis darauf sein, dass der Patient auf die Äußerung des Therapeuten hin die Distanz zu seinem Gegenüber zu vergrößern wünscht, oder eine kaum merkliche Verzögerung der Antwort kann einen Vorbehalt

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gegenüber dieser zuvor geäußerten Intervention des Therapeuten markieren. Vielleicht hat den Patienten die vorangegangene Äußerung des Therapeuten gekränkt, ohne dass er das bewusst bemerkt hätte, und er vergrößert mit seiner Blickabwendung die interpersonelle Distanz oder er macht sich in seinem Sessel kleiner, um nicht von einem nächsten Angriff getroffen zu werden. Vielleicht wagt der Patient auch nicht, sich seine Kritik einzugestehen, weil Kritik als destruktiv gefürchtet wird, und er zeigt lediglich mit seiner verzögerten Reaktion, dass er mit dem Therapeuten nicht übereinstimmt. Beispiel: Als der Therapeut bemerkt, dass der Patient, von dem er weiß, dass er große Schwierigkeiten hat, seine eigenen Belastbarkeitsgrenzen und insbesondere seine Kränkbarkeit zu bemerken, unmittelbar nach Beendigung seiner Äußerung kaum merklich ein wenig in sich zusammenzusacken scheint, und daraufhin vermutet, dass das körperliche Verhalten des Patienten eine Reaktion auf seine Intervention ist, sagt er im nächsten Schritt: »Könnte es sein, dass Sie eben ein wenig in ihrem Sessel nach unten gerutscht sind, nachdem ich diese Bemerkung gemacht habe?« Wenn der Patient antwortet, dass da nichts gewesen sei, würde der Therapeut das auf sich beruhen lassen, zumal dann, wenn er vermutet, dass der Patient nicht bemerken kann oder will, wenn ihn eine Äußerung des Therapeuten getroffen oder berührt hat. In diesem Fall antwortete der Patient mit einem Lachen, das der Therapeut als Ausdruck von Beschämung verstand: »Na ja, das war ja auch ganz schön starker Tobak.« Daraufhin meinte der Therapeut: »Ich hoffe, ich habe Sie nicht gekränkt, das wäre nicht meine Absicht gewesen. Bitte sagen Sie mir, wenn mir das einmal passieren sollte oder jetzt schon passiert ist.« Daraufhin der Patient: »Gekränkt? Weiß ich nicht, kenne ich, glaub’ ich, nicht. Aber angenehm war’s nicht gerade. Gekränkt? Ja, vielleicht so was, so’n Stich oder sowas.«

Der Therapeut weist hier nicht auf das körperliche Verhalten seines Patienten hin, und er stellt auch keine Vermutungen darüber an, was das Verhalten vermeintlich bedeuten könnte, sondern er überlässt es dem Patienten zu sagen, ob es überhaupt die Äußerung des Therapeuten war, auf die er reagiert hat, und in welcher Weise das eventuell der Fall gewesen ist.

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Merke: Der Therapeut sollte für nichtsprachliches Verhalten des Patienten besonders aufmerksam sein, das Verhalten aber nur ausnahmsweise ansprechen. Wird das Verhalten des Patienten angesprochen, sollte das in einer Weise geschehen,die es dem Patienten überlässt, das Verhalten zu interpretieren.

Zum Primat der Selbstregulierung Manchmal sind Patienten mit strukturellen Störungen so weitgehend davon in Anspruch genommen, ihre Selbstregulierung aufrechtzuerhalten, dass sie nicht oder kaum noch in der Lage sind, sich auf das Gespräch mit dem Therapeuten einzustellen. Sie sind motorisch hochgradig unruhig, scheinen unter erheblicher Spannung zu stehen, so dass sie für das Geschehen um sie herum nicht mehr aufmerksam sein können oder scheinen fortlaufend mit ihrer eigenen Körperlichkeit beschäftigt zu sein. Obwohl jedes Verhalten in Anwesenheit von anderen, auch der Selbstregulierung dienendes Verhalten, immer auch Implikationen für die Regulierung der Beziehung hat, muss für den Therapeuten unter solchen Umständen im Vordergrund stehen, den Patienten dabei zu unterstützen, seine Selbstregulierung zu stabilisieren. Soweit dies nicht schon bei den ersten Untersuchungen zutage getreten ist und deshalb im Zuge der Diagnostik nicht hat abgeklärt werden können, sollten hochgradige motorische Unruhe und andere, primär der Selbstregulierung dienende auffällige Verhaltensweisen den Therapeuten zudem immer daran denken lassen, dass es sich um einen schwer traumatisierten Patienten handeln könnte. Wenn das auffällige Verhalten des Patienten sich erst im Verlauf der therapeutischen Arbeit gezeigt hat, sollte der Therapeut, sobald der Patient sich wieder stabiler regulieren kann, versuchen, mit dem Patienten die Umstände zu klären, die dazu geführt haben, dass seine selbstregulativen Fähigkeiten in der therapeutischen Situation überfordert waren. Sollte sich herausstellen, dass das auffällige Verhalten des Patienten Hinweis auf einen dissoziativen Zustand war, muss der Therapeut eventuell weitergehende therapeutische Maßnahmen treffen, die für die Behandlung posttraumatischer Zustände angezeigt sind.

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Merke: Wenn ein Patient in der therapeutischen Situation so weitgehend mit seiner Selbstregulierung beschäftigt ist, dass er für seine Umgebung und für sein eigenes Verhalten im Kontext des Verhaltens seiner Umgebung nicht mehr aufmerksam sein kann, muss in der Behandlung im Vordergrund stehen, den Patienten bei der Wiedergewinnung stabiler selbstregulativer Fähigkeiten zu unterstützen. Sobald der Patient seine selbstregulativen Fähigkeiten wiedergewonnen hat, sollte der Therapeut mit dem Patienten auch zu klären versuchen, welche Umstände dazu geführt haben, dass der Patient hinsichtlich seiner Selbstregulation vorübergehend überfordert war.

Besondere therapeutische Probleme Schweigen des Patienten und Initiative zum Kontakt Patienten mit schwereren strukturellen Störungen, mit Beeinträchtigungen der Selbstwertregulierung und Beschämungsängsten schaffen es oft nicht, die Initiative zu übernehmen, um in Kontakt zu Personen zu treten, die sie nicht oder kaum kennen. Zumal dann, wenn die Patienten unter nennenswerten sozialen Ängsten leiden, kann die Angst vor Beschämung überwältigend sein. Wenn der Therapeut das Schweigen des Patienten seinerseits mit Schweigen beantwortet, kann das leicht dazu führen, dass der Patient den Eindruck bekommt, dass ihm nur ein weiteres Mal seine Schwierigkeiten vor Augen geführt werden, was dann weitere Beschämung nach sich zieht. Schließlich erscheint es dem Patienten ganz unmöglich, sich von sich aus zu äußern. Dazu kann es insbesondere dann leicht kommen, wenn der Patient zu Beginn der Behandlungsstunde schweigt und es nicht schafft, den ersten Schritt zu machen. Unter diesen Umständen sollte der Therapeut die Kontaktinitiative übernehmen, und zwar so lange in der Behandlung, wie der Patient selbst dazu noch nicht in der Lage ist. Andere Patienten schweigen zu Beginn deshalb, weil es ihnen nicht möglich ist, die diffus empfundene Vielfalt ihres schwer fassbaren inneren Erlebens in Worten auszudrücken. Manchmal schildern sie im Rückblick ein Empfinden »wie viele lose Enden«, das sich immer

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noch verstärkt, wenn sie versuchen, dessen habhaft zu werden, was in ihnen vor sich geht. Auch in diesem Fall sollte der Therapeut die Initiative ergreifen und das Schweigen frühzeitig unterbrechen. Dazu kann eine Einladung an den Patienten, zu sagen, was ihn beschäftigt, manchmal ebenso ausreichen wie eine kurze Nachfrage nach seinem Befinden. Darüber hinaus ist es in solchen Fällen hilfreich, wenn der Therapeut durch sein Verhalten den Patienten dabei unterstützt, seine Aufmerksamkeit von sich selbst weg und stattdessen der äußeren Realität zuzuwenden, damit der Patient nicht noch mehr in Verwirrung gerät. Merke: Patienten mit strukturellen Beeinträchtigungen sind häufig nicht in der Lage, die Initiative zum Kontakt zu übernehmen. Den Patienten seinen Schwierigkeiten zu überlassen ist nicht sinnvoll und würde ihm nur seine Einschränkungen ein weiteres Mal vor Augen führen. Deshalb sollte in diesem Fall der Therapeut die Kontaktinitiative übernehmen.

Schweigen während der Behandlung Schweigen des Patienten im Verlauf des therapeutischen Gesprächs kann vielfältige Gründe haben. Das Schweigen kann Ausdruck von Ratlosigkeit sein; es kann eine missbilligende Stellungnahme zu einer vorangegangenen Äußerung des Therapeuten oder – in einer Gruppe – von Mitpatienten sein; Schweigen kann ein Zeichen dafür sein, dass der Patient nach Orientierung sucht; Schweigen kann für den Patienten die Funktion haben, eine Grenze zwischen sich und dem Therapeuten zu ziehen, die er auf andere Weise nicht herstellen oder aufrechterhalten kann; und Schweigen kann einfach darauf hinweisen, dass der Patient nachdenkt. Selten ist das Schweigen bei strukturell gestörten Patienten nur Ausdruck des Versuches, einen Machtkampf nach dem Motto zu führen, dass der, der das Schweigen bricht, verloren hat. Derartige Inszenierungen sind in Behandlungen von Patienten mit Störungen auf neurotischem Niveau nicht selten, und auch strukturell gestörte Patienten verbinden mit beiderseitigem Schweigen manchmal Aspekte eines Machtkampfes. Oft stellt sich jedoch heraus, dass dem Verhalten, das auf den ersten Blick wie ein Machtkampf aussieht, weitergehende Beeinträchti-

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gungen zugrunde liegen und das Schweigen basalere Funktionen erfüllt. Welche Funktion das Schweigen auch immer hat, so sollte der Therapeut einen Patienten mit einer strukturellen Störung nicht über längere Zeit hinweg seinem Schweigen überlassen und selbst schweigen und damit regressive Bewegungen fördern, zumal dann nicht, wenn fraglich ist, ob das Schweigen für den Patienten förderlich ist. In den meisten Fällen sollte stattdessen der Therapeut das Schweigen von sich aus unterbrechen und den Patienten ansprechen. Merke: Schweigen kann für strukturell gestörte Patienten in der therapeutischen Arbeit vielfältige Funktionen haben. In der Regel ist es nicht förderlich, wenn der Therapeut den Patienten zu lange seinem Schweigen überlässt, und der Therapeut sollte das Schweigen dann von sich aus unterbrechen.

Affektives und impulsives Verhalten Patienten mit strukturellen Störungen können heftigere Gefühle und drängende Impulse manchmal nur schwer steuern und kontrollieren. Entsprechendes gefühls- und impulsbestimmtes Verhalten darf nicht mit Agieren im Sinn eines expressiven Verhaltens, dem eine unbewusste Bedeutung zugrunde liegt, verwechselt werden. Bei schweren Einschränkungen kann es erforderlich sein, dass der Therapeut für Steuerungs- und Orientierungshilfen sorgt, beispielsweise in Form von klaren und unmissverständlichen Grenzziehungen. Deutliche Grenzziehungen können den Mangel an innerer Orientierung zumindest teilweise kompensieren. In schwerwiegenden Fällen – beispielsweise bei Patienten, bei denen das impulsbestimmte Verhalten auf manische Dekompensationen zurückzuführen ist, oder bei Patienten, bei denen die Gefahr besteht, dass sie sich in bedrohlicher Weise destruktiv verhalten – kann es vorübergehend erforderlich sein, zum Zweck der Grenzziehung auf die Mauern einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung zurückzugreifen. Derartig einschneidende Maßnahmen sind jedoch nur in Ausnahmefällen erforderlich. Meist reichen symbolische Grenzziehungen durch den Therapeuten aus, um den Mangel an inneren Steuerungsmöglichkeiten und Orientierungen auszugleichen. Symbolische Grenzen

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müssen jedoch eindeutig sein. Der Patient muss wissen, welche Folgen es hat, wenn er die Grenzen nicht beachtet. Nur unter dieser Voraussetzung können sie dem Patienten als Orientierungshilfe für sein Handeln dienen. Bleiben Grenzziehungen dagegen uneindeutig und diffus oder werden zwiespältig vertreten, kann das zur Folge haben, dass das affekt- und impulsbestimmte Verhalten des Patienten noch verstärkt wird. Unter Umständen eskaliert die Situation dann so weit, dass das Verhalten des Patienten Grenzen erzwingt mit dem Ergebnis, dass die Situation sich schließlich entspannt, weil der Patient sich eben dann wieder ausreichend orientieren kann, wenn Grenzen unübersehbar geworden sind. Wird dieser Zusammenhang nicht frühzeitig erkannt, kann es dazu kommen, dass ein sinnvoller therapeutischer Kontakt nicht entsteht, und die Behandlung wird, kaum begonnen, wieder abgebrochen. Dass der Patient die Behandlung abbricht, kann aus seiner Sicht eine Ultima Ratio sein, gleichsam eine absolute Grenzziehung. Weil von therapeutischer Seite nicht gesehen wurde, dass Grenzen als Orientierungs- und Steuerungshilfen benötigt werden und impulsives, wenig gesteuertes Verhalten Ausdruck des Versuches ist, den Therapeuten zu solchen Grenzziehungen zu veranlassen, bleibt dem Patienten nur die einzig definitive Grenze, der Abbruch der Therapie. Merke: Affekt- und impulsbestimmtes Verhalten von strukturell gestörten Patienten darf nicht mit expressivem Agieren verwechselt werden. Der Therapeut muss diesem Verhalten gegenüber oftmals grenzenziehende Funktionen übernehmen. Das kann entweder symbolisch geschehen, muss unter Umständen aber auch mit physischen Mitteln erfolgen. Eindeutige Grenzen haben für Patienten, die sich angesichts sie überflutender Affekte und Impulse bedroht fühlen, orientierende und Sicherheit vermittelnde Funktionen.

Negative Übertragungen Bei strukturell gestörten Patienten haben negative Übertragungen häufig eine durchdringende, allumfassende Qualität. Das Objekt der Übertragung ist durch und durch schlecht, böse und unwert. Solche massiven negativen Übertragungen stellen sich oft als Folge von

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Kränkungen oder Versagungen ein: Ein zuvor gutes Objekt wird gleichsam von einer Sekunde zur nächsten schlecht und unwert.Vielen Patienten mit strukturellen Störungen der Persönlichkeitsentwicklung fehlt die Möglichkeit, sich auf eine ausreichend gute Beziehung zu stützen, die ihnen erst ermöglichen würde, solche negativen Übertragungen als Wiederholungen zu relativieren. Trifft die negative Übertragung den Therapeuten oder andere für die Behandlung des Patienten wichtige Personen, droht die Therapie abgebrochen oder sinnlos zu werden, weil unter dem Einfluss der Übertragung das Objekt durch und durch unwert geworden ist und verachtet wird. Das gilt erst recht, wenn eine ganze therapeutische Institution, etwa die Klinik, unter das Verdikt einer negativen Übertragung gerät. Von dem in seinem Erleben wertlosen, verachteten Objekt kann für den Patienten nichts für ihn Nützliches kommen, weil dessen Wertlosigkeit auch dessen »Produkte« wertlos macht. Erst dann, wenn der Patient zumindest in Erwägung ziehen kann, dass es auch etwas mit ihm selbst zu tun haben könnte, dass das für ihn eben noch ausreichend gute Objekt abrupt durch und durch schlecht und böse geworden ist, besteht die Chance, dass die therapeutische Beziehung erhalten und repariert werden kann. Darum ist es wichtig, wenn der Therapeut solchen massiven negativen Übertragungen aktiv entgegentritt. Dagegen führen Deutungen der negativen Übertragung bei Patienten mit strukturellen Störungen kaum jemals zu deren Auflösung. Beispiel: Frau C., eine 37-jährige Patientin, war wegen einer Reihe von Ladendiebstählen vorbestraft, mehrere Partnerschaften waren jedes Mal schon nach kurzer Zeit gescheitert. Sie hatte einen schweren Suizidversuch unternommen, nachdem ein Mann, den sie bis dahin noch kaum kannte, ihr zu verstehen gegeben hatte, dass er an einer näheren Beziehung nicht interessiert sei. Zu ihrem Therapeuten schien sie eine gute und ausreichend stabile Beziehung entwickelt zu haben. Während sie eines Tages vor dem Zimmer ihres Therapeuten auf den Beginn ihrer Stunde wartete, kam eine ihr bis dahin nicht bekannte Frau, klopfte an der Tür des Behandlungszimmers ihres Therapeuten und schien in das Zimmer zu gehen, ohne eine Antwort abgewartet zu haben. Als der Therapeut Frau C. zu sich hereinbitten wollte, fand er sie dort nicht mehr vor. Sie war in ihr Zimmer gegangen und hatte damit begonnen, ihre Kleider voller Wut in ihren Koffer zu werfen,

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um die Therapie abzubrechen. Als der Therapeut das Zimmer betrat, beschimpfte sie ihn als »verlogenen Heuchler«, für den sie »irgendein Stück Holz« sei und der das Interesse an ihr und ihrer Geschichte nur vortäusche. In einer Klinik, in der »solche Leute auf Patienten losgelassen« würden, könne sie keine Sekunde länger bleiben. Der Therapeut verstand anfangs nicht, was geschehen war. Er sagte seiner Patientin, dass er nicht wisse, was geschehen sei, aber was immer das auch gewesen sein mochte, so sei er doch sicher, dass er kein verlogener Heuchler und dass sie für ihn kein Stück Holz sei. Darauf hin schrie ihn die Patientin an, wie er denn wohl sonst dazu komme, sie einfach warten zu lassen, ohne etwas zu sagen, aber »für andere Leute« selbstverständlich Zeit zu haben. Erst jetzt verstand er, dass die Patientin offenbar die Krankenschwester einer Nachbarstation, die ihm eine wichtige Nachricht hatte zukommen lassen müssen, in sein Zimmer hatte gehen sehen. Er musste erkennen, dass er es versäumt hatte, das seiner Patientin zu erläutern und sie um einige Minuten Geduld zu bitten. Er sagte ihr das, entschuldigte sich für sein Verhalten und bekräftigte noch einmal, dass weder sein Interesse geheuchelt noch sie für ihn irgendeine Sache sei. Das führte zu einer Beruhigung der Situation, und die Patientin konnte sich schließlich dazu durchringen, das Gespräch mit ihm fortzuführen.

Wenn erkennbar ist, dass eine globale negative Übertragung eine Reaktion auf eine vorangegangene Kränkung oder Versagung ist, sollte der Therapeut den inneren oder auch nach außen dokumentierten Beziehungsabbruch des Patienten, mit dem häufig zu rechnen ist, sofort ansprechen, um den Patienten in der Therapie zu halten. Versäumt er das, kann es sein, dass der Patient die Therapie entweder lauthals oder – meist bedrohlicher – per stillem Rückzug abbricht. Der Therapeut kann beispielsweise seiner Vermutung Ausdruck verleihen, den Patienten gekränkt zu haben, und sich – falls das tatsächlich der Fall gewesen sein sollte – für sein Verhalten entschuldigen. Tut er das, wird der Patient seine Entwertung meist nicht aufrechterhalten, weil sich sein wütend-entwertender Angriff auf den Therapeuten jetzt gleichsam erübrigt, zeigt der Therapeut mit seiner Selbstkritik doch, dass er selbst mit sich nicht einverstanden ist. Im Unterschied zu den Abwertungen des Patienten hat die Selbstkritik des Therapeuten allerdings eine mildere, »integrierte« Qualität und kann damit zugleich als Modell für den Patienten dienen.

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Merke: Negative Übertragungen gehen bei Patienten mit strukturellen Störungen oft mit der Tendenz einher, die gesamte Therapie und den Therapeuten rundum zu entwerten und zu verachten. Solchen negativen Übertragungen muss der Therapeut aktiv entgegentreten.

Suizidalität Ist der Patient nicht in der Lage, sein Verhalten angesichts von Suizidgedanken und Suizidimpulsen soweit sicher zu steuern, dass Versuche, sich selbst zu töten, ausgeschlossen sind, muss die Behandlung unterbrochen werden und der Patient muss vorübergehend in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung untergebracht werden. Wenn in Zusammenhang mit den Rahmenbedingungen ausführlich genug vorbesprochen wurde, was im Fall einer derartigen suizidalen Krise geschehen muss, wird der Patient der vorübergehenden Unterbringung unter geschlossenen Bedingungen leichter zustimmen können und eine Zwangseinweisung sich eher erübrigen als das dann der Fall wäre, wenn diese Möglichkeit nicht ausführlich vorher besprochen wurde. Mit größeren Schwierigkeiten kann diese Situation dann einhergehen, wenn der Patient aktuell nicht in der Lage ist, seine eigene Situation halbwegs realistisch einzuschätzen, beispielsweise deshalb, weil er von psychotischem Erleben bestimmt wird. Soweit die Umstände das erlauben und soweit damit zu rechnen ist, dass die Verlegung in eine psychiatrische Abteilung nur als kurzzeitige Krisenintervention erforderlich ist, sollte der Therapeut den Patienten während der psychiatrischen Unterbringung wenn irgend möglich selbst weiter behandeln. Geht die Verlegung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung über eine Krisenintervention hinaus und ist absehbar, dass der Patient über längere Zeit unter geschlossenen Bedingungen psychiatrisch behandelt werden muss, ist es meist günstiger, die psychotherapeutische Behandlung auszusetzen, bis der Patient wieder in einem Zustand ist, dass die Behandlung mit psychotherapeutischen Mitteln, falls weiterhin indiziert, fortgesetzt werden kann. Soweit die Kooperation zwischen dem Therapeuten, der für die Psychotherapie des Patienten zuständig ist, und dem Psychiater nicht schon vorab verabredet war, wird es sich spä-

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testens jetzt nahe legen, eine Zusammenarbeit unter Einbeziehung des Patienten fest zu verabreden und die Verteilung der Aufgaben und Zuständigkeiten von behandelndem Psychotherapeuten und Psychiater klar zu regeln. Merke: So weit die äußeren Umstände das zulassen, sollte der Therapeut den Patienten, der wegen akuter Suizidalität vorübergehend in eine geschlossene psychiatrische Einrichtung verlegt werden musste, selbst weiter behandeln. Das setzt eine gute Zusammenarbeit zwischen Psychiater und behandelndem Psychotherapeuten voraus.

Zum Umgang mit Träumen Manche Patienten mit strukturellen Störungen glauben, allein dadurch mehr Stabilität erreichen und am sozialen Leben besser teilnehmen zu können, dass sie sich mit ihrer inneren Realität beschäftigen, mit Erinnerungen, Träumen und Fantasien. Diese Vorstellung kommt oftmals einer Neigung der Patienten entgegen, Anforderungen der äußeren Realität aus dem Weg zu gehen. Statt sich mit unliebsamen Bedingungen der äußeren Welt auseinanderzusetzen, soll sich die therapeutische Arbeit auf ihre psychische Realität konzentrieren. Erst wenn sich ihre seelische Verfassung verändert hat, wollen sie sich auch mit den Anforderungen der äußeren Realität beschäftigen. Dieser Auffassung korrespondiert gelegentlich eine Neigung, sich viel mit Träumen zu beschäftigen, wobei meist rasch deutlich wird, dass die Beschäftigung mit Träumen dem Vermeiden dient und nicht zu einem vertieften Verständnis ihrer selbst und ihrer sozialen Lebenswelt führt. Ganz im Gegenteil sehen die Patienten damit von ihren tatsächlichen Schwierigkeiten im Zusammensein mit anderen weg und versuchen, den Therapeuten dazu zu veranlassen, das Gleiche zu tun. Ihre Beschäftigung mit Träumen, Fantasien und Erinnerungen steht dann nicht im Dienst von Entwicklung, sondern fixiert im Gegenteil habituelles Vermeiden. Träume haben in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie nicht die gleiche Bedeutung für die Behandlung wie in der Psychoanalyse. Der Therapeut nimmt Traumberichte des Patienten zwar

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mit Interesse zur Kenntnis, unterstützt den Patienten aber nicht in dem Glauben, dass die Beschäftigung mit Träumen ihm zu Veränderungen bei der Bewältigung seiner alltäglichen Lebensbedingungen verhelfen wird. Der Therapeut verzichtet auch darauf zu untersuchen, was Träume über die nicht bewusste psychische Realität des Patienten zum Ausdruck bringen könnten. Vielmehr wird er meist die Frage in den Vordergrund stellen, welche Funktion der Traumbericht zu diesem Zeitpunkt in diesem Kontext des therapeutischen Prozesses für den Patienten hat. Entschließt der Therapeut sich, auf den Inhalt des Traums einzugehen, richtet sich der Blick auf den manifesten Inhalt, der nach Möglichkeit mit dem aktuellen Fokus in der Therapie verbunden wird. Auf ihre unbewusste Dimension hin werden die Traumberichte explizit nicht untersucht. Beispiel: Ein Patient spricht davon, dass er neulich »etwas Schreckliches« geträumt habe: »Ich war im Haus. Da merkte ich, dass es ein wunderschöner Tag war. Draußen war ganz blauer Himmel und die Sonne schien. Ich wollte raus, aber ich hatte Angst. Dann habe ich die Tür aufgerissen und bin einfach rausgerannt. Plötzlich kam ein riesiger Hund auf mich zu, mit so scharfen Reißzähnen. Ich bekam Panik und wollte ins Haus zurückrennen. In dem Moment hörte ich, dass die Tür zufiel, und ich hatte keinen Schlüssel. Ich bekam Panik. Dann bin ich schweißnass aufgewacht. Das hat dann noch lange gedauert, bis ich mich wieder beruhigt hatte.« Der Therapeut beschränkt sich darauf zu sagen: »Vielleicht wäre es besser gewesen, Sie hätten die Tür erst einmal nur einen Spalt weit geöffnet, um nachzusehen, ob draußen alles einigermaßen in Ordnung ist?« In der diagnostischen Annahme, dass der Patient, von seiner Sehnsucht nach einem nur guten Objekt überflutet, alle Vorsicht außer Acht lässt und mit nichts Bösem rechnet, beschränkt er sich darauf, den Patienten auf die Möglichkeit aufmerksam zu machen, dass es auch bei »schönem Wetter« – mit anderen Worten: einem scheinbar nur guten Objekt gegenüber – sinnvoll ist, auch mit der Möglichkeit von weniger zuträglichen Bedingungen zu rechnen und die Realität, auf die er sich zubewegen will, vorab zu überprüfen.

Merke: Für manche Patienten mit strukturellen Störungen hat die Beschäftigung mit Träumen die Funktion, sich nicht mit unliebsamen Bedingungen ihres realen Lebensalltags beschäftigen zu müs-

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sen. So weit Trauminhalte in der Behandlung überhaupt aufgegriffen werden, werden sie nicht auf unbewusste Erfahrungen hin untersucht, sondern auf ihren manifesten Inhalt hin aufgenommen.

Zur Beendigung der Behandlung Die Behandlung soll dem Patienten nach Möglichkeit dazu verhelfen, ohne zu große Beeinträchtigungen am sozialen Alltagsleben teilnehmen zu können. Davon leiten sich die Kriterien für die Beantwortung der Frage ab, wann die Behandlung beendet werden kann. Gemessen am Ausmaß der Beeinträchtigungen vieler strukturell gestörter Patienten ist das ein hoch gestecktes Ziel. Sich im sozialen Alltagsleben ohne schwerwiegende Belastungen für die eigene Person oder für die soziale Umwelt bewegen zu können, setzt unter anderem voraus, dass der Patient – andere Personen zumindest in groben Zügen als Personen in ihrem eigenen Recht wahrnehmen und behandeln kann (Selbst-Objekt-Differenzierung, Mentalisierungsfunktion, reziproke Beziehungen), – im Zusammensein mit anderen das Verhalten der anderen Personen auch im Kontext des eigenen Verhaltens lesen und das eigene Verhalten mit Blick auf andere hin gestalten kann (Interaktionsregulierung), – die Beziehung zu ihm wichtigen anderen Personen auch dann aufrechterhalten kann, wenn diese Personen nicht physisch anwesend sind oder sich nicht bedürfnisbefriedigend verhalten (Beziehungs- bzw. Objektkonstanz) und – Affekte und Impulse so weit steuern kann, dass das eigene Verhalten auf die soziale Umwelt zumindest so weit abgestimmt bleibt, dass erheblichere nachteilige Folgen vermieden werden können. Ehe der Patient dazu nicht annähernd in der Lage ist, sollte die Therapie nicht beendet werden. Wenn die Dauer der Behandlung von vornherein zeitlich eng begrenzt ist wie beispielsweise im stationären Rahmen, muss der Therapeut den Patienten von sich aus daran erinnern und frühzeitig auf das bevorstehende Ende der Therapie hinweisen. Manchmal

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Besondere therapeutische Probleme

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verschlechtert sich der Zustand von Patienten, wenn die Beendigung der Behandlung näher rückt. Dermaßen regressives Verhalten kann vielfältige Gründe haben, beispielsweise ein Zeichen dafür sein, dass bevorstehende Abschiede gefürchtet werden. Andere Patienten versuchen durch regressives Verhalten eine Verlängerung der Behandlung zu erzwingen. Aber das Verhalten kann auch darauf hinweisen, dass der Patient die Stabilität, die erforderlich ist, damit er sich im Alltagsleben wieder sicherer bewegen kann, tatsächlich noch nicht erreicht hat. In den letzten drei bis fünf Behandlungsstunden sollten möglichst keine ganz neuen Themen angesprochen werden. Der Therapeut sollte sich vielmehr gemeinsam mit dem Patienten darauf konzentrieren, die Rückkehr in den Alltag, eventuell auch dessen Bewältigung ohne therapeutische Unterstützung, vorzubereiten. Dazu gehört, dass der Therapeut Schwierigkeiten und Probleme, die für den Patienten in seinem sozialen Alltagsleben zu erwarten sind, antizipiert und vor allem Fragen, wie das vordem schwierige Zusammensein mit anderen mit Hilfe der Mittel und Möglichkeiten, die sich der Patient in der Behandlung angeeignet hat, zukünftig bewältigt und gestaltet werden kann, in den Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit stellt. Patienten, die so erheblich beeinträchtigt sind, dass sie unter stationären oder teilstationären Bedingungen behandelt werden mussten, müssen nach Entlassung aus der therapeutischen Institution oftmals ambulant weiterbehandelt werden. Auch die Weiterbehandlung muss mit dem Patienten frühzeitig besprochen und vorbereitet werden. Das letzte Gespräch mit dem Patienten wird oftmals ein Rückblick von Patient und Therapeut auf die gemeinsame therapeutische Arbeit sein. Manche Patienten geben zu verstehen, dass sie sich nicht mehr daran erinnern können, wie sie »damals« waren. Dann kann es von Vorteil sein, wenn der Therapeut dem Patienten in Erinnerung ruft, wie seine Schwierigkeiten und Probleme vor Beginn der Therapie ausgesehen haben. Erst im Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart können viele Patienten ein Maß dafür gewinnen, welchen Weg sie mit Hilfe der Therapie zurückgelegt haben. Manche Patienten sind enttäuscht oder wütend darüber, dass sie nicht mehr erreicht haben, auch Patienten, die aus therapeutischer Sicht beachtliche Schritte zurückgelegt haben. Um zu verhindern, dass

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

die Patienten die gesamte Therapie abwerten, sollte der Therapeut dem Patienten ein weiteres Mal deutlich machen, dass Veränderungen immer nur in kleinen Schritten möglich sind, und er sollte den Patienten auch wissen lassen, wie er selbst das Behandlungsergebnis einschätzt und sollte diese Einschätzung dem Patienten anschaulich genug begründen. Merke: Die Beendigung der Behandlung ist für Patienten mit strukturellen Störungen oft ein besonders kritisches Ereignis, das sie versuchen mit verschiedenen Mitteln zu umgehen. Der Therapeut muss das Ende der Therapie frühzeitig ansprechen, wenn der Patient das nicht von sich aus tut. Ein besonderes Problem stellt die Beendigung der Therapie bei denjenigen Patienten dar, bei denen das Behandlungsende die Gefahr mit sich bringt, dass die guten und hilfreichen Erfahrungen nicht aufrechterhalten werden können und der Therapeut und die Therapie von dem Patienten als Ausdruck eines Objektverlustes entwertet werden.

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

Vorbemerkung Auch die therapeutische Arbeit in der Gruppe konzentriert sich auf den Bereich des Zwischenmenschlichen, auf interpersonelles Geschehen und auf die Gestaltung von Beziehungen und deren Regulierung. Ein großer Teil der Themen, die im allgemeinen Teil und in den Kapiteln zur psychoanalytisch-interaktionellen Einzeltherapie dargestellt wurden, sind auch für die psychoanalytisch-interaktionelle Arbeit in der Gruppe wichtig. Das betrifft die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung einschließlich seiner Aufklärung über die Diagnose. Weiter betrifft das die ausführliche Aufklärung des Patienten über die Art der Behandlung und über die Gründe, die aus Sicht des Therapeuten für diese Behandlung sprechen. Ebenso sind Rahmenbedingungen für die Behandlung in der Gruppe mindestens so wichtig wie für die Einzeltherapie; sie müssen für die therapeutische Arbeit in der Gruppe um einige besondere Vereinbarungen ergänzt werden. Schließlich gleichen die behandlungstechnischen Mittel und Vorgehensweisen, auf die sich der Therapeut in der Einzeltherapie stützt, in ihren Grundzügen denen, die der Therapeut bei der therapeutischen Arbeit in der Gruppe verwendet. So ist der antwortende Modus für die Arbeitsweise des Therapeuten in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppe ebenso charakteristisch wie für die Einzeltherapie. Hier wie dort bietet sich der Therapeut als reale andere Person, als präsentes, erreichbares Gegenüber, als Teilnehmer am interaktiven Austausch an, dabei immer aufmerksam für das manifeste Geschehen im Hier und Jetzt des Zusammenseins der Anwesenden in der Gruppe. Und auch die Art und Weise, wie der Therapeut sich im Kontext der Gruppe äußert, wenn er sich auf den antwortenden Modus stützt, unterscheidet sich nicht grundlegend von der Art und Weise, wie er in der Einzeltherapie am therapeutischen Gespräch teilnimmt. Für diese Themen sei auf die entsprechenden Kapitel im ersten Teil ver-

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

wiesen, sie werden hier nicht noch einmal ausführlich aufgegriffen. Therapeuten, die das Handbuch ausschließlich für die Arbeit mit Gruppen verwenden wollen, sollten sich im Teil zur Einzeltherapie mit den folgenden, auch für die Gruppentherapie wichtigen Themen vertraut machen, bevor sie sich mit den Ausführungen zur psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie beschäftigen: – einleitender Abschnitt vom Kapitel »Die psychoanalytischinteraktionelle Behandlungstechnik« (= grundlegende Voraussetzungen für die Behandlung) – »Aufklärung des Patienten über die Diagnose und über die Behandlung« – »Rahmenbedingungen« (»Schwerpunkt der Behandlung«, »Suizidales und selbstverletzendes Verhalten«, »Umgang mit Medikamenten«, »Dauer der Behandlung«, »Verstehen Patient und Therapeut die vereinbarten Bedingungen gleich?« »Die Vereinbarung verbindlicher Rahmenbedingungen misslingt«) – »Die Haltung des Therapeuten« – »Beziehungsstörungen im therapeutischen Gespräch« – »Der antwortende Modus (»Antwortende Interventionen und Toleranzgrenzen«, »Antworten und Antizipation habituellen Verhaltens«, »Motivation zur Behandlung«, »Antworten und das Primat der Progressionsorientierung«, »Funktionen von Interventionen im antwortenden Modus«) – »Der Therapeut als virtueller Interaktionsteilnehmer (s. Kap.) – »Zum therapeutischen Umgang mit Affekten« (»Wahrnehmung und Differenzierung von Gefühlen«, »Ausdruck von Gefühlen«) – »Zum Primat der Selbstregulierung« – »Besondere therapeutische Probleme« (»Schweigen des Patienten und Initiative zum Kontakt«, »Schweigen während der Behandlung«, »Affektives und impulsives Verhalten«, »Negative Übertragungen«, »Suizidalität«, »Zum Umgang mit Träumen«, »Zur Beendigung der Behandlung«)

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Psychoanalytisch-interaktionelle Arbeit in der Gruppe

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Psychoanalytisch-interaktionelle Arbeit in der Gruppe Das Geschehen in der therapeutischen Gruppe wird von allen Anwesenden konstituiert. Wie jede soziale Realität ist, was in der Gruppe vor sich geht, nicht das Produkt individuellen Verhaltens und wird nicht durch das Verhalten von Einzelnen bestimmt. Mehr-PersonenSituationen werden immer gemeinsam von den beteiligten Akteuren im Zuge ihrer Interaktion hervorgebracht. Wie Beziehungen in therapeutischen Gruppen gestaltet werden und welche Erfahrungen die Patienten dort im Verhältnis zueinander machen, ist deshalb nicht nur auf das Erleben und Verhalten der je einzelnen Patienten in der Gruppe zurückzuführen, sondern wird im Vollzug ihres Verhaltens zwischen den anwesenden Gruppenmitgliedern gestaltet. Jedes individuelle Verhalten in der Gruppe ist Verhalten in Anwesenheit von anderen und im Kontext des Verhaltens von anderen, die ihrerseits mit ihrem nachfolgenden Verhalten zu diesem vorangegangenen Verhalten Stellung nehmen. So gilt, was für jede soziale Situation zutrifft, auch für die Gruppentherapie: Das Verhalten jedes Patienten ebenso wie das Verhalten des Psychotherapeuten muss immer im Kontext des Verhaltens der anderen Anwesenden gelesen werden und erschließt sich in seinem Sinn nur innerhalb dieses jeweiligen Kontextes. Unerfahrene Gruppentherapeuten konzentrieren sich manchmal ganz auf je individuelles Verhalten und Erleben, zumal dann, wenn das Verhalten eines einzelnen Patienten gegenüber dem Verhalten von anderen besonders auffällt, etwa dadurch, dass ein Patient sich in den Vordergrund drängt, den überwiegenden Teil der zur Verfügung stehenden Zeit für sich in Anspruch nimmt, andere Patienten in der Gruppe scheinbar nicht zu Wort kommen lässt oder das Gruppengeschehen auf andere Weise zu dominieren scheint. Dabei wird leicht übersehen, dass ein einzelner Gruppenteilnehmer sich nicht ohne Weiteres in den Vordergrund drängen, verfügbare Zeit für sich beanspruchen und andere dominieren kann, wenn nicht die anderen Anwesenden durch ihr Verhalten zulassen, dass eben das geschieht. Auch wenn bei vordergründiger Betrachtung nur ein einzelner Patient aktiv ist, während alle anderen passiv und schweigsam zu bleiben scheinen, ist die Aktivität dieses Einzelnen so nur angesichts der scheinbaren Passivität der anderen möglich, deren Schweigsam-

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

keit tatsächlich eine die Aktivität des Einzelnen mit hervorbringende und gestaltende Schweigsamkeit ist. Individuelles Verhalten kann die interpersonellen Verhältnisse in einer Gruppe somit nur insoweit bestimmen, wie dieses Verhalten durch das Verhalten der anderen Anwesenden mitgestaltet wird – beispielsweise dadurch, dass die übrigen Gruppenteilnehmer den Patienten, der solches Verhalten zeigt, gewähren lassen, ihn vielleicht sogar durch subtile Signale unterstützen, ihrerseits aus dem scheinbar bestimmenden und andere dominierenden Verhalten Gewinn ziehen oder vielleicht die Rolle entschädigungsberechtigter Opfer für sich in Anspruch nehmen. Insofern bestimmt nicht dieser einzelne Patient, was in der Gruppe geschieht, sondern auch in diesen Fällen wird das Geschehen, dass auf den ersten Blick nur Ausdruck der Dominanz eines Einzelnen zu sein scheint, von allen Patienten in der Gruppe mit konstituiert. Merke: Was in einer therapeutischen Gruppe geschieht, ist nie nur Ergebnis des Verhaltens von einzelnen Patienten, sondern wird von den in der Gruppe anwesenden Patienten gemeinsam hervorgebracht. Nicht ein einzelner Patient kann bestimmen, was in der Gruppe geschieht, sondern jedes individuelle Verhalten ist immer Verhalten im Kontext des Verhaltens der anderen Anwesenden.

Die Grundeinheit sozialer Interaktion Erfahrungen des In-Beziehung-zu-anderen-Seins gehen weder in psychischen Dispositionen auf, noch sind sie nur aus psychischen Dispositionen, aus bewusstem und unbewusstem Erleben zu erklären (vgl. Simmel, 1908). Das Soziale, Interaktion, ist nicht das Verhalten eines Einzelnen, der dieses Verhalten aus sich heraus an den Tag legt und sich einem anderen gegenüber irgendwie benimmt, sondern »Beziehung ist immer ein Produkt doppelter Beschreibung [. . . ] Eine Beziehung existiert nicht innerhalb einer einzelnen Person« (Bateson, 1993, S. 165). Die Grundeinheit sozialen Handelns ist somit nicht das je individuelle Verhalten eines Einzelnen, auch nicht das individuelle Verhalten eines Einzelnen plus dem individuellen Verhalten eines einzelnen Anderen. Vielmehr wird soziale Interaktion in Dreierschritten vollzogen (vgl. Heritage, 1984):

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Psychoanalytisch-interaktionelle Arbeit in der Gruppe

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– A tut etwas; – B reagiert auf A’s Verhalten und zeigt damit die Bedeutung von A’s Verhalten an, mit anderen Worten: B’s Verhalten in Antwort auf A’s Verhalten stellt dar, wie B A’s anfängliches Verhalten interpretiert; – A reagiert wiederum auf B’s Verhalten und nimmt mit seinem Verhalten dazu Stellung, wie B A’s anfängliches Verhalten interpretiert hat. Interaktion ist Verhalten, das in den Kontext des Verhaltens von anderen in ein semiotisches Feld eingebunden ist (Goodwin, 2000). Auch soziale Normen, interpersonelle Beziehungen und Gruppen existieren nicht jenseits des Verhaltens derer, die in Gruppen zusammen sind. Wie gesellschaftliche Verhältnisse ganz allgemein werden auch Normen, Beziehungen oder Gruppen immer und immer von Neuem durch das Verhalten der Anwesenden im Umgang miteinander erzeugt. Diese in Interaktion vollzogene Hervorbringung von sozialer Wirklichkeit verläuft auch in therapeutischen Gruppen jenseits bewussten Erlebens und intendierten Verhaltens.

Konzepte zum Verständnis von Mehr-Personen-Situationen Wie die Patienten sich in der Gruppe mit ihrem Verhalten zueinander ins Verhältnis setzen und wie sie damit ihre interpersonellen Beziehungen gestalten und regulieren, ist in der psychoanalytischinteraktionellen Gruppentherapie der zentrale Schwerpunkt der therapeutischen Arbeit. In der aus der Interaktion hervorgehenden sozialen Welt der Gruppe kommt das implizite Beziehungswissen der Patienten zur Geltung. Nicht die Frage, wie durch die interpersonellen Prozesse hindurch intrapsychische Verhältnisse zur Darstellung kommen, steht hier im Fokus der therapeutischen Arbeit, sondern die Erfahrungen des In-Beziehung-zu-anderenSeins, die im Vollzug der Interaktion zwischen den Anwesenden in der Gruppe und zwischen Patienten und Gruppentherapeuten in Szene gesetzt werden. Mit der Fokussierung der therapeutischen Arbeit in der Gruppe auf das In-Beziehung-zu-anderen-Sein müssen einige Konzepte und therapeutische Techniken modifiziert und für die Bedingungen der

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

Mehr-Personen-Situation angepasst werden. Darüber hinaus werden für die therapeutische Arbeit in der Gruppe einige ergänzende Konzepte und behandlungstechnische Mittel benötigt. Um den besonderen Bedingungen therapeutischer Gruppen Rechnung zu tragen, müssen solche Konzepte die Entfaltung von interpersonellem Geschehen zwischen mehreren Anwesenden und die gemeinsame Gestaltung von Beziehungen in der Gruppe erfassen können. Sie müssen sich dafür eignen, individuelles Erleben undVerhalten im Kontext des Mehr-Personen-Geschehens lesen zu können, bezieht der Gruppentherapeut sich mit seinen Interventionen im antwortenden Modus doch vornehmlich auf das Verhalten der Anwesenden in ihrem Verhältnis zueinander und auf ihre gemeinsam konstituierten interpersonellen Beziehungen. Im symbolischen Interaktionismus, einer traditionsreichen Entwicklung in der Soziologie und Mikrosoziologie sozialer Interaktion (z. B. Wilson, 1973), finden sich eine Reihe von Begriffen und Konzepten, die sich in Ergänzung zu psychodynamischen Konzepten für die psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie anbieten, beispielsweise soziale Interaktion, »Definition der Situation«, Verhaltenserwartung bzw. soziale Norm oder soziale Rolle. Damit können wichtige Aspekte des Mehr-Personen-Geschehens in der therapeutischen Gruppe in den Blick genommen werden. Sie verweisen zugleich auf die Bedeutung nichtsprachlich vermittelten sozialen Handelns und damit auch auf die Bedeutung subtiler Details des interaktiven und interpersonellen Geschehens. Mit diesen Begriffen und Konzepten, die sich in Ergänzung zu psychodynamischen Konzepten auf soziales Handeln und auf Mikrointeraktion richten, verfügt der Gruppentherapeut über ein begriffliches Instrumentarium, mit dessen Hilfe die therapeutische Arbeit auf die Schnittstellen von Erleben des Einzelnen und Verhalten einer Mehrzahl von Personen sowie deren Zusammenspiel ausgerichtet werden kann und die deshalb für die Praxis der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie von großem Wert sind. Die Definition der Situation Sich bei der therapeutischen Arbeit vor Augen zu halten, dass Interaktion in Gruppen immer Verhalten in Anwesenheit einer Mehrheit von anderen und im Kontext des Verhaltens einer Mehrheit von anderen ist, ist für Psychotherapeuten manchmal eine ungewohnte

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Psychoanalytisch-interaktionelle Arbeit in der Gruppe

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Perspektive. Sie neigen dazu, das Geschehen in der Gruppe von der Subjektivität der je einzelnen Anwesenden her verstehen zu wollen. Ein Konzept, das nützlich ist, um das im interaktiven Austausch konstituierte Gesamtgeschehen in der therapeutischen Gruppe zu erfassen, ist das der »Definition der Situation« (Thomas, 1966). »Definition der Situation« meint, dass die Bedeutung, die eine soziale Situation hat, nicht eine der Situation selbst innewohnende Eigenschaft ist, sondern von den Anwesenden der Situation zugeschrieben und in diesem Sinne definiert wird. An »Definitionen der Situation« vermag der Gruppentherapeut deshalb die je individuellen Bedeutungen zu identifizieren, die einzelne Teilnehmer der aktuellen Situation in der Gruppe zuschreiben möchten, ebenso wie die Bedeutungen, die eine augenblickliche Situation für eine Mehrheit oder für die Gesamtgruppe hat. So geben sich in Situationsdefinitionen wichtige Aspekte des interpersonellen Geschehens in der Gruppe oftmals frühzeitig zu erkennen. Die Grundregel für die Gruppe und die Offenheit der Situation Von außen betrachtet weisen therapeutische Gruppen ein hohes Maß an Konstanz auf: die Patienten sitzen im Kreis zusammen und reden oder schweigen; allenfalls wechseln sie von einer Stunde zur nächsten ihre Plätze, und oftmals geschieht selbst das nicht. Für die gemeinsame therapeutische Arbeit wird erwartet, dass die Patienten sich möglichst unzensiert äußern und möglichst freimütig mitteilen, was immer ihnen in den Sinn kommt, was sie beobachten und denken, gleich, ob sich das auf sie selbst oder auf andere Anwesende bezieht – ihre Gefühle, Gedanken und Fantasien. Handlungsimpulsen soll nicht nachgegeben werden, das Geschehen in der Gruppe soll sich darauf beschränken, sich mit Worten zu äußern. Indem die Patienten ihre Äußerungen so wenig zensieren, wie ihnen das möglich erscheint, ist in keinem Moment vorhersehbar, was im nächsten geschieht. Die Situation in der Gruppe ist offen: Was im Folgenden zur Sprache kommt, wie die anderen sich verhalten werden, wie man sich zueinander ins Verhältnis setzen wird, ist nicht vorhersagbar. Niemand in der Gruppe kann vorerst aus irgendwelchen Zeichen Rückschlüsse ziehen, die ihm sagen, »was hier gerade los ist«, wie man sich verhalten soll und mit welchem Verhalten der anderen zu rechnen ist.

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

Die Empfehlung des Gruppentherapeuten, sich möglichst unzensiert zu äußern, bedeutet, dass jeder Patient in der Gruppe damit rechnen muss, dass alle anderen sich ebenfalls unzensiert äußern. Damit ist zwangsläufig unsicher, welchen Erwartungen man in der Gruppe folgen kann und soll und welchen Erwartungen das Verhalten der anderen Anwesenden folgen wird. Kein Patient in der Gruppe kann vorerst auf eine Geschichte zurückblicken, die er mit anderen teilt. Noch gibt es keine gemeinsamen Orientierungen oder Habitualisierungen des wechselseitigen Verhaltens im Verhältnis zueinander. Keiner der Anwesenden kann wissen, was in der Gruppe als Nächstes zur Sprache gebracht und wie sich in der Folge die Verhältnisse untereinander entwickeln werden. Kein Gruppenteilnehmer kann sicher sein, wie die Beziehungen und das Miteinander in der Gruppe sich gestalten und entwickeln werden. In diesem Sinn ist die Situation in der Gruppe offen. Je mehr Erfahrungen die Anwesenden im Umgang miteinander haben, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die anfängliche Unsicherheit verringert. Nach einiger Zeit kann man sich zumindest auf schmalen Pfaden einigermaßen sicher bewegen, soweit man sich über einige wechselseitige Erwartungen verständigt hat. So werden die Wege, auf denen man geht, von Stunde zu Stunde sicherer, weil das wechselseitige Verhalten relativ vorhersehbarer wird und Situationsdefinitionen bis auf Weiteres Unsicherheit reduzieren und Orientierung vermitteln. Aber auch das ist immer nur vorläufig der Fall, bleibt doch die Situation in der Gruppe angesichts der weiterhin für alle Patienten gültigen Aufforderung, möglichst keine Zensur auszuüben und sich uneingeschränkt zu äußern, grundsätzlich weiterhin offen. Was in einer nächsten Stunde zur Sprache gebracht wird, kann zu neuen Unsicherheiten führen; die Verhältnisse zwischen den Anwesenden können sich wieder verändern und schwieriger werden, so dass erneut offen ist, was im Weiteren geschehen und wie die Situation in der Gruppe gestaltet wird. Merke: Weil die Patienten in der Gruppe sich so wenig zensiert wie möglich äußern sollen, kann keiner der Anwesenden in der Gruppe wissen, wie sich das Miteinander im nächsten Moment gestalten und entwickeln wird. In diesem Sinn ist die Situation in der Gruppe offen.

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Psychoanalytisch-interaktionelle Arbeit in der Gruppe

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Explizite und implizite Situationsdefinitionen Situationen in therapeutischen Gruppen werden nicht unbedingt ausdrücklich »definiert«. Nur ausnahmsweise geben die Patienten mit Worten zu verstehen, wie sie die momentane Situation wahrnehmen und erleben und welche Verhaltenserwartungen gelten sollen. Stattdessen zeigen sie sich mit ihrem Verhalten, wie sie die augenblickliche Situation verstehen und handhaben wollen; die Definition der Situation ist dann ein impliziter Aspekt der Interaktion zwischen den Anwesenden in der Gruppe. Die Patienten in der Gruppe machen sich Situationsdefinitionen auf ganz unterschiedliche Weise füreinander kenntlich: Manchmal vergleichen einzelne oder auch mehrere Teilnehmer die gegenwärtige Situation in der Gruppe mit anderen Situationen und bringen damit indirekt zum Ausdruck, wie sie das derzeitige Miteinander in der Gruppe erleben. Wenn es etwa heißt, dass es in der Gruppe zugehe, wie in einer »Talkshow«, oder wenn der Gruppentherapeut als »Oberlehrer« tituliert wird, können solche »Definitionen« für den Gruppentherapeuten wichtige Hinweise auf den Charakter der Beziehungen in der Gruppe sein. So mag sich herausstellen, dass die Beziehungen momentan den Charakter dyadischer Beziehungen haben und haben sollen, vergleichbar denen in einer Talkshow, wo der Talkmaster jeweils nur mit einem seiner Gäste spricht, während die anderen Anwesenden mehr oder weniger schweigend zuhören; oder er wird dafür aufmerksam, dass die Patienten sich in dieser Phase möglicherweise mehrheitlich einer zwiespältig erlebten Autorität (»Oberlehrer«) unterwerfen, gegen die offen Stellung zu beziehen sie nicht wagen. Wenn Situationen in der Gruppe auf diese Weise ausdrücklich definiert werden, zeigt sich das manchmal in Form von Vergleichen mit Situationen, die den Anwesenden aus ihrem sozialen Alltag vertraut sind. Gelegentlich geschieht das mit einem ironischen Unterton, mit dem Distanz zu dem aktuellen Geschehen gesucht wird. Beispiele: In einer Gruppe, bei der Beobachter anwesend waren, meinte ein Gruppenteilnehmer bald nach Beginn: »Das ist ja wie im Theater hier«. In der Folge verhielten sich mehrere Teilnehmer in Übereinstimmung mit dieser Situationsdefinition tatsächlich höchst rollenhaft,

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

als müssten sie sich vor einem großen Publikum zeigen und ihren Part besonders gekonnt spielen. In einer anderen Gruppe sprachen einige Teilnehmer angeregt über Mitpatienten von einer anderen Station. Sie hatten sichtlich Spaß daran zu tratschen. Nach einiger Zeit meinte eine Teilnehmerin unzufrieden und mit vorwurfsvollem Ton, das Geschehen in der Gruppe sei doch »Kaffeeklatschgerede«, eine Situationsdefinition im Dienst der moralischen Infragestellung des Verhaltens der anderen Gruppenteilnehmer. Auf die Frage einer Mitpatientin, was sie denn damit meine, gab sie zur Antwort, dass »dieses Reden über Abwesende« doch »ziemlich mies« sei, und bekräftigte damit ihre mit moralischen Implikationen aufgeladene Definition der aktuellen Situation, mit der das Verhalten der anderen Teilnehmer sanktioniert und unterbunden werden sollte. Tatsächlich schienen sich mehrere Gruppenteilnehmer der Kritik der Patientin zu beugen, und statt ihr eben noch lustvolles Tratschen fortzusetzen, verfielen sie in Schweigen, blickten zu Boden und schienen im nächsten Schritt »ernsthaft arbeiten« zu wollen. Das eine oder andere Thema wurde gestreift, aber bald wieder fallengelassen. Gelegentlich fiel noch eine »Tratschbemerkung«, von verstecktem Lachen begleitet, ohne dass der gemeinsame Tratsch aber wieder aufgenommen wurde. Bald wurde das Gespräch in der Gruppe zäh, und erst in der folgenden Sitzung fanden die Patienten in der Gruppe eine Antwort auf die Frage, ob man denn über Abwesende reden dürfe oder nicht. Erst viel später konnten einige Teilnehmer sagen, wie viel Spaß sie am gelegentlichen Tratschen fänden.

Explizite Definitionen der Situation sind nicht einfach ein mehr oder weniger willkürlich gewähltes sprachliches Etikett, das einer momentanen interpersonellen Situation in der Gruppe beliebig angeheftet und ebenso beliebig wieder entfernt werden könnte.Vielmehr kommt in Situationsdefinitionen der Versuch zum Ausdruck, die potentiell immer offene Gruppensituation in eine relativ vertraute Situation umzuwandeln, um auf diese Weise Unsicherheit zu reduzieren und sich über wechselseitige Verhaltenserwartungen zu verständigen: Man soll sich eben so verhalten, wie man sich in einer Situation wie der so definierten verhalten würde. Damit haben Definitionen der Situation auch normative Implikationen. Sie verweisen auf die potentielle Geltung bestimmter sozialer Normen, die für solche Situationen für angemessen gehalten werden. Wenn die sprachlichen Äußerungen nur wenig davon verraten, wie die gegenwärtige Situation definiert wird, kann es sein, dass die

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Gruppenteilnehmer umso deutlicher in ihrem Verhalten zu erkennen geben, wie sie das aktuelle Geschehen erleben und welche Bedeutung das Miteinander für sie momentan hat und haben soll. Vielleicht benehmen sie sich in der Gruppe, als säßen sie tatsächlich in einer Schulstunde einem »Oberlehrer« gegenüber, ohne das aber ausdrücklich zu sagen; oder ihr Verhalten mag in gewisser Hinsicht dem von Teilnehmern an einer Talkshow ähneln, als säßen sie tatsächlich einem Moderator gegenüber, ohne dass zu irgendeinem Zeitpunkt ausdrücklich die Rede davon gewesen ist. Statt die Situation explizit zu definieren, stellen die Gruppenmitglieder mit ihrem Verhalten dar, dass die momentane Situation für sie wie eine Schulstunde oder wie eine Talkshow oder wie eine Bühnenaufführung ist: Die Definition der Situation wird implizit im interaktiven Vollzug zur Geltung gebracht. Immer enthält das Verhalten jedes einzelnen Gruppenteilnehmers eine Aussage darüber, wie die augenblickliche Situation gesehen wird und was diese Situation bedeutet und bedeuten soll, und das Gleiche gilt für das Verhalten aller anderen Anwesenden in der Gruppe. Indem sie sich fortlaufend zueinander verhalten und sich mit ihrem Verhalten vor Augen führen, wie jeder die momentane Situation definiert, wird die Bedeutung von Situationen in der Gruppe, das, was eine jeweilige Gruppensituation ist, »verhandelt«. Ausdrücklich wird über Situationsdefinitionen, darüber, »was hier gerade los ist«, oft erst dann gesprochen, wenn dieser Prozess des impliziten Verhandelns ins Stolpern gerät, eine Situation besonders ungewöhnlich ist und die Gruppenmitglieder keine stillschweigende Übereinkunft erzielen können. Manchmal scheinen alle Anwesenden in der Gruppe in einer Definition der Situation übereinzustimmen, dann wieder werden mehrere und miteinander nicht vereinbare Situationsdefinitionen geltend gemacht, und es entscheidet sich erst im weiteren Fortgang der Gruppe, welche Situationsdefinition sich durchsetzt. Situationsdefinitionen können sich im Verlauf einer einzigen Gruppensitzung verändern. Manchmal werden Situationsdefinitionen aber auch über lange Zeit hinweg aufrechterhalten. Das ist meist dann der Fall, wenn eine Situationsdefinition für die Mehrheit der Gruppenteilnehmer Vorteile mit sich bringt, etwa wenn vermieden werden soll, anstehende Konflikte und Probleme zur Sprache zu bringen und auszutragen.

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

Merke: Was eine jeweilige Situation für die Anwesenden bedeutet, ist nicht der Situation selbst eingeschrieben, sondern wird von den Anwesenden definiert. Die Teilnehmer an der Gruppe verständigen sich ausdrücklich oder mit ihrem nichtsprachlichen Verhalten darüber, was eine augenblickliche Situation für sie bedeutet. Definitionen der Situation sind eine Antwort auf die grundsätzliche Offenheit der Situation. Die Teilnehmer handeln auf der Grundlage solcher Situationsdefinitionen.

Sanktionen Die Patienten in der therapeutischen Gruppe zeigen sich mit ihrem Verhalten, wer sie füreinander sind und sein wollen; im Zuge ihres kommunikativen Verhaltens im Verhältnis zueinander gestalten sie ihr Zusammensein und ihre Beziehungen. Im Prozess der Abwicklung ihrer Interaktion verständigen sie sich – häufig implizit – über eine Vielzahl von Fragen und Themen, darüber, welches Verhalten in der Gruppe erwünscht ist, welches Verhalten möglichst unterbleiben sollte, welche Themen als wichtig und welche als unwichtig erachtet werden, wie man sich zueinander in Beziehung setzen will, wie viel Autorität der Gruppenleiter hat, welche normativen Regulierungen für das Miteinander in der Gruppe gelten sollen u. a. m. Manchmal werden Verhaltensweisen von Einzelnen oder von einer Mehrheit von Gruppenmitgliedern missbilligt, anderes Verhalten wird begrüßt, wieder anderes Verhalten wird von einigen Patienten in der Gruppe scheinbar gleichgültig und ohne erkennbare Reaktion hingenommen, von anderen nachdrücklich kritisiert und findet vielleicht bei einem weiteren Teil der Gruppe Zustimmung. Auch wenn sie das nicht absichtlich tun, so nehmen die Patienten in der Gruppe doch unvermeidlich zueinander und zu ihrem Verhalten, das sie in der Gruppe zeigen, Stellung. Und auch, wenn das nicht ausdrücklich geschieht, ist jedes Verhalten in der Gruppe immer auch eine Stellungnahme zu vorangegangenem Verhalten. Mit zustimmendem oder unterstützendem Verhalten auf der einen Seite, missbilligendem und ablehnendem Verhalten auf der anderen, wird in der Gruppe zur Geltung gebracht, welches Verhalten erwünscht ist und welches Verhalten möglichst unterbleiben soll. In diesem Sinn hat zustimmendes und missbilligendes Verhalten die Funktion einer – positiven oder negativen – Sanktion. Sanktionen können als Mittel verstanden werden, um Verhaltenserwartungen

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Psychoanalytisch-interaktionelle Arbeit in der Gruppe

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durchzusetzen. Mit Hilfe von Sanktionen werden soziale Normen verbindlich gemacht und schon etablierten normativen Regulierungen Nachdruck verliehen. Verhalten hat nicht per se eine positiv oder negativ sanktionierende Funktion. Das Verhalten eines Gruppenteilnehmers erlebt der eine Mitpatient als Kritik, ein anderer Patient behandelt das gleiche Verhalten eher wie eine neutrale Meinungsbekundung; ein Verhalten, das der eine als zustimmende Unterstützung wahrnimmt, fasst ein anderer als versteckt ironische Übertreibung auf. Ob ein Verhalten die Funktion einer Sanktion hat, ist deshalb nicht ein Merkmal dieses Verhaltens selbst, sondern wird auch von dem Adressaten bestimmt, an den sich solches Verhalten richtet. In diesem Sinn werden auch Sanktionen interaktiv produziert bzw. koproduziert. Beispiel: Nachdem ein Teilnehmer in einer Weiterbildungsgruppe von einem Ereignis berichtet hatte, hatten zwei Gruppenmitglieder das kommentiert, was den Erzähler wiederum veranlasst hatte, auf einen der beiden Kommentare einzugehen. Der andere Gruppenteilnehmer meinte nach einer Weile zu dem Erzähler: »Schade, dass du auf meine Bemerkung nicht eingegangen bist.« Daraufhin erwidert der angesprochene Teilnehmer dem Erzähler: »Ja, tatsächlich war mir der Hinweis von Susanne im Moment wichtiger.« Zu einer ganz ähnlichen Konstellation war es in einer therapeutischen Gruppe mit überwiegend strukturell gestörten Patienten gekommen. Nachdem ein Patient von einer Begegnung berichtet hatte, zu der es am Vortag außerhalb der Gruppe gekommen war, hatte ein Mitpatient eine kurze kommentierende Bemerkung dazu gemacht. Der Erzähler war darauf nicht eingegangen. Als der Mitpatient von dem der Kommentar gekommen war, daraufhin meinte: »Du hast ja zu dem, was ich dir dazu gesagt habe, gar nichts gesagt«, verstummte der Erzähler mit sichtlich gekränktem Ausdruck und ließ nun auch diese Bemerkung seines Mitpatienten unkommentiert. Als sein Verhalten später noch einmal angesprochen und er gefragt wurde, warum er denn gar nichts mehr gesagt habe, meinte er in gereiztem Tonfall, dass »man hier ja sofort abgekanzelt« werde, wenn man etwas von sich berichte.

In dem ersten Fall behandelt der Erzähler den Ausdruck von Enttäuschung eines Gruppenmitglieds (»Schade, dass du . . . nicht eingegangen bist«) wie eine Mitteilung, nicht wie eine Sanktion. In dem anderen Fall behandelt der Erzähler die Bemerkung eines Mitpati-

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

enten, dass er auf ihn nicht eingegangen sei, als kränkende Kritik und damit als nachhaltige negative Sanktion. In therapeutischen Gruppen mit strukturell gestörten Patienten wird offen missbilligendes oder eindeutig zustimmendes Verhalten häufig vermieden. Das ist zumal dann so, wenn zu erwarten ist, dass das ablehnende oder das affirmative Urteil von der Meinung der Mehrheit in der Gruppe abweicht oder unsicher ist, ob das der Fall sein wird. Verhalten wird manchmal ausdrücklich begrüßt und bekräftigt, wenn es mit einer gültigen Norm konform geht. Normkonformes Verhalten wird aber auch aufrechterhalten, ohne dass es mit positiven Sanktionen ausdrücklich gestützt wird. Erst wenn es zu abweichendem Verhalten kommt, treten Sanktionen in Kraft. Auf der anderen Seite muss der Therapeut in Gruppen mit strukturell gestörten Patienten, insbesondere mit Patienten, die zu impulsivem Agieren neigen, damit rechnen, dass abweichendes Verhalten massiv negativ sanktioniert und heftig attackiert wird. Das empörte oder entwertende Verhalten, mit dem der Abweichler zur Ordnung gerufen werden soll, fällt manchmal dann besonders vehement aus, wenn das sanktionierende Verhalten vordergründig damit legitimiert werden kann, im Dienst einer »guten Sache« zu stehen. Nicht nur verbale Äußerungen können sanktionierende Kraft haben. Auch nichtsprachliches Verhalten kann positiv oder negativ sanktionierende Wirkung haben, unter Umständen nachhaltiger als Worte sie haben können. Nichtsprachliche Sanktionen können subtil sein. Insbesondere von negativen Sanktionen wird oft nur versteckt Gebrauch gemacht. Das ist vor allem dann der Fall, wenn es in der Gruppe normativ untersagt ist, sich manifest kritisch und missbilligend zu äußern. Die sanktionierende Wirkung von sprachlichem und nichtsprachlichem Verhalten ist unabhängig von seiner »Lautstärke«. Ein nur scheinbares Auf-den-anderen-Eingehen, ein flüchtiger missbilligender Blick oder schweigendes Nicht-Beachten können eine wirksamere negative Sanktion sein als lauthals vorgetragene ausdrückliche Ablehnungen. Beispiele: In einer therapeutischen Gruppe war es seit einiger Zeit wie selbstverständlich geworden, dass jeder Teilnehmer, der von einer eigenen Schwierigkeit oder einem eigenen Problem berichtete, mit ungeteilter Aufmerksamkeit und vielfältigen Hinweisen und Ratschlägen der

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anderen Anwesenden rechnen konnte. Als wieder einmal ein Patient schilderte, wie schlecht er sich bei einem abendlichen Telefonat von seiner Partnerin behandelt gefühlt hatte, verstieß eine Teilnehmerin gegen diese Gruppennorm, indem sie zu diesem Patienten gewandt meinte, sie wolle ihm doch einmal sagen, dass sie sich von seinen ständigen Klagen über seine Partnerin »ziemlich genervt« fühle. Falls er auch nur annähernd so klagsam der Partnerin gegenüber sei, wie er sich hier zeige, könne sie sich gut vorstellen, dass seine Partnerin sich nicht gerade darüber freue, mit ihm zu reden. Daraufhin kam es in der Gruppe zu minutenlangem Schweigen. Dann wurde die Kritikerin erst langsam, dann immer mehr Zielscheibe von negativen Sanktionen, die von Unverständnis signalisierendem Kopfschütteln über manifeste Empörung über ihr vermeintlich uneinfühlsames Verhalten gegenüber dem Mitpatienten, dem es doch nach seinem Telefonat offenkundig nicht gut ging, bis hin zu der »Deutung« reichten, dass sie da ja möglicherweise selbst ein Problem habe, wenn sie sich ihrem Mitpatienten gegenüber dermaßen verständnislos zeige. Zu einer anderen therapeutischen Gruppe, in der eine Mehrheit der Patienten sehr kontrolliert und scheinbar gefühlsneutral miteinander umging, war eine Patientin neu hinzugekommen, die über Wochen hinweg in einer psychiatrischen Klinik medikamentös behandelt worden war, der es ein dringendes Anliegen war zu klären, warum es für sie so schwierig war, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen, und warum vor allem andere nicht den gleichen engen Kontakt zu ihr wollten, den sie ihrerseits suchte. Sie hatte ihren Mitpatienten auf eine ihr eigene, etwas unbeholfene Art mitgeteilt, dass es ihr sehr wichtig sei, das in der Gruppe und mit Hilfe der Gruppe herauszufinden. In der folgenden Gruppensitzung meinte sie in Richtung auf drei Mitpatienten, die ihrerseits engeren Kontakt miteinander hatten, sie würde gerne mehr mit ihnen zu tun haben. Statt ausdrücklich zu dem Anliegen der Patientin Stellung zu nehmen, tauschten die Patienten verstohlene Blicke aus und schwiegen. Darauf später angesprochen meinten alle drei, sie hätten ihre Mitpatientin nicht kränken wollen. Als die ihrerseits zu erkennen gab, dass das Schweigen für sie weitaus belastender gewesen sei und sie sich mehr zurückgewiesen gefühlt habe, als eine ablehnende ausdrückliche Stellungnahme das vermocht hätte, stellte sich heraus, dass es für die drei schweigenden Patienten ein erhebliches Problem war, an sie herangetragene Bedürfnisse – in diesem Fall den Wunsch der Patientin – zu versagen und sich damit als »böse« zu zeigen.

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Merke: In der Gruppe sollte der Therapeut darauf achten, wie die Gruppenteilnehmer mit Hilfe von positiven und negativen Sanktionen gegenüber bestimmten Verhaltenszügen soziale Normen in dieser Gruppensituation durchzusetzen oder die Geltung schon etablierter Normen aufrechtzuerhalten versuchen. Missbilligende Stellungnahmen kommen häufig in nichtsprachlichem Verhalten zum Ausdruck. Soziale Normen können in der Gruppe relativ konstant bleiben, Normen können sich aber auch verändern und weiterentwickeln.

Soziale Normen Soziale Normen sind wechselseitige Verhaltenserwartungen. Sie machen das Verhalten im sozialen Miteinander relativ vorhersagbar und vermitteln damit Orientierung und Sicherheit. Über soziale Normen verständigen sich die Teilnehmer in der Gruppe im Zuge ihres Miteinander-Umgehens. Weil aber alle Anwesenden in der Gruppe aufgefordert sind, sich möglichst unzensiert und freimütig zu äußern, lässt sich nicht sicher vorhersagen, welche Normen in der Gruppe Gültigkeit erlangen werden. Vor dem Hintergrund der Offenheit der Situation kann keiner der Anwesenden ganz sicher sein, welches Verhalten jeder der anderen Anwesenden im nächsten Moment zeigen wird. Gegenüber dieser ständig präsenten Unvorhersehbarkeit des Geschehens schränken gemeinsame Verhaltenserwartungen die Offenheit der Situation ein. Verhalten wird in einer Situation so lange relativ vorhersagbar, wie diese Verhaltenserwartungen gelten. Halten die Anwesenden in der Gruppe die Verhaltenserwartungen für nicht mehr angemessen oder tauchen neue Umstände und Situationen auf, für die es bislang keine normativen Regelungen gibt, müssen neue soziale Normen entwickelt werden. Vor dem Hintergrund der immer gegenwärtigen Möglichkeit von Unvorhersagbarkeit und Regellosigkeit des Verhaltens der Teilnehmer kann unter der Perspektive normativer Regulierungen das Geschehen in der Gruppe als ein fortlaufender Prozess der Produktion und Fortentwicklung von Regeln des Miteinander-Umgehens und der Sicherung relativer sozialer Ordnung verstanden werden. Die Teilnehmer an der Gruppe verständigen sich immer erneut darüber, welche normativen Erwartungen für ihr Miteinander gelten sollen. Auf welche Normen man sich verständigt, ergibt sich aus den jeweiligen Situationen nicht von selbst. Weder gehören bestimmte

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Normen zwangsläufig zu einer bestimmten Gruppensituation, noch liegen Normen für bestimmte Situationen schon irgendwo in der Gruppe bereit. Auch die individuellen Vorstellungen, die jeder der an der Gruppe Beteiligten davon hat, wie man sich in dieser Situation verhalten möge, garantieren noch keine gemeinsamen Orientierungen. Soziale Normen sind das Produkt der Interaktion aller Gruppenteilnehmer. Das Verhalten, das ein einzelner Patient in der Gruppe zeigt, ist unabhängig von der damit verbundenen Absicht immer auch eine Stellungnahme zu dem gerade vorangegangenen Verhalten, das ein Mitpatient oder der Therapeut zuvor gezeigt haben, und zugleich ist dieses gleiche Verhalten wiederum Kontext für das nachfolgende Verhalten von Mitpatienten oder des Therapeuten. Und auch die Bedeutung dieses nachfolgenden Verhaltens erklärt sich nicht allein aus der Absicht dessen, der das Verhalten zeigt, sondern erschließt sich gleichermaßen im Kontext des vorangegangenen Verhaltens. In diesem Sinn ist Verhalten in Anwesenheit von anderen Interaktion und hat seine eigenen Implikationen. Indem sie sich zueinander verhalten, nehmen die Teilnehmer an der Gruppe mit ihrem Verhalten unvermeidlich dazu Stellung, welche Regeln und Normen für das momentane Geschehen gelten sollen. Dabei ist dieses Stellungnehmen nicht zwangsläufig an Intentionen gebunden, die sie zu diesem oder jenem Verhalten bewogen haben, sondern ist eine notwendige Implikation von sozialer Interaktion, des Umstands, dass Verhalten in Anwesenheit von anderen in der Gruppe wechselseitig aufeinander bezogenes Verhalten ist. So »verhandeln« die Patienten in der Gruppe im Zuge ihrer Interaktion über die Geltung von Normen, auch dann, wenn ihnen das in diesem Augenblick nicht bewusst ist und auch dann, wenn das nicht ausdrücklich geschieht. Dass sich die Patienten in der Gruppe über die Gültigkeit von Normen explizit miteinander ins Benehmen setzen, ist eher die Ausnahme als die Regel. Weitaus häufiger wird der Prozess des Verhandelns über Verhaltenserwartungen abgewickelt, ohne dass ausdrücklich darüber gesprochen wird. Um sich über die Gültigkeit sozialer Normen zu verständigen, muss darüber nichts gesagt werden. Die Patienten in der therapeutischen Gruppe müssen für den Umgang mit einer Vielzahl von Umständen, Problemen und Situationen normative Regulierungen finden: für den Umgang mit Fremdheit und Vertrautheit, für Fragen von Gleichheit und Ungleichheit, für

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

den Umgang mit Ablehnung und Zuneigung, für Nähe und Distanz, Sympathie und Antipathie, für den Umgang mit aggressiven und mit libidinösen Gefühlen, für sexuelle Anziehung und Abneigung, für Fragen von Macht und Einflussnahme, Spontaneität und Kontrolle, für Kritik und Friedfertigkeit und vieles andere mehr. Auch wenn die Anwesenden in der Gruppe sich nicht ausdrücklich dazu äußern, so nehmen sie mit ihrem Verhalten doch Stellung dazu, wie mit diesen Fragen und Problemen in der Gruppe umgegangen werden soll. Nicht nur, dass man sich nicht nicht verhalten kann (Watzlawick et al., 1969, S. 145), charakterisiert soziale Interaktion, sondern dass in Anwesenheit von anderen jeder Anwesende sich mit seinem Verhalten unvermeidlich ins Verhältnis zu den anderen Anwesenden und zu deren Verhalten setzt. An der Art und Weise, wie die Patienten sich daran beteiligen, soziale Normen in der Gruppe zur Geltung zu bringen, und an den Erwartungen an das wechselseitige Verhalten, das darin zum Ausdruck kommt, kann der Gruppentherapeut oftmals zentrale Aspekte dessen erkennen, wie die Patienten sich in ihrer alltäglichen sozialen Lebenswelt orientieren und wie sie interpersonelle Beziehungen im Alltag gestalten. Merke: Soziale Normen werden in der Gruppe selten mit Worten, sondern meist implizit in der Art und Weise geltend gemacht, wie die Teilnehmer sich zueinander verhalten. Ihr Verhalten orientiert sich nicht nur an Normen, sondern ist selbst Element der Gestaltung und Durchsetzung sozialer Normen. Soziale Normen werden durch das Verhalten aller Gruppenteilnehmer in jedem Moment und in jeder Phase interpersonellen Verhaltens verhandelt, festgelegt, revidiert und weiterentwickelt.

Interaktionsmuster Die Interaktion zwischen einer Mehrzahl von Patienten, zwischen Subgruppen oder auch nur zwischen einzelnen Patienten verläuft oftmals über einige Zeit hinweg nach einem mehr oder weniger gleichbleibenden Abfolgeschema oder Muster. Beispiel: In einer therapeutischen Gruppe kam es über mehrere Stunden hinweg wiederholt dazu, dass eine Patientin sich kritisch über eine Mitpa-

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tientin äußerte, woraufhin die kritisierte Patientin ihrerseits mit Kritik reagierte, während alle anderen Patienten in der Gruppe sich schweigend verhielten und sich auch nicht äußerten, nachdem sie auf ihr vermeidendes Verhalten angesprochen wurden.

Solche Muster können manchmal über lange Zeit hinweg konstant bleiben. Auch wenn an dem Verhalten manifest nur wenige Patienten beteiligt zu sein scheinen, etablieren sich solche Muster doch als Resultat des Verhaltens aller Anwesenden, auch derer, die sich im Augenblick nicht sichtbar oder hörbar aktiv beteiligen. Ein einzelnes Gruppenmitglied kann zwar Einfluss nehmen, kann wiederkehrende Muster interpersonellen Verhaltens aber nicht allein gestalten. Hat sich ein bestimmtes Interaktionsmuster erst einmal eingespielt, kann es sein, dass über lange Zeit daran festgehalten wird, vor allem dann, wenn unerwünschte interpersonelle Situationen damit vermieden werden können. Beispiel: In einer geschlossenen therapeutischen Gruppe, die sich über einen Zeitraum von acht Wochen erstreckte, hatte es sich von Anfang an eingespielt, dass sich alle Anwesenden ausschließlich mit dem Problem befassten, das von einem der Teilnehmer zu Beginn einer Gruppensitzung geschildert wurde. Das führte dazu, dass jedes Mal ein Rat suchender Patient und sieben Rat erteilende Mitpatienten in der Gruppe zusammenzusitzen schienen. Alle Bemühungen der Gruppentherapeutin, dieses Interaktionsmuster und dessen Sicherheit vermittelnde Funktion anzusprechen, blieben ohne Wirkung. Auch ihre Versuche, die Beratungsaktivitäten als Ausdruck des Bemühens zu interpretieren, sie in ihrer Funktion auszuschließen, blieben über längere Zeit hinweg erfolglos. Merke: Die Interaktion in einer therapeutischen Gruppe folgt manchmal einem bestimmten Abfolgemuster, das u. U. über mehrere Stunden hinweg konstant bleibt. Oft sollen damit unerwünschte interpersonelle Situationen vermieden werden.

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Vorbereitung der Patienten auf die Gruppentherapie Die Vorbereitung der Patienten auf die Therapie in der Gruppe beinhaltet die Aufklärung über die Diagnose und über die in Aussicht genommene Behandlung (siehe dazu S. 29 ff. und 35 ff.). Wenn für die Behandlung aufgrund äußerer Umstände, beispielsweise im stationären Rahmen, nur wenig Zeit zur Verfügung steht, werden die Patienten manchmal weder über die Diagnose noch über die ins Auge gefasste Therapie in der Gruppe ausführlich genug aufgeklärt. Wenn ein Patient auf die bevorstehende Behandlung in der Gruppe nicht ausreichend vorbereitet wird, kann das leicht zur Folge haben, dass er in der Gruppe anwesend ist, ohne genau zu wissen, wie er sich verhalten muss, damit er von der Therapie potentiell profitieren kann. Vielleicht passt sich der Patient dann dem Verhalten von anderen Patienten in der Gruppe an, die sich in der Vergangenheit ihrerseits an andere Patienten in der Gruppe angepasst haben. So haben therapeutische Gruppen manchmal lange Traditionen, die mit dem Sinn von gruppentherapeutischer Arbeit nur bedingt vereinbar sind. Unter solchen Voraussetzungen kann, was Gruppentherapie genannt wird und ein effektives Instrument des Verstehens und der Veränderung sein kann, nicht Therapie sein. Bestenfalls handelt es sich dann um Gespräche in Gegenwart von anderen; im ungünstigen Fall entsteht dem Patienten Schaden. Merke: Auch wenn für die Gruppentherapie insgesamt wenig Zeit zur Verfügung steht, muss der Patient sowohl über seine Diagnose wie über die in Aussicht genommene Behandlung in der Gruppe ausführlich aufgeklärt werden. Der Patient muss wissen, wie er sich in der Gruppe verhalten sollte, damit die Behandlung für ihn nützlich sein kann.

Das Vorgespräch für die Gruppentherapie In dem Vorgespräch, mit dem der Patient über die in Aussicht genommene Behandlung in der Gruppe informiert wird, werden über die allgemeinen Fragen hinaus, die auch vor einer Einzeltherapie mit jedem Patienten besprochen werden müssen, die speziell für die Gruppentherapie geltenden Rahmenbedingungen verabredet und andere wichtige Fragen geklärt, die dem Patienten vor Beginn der therapeutischen Arbeit in der Gruppe bekannt sein müssen.

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In gleicher Weise wie für die Vorbereitung von Patienten auf eine Behandlung im Einzelsetting muss auch für die Vorbereitung auf die Gruppentherapie ausreichend Zeit zur Verfügung stehen. Die für ein Vorgespräch investierte Zeit ist im Hinblick auf die therapeutische Arbeit in der Gruppe – und besonders hier – gut angelegt und amortisiert sich über das Mehr an Gewinn, den der Patient aus der Therapie in der Gruppe wird ziehen können. Die Schlussfolgerung, dass für ein Vorgespräch und für die Vereinbarung von Rahmenbedingungen nur wenig Zeit erübrigt werden kann, weil die für die Behandlung insgesamt zur Verfügung stehende Zeit knapp bemessen ist, geht in die falsche Richtung. Eher trifft das Gegenteil zu: Je weniger Zeit für die Therapie in der Gruppe zur Verfügung steht, desto mehr Klarheit muss der Patient in einem vorbereitenden Gespräch darüber gewinnen können, wie er sich verhalten und was er tun muss, um die wenigen gruppentherapeutischen Sitzungen für sich gewinnbringend mitgestalten zu können. Merke: Für das auf die Gruppentherapie vorbereitende Gespräch mit dem Patienten muss der Therapeut ausreichend Zeit erübrigen. Wenn für die Gruppentherapie insgesamt wenig Zeit zur Verfügung steht, muss die Vorbereitung des Patienten um so gründlicher sein, damit er weiß, wie er sich verhalten sollte, um aus der Gruppentherapie potentiell Nutzen ziehen zu können.

Der Nutzen von Gruppentherapie Patienten, denen der Therapeut eine Behandlung in der Gruppe empfiehlt, sind manchmal unsicher darüber, welchen Nutzen eine Therapie haben kann, die in Anwesenheit anderer Patienten durchgeführt wird. Noch unerfahrene Therapeuten wissen darauf manchmal keine plausible Antwort zu geben, es sei denn die, dass Gruppentherapie sich eben als ein wirksames therapeutisches Verfahren erwiesen hat. Auch wenn das zutrifft und viele Patienten sich damit scheinbar zufrieden geben, kann eine dermaßen pauschale Antwort nicht wirklich überzeugen, sondern fördert im Gegenteil die Neigung von Patienten, sich passiv dem auf sie zukommenden Geschehen zu überlassen, statt sich als Akteur und Mitakteur in der Behandlung zu verstehen. Tendenzen zur gläubigen Idealisierung des Therapeuten, der Besserung und Heilung zu versprechen scheint, soweit der Patient sich nur der Therapie überlässt, die sich doch als

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wirksam erwiesen haben soll, werden dadurch gefördert. Eine derartige regressive Bereitschaft findet sich besonders bei Patienten, deren strukturelle Störungen mit klinisch relevanten sozialen Ängsten und Unsicherheiten einhergehen. Wenn der Therapeut nicht in der Lage ist, den Nutzen von Gruppentherapie rational und überzeugend zu begründen, werden die Patienten nicht in entwicklungsförderlicher Richtung darin unterstützt, kritische Kooperationspartner des Therapeuten zu werden, sondern werden im Gegenteil zu regressivem Verhalten gedrängt. Ein daraus resultierendes passives Verhalten ist dann nicht allein einer genuinen Passivität des Patienten und seiner Idealisierungsbereitschaft geschuldet, sondern Folge einer von äußeren Umständen diktierten Eile des Therapeuten und in diesem Sinn eine von dem Gruppentherapeuten mitproduzierte Haltung. Die Frage, warum der Therapeut ihm die Teilnahme an einer psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie empfiehlt, kann einem Patienten, der wegen einer schwereren strukturellen Störung behandelt wird, beantwortet werden, indem der Therapeut gemeinsam mit dem Patienten der Frage nachgeht, wie die Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsentwicklung des Patienten, die jetzt Gegenstand der Behandlung sein sollen, sich in seinen interpersonellen Beziehungen zeigen und sich auf sein soziales Leben beeinträchtigend auswirken. Für die meisten Patienten ist es unmittelbar plausibel, an einer Behandlung teilzunehmen, die sich nicht nur auf die innerseelische Seite ihrer Beeinträchtigungen richtet, sondern die auf die Schwierigkeiten im Zusammensein mit anderen fokussiert und die gute Chancen bietet, die zwischenmenschliche Seite ihrer Probleme und Schwierigkeiten zu untersuchen und zu behandeln. Weil das Schwergewicht in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppe greifbarer noch als in der Einzeltherapie auf dem Geschehen zwischen den Anwesenden liegt, bietet sich dem Patienten in der therapeutischen Gruppe die Möglichkeit, zu erkennen und zu verstehen, wie er im Zusammensein mit anderen erlebt und fühlt und sich verhält, wie sein Verhalten von den anderen Anwesenden in der Gruppe erlebt wird, wie die anderen ihrerseits ihm gegenüber erleben, fühlen und sich verhalten, wie er umgekehrt das Verhalten der anderen Anwesenden in der Gruppe oder einzelner anderer wahrnimmt und erlebt und sich auf deren Verhalten hin seinerseits verhält usw.

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Den meisten Patienten fällt es nicht schwer sich vorzustellen, dass viele ihrer Schwierigkeiten im Verhältnis zu anderen, unter denen sie im Alltag leiden, sich in der therapeutischen Gruppe wiederfinden. Darum können sie den potentiellen Nutzen zumindest erahnen, den sie daraus ziehen können, wenn sie sich in der Gruppe mit therapeutischer Unterstützung damit beschäftigen, wie sie das Zusammensein mit anderen erleben und gestalten, und wenn sie dort neue Mittel und Wege erproben können, sich mit anderen ins Verhältnis zu setzen. Merke: Dem Patienten sollte möglichst anschaulich verständlich gemacht werden, dass sich seine Schwierigkeiten im Verhältnis zu anderen aller Voraussicht nach auch in der therapeutischen Gruppe zeigen werden und deshalb dort besonders gut untersucht und möglichst auch verändert werden können.

Die Grundregel für die therapeutische Arbeit in der Gruppe Die Grundregel für die psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie legt dem Patienten nahe, was er tun und wie er sich verhalten möge, damit er aus der gemeinsamen Arbeit potentiell Nutzen ziehen kann. In Anlehnung an die »freie Assoziationsregel« wird die Grundregel für die Gruppentherapie manchmal auch »freie Interaktionsregel« genannt. Diese Empfehlung kann etwa folgendermaßen formuliert werden: »In der Gruppentherapie geht es in erster Linie darum, Erleben und Verhalten im Verhältnis zu anderen zu untersuchen und gegebenenfalls geeignetere Mittel und Wege zu finden, um Beziehungen zu gestalten. Damit das möglich wird, sollten Sie versuchen, sich möglichst unzensiert und freimütig zu äußern. Damit ist gemeint, dass Sie versuchen sollten auszusprechen, was immer Sie wahrnehmen, an den anderen in der Gruppe, bei sich selbst, was Sie denken und fühlen, was Ihnen bei Mitpatienten und was Ihnen im Verhältnis zu den anderen in der Gruppe auffällt. Versuchen Sie möglichst zu sagen, was immer Ihnen gerade in den Sinn kommt, auch wenn Sie glauben, das sei vielleicht unpassend oder gehöre nicht in die Gruppe. Mit »möglichst« ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass Sie darauf achten sollten, die Grenzen dessen nicht zu überschreiten, was aushaltbar ist – weder Ihre

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eigenen Grenzen noch die der anderen Anwesenden in der Gruppe. Das heißt aber nicht, dass Sie um alles, was Ihnen unangenehm ist, einen Bogen machen sollen. Damit würden Sie Ihren Schwierigkeiten und Problemen nur aus dem Weg gehen, sie aber nicht überwinden können und die Gruppentherapie würde Ihnen nicht nützen. Sie sollten stattdessen angesichts solcher Schwierigkeiten versuchen zu klären, was es jeweils ist, das es Ihnen schwer macht, tatsächlich zu äußern, was Sie in diesem Moment beschäftigt.«

Modifikationen der Grundregel für besondere Patientengruppen Die Grundregel wird für einzelne Patienten und für deren spezifische Umstände im Hinblick auf die im Vordergrund stehende Problematik variiert und ergänzt. Bei Patienten, die zu impulshaftem Verhalten und zum Agieren neigen, sollte der Therapeut die Notwendigkeit, Toleranzgrenzen zu beachten, besonders betonen. Insbesondere bei strukturell gestörten Patienten, deren Verhalten von Affekten und Impulsen bestimmt wird und zur Folge hat, dass andere sich angesichts ihres häufig verletzenden, entwertenden, taktlosen und grenzenüberschreitenden Verhaltens von ihnen zurückziehen, ist es mehr als bei anderen Patienten wichtig, dass der Therapeut die Empfehlung für die Arbeit in der Gruppe im Vorgespräch dahingehend ergänzt, dass die Verletzbarkeiten, Schutznotwendigkeiten und Belastbarkeitsgrenzen der Mitpatienten in der Gruppe beachtet werden mögen. Patienten, die dazu neigen, sich schon angesichts von kleinen Schwierigkeiten und geringfügiger Ängstlichkeit vermeidend zurückzuziehen, sollte der Therapeut vorab ausführlich erklären, weshalb sie von der Gruppentherapie keinen Gewinn haben werden, wenn sie Unannehmlichkeiten in der Gruppe nur vermeiden und jeder Schwierigkeit und jedem Konflikt aus dem Weg gehen, statt sich den Herausforderungen zu stellen. Sozial ängstliche Patienten hoffen manchmal insgeheim, ihre Probleme könnten sich verändern, wenn sie ihre Ängste nur verstanden haben, ohne dass sie sich den unangenehmen und beunruhigenden Erfahrungen im Zusammensein mit anderen auch stellen. Bei strukturell gestörten Patienten, die sich nicht gut schützen können, muss der Gruppentherapeut der Grundregel eventuell einige Einschränkungen hinzufügen. So kann es beispielsweise

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erforderlich sein, einen Patienten darin zu unterstützen, Themen, die überwältigende Angst auslösen oder massives Unbehagen bereiten, so lange für sich zu behalten, bis er geklärt hat, welcher Art die Gefahr ist, die er bei der Vorstellung, sich möglichst unzensiert zu äußern, auf sich zukommen sieht, und bis er es für möglich hält, mit dieser Gefahr umzugehen. Patienten, die dazu neigen, sich mehr oder weniger blind auszuliefern und eigene Belastbarkeitsgrenzen zu überrennen, oder die nicht in der Lage sind, eigene Grenzen des Verträglichen auch nur zu spüren, sollte der Gruppentherapeut auffordern, auch für eigene Bedenken und Ängste aufmerksam zu sein. Der Therapeut kann diese Aufforderung eventuell durch das Angebot ergänzen, seinerseits die Belastbarkeit des Patienten mit im Auge zu behalten. Auch bei Patienten, die dazu neigen, sich in selbstschädigender Weise zu überfordern, kann der Hinweis angeraten sein, für etwaige Bedenken und Belastbarkeitsgrenzen aufmerksam zu sein und Ängste, die darauf hinweisen könnten, dass er Schutz benötigt, nicht einfach zu übergehen. Demgegenüber ist es ratsam, Patienten, die von Gefühlen und Impulsen leicht überschwemmt werden, darin zu unterstützen, ihr Verhalten auch rational zu kontrollieren, soweit ihnen entsprechende Ressourcen zur Verfügung stehen. Merke: Die Grundregel bzw. freie Interaktionsregel sollte auf die besonderen Umstände bei einzelnen Patientengruppen abgestimmt werden, indem beispielsweise für Patienten, die zu impulsivem Verhalten neigen, die Notwendigkeit besonders betont wird, Toleranzgrenzen zu beachten, oder indem besonders ängstliche Patienten ermuntert werden, sich den sie beunruhigenden Situationen als Herausforderungen zu stellen.

Ausblick auf die bevorstehende Gruppenbehandlung Im Zuge des Vorgesprächs für die Gruppentherapie sollte der Patient schließlich auch dazu angeregt werden, sich die Situation, wie er sie in der Gruppe erwartet, vorab einmal vor Augen zu führen. Zu diesem Zweck kann der Therapeut den Patienten beispielsweise ermuntern, sich vorzustellen, wie es voraussichtlich für ihn sein wird, wenn er im Kreis von Mitpatienten sitzt, die anderen sieht und selbst gesehen wird, wenn sich dann Gefühle bei ihm einstellen, Gedanken

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und Erinnerungen, die sich auf die eigene Person beziehen; wenn in ihm Vorstellungen, Fantasien und Bilder auftauchen, die sich auf Mitpatienten beziehen, wieder andere, die scheinbar weder mit ihm selbst noch mit Mitpatienten noch mit dem Gruppentherapeuten zu tun haben; weiter, wie es für ihn sein wird, wenn er sich zum Handeln gedrängt fühlt, aber statt dem nachzugeben, in Worte fassen soll, wonach ihm zu Mute ist; wie er damit meint umgehen zu können, wenn ihm manches, das ihn gerade beschäftigt, vielleicht banal erscheint, anderes möglicherweise peinlich ist, wenn er das Gefühl haben wird, dass nicht in die Gruppe gehört, was ihm gerade eingefallen ist, oder etwas nicht zu dem passt, worüber in der Gruppe gerade gesprochen wird, oder wenn sich andere Einwände und Hindernisse auftun und er sich mit der Absicht beschäftigt, tatsächlich zu äußern, was bei ihm und zwischen ihm und anderen gerade vor sich geht. Auch wenn der Therapeut immer wieder die Erfahrung machen wird, dass Patienten mit strukturellen Störungen oft so gut wie nicht dazu in der Lage sind, seinen Anregungen, sich die auf ihn zukommende Situation im Zusammensein mit anderen vorzustellen, sollte er nicht darauf verzichten, das zu tun, nicht zuletzt deshalb, weil sich daran oftmals neue Aspekte der strukturell bedingten Einschränkungen des Patienten darstellen und manchmal anschaulich deutlich wird, wie der Patient sich in Erwartung einer ihm nicht vertrauten Situation verhält. Noch unerfahrene Therapeuten gehen manchmal davon aus, dass es ausreichend sei, wenn sie dem Patienten mit wenigen Worten gesagt haben, wie er sich in der Gruppe äußern möge. Sie sagen dem Patienten, der an einer Gruppentherapie teilnehmen soll, vielleicht nicht mehr, als dass er in der Gruppe möglichst alles mitteilen möge, was ihm einfällt. Sie sind dann verwundert, wenn sich herausstellt, dass der Patient keineswegs weiß, wie sein Anteil an der gemeinsamen Arbeit in der Gruppentherapie aussehen soll. Ein dermaßen knapper Hinweis auf die Art und Weise, wie der Patient in der Gruppe mitarbeiten soll, muss tatsächlich für die allermeisten Patienten weitgehend abstrakt und unverständlich bleiben. Viele strukturell gestörte Patienten haben keine auch nur halbwegs anschauliche Vorstellung davon, was es heißen könnte, für das eigene Erleben und Verhalten in Anwesenheit von anderen und für das Verhalten von anderen im Kontext des eigenen Erlebens und Verhaltens auf-

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merksam zu sein und sich anders zu äußern, als sie das aus ihrem Alltag gewohnt sind. Deshalb ist es notwendig, die Empfehlung für das Verhalten in der therapeutischen Gruppe ausführlich genug zu erläutern und jedem Patienten in einem Vorgespräch so anschaulich wie möglich vor Augen zu führen, wie in der Gruppentherapie gearbeitet wird. Merke: Um den Patienten dabei zu unterstützen, sich auf die bevorstehende Arbeit in der therapeutischen Gruppe vorzubereiten, sollte der Therapeut ihn im Vorgespräch anregen, sich vorzustellen, wie es für ihn sein wird, in der Gruppe zu sein und sich in der Gruppe in Anwesenheit von Mitpatienten zu äußern. Ein nur knapper Hinweis auf die Arbeitsweise in der therapeutischen Gruppe reicht für die Vorbereitung auf die Gruppentherapie nicht aus.

Zur Rolle des Gruppentherapeuten Der Gruppentherapeut muss dem Patienten auch seine eigene Rolle verdeutlichen und ihm im Vorgespräch erklären, wie er selbst sich während der gemeinsamen Arbeit verhalten wird und warum er das tut. Manchmal erwarten Patienten, zumal Patienten, die mit Psychotherapie bislang noch keine Erfahrungen gemacht haben, dass der Gruppentherapeut Vorgaben macht, Fragen stellt, Themen vorschlägt und Antworten auf die Frage gibt, wie man in der Gruppe miteinander umgehen oder nicht miteinander umgehen soll. Dieser Erwartung sollte der Therapeut möglichst schon bei der Vorbereitung der Patienten auf die Gruppentherapie entgegentreten und nicht darauf hoffen, derartige Vorstellungen später im Verlauf der Behandlung als Ausdruck von Übertragungen untersuchen und auflösen zu können. Dabei sollte der Therapeut möglichst unmissverständlich klarstellen, dass er bis auf die Empfehlung, sich möglichst wenig zensiert zu äußern, und die Verpflichtung zur Verschwiegenheit keine weiteren Vorgaben für die gemeinsame Arbeit machen wird, sollte aber auch möglichst anschaulich begründen, warum er meint, das nicht tun zu sollen, und welchen therapeutischen Nutzen er darin sieht, dass es den Patienten in der Gruppe innerhalb der genannten Grenzen überlassen ist, wie sie miteinander umgehen und wie sie das Geschehen in der Gruppe gestalten. Den meisten Patienten leuchtet zwar ein, dass Vorgaben des Gruppentherapeuten

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der Empfehlung, sich möglichst freimütig zu äußern, zuwiderlaufen würden, aber solange sie noch keine Erfahrung mit dem konkreten In-der-Gruppe-Sein haben, fällt es ihnen schwer, sich anschaulich vorzustellen, was es heißt, sich ohne klare Vorgaben von außen vor anderen zu äußern, und wie es sein kann, wenn in der Gruppe grundsätzlich alles angesprochen werden kann, auch Themen, die vielleicht unwichtig und banal erscheinen, möglicherweise sogar unsinnig und unvernünftig, peinlich oder komisch. Weiter sollte der Gruppentherapeut den Patienten im Vorgespräch anschaulich genug erläutern, wie er selbst sich bei der gemeinsamen Arbeit in der Gruppe verhalten wird, und insbesondere sollte er sie darauf vorbereiten, dass er gelegentlich auch eigenes Erleben, eigene Gefühle und Erfahrungen mitteilen wird, soweit ihm das nützlich erscheint. Um einen ersten Eindruck davon zu gewinnen, ob ein Patient in der Gruppe in der Lage ist, von Interventionen im antwortenden Modus in nützlicher Weise Gebrauch zu machen, kann der Gruppentherapeut sich schon im Vorgespräch bei einer passenden Gelegenheit im Sinne der interaktionellen Arbeitsweise antwortend äußern und dem Patienten damit unmittelbar erfahrbar machen, was damit gemeint ist, dass er als Therapeut auch eigenes Erleben zum Ausdruck bringen wird. Auf diese Weise kann der Patient eine anschauliche Vorstellung davon gewinnen, wie es für ihn sein wird, wenn der Gruppentherapeut gelegentlich von sich selbst, von eigenen Gefühlen oder eigenen Handlungsbereitschaften, die sich während der therapeutischen Arbeit in Antwort auf das Verhalten einzelner oder mehrerer Patienten bei ihm eingestellt haben, im Kontext des Geschehens in der Gruppe und seines eigenen Verhaltens spricht. Merke: Zur Vorbereitung des Patienten auf die bevorstehende therapeutische Arbeit in der Gruppe gehört, dass der Therapeut den Patienten ausführlich darüber informiert, wie er selbst sich in der Gruppe äußern und sich verhalten wird und aus welchen Gründen er das tut. Dazu sollte der Therapeut den Patienten auch darüber informieren, dass er keine Vorgaben dazu macht, wie und worüber die Patienten sich in der Gruppe äußern mögen.

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Gruppe ohne Gruppentherapeut Manchmal führen Patienten, die an einer Gruppentherapie teilnehmen, in der Gruppe begonnene Gespräche unter Anwendung der gleichen Regel, die der Therapeut für die gemeinsame Arbeit in der Gruppe vorgegeben hat, ohne den Therapeuten fort. Das ist eher im stationären Rahmen zu beobachten, kommt selten aber auch bei ambulant durchgeführten Gruppen vor. Um dem vorzubeugen, sollten die Patienten darauf hingewiesen werden, dass die Gruppengespräche auf die Sitzungen mit dem Therapeuten beschränkt bleiben mögen. Im stationären Bereich sollten die Patienten wissen, dass es nicht nur nicht günstig ist, von morgens bis abends über »Psycho-Themen« zu reden, sondern eher schadet und manchmal geradezu unerträglich werden kann. Die Kommunikation unter den Patienten in den Zeiten außerhalb der therapeutischen Aktivitäten sollte sich ganz im Gegenteil möglichst wenig von dem kommunikativen Verhalten unterscheiden, das auch im Alltag üblich ist. Sich darum zu bemühen, sich möglichst unzensiert zu äußern, würde im Alltag tatsächlich rasch destruktive Folgen nach sich ziehen. Merke: Der Therapeut sollte dem Patienten im Vorgespräch nahe legen, auf Gruppensitzungen ohne Gruppentherapeuten zu verzichten.

Verpflichtung zur Verschwiegenheit Worüber in der therapeutischen Gruppe gesprochen wird, sollte im Kreis derer bleiben, die an der Gruppe teilgenommen haben. Darauf ausführlich genug hinzuweisen, ist nicht nur bei Behandlungen wichtig, die unter stationären Bedingungen stattfinden, auch bei ambulant durchgeführten Gruppenbehandlungen sollte der Therapeut das betonen, unter anderem, um »Nebentherapien« zu verhindern. Weil sich die Patienten in der Klinik auch außerhalb der Gruppentherapie mehr oder weniger häufig begegnen und – insbesondere in kleinen stationären Einrichtungen – große Teile des Alltags miteinander teilen, liegt die Versuchung nahe, in der Gruppentherapie begonnene Gespräche auch außerhalb der Therapie fortzusetzen und auch mit Patienten, die nicht an der Gruppe teilnehmen, über dort angeschnittene Themen weiter zu sprechen.

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

Beispiel: Beim gemeinsamen Essen am Tag nach der Gruppentherapie waren einige Patienten Zeuge von Gesprächen, die am Nachbartisch von Patienten einer anderen Station geführt wurden. Dabei mussten sie plötzlich hören, was in der eigenen Gruppe am Vortag vermeintlich »gelaufen« war, und tatsächlich wurden selbst einzelne Äußerungen, die in der Gruppentherapie gefallen waren, am Nachbartisch – teilweise wörtlich – zitiert.

Solche Erfahrungen können das wechselseitige und oftmals ohnehin mühsam aufgebaute Vertrauen in einer therapeutischen Gruppe über lange Zeit hinweg erschüttern mit der Folge, dass um alle Themen, die für schwierig oder sehr persönlich gehalten werden, ein Bogen gemacht wird. Nicht immer bringen Patienten derartige Regelverletzungen von sich aus zur Sprache, insbesondere dann nicht, wenn in der Gruppe noch keine tragfähigen Möglichkeiten entwickelt wurden, Konflikte miteinander auszutragen, ohne schwerwiegende Folgen wie soziale Isolation, Beschämung oder Kontaktabbruch fürchten zu müssen. In diesem Fall muss der Gruppentherapeut das übernehmen und den Rahmenbedingungen, die Voraussetzung für die gemeinsame therapeutische Arbeit sind, Geltung verschaffen. Unterlässt er das, droht die Schutz und Halt vermittelnde Funktion des Rahmens untergraben zu werden. Merke: Im Vorgespräch sollte der Therapeut jeden Patienten davon überzeugen, dass alles, worüber in der Gruppe gesprochen wurde, im Kreis derer bleiben möge, die an der Gruppentherapie teilgenommen haben.

Wie hat der Patient die Hinweise des Gruppentherapeuten verstanden? Am Ende des vorbereitenden Gesprächs für die ins Auge gefasste Gruppentherapie sollte der Therapeut den Patienten bitten, ihm zu sagen, wie er seine Hinweise verstanden hat, damit der Therapeut einigermaßen sicher sein kann, dass er sich verständlich genug ausgedrückt hat und damit beide – Patient und Gruppentherapeut – davon ausgehen können, dass sie sich auf eine Reihe gemeinsamer Orientierungen und Regelungen im Hinblick auf ihre zukünftige Arbeit in der Gruppe stützen können. Tatsächlich stellt sich dann

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oftmals heraus, dass der Patient einige Empfehlungen für die Arbeit in der Gruppe anders als vom Therapeuten beabsichtigt verstanden hat, so dass der Therapeut jetzt gleichsam in einem zweiten Durchgang die Möglichkeit hat richtigzustellen, was er tatsächlich hat sagen wollen und den Patienten eventuell mit weiteren Erläuterungen auf die therapeutische Arbeit in der Gruppe vorzubereiten. Merke: Bevor der Therapeut das Vorgespräch mit dem Patienten beendet, sollte er sich vergewissern, wie der Patient seine Hinweise verstanden hat, um ggf. noch einmal zu erläutern, was er tatsächlich gemeint hat.

Haltung und Aufgaben des Therapeuten in der Gruppe Die Haltung, die der Therapeut in der psychoanalytisch-interaktionell geführten Gruppe einnimmt, ist weitgehend identisch mit der Haltung des Therapeuten in der Einzeltherapie. Aufmerksam für das hörbare und sichtbare kommunikative Geschehen zwischen den Anwesenden in der Gruppe bietet er sich den Patienten als ein reales Gegenüber an und nimmt als ein immer präsenter, für Interaktion und wechselseitigen Austausch erreichbarer Mitakteur an dem Gruppengeschehen teil. Über die Funktionen hinaus, die er in der Einzeltherapie hat, kommen dem Therapeuten in der Gruppe weitere Aufgaben zu, die sich aus dem besonderen Charakter der therapeutischen Arbeit im Mehr-Personen-Setting herleiten. Insbesondere nimmt der Gruppentherapeut hier über seine allgemeinen Funktionen hinaus Einfluss auf Situationsdefinitionen und auf den Prozess des Verhandelns von sozialen Normen, soweit das angezeigt ist. Dabei unterstützt er die Etablierung progressiver Normen, die Entwicklung ermöglichen, während er normative Regulierungen, die Regression fördern, in Frage stellt, wenn die Teilnehmer das nicht von sich aus tun und an solchen regressiven Normen hartnäckig festhalten. Manchmal kann es nützlich sein, dass der Gruppentherapeut mit Blick auf das Geschehen in der Gruppe zu Erläuterungen greift, indem er beispielsweise bestimmte Aspekte der Regulierung von interpersonellen Beziehungen in Mehr-Personen-Situationen erklärt. In therapeutischen Gruppen zeigen sich dysfunktionale interpersonelle Beziehungen, die bei strukturell gestörten Patienten einen

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

großen Teil ihrer Problematik ausmachen, oftmals von Beginn an. Dabei sind die Patienten selbst meist nicht in der Lage zu erkennen, wie sie selbst an solchen dysfunktionalen, nicht selten destruktiven oder gar retraumatisierenden Beziehungen, in die sie immer wieder hineingeraten, beteiligt sind. Sie können kaum sehen, dass sie ein ums andere Mal Gefahr laufen, mit ihrem Verhalten zur Wiederholung genau jener destruktiven Verhältnisse beizutragen, denen sie sich nur ausgesetzt fühlen. Wenn das der Fall ist, muss sich der Gruppentherapeut in die Gestaltung der interpersonellen Verhältnisse und in den Prozess des »Verhandelns« von sozialen Normen aktiv einschalten und unterstützende Funktionen im Hinblick auf die Regulierung des interaktiven Geschehens in der Gruppe übernehmen. Dabei wird der Gruppentherapeut mit antwortenden Interventionen häufiger gleichsam den interpersonellen Preis aufzeigen, den die Anwesenden in der Gruppe zahlen müssen, wenn sich soziale Normen durchsetzen, die geeignet sind, zu solchen dysfunktionalen und retraumatisierenden Verhältnissen beizutragen. Seine Interventionen sind dabei auf das Ziel ausgerichtet, dass die Patienten schädigende und Entwicklung behindernde, einschränkende soziale Normen allmählich aufgeben und durch normative Regulierungen ersetzen können, die differenziertere Beziehungen untereinander zulassen und unterstützen. Eine aktive Rolle im Prozess des Verhandelns normativer Regulierungen muss der Therapeut insbesondere auch dann übernehmen, wenn die Gruppenmitglieder an vermeidenden, Weiterentwicklung behindernden Normen unverrückbar festhalten und deshalb nicht zu erwarten ist, dass diese von einer Mehrheit in der Gruppe getragenen normativen Regulierungen aus dem Kreis der Patienten heraus in Frage gestellt werden, weil jeder befürchtet, in der Folge als Abweichler sozial isoliert zu werden. Beispiel: In einer therapeutischen Gruppe von Patienten mit überwiegend dependenten und ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörungen wurde über mehrere Stunden hinweg unter dem Einfluss von Spaltungsund Externalisierungsmechanismen ein lähmendes Milieu von Friedfertigkeit, jegliche Spannung vermeidender Harmonie und Kritiklosigkeit aufrechterhalten. In der impliziten sozialen Norm schien die Erwartung zum Ausdruck zu kommen, dass die Anwesenden in der

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Gruppe sich ausnahmslos gut verstehen und in jeder Hinsicht übereinstimmen sollten. Vereinzelte Versuche, Unterschiede zu machen und damit Prozesse der Differenzierung einzuleiten, blieben erfolglos. Abweichungen von der normativen Erwartung allseitiger Übereinstimmung wurden mit bagatellisierenden »Umdeutungen«, mit mehr oder weniger subtilen körperlich-gestischen Signalen der Missbilligung und Verachtung, mit versteckten Drohungen oder mit Schweigen sanktioniert und unterbunden. Auf diese Weise wurde die Gültigkeit der Übereinstimmung sichernden Norm bestätigt und bekräftigt. Die Anwesenden in der Gruppe konnten sich so der illusionären Überzeugung überlassen, sich in der Gruppe unter »nur guten« Menschen zu bewegen, die einander in ungestörter Harmonie nahe sind. Unterschiede und Differenzierungen und damit soziale Situationen, die potentiell Neid, Missgunst und destruktive Impulse hätten wecken können, wurden vermieden. Es gab gleichsam keinen Grund, sich ein differenziertes Bild voneinander zu machen, sich zu beurteilen, Kritik aneinander zu üben oder gar »Böses« bei sich und anderen zu sehen. An dieser restriktiven Norm wurde hartnäckig festgehalten. Deshalb sah der Gruppentherapeut es schließlich als notwendig an, die Norm in Frage zu stellen, und brachte zum Ausdruck, dass er »Harmonie« durchaus angenehm finden könne, sich aber angesichts des derzeit in der Gruppe geltenden Harmonie- und Übereinstimmungsgebotes, das ihm wie ein Kritikverbot vorkomme, ziemlich eingeengt fühle. Zwei Patienten in der Gruppe schienen erleichtert aufzuatmen und deuteten an, dass es ihnen schon seit geraumer Zeit ähnlich ergehe. Da jedoch ein Verhalten, das gegen geltende Normen verstößt, mit der Gefahr einhergeht, in der Gruppe zumindest vorübergehend zum Außenseiter zu werden, hatten sie nicht gewagt, gegen die Gruppennorm Stellung zu beziehen. Mehrere andere Gruppenteilnehmer verharrten in unbeweglichem Schweigen und versuchten so, die Wirkung der Infragestellung der Norm unschädlich zu machen. Nach und nach geriet deren Gültigkeit durch die Initiative des Therapeuten ins Wanken, und neue Regeln, die sich jetzt auch auf den Umgang mit in der Gruppe vorhandener Kritik beziehen mussten, wurden verhandelt.

Merke: Der Gruppentherapeut bietet sich den Patienten als ein reales Gegenüber und Mitakteur an dem interaktiven Geschehen in der Gruppe an. In der Gruppenarbeit nimmt der Therapeut auch Einfluss auf die Entwicklung progressiver Situationsdefinitionen und sozialer Normen, um Entwicklung zu ermöglichen.

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

Zur therapeutischen Technik in der Gruppenbehandlung Der antwortende Modus Die therapeutische Technik in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie stützt sich auf den antwortenden therapeutischen Modus (siehe S. 96 ff.). In gleicher Weise wie der Therapeut in der Einzelbehandlung nimmt der Therapeut an dem Geschehen in der Gruppe als beteiligtes Gegenüber im interaktiven Austausch mit den Anwesenden teil. Er betont nicht die Rolle eines für die Patienten weitgehend unerkennbaren Experten, der auf das Geschehen in der Gruppe, das sich vor ihm ausbreitet, hinweist, sondern er gibt sich selektiv als reale andere Person in ihrem eigenen Recht zu erkennen. Sein Expertenstatus gründet sich hier auf reflektierte Teilnehmerschaft an sozialer Interaktion. Dabei verzichtet der Therapeut auch in der Gruppentherapie auf Deutungen von unbewusstem Sinn des Geschehens. Die Interventionen im antwortenden Modus werden entweder an die Gesamtgruppe adressiert und richten sich auf das Verhalten der Mehrheit der Gruppenteilnehmer, seltener auch auf Subgruppen und auf einzelne Teilnehmer. Darüber hinaus antwortet der Therapeut mit seinen Interventionen auch auf jeweils in der Gruppe zur Geltung gebrachte Situationsdefinitionen und auf soziale Normen. In diesen Fällen gibt der Gruppentherapeut im antwortenden Modus zu erkennen, wie er selbst angesichts der jeweiligen Situation und der aktuell geltenden sozialen Normen das interpersonelle Geschehen in der Gruppe erlebt und was sich für ihn damit verbindet – vor allem im Hinblick auf die Beziehungen zu anderen. Mit dem antwortenden Modus rückt der Gruppentherapeut vornehmlich Aspekte der interaktiven Gestaltung von MehrPersonen-Situationen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Auf diese Weise tragen Interventionen im antwortenden Modus dazu bei, das Geschehen in der sozialen Mikrowelt der Gruppe und dessen interaktive Hervorbringung transparent zu machen. Die Mittel und Wege, mit denen die Patienten selbst zu ihrer sozialen Alltagswelt beitragen, werden zugänglich und verstehbar. Beeinträchtigungen im Zusammensein mit anderen werden in ihrer interaktiven Genese durchschaubar und können potentiell überwunden werden.

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Auf diese Weise gewinnen die Patienten in der Gruppe Einblick in das Zusammenspiel ihres eigenen Verhaltens und des Verhaltens ihrer gegenwärtigen sozialen Mitwelt, der anderen Patienten in der Gruppe. In der Gestaltung und Mitgestaltung der interpersonellen Verhältnisse in der Gruppe kommt ihr implizites Beziehungswissen zum Tragen, das hier zum Gegenstand der gemeinsamen therapeutischen Arbeit wird. Wenn der Gruppentherapeut seine antwortenden Interventionen aus einer zur Mehrheit der Gruppe komplementären Position formuliert, bringt er zum Ausdruck, welche Wirkungen das Verhalten der Gruppenmitglieder auf sein Erleben und auf seine Handlungsbereitschaften hat. Damit lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Position des Gegenübers, auf die andere Person im interaktiven Austausch, deren Position er hier einnimmt. Formuliert der Therapeut seine antwortenden Interventionen aus einer konkordanten Position in passagerer Identifikation mit einer Mehrheit der Patienten oder auch einer Subgruppe, häufiger auch in Identifikation mit einem einzelnen Patienten, der sich einer Mehrheit in der Gruppe gegenübersieht, gibt er zu erkennen, wie er selbst erleben und handeln würde, wenn er an deren und dessen Stelle wäre. Damit bringt er eine andere Perspektive und alternative Mittel und Wege des Umgangs und der Bewältigung der jeweiligen sozialen Situation zur Geltung. Immer muss die Aufmerksamkeit des Therapeuten bei der Arbeit mit strukturell gestörten Patienten in der Gruppe in besonderem Maße der Art und Weise gelten, wie sie sich äußern und wie sie sich dabei mit ihrem Verhalten in ein Verhältnis zueinander setzen, nicht nur und nicht einmal in erster Linie dafür, was sie inhaltlich mitteilen. Vorrang hat – mit anderen Worten – die pragmatische, Beziehungen konstituierende Dimension kommunikativen Verhaltens. Beziehungserfahrungen und implizites Beziehungswissen strukturell gestörter Patienten zeigen sich oft eher darin, wie sie sich im Verhältnis zu anderen in der Gruppe verhalten, als darin, was sie über ihr Erleben sagen. Beispiel: Eine Patientin, die keinen Zugang zu ihren Gefühlen hatte, war in der Gruppe jedes Mal sehr aufmerksam für die teilweise schweren und schwerwiegenden Probleme der Mitpatienten, und sie schien sich mit den bedrückenden und desolaten Erfahrungen, die einige Patienten

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schilderten, vollkommen zu identifizieren, so weitgehend, dass es so schien, als sei sie momentan nur noch im Medium der von den anderen dargestellten Erfahrungen präsent. Darauf angesprochen brachte sie zum Ausdruck, dass es für sie ganz selbstverständlich sei, dass sie »ein offenes Ohr« für die Probleme der anderen habe, so wie sie ihrerseits von anderen erwarte, dass sie ihr zuhörten, falls es für sie einmal wichtig werden sollte, von sich zu sprechen; sie sei gerne »offen« für die Belange ihrer Umgebung, und es sei für sie eine Genugtuung, wenn sie anderen so helfen könne, wie sie meinte, das in der Gruppentherapie zu tun. Gleichzeitig war die Patientin schwer depressiv und war in der Vergangenheit immer wieder in suizidale Krisen geraten. Einige Zeit nach Beendigung der Gruppensitzungen zeigte sie sich erschöpft und resigniert, konnte aber keinen Zusammenhang herstellen zwischen diesem Zustand und ihrer voraufgegangenen identifikatorischen Angleichung an die Mitpatienten in der Gruppe, deren Probleme sie zu ihren eigenen gemacht hatte.

Weil Patienten mit schwereren strukturellen Störungen ihre Beeinträchtigungen und Probleme häufig nur in ihrem Verhalten zu erkennen geben, wenn sie über sich sprechen jedoch ein Bild präsentieren, das nicht selten in auffälliger Diskrepanz zu ihrem tatsächlichen Verhalten steht, erfährt der Therapeut die tatsächlichen Schwierigkeiten der Patienten nicht, wenn er sich vornehmlich auf ihre sprachlichen Schilderungen stützt, sondern erst dann, wenn er seine Aufmerksamkeit in besonderem Maße darauf richtet, was die Patienten in ihrem Verhalten zu erkennen geben. Beispiel: Ein Patientin, die über Jahre hinweg ihre Selbstregulierung nur mit Hilfe von Drogen und Alkohol hatte sichern können und sich immer wieder in bedrohlicher Weise Schnittverletzungen zufügte, war selbst jedes Mal, nachdem sie wieder in eine schwere Krise geraten war, davon überzeugt, dass sie bei einem nächsten Mal in der Lage sein würde, mit den Problemen fertig zu werden. Sie hatte scheinbar klare Vorstellungen davon, was sie in welcher Weise würde tun müssen, um nicht wieder in den gleichen bedrohlichen Zustand zu geraten, und stellte – auf den ersten Blick überzeugend – dar, auf welche Weise sie zukünftig verhindern würde, dass sich ihr krisenhafter Zustand wieder bis zur Bedrohlichkeit steigern würde. Obwohl sie solche oder ähnliche auf Vorsorge abzielenden Überlegungen bereits viele Male zuvor angestellt hatte, war sie jedes Mal von Neuem zutiefst davon

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überzeugt, dass sie sich tatsächlich wie geplant verhalten würde, falls das geschehen würde. Die Patientin war nicht in der Lage, vergangene Erfahrungen so in ihr Selbstbild zu integrieren, dass ihre tatsächlichen Einschränkungen ihr ein realitätsangemesseneres Verhalten ermöglicht hätten. Würde der Therapeut sich auf die verbalen Darstellungen verlassen, würde er die tatsächlichen Beeinträchtigungen vieler strukturell gestörter Patienten nicht erkennen können. Erst indem er sich darauf einstellt, dass die relevanten Beziehungserfahrungen der Patienten nicht in den sprachlichen Mitteilungen zur Darstellung kommen, sondern im Verhalten gezeigt werden, wird er deren tatsächliches Ausmaß erfassen können.

Charakteristisch für die Arbeitsweise des Gruppentherapeuten im antwortenden Modus sind verschiedene Interventionstypen: – Antwortende Interventionen, mit denen der Therapeut selektiv eigenes Erleben und eigene Handlungsbereitschaften in Antwort auf das Gesamtgeschehen in der Gruppe erkennbar macht. Beispiel: In einer Gruppe, in der der Umgang der Patienten miteinander durch äußerste Vorsicht und durchgängiges Vermeiden aller Äußerungen, die in irgendeiner Weise Missbehagen auslösen könnten, gekennzeichnet ist, sagt der Therapeut: »Allmählich fühle ich mich hier zunehmend beengt, weil es mir so vorkommt, als müsse jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden. Ich merke aber auch, dass sich bei mir einiges dagegen sträubt.«

– Selektive Antworten, die sich darauf beziehen, wie eine momentane Situation definiert wird und welche soziale Normen für diese Situation aktuell gelten oder für die Geltung beansprucht wird. Beispiel: In einer Gruppe gilt seit einiger Zeit die Verhaltenserwartung, dass zwischen den Patienten in der Gruppe nach Möglichkeit keine zu deutlichen Unterschiede gemacht werden, dass insbesondere vermieden werden soll, Unterschiede der Erfahrung und der Kompetenz deutlich werden zu lassen. Das veranlasst den Gruppentherapeuten bei passender Gelegenheit zu sagen: »Ich meine schon festgestellt zu haben, dass Sie in verschiedenen Bereichen sehr unterschiedliche Erfahrungen haben und gemacht haben.«

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

– Interventionen, mit denen der Therapeut sich virtuell an die Stelle von mehreren oder von einzelnen Patienten in der Gruppe versetzt und aus dieser virtuellen Position heraus psychische Funktionen übernimmt, die den Patienten aufgrund struktureller Einschränkungen nicht verfügbar sind. Beispiel: Als sich in einer Gruppe mehrere Patienten darüber beschweren, dass ihre Bemühungen um mehr gemeinsame Aktivitäten innerhalb der Patientengruppe nicht nur auf freundliche Resonanz stießen, die Patienten auf der anderen Seite aber gemeinsame Aktivitäten an die Bedingung knüpfen, dass alle dabei mitmachen, meint der Gruppentherapeut bei passender Gelegenheit: »Ich glaube, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich mich mit meinem Interesse an gemeinsamen Aktivitäten an die halten, die ähnliche Interessen haben, und ich würde darauf hoffen, dass die anderen dann vielleicht von sich aus mitmachten, wenn ihnen daran gelegen ist«.

– Interventionen, mit denen der Therapeut virtuell die Rolle des Objekts, der anderen Person bzw. des Gegenübers in interpersonellen Beziehungen, von denen in der Gruppe die Rede ist oder die im Austausch zwischen den Patienten im Hier und Jetzt der Gruppe gerade gestaltet werden, übernimmt, um damit unter anderem auf potentielle Wirkungen des Verhaltens hinzuweisen, das das Geschehen in der Gruppe aktuell bestimmt. Beispiel: In einer therapeutischen Gruppe, die unter stationären Bedingungen durchgeführt wurde, wird über einen Mitpatienten, der vor noch nicht allzu langer Zeit aufgenommen wurde, abschätzig geredet, mit der deutlichen Tendenz, diesen Patienten entweder zu meiden, zur Ordnung zu rufen, am besten aber dazu zu bewegen, die Station wieder zu verlassen. Hier sagt der Gruppentherapeut bei passender Gelegenheit: »Ich wäre nicht gerne in der Lage von Herrn A. – gerade eben in einer solchen Klinik angekommen, Neuer in einer Gruppe, keiner, den ich kenne, und dann eine solche Stimmung, die mir da begegnet.«

– Interventionen, mit denen der Therapeut Funktionen im Prozess des Verhandelns von Situationsdefinitionen und Gruppennormen übernimmt.

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Beispiel: Als in einer Gruppe darüber »verhandelt« wird, dass man sich in verschiedener Hinsicht jeweils nach dem Patienten richten solle, der momentan am kränksten oder am schwächsten sei, meint der Therapeut: »Was mich angeht, so möchte ich das nicht mitmachen. Da würde ich mir, wäre ich hier Patient, ja geradezu dumm vorkommen, wenn ich mich anstrengen würde, damit es mir besser geht«.

– Interventionen, die auf Affekte und Gefühle fokussieren einschließlich der Mitteilung von eigenen Gefühlen, die sich beim Therapeuten in Antwort auf das Geschehen in der Gruppe einstellen, soweit von der Mitteilung dieser »antwortenden« Gefühle eine entwicklungsförderliche Wirkung erwartet werden kann. Beispiel: Der Gruppentherapeut hatte mehrfach versucht, ein wiederholtes und anhaltendes Schweigen der Patienten anzusprechen, hatte sich mit Fragen an die Patienten gewandt und angeregt, doch miteinander ins Gespräch zu kommen. Als die Patienten weiterhin darauf nicht eingehen, sagt er schließlich: »Ich merke, dass mir das etwas ausmacht, wenn ich Sie anspreche und versuche, mit Ihnen in Kontakt zu kommen, und Sie reagieren darauf nicht. Ich fühle mich dadurch missachtet, und Ihr Schweigen auf meine Bemühungen hin ermuntert mich auch nicht, weitere Versuche zu machen, mit Ihnen in Kontakt zu kommen, wie ich das gerne würde«.

– Interventionen, mit denen Informationen und Erläuterungen zu grundlegenden Aspekten interpersoneller Beziehungen vermittelt werden, soweit dieses kognitive Wissen unterstützend dazu beitragen können, den Patienten Orientierungen in interpersonellen Beziehungen zu erleichtern und ihre soziale Lebenswelt für sie durchschaubarer werden zu lassen.

Erläuterungen zu grundlegenden Aspekten interpersoneller Beziehungen Weil Patienten mit strukturellen Störungen oftmals keine Erfahrungen mit sozialen Beziehungen haben, die von Reziprozität bestimmt sind, kann es nützlich sein, wenn der Therapeut imVerlauf der Arbeit

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

in der Gruppe bei passender Gelegenheit umschriebenes kognitives Wissen zu sozialen Beziehungen und zu verschiedenen Aspekten interpersonellen Verhaltens vermittelt. Manche Patienten können beispielsweise nur schwer verstehen, dass Mitpatienten ihr Verhalten in der Gruppe als aufdringlich oder als aggressiv oder als verletzend empfinden, obwohl sie selbst weder aufdringlich sein wollten, noch verärgert gestimmt waren, sondern lediglich Interesse hatten zeigen wollen, auch nicht verletzend sein, sondern nur ihre Meinung hatten sagen wollen. Der scheinbar so selbstverständliche Umstand, dass die Wirkung, die ein Verhalten auf eine andere Person hat, unabhängig sein kann von der Absicht, mit der das Verhalten ausgeführt wurde, und das Verhalten deshalb von einer anderen Person nicht so wahrgenommen wird, wie es den Absichten des Akteurs entspricht, ist für strukturell gestörte Patienten oftmals alles andere als selbstverständlich. Viele Patienten mit strukturellen Störungen der Persönlichkeit gehen davon aus, dass die Bedeutung ihres Verhaltens mit der Absicht identisch ist, die sie selbst mit ihrem Verhalten verbinden, unabhängig davon, wie ihr Gegenüber das Verhalten auffasst, ob es sich beispielsweise angegriffen fühlt oder das Verhalten als zudringlich empfindet. Wenn sich herausstellt, dass die andere Person das Verhalten anders erlebt, als es der eigenen, mit dem Verhalten verbundenen Absicht entspricht, behandeln sie das als Beleg dafür, dass der Adressat dieses Verhaltens ein »Problem« hat und vermeintlich nicht in der Lage ist zu erkennen, wie das Verhalten »eigentlich« gemeint war: »Wenn du das so siehst, dann ist das dein Problem« ist eine verbreitete Strategie, um sich für etwaige interpersonelle Konflikte nicht verantwortlich oder mitverantwortlich fühlen zu müssen, Gefühle von Schuld zu vermeiden und die Zuständigkeit für die Lösung von Konflikten allein dem Gegenüber zuzuweisen. Viele Patienten können nicht verstehen, dass ihr Verhalten im Umgang mit anderen unabhängig von der damit verbundenen Intention unvermeidlich immer auch eine Stellungnahme zu der anderen Person und deren Handeln ist, damit potentiell sanktionierende Funktionen hat und so dazu beiträgt, die jeweiligen Beziehungen zu gestalten. Beispiel: In einer therapeutischen Gruppe zeigt sich ein Patient von einigen Bemerkungen eines Mitpatienten sichtlich getroffen und verstummt in

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der Folge immer mehr. Darauf angesprochen gibt er zu erkennen, wie verletzt er sich fühlt. Das wiederum veranlasst den Patienten, der als Urheber der Verletzung angesprochen ist, sich mit dem Ausdruck von Empörung zu rechtfertigen, dass er lediglich seine Meinung gesagt, aber niemanden verletzt habe. Sollte es so sein, dass sich sein Mitpatient, der der Adressat seiner Äußerungen war, verletzt fühlt, so könne er das auch nicht ändern, dann sei das dessen Problem, dann müsse der sich selbst fragen, was er da für ein Problem habe.

Vergleichbare Reaktionen sind bei Patienten mit strukturellen Entwicklungsstörungen nicht selten. In diesem Fall brachte allein die Möglichkeit, einem Mitpatienten etwas »Böses« angetan zu haben und dementsprechend eventuell dafür mitverantwortlich sein zu müssen, dass die andere Person eine Verletzung davongetragen hat, die Gefahr mit sich, diffuse Unwert- und Schuldgefühle, Selbsthass und Selbstverachtung nach sich zu ziehen. Nur dadurch, dass der Patient jede Beteiligung an der Verletzung, die die andere Person davongetragen hatte, weit von sich wies und die alleinige Verantwortung der Verletzbarkeit der getroffenen Person zuwies, konnte diese Gefahr vermieden werden. Auch zu wissen, dass Verhalten in Anwesenheit von anderen nicht ausschließlich individuelles Verhalten, sondern unvermeidlich Verhalten im Kontext des Verhaltens von anderen und damit wechselseitig mit diesem Verhalten von anderen verschränkt ist, kann zu einer Irritation bislang als selbstverständlich hingenommener Überzeugungen führen und sich schließlich entwicklungsförderlich auswirken. Im günstigen Fall wird der Patient durch solches Wissen dabei unterstützt zu erkennen, welche Wirkungen sein eigenes Verhalten auf andere Anwesende in der Gruppe hat, zumal ein Patient, der kein Gefühl für die interpersonelle Wirkung seines Verhaltens hat und wieder und wieder in destruktive oder missbrauchende Kollusionen zu geraten droht, ohne erkennen zu können, wie er selbst mit seinem Verhalten daran beteiligt ist und dazu beiträgt. Wenn es einem Patienten möglich wird, aus relativer, auch kognitiv vermittelter Distanz solche Interaktionszirkel zu erkennen, kann das manchmal ein erster Schritt auf dem Weg sein, die sich wiederholenden Zirkel schließlich unterbrechen zu können. Weiter kann für strukturell gestörte Patienten das Wissen, dass Gefühle wichtige Signale im Dienst der Selbst- und der Beziehungsregulierung sind, ausgesprochen hilfreich sein.

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Der Gruppentherapeut übernimmt mit der Vermittlung solcher umschriebenen Aspekte kognitiven Wissens die Funktion eines Experten oder eines Lehrers, der die Anwesenden in der Gruppe mit Informationen versorgt, die für die Gestaltung ihrer sozialen Lebenswelt potentiell hilfreich sein können. Merke: Für die therapeutische Arbeit in Gruppen mit strukturell gestörten Patienten kann es hilfreich sein, wenn der Therapeut gelegentlich grundlegende Gesichtspunkte interpersoneller Beziehungen erläutert, beispielsweise die Funktion von Gefühlssignalen in zwischenmenschlichen Beziehungen oder den Umstand, dass die Wirkung von Verhalten auf eine andere Person unabhängig von der Absicht sein kann, mit der das Verhalten ausgeführt wurde.

Schwerpunkte der therapeutischen Arbeit in der Gruppe Explizite und implizite Themen Manchmal fragt ein Patient in die Runde, ob jemand »ein Thema« hat; oder ein Patient, der auf sein Schweigen angesprochen wird, meint, er könne »zu dem Thema« nichts sagen. Mit »Thema« ist damit gewöhnlich eine umschriebene, explizit zur Sprache gebrachte Problemstellung gemeint, und die Patienten in der Gruppe verständigen sich häufig implizit auf die Norm, dass die Problemstellung, die ein oder mehrere Patienten zur Sprache gebracht haben, »das Thema der Gruppe« sei oder zu sein habe. Was aus der Sicht der Patienten als »Thema« deklariert wird, spiegelt aus der Sicht des Therapeuten häufig eher den Versuch wider, Gemeinsamkeit herzustellen, mit Differenz und Individualität potentiell verbundene Spannungen zu vermeiden und durch Konstituierung eines für alle relevanten »Gegenstandes« potentielle Konflikte zu vermeiden. Für den Therapeuten ist dann viel eher eben dieses Bemühen das – in diesem Fall implizite – Thema. Gelegentlich kommt es zu Beginn einer Gruppensitzung zu flüchtigen Ereignissen, die kaum beachtet werden, aber gleichwohl im weiteren Verlauf der Gruppensitzung offen oder versteckt eine Rolle

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Schwerpunkte der therapeutischen Arbeit in der Gruppe

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spielen und die ein Problem zur Darstellung bringen, das dann über eine mehr oder weniger lange Spanne hinweg im Zentrum des Gruppengeschehens steht. Vielleicht wirft ein Teilnehmer wie nebenher eine Frage auf oder macht beiläufig eine kurze Bemerkung, mit der nichts Besonderes verbunden zu sein scheint, und die damit implizit angesprochene Thematik scheint bald wieder von der Bühne des Geschehens zu verschwinden und in die Kulissen zurückzutreten. Gleichwohl kann sich daraus ein Thema im Sinne einer impliziten Problemstellung entwickeln, das die Gruppe im Weiteren immer wieder beschäftigt. Beispiel: Nachdem in den letzten beiden Gruppensitzungen jeweils ein Mitglied der Gruppe seine Teilnahme hatte absagen müssen, macht zu Beginn der folgenden Sitzung ein Patient die knappe Mitteilung, zur folgenden Sitzung nicht kommen zu können. Niemand scheint der Mitteilung besondere Aufmerksamkeit zu schenken; die Anwesenden nehmen die angekündigte Abwesenheit kommentarlos hin, ohne dass ausdrücklich über das Fernbleiben gesprochen würde. Im Folgenden entwickelt sich eine lebhafte, mit wechselseitiger Kritik und Vorwürfen gespickte Auseinandersetzung über die Frage, wie es mit der Verbindlichkeit in der Gruppe und der Zuverlässigkeit des Therapeuten steht.

Manchmal werden Ereignisse, die mit dem Geschehen in der Gruppe scheinbar wenig zu tun haben, wie die symbolische Verdichtung einer Thematik aufgenommen, die dann im Fortgang der Gruppe entfaltet wird und von der sich herausstellt, dass damit ein in der Gruppe aktuell wichtiges Problem angesprochen ist. Beispiel: In einer Gruppe eröffnet eine Teilnehmerin, noch ein wenig aufgeregt, die Sitzung und berichtet, dass sie gerade große Angst gehabt habe und beinahe auf dem Absatz kehrt gemacht hätte, weil zwei Hunde sich unten in der Nähe der Eingangstür zur Praxis des Therapeuten angebellt hätten. Ihre kurze Erzählung über die streitenden Hunde führt in der Gruppe dazu, dass anfangs verdeckt, später zunehmend direkt über die Frage verhandelt wird, ob überhaupt und wie deutlich Meinungsverschiedenheiten in der Gruppe zur Sprache gebracht und ausgetragen werden können.

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

Selbst in flüchtigen nichtsprachlichen und scheinbar nebensächlichen Ereignissen, die keiner weiteren Erwähnung Wert zu sein scheinen, ist manchmal wie in einem Kern die Thematik enthalten, die sich im weiteren Verlauf mit zunehmender Deutlichkeit und in vielfältigen Schattierungen entfaltet. Manchmal kommt es zu Beginn einer Gruppensitzung zu flüchtigen Szenen, scheinbar kaum wert, beachtet zu werden, die im Fortgang zum Ausgangspunkt für eine die Gruppe zentral betreffende Thematik werden. Beispiel: Ein Patient kommt ein wenig später zur Gruppe, während alle anderen Patienten bereits Platz genommen haben. Bevor er sich hinsetzt, zögert er kurz, macht dann noch einmal kehrt, geht zum Lichtschalter und knipst wortlos die Beleuchtung in dem Gruppenraum an. Ausdrücklich reagiert darauf keiner der Anwesenden. Ohne dass dieses flüchtige initiale Ereignis im Folgenden noch einmal ausdrücklich erwähnt würde, entspinnt sich in der Gruppe bald darauf eine lebhafte Diskussion über die scheinbar nur abstrakte Frage, ob Verhalten, das gut gemeint ist, gleichwohl als willkürlich gelten könne.

Manchmal werden die Themen, die das weitere Gruppengeschehen bestimmen, ausdrücklich benannt und ausführlich kommentiert. Dann wieder kann es sein, dass ein Problem zwar ausdrücklich zur Sprache gebracht, im nächsten Schritt aber scheinbar wieder fallengelassen oder – obwohl noch kaum näher beleuchtet – als erledigt beiseite gelegt wird. Erst im weiteren Ablauf der Gruppe stellt sich dann heraus, dass das angeschnittene Thema so beunruhigend war, dass man sich in der Gruppe stillschweigend darauf geeinigt hat, darüber hinwegzugehen und die mit diesem Thema aufgeworfene Problematik fallenzulassen. Weil sich häufig schon mit den allerersten interaktiven Zügen zu Beginn der Gruppe abzeichnet, womit sich die Gruppe explizit oder implizit beschäftigen wird, sollte der Gruppentherapeut für die ersten Äußerungen besonders aufmerksam sein. Der Therapeut sollte sich fragen, ob sich das in den initialen Beiträgen anklingende Thema fortsetzt, in den weiteren Äußerungen der Gruppenteilnehmer offen oder zwischen den Zeilen weiter behandelt wird, fallengelassen wurde oder ob sich ein anderer roter Faden im Sinne eines gemeinsamen Problembereiches ausmachen lässt.

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Merke: Die Patienten, die an der Gruppe teilnehmen, meinen mit »Thema« oft ein ausdrücklich benanntes Problem, das mehr oder weniger alle Anwesenden in der Gruppe beschäftigt. Aus therapeutischer Sicht muss ein Thema nicht unbedingt ausdrücklich zur Sprache gebracht werden, um für die Gruppe relevant zu sein. Für die Gruppe aktuell relevante Probleme können sich auch im nichtsprachlichen Verhalten konstellieren, beispielsweise als flüchtige Enactments, und häufig zeigen sich aktuelle Schwierigkeiten in den interpersonellen Beziehungen in den ersten interaktiven Zügen einer Gruppensitzung.

Wie wird die aktuelle Situation definiert? In ihrem sprachlichen und nichtsprachlichen Verhalten machen die Gruppenmitglieder kenntlich, wie sie die Situation in der Gruppe wahrnehmen und erleben. Das zu erkennen ist für den Gruppentherapeuten dann nicht schwierig, wenn einzelne oder mehrere Gruppenteilnehmer das Geschehen in der Gruppe ausdrücklich mit Situationen vergleichen, die sie aus ihrem Alltag kennen. Ein Gruppenmitglied sagt, »das ist ja wie im Theater hier«, und andere signalisieren Zustimmung; »wir können ja abstimmen« heißt es angesichts einer strittigen Frage; »wir sitzen alle im gleichen Boot« lautet bei anderer Gelegenheit eine Warnung; »wir sind uns hier doch alle sympathisch« bekräftig eine Mehrheit der Anwesenden, als der Therapeut die scheinbar durchgängige Konfliktfreiheit in Frage stellt; »jeder muss selbst wissen, was er macht« lautet die Kennzeichnung der Situation angesichts weitgehenden Desinteresses aneinander. Mit solchen expliziten Definitionen der Situation ist am ehesten dann zu rechnen, wenn die Gruppenteilnehmer sich einer Situation gegenübersehen, die ihnen unvertraut ist und sie deshalb beunruhigt. Häufig sagen die Gruppenteilnehmer jedoch nicht ausdrücklich, wie sie eine augenblickliche Situation wahrnehmen und erleben. In diesem Fall erlaubt oftmals jedoch ihr nichtsprachliches Verhalten, ihr Benehmen (Freud, 1914), Schlussfolgerungen darauf, welche Bedeutung sie der momentanen Situation geben. Unter Umständen kann der Gruppentherapeut aufgrund des manifesten nichtsprachlichen Verhaltens darauf schließen, dass sie das Geschehen ähnlich wie bestimmte andere Situationen oder Ereig-

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nisse, die ihnen aus dem Alltag bekannt sind, erleben und sich deshalb so verhalten, wie sie das in diesem Augenblick tun. Wenn mehrere Gruppenteilnehmer in einer Situationsdefinition erkennbar übereinstimmen, hat die Gruppe implizit zu einem vorläufigen Konsens darüber gefunden, wie ihre gemeinsame Realität momentan beschaffen ist und sein soll. Unter den Anwesenden herrscht Einigkeit, dass es sich um diese oder um jene Situation handelt und dass man sich dementsprechend so und nicht anders verhalten möge. Wenn es verschiedene und miteinander nicht vereinbare Situationsdefinitionen gibt, steht zunächst die Frage an, ob und wie die Anwesenden in der Gruppe ihr wechselseitiges Verhalten aufeinander abstimmen werden. Wenn Situationsdefinitionen sich im Verlauf einer Gruppensitzung verändern und neu darüber verhandelt wird, »was hier los ist«, geschieht auch das häufig implizit und kommt nicht unbedingt ausdrücklich zur Sprache. Meist erst dann, wenn es zu Missverständnissen kommt oder Interessen konfligieren, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass die Gruppenteilnehmer ausdrücklich darüber sprechen, wie sie die augenblickliche Situation definieren und wie man sich deshalb verhalten möge. Häufiger sprechen die Patienten, die an der Gruppentherapie teilnehmen, im Rückblick über eine Situation und verständigen sich im Nachhinein darüber, ob das Geschehen so oder anders zu verstehen war. Auch dabei geltend gemachte retrospektive Situationsdefinitionen haben oftmals den Zweck, sich darüber miteinander ins Benehmen zu setzen, welches Verhalten in bestimmten Situationen erwartet werden soll und welches Verhalten nicht zu akzeptieren ist. Merke: Über die Bedeutung einer Situation, darüber, »was hier gerade los ist«, wird oft implizit »verhandelt« mit der Art und Weise, wie die Patienten sich verhalten, seltener mit Worten.

Geltungsansprüche normativer Erwartungen Situationen in der therapeutischen Gruppe können sich in vielfältige Richtungen entwickeln, und potentiell ist in verschiedenen Situationen höchst unterschiedliches Verhalten möglich. Die Unsicherheit,

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die damit einhergeht, dass es für eine Situation keine verbindlichen sozialen Normen gibt und deshalb weitgehend offen ist, was im nächsten Moment geschieht, veranlasst – grundsätzlich nicht anders als das im sozialen Alltag geschieht – die Patienten in der therapeutischen Gruppe, Verhalten relativ vorhersagbar zu machen, indem Erwartungen geltend gemacht werden, die das wechselseitige Verhalten bestimmen sollen. Im Fortgang der Gruppentherapie entwickeln sich immer wieder neue Situationen, für die entsprechend neue mehr oder weniger verbindliche Verhaltenserwartungen gesucht werden. So müssen die Teilnehmer in der Gruppe sich fortlaufend darüber verständigen, welches Verhalten sie in verschiedenen Situationen voneinander erwarten. Zu Beginn einer therapeutischen Gruppe mit strukturell gestörten Patienten ist es meist erforderlich, für grundlegendes interpersonelles Verhalten Regelungen zu finden, beispielsweise für die Form der wechselseitigen Anrede oder dafür, wie man sich den anderen Gruppenteilnehmern vorstellen und welche Informationen man dabei über die eigene Person »öffentlich« machen will. Beispiel: In der ersten Sitzung einer Gruppe, die sich zu Fortbildungszwecken getroffen hat, schlägt eine Teilnehmerin nach einigen Minuten des Schweigens vor, man möge sich doch wechselseitig bekannt machen, und sie beginnt sogleich damit, ihren Namen und Vornamen zu nennen und ihren Beruf und Arbeitsplatz mitzuteilen. Nach kurzem Zögern fährt ihr Nachbar fort und stellt sich seinerseits vor, ebenfalls unter Nennung seines Namens, seines Vornamens, seines Berufes und seines Arbeitsplatzes. So setzt sich die Reihe fort, bis sich fünf der Anwesenden in gleicher Weise vorgestellt haben. Der sechste Teilnehmer nennt lediglich Vornamen und Namen; daraufhin folgt ein kurzes Schweigen; der Gruppenteilnehmer belässt es jedoch bei seiner Vorstellung. Dann fährt die siebte Teilnehmerin damit fort, sich vorzustellen, auch sie wieder unter Hinzufügung von Beruf und Arbeitsplatz zu ihrem Namen, und auch die beiden Teilnehmer, die sich bis dahin noch nicht vorgestellt hatten, schließen sich dem an. In dieser kurzen und ganz und gar gewöhnlichen Eingangssequenz nehmen die Anwesenden in der Gruppe mit ihrem Verhalten gleich zu mehreren Themen Stellung: sie halten es in dieser Situation mehrheitlich für wichtig, die Anwesenden über den eigenen Beruf und die eigene Arbeitssituation zu informieren, sie entscheiden sich dafür, das von dem der Mehrheit abweichende Verhalten des Teilnehmers, der

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sich lediglich mit seinem Namen vorgestellt hatte, nicht ausdrücklich zu kommentieren, und zeigen einander damit, dass konformes Verhalten sichergestellt werden kann, ohne abweichendes Verhalten ausdrücklich zu kommentieren.

Im weiteren Verlauf werden die Situationen, für die soziale Normen geltend gemacht werden, vielfältiger und differenzierter. Im gleichen Zug müssen auch die Normen, die für die jeweils aktuelle Situation gelten sollen, differenzierter und spezifischer werden. Welche sozialen Normen in einer Gruppe gelten, lässt sich spätestens dann feststellen, wenn dagegen verstoßen wird und nicht erwartungsgemäßes Verhalten sanktioniert wird. Soziale Normen in der Gruppe können sich auf vielfältige Realitätsbereiche beziehen, etwa auf interpersonelle Beziehungen oder auf moralische Überzeugungen. Beispiel: Eine Teilnehmerin an einer therapeutischen Gruppe kritisiert eine Mitpatientin, von der sie sich unaufmerksam und unfreundlich behandelt sieht. Das nehmen andere Patienten zum Anlass, die Patientin, die die Kritik geäußert hatte, ihrerseits zu kritisieren, weil sie sich angeblich »immer so vorwurfsvoll« äußere; wenn sie etwas sage, müsse man immer das Gefühl haben, »was Schlimmes gemacht zu haben«; es sei vor allem ihr »vorwurfsvoller Tonfall«, der schwer zu ertragen sei. Schließlich rechtfertigt sich die Patientin mit dem Hinweis, dass ihre anfängliche Kritik »doch gar nicht als Vorwurf gemeint« gewesen sei. Nach kurzer Zeit ist in der Gruppe einer sozialen Norm Geltung verschafft bzw. eine bereits gültige soziale Norm bekräftigt worden: Soweit in der Gruppe Kritik geübt wird, ist darauf zu achten, dass die Kritik nicht den Charakter eines Vorwurfs hat; einander Kritik zu üben wird akzeptiert, Vorwürfe zu machen ist jedoch bis auf Weiteres untersagt.

Eine soziale Norm, die darauf abzielt,Vorwürfe zu unterbinden, wird vor allem in Gruppen aufrechterhalten, in denen die Anwesenden dazu neigen, mit schweren Schuldgefühlen, möglicherweise auch mit Selbsthass und Selbstverachtung zu reagieren. Dem Gruppentherapeuten geben soziale Normen, die mit Worten vertreten oder im Verhalten zur Geltung gebracht werden, wichtige Hinweise auf Stärken und Ressourcen, aber auch auf die Probleme,

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die die Patienten im sozialen Miteinander haben, und auf die ihnen verfügbaren Mittel und Wege, mit solchen Schwierigkeiten umzugehen. Beispiel: Nachdem sich mehrere Patienten in einer Gruppe darüber unterhalten haben, ob eine bestimmte Schauspielerin gut aussehe oder nicht, wird eine Patientin mit zweifelnd-spöttischem Unterton gefragt, ob sie wohl neidisch sei. Nachdem sie das mit einem knappen »Weiß ich nicht« abgewiesen hat, entspinnt sich in der Gruppe ein Gespräch über Neid, bei dem man sich rasch darauf verständigt, dass man in der Gruppe nicht neidisch sei. Der Umstand, dass man Neidgefühle eigentlich nicht kenne, wird mit einem deutlichen Ausdruck von Überlegenheit gegenüber denen vorgetragen, bei denen man Anhaltspunkte dafür sieht, dass sie »nur neidisch« seien. Nachdem es in der Gruppe auch über längere Zeit hinweg keinen Anhalt dafür gibt, dass sich einer der Anwesenden zu solchen »primitiven Gefühlen« stellen würde, meint schließlich der Gruppentherapeut: »Neidisch-Sein? Das kenne ich sehr wohl, mal mehr, mal weniger. Ich gehöre zu denen, denen Neid keineswegs fremd ist.«

Um Aufschluss darüber zu gewinnen, für welche sozialen Normen in der Gruppe Gültigkeit beansprucht wird, muss der Gruppentherapeut zum einen die manifesten sprachlichen Äußerungen der Gruppenteilnehmer immer auch unter der Perspektive lesen, welche Erwartungen damit für das augenblickliche Miteinander in der Gruppe geltend gemacht werden. Zum anderen muss er das nichtsprachliche Verhalten auch unter dem Aspekt betrachten, inwiefern damit eventuell bestimmte Regeln interpersonellen Verhaltens für diese konkrete Situation reklamiert werden. Wird ein bestimmtes Verhalten in der Gruppe offen oder mit subtilen Mitteln negativ sanktioniert, lässt das auf Normen in der Gruppe schließen, die in diesem Moment durch dieses Verhalten in Frage gestellt werden und deren Gültigkeit mittels Abweisung des normabweichenden Verhaltens bekräftigt werden. Zu kontroversen Diskussionen über die Geltung und Verbindlichkeit sozialer Normen kommt es meist erst dann, wenn in der Gruppe Lösungen und Regeln dafür verfügbar sind, um Meinungsverschiedenheiten auszutragen, ohne dass in Verbindung damit schwerwiegende Folgen zu befürchten sind. Erst wenn es verlässliche Regulie-

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rungen für den Umgang mit konfligierenden Auffassungen darüber gibt, welches Verhalten man voneinander erwartet und welche Normen gelten sollen, wenn es angesichts von Konflikten zu heftigeren Gefühlen kommt, die mit Kontroversen geweckt werden können, und wie mit Toleranzgrenzen umgegangen werden sollte, können Meinungsverschiedenheiten auch ausgetragen werden. Solange zu befürchten ist, dass Kontroversen in destruktive Auseinandersetzungen münden, können divergierende Meinungen weder zugelassen noch diskutiert werden. Merke: Die Patienten in der Gruppe verständigen sich fortlaufend darüber, welches Verhalten sie wechselseitig voneinander erwarten. Das Aushandeln von Verhaltenserwartungen ist ein impliziter Aspekt kommunikativen Verhaltens. Der Gruppentherapeut muss die manifesten Äußerungen ebenso wie das nichtsprachliche Verhalten der Gruppenteilnehmer deshalb auch immer unter dem Gesichtspunkt lesen, welche Verhaltenserwartungen für die momentane Situation damit geltend gemacht werden.

Gefühle Gefühle haben wichtige Funktionen sowohl für die Selbst- wie für die Regulierung von Beziehungen und sind ein wichtiger Schwerpunkt der therapeutischen Arbeit in der Gruppentherapie. Welche Folgen damit verbunden sein können, wenn Gefühle nicht oder nur vage wahrgenommen werden können und damit für selbst- und beziehungsregulierende Funktionen nicht oder nur begrenzt verfügbar sind, wird an den Beziehungen in der therapeutischen Gruppe oftmals besonders deutlich. Der Therapeut verbindet Interventionen im antwortenden Modus häufiger mit der Äußerung von Gefühlen, die er in Antwort auf das Verhalten der Gruppe, einer Mehrheit von Patienten, gelegentlich auch einzelner Patienten empfunden hat. Damit macht er für die Patienten erkennbar, welche Gefühle ihr Verhalten bei ihm als dem momentanen Gegenüber geweckt wurden und in welcher Weise die Patienten damit zur Gestaltung dieser Beziehung beigetragen haben. Mit der Äußerung eigener, antwortender Gefühle wird für die Patienten zudem deutlich, wie diese Gefühle, die das Ver-

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halten der Patienten hervorgerufen hat, Handlungsbereitschaften auf Seiten des Gegenübers, in diesem Fall des Therapeuten, induziert haben. Für die Patienten rückt damit die Erfahrung gleichsam in greifbare Nähe, dass sie selbst mit ihrem Verhalten bei anderen Gefühle induzieren und damit deren Verhalten in Grenzen beeinflussen können. In diesem Zusammenhang sollte sich der Gruppentherapeut darum bemühen, auch den jeweiligen Kontext deutlich zu machen, innerhalb dessen sich seine Gefühle eingestellt haben. Gefühle und Affekte als Teil der Gegenübertragung des Gruppentherapeuten weisen nicht zwangsläufig auf ein ganz bestimmtes psychisches Geschehen hin und lassen nicht ohne Weiteres auf seelische Dispositionen auf Seiten der Patienten und der Gruppe schließen. Schlussfolgerungen wie »ich habe nicht klar gesehen, also wollten die Patienten mir Sand in die Augen streuen« oder »ich war verärgert, also wollten die Patienten mich ärgern« sind kurzschlüssig – auch wenn sie im Einzelfall einmal zutreffen mögen. Weiter trägt der Therapeut der Bedeutung von Gefühlen damit Rechnung, dass er seine Aufmerksamkeit auf die Gefühle richtet, die Gruppenteilnehmer zu erkennen geben, ebenso wie darauf, welche Gefühle einzelne oder mehrere Patienten in der Gruppe nicht oder nur mehr oder weniger eingeschränkt wahrnehmen können. Manche strukturell gestörten Patienten können Gefühle gar nicht wahrnehmen, so dass sie ihre Selbst- und Beziehungsregulierung nicht auf Gefühlssignale stützen können. Patienten mit schwereren strukturellen Störungen, die Gefühle nur als diffuse und vergleichsweise grobe körpernahe Empfindungen, etwa als Spannungsgefühle, wahrnehmen, können in der Gruppe auch durch die Beobachtung anderer Patienten, die in diesem Bereich weniger eingeschränkt sind, angeregt werden, auf ihre Gefühle mehr zu achten und Gefühle differenzierter wahrzunehmen. Auch wenn sich die Interventionen des Gruppentherapeuten im antwortenden Modus auf Situationsdefinitionen oder auf Normen richten, die in der Gruppe gelten, wird er oftmals versuchen, seine Antworten mit dem Ausdruck eigenen gefühlshaften Erlebens im Kontext der in der Gruppe definierten Situation oder der aktuell vorherrschenden Norm zu verbinden. Wie bei allen Interventionen im antwortenden Modus sollten auch für Interventionen, die der Therapeut in der Gruppe mit dem

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Ausdruck antwortender Gefühle verbindet, zwei Voraussetzungen erfüllt sein: – Die Mitteilung eigener Gefühle darf die Toleranzgrenzen der Patienten, insbesondere ihre Kränkungstoleranz nicht überschreiten und – die Mitteilung eigenen gefühlshaften Erlebens muss begründete Aussicht bieten, sich für die Patienten entwicklungsförderlich auszuwirken. Ist entweder das eine oder das andere oder beides nicht gegeben, sollte der Therapeut auf die Mitteilung eigener Gefühle verzichten. Ist beispielsweise unsicher, ob ein Patient gekränkt sein wird, wenn der Therapeut ihm mit nichtzustimmenden Gefühlen gegenübertritt, sollte der Therapeut auf die Mitteilung seines gefühlshaften Erlebens verzichten, ist doch bei Patienten mit schwereren strukturellen Störungen die Gefahr groß, dass sie auf Kränkungen hin die andere Person innerlich aufgeben und als nur böse, ungenügend und schlecht abwerten. Das wiederum hat leicht zur Folge, dass sie von dem Therapeuten nichts Gutes mehr erwarten. Die Therapie droht sinnlos zu werden. Wenn die normativen Erwartungen, für die von Patienten mit strukturellen Störungen Geltung in der Gruppe beansprucht wird, regressives, vermeidendes Verhalten unterstützen, kann die Mitteilung gefühlshaften Erlebens des Therapeuten in Antwort auf solche regressiven Normen wirksam dazu beitragen, transparent zu machen, welche Einschränkungen für interpersonelle Beziehungen damit einhergehen. Beispiel: In einer Gruppe, in der die Patienten wenig miteinander reden und sich ausschließlich zustimmend, höflich-freundlich und »nett« zeigen, wenn sie sich äußern, damit aber auch weitgehend nichtssagend bleiben, sagt die Gruppentherapeutin bei passenderGelegenheit: »Sie sind so freundlich miteinander. Irgendwie ein ganz angenehmes Klima. Auf der anderen Seite: Was mir hier einfällt und mich beschäftigt, ist nicht ausschließlich freundlich. Mir würde es aber nicht leicht fallen, das hier auszusprechen, weil ich nicht gerne diejenige sein möchte, die dann zum Bösewicht gemacht wird.«

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Merke: Der Gruppentherapeut verbindet seine Interventionen im antwortenden Modus häufig mit der Äußerung von eigenen Gefühlen in Antwort auf das Verhalten von Patienten in der Gruppe. Damit wird für die Patienten erkennbar, wie sie durch ihr Verhalten auf andere Personen – in diesem Fall auf den Gruppentherapeuten und auf dessen Handlungsbereitschaften – Einfluss nehmen können. Gefühle haben wichtige Funktionen für die Selbst- und Beziehungsregulierung. Gefühlsantworten des Therapeuten richten sich auch auf momentan vorherrschende Situationsdefinitionen oder auf soziale Normen. Die Mitteilung eigener Gefühle des Therapeuten darf die Toleranzgrenzen der Patienten nicht überschreiten und muss entwicklungsförderlich sein.

Beziehungserleben und Beziehungsgestaltung (Objektbeziehungen) Der Therapeut hat in der Gruppe mit strukturell gestörten Patienten immer mit der wichtigen Frage zu tun, ob es sich bei den Beziehungserfahrungen, die bei den Patienten im Verhalten zueinander und im Verhältnis zu ihm in jedem Moment aktualisiert werden und bei den Beziehungen, die sie miteinander gestalten, um reife, auf Reziprozität beruhende interpersonelle Beziehungen handelt oder ob – wie bei Patienten mit strukturellen Einschränkungen der Persönlichkeitsentwicklung meist – die jeweils anderen in erster Linie für Zwecke der Selbstregulierung gebraucht werden, also selbstwertregulierende oder bedürfnisbefriedigende Funktionen haben, in psychoanalytischer Terminologie: Selbst- bzw. Teilobjekte sind, aber nicht als eigenständige andere Personen »in ihrem eigenen Recht« und dementsprechend nicht als Personen erlebt werden, die dem Patienten um ihrer selbst willen wichtig sind. Teilobjektbeziehungen unterscheiden sich von Beziehungen zu »ganzen« Objekten in erster Linie dadurch, dass gleichsam ein Teil der Person für die ganze Person genommen wird. Beherrschen Teilobjektbeziehungen das Feld in der Gruppe, werden Unterschiede zwischen den Anwesenden nivelliert. Die anderen verschwimmen zu einem mehr oder weniger homogenen Ganzen. Ein potentiell

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triadisches Beziehungsfeld wird zu einem dyadischen oder pseudodyadischen Geschehen zusammengeschmolzen. Mit dem antwortenden Modus ist der Therapeut in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppe auf Progression hin und damit auf Differenzierung ausgerichtet. Indem er sich als getrenntes, eigenständiges »Objekt« zu erkennen gibt, als zwar zugewandte und erreichbare, aber doch als andere, von dem Patienten unabhängige Person, entzieht er sich den Selbstobjektbedürfnissen der Patienten in nichttraumatisierender Weise. Wenn der Gruppentherapeut seine Interventionen auf Situationsdefinitionen, auf soziale Normen, auf strukturell eingeschränkte Funktionen einzelner Gruppenteilnehmer und einer Mehrheit in der Gruppe und auf aktualisierte Beziehungserfahrungen beziehungsweise Teilobjektbeziehungen und die dazugehörigen Gefühle ausrichtet, heißt das nicht, dass er nicht auch für unbewusste Konflikte und deren psychosoziale Abwehr aufmerksam ist. In jedem Fall geht er auf unbewusste Konflikte jedoch nicht mit deutenden Interventionen ein. Merke: Mit Interventionen im antwortenden Modus gibt sich der Therapeut als eigenständige andere Person zu erkennen. Während strukturell gestörte Patienten die andere Person meist für Zwecke der Selbstregulierung als Selbstobjekte benötigen, gibt der Therapeut sich dadurch als getrenntes »Objekt« zu erkennen.

Komplikationen in der Gruppentherapie Gefährdungen des Rahmens Wenn ein Patient in einer therapeutischen Gruppe die vereinbarten Rahmenbedingungen nicht einhält, betrifft das nicht nur diesen einen Patienten. Die anderen Patienten in der Gruppe sind Zeugen der Verletzung des Rahmens. Darum steht in diesem Moment für alle Teilnehmer die Frage an, wie stabil und unverbrüchlich der Rahmen ist. Das individuelle Ereignis wird unvermeidlich zu einem Präzedenzfall, an den – ausdrücklich zur Sprache gebracht oder gleichsam zwischen den Zeilen – die Frage geknüpft ist, ob die Verein-

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Komplikationen in der Gruppentherapie

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barung, gegen die das den Rahmen verletzende Verhalten gerichtet war, zukünftig noch gilt oder aber außer Kraft gesetzt ist. Mit der Art und Weise, wie der Gruppentherapeut sich in Anwesenheit der anderen Gruppenmitglieder dazu verhält, nimmt er deshalb nicht nur zu dem Verhalten dieses Patienten, der solches Verhalten zeigt, Stellung, sondern er bekundet gleichzeitig vor allen anderen und für alle anderen Patienten in der Gruppe, wie verbindlich der Rahmen ist und welche Folgen es hat, wenn Rahmenvereinbarungen nicht eingehalten werden. Damit steht der Gruppentherapeut in diesem Moment in seiner Funktion als Vertreter und Garant unverbrüchlicher Rahmenvereinbarungen gleichsam auf dem Prüfstand. Jetzt erweist sich an seinem Verhalten, ob und wieweit er die Sicherheit und Orientierung vermittelnde Funktion des Rahmens garantieren kann. Dabei darf der Gruppentherapeut Rahmenvereinbarungen nicht wie Instrumente handhaben, denen er nur um einer von ihm bestimmten Ordnung willen Nachdruck verleiht. Rahmenbedingungen, die nicht erkennbar die Funktion haben, eben die Bedingungen zu gewährleisten und aufrechtzuerhalten, die für die gemeinsame therapeutische Arbeit erforderlich sind, drohen zu Instrumenten zu werden, die nur mehr seiner Macht und Autorität dienen, die aber nicht die Bedingungen sichern helfen, die notwendig sind, damit die gemeinsame therapeutische Arbeit in der Gruppe potentiell erfolgreich durchgeführt werden kann. Dem Therapeuten wäre damit jede legitime Grundlage entzogen, um für die mit den Patienten vereinbarten Bedingungen mit Nachdruck eintreten zu können. Werden Rahmenbedingungen nicht eingehalten, sind grundlegende Voraussetzungen nicht mehr gewährleistet, die für eine potentiell erfolgreiche Arbeit in der Gruppe nötig sind. Eine Behandlung fortzusetzen, bei der die erforderlichen Rahmenbedingungen nicht oder nicht mehr eingehalten werden, hieße deshalb, die Arbeit in der Gruppe in dem Wissen fortzuführen, dass davon kein therapeutischer Nutzen zu erwarten ist; der Therapeut würde fahrlässig handeln. Unter solchen Bedingungen muss die Wiederherstellung der Gültigkeit eines stabilen Rahmens Priorität haben. Manche Patienten können sich nur schwer auf verbindliche Rahmenvereinbarungen festlegen. Sie fürchten, damit Selbstbestimmung aufzugeben und sich einem fremden Willen zu unterwerfen. Umso wichtiger ist es, dass der Gruppentherapeut nicht nur verbal, sondern auch durch die Art und Weise, wie er die Rahmenbedingun-

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gen handhabt, erkennbar macht, dass der Rahmen kein Ordnungsoder Herrschaftsinstrument ist, sondern notwendige Voraussetzung für die gemeinsame therapeutische Arbeit. Beispiel: Die Verlässlichkeit des Rahmens kann beispielsweise dann in Frage stehen, wenn ein Patient häufiger ohne triftigen Grund nicht zur Therapie erscheint. Ein derartiges Verhalten betrifft immer alle Patienten in der Gruppe. Fehlen ein oder mehrere Teilnehmer, ist die Gruppe nicht mehr dieselbe. Auch wenn regelmäßiges Zuspätkommen eines Patienten für sich genommen keine gravierenden Auswirkungen auf die therapeutische Arbeit haben muss, manchmal von Mitpatienten und Therapeuten eher wie eine individuelle Marotte hingenommen wird und in einer Einzeltherapie im Hinblick auf die Motive des Patienten für sein Verhalten geduldig untersucht werden kann, kann es in der Gruppe zu einem Prüfstein werden, an dem sich für alle Patienten erweist, wie sicher man vor willkürlichem Verhalten in der Gruppe geschützt ist. Wie der Gruppentherapeut damit umgeht, bringt immer auch zum Ausdruck, wie wichtig ihm die gemeinsame therapeutische Arbeit ist und welche Bedeutung er der verabredeten Anwesenheit aller an der Gruppentherapie beteiligten Patienten beimisst. Nimmt der Therapeut die Abwesenheit nur achselzuckend hin, legt sich den anderen Patienten unter Umständen der Eindruck nahe, dass willkürliches Verhalten keine nennenswerten Folgen hat. Darum ist es wichtig, dass der Therapeut in Anwesenheit aller Gruppenteilnehmer auf den gemeinsamen Beginn der therapeutischen Arbeit dringt, nicht, weil er Pünktlichkeit per se für eine Tugend halten müsste, sondern weil alle Patienten davon betroffen sind, wenn ein Mitpatient in der Gruppe habituell zu spät kommt und damit die gemeinsame Arbeit erst mit Verspätung beginnen kann, oder wenn Patienten in anderer Weise von den vereinbarten Rahmenbedingungen abweichen. Geschieht das nicht, werden sich Hinweise auf willkürliches Verhalten meist innerhalb von kurzer Zeit mehren.

Oft sind es Patienten im jungen Erwachsenenalter, insbesondere Borderline-Patienten, die die Begrenzungen des Rahmens nur schwer tolerieren können. Junge Patienten beispielsweise, die die adoleszenztypischen Entwicklungsanforderungen über viele Jahre hinweg mit Drogen gedämpft haben und deren psychisches Funktionsniveau sich in weiten Teilen auf dem Niveau von Bedürfnisbefriedigung bewegt, können Versagungen und Frustrationen manchmal

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Komplikationen in der Gruppentherapie

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kaum aushalten und reagieren darauf mit heftiger Wut, die gelegentlich dem Ausdruck einer Wut ähnelt, die das Entbehrte gleichsam herbeischreien will. Sie können die Grenzsetzungen des Rahmens, die ihnen abverlangen, auf solche unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zu verzichten und ihr Verhalten mit von außen an sie herangetragenen Erwartungen abzustimmen, kaum ertragen. Morgens rechtzeitig aufzustehen, verabredete Termine einzuhalten oder auch nur die Lautstärke von Musik auf ein für andere akzeptables Maß zu reduzieren, werden als unzumutbare Versagungen erlebt. Unabhängig davon, welche bewussten und unbewussten Beweggründe die Patienten zu ihrem Verhalten, mit dem Rahmenvereinbarungen überschritten werden, veranlasst haben mögen, so steht in der Gruppe auch in diesen Fällen immer auf dem Spiel, ob die Begrenzungen des Rahmens Gültigkeit behalten oder ob die Gefahr realistisch ist, dass sich Beliebigkeit und Willkür breitmachen. Patienten mit Borderline-Störungen fällt es zudem häufig schwer, ihr impulsgeprägtes Verhalten zu steuern, zumal unter affektiv stimulierenden Bedingungen. Auch dann muss der Therapeut grenzenüberschreitendes Verhalten gegebenenfalls unmissverständlich unterbinden und so verlässlich dafür Sorge tragen, dass der Rahmen für die therapeutische Gruppenarbeit nicht außer Kraft gesetzt wird. Beispiel: In eine ambulante Gruppe, an der Patienten teilnahmen, die nach einer längeren stationären psychiatrischen Behandlung beim Übergang in ihren sozialen und beruflichen Alltag therapeutische Unterstützung benötigten, kam ein Patient eines Tages in leicht alkoholisiertem Zustand. Er hatte am Nachmittag – die Gruppe fand abends statt – Alkohol getrunken, wie sich später im Gespräch mit dem Therapeuten herausstellte. In der Gruppe verhielt er sich weitgehend still, aber der Geruch des Alkohols hing untrüglich im Raum. Weil der Patient sich in der Gruppe ruhig verhielt, sprach der Therapeut ihn während der Sitzung auf seinen Alkoholkonsum nicht an und nahm sich stattdessen vor, ihn nach der Sitzung an die gemeinsam getroffenen Vereinbarungen zu erinnern. Sowohl zur nächsten wie zur übernächsten Gruppensitzung erschienen drei Teilnehmer gar nicht; von zwei der Abwesenden war nicht bekannt, welche Gründe für ihr Verhalten ausschlaggebend waren. Eine Teilnehmerin ließ dem Gruppenleiter durch eine Mitpatientin ausrichten, dass sie verhindert sei, obwohl verein-

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bart war, dass die Teilnehmer mit dem Therapeuten persönlich sprechen sollten, falls sie einmal durch besondere Gründe daran gehindert wären, zur Therapie zu kommen. Der Therapeut hatte nicht bedacht, welche Implikationen es für die anderen Gruppenmitglieder haben könnte, dass er das Verhalten des alkoholisierten Patienten in der Gruppe unkommentiert gelassen hatte. Damit hatte der Gruppentherapeut – ohne das zu beabsichtigen – für die anderen Gruppenteilnehmer zu einer von ihm selbst deklarierten Rahmenbedingung Stellung genommen – nicht mit Worten, sondern mit seinem Verhalten, genauer gesagt: damit, dass er das Verhalten des alkoholisierten Patienten schweigend quittiert und damit aus der Sicht der anderen Anwesenden zum Ausdruck gebracht hatte, dass Vereinbarungen ohne gravierende Folgen außer Kraft gesetzt werden können. In den folgenden Sitzungen hatte der Gruppentherapeut einige Mühe, den Rahmenbedingungen wieder Geltung zu verschaffen und den Patienten in der Gruppe das Gefühl zu geben, sich innerhalb eines verlässlichen, Halt und Orientierung vermittelnden Rahmens bewegen zu können.

Manchmal zeigen Patienten in Gruppensitzungen mehr oder weniger impulsives Verhalten. Ein Patient springt auf und läuft aus dem Raum, die Tür laut hinter sich zuschlagend; eine Patientin steht plötzlich auf, um einen Mitpatienten in der Gruppe zu umarmen und damit vermeintlich Trost zu spenden oder Sympathie zu bekunden; ein Patient baut sich im Zuge einer verbalen Auseinandersetzung plötzlich mit drohender Geste vor einem Mitpatienten auf. Obwohl die verschiedenen Situationen sich hinsichtlich der Dringlichkeit unterscheiden, mit der sie eine Stellungnahme des Therapeuten verlangen, haben sie doch darin eine Gemeinsamkeit, dass Gefühlen und Handlungsimpulsen nicht mehr nur mit Worten Ausdruck verliehen wird, sondern dass die Patienten zu konkretem Handeln greifen. Ist eine Umarmung auch vergleichsweise harmlos, während bei aggressiv-willkürlichem und destruktivem Verhalten eines Gruppenmitglieds rasch die Sicherheit aller Gruppenteilnehmer und damit die Therapie insgesamt auf dem Spiel stehen kann, muss doch damit gerechnet werden, dass selbst mit milderen Rahmenverletzungen die Unverbrüchlichkeit des Rahmens und die Verlässlichkeit des Gruppentherapeuten getestet werden. Darum sollte der Therapeut bei allem Verständnis auch solchen Rahmenverletzungen entgegentreten.

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Wird ein Patient von Impulsen und Gefühlen überflutet und scheint nahe daran zu sein, die Kontrolle über sein Verhalten zu verlieren, ist es besonders wichtig, dass der Therapeut unverzüglich und unmissverständlich Grenzen zur Geltung bringt, gegebenenfalls auch mit Nachdruck oder manchmal auch mit einem barschen, Einhalt gebietenden Hinweis, der dann gleichsam die Funktion eines unübersehbaren Verbotsschildes hat. Patienten mit strukturellen Störungen können in der Gruppentherapie in Zustände geraten, die mit erheblicher Angst oder mit schwer kontrollierbarer Erregung einhergehen und ihnen kaum erträglich erscheinen. Soweit diese Problematik vor Beginn der gemeinsamen Arbeit in der Gruppe absehbar ist, aber dennoch eine Indikation für eine Gruppentherapie gesehen wird, kann mit dem Patienten vereinbart werden, dass er die Gruppe vorübergehend verlässt, wenn ihm die Situation nicht mehr aushaltbar erscheint und er meint, nicht mehr in der Lage zu sein, seine Selbstregulierung auf andere Weise aufrechterhalten zu können. Dabei sollte die Bereitschaft des Patienten in die Vereinbarung eingeschlossen werden, in die Gruppe zurückzukommen, sobald er sich hat beruhigen können. Die Befürchtung, derartige Vereinbarungen könnten ausgenutzt und in den Dienst wiederholten Vermeidens gestellt werden, bewahrheitet sich selten. Im Gegenteil reagieren die meisten Patienten erleichtert auf die damit in Aussicht gestellte Möglichkeit, machen tatsächlich aber selten davon Gebrauch. Die Patienten, die an der Gruppentherapie teilnehmen, sollten untereinander keine sexuellen und Liebesbeziehungen eingehen, weil das für die gruppentherapeutische Arbeit hinderlich ist. Die Patienten, die eine intime Beziehung zueinander eingegangen sind, entziehen sich dem Geschehen in der Gruppe, sparen Themen aus, die sie als Paar betreffen könnten, beteiligen sich nur noch selektiv am Geschehen und vermeiden alles, was die neu eingegangene Beziehung stören könnte. In der Folge wird das vermeidende Verhalten des Paares für die anderen Teilnehmer an der Gruppe leicht zum Signal, dass die verabredeten Rahmenbedingungen nicht mehr gelten. Dieses Problem lässt sich oft nur dadurch lösen, dass mindestens einer der beiden Patienten, die das Paar bilden, die Gruppe verlässt. Nur so lassen sich die für die gemeinsame Arbeit in der Gruppe erforderlichen Voraussetzungen wiederherstellen. Manchmal ent-

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schließen sich daraufhin beide Patienten, die Gruppentherapie zu verlassen, eine Lösung, die meist das geringere Übel im Vergleich zu der Gefahr ist, dass beide in der Gruppe verbleiben und die Therapie aller Gruppenmitglieder gefährdet wird oder ineffektiv bleibt. Wird die Paarbeziehung von den Beteiligten selbst in der Gruppe öffentlich gemacht, bekunden die anderen Patienten oftmals viel Verständnis für das Paar und ebenso viel Unverständnis für den Therapeuten, der solche Versagungen auferlegt und dann gerne als »lustfeindlich« und »verständnislos« an den Pranger gestellt wird. Es ist in Gruppen mit strukturell gestörten Patienten kaum jemals hilfreich, wenn der Therapeut versucht, solche Äußerungen als Übertragungen in der Schwebe zu belassen. Vielmehr sollte er dem ausdrücklich entgegentreten und an die schon im Vorgespräch erläuterten Gründe erinnern, weshalb sexuelle und Liebesbeziehungen unter Mitgliedern der Gruppe mit der therapeutischen Arbeit nicht vereinbar sind. Merke: Bei der gruppentherapeutischen Arbeit mit strukturell gestörten Patienten sind Gefährdungen des Rahmens eine die Behandlung ständig begleitendes Thema. Mit Rahmenvereinbarungen werden die Regelungen getroffen, die auf der einen Seite aus therapeutischer Sicht unabdingbare Voraussetzung für eine potentiell nützliche Behandlung sind, die auf der anderen Seite aus der Sicht des Patienten tolerierbar sind. Rahmenvereinbarungen dürfen nicht zu Ordnungs- oder Herrschaftsinstrumenten werden. Der Therapeut muss für die Verlässlichkeit von Rahmenbedingungen einstehen und sollte auch bei milderen Grenzüberschreitungen die Unverbrieflichkeit des Rahmens betonen.

Normen in der Gruppe, die Entwicklung behindern Beharren die Teilnehmer an der Gruppentherapie auf einschränkenden, Differenzierung und Entwicklung behindernden Normen und schreiben sie mit vermeidenden Normen den Status quo fest, können sie keine neuen Beziehungserfahrungen machen. Zu den einschränkenden, aber häufig vertretenen Gruppennormen, die Entwicklung und Weiterentwicklung behindern, gehören Erwartungen, die Gleichheit und Unterschiedslosigkeit unter den

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Mitgliedern in der Gruppe proklamieren. Jegliche Schritte, die damit einhergehen würden, Unterschiede zwischen den Anwesenden zu machen und Ungleichheit festzustellen, werden normativ unterbunden. Korrespondierend dazu ist der Interaktionsstil in der Gruppe in solchen Phasen meist stereotyp und manchmal ritualisiert. Dermaßen vermeidende normative Regulierungen werden in Gruppen, die strikt daran festhalten, selten ausdrücklich zur Sprache gebracht, weil allein die Aussicht, sie zu benennen, mit dem Risiko ihrer Infragestellung einhergeht. Soziale Normen, die Gleichheit und Konformität fordern, können sich auf ganz verschiedene Geltungsbereiche beziehen: Meinungen sollen nicht zu deutlich voneinander abweichen, kritische Stellungnahmen haben zu unterbleiben, Toleranz wird mit Verzicht auf eigene Urteile gleichgesetzt, Harmonie im Sinne von Gleichklang und Gleichheit wird zum Ziel aller Beziehungen erklärt. Unterschiede des Alters, der Erfahrung, des Geschlechts, des sozialen und ökonomischen Status, der Bildung oder der Begabung werden nivelliert oder für unwichtig gehalten. Auf diese Weise sollen Konflikte und Spannungen, die aus Differenz zwischen den Anwesenden in der Gruppe erwachsen könnten, Neid, Eifersucht, Missgunst, Konkurrenz und Rivalität vermieden werden. Beispiel: Eine junge Frau, die wegen schwerer depressiver Verstimmungen und chronischer Suizidalität zur stationären Behandlung hatte aufgenommen werden müssen, saß oft schweigend in der therapeutischen Gruppe. Manchmal, wenn auch nur geringfügige Meinungsverschiedenheiten zwischen anderen Gruppenmitgliedern anklangen, weinte sie leise vor sich hin. Dann wurde es in der Gruppe still. Man hatte den Eindruck, dass sie mit ihrem Verhalten großen Einfluss hatte. Dem manifest geäußerten Wunsch einer anderen Patientin in der Gruppe, es sei doch wichtig, in Harmonie miteinander umzugehen, weil das für die seelische Gesundung aller vonnöten sei, stimmte sie schweigendnickend zu. Mehr und mehr breitete sich in der Gruppe ein Verhalten aus, dem die implizite Norm zugrunde zu liegen schien, dass man auf Harmonie und dauernden Gleichklang bedacht sein müsse und dass alles zu vermeiden sei, in dem sich Verschiedenheit und Getrenntheit bekunden und das die Illusion von All-Einheit und Ungeschiedenheit stören könnte.

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Der Gruppentherapeut intervenierte einige Zeit, nachdem sich diese Norm etabliert hatte, in folgender Weise: »Ich sehe, dass einige von Ihnen sich im Augenblick bedrückt fühlen. Vielleicht gehen Sie deshalb ganz besonders vorsichtig miteinander um und verhalten sich – wie mir scheint – eher vermeidend zueinander. Es scheint hier im Augenblick nicht ganz einfach zu sein, sein eigenes Befinden und seine eigene Meinung zu äußern, weil Sie wohl davon ausgehen, das könnte die Harmonie stören, die Sie wünschen. Ich merke allerdings, dass mir das zu eng ist.«

Nicht nur Normen, die kollektive Harmonie und Gleichheit fordern, können Entwicklung erschweren, sondern auch individualistische Normen, die Verbundenheit mit anderen, Mitverantwortung und wechselseitige Unterstützung verhindern. Das trifft beispielsweise für Erwartungen zu, dass jeder in der Gruppe nur für sich selbst verantwortlich sein soll. Nicht Rücksichtnahme bestimmt dann das Verhalten im Zusammensein, sondern im Vordergrund steht die Durchsetzung des jeweils eigenen Interesses. Solche individualistischen Normen können bisweilen ausgesprochen antisozialen Charakter haben. Beziehungen bleiben unverbindlich, Vertrauen wird erschwert, das Verhalten im Kontakt bleibt unbezogen. Unter solchen Bedingungen kann der Spannungspegel in der Gruppe hoch sein. Oftmals werden die Gültigkeit von Normen und normkonformes Verhalten in therapeutischen Gruppen mit hohem moralischem Druck eingefordert und abweichendes Verhalten unerbittlich sanktioniert. Abweichler, die sich dem Zwang zur Einheit nicht beugen können oder wollen, müssen mit dem sozialen Druck einer Mehrheit rechnen, der manchmal unauffällig, aber deshalb umso wirksamer, nicht selten mit versteckter Empörung, leiser Verachtung und mit Andeutungen der Androhung, jegliche soziale Unterstützung zu entziehen, ausgeübt wird. Wer von einer Norm abweicht, läuft Gefahr, zum Außenseiter gestempelt zu werden. Angesichts dieses Risikos beugen sich die Betroffenen meist dem Konformitätsdruck, auch dann, wenn sie mit den aktuell in der Gruppe geltenden Regeln des Miteinander-Umgehens nicht einverstanden sind. Zu groß ist die Angst, ins soziale Abseits zu geraten und die Verbindung zu den anderen Gruppenmitgliedern zu verlieren. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass ein Patient sich dem Anpassungsdruck, der

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von einer Mehrheit in der Gruppe ausgeübt wird, nur dadurch entziehen kann, dass er die Therapie beendet. Unter solchen Umständen muss der Gruppentherapeut die Aufgabe übernehmen, die aktuell in der Gruppe geltende, Entwicklung behindernde Norm in Frage zu stellen. Dieser therapeutische Schritt kann auch beim Gruppentherapeuten Ängstlichkeit wecken, in der sich meist ebenfalls die Gefahr ankündigt, ausgestoßen und sozial isoliert zu werden. Manchmal versuchen die Gruppenmitglieder, den Therapeuten mit seinen Bemühungen, geltende normative Erwartungen in Frage zu stellen, scheitern zu lassen, um an ihrem gewohnten Verhalten festhalten zu können. Dann hört man ihm zwar zu, nimmt aber nicht auf, was er geäußert hat; seine Anwesenheit wird zur Kenntnis genommen, aber man zeigt zugleich, dass seine Präsenz keine Bedeutung hat. Merke: Werden in der Gruppe als soziale Normen Konformität und Unterschiedslosigkeit gefordert und damit Differenzierung und Entwicklung behindert, muss der Gruppentherapeut die Aufgabe übernehmen, diese normativen Verhaltenserwartungen infrage zu stellen. Das ist besonders dann erforderlich, wenn die Infragestellung derartiger Normen mit dem Risiko behaftet ist, in der Gruppe sozial isoliert zu werden.

Häufiger Wechsel von Gruppenteilnehmern Dass die Teilnehmer an der therapeutischen Gruppe innerhalb von kurzer Zeit wechseln, ist in erster Linie unter stationären Bedingungen ein erschwerender Umstand. Für die Behandlung in der Klinik stehen oft nur wenige Wochen zur Verfügung. Dann besteht die Gefahr, dass das Geschehen in der Gruppe über längere Zeit hinweg vornehmlich davon bestimmt wird, dass Patienten neu in die Gruppe kommen beziehungsweise sich aus der Gruppe verabschieden. Unter derartigen Bedingungen können sich dichtere Beziehungen unter den Gruppenmitgliedern nur schwer entwickeln. Im schlechtesten Fall unterscheidet sich das Geschehen in der Gruppe nicht wesentlich von einem mehr oder weniger oberflächlichen Gespräch unter Wartesaalbedingungen, und der Umgang miteinander hat hochgradig virtuellen Charakter. Wenn diese Gefahr droht,

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ist es günstiger, eine Kurztherapie mit einer geschlossenen Gruppe – eventuell auch nur im Umfang von acht bis zwölf Gruppensitzungen – durchzuführen, als das ständige Kommen und Gehen und den ritualisierten interpersonellen Stil, der die Vordergründigkeit der Beziehungen verdecken soll, hinzunehmen. Merke: Wenn die für die Gruppentherapie zur Verfügung stehende Zeit knapp bemessen ist und deshalb ständig neue Teilnehmer in die Gruppe kommen und alte die Gruppe verlassen, ist es meist günstiger, mit einer geschlossenen Gruppe mit wenigen Sitzungen zu arbeiten.

Sozial ängstliche Patienten Nicht alle strukturell gestörten Patienten sind zu einer Behandlung in der Gruppe zu motivieren. Manche Patienten, die in hohem Maße sozial ängstlich sind, widersetzen sich der Empfehlung zur Gruppentherapie, obwohl die Behandlung in der Gruppe indiziert ist. Bei einigen Patienten ist die Angst vor Bewertung und vor Beschämung so groß, dass sie es nur unter großer Anspannung aushalten, sich in Gegenwart von anderen zu äußern, und sie fühlen sich nicht in der Lage, an der Gruppe aktiv teilzunehmen. Bei Patienten mit dermaßen gravierenden generalisierten sozialen Ängsten, die bei Patienten mit strukturellen Störungen häufig sind, kann es hilfreich sein, besondere Absprachen zu treffen, damit sie doch noch an der therapeutischen Gruppe teilnehmen können. So kann es beispielsweise nützlich sein, vor einer Gruppe bestimmte Schritte für die bevorstehende Sitzung zu verabreden und im Anschluss die Gruppensitzung gemeinsam auf die Erfahrungen hin auszuwerten, die der Patient dort gemacht hat. Bei anderen Patienten kann es hilfreich sein anzuregen, die Aufmerksamkeit gezielt auf bestimmte Aspekte des Verhaltens von Mitpatienten in der Gruppe zu richten, beispielsweise um Ähnlichkeiten und Unterschiede festzustellen, eine Empfehlung, die helfen kann, die andauernde Selbstaufmerksamkeit sozial ängstlicher Patienten zu unterbrechen. Die Indikation zur Gruppentherapie wird gewöhnlich an die Voraussetzung gebunden, dass die Patienten in ihrem Alltagsleben zumindest einige Erfahrungen damit haben, sich in Gruppen auf-

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zuhalten (z. B. König und Lindner, 1991). Aber auch manche Patienten, die in ihrem Alltag nähere Kontakte zu unbekannten anderen Menschen und zu Gruppen bis dahin weitgehend gemieden haben, berichten nach Abschluss der Gruppentherapie nicht ganz selten, dass sie sich deutlich sicherer als zu Beginn fühlen und sich inzwischen zutrauen, sich ohne zu große Anspannung unter anderen Menschen zu bewegen. Wenn Patienten gleichzeitig einzel- und gruppentherapeutisch behandelt werden, wie das im stationären Rahmen annähernd regelhaft der Fall ist, kann es sein, dass sie versuchen, als schwierig empfundene Themen nur in der Einzeltherapie zu besprechen, in der Gruppe dagegen nur unverfängliche Themen zur Sprache zu bringen. Das macht nicht zuletzt deutlich, wie wichtig es ist, dass Einzelund Gruppentherapeut gut kooperieren, sich über die gemeinsamen Patienten in ausreichend dichten Abständen austauschen und die Patienten wissen lassen, dass sie das tun. Nicht die Möglichkeit der Trennung von Themen macht die Kombination von Einzelund Gruppentherapie sinnvoll, sondern die Möglichkeit, in der Einzeltherapie intrapsychische Aspekte einer Problematik vertiefend zu bearbeiten, die vielfältigen interpersonellen, interaktiven Aspekte der gleichen Problematik demgegenüber in der Gruppentherapie. Merke: Obwohl sozial ängstliche Patienten sich häufig davor scheuen, an einer Gruppentherapie teilzunehmen, ist die Behandlung in der Gruppe meist indiziert. Manchmal kann es dann erforderlich sein, mit den Patienten besondere Absprachen zu treffen, die ihnen eine gewinnbringende Teilnahme an der Gruppe ermöglichen. Wenn Patienten gleichzeitig einzel- und gruppentherapeutisch von verschiedenen Therapeuten behandelt werden, ist es besonders wichtig, dass beide gut miteinander kooperieren und sich über die gemeinsamen Patienten austauschen.

Wiederkehrende interpersonelle Probleme in der Gruppe In jeder therapeutischen Gruppe müssen eine Reihe von Fragen beantwortet und Aufgaben bearbeitet werden, die die Beziehungen unter den Anwesenden in der Gruppe betreffen. Die Probleme,

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für die in Gruppen mit strukturell gestörten Patienten Regelungen gefunden werden müssen, werden von weniger beeinträchtigten Patienten oftmals ohne Schwierigkeiten und gleichsam im Vorbeigehen gelöst, können für strukturell gestörte Patienten aber gravierend sein. Zumal in der Anfangsphase werden mit einiger Regelmäßigkeit typische, das soziale Miteinander in der Gruppe betreffende Themen verhandelt, die ähnlich zwar auch in Gruppen mit weniger gestörten Patienten auf der Tagesordnung stehen, dort aber meist rascher und unaufwendig gelöst werden können. In Kontakt treten In den ersten Sitzungen einer neuen therapeutischen Gruppe spielt für die Patienten regelhaft die Frage eine vorrangige Rolle, ob man überhaupt zueinander Kontakt aufnehmen will und wenn ja, wer den ersten Schritt dazu unternimmt. Nicht minder dringlich stellt sich dann die Frage dar, wie man sich den Anwesenden zeigen soll, wie offen oder zurückhaltend man sein will und sein kann. Die Initiative im Kontakt zu übernehmen ist für viele Patienten mit dem Risiko behaftet, abgewiesen und dadurch beschämt zu werden, könnte es doch sein, dass das Interesse, das mit einem ersten Schritt bekundet wird, von der anderen Person nicht erwidert wird. Die Vorstellung, den ersten Schritt auf einen fremden Menschen zuzugehen, ist für viele strukturell gestörte Patienten darüber hinaus mit der Angst verbunden, beurteilt zu werden und für dumm, hässlich und nicht der Beachtung wert gehalten, zurückgewiesen und beschämt zu werden und sich mit der Bekundung von Interesse der Lächerlichkeit preiszugeben. Die Ängste können so groß sein, dass jede Kontaktaufnahme vermieden wird und jeder darauf wartet, dass die Initiative vom anderen ausgehe. Patienten, die nur mit »Gutem« rechnen, laufen in den Anfangsphasen therapeutischer Gruppen manchmal Gefahr, in blindem Vertrauen ohne jeden Vorbehalt selbst intime Details von sich preiszugeben, noch bevor sie auch nur annähernd wissen, wer die anderen sind, mit denen sie in der Gruppe zu tun haben, und was sie von den anderen zu erwarten haben. Aggressivität und Kritik Nicht minder regelhaft steht in den Anfangsphasen therapeutischer Gruppen das Problem an, wie man mit aggressiven Gefühlen und

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Handlungsbereitschaften untereinander umgehen kann, mit Antipathie,Ablehnung, Ärger und negativer Kritik.Viele Patienten haben große Angst davor, dass aggressives und destruktives Verhalten Eingang in die Gruppe finden könnte. Schon die initialen Definitionen der Situation lassen oft erkennen, dass jegliches aggressives und destruktives Verhalten gemieden werden soll und möglicherweise sogar als gefährlich gefürchtet wird. Entsprechend fordern die normativen Erwartungen wechselseitige Zustimmung ohne Vorbehalt. Die Gefahr, die mit aggressiven Gefühlen und Impulsen verbunden ist, versuchen die Patienten in der Gruppe in der Anfangsphase nicht selten dadurch zu bannen, dass sie alles »Böse« externalisieren und auf Objekte außerhalb der Gruppe projizieren. Zwar kann es sein, dass die Anwesenden viel und intensiv über aggressives Verhalten, über destruktive Ereignisse und deren gravierende Folgen, die sich außerhalb der Gruppe ereignet haben, miteinander sprechen, zugleich bleibt es in der Gruppe selbst aber ganz und gar friedfertig. »Böses« ist ausschließlich bei anderen, die weit entfernt und vermeintlich ganz anders als alle in der Gruppe Anwesenden sind. Manchmal kommt es in Gruppen mit strukturell gestörten Patienten im Kontrast dazu zu wenig gesteuerten Durchbrüchen heftiger aggressiver Gefühle und Impulse. Noch bevor die Patienten erste Antworten auf die Frage gefunden haben, wie sie ihr Zusammensein in der Gruppe miteinander gestalten und regeln wollen und können, kommt es zu aggressiv aufgeladenen, ängstigenden Situationen, die die weitere therapeutische Arbeit zu lähmen oder sogar in für manche Patienten retraumatisierende Verhältnisse zu münden drohen. Unter solchen Umständen muss der Therapeut begrenzend eingreifen und sich für normative Regelungen einsetzen, die die Situation für die Patienten in der Gruppe handhabbar machen. Toleranzgrenzen Damit unfreundliche Urteile übereinander, Kritik, Antipathie, Ablehnung und negative Gefühle oder Verachtung in der Gruppe zur Sprache gebracht und zum Gegenstand der therapeutischen Arbeit gemacht werden können, muss die Frage des Umgangs mit Toleranzgrenzen, in diesem Fall insbesondere der Umgang mit wechselseitiger Kränkbarkeit, beantwortet sein. Zu Beginn sind die Patienten in der Gruppe notwendigerweise unsicher, wie die Gefahr, gekränkt zu werden, und die Gefahr, andere zu kränken, einzuschätzen ist, ob

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eine Lösung darin liegen könnte, dass man einander die eigene Kränkungstoleranz kenntlich macht oder ob man damit möglicherweise das Risiko erhöht, verletzt zu werden. Auch im Hinblick auf andere, potentiell beunruhigende Probleme muss gereglt werden, wie mit Erträglichkeits- und Toleranzgrenzen umgegangen werden soll, ob beispielsweise die Frage, was in der Gruppe geäußert werden darf oder nicht geäußert werden darf, von dem Gruppenmitglied bestimmt wird, dessen Toleranzgrenze am niedrigsten zu sein scheint, oder – im anderen Extrem – ob man unabhängig von jeweiligen Erträglichkeitsgrenzen alles »ohne Rücksicht auf Verluste« äußern will, was immer einem im Augenblick einfällt, oder ob man Lösungen finden will, die irgendwo dazwischenliegen könnten. Die Frage des Umgangs mit Toleranzgrenzen stellt sich in Zusammenhang mit Ängsten, die vor allem bei Patienten mit ängstlich-vermeidenden und Borderline-Persönlichkeitsstörungen rasch das Maß des Aushaltbaren erreichen können, aber auch im Hinblick auf emotionale Nähe, die für schizoide, schizotypische, paranoide und narzisstische Persönlichkeitsstörungen ein großes Problem sein kann; andere Patienten können es kaum ertragen, dass einmal erlebte Nähe zu anderen sich zugunsten von größerer Distanz verändert oder gar die Gefahr von Trennung droht, etwa Patienten mit dependenten, histrionischen und BorderlinePersönlichkeitsstörungen. Gruppen, die alles »Böse« per Projektion und Externalisierung aus dem eigenen Kreis fernzuhalten versuchen, stützen sich oftmals auf eine Norm, die man »das Recht des Schwächeren« nennen könnte: Wer »schwach« ist, weint, Angst hat,Verletzbarkeit zeigt oder depressiv ist, bestimmt, was in der Gruppe möglich ist und sein darf und was vermieden werden muss. Das kann dazu führen, dass sich eine Sanatoriumsatmosphäre in der Gruppe entwickelt, die von regressiven Normen und vermeidendem Verhalten bestimmt ist, in der selbst kraftvollere Äußerungen missbilligend unterbunden werden und in der jede Entwicklung und Weiterentwicklung behindert wird. Wird an solchen vermeidenden und Weiterentwicklung behindernden Normen festgehalten, muss der Gruppenleiter die Aufgabe übernehmen, die Norm in Frage zu stellen, und den Versuch einleiten, die Situation in der Gruppe neu zu definieren, damit sich Beziehungen entwickeln können, die eine größere Vielfalt erlauben, auch wenn dies für einige Patienten im Moment beunruhigend ist.

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Zeigen Patienten Zeichen von Erstarrung, von Fluchtverhalten oder greifen zu wütenden Gegenangriffen, weist das darauf hin, dass ihre Toleranzgrenzen im Moment überschritten sind. Emotionale Nähe und Intimität Regelmäßig muss in Gruppen auch eine Antwort auf die Frage gefunden werden, wie viel und welche Art emotionaler Nähe und Intimität untereinander möglich ist und realisiert werden soll. Emotionale Nähe und Intimität, die Ausdruck der Wahrnehmung des anderen als eigenständige Person in ihrer spezifischen Individualität ist, ist in therapeutischen Gruppen mit strukturell gestörten Patienten selten. Scheinbar unverstelltes Reden über Sexualität oder forcierte Annäherungen stehen hier oftmals im Dienst von Bemächtigungs- und Kontrollbedürfnissen, nehmen das Gegenüber als andere Person aber häufig nicht wahr und dienen dann der Vermeidung von emotionaler Nähe. Wenn die Situation im Hier und Jetzt tatsächlich emotional dichter wird und es um die Frage personaler Nähe und Intimität zwischen den Anwesenden geht, machen sich in Gruppen mit strukturell gestörten Patienten leicht Angst und Unsicherheit breit. Gleichheit und Differenz Häufig werden in Gruppen mit strukturell gestörten Patienten Versuche unternommen, Sicherheit dadurch zu erreichen, dass Unterschiede untereinander geleugnet werden. Korrespondierend dazu werden Situationsdefinitionen und Normen vertreten, die Gleichheit und Unterschiedslosigkeit proklamieren. An solchen homogenisierenden, Gleichheit und Gleichbehandlung fordernden Normen wird meist solange festgehalten, wie man sich in der Gruppe mit dem eigenen Verlangen nach Einfluss und Macht, mit Neid und Missgunst, Konkurrenz und Rivalität zu konfrontieren noch nicht in der Lage sieht. Unterschiede untereinander können erst dann wahrgenommen und zur Sprache gebracht werden, wenn in der Gruppe verlässlich geregelt ist, wie mit den Gefühlen und Impulsen, mit denen in diesem Zusammenhang zu rechnen ist, und wie mit den eigenen und den Toleranzgrenzen von anderen umgegangen werden soll. Angesichts von Gleichheit erklärenden und damit Differenzierung verhindernden Normen kann selbst eine auf den ersten Blick anspruchslose Intervention, mit der der Gruppentherapeut nicht

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

mehr tut, als darauf hinzuweisen, dass er Unterschiede zwischen den Anwesenden feststellt, in manchen Phasen der therapeutischen Arbeit Verwunderung und Stutzen hervorrufen und zu überraschenden Weiterentwicklungen der interpersonellen Beziehungen in der Gruppe anregen. Trennung und Abschied Auch für den Umgang mit Trennung und Abschied müssen in der Gruppe regelhaft Lösungen gefunden werden. Abschied nehmen zu müssen kann für manche strukturell gestörten Patienten höchst kritisch und belastend sein und möchte von ihnen deshalb umgangen und vermieden werden. Weil Trennungen als Objektverlust erlebt werden, mit der Gefahr einer Devitalisierung des Selbst einhergehen können und Selbstentwertung, Selbsthass und selbstschädigendes Verhalten nach sich zu ziehen drohen, werden bevorstehende Trennungsereignisse verleugnet, vordergründige Tröstungsversprechen gemacht oder aggressiv-abwertendes Agieren herangezogen, um vor Leeregefühlen und Zuständen tiefer Niedergeschlagenheit zu schützen. Soweit Gefühle von Schmerz und Kummer nicht gänzlich verleugnet oder – wie von narzisstischen und von BorderlinePatienten häufiger – als »albern« oder »Getue« abgewertet werden müssen, helfen manchmal rituelle Aktivitäten wie ein gemeinsames Abschiedsessen, der Austausch von Geschenken oder kleine Feiern dabei, die Situation gemeinsam zu bewältigen, sich der fortbestehenden wechselseitigen Beziehungen zu versichern und die drohende Gefahr der Auflösung der Gruppe zu bannen.

Zusammenfassung: Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie In der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie steht das Verhalten von strukturell gestörten Patienten im Verhältnis zu anderen neben Aspekten der Selbstregulierung im Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit. Die Behandlung in der Gruppe konzentriert sich darauf, den Patienten dabei zu unterstützen, – Funktionen der Beziehungs- und der Selbstregulierung weiterzuentwickeln,

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Zusammenfassung: Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

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– Erleben und Verhaltensbereitschaften im Zusammensein mit anderen zu identifizieren und zu untersuchen, – Zusammenhänge zwischen eigenem Erleben auf der einen Seite und Verhalten im Kontext des Verhaltens der anderen auf der anderen Seite zu erkennen und auf dem Hintergrund der Aktualisierung von implizitem Wissen, das häufig auf frühe vernachlässigende und traumatisierende Beziehungserfahrungen verweist, transparent und verstehbar zu machen, – die Wirkungen zu erkennen und deren Folgen verstehen zu lernen, die das eigene Verhalten auf verschiedene andere Menschen mit deren jeweiliger Individualität hat, – ein Gefühl dafür zu entwickeln, selbst Akteur zu sein und Einfluss darauf nehmen zu können, was in der eigenen sozialen Welt in welcher Weise geschieht, – Schritte der Entwicklung zu ermöglichen hin zu reifen, von Reziprozität bestimmten Beziehungen mit der Differenzierung von Selbst, Affekten und Objekt und – neue Erlebens- und Verhaltensweisen und bisher ungewohnte oder unbekannte Mittel und Wege zu erproben, mit anderen im Kontakt zu sein. Damit bietet die psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie strukturell gestörten Patienten gute Chancen, dysfunktionale interpersonelle Verhaltensmuster aufgeben und befriedigendere interpersonelle Beziehungen entwickeln zu können. Die Patienten können neue Möglichkeiten gewinnen, sich des eigenen Erlebens und Verhaltens im Kontext des Erlebens und Verhaltens anderer sicherer zu werden, sich unter Wahrung der eigenen Individualität im Kontakt mit anderen angstfreier zu bewegen und damit die eigene soziale Lebenswelt befriedigender zu gestalten.

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Psychotherapie bei strukturellen Störungen: Forschungsstand

Gegenwärtig liegen mehrere psychodynamische Behandlungsansätze zur Behandlung struktureller Störungen vor. Im deutschsprachigen Raum hat sich über viele Jahre die von Heigl-Evers und Heigl (1983) begründete psychoanalytisch-interaktionelle Therapie in einem breiten Feld klinischer Anwendung bei Patienten mit schweren Störungen bewährt. Im internationalen Bereich sind hier insbesondere die am Konzept Kernbergs orientierte Übertragungsfokussierte Therapie (Transference Focussed Psychotherapy, TFP; Clarkin et al., 2001) und die Mentalisierungs-basierte Therapie (MBT) nach Bateman und Fonagy (2004) zu nennen. Für die Behandlung von Opiat-Abhängigkeit ist eine am Konzept von Luborsky (1995) orientierte psychodynamische Therapie entwickelt worden (z. B. Woody et al., 1990). Darüber hinaus ist in den letzten Jahren von Rudolf (2004) das Konzept einer strukturbezogenen Psychotherapie entwickelt worden, das zahlreiche Aspekte der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie übernommen hat. In Zeiten von Evidenz-basierter Medizin und empirisch belegter Psychotherapie (Chambless und Hollon, 1998) reichen klinische Belege allein als Wirkungsnachweis nicht mehr aus. Es wird gefordert, die Wirksamkeit einer Methode in entsprechend konzipierten Studien zu belegen. Wie solche Wirkungsnachweise methodisch beschaffen sein sollten, wird gegenwärtig kontrovers diskutiert (z. B. Leichsenring und Rüger, 2004). Nach unserer Auffassung können randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) belegen, dass eine Behandlungsmethode unter kontrollierten experimentellen Bedingungen wirksam ist. Ist dies der Fall, folgt daraus jedoch nicht zwangsläufig, dass diese Methode unter den Bedingungen der klinischen Routine-Praxis in gleichem Maße wirksam ist. Für einen solchen Nachweis sind naturalistische Studien (»Beobachtungsstudien«) erforderlich, also Studien, die unter den Bedingungen der klinischen Praxis durchgeführt werden. Im Folgenden sollen sowohl RCTs als auch naturalistische Studien zur Wirksamkeit psychodynamischer Therapie bei strukturellen Störungen kurz referiert werden.

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Psychotherapie bei strukturellen Störungen: Forschungsstand

Wirkungsnachweise in der Form randomisierter Studien liegen für verschiedene Formen psychodynamischer Therapie bei strukturellen Störungen vor. Für die am Konzept von Luborsky (1995) orientierte Therapie spezifisch zugeschnitten auf Opiat-Abhängigkeit existieren bisher zwei RCTs. In dem ersten war diese Form der Therapie ebenso wirksam wie Verhaltenstherapie und einer Drogenberatung überlegen (Woody et al., 1990, 1995). In einem zweiten RCT erwies sich diese Methode erneut einer Drogenberatung als überlegen (Woody et al., 1995). In einer weiteren Studie zur Kokain-Abhängigkeit war dieses Konzept jedoch weniger erfolgreich als eine individuelle Drogenberatung (Crits-Christoph et al., 1999). Das galt allerdings auch für die ebenfalls untersuchte Verhaltenstherapie (Crits-Christoph et al., 1999). Bateman und Fonagy (1999) haben in einem RCT gezeigt, dass eine am Konzept der MBT orientierte tagesklinische Behandlung bei Patienten mit BorderlinePersönlichkeitsstörung wirksamer ist als eine tagesklinische psychiatrische Standardbehandlung. Clarkin et al. (2007) verglichen TFP mit der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) von Linehan (1987). TFP erwies sich in einer Reihe von Ergebnismaßen als ebenso wirksam wie DBT. Im Hinblick auf die Verbesserung von Bindung und Mentalisierung war sie der DBT sogar überlegen (Levy et al., 2006). Damit liegt für die MBT und die TFP jeweils ein RCT vor, das die Wirksamkeit belegt. Nach dem Konzept der American Psychological Association (APA) ist es jedoch erforderlich, dass mindestens zwei solcher Wirkungsnachweise vorliegen, damit die Wirksamkeit als ausreichend belegt angesehen werden kann (Chambless und Hollon, 1998). Für die strukturbezogene Psychotherapie liegen Belege für die Wirksamkeit bisher in Form einer naturalistischen Studie vor (Rudolf et al., 2004). Dies gilt auch für die psychoanalytischinteraktionelle Therapie, in der die Wirksamkeit bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im Rahmen einer naturalistischen Studie belegt worden ist (Leichsenring et al., 2007). In dieser Studie wurde gezeigt, dass stationäre psychoanalytischinteraktionelle Therapie bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung zu signifikanten Verbesserungen in verschiedenen Bereichen führt. Hierzu gehören bedeutsame Verbesserungen bei den Ziel-Problemen – den Problemen, die die Patienten als am meisten belastend schildern –, in der Symptomatik, bei interperso-

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Psychotherapie bei strukturellen Störungen: Forschungsstand

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nellen Problemen und in der Lebenszufriedenheit. Besonders große Effekte wurden bei den Ziel-Problemen erreicht. Diese Ergebnisse sind umso bemerkenswerter, als verschiedene Daten gezeigt haben, dass es sich bei den Behandelten um schwer gestörte Patienten handelte (Leichsenring et al., 2007). Dies geht z. B. aus den hohen Raten bei Arbeitsunfähigkeit, Suizidversuchen, Selbstverletzungen und Substanzmissbrauch in der Vorgeschichte hervor. Auch das hohe Maß an komorbiden Störungen spricht für die Stärke der Beeinträchtigung der behandelten Patienten: Bei 81 % der Patienten wurden bei Aufnahme in die Klinik drei oder mehr ICD10-Diagnosen gestellt. Die eingesetzten Selbstbeurteilungsverfahren zeigten ebenfalls die Schwere der Störung an (Leichsenring et al., 2007). In einer weiteren Studie wurde gezeigt, dass stationäre psychoanalytisch-interaktionelle Therapie bei Patienten mit komplexen Störungen signifikante Verbesserungen ebenfalls in verschiedenen Bereichen erzielt (Leichsenring et al., in Vorbereitung). Da diese Studie auf einer außergewöhnlich großen Patientenstichprobe beruht, soll etwas näher auf sie eingegangen werden. Ausgangspunkt war die Tatsache, dass psychische Störungen üblicherweise nicht isoliert auftreten, sondern in Kombination (Komorbidität). Die am Paradigma der randomisierten kontrollierten Studie orientierte Psychotherapieforschung hat dieses Problem jedoch bisher weitgehend ausgeblendet. Dies gilt für die Frage, wie eine manualisierte Behandlung bei komplexen psychischen Störungen erfolgen soll, für die Frage, welche Kriterien für die Erfolgsbewertung herangezogen werden, sowie für die Frage, für welche Patientengruppe ein entsprechender Wirkungsnachweis gewertet werden soll (Leichsenring et al., in Vorbereitung). In der genannten Untersuchung wurde der Versuch unternommen, kombinierte (»komplexe«) psychische Störungen empirisch zu identifizieren und ihre Behandlungsergebnisse zu untersuchen. Zu diesem Zweck wurde eine große unausgelesene Stichprobe von Patienten untersucht, die in der Klinik Tiefenbrunn bei Göttingen behandelt wurden (N = 2092). Anhand der ICD-10-Diagnosen wurde geprüft, welche psychischen Störungen regelhaft besonders häufig miteinander kombiniert sind. Es wurden zehn besonders häufige »komplexe Störungen« identifiziert. Diese deckten 75 % der untersuchten Patientenpopulation ab. Für diese zehn komplexen Störungen wurden die Behandlungseffekte für die von den Patien-

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ten angegebenen Hauptprobleme und die Symptomatik berechnet. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass diese komplexen Störungen wirksam mit stationärer psychoanalytisch-interaktioneller Therapie behandelt werden können. Da die Studie unter den Bedingungen der klinischen Praxis durchgeführt wurde, haben ihre Ergebnisse eine besonders hohe Relevanz für die Frage der Wirksamkeit in der klinischen Praxis (Leichsenring und Rüger, 2004). Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie hat bei der Behandlung solcher komplexen Störungen möglicherweise einen strategischen Vorteil insofern, als sie sich nicht nur und nicht in erster Line an der vorliegenden Symptomatik orientiert, sondern an den strukturellen Einschränkungen und deren interpersonellen Auswirkungen, die funktional mit den verschiedenen Symptombildern verbunden sind. Psychoanalytisch-interaktionelle (psychodynamische) Therapie geht auch von vornherein davon aus, dass die verschiedenen Symptome nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern funktionell miteinander verbunden sind, und fokussiert auf diese Zusammenhänge. Eine randomisierte, durch Mittel der Heigl-Stiftung geförderte kontrollierte Studie zur psychoanalytisch-interaktionellen Therapie bei Patienten mit Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen wird gegenwärtig in der Klinik Tiefenbrunn durchgeführt.

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Aus- und Weiterbildung in der psychoanalytisch-interaktionellen Methode

Zur Fortbildung in der psychoanalytisch-interaktionellen Methode werden regelmäßig Kurse und Seminare angeboten, die nach Modulen mit unterschiedlichen Schwerpunkten gegliedert sind. Die einzelnen Module beziehen sich unter anderem auf die Diagnostik von strukturellen Störungen im therapeutischen Gespräch, auf die Gestaltung und Handhabung der therapeutischen Beziehung und auf die therapeutischen Techniken. Darüber hinaus wird im Rahmen der Fortbildung ein Modul zur videounterstützten Mikroanalyse therapeutischer Interaktion angeboten. An den Fortbildungsveranstaltungen sind psychotherapeutisch, psychiatrisch und psychoanalytisch kompetente Experten aus dem Bereich der klinischen Psychiatrie und Psychotherapie sowie der Psychosomatischen Medizin, der Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie und Psychotherapie sowie aus dem Beratungssektor beteiligt (zu weiteren Informationen siehe unter www.interaktionell.de). Daneben führt die Arbeitsgemeinschaft für die Anwendung der Psychoanalyse in Gruppen seit über 30 Jahren jährliche Fort- und Weiterbildungskurse in psychoanalytisch-interaktioneller Gruppentherapie durch. Die Arbeitsgemeinschaft wurzelt in der Praxis klinischer Gruppenpsychotherapie, die im Krankenhaus Tiefenbrunn bei Göttingen entwickelt wurde. Dort finden Kurse jeweils in der ersten Dezemberwoche statt. Die Seminare beinhalten Selbsterfahrungsgruppen, die Demonstration von Gruppenbehandlungen mit anschließender Auswertung in Gruppen sowie Theorieseminare, in denen die theoretischen Grundlagen der Methode vermittelt werden. Die einwöchige Fortbildung wendet sich in erster Linie an Interessenten aus therapeutischen Tätigkeitsfeldern, aber auch an Angehörige aus anderen Berufsfeldern, die in Gruppentherapie ausgebildet sind und/oder ihre Kompetenzen und Erfahrungen erweitern wollen. Seit 1980 werden darüber hinaus dreijährige Weiterbildungskurse angeboten. Gemäß den Richtlinien der Krankenkassen rechnet die psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie zu den tiefenpsychologisch fundierten Behandlungs-

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Aus- und Weiterbildung

verfahren (weitere Informationen siehe unter www.psychoanalysein-gruppen.de). Mit der psychoanalytisch-interaktionellen Arbeitsweise stehen auch für den Beratungssektor effektive Mittel und Wege zur Verfügung. Zur Fortbildung in psychoanalytisch-interaktionell orientierter Beratung und Personalführung werden Seminare mit kleiner Teilnehmerzahl angeboten. Dabei nehmen unter anderem videounterstützte Mikroanalysen der Interaktion von Berater und Klient einen zentralen Platz ein (weitere Informationen siehe unter www.interaktionell.de).

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Checkliste für Therapeuten und Rater

Die folgende Checkliste wurde zunächst für Forschungszwecke entwickelt. Unabhängige Beurteiler (Rater) können mit ihrer Hilfe beispielsweise anhand von Videoaufzeichnungen von Therapiesitzungen einschätzen, inwieweit die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie realisiert worden ist. Therapeuten können diese Checkliste jedoch auch selbst verwenden, um sich im Hinblick darauf einzuschätzen, inwieweit sie die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik in der jeweiligen Therapiestunde eingesetzt haben. 1. Der Therapeut hat mit dem Patienten an einem Fokus (Schwerpunkt) gearbeitet. 2. Der Therapeut hat eine aktive Haltung eingenommen. 3. Der Therapeut hat sich dem Patienten gegenüber als eigenständige andere Person »in ihrem eigenen Recht« gezeigt. 4. Der Therapeut hat den Patienten grundlegend emotional akzeptiert und den Patienten das erkennen lassen. 5. Der Therapeut hat sich dem Patienten als erreichbare und emotional berührbare andere Person angeboten. 6. Der Therapeut hat Interaktion und Austausch gefördert. 7. Der Therapeut hat dem Patienten gegenüber eigenes Erleben zum Ausdruck gebracht. 8. Der Therapeut hat eigene Gefühle, die sich bei ihm in Reaktion auf den Patienten eingestellt haben, erkennen lassen. 9. Die Gefühle und das eigene Erleben, das der Therapeut dem Patienten gegenüber zum Ausdruck gebracht hat, wirkten authentisch. 10. Wenn der Therapeut dem Patienten gegenüber eigenes Erleben und eigene Gefühle zum Ausdruck gebracht hat, war das selektiv auf Beeinträchtigungen des Patienten abgestimmt. 11. Der Therapeut hat Beeinträchtigungen des Patienten in zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich im therapeutischen Gespräch gezeigt haben, erkannt.

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Checkliste für Therapeuten und Rater

12. Die Interventionen des Therapeuten waren auf Beeinträchtigungen des Patienten ausgerichtet, die sich im Erleben von Beziehungen und in der Gestaltung von Beziehungen gezeigt haben. 13. Der Therapeut hat die Gefühle des Patienten erfasst. 14. Wo sich gezeigt hat, dass der Patient Gefühle, Impulse, Fantasien, Wünsche u. a. kaum wahrnehmen und differenzieren kann, ist der Therapeut mit antwortenden Interventionen darauf eingegangen. 15. Die antwortenden Interventionen des Therapeuten waren auf Beeinträchtigungen psychischer Funktionen des Patienten (z. B. Antizipation von Wirkungen und Folgen des Handelns, Regressionssteuerung, Affekt- und Impulssteuerung, Reizschwelle) ausgerichtet. 16. Wenn der Therapeut sein eigenes Erleben in Antwort auf das Verhalten des Patienten in der therapeutischen Beziehung zum Ausdruck gebracht hat, konnte der Patient das mit seinem eigenen Verhalten in Verbindung bringen. 17. Wenn Toleranzgrenzen des Patienten überschritten waren, hat der Therapeut das erkannt. 18. Die antwortenden Interventionen des Therapeuten waren klar und für den Patienten verständlich. 19. Der Therapeut hat Regression des Patienten nicht gefördert. 20. Soweit negative Übertragungen die Therapie hätten gefährden können, ist der Therapeut dem aktiv entgegengetreten. 21. Der Therapeut hat den Patienten dabei unterstützt zu erkennen, wie sein Verhalten zur Gestaltung der Beziehung mit dem Therapeuten beiträgt. 22. Der Therapeut hat Fortschritte, die der Patient gezeigt hat, bestätigt. 23. Der Therapeut konnte sich gut in den Patienten einfühlen.

Globale Einschätzung der Kompetenz des Therapeuten durch Rater 1. Der Therapeut hat Interventionen entsprechend dem antwortenden Modus kompetent eingesetzt nicht – mäßig – gut – sehr sicher

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Checkliste für Therapeuten und Rater

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2. Der Therapeut hat kompetent das Erleben des Patienten von zwischenmenschlichen Beziehungen und sein Verhalten in Beziehungen zum Schwerpunkt der therapeutischen Arbeit gemacht nicht – mäßig – gut – sehr sicher 3. Beurteilung der Kompetenz des Therapeuten in der Handhabung der psychoanalytisch-interaktionellen Methode nicht – mäßig – gut – sehr sicher

Globale Einschätzung der Schwierigkeiten, die der Patient dem Therapeuten bereitet hat wenig – mäßig – schwierig – sehr schwierig

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Ergänzende Literatur

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Register

A Abwehr 77, 85 f., 88, 108 – psychosoziale 24, 194 Äquivalenzmodus 23 Affekte 18, 47, 91 f., 105 f., 119, 121 ff., 132, 138, 142, 164, 179, 191, 211 Agieren 46, 55 f., 58 f., 64 f., 91, 123, 131 f., 154, 164, 210 Alltagswelt 14, 63, 174 Alltagsleben 15, 19, 22, 39, 42, 67, 72 f., 137 ff., 158, 204 Anerkennung 14, 22, 74, 86 Angewandte Psychoanalyse 16 Anpassung 21, 24, 85 f., 93 f., 202 Anpassungsgleichgewicht 33 Antizipation 89, 110 f., 118, 142, 220 antwortender Modus 9, 48, 95 f., 124, 141, 174 Aufklärung des Patienten – über die Behandlung 35, 48, 142 – über die Diagnose 29, 142 Ausfallhonorar 61 auslösende Situation 33 Außenseiter 173, 202 Autarkie 38, 66, 120 Authentizität 70 Autonomie 38, 55, 69, 77 Autorität 31, 72, 149, 152, 195 B Beendigung 50, 59, 127, 138 ff., 142, 176 Befriedigungsaufschub 51, 91

Behandlungsabbruch 108, 132 Behandlungsbedürftigkeit 38 Behandlungsdauer 50, 52, 58, 59, 138, 142 Behandlungsende 59, 140 Behandlungsergebnis 140, 215 Behandlungsmotivation 113, 142 Behandlungsschwerpunkt 13, 26, 28, 50, 52 ff., 142 Behandlungsziele 28, 35, 41 f., 44 Belastbarkeitsgrenzen 46, 82, 105, 127, 164 f. Beschämung 126 f., 129, 170, 204 – Angst vor 129 Beziehung – retraumatisierende 172, 207 – reziproke 13, 24, 70, 73 f., 96, 138 – sexuelle 83, 92, 158, 199 f. – therapeutische 9, 14, 48, 66, 70, 75 f., 100, 103, 105 ff., 124, 133 – traumatisierende 9, 14, 17, 22, 105, 120, 194, 211 Beziehungskonstanz 80 Beziehungspathologie 24 Beziehungsregulierung 9, 14 f., 18, 24, 181, 191, 193 Borderline-Störung 17 f., 30 f., 52, 59, 120, 197 D Darstellung 145, 177, 183 – szenische 125 Definition der Situation 146 f., 149, 151

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Register

Deutung 96 ff., 124, 133, 155, 173 f. Diagnostik 74, 128, 217 Distanz 77 f., 101, 126 f., 149, 158, 181, 208 – interpersonelle 127 Dominanz 77, 144 E Enactment 125, 185 Erstarrung 104, 209 Externalisierung 23, 172, 208 F Fluchtverhalten 104, 209 Fokus 10, 52 f., 66, 96, 137, 219 Fokussierung 15, 17 ff., 145, 162, 179, 213, 216 Fortbildung 217 f. Fragen des Patienten 28, 31 f., 35 f., 44, 97, 121, 152, 157 f. freie Interaktionsregel 163, 165 Frustration 52, 66, 77, 80, 91 ff., 111, 196 Funktionen – beziehungsregulierende 119 – selbstregulierende 23 f., 38, 73, 77 f., 109 G Gedächtnis – implizites 25 – narratives 25 Gefühle – aggressive 23, 84, 86, 105, 158, 180, 198, 206 f., 210 Gefühlsantwort 105, 193 Gefühlssignale 84, 182, 191 Gefühlswahrnehmung 85 Gefühlswörter 122 Gegenangriff 209 Gegenübertragung 18, 83, 97, 100, 191

– komplementäre 101 f. – konkordante 101, 175 Gegenübertragungsgefühle 71 f. Gesten 198 Grenzziehungen 131 f. Grundregel 147, 163 ff. Gruppe 10, 15, 52, 76, 124, 130, 141, 143 ff. Gruppenleiter 152, 208 – Autorität 149, 152, 195 Gruppentherapie 10, 15, 17, 141 ff., 160 ff. H Handeln – soziales 11, 96, 146 Handlungsbereitschaften 48, 70 f., 96 f., 98, 102, 105, 114, 168, 177, 191, 193, 207 Handlungsimpulse 91, 106, 117 I Idealisierung 86, 107 ff., 161 Identifikation – passagere 101, 175 implizites Beziehungswissen 24 f., 73, 75 f., 78, 96, 100 f., 115, 125, 145, 175 Impulskontrolle 21, 93 Individuierung 113 Interaktionsmuster 100, 158 f. Interaktionsregulierung 138 Interaktionszirkel 181 Intimität 209 K Kliniksbehandlung 203 klinischer Alltag 10 Kollusion 65, 124, 181 Kombination – Einzel- und Gruppentherapie 205 Komorbidität 33, 215

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komplexe Störungen 215 f. Konflikt 67, 80, 151, 164, 170, 180, 182, 185, 190, 201 – unbewusster 33, 194 Konformität 201 ff. Kontaktabbruch 170 Kontaktaufnahme 206 Kontaktinitiative 129 f. Kontext – interpersoneller 25 – sozialer 22, 69 Kontrollbedürfnis 209 Kontrolle 29, 55, 66, 91, 93 f., 120 f., 123, 158, 199 Kooperation 30, 32, 57, 58 – in der Therapie 51, 135 Kränkbarkeit 104, 127, 207 Kränkungstoleranz 104, 192, 208 Krisen 59, 79, 135, 176, 231 Krisensituation 50 f., 57, 58, 63, 65 Kunstfehler 32 L Lebenswelt – soziale 10, 13 f., 19, 21, 25, 38 f., 69, 71 f., 74 ff., 94, 100, 118, 136, 158, 179, 182, 211 Liebesbeziehungen 199 f. M Machtkampf 130 Medikamente 50, 57, 142 Mehr-Personen-Situation 73, 143, 145 f., 171, 174 Mentalisieren 18, 96, 114 Mentalization Based Treatment (MBT) 17, 18, 223 Mikrointeraktion 146 Mikrosoziologie 146 Missverständnisse 62, 186 Modell 134

N nichtsprachliches Verhalten 125 f., 128, 154, 185 Normen – individualistische 202 – progressive 171 – regressive 171, 192, 208 – soziale 145, 150, 153, 156 ff., 171, 172 ff., 177, 187 ff., 193 f., 201, 203 O Objektbeziehung 77, 193 f. Objektkonstanz 80 f., 110 f., 138 Objektverlust 57, 107, 110, 140, 210 Offenheit der Situation 147, 152, 156 Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) 17, 30, 74 Ordnung 63, 154, 178, 195, 196, 200 – soziale 156 P Paarbeziehungen 200 Persönlichkeit 14, 31, 33, 36, 38, 46, 120, 180 – abnorme 16 Persönlichkeitsentwicklung 71, 73, 125, 133, 162, 193 Position 24, 112, 117, 118, 178 – komplementäre 101, 102, 175 – konkordante 101, 175 Präsenz 70, 203 Probebehandlung 37 Progression 19, 105, 111 f., 142 194 Projektion 86, 208 projektive Identifikation 24 Psychopathie 16 Psychopharmaka 58

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Register

R Rahmen – Unverbrüchlichkeit des 66, 198 Rahmenbedingungen 10, 28, 49 f., 61 ff., 72, 135, 141 f., 160 f., 170, 194 f. – Ringen um 65 f. Realität – soziale 34, 143 Regelverletzungen 170 Regression 93, 171, 220 Regressionssteuerung 77, 94, 220 Regulierung – normative 152 f., 156 f., 171 f., 201 Reizschwelle 220 Repräsentanz 18 Resignation 36, 43, 117, 176 Ressourcen 165, 188 Retraumatisierung 70 Reziprozität 14, 73, 179, 193, 211 Rolle 18, 24, 31, 40, 59, 77, 144, 146, 182, 206 – des Therapeuten 69, 103, 115, 118 f., 167, 172, 174, 178 Rückblick 139, 186 S Sanktion 124, 150, 152 ff., 173, 180, 188, 189, 202 – positive 152 ff. – negative 152 ff. Scham 32, 45, 87 f., 123, 126 f., 129, 170, 204, 206 Schutz 56, 107, 114, 120 f., 164 f., 170, 196, 210 Schweigen 32, 55, 124, 129 ff., 142, 147, 149, 150, 151, 154 f., 159, 173, 179, 182, 184, 187, 198, 201 Selbst 113, 119, 123, 193, 210, 211

Selbstbestimmung 14, 64, 195 Selbsthass 107, 181, 188, 210 Selbstobjekt 24, 74, 109, 194 Selbstobjektbeziehung 24 Selbst-Objekt-Differenzierung 138 Selbstregulierung 22, 25, 32, 38, 73 f., 78, 81, 119, 121, 128 f., 142, 176, 181, 190, 191, 193 f., 199, 210 Selbstreflexivität 81 Selbstverachtung 107, 181, 188 Selbstwert 23, 40, 79, 81 ff., 108 Selbstwertregulierung 79, 83, 109, 129, 193 semiotisches Feld 145 Sexualität 209 Situationsdefinition 147 ff., 171, 173, 174, 178, 191, 193 f., 209 – explizite 149 – implizite 149, 186 soziale Angst 33, 45 f., 110, 129, 162, 164, 204 f., 211 soziale Isolation 170 soziale Phobie 30 Soziopathie 16 Spaltung 86 Spannungsgefühle 191 Spannungsregulierung 24 stationäre Behandlung 15, 39, 55, 59, 61, 67, 107, 123, 138 f., 160, 169, 178, 197, 201, 203, 205, 214 ff. Stereotype – sprachliche 123 Stundenfrequenz 58 Suizidalität 50, 55, 135 f., 142, 201 Suizidfantasien 55 Suizidimpulse 54 ff., 135 Suizidversuch 57, 133, 215 symbolischer Interaktionismus 146

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T Teilobjekt 193 f. Thema 41, 43, 48, 102, 150, 182 ff., 200 Therapieziele 40, 42, 49 Toleranzgrenzen 50, 104 ff., 142, 164 f., 190, 192 f., 207 ff., 220 Transparenz 14, 27, 34, 71, 95, 98, 100, 104, 114, 119, 174, 192, 211 Träume 39 f., 93, 136 f., 142 Traumberichte 136 f. Trennung 81, 110, 205, 208, 210 U Übertragung 18, 100, 132 – idealisierende 36, 109 – negative 132 ff., 142, 220 übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP) 17, 213, 214 V Verantwortung 58, 68, 72, 181 Verbindlichkeit 60, 183 Verhalten – fremdschädigendes 50 – nichtsprachliches 24, 95, 125 f., 128, 154, 185 – normkonformes 154, 202 – regressives 58 f., 93 f., 112, 139, 192 – selbstschädigendes 50, 210

– suizidales 54, 56, 64, 142 – selbstverletzendes 50, 54, 142 Verhaltenserwartung 146, 149, 150, 152, 156 f., 177, 187, 190, 203 Verhandeln 41, 69, 151, 157, 171 f., 178 Verlässlichkeit 66, 196, 198, 200 Vermeiden 22, 36, 39, 51, 87, 103, 104, 112, 136, 159, 164, 172, 177, 180, 182, 192, 199, 200 ff., 208 Verschwiegenheitsverpflichtung 167, 169 Videoaufzeichnungen 219 Vollzugswissen 25 Vorgespräch 39, 160 f., 164 f., 167 ff., 200 W Weiterbehandung 139 Wiederholung 70, 133, 172 Willkür 51, 63, 65, 66, 150, 184, 196 ff. Wissen 25, 106, 125, 181, 195 – implizites 24 f., 100 f., 125, 175 – kognitives 121, 179 f. – symbolisches 25 Z Ziele 35, 40 ff.

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Psychoanalyse und -therapie Ulrich Streeck (Hg.) Erinnern, Agieren und Inszenieren Enactments und szenische Darstellungen im therapeutischen Prozeß 2000. 246 Seiten mit 2 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45870-9 Wenn die Talking-cure sprachlos ist, rückt die körperlich-handelnde Dimension sowohl diagnostisch als auch therapeutisch ins Zentrum.

Thomas Müller / Norbert Matejek (Hg.) Projektive Identifizierung, Enactment und Agieren in der Psychosenbehandlung Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie, Band 22. 2009. Ca. 100 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45123-6 Die psychoanalytischen Konzepte projektive Identifizierung, Enactment und Agieren können für die Psychosenbehandlung mit ihren Besonderheiten fruchtbar gemacht werden.

André Karger (Hg.) Trauma und Wissenschaft Psychoanalytische Blätter, Band 29. 2009. 177 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-40140-8

Kritische Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit neurowissenschaftliche Erkenntnisse über Trauma die gesellschaftliche wie auch die therapeutische Haltung gegenüber den Opfern extremer Gewalt verändern.

Stavros Mentzos / Alois Münch (Hg.) Gegenübertragung – Arbeitsprozesse in der psychoanalytischen Psychosentherapie Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie, Band 21. 2009. 112 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45122-9 Eindrückliche klinische Beispiele aus dem ambulanten und stationären Bereich machen mit den schwierigen Arbeits- und Gegenübertragungsprozessen in der analytischen Psychosentherapie vertraut.

Ulrich Sachsse Selbstverletzendes Verhalten Psychodynamik – Psychotherapie. Das Trauma, die Dissoziation und die Behandlung 7. Auflage 2009. 210 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45771-9 Das Buch ist ein Standardwerk der deutschsprachigen Literatur.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401606 — ISBN E-Book: 9783647401607

Psychoanalyse und -therapie Jörg Wiesse (Hg.) Psychoanalyse und Kindheit

Regine Alegiani Die späte Suche nach Grund

Psychoanalytische Blätter, Band 28. 2008. 144 Seiten mit 15 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-46027-6

Eine analytische Psychotherapie im höheren Alter

Die Beiträge namhafter Autoren greifen die wichtigsten Fragen der Kinderpsychoanalyse auf und machen ihren großen Stellenwert bei der Behandlung psychischer Erkrankungen im frühen Kindesalter deutlich.

Romuald Brunner / Franz Resch (Hg.) Borderline-Störungen und selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen Ätiologie, Diagnostik und Therapie 2., durchgesehene Auflage 2009. 231 Seiten mit 5 Abb. und 13 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-49115-7

Mit einem Vorwort von Gerd Lehmkuhl. 2009. 128 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-40151-4 Eine analytische Therapie im Alter stellt immer noch die Ausnahme dar. Dieser Bericht aus Patientensicht widerlegt, dass der alte Mensch in seinem Wesen unverrückbar festgelegt sei.

Günsel Koptagel-Ilal / Ibrahim Özkan Wörterbuch Psychiatrie – Psychotherapie. Psikiyatri – Psikoterapi Sözlügü Deutsch – Türkisch / Türkisch – Deutsch. Almanca – Türkçe / Türkçe – Almanca 2008. 258 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-49129-4

Menschen mit Borderline-Symptomatik leiden an ihren heftigen emotionalen Reaktionen, ihren extremen Gefühlen und übermäßig sensiblen Erinnerungen. Diese Störung tritt bereits im Kindes- und Jugendalter auf, wo sie bisher nur wenig wissenschaftliche Beachtung fand.

»Eine beeindruckende Fleißarbeit, der ich eine weite Verbreitung wünsche.« Gisela Penteker, Asylmagazin

„Die Beiträge sind auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand [...] und bieten [...] einen fundierten wie umfassenden Einblick in die Thematik.“ Borderline-Netzwerk e. V.

2008. 267 Seiten mit 1 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-49132-4

Mathias Hirsch (Hg.) Die Gruppe als Container Mentalisierung und Symbolisierung in der analytischen Gruppenpsychotherapie

Die Anwendung neuerer psychoanalytischer Erkenntnisse auf die Therapie in Gruppen.

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