Handbuch psychoanalytisch-interaktionelle Therapie: Behandlung von strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen 9783666402463, 9783525402467, 9783647402468


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German Pages [280] Year 2014

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Handbuch psychoanalytisch-interaktionelle Therapie: Behandlung von strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen
 9783666402463, 9783525402467, 9783647402468

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© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402467 — ISBN E-Book: 9783647402468

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Ulrich Streeck / Falk Leichsenring

Handbuch psychoanalytischinteraktionelle Therapie Behandlung von strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen

3., überarbeitete und erweiterte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402467 — ISBN E-Book: 9783647402468

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40246-8 Umschlagabbildung: MoinMoin/shutterstock.com © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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»Die Geselligkeit ist nichts Unwesentliches oder Zufälliges, sondern die Grundbestimmung der Conditio humana. Das Bedürfnis nach Anerkennung ist das konstitutive menschliche Faktum. In diesem Sinn existiert der Mensch nicht vor der Gesellschaft und das Menschliche gründet im Zwischenmenschlichen. So tief man auch in den menschlichen Geist vordringt, man wird niemals ein isoliertes Wesen finden, sondern nur Beziehungen zu anderen Wesen.« Tzvetan Todorov

»Fortschritt wäre dann nicht ein Vordringen in die Tiefe, sondern das Entwickeln und Erfinden immer neuer Beschreibungen unseres Lebens, die uns helfen, uns und unsere Beziehungen zu den Anderen fortzuentwickeln.«  Peter Bieri

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Inhalt

Zu diesem Handbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .11

Wegweiser durch das Handbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Zum Gebrauch des Handbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode . . . . . . . . . . . 15

Zur Entwicklung der psychoanalytischinteraktionellen Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Benachbarte Therapiemethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Strukturelle Störungen – schwere Persönlichkeitsstörungen 27

Implizites Beziehungswissen und strukturelle Störungen . . . . 37 45 Die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung . . . . . . . . 45 Aufklärung des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Aufklärung des Patienten über die Diagnose . . . . . . . . . 47 Aufklärung des Patienten über die Behandlung . . . . . . . 53 Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .68 Schwerpunkt der Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Suizidales und selbstverletzendes Verhalten . . . . . . . . . . 74 Umgang mit Medikamenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Therapie außerhalb der Therapiezeiten . . . . . . . . . . . . . . 78 Dauer der Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Ausfall von Stunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Honorarfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Verstehen Patient und Therapeut die vereinbarten Rahmenbedingungen gleich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Modifikationen des Rahmens im Verlauf der Therapie . . . 83 Die Vereinbarung verbindlicher Rahmenbedingungen misslingt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .84 Ringen um Rahmenbedingungen als Therapie . . . . . . . . . . 86 Die Haltung des Therapeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Beziehungsstörungen im therapeutischen Gespräch . . . . . . . . 94 Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

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8Inhalt

Zur Manifestation struktureller Beeinträchtigungen im therapeutischen Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Zum Erleben von Beziehungen (Objektbeziehungen) . . . . 99 Stabilität von Beziehungen (Beziehungskonstanz, Objektkonstanz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Selbstwahrnehmung und Selbstregulierung in interpersonellen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Wahrnehmen und Ausdruck von Gefühlen . . . . . . . . . . . . . 106 Psychische und interpersonelle Abwehr . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Antizipation der Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Handlungsimpulse, Befriedigungsaufschub und Frustrationstoleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Regression und interpersonelle Beziehungen . . . . . . . . . . . 113 Gewissen und Idealansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Die Behandlungstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Der antwortende Modus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Deutungen und Alltagsgespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Antworten und Alltagsgespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Antwortende Interventionen und Toleranzgrenzen . . . . . . 131 Antworten und die therapeutische Arbeit an und mit Gefühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Zum antwortenden Umgang mit Idealisierungen . . . . . 134 Antworten und Antizipation habituellen Verhaltens . . . 137 Antworten und das Primat der Progressionsorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Motivation zur Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Zusammenfassung: Funktionen von Interventionen im antwortenden Modus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Der Therapeut als realer und als virtueller Interaktionsteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Zum therapeutischen Umgang mit Affekten . . . . . . . . . . . . . . . 147 Wahrnehmung und Differenzierung von Gefühlen . . . . . . 148 Ausdruck von Gefühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Zum therapeutischen Umgang mit nichtsprachlichem Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Zum Primat der Selbstregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Besondere Probleme in der therapeutischen Arbeit . . . . . . . . 158 Schweigen des Patienten und Initiative zum Kontakt . . . . . 158

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Inhalt9

Schweigen während der Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Affektives und impulsives Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Negative Übertragungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Zum Umgang mit Träumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Zur Beendigung der Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie . . . . . . . 171

Psychoanalytisch-interaktionelle Arbeit in der Gruppe . . . . . 176 Die Grundeinheit sozialer Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Konzepte zum Verständnis von Mehr-PersonenSituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 »Definition der Situation« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Die Grundregel für die Gruppe und die Offenheit der Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Explizite und implizite Situationsdefinitionen . . . . . . . . 183 Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Soziale Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Interaktionsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Vorbereitung der Patienten auf die Gruppentherapie . . . . . 195 Das Vorgespräch für die Gruppentherapie . . . . . . . . . . . 195 Der Nutzen von Gruppentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Die Grundregel für die therapeutische Arbeit in der Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Modifikationen der Grundregel für besondere Patientengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Ausblick auf die bevorstehende Gruppenbehandlung 201 Zur Rolle des Gruppentherapeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Gruppe ohne Gruppentherapeut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Verpflichtung zur Verschwiegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Wie hat der Patient die Hinweise des Gruppentherapeuten verstanden? . . . . . . . . . . . . . . . 206 Haltung und Aufgaben des Therapeuten in der Gruppe 207 Zur therapeutischen Technik in der Gruppenbehandlung . . . 210 Der antwortende Modus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Erläuterungen zu grundlegenden Aspekten interpersoneller Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Schwerpunkte der therapeutischen Arbeit in der Gruppe . . . 220 Explizite und implizite Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220

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10Inhalt

Wie wird die aktuelle Situation definiert? . . . . . . . . . . . . . . . 223 Welche sozialen Normen gelten hier? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Beziehungserleben und Beziehungsgestaltung (Objektbeziehungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Komplikationen in der Gruppentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Gefährdungen des Rahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Normen in der Gruppe, die Entwicklung behindern . . . . . 239 Häufiger Wechsel von Gruppenteilnehmern . . . . . . . . . . . . 242 Sozial ängstliche Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Wiederkehrende interpersonelle Probleme in der Gruppe 244 In Kontakt treten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Aggressivität und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Toleranzgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Emotionale Nähe und Intimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Gleichheit und Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Trennung und Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Kurzgruppenpsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Chancen psychoanalytisch-interaktioneller Gruppentherapie 251 Psychotherapie bei strukturellen Störungen: Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Fort- und Weiterbildung in der psychoanalytisch-interaktionellen Methode . . . . . . . . . . . . . . 259 Checkliste für Therapeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Ergänzende Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276

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Zu diesem Handbuch

Dem vorliegenden Handbuch der psychoanalytisch-interaktionellen Methode liegen Erfahrungen aus über drei Jahrzehnten klinisch-psychotherapeutischer, psychiatrischer und psychoanalytischer Tätigkeit in der Versorgung von Patienten zugrunde, die ganz überwiegend unter beeinträchtigten und vernachlässigenden, oftmals auch gewalttätigen und traumatisierenden Verhältnissen aufgewachsen sind und die in ihrer Entwicklung – wenn überhaupt – nur sehr eingeschränkte Erfahrungen mit ausreichend guten Beziehungen haben machen können, deshalb grundlegende Funktionen der Selbst- und Beziehungsregulierung nicht oder nur bedingt haben entwickeln können und oftmals am sozialen Leben nur am Rande teilnehmen. Das Handbuch wendet sich an Psychotherapeuten, Psychiater, Kinder- und Jugendpsychiater, Suchtkrankentherapeuten, Pflegepersonal in der Psychiatrie und Psychotherapie, aber auch an Angehörige anderer sozialer Berufe, die mit diesen Patienten und Klienten zu tun haben. Im Mittelpunkt stehen neben diagnostischen Gesichtspunkten die behandlungstechnischen Mittel, die die psychoanalytisch-interaktionelle Methode kennzeichnen, in erster Linie die Haltung, mit der der Therapeut an der Beziehung zu dem Patienten oder zur Gruppe der Patienten teilnimmt, sowie der sogenannte antwortende Modus, der die Art und Weise charakterisiert, wie der Therapeut das Gespräch mit dem Patienten und die therapeutische Beziehung von seiner Seite aus gestaltet.

Wegweiser durch das Handbuch Die Gliederung des Handbuches lehnt sich an die Abfolge der Schritte an, wie sie auch in der klinischen Praxis aufeinander folgen. Nach einer einleitenden Darstellung von Grundzügen der psychoanalytisch-interaktionellen Methode und deren Entwicklung sind

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Zu diesem Handbuch

die Patienten Thema, für deren Behandlung die Methode in erster Linie entwickelt wurde, Patienten mit sogenannten strukturellen Störungen oder schweren entwicklungsbedingten Störungen der Persönlichkeit. Im Anschluss an ein Kapitel zu implizitem Beziehungswissen wird die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik dargestellt – die vielfältigen Aspekte, die bei der Vorbereitung der Patienten auf die bevorstehende Behandlung zu beachten sind, Manifestationen struktureller Beeinträchtigungen der Patienten in ihren Äußerungen und Erzählungen sowie in der therapeutischen Beziehung und die besonderen therapeutischen Techniken der psychoanalytisch-interaktionellen Methode. Beispiele aus dem klinischen Behandlungsalltag zeigen, wie interpersonelle Beziehungen in der Behandlung in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden und wie und auf welchen Wegen der Patient es erreichen kann, seine interpersonellen Beziehungen und sich selbst stabiler zu regulieren und sich in seiner sozialen Lebenswelt sicherer zu verankern. Dem schließt sich das Kapitel zur psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie an; dabei wird in dem Teil zur therapeutischen Arbeit in der Gruppe auf die vorangegangenen Kapitel Bezug genommen. Das Handbuch beschließen Hinweise zum aktuellen Forschungsstand.

Zum Gebrauch des Handbuches Das Handbuch soll Psychotherapeuten bei der Anwendung der Behandlungsmethode in der täglichen klinischen Praxis unterstützen. Zweifellos gewährleistet die genaue Kenntnis eines Handbuches oder Manuals noch nicht, dass die Behandlung, die der Therapeut durchführt, für diesen Patienten auch hilfreich ist. Eine psychotherapeutische Behandlung lässt sich nicht in der Weise realisieren, dass in einem Manual dargestellte Behandlungstechniken an einem Patienten ausgeführt werden. Kein Manual kann einem Psychotherapeuten die Fähigkeit vermitteln, sich in seinen Patienten einzufühlen und sich vor Augen zu führen, wie dieser Patient in diesem Moment vermutlich fühlt und die Situation erlebt und wie es für diesen Patienten in dieser Sequenz vermutlich sein wird, wenn er als Therapeut sich in dieser Situation so oder anders verhalten und sich in dieser oder jener Weise äußern wird. Das aber ist für jede Therapie, die einem

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Zum Gebrauch des Handbuches13

Patienten nicht nur übergestülpt wird, eine wichtige Voraussetzung. Psychotherapie ist ein Gespräch, ist soziales Handeln, und es gibt kein Manual, das die Fähigkeit vermitteln könnte, ein Gespräch zu führen. Zwar kann eine Sprache gelernt werden, aber die Kenntnis der Sprache gewährleistet noch nicht die Fähigkeit, ein Gespräch zu führen. Und wenn ein Sprecher ein Gespräch so führen würde, wie ein Manual das empfehlen könnte, wäre er noch kein kompetenter Gesprächsteilnehmer. Ein Handbuch kann und soll auch das Lernen mittels Supervision nicht ersetzen. Die Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Psychotherapeuten dürfte wohl in allen Therapieformen das wichtigste Lernmedium sein. Gleichwohl sollte der Nutzen eines Handbuches auch nicht unterschätzt werden. Psychotherapeuten, die die psychoanalytisch-interaktionelle Methode erlernen oder mit der Methode bereits arbeiten, wird empfohlen, die entsprechenden Kapitel wieder und wieder zu lesen, wenn sich ihnen in ihrer praktischen Arbeit oder in der Supervision Fragen stellen. Je weiter sie sich in den Text vertiefen und das Gelesene mit ihren praktischen Erfahrungen verknüpfen, desto häufiger werden sie feststellen, dass sich die Hinweise in dem Handbuch für die praktische Arbeit oftmals wie selbstverständlich aus den Besonderheiten struktureller Beeinträchtigungen des Patienten und aus den Anforderungen der Behandlung selbst ergeben. Am Ende der meisten Kapitel findet sich eine kurze Zusammenfassung (»Merke«) einiger wichtiger, in dem Kapitel behandelter Hinweise. Sie ersetzen nicht die Lektüre des gesamten Kapitels, können aber dem Psychotherapeuten, der mit der Methode arbeitet, als Erinnerungsstütze dienen.

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode

Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie ist eine entwicklungsorientierte psychotherapeutische Methode für die Behandlung von Patienten, deren Beeinträchtigungen diagnostisch meist mit Persönlichkeitsstörungen oder sogenannten strukturellen Störungen in Verbindung gebracht werden. Mit der Zusammenführung der auf den ersten Blick unvereinbaren Begriffe »psychoanalytisch« auf der einen und »interaktionell« auf der anderen Seite in der Bezeichnung »psychoanalytisch-interaktionelle Methode« kommt zum Ausdruck, dass die Störung der Patienten psychodynamisch verstanden wird, die Therapie dagegen – abweichend von der für die Psychoanalyse charakteristischen Arbeitsweise – auf interaktives Geschehen, auf das »Zwischen« also, und auf interpersonelle Beziehungen ausgerichtet ist. Insofern wäre die Bezeichnung »psychodynamisch-interaktionelle Methode« angemessener. Da der Name »psychoanalytisch-interaktionelle Therapie« sich aber seit einigen Jahrzehnten eingeprägt hat, wird er hier trotz mancher weit reichender Unterschiede zu einer streng verstandenen Psychoanalyse beibehalten. Interaktion ist kein psychologischer Begriff. Wenn man genau hinsieht, wo in der Psychotherapie von Interaktion die Rede ist, fällt auf, dass es dort oftmals nicht um Interaktion geht, sondern um Verhalten entweder von Patienten oder von Therapeuten gegenüber den jeweils anderen. Und dieses Verhalten wird dann als Ausdruck psychischen – bewussten oder unbewussten – Erlebens verstanden. In der Behandlungssituation wird, was ein Geschehen zwischen den Anwesenden ist, dementsprechend auf unbewusste psychische Dispositionen zurückgeführt. Interpersonelles Verhalten wäre dann nur Manifestation individueller psychischer Dispositionen: Das Geschehen zwischen den Anwesenden ginge aus psychischem Geschehen hervor. Damit wird interpersonelles Geschehen, das Verhalten von Anwesenden im Kontext des Verhaltens von anderen, die Wechselwirkung (Balint, 1963), aber gerade zum Verschwinden gebracht. Der Schwerpunkt liegt in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie nicht vorrangig auf der intrapsychischen Welt, auf dem

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode

unbewussten und bewussten Erleben des Patienten; im Vordergrund stehen vielmehr die Schwierigkeiten des Patienten, sich selbst im Kontakt mit anderen zu regulieren und seine zwischenmenschlichen Beziehungen zu gestalten. Der Weg hin zu psychischer Stabilisierung verläuft hier zuvorderst über eine Verbesserung der Möglichkeiten des Patienten zur Selbst- und Beziehungsregulierung und so zur Teilnahme am sozialen Leben. Psychotherapie ist gewöhnlich auf den seelischen Zustand des Patienten ausgerichtet. Die therapeutische Arbeit mit der psychoanalytisch-interaktionellen Methode fokussiert demgegenüber vorrangig auf das Selbst des Patienten im Kontakt mit anderen, auf die soziale Lebenswelt und damit auf die Möglichkeit, reziproke interpersonelle Beziehungen zu gestalten und mitzugestalten. Die überragende Bedeutung einer ausreichend sicheren Verankerung in der sozialen Lebenswelt sowohl für die psychische wie für die körperliche Gesundheit ist unstrittig. Nicht nur bedarf es relativer psychischer Stabilität, um in befriedigender Weise am Zusammensein mit anderen teilnehmen zu können, sondern ausreichend gute und verlässliche zwischenmenschliche Beziehungen sind auch der sicherste Garant für relative seelische Gesundheit, die ihrerseits immer auch – so Ehrenberg (2012) – »die Gesellschaftlichkeit des heutigen Menschen« (S. 499) betrifft. Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode ist entwicklungsorientiert: Im Vordergrund steht das Bemühen um Entwicklung und Förderung von psychosozialen Fähigkeiten, die es dem Patienten ermöglichen, ausreichend befriedigende interpersonelle Beziehungen zu gestalten und sich in der sozialen Lebenswelt tragfähiger zu verankern, Fähigkeiten, über die er aufgrund oft äußerst schwieriger Bedingungen in seiner Entwicklung bis dahin nicht oder nur eingeschränkt verfügt. Die Ausrichtung der psychoanalytisch-interaktionellen Arbeitsweise auf die interpersonellen Beziehungen des Patienten und auf die Schwierigkeiten, sich mit seiner Umwelt in ein von Wechselseitigkeit bestimmtes Verhältnis zu setzen, geht mit einer spezifischen Handhabung der therapeutischen Beziehung einher – und das bedeutet aus psychodynamischem Blickwinkel auch: mit einer besonderen Handhabung von Übertragung und Gegenübertragung. Statt aus vermeintlich neutraler oder technisch neutraler Position auf den Patienten und dessen Verhalten hinzuzeigen, wie das für die Psy-

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode17

choanalyse charakteristisch ist, wird die therapeutische Beziehung hier genutzt, um das Erleben und Verhalten des Patienten in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen transparent und die Mittel und Wege zur Mitgestaltung dieser Beziehungen im Kontext des Verhaltens von anderen verständlich werden zu lassen. Damit ist verbunden, dass sich die therapeutische Arbeit in großer Nähe zur sozialen Alltagswelt des Patienten bewegt. Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode trägt damit dem Umstand Rechnung, dass die Fähigkeiten und Funktionen der Selbstund der Beziehungsregulierung von Patienten mit sogenannten strukturellen Störungen oder schweren Persönlichkeitsstörungen ihre Anpassung an die meist erheblich belasteten Bedingungen reflektieren, unter denen sich ihre Entwicklung vollzogen hat, die aber nicht geeignet sind, die Teilnahme an und die Gestaltung von ausreichend befriedigenden interpersonellen Beziehungen, die von Reziprozität und wechselseitiger Anerkennung bestimmt sind, zu ermöglichen. Die Umstände, unter denen die Patienten aufgewachsen sind, waren häufig von vernachlässigenden, emotional höchst kargen, manchmal misshandelnden und traumatisierenden Beziehungserfahrungen bestimmt und haben tiefe Spuren in der Persönlichkeit und der Struktur der Persönlichkeit hinterlassen. Dass es den Patienten in der Folge nicht oder nur schwer möglich ist, an einer sozialen Welt teilzunehmen, in der das Zusammensein mit anderen zugleich von Wechselseitigkeit und von Selbstbestimmung geprägt ist, gehört zu den gravierendsten Folgen der schwierigen Bedingungen, die ihre Entwicklung begleitet haben. Die Patienten sind, wenn überhaupt, oft nur eingeschränkt in der Lage, die Perspektive der anderen zu übernehmen, von einem dritten Standort aus auf sich selbst zu blicken und sich selbstreflexiv mit dem eigenen Verhalten und Erleben und mit einem interpersonellen Geschehen auseinanderzusetzen, an dem sie selbst gerade beteiligt sind. Die Fähigkeit, die Perspektive der anderen zu übernehmen, ist ein für das soziale Leben grundlegendes, aber im Alltag meist auch ein als derart selbstverständlich vorausgesetztes Können, dass leicht übersehen wird, wie schwierig sich das Zusammensein mit anderen gestaltet, wenn diese Fähigkeit nicht oder nur bruchstückhaft entwickelt werden konnte. Mit ihrer spezifischen Ausrichtung auf zwischenmenschliche Beziehungen und der Fokussierung auf das Selbst im Zusammensein mit anderen, auf interpersonelle Beziehungen und Interaktion

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode

und auf den untrennbar engen Zusammenhang von Selbst- und Beziehungsregulierung – und das bedeutet: auf Verhalten und Erleben im Kontext des Verhaltens von anderen – unterscheidet sich die psychoanalytisch-interaktionelle Methode von anderen aus der Psychoanalyse hervorgegangenen Behandlungsmethoden. In diesem Sinn liegt der psychoanalytisch-interaktionellen Methode eine »Zwei- oder Mehr-Personen-Psychologie« (Balint, 1968) zugrunde. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie ist seit ihren Anfängen im Feld der klinischen Versorgung schwer gestörter Patienten verankert. Die Methode wird seit den 1970er Jahren in der psychotherapeutischen Versorgung von Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen bzw. sogenannten strukturellen Störungen erfolgreich eingesetzt, anfangs in erster Linie als Therapie in der Gruppe im Rahmen klinisch-stationärer Patientenversorgung. Seither wurde die Methode auf der Grundlage vieljähriger klinischer Erfahrungen ständig weiterentwickelt. Sie stützt sich auf Erfahrungen und psychodynamische Konzepte, die ihren Ursprung in der Psychoanalyse haben und die zu einem Teil auf die besonderen Bedingungen strukturell gestörter Patienten hin adaptiert wurden. Darüber hinaus wurden in die Weiterentwicklung der psychoanalytisch-interaktionellen Methode auch Erkenntnisse aus Nachbargebieten einbezogen, für die soziales Alltagsleben und damit Interaktion und Interpersonalität zentrale Themen sind. Die moderne psychoanalytisch-interaktionelle Methode wird als Einzel- und als Gruppentherapie im ambulanten wie im stationären Bereich bei Patienten im Erwachsenenalter und bei jugendlichen Patienten eingesetzt. Vor dem Hintergrund, dass Jugendliche alterstypisch in einigen ihrer strukturellen Fähigkeiten, beispielsweise ihrer Fähigkeit zur Selbstreflexion oder zum Mentalisieren, labilisiert sind und psychische Realität in der Entwicklungsphase der Adoleszenz mehr gezeigt als mit Worten mitgeteilt wird, kommt die psychoanalytisch-interaktionelle Methode für die Behandlung psychischer Störungen auch bei Jugendlichen zur Anwendung (Cropp, Zimmermann u. Streeck-Fischer, 2014; Streeck-Fischer u. Streeck, 2010, 2013).

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Zur Entwicklung der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie 19

Zur Entwicklung der psychoanalytischinteraktionellen Therapie Die Anfänge der psychoanalytisch-interaktionellen Methode reichen in die erste Hälfte der 1960er Jahre zurück. Ausgehend von der Erfahrung, dass viele psychisch kranke Patienten im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter mit den in der damaligen Psychiatrie zur Verfügung stehenden Mitteln nicht ausreichend behandelt werden konnten, mussten für deren therapeutische Versorgung psychotherapeutische Mittel erst entwickelt und erprobt werden. Weder waren die traditionellen psychiatrischen Kliniken für diese Aufgabe eingerichtet, noch standen für eine Patientenklientel, deren Störungen sich nicht in Worten zum Ausdruck brachten, sondern gezeigt wurden oder sich zeigten, geeignete psychotherapeutische Methoden zur Verfügung. Zwar hat es seit Mitte des 20. Jahrhunderts vereinzelte Versuche gegeben, Patienten, deren Störungen sich hinter Diagnosen wie Psychopathie, Soziopathie oder abnorme Persönlichkeit verbargen, psychoanalytisch zu behandeln, dennoch blieb die Behandlung psychiatrisch kranker Patienten mit psychotherapeutischen Mitteln ein weitgehend unbearbeitetes Gebiet. Um für diese Aufgabe nutzbringend eingesetzt werden zu können, mussten Konzepte und therapeutische Techniken, die mit der Psychoanalyse – die einzige Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte Therapiemethode – verbunden waren, teilweise weitgehend verändert und an die spezifischen Anforderungen angepasst werden, die der therapeutische Umgang mit dieser schwer gestörten, psychiatrischen Patientenklientel stellte. Das betraf auch den Umstand, dass sich die Beeinträchtigungen dieser Patienten überwiegend als »Störungen des Sozialen«, also als interpersonelle Störungen zeigen (Streeck, 2014). Das wiederum stieß auf beiden Seiten auf skeptische Zurückhaltung, bei Psychiatern ebenso wie bei Psychoanalytikern. Nicht wenige Psychiater standen der Psychoanalyse ablehnend, gelegentlich sogar feindselig gegenüber und widersetzten sich jeglichen Bemühungen, psychoanalytische bzw. psychodynamische Erkenntnisse für die Behandlung ihrer Patienten zu nutzen. Auf der anderen Seite betrachteten einflussreiche Vertreter der Psychoanalyse Anstrengungen, psychoanalytische Konzepte und Behandlungstechniken mit Blick auf diese Patientengruppen zu modifizieren, als fragwürdiges Unternehmen, das eine als »richtig« oder »eigentlich« verstandene Psychoanalyse

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zu verzerren und zu verwässern drohe. Aus ihrer Sicht hatte sich die Psychoanalyse um die Erforschung des Unbewussten zu kümmern. Aufgaben der therapeutischen Versorgung schwer gestörter, psychiatrisch kranker Patienten wurden demgegenüber als sekundär betrachtet und dem Aufgabenspektrum von Psychotherapie zugerechnet, nicht oder allenfalls höchst selektiv dem der Psychoanalyse. »Angewandte Psychoanalyse« – so die Bezeichnung, die diejenigen Psychoanalytiker für ihr Aufgabenfeld verwendeten, die die klinische Versorgung psychisch schwer beeinträchtigter Patienten trotz aller Vorbehalte als ihre Aufgabe ansahen, »galt manchen Repräsentanten einer ›wirklichen‹ oder ›eigentlichen‹ Psychoanalys« oftmals als verdächtig (vgl. Mentzos, 2006). Die ebenso schwierige wie anspruchsvolle Aufgabe, von psychodynamischen und psychoanalytischen Erfahrungen und Erkenntnissen in einer Weise Gebrauch zu machen, dass auch in ihrer Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigte, psychiatrisch kranke Patienten – diagnostisch in der Psychiatrie zumeist als Psycho- oder Soziopathie diagnostiziert, in der Psychotherapie als schwere Charakterneurosen – davon würden profitieren können, veranlasste Heigl-Evers und Heigl (1983) in den 1970er Jahren dazu, eine an der Psychoanalyse orientierte Gruppentherapie zu entwickeln, die für die Behandlung von Patienten mit sogenannten strukturellen Störungen günstige Entwicklungsbedingungen bot, die psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie.

Benachbarte Therapiemethoden In den letzten Jahren haben sich der psychoanalytisch-interaktionellen Methode zwei weitere aus der Psychoanalyse entwickelte Methoden zur Seite gestellt, die übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP; Clarkin, Yeomans u. Kernberg, 2006) und das Mentalization Based Treatment (MBT; Bateman u. Fonagy, 2004; Bolm, 2009; Schultz-Venrath, 2013), beide speziell für die Behandlung von Patienten mit Borderline-Störungen. Wie die psychoanalytisch-interaktionelle Methode sind beide Methoden von der Erfahrung bestimmt, dass für die Behandlung von Borderline-Patienten mehr oder weniger weit reichende Modifikationen unverzichtbar sind.

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Die übertragungsfokussierte Psychotherapie bewegt sich sowohl in ihrer Auffassung von der therapeutischen Beziehung und deren nützlicher Handhabung wie in ihrer Auffassung von therapeutisch wirksamen Techniken und Strategien nahe an der Psychoanalyse. Die Borderline-Störung wird in der übertragungsfokussierten Therapie als Folge verinnerlichter pathologischer Beziehungserfahrungen verstanden. In dieser Hinsicht besteht Übereinstimmung mit der Auffassung von der Genese struktureller Störungen, wie sie auch in Zusammenhang mit der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD; 2006) verstanden wird. Auch in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie werden strukturelle Störungen als Folge der Verinnerlichung beeinträchtigender, vernachlässigender oder traumatisierender Beziehungserfahrungen verstanden, die – wie im Rahmen der OPD beschrieben – zu strukturellen Störungen geführt haben, mit der Folge, dass den Patienten wichtige Funktionen der Selbst- und der Beziehungsregulierung nicht zur Verfügung stehen und auch durch Deutungen ihres Verhaltens nicht verfügbar gemacht werden können. Demgegenüber konzentriert sich das therapeutische Vorgehen bei der übertragungsfokussierten Psychotherapie wie in der Psychoanalyse auf die Deutung unbewusster Repräsentanzen, die sich in Übertragung und Gegenübertragung manifestieren. Auch die Haltung, die der Therapeut einnimmt, gleicht aufgrund der verlangten technischen Neutralität der des Psychoanalytikers. Dabei wird in der übertragungsfokussierten Psychotherapie vorausgesetzt, dass die Patienten nützlichen Gebrauch davon machen können, wenn der Therapeut mit Deutungen auf Beweggründe ihres Erlebens und Verhaltens hinweist, die ihnen selbst nicht bewusst sind. Den Patienten muss es somit möglich sein, die mit der Deutung formulierte Hypothese, die ihr eigenes Verhalten erklären soll, aufzunehmen, den Blick auf sich selbst zu richten und über sich selbst und mögliche Motive ihres Verhaltens nachzudenken. Wenn die Deutung unbewusster Objektbeziehungen in der übertragungsfokussierten Psychotherapie zudem möglichst rasch erfolgen soll, weil Zögern »als Ausdruck einer Gegenübertragungsreaktion verstanden werden kann« (Dammann, Buchheim, Clarkin u. Kernberg, 2000, S. 470), dann zeigt sich auch darin ein deutlicher Unterschied zur psychoanalytisch-interaktionellen Therapie. Denn was das für den Patienten bedeutet, wie der Therapeut sich verhält, ob er zögert, schnell interveniert, schweigt oder sich scheinbar neutral verhält, zeigt

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ihm der Patient mit seinem nachfolgenden Verhalten; immer gestaltet er die therapeutische Beziehung mit seinem Verhalten mit. Insofern ist die Trennung von Übertragung und Gegenübertragung künstlich: Die therapeutische Beziehung ist eine Koproduktion von Patient und Therapeut – und was aus der Sicht des Therapeuten schnelles oder zögerliches Verhalten sein mag, sagt noch nichts darüber aus, was dieses gleiche Verhalten für den Patienten bedeutet. Was ein Verhalten bedeutet, ist nicht dem Verhalten schon fest eingeschrieben, sondern die Bedeutung von Verhalten wird interaktiv konstituiert und ist somit nicht unabhängig von dem jeweiligen interpersonellen Kontext. Der Psychotherapeut ist kein neutraler, objektiver Beobachter der seelischen Wirklichkeit seines Patienten; er kann über den Patienten nichts unabhängig von seiner eigenen Person und von seinem eigenen Einfluss auf den Patienten erfahren. Er hat es – wie der Psychoanalytiker auch – ausnahmslos mit Ereignissen zu tun, die in ein von beiden gestaltetes Feld eingebunden sind und im Zuge ihrer Interaktion koproduziert werden. Unvermeidlich behandeln sich Patient und Psychoanalytiker wechselseitig. Auch die Auffassung von »Diskrepanzen zwischen den drei Kommunikationskanälen des Patienten« (verbal, nonverbal und Übertragung/Gegenübertragung, Dammann et al., 2000, S. 470), die für die übertragungsfokussierte Psychotherapie richtig ist, gilt für die psychoanalytisch-interaktionelle Methode nicht. Sprachliches Verhalten trägt ebenso wie körperliches keine ganz bestimmten Bedeutungen in sich; vielmehr wird die Bedeutung sowohl sprachlichen wie körperlichen Verhaltens immer im wechselseitigen Austausch »verhandelt«. Schließlich werden in der übertragungsfokussierten Psychotherapie in Übereinstimmung mit der Neutralitätsforderung supportive Elemente wie Empfehlungen, Ratschläge oder Erläuterungen nicht eingesetzt. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie, die entwicklungsorientiert ist, trägt demgegenüber der klinischen Erfahrung Rechnung, dass die strukturell bedingten Beeinträchtigungen des überwiegenden Teils der Patienten oftmals Empfehlungen und Erläuterungen des Therapeuten erforderlich machen. Die »Mentalization Based Treatment« genannte Methode, ebenfalls eine Therapie für die Behandlung von Patienten mit Borderline-Störungen, versteht die Borderline-Störung als Folge einer beeinträchtigten Fähigkeit zu mentalisieren, was wiederum in erster Linie als Folge intensiver Verlassenheitsangst aufgefasst wird. Das bei

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Borderline-Patienten häufige selbstverletzende Verhalten wird als Ausdruck des Versuches verstanden, psychischer Dekompensation in Zuständen hoher emotionaler Erregung entgegenzuwirken. Im Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit steht die Mentalisierungsfähigkeit des Patienten. Anders als bei der übertragungsfokussierten Psychotherapie werden die aktuelle Patient-Therapeut-Beziehung und damit Übertragung und Gegenübertragung lediglich soweit genutzt, als sie für die Arbeit an der Fähigkeit zu mentalisieren förderlich sind. Bateman und Fonagy (2004) haben die Auffassung vertreten, dass die Fähigkeit zu mentalisieren in verschiedenen psychotherapeutischen Methoden eine Rolle spielt und nicht allein durch spezifische, methodengebundene Techniken gefördert wird. Der psychoanalytisch-interaktionellen Methode liegt ebenfalls ein psychodynamisches Verständnis psychischen und psychopathologischen Erlebens und Verhaltens zugrunde, ergänzt durch die in der Soziologie verankerte Auffassung, dass die soziale Alltagswelt, in der der Patient sich bewegt, nicht so schon vorhanden ist, sondern von ihm selbst in Interaktion mit seinen Mitmenschen mit hervorgebracht und gestaltet wird. Darum liegt der Fokus bei der psychoanalytisch-interaktionellen Arbeitsweise mit strukturell gestörten Patienten auf der Regulierung ihres Selbst und der Regulierung und Gestaltung ihres Zusammenseins mit anderen und des Zusammenseins anderer mit ihnen. Dass sich die therapeutische Arbeitsweise deutlich von der Arbeitsweise der Psychoanalyse und der übertragungsfokussierten Psychotherapie unterscheidet, kommt nicht nur in dem entschiedenen Verzicht auf Deutungen des unbewussten Verhaltens der Patienten zum Ausdruck, sondern vor allem in der Bedeutung, die in der sozialen Lebenswelt der Patienten und ihren interpersonellen Beziehungen gesehen wird. Zudem ist die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie auf Progression und Entwicklung hin angelegt, und zwar auf die Entwicklung und Weiterentwicklung von Fähigkeiten, interpersonelle Beziehungen zu regulieren und zu gestalten und mitzugestalten und sich in der sozialen Welt ausreichend sicher zu verankern. Dazu benötigt der Psychotherapeut neben theoretischen und klinischen Kenntnissen ein Verständnis von zwischenmenschlicher Interaktion und des sozialen Alltagslebens (vgl. Streeck, 2007). Wie Patienten mit strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen sich in ihrer sozialen Alltagswelt bewegen,

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tritt deutlich auch dann hervor, wenn die Therapie in Mehr-Personen-Situationen wie einer Gruppe oder einer Klinik stattfindet. Die interpersonell sich manifestierenden Beeinträchtigungen hier zu untersuchen und therapeutisch zu beeinflussen setzt voraus, dass der Bedeutung des sicht- und hörbaren interpersonellen Verhaltens, in dem sich implizites Beziehungswissen zeigt, und der vielfältigen subtilen Mittel, die dabei für die Herstellung sozialer Wirklichkeit eingesetzt werden, Rechnung getragen wird. Wird die Klinik konzeptuell hingegen auf die Funktion einer Umgebung reduziert, in der sich die »eigentlichen« therapeutischen Prozesse vollziehen, verstellt das den Blick dafür, wie alle Anwesenden dazu beitragen, die soziale Realität der Klinik und in der Klinik zu gestalten. Manche Auffassungen von stationärer Psychotherapie drücken die Überzeugung aus, dass das therapeutische Geschehen in der Klinik nicht grundlegend anders als dyadische Behandlungssituationen zu verstehen oder zu konzipieren sei. So wird in der Klinik manchmal in erster Linie ein Raum für die Darstellung, Wiederbelebung, Erfahrung, Neuorientierung und Bearbeitung der gestörten inneren Welt des Patienten gesehen, der Aufnahme des Patienten in die Klinik die Qualität eines therapeutisch-mütterlichen Aktes zugeschrieben, die gemeinsame Anwesenheit von Patienten und Therapeuten einer dyadischen Situation vergleichbar als Gegenüberstehen zweier Gruppen konzipiert, als Kennzeichen für das therapeutische Arrangement in der Klinik die Beziehung des Patienten zu einer Therapeutengruppe ausgegeben, das Erleben jedes Patienten in der Klinik vorrangig als Ausdruck der Reaktualisierung der jeweils spezifischen infantilen Beziehungsmuster und unbewussten intrapsychischen Konflikte aufgefasst, von dem Verhalten von Patienten im Zusammensein mit anderen behauptet, dass es wesentlich durch den Mechanismus der projektiven Identifikation bestimmt sei, die Funktion der Anwesenheit von Mitpatienten auf einen Multiplikatoreffekt verkürzt, in Gegenübertragungsreaktionen der therapeutischen Mitarbeiter allein ein Wahrnehmungsinstrument für die unbewussten Vorgänge im Patienten gesehen, nicht aber soziales Handeln usw. Die therapeutische Situation in der Klinik unterscheidet sich in ihren Grundzügen dann scheinbar in kaum mehr als der Anwesenheit einer Vielzahl anderer Personen von der Situation in einer Einzeltherapie. Im Verhalten von Patienten im Zusammensein mit anderen werden nur Zeichen gesehen, die auf »Inneres« verweisen, statt Mittel

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zu sein, mit denen das Geschehen im »Zwischen« hervorgebracht und reguliert wird. In der Konsequenz verweist interpersonelles Verhalten der Patienten in verschiedenen sozialen Situationen in der Klinik dann immer wieder nur auf sedimentierte unbewusste Beziehungserfahrungen, die in Übertragungen und Wiederinszenierungen auftauchen und zu deren Verständnis die Therapeuten über ihre Gegenübertragung gelangen. Was tatsächlich interpersonelles Geschehen ist, verliert seine interaktive Qualität. Folgerichtig ist von Interaktion kaum noch die Rede, allenfalls noch von einem Patienten, der interagiert, eine Auffassung, die mit einem interpersonellen Verständnis des therapeutischen Geschehens schwer vereinbar ist. Die soziale Wirklichkeit klinischer Einrichtungen ist nicht unabhängig vom Handeln der Anwesenden vorhanden. Eine Klinik ist keine leere Bühne, auf der Patienten ihre unbewussten Konflikte in Szene setzen. Ebenso wenig sind die an der Behandlung im Krankenhaus Beteiligten neutrale, von den Patienten für die Inszenierung ihrer Konflikte beliebig zu verwendenden Objekte. Was in der stationären Behandlung geschieht, ist das Produkt wechselseitigen aufeinander bezogenen Handelns und Behandelns, ein Geschehen, das die Beteiligten gemeinsam hervorbringen, eine Koproduktion, von Anwesenden im Zuge ihres Miteinander-Umgehens gestaltet. Die Akteure in der Klinik tauchen – mit anderen Worten – nicht in eine soziale Realität ein, die jenseits ihres eigenen Zutuns als solche vorab schon da ist, sondern sie produzieren eben diese Wirklichkeit erst im Vollzug ihres Handelns. Gerät das aus dem Blick, bleiben die vielfältigen Chancen und Möglichkeiten leicht ungenutzt, implizites Beziehungswissen der Patienten, ihre Beeinträchtigungen im Zusammensein mit anderen und das Wie der interaktiven Herstellung von interpersonellen Beziehungen im Feld der Klinik zu untersuchen und zu verändern.

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Strukturelle Störungen – schwere Persönlichkeitsstörungen

»Strukturelle Störungen« werden entwicklungsbedingte, in der Persönlichkeit verankerte Beeinträchtigungen genannt, die auf eine eingeschränkte Verfügbarkeit von seelischen Funktionen, die für die Selbst- und Beziehungsregulierung erforderlich sind, zurückzuführen sind. Aus psychodynamischer Sicht manifestieren sich strukturelle Störungen vor allem als Störungen der Selbstregulierung und des Selbsterlebens sowie als Störungen der Regulierung des Zusammenseins mit anderen. Die Selbst- und Beziehungsstörungen wirken sich häufig auf alle Bereiche des sozialen und beruflichen Lebens der Patienten beeinträchtigend aus. Die Störungen können mit bedrohlichen Folgeerscheinungen einhergehen, beispielsweise mit schweren Formen selbstschädigenden und fremddestruktiven Verhaltens. Strukturelle Störungen sind zumeist gravierende Störungen der Per­sönlichkeitsentwicklung oder schwere Persönlichkeitsstörungen. Dabei wird die Qualifizierung »schwer« in Verbindung mit Per­ sön­lichkeitsstörungen oftmals großzügig verwendet. So gilt eine Persönlichkeitsstörung oftmals schon dann als »schwer«, wenn die Person Züge einer Borderline-Störung aufweist. Hier sollen Persönlichkeitsstörungen dann »schwer« genannt werden, wenn das Leben des Patienten aufgrund der Persönlichkeitsstörung erheblich belastet ist, der Patient Gefahr läuft, ungewollt an den Rand der Gesellschaft zu geraten oder gar droht, aus dem gesellschaftlichen Leben herauszufallen. Die Integration des Patienten in die soziale Welt an Stelle psychodynamischer Merkmale als Kriterium für die Beurteilung der Schwere einer strukturellen oder Persönlichkeitsstörung heranzuziehen, korrespondiert auch mit dem Umstand, dass beispielsweise Patienten in Einrichtungen der forensischen Psychiatrie zu einem sehr hohen Prozentsatz schwere Persönlichkeitsstörungen aufweisen und auch bei Patienten, die in Einrichtungen für Suchtkranke behandelt werden, oftmals strukturelle Störungen oder schwere Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert werden; man wird darüber hinaus davon ausgehen können, dass auch unter den Insassen bzw. Patienten

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Strukturelle Störungen – schwere Persönlichkeitsstörungen

in sozialtherapeutischen Anstalten ein höherer Anteil von schweren Persönlichkeitsstörungen zu finden ist. Der Begriff »strukturelle Störung« taucht in den diagnostischen Klassifikationssystemen ICD und DSM nicht auf, erfüllt in der psychodynamischen Diagnostik und Therapie jedoch wichtige differenzierende Funktionen. »Strukturelle Störung« wird weitgehend identisch mit Bezeichnungen wie »Störung auf Borderline-Niveau« (Kernberg, 2000), »präsymbolische Störung«, »Störung auf niedrigem« bzw. »mittlerem Integrationsniveau« (OPD) oder »schwere Persönlichkeitsstörung« verwendet. In der Psychologie meint Struktur die geordnete Gesamtheit psychischer Dispositionen. In der Psychoanalyse findet sich der Begriff »Struktur« beispielsweise in Zusammenhang mit Charakterstruktur, Ich-Struktur oder Struktur von Objektbeziehungen. In dem multi­ axialen diagnostischen System der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) ist Struktur einer von mehreren diagnostischen Schwerpunkten und bezieht sich auf das Selbst in seiner Beziehung zu den Objekten (OPD, 2006). In der Psychiatrie wird die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung dann gestellt, »wenn durch den Ausprägungsgrad und/oder die besondere Konstellation von psychopathologisch relevanten Merkmalen (Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Wollen, Beziehungsgestaltung) erhebliche subjektive Beschwerden und/oder nachhaltige Beeinträchtigungen der sozialen Anpassung entstehen« (Sass, 2000; Hervorh. v. Verf.). Das internationale Klassifikationssystem der Krankheiten (ICD) knüpft die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung an die Bedingung, dass die betroffene Person »gegenüber der Mehrheit der betreffenden Bevölkerung deutliche Abweichungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in den Beziehungen zu anderen« zeigt (Hervorh. v. Verf.). Ähnlich fordert das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) für Persönlichkeitsstörungen, dass zwei der vier Bereiche Kognition, Affektivität, Impulskontrolle und zwischenmenschliche Beziehungen ein überdauerndes, von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweichendes Muster von innerem Erleben und Verhalten zeigen. Danach können die interpersonellen Beziehungen von Patienten, bei denen eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wird, zwar auffällig erscheinen, ohne dass darin ein obligates Kriterium für die Diagnose gesehen wird. Die soziale Lebenswelt muss demnach nicht notwen-

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digerweise beeinträchtigt erscheinen oder von einer unterstellten Norm abweichen, damit die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung gestellt werden kann. Tatsächlich zeigen sich zumal schwerere Persönlichkeitsstörungen bzw. strukturelle Störungen im klinischen Alltag jedoch so gut wie immer und oftmals in erster Linie als interpersonelle Störungen. Dass die Beziehungen zu anderen nicht erheblich belastet erscheinen, ist dort eher eine seltene Ausnahme. Auch in den Entwürfen für die Neufassung der internationalen diagnostischen Klassifikationssysteme nehmen Störungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen einen zentralen Platz ein. Wie häufig und in welchem Maß das soziale Leben bei Persönlichkeitsstörungen beeinträchtigt ist, lässt sich bereits daran erkennen, dass ein großer Teil der Kriterien, die erfüllt sein müssen, um eine der Diagnosen einer spezifischen Persönlichkeitsstörung zu stellen, sowohl in der ICD als auch im DSM sich nicht überwiegend auf psychologische Merkmale wie Wahrnehmen, Denken, Wollen oder Fühlen bezieht, sondern in hohem Maße auch auf zwischenmenschliche Verhältnisse. Viele der Attribute, die in der ICD-10 und im DSM-5 auftauchen, sind keine Eigenschaften, die ausschließlich in einer Person verankert sind; vielmehr handelt es sich um Verhalten, das auf interpersonelle Verhältnisse, auf das Verhalten zwischen Personen und somit auf soziale Kontexte verweist, wie zum Beispiel folgende, für die paranoide Persönlichkeitsstörung laut DSM-5 als charakteristisch geltende Merkmale zeigen: »tiefgreifendes Muster von Misstrauen und Argwohn gegenüber anderen, so dass deren Motive als böswillig ausgelegt werden«, »ist lange nachtragend, d. h. verzeiht Kränkungen, Verletzungen oder Herabsetzungen nicht« oder »verdächtigt wiederholt ohne jede Berechtigung den Ehe- oder Sexualpartner der Untreue«. Das gilt vergleichbar auch für andere Kriterien, etwa für die Borderline-Persönlichkeitsstörung, für die beispielsweise ein »tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen« oder ein »verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder erwartetes Verlassenwerden zu vermeiden« kennzeichnend sind; auch dort geht es nicht nur um Eigenschaften einer Person, sondern um Auffälligkeiten, die sich im Kontext des Verhaltens von anderen zeigen. Um die Entwicklungsbeeinträchtigungen von Patienten mit strukturellen Störungen in den formalen diagnostischen Klassifi-

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Strukturelle Störungen – schwere Persönlichkeitsstörungen

kationssystemen abzubilden, müssen oft mehrere Diagnosen, oft auch mehrere Diagnosen für Persönlichkeitsstörungen herangezogen werden. Man kann dann von komplexen Störungen sprechen. Die zwischenmenschliche Welt von Patienten mit strukturellen Störungen ist davon geprägt, dass Beziehungen, die auf wechselseitiger Anerkennung gründen, nicht gelingen; die Beziehungen sind häufig instabil und scheitern nicht selten schon nach kurzer Zeit. Oftmals sind die zwischenmenschlichen Beziehungen unflexibel und folgen immer wieder den gleichen starren, manchmal destruktiven Mustern. Nicht wenige Patienten meiden soziale Kontakte weitgehend und leben zurückgezogen, leiden aber daran, dass es ihnen nicht gelingt, in halbwegs befriedigender Weise am sozialen Alltagsleben teilzunehmen. Vor diesem Hintergrund wurden Persönlichkeitsstörungen mit einem Ausdruck, der Sullivan zugeschrieben wird, auch »Störungen des Sozialen« genannt (z. B. Möller, Laux u. Kapfhammer, 1996). Nicht nur die als dramatisch, emotional und launisch beschriebenen, zu Affektualisierung und Impulsivität neigenden Beeinträchtigungen von Patienten mit histrionischer, narzisstischer, antisozialer oder Borderline-Persönlichkeitsstörung (sog. Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen im DSM-IV) manifestieren sich als »Störungen des Sozialen«, sondern auch die als exzentrisch, affektarm und misstrauisch geltenden Störungen von Patienten mit paranoider, schizoider und schizotypischer Persönlichkeitsstörung (sog. Cluster-A-Persönlichkeitsstörungen im DSM-IV), die häufig zurückgezogen leben und anderen Menschen so weit wie irgend möglich aus dem Weg gehen. Bei Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen war die frühe Lebensgeschichte häufig von vernachlässigenden, traumatisierenden und missbräuchlichen Beziehungserfahrungen geprägt. Oftmals waren die Patienten schon im frühen Lebensalter auffällig. Manche wurden als Kinder psychopharmakologisch behandelt; selten haben die frühen Warnsignale in eine adäquate psychotherapeutische Behandlung geführt. Bereits Anna Freud (1965/2003) hatte bei ihrer therapeutischen Arbeit mit Kindern seelische Störungen, die auf Entwicklungsbeeinträchtigungen zurückzuführen seien, und solche, die in unbewussten Konflikten gründeten, unterschieden. Strukturelle Störungen können mit einem breiten Spektrum von seelischen und psychosozialen Beeinträchtigungen einhergehen.

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Symptome wie Ängste und multiple Phobien, impulsives Agieren, Depressionen, schwerwiegende Arbeitsstörungen und Arbeitsunfähigkeit, Zwänge, promiskuöses und antisoziales Agieren, chronische Selbstverletzungen, soziale Isolation, suizidales Verhalten und chronische Suizidalität, abhängige Verhaltensweisen, instabile Beziehungen, sexuelle Perversionen, Alkoholabhängigkeit und andere süchtig-abhängige Verhaltensmanifestationen oder psychosenahe Störungen können das klinische Bild prägen. Auch die Beeinträchtigungen von Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen können mit erheblichen Entwicklungsstörungen bzw. strukturellen, in der Persönlichkeitsorganisation verankerten Störungen verbunden sein. Strukturelle Störungen können aber auch über längere Zeit hinweg unbemerkt bleiben, solange äußere und innere Bedingungen relativ konstant sind und die Beeinträchtigungen kompensiert werden können. Zur psychischen Dekompensation kommt es meist dann, wenn sich diese Bedingungen verändern und der Patient nicht über hinreichende Funktionen für die Bewältigung der veränderten Bedingungen verfügt. Das unterscheidet strukturelle von konfliktbedingten Störungen: Zwar können sich die Umstände von außen betrachtet gleichen, nicht jedoch die psychodynamischen Mechanismen, die zur Symptommanifestation führen. Verliert ein Patient mit einer strukturellen Störung beispielsweise eine für ihn wichtige Person, kann es sein, dass er daraufhin dekompensiert, weil dieser Person bis dahin wichtige stabilisierende und regulative Funktionen zukamen. Kommt es demgegenüber aufgrund eines gleichen Ereignisses bei einem neurotischen Patienten zu Symptomen, dann deshalb, weil durch den Verlust ein unbewusster Konflikt aktualisiert wurde, der mit den verfügbaren Abwehrmechanismen nicht ausreichend bewältigt werden kann und zur Regression auf eine im gesunden Zustand überwundene Stufe der Entwicklung führt. Als Folge der vernachlässigenden und traumatisierenden Beziehungserfahrungen in der Entwicklung stehen Patienten mit strukturellen Störungen grundlegende Funktionen der Beziehungs- und Selbstregulierung zur Ausübung nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung (Fürstenau, 1977; Heigl-Evers u. Heigl, 1983; Rudolf, 2004). Die strukturell bedingten Einschränkungen, die weitgehend unabhängig von situativen Umständen generell nicht oder nur eingeschränkt verfügbar sind, betreffen vor allem die folgenden Funktionen:

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Strukturelle Störungen – schwere Persönlichkeitsstörungen

ȤȤ Selbstwahrnehmung, Selbsterleben und selbstreflexive Fähigkeiten, ȤȤ charakteristische Beziehungserfahrungen, Bindungsmuster sowie vorherrschende Objektbeziehungen bzw. Teilobjektbeziehungen, ȤȤ Affekte (affektive Beziehungsregulierung) einschließlich mentalisierter Affektivität (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2004) und ȤȤ Funktionen der Anpassung, die die Regulierung im Umgang mit innerer psychischer und äußerer sozialer Realität gewährleisten. Das Selbsterleben der Patienten ist häufig von Gefühlen von Leere und Sinnlosigkeit, Grandiosität oder Wertlosigkeit bestimmt; das Selbstwertgefühl ist meist instabil. Um sich ausreichend wichtig fühlen zu können, verlangen die Patienten von anderen übermäßige Aufmerksamkeit und Beachtung. Um selbstregulative Funktionen wie die Regulierung des Selbstwertgefühls, des Reizschutzes oder des Identitätsgefühls aufrechterhalten zu können, sind sie weitgehend darauf angewiesen, sich von anderen beachtet zu fühlen. Heftigere Gefühle und Impulse, insbesondere aggressive und destruktive Gefühle, können sie oftmals nur schwer aushalten. Andere Patienten müssen »weiche« Gefühle vom Erleben fernhalten, weil sie sich damit in unzuträglicher Weise schwach, bedürftig, abhängig und auf andere Menschen angewiesen fühlen. Als schlecht und böse erlebte Eigenschaften werden häufig auf die Außenwelt projiziert (Externalisierung sogenannter böser und verfolgender innerer Objekte). Viele Patienten haben sich von ihrer Umgebung weitgehend abgeschirmt und nehmen ihre soziale Umwelt wie aus der Ferne wahr, so dass beim Gegenüber leicht der Eindruck entsteht, die Patienten nicht wirklich zu erreichen und nicht in der Lage zu sein, eine emotionale Verbindung zu ihnen herzustellen. Andere Patienten haben kein Gefühl für die Wirkung ihres Verhaltens auf ihr Gegenüber und verstehen nicht, warum ihre Beziehungen so instabil sind. Patienten mit strukturellen Störungen gehen häufig davon aus, dass andere Menschen so wie sie selbst funktionieren. Aus der Sicht der Theorie des Mentalisierens von Fonagy et al. (2004) sind es vor allem Patienten mit Borderline-Störungen und mit traumatisch bedingten Entwicklungsstörungen, die davon ausgehen, dass die äußere Realität so wie ihre innere Realität und andere Menschen so wie sie selbst sind. Fonagy et al. sprechen in diesem Zusammenhang von einer partiellen Fixierung auf den kognitiven Modus psychischer

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Äquivalenz. Damit beziehen sie sich auf die Erfahrung, dass die Patienten nicht oder nur begrenzt in der Lage sind, sich vorzustellen, dass es unterschiedliche psychische Realitäten gibt und andere Menschen sich aufgrund ihrer jeweils eigenen, von der der Patienten verschiedenen psychischen Realität verhalten. Andere können nicht als eigenständige Individuen in ihrem eigenen Recht erlebt werden. Auch wenn die Patienten wissen, dass es unterschiedliche psychische Realitäten gibt und andere Menschen die Welt aus ihrer je eigenen Perspektive wahrnehmen, gelingt es ihnen nicht, die Perspektive der anderen zu übernehmen und sich und ihre Beziehungswelt aus der Sicht ihres Gegenübers zu betrachten. Es ist ihnen nur schwer möglich, sich ein realistisches Bild von anderen Menschen zu machen und deren Verhalten als motiviert zu verstehen (Mentalisierungsfunktion). Die Bilder der anderen erscheinen häufig unbestimmt und verschwommen. Aufgefordert, für sie wichtige andere Menschen zu beschreiben, nennen manche Patienten ausschließlich sichtbare Merkmale, als seien andere ihnen nur von außen zugänglich, nicht jedoch als Wesen, die aus ihrer je eigenen Subjektivität heraus handeln. Einzelheiten werden oftmals für das Ganze genommen. Die andere Person ist nur so lange wichtig, wie sie physisch anwesend ist, sich in Übereinstimmung mit eigenen Bedürfnissen verhält und ihre Eigenschaften noch ausreichend kompatibel mit eigenen Idealvorstellungen sind. Ist das nicht mehr gewährleistet, verliert die andere Person ihre psychische Relevanz und wird innerlich fallengelassen oder ausgelöscht. Kohut (1973) hat dafür den Begriff SelbstobjektBeziehungen geprägt. Um selbstregulative Funktionen erfüllen zu können, muss die andere Person sich nach Möglichkeit in ganz bestimmter Weise verhalten und bestimmte Rollen übernehmen (z. B. Sandler, 1976). Um die Person zu solchem Verhalten zu veranlassen, greifen die Patienten auf psychosoziale Abwehr- und Anpassungsmechanismen, insbesondere auf Mittel zurück, die aus psychoanalytischer Sicht meist als projektive Identifikationen beschrieben werden und die hier eine größere Rolle als bei neurotischen Störungen spielen (zur Kritik des Konzepts der projektiven Identifikation siehe Grefe u. Reich, 1996). Vor diesem Hintergrund haben Heigl-Evers, Heigl und Ott (1993) die zentrale Pathologie von Patienten mit strukturellen Störungen eine »Beziehungspathologie« genannt. Stehen andere Personen für selbstregulative Zwecke nicht zur Verfügung oder ver-

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sagen in entsprechenden Funktionen, stellen sich bei den Patienten schwer aushaltbare Unlust- und Spannungszustände ein, die nicht selten mit Mitteln bekämpft werden, die die Spannungsregulierung unterstützen sollen, etwa mit Alkohol oder Drogen. Andere Patienten greifen zu übermäßigem Essen, zu selbstverletzendem Verhalten, zwanghaftem Spielen (Computerspiele, Videospiele), promiskuösem Verhalten, exzessivem Fernsehen und ähnlichen Mitteln. Aufgrund der entwicklungsbedingten Beeinträchtigungen sind Patienten mit strukturellen Störungen nicht in der Lage, aus einer exzentrischen Position auf sich selbst und ihr eigenes Verhalten zu blicken und in dieser Position sich selbst und das eigene Erleben zum Gegenstand ihres Nachdenkens zu machen. Ihre Gefühle erscheinen wenig differenziert und sind als Signale im Dienst von Selbst- und Beziehungsregulierung und als Steuerungshilfen für reziproke Beziehungen oft ungeeignet. Nichtsprachliches Verhalten, dem üblicherweise vielfältige Funktionen für die Regulierung interpersoneller Beziehungen zukommen und das als implizites Beziehungswissen eng mit Interaktionsmustern verbunden ist, »passt« bei strukturell gestörten Patienten oftmals zu missbrauchenden, vernachlässigenden oder ausbeuterischen Beziehungen, taugt aber nicht dazu, »neutrale« Beziehungen auf der Grundlage von Wechselseitigkeit zu regulieren. Die Art ihres Verhaltens und die Mittel, mit denen sie das Zusammensein mit anderen regulieren, haben es ihnen in der Vergangenheit oftmals ermöglicht, mit beeinträchtigenden Verhältnissen umzugehen, sind aber ungeeignet, um in der sozialen Alltagswelt auf Reziprozität ausgerichtete Beziehungen zu regulieren und aufrechtzuerhalten. In ihren Problemen im Zusammensein mit anderen dokumentieren sich Erlebens- und Handlungsdispositionen bzw. innere Arbeitsmodelle (Bowlby, 1995), die in die Organisation der Persönlichkeit als deren konstitutiver Teil eingegangen sind und die soziale Lebenswelt der Patienten bestimmen. Der Verdacht auf eine strukturelle Störung legt sich somit immer dann nahe, wenn ȤȤ der Patient andere (reale äußere Objekte) überwiegend für Zwecke der Selbstregulierung (z. B. Externalisierung verfolgender innerer Objekte) einschließlich der Regulierung des Selbstwerts, für Zwecke des Reizschutzes, für die Kontrolle von Impulsen und Affekten und für Verhaltensorientierungen in interpersonellen Situationen verwendet; das schließt Phänomene wie die psychi-

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sche Verschmelzung mit Objekten, deren Eliminierung sowie deren Inbesitz- und Inbeschlagnahme (Marty, 1974) ein; die eigene Person verzerrt wahrgenommen und in dysfunktionaler Weise erlebt wird (Selbsterleben) und das Selbstgefühl und Selbstwertgefühl chronisch instabil sind, häufig einhergehend mit Gefühlen der Leere, der Wertlosigkeit oder Grandiosität; das beinhaltet auch die Beeinträchtigung der Fähigkeit, über das eigene und das Verhalten anderer nachzudenken (Mentalisierungsfunktion); der Patient auf selbstschädigende Mittel und Mechanismen zurückgreifen muss, um damit seine Selbstregulierung zu unterstützen, insbesondere dann, wenn andere für selbstregulative Zwecke nicht zur Verfügung stehen oder in dieser Funktion versagen; solche Mittel können beispielsweise Alkohol, Drogen, übermäßiges Essen, selbstverletzendes Verhalten, zwanghaftes Spielen, promiskuöses Verhalten, intensive Reizzufuhr, beispielsweise mittels stundenlangen Fernsehens oder Videospielens, u. a. sein; andere Personen verzerrt wahrgenommen und beurteilt werden; defensive Funktionsweisen insbesondere in engen Beziehungen überwiegen; wiederkehrende Muster auf abhängige und ausbeuterische Beziehungen schließen lassen; die Fähigkeit nicht oder nur bedingt verfügbar ist, das Verhalten anderer Personen als psychisch motiviert zu verstehen, und interpersonelle Anpassungs- und Abwehrformen wie Spaltung, Idealisierung, Entwertung, Projektion und projektive Identifizierung im Vordergrund stehen und den Charakter der interpersonellen Beziehungen prägen sowie mit häufigen Beziehungsabbrüchen und daraus resultierender Suizidalität einhergehen; der Patient kaum in der Lage ist, Affekte und Impulse zu regulieren, wahrzunehmen und deren Ausdruck zu kontrollieren; häufig ist die Toleranz für negative Affekte erniedrigt; nahe Beziehungen als beunruhigend und bedrohlich erlebt werden; intensive Beziehungen werden zwar gewünscht, werden aber auch rasch wieder abgebrochen, so dass andere Personen sich in ihrer Fähigkeit überfordert fühlen, die Beziehung aufrechtzuerhalten; beeinträchtigende und traumatische Beziehungserfahrungen sich

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vor allem im Verhalten in Form von Inszenierungen und anderen, überwiegend nichtsprachlich vermittelten Modi des Verhaltens in interpersonellen Beziehungen statt in sprachlichen Mitteilungen zeigen; der Inhalt sprachlicher Mitteilungen, mit denen die Patienten Beziehungserfahrungen schildern, und deren Darstellung in nichtsprachlich vermittelter Interaktion können deshalb erheblich auseinanderklaffen; ȤȤ nichtsprachliches Verhalten im kommunikativen Austausch, einschließlich der therapeutischen Beziehung, ungeeignet ist, auf Reziprozität angelegte, interpersonelle Beziehungen zu gestalten und zu regulieren (Streeck, 2004); ȤȤ die Fantasietätigkeit, die Symbolisierungsfunktion, das Denken und die Erinnerungsfähigkeit beeinträchtigt sind; ȤȤ es schwierig bis unmöglich ist, sich über eine nur vorgestellte Realität zu verständigen oder über Fantasien zu sprechen, weil die Patienten zu konkretistischem Denken neigen und häufiger Beeinträchtigungen ihres Realitätssinnes (Figueiredo, 2006), ihrer Fantasietätigkeit, der Symbolisierungsfunktion, oftmals auch des Denkens und der Erinnerungsfähigkeit aufweisen. Merke: Die Beeinträchtigungen von Patienten mit strukturellen Störungen kommen meist nicht im Inhalt dessen zum Ausdruck, was die Patienten mit Worten mitteilen, sondern sie zeigen sich in ihrem Verhalten, vor allem in ihrem Verhalten im Zusammensein mit anderen. Wenn der Therapeut sich in erster Linie darauf stützt, was die Patienten mit Worten ausdrücken, läuft er Gefahr, die zentralen Probleme der Patienten zu verfehlen. Der Therapeut muss deshalb immer und oft in erster Linie dafür aufmerksam sein, was sich im Verhalten der Patienten im Zusammensein mit anderen, einschließlich der therapeutischen Beziehung zeigt. Bei der psychoanalytisch-interaktionellen Methode liegt der Schwerpunkt der Therapie auf den interpersonellen Beziehungen des Patienten.

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Implizites Beziehungswissen und strukturelle Störungen Die pathogenen Beziehungserfahrungen von Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen bzw. strukturellen Störungen gehören überwiegend nicht zu ihrem episodischen, deklarativen Wissen und sind nicht Teil ihres narrativen Gedächtnisses, sondern sind als körperliches Wissen im impliziten Gedächtnis verankert. Sie können nicht erinnert und nicht sprachlich mitgeteilt werden und lassen sich deshalb aus den Erzählungen der Patienten auch nicht hinreichend rekonstruieren. In Anlehnung an Polanyis (1969/1985) Unterscheidung von explizitem und implizitem Wissen wurde der Begriff »implizites Beziehungswissen« eingeführt (Boston Change Process Study Group, BCPSG, 1998). Polanyi (1969/1985) hatte implizites Wissen auch »tacit knowing«, schweigendes Wissen, genannt. Was mit implizitem Wissen gemeint ist, wird häufig am Beispiel des Fahrradfahrens erläutert. Die Fähigkeit, Fahrrad zu fahren, lässt sich hinreichend nicht mit Worten vermitteln. Wer mit Worten zu erklären versucht, wie man Fahrrad fährt, vermittelt nicht das Wissen, dessen es bedarf, um Fahrrad zu fahren, sondern Wissen übers Fahrradfahren. Wer Fahrrad fahren kann, hat demgegenüber praktisches Expertenwissen, ein dem Körper gleichsam eingeschriebenes Wissen davon, wie man das macht, »embodied knowledge«. Implizites Wissen bezieht sich somit auf Handlungsabläufe und zeigt sich in der Abwicklung der praktischen Tätigkeit, widersetzt sich aber einer sprachlichen Darstellung. Insofern ist implizites Wissen einem Können vergleichbarer als kognitives Wissen, abhängig von Erfahrung. »Wir wissen mehr, als wir zu sagen wissen«, heißt es bei Polanyi. Auch wie Beziehungen »gemacht« werden, die Mittel und Wege, mit deren Hilfe Akteure ihr Zusammensein hervorbringen und gestalten, lässt sich mit Worten nicht hinreichend wiedergeben. Vor diesem Hintergrund hat die Bostoner Gruppe (z. B. Boston Change Process Study Group, 2005) in Anlehnung an Polanyi implizites Beziehungswissen definiert als prozedurales, nicht-symbolisiertes und nicht symbolisierungsfähiges Wissen – ein unbewusstes »Wissen, wie« das geht, mit anderen zusammen zu sein, »knowing how to do things with others« (Nahum, 2008, S. 128). Implizites Beziehungswissen ist körperliches Wissen, ein Vollzugswissen, das sich in sozialer Interaktion zeigt. In diesem Sinne findet sich implizi-

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tes Beziehungswissen nicht allein »in« einer Person, sondern ist an interpersonelle Kontexte gebunden. Wenn wir jemanden nach dem Weg fragen, mit der Partnerin oder dem Partner Küsse austauschen oder den kürzlich in die gegenüberliegende Wohnung neu eingezogenen Mietern begegnen, denken wir gewöhnlich nicht allzu lange darüber nach, wie wir das anstellen. Wir beobachten nicht erst genau, wie die andere Person sich benimmt, bevor ein nächster Schritt erfolgt; wir versuchen nicht, uns erst darüber klar zu werden, wie die Partnerin oder der Partner sich in diesem Moment verhält, bevor wir den nächsten Schritt tun, und wir planen nicht im Detail, wie wir uns verhalten, ob wir so oder so reden und dabei dieses oder jenes körperliche Gebaren zeigen. Wir tun das einfach. Wir wissen, wie das geht, mit anderen zusammen zu sein, auch wenn wir nicht genau sagen können, was genau dabei wie zu tun ist. Romane und Erzählungen legen oftmals beredtes Zeugnis davon ab, wie und mit welchen Mitteln interpersonelle Beziehungen abgewickelt werden. So beschreibt der deutsche Romancier Dieter Wellershoff (2005) in einer Erzählung (»Das normale Leben«), wie ein Mann und seine frühere Geliebte sich ein letztes Mal treffen: »Als sie wieder in seine Wohnung kamen und er ihr die Jacke abnahm, beugte er sich vor in der Erwartung, sie würde sich zu ihm umwenden oder sich an ihn lehnen, um sich mit ihm in einem ersten Kuß zu treffen, doch sie drehte den Kopf beiseite und löste sich von ihm. Ihr Gesicht wirkte ernst und gequält, als sie sich ihm wieder zuwandte und sagte: ›Ich muß etwas mit dir besprechen.‹ Er hatte noch ihre Jacke in seiner rechten Hand, während er wie angeleimt noch dort stand, wo sie sich mit sanfter Entschiedenheit von ihm entfernt hatte. ›Besprechen?‹ fragte er. ›Warum? Was gibt es zu besprechen?‹ Dann hob er den Arm mit der Jacke hoch, als zeige er ihr ein Beweisstück oder ein Argument, das die Situation, in die sie geraten waren, sofort ändern mußte: ›Ich häng erst mal deine Jacke auf‹, sagte er« (S. 182 f., Hervorh. v. Verf.). Der Austausch von Worten von ihm und ihr beschränkt sich auf wenige Sätze (»Ich muß etwas mit dir besprechen«, »Besprechen? Warum? Was gibt es zu besprechen?«, »Ich häng erst mal deine Jacke auf«). Dabei ist der Boden zwischen ihm und ihr schon bereitet, noch bevor die ersten Worte gewechselt sind: Kaum in seiner Wohnung angekommen, versucht er, sich ihr zu nähern, beugt sich zu ihr hin und versucht so, die Richtung ihres Zusammenseins auf körperli-

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che Annäherung hin zu definieren. Sie versteht sein Verhalten und antwortet ihrerseits mit körperlichem Verhalten: Sie wendet sich augenblicklich von ihm ab. So vergrößert sie die räumliche Distanz und weist ihrem Zusammensein damit eine der von ihm angestrebten entgegengesetzte Richtung zu. Gleich darauf leitet sie einen nächsten Zug ein: Sie sieht zu ihm hin mit einem mimischen Ausdruck, der ihre vorangegangene Abwendung zu bekräftigen scheint und erahnen lässt, dass sie ihre Beziehung anders definiert, als er das mit seiner Annäherungsbewegung getan hat. Mit ihrer ernsten und gequälten Mimik führt sie ihm, der wie erstarrt ist, vor Augen, dass sie keineswegs auf den Austausch von Zärtlichkeiten eingestellt ist, sondern sich mit einem schwierigen Thema beschäftigt. Auf diese Weise machen beide mit ihrem körperlichen Verhalten innerhalb kürzester Zeit ihre momentane Beziehung zueinander deutlich. Dass beide die Art ihres Zusammenseins mit körperlichen Mitteln miteinander aushandeln können, ist nur deshalb möglich, weil sie sich mit ihrem Verhalten wechselseitig die Bedeutung des Verhaltens des jeweils anderen vor Augen führen. Dabei gehen im Kontext der gemeinsamen Situation Affektausdruck, körperliches Verhalten und sprachliche Mitteilung Hand in Hand, ohne dass einzelne Verhaltensmodalitäten für sich genommen schon etwas Bestimmtes ausdrücken würden. Beide setzen sich als ganze Personen handelnd zueinander ins Verhältnis. Jeder weiß, dass der andere weiß, wie im Kontext der gemeinsamen Situation das eigene körperliche Gebaren zu verstehen ist. Wenn er sich vorbeugt in der Erwartung eines Kusses, dann weiß er, dass sie weiß, welche Erwartung er an sein körperliches Verhalten knüpft; und wenn sie daraufhin den Kopf abwendet, dann weiß sie, dass er weiß, dass ihr körperliches Verhalten eine Antwort auf sein vorangegangenes körperliches Verhalten ist. Beide stützen sich auf ein System geteilter Bedeutungen, das sie in der Vergangenheit kooperativ entwickelt haben und dessen vielfältige Mittel und Methoden ihnen allenfalls partiell bewusst sind. Sie haben geteiltes implizites Beziehungswissen. Erst im Kontext des wechselseitigen Benehmens der beiden Akteure, ihres Handlungsdialoges (Klüwer, 1983), wird auch deutlich, was ihre Worte bedeuten. Ihre Worte und ihr körperliches Handeln kontextualisieren sich wechselseitig (Goodwin, 2000). Dass einer Person normative Erwartungen bekannt sind und die Person somit weiß, was in einer sozialen Situation zu tun ist,

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legt noch nicht fest, wie die Person sich in dieser Situation verhält. Normative Erwartungen sind überwiegend explizites Wissen; danach gefragt, können wir in der Regel darüber Auskunft geben. Wie normative Erwartungen im Zusammensein aber realisiert werden und die Akteure ihre gemeinsame Situation miteinander gestalten, verweist nicht in erster Linie auf normatives, explizites, sondern auf implizites Beziehungswissen. Darum lässt sich im Zusammensein mit anderen nur begrenzt vorhersagen, in welche Richtung sich die gemeinsame Situation bewegt (Streeck, 2013). Nicht grundlegend anders als in Interaktionen im sozialen Alltag nimmt auch im Behandlungszimmer die eine Person mit ihrem nachfolgenden Verhalten unvermeidlich zu dem vorangegangenen Verhalten der anderen Person Stellung und zeigt damit, wie sie deren Verhalten verstanden hat. Hier wie dort entscheidet sich im Übergang von einem Zug, einem »turn«, der einen zu einem nachfolgenden Zug, der anderen Person von Mal zu Mal, wie die Weichen für den Fortgang des Zusammenseins gestellt werden, in welche Richtung sich die Akteure fortbewegen und sich das Zusammensein weiterentwickelt, ob die eingeschlagene Richtung bekräftigt oder korrigiert oder der bis dahin verfolgte Kurs gänzlich aufgegeben wird und das Geschehen sich auf ein neues Ziel zubewegt. Schon Babys verfügen über implizites Beziehungswissen in Gestalt vielfältiger Fähigkeiten, mit der sozialen Umwelt zu interagieren (Tronick, Als, Adamson, Wise u. Brazelton, 1978). Bereits im Alter von fünf Wochen versuchen Neugeborene, das Verhalten einer Person, die sie aus der Nähe ansieht und die Zunge herausstreckt, zu imitieren. Meltzoff und Moore (1994) gehen davon aus, dass die Bereitschaft zu Nachahmungsinteraktionen angeboren ist. Mit der Entdeckung der Spiegelneuronen durch Rizzolatti und seine Mitarbeiter (z. B. Rizzolatti, Fadiga, Gallese u. Fogossi, 1996) Anfang der 1990er Jahre, die in weiten Teilen von Psychotherapie und Psychoanalyse geradezu enthusiastisch aufgenommen wurde, wurden solche Nachahmungsinteraktionen als Beleg herangezogen, um die Abstimmung interpersonellen, kommunikativen Verhaltens zu erklären. Von nun an schien die Jahrtausende alte Frage, wie wir andere verstehen können, eine biologische Antwort gefunden zu haben. Die Kontroverse, ob Intersubjektivität ein Produkt sozialer Erfahrung ist oder angeboren, schien zugunsten der zweiten These entschieden zu sein. Darüber hinaus wurden Spiegelneuronen mit so komplexen

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Fähigkeiten in Verbindung gebracht wie der, sich in andere einzufühlen, mit anderen zu kooperieren und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Mittlerweile gilt es allerdings als nicht mehr so sicher, ob die Aktivität der Spiegelneuronen im Moment visueller Wahrnehmung mehr ist als ein Hinweis auf biologisch verankerte, imitierende Handlungsbereitschaften (z. B. Kilner, 2011). Auch der norwegische Psychologe Sten Bråten geht davon aus, dass wir nicht erst im Zusammensein mit der frühen sozialen Umwelt lernen müssen, dass da auch andere sind, sondern dass Intersubjektivität von Geburt an angelegt ist (vgl. Dornes, 2002). Bråten spricht von einem »inneren primären Gemeinschaftsprozess«, den er »virtueller Anderer« nennt: »Dieser innere, virtuelle Andere kann […] in (Proto-)Dialoghandlungen durch einen bestimmten, vorhandenen tatsächlichen Anderen ersetzt werden oder ihn ersetzen« (2011, S. 835). Innerlich, so hat Dornes die These von Bråten anschaulich übersetzt, ist der andere von Anfang an da, biologisch vorgeprägt. Die reale andere Person schlüpft dann nur noch in die Haut dieses innerlich schon vorbereiteten, virtuellen anderen. Anders als manche Behauptungen zur Funktion der Spiegelneuronen bezieht Bråten mit seiner spekulativen Annahme keine biologistische Position, um interpersonelle Verständigung zu erklären; vielmehr zieht er die Möglichkeit in Erwägung, dass die Fähigkeit, zu erkennen, dass da andere sind, der Biologie nicht mühsam abgerungen werden muss, sondern wir gleichsam auf Intersubjektivität hin angelegt sind, ohne dass intersubjektive Verständigung deshalb schon biologisch gesichert wäre. Im therapeutischen Gespräch mit Patienten mit schwereren Entwicklungsstörungen der Persönlichkeit gelingt es oft nicht, aus ihren sprachlichen Mitteilungen ein anschauliches Bild davon zu gewinnen, was dazu führt, dass es in ihrem sozialen Alltag im Zusammensein mit anderen immer wieder zu ähnlichen Schwierigkeiten kommt und Beziehungen immer wieder scheitern. Was die Patienten über ihre soziale Welt berichten, steht oftmals in auffälligem Kontrast zu den Erfahrungen, die der Therapeut im unmittelbaren Umgang mit ihnen macht. Wenn der Therapeut auf das Verhalten des Patienten im Hier und Jetzt eingeht, stellt sich heraus, dass die Patienten nicht in der Lage sind, sich reflexiv auf das interpersonelle Geschehen zu beziehen, an dem sie selber beteiligt waren oder im Moment gerade beteiligt sind. Die Patienten können – mit anderen Worten – keine dezentrierte Position (Piaget) einnehmen. Das macht es verständlich,

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warum sich das Beziehungsgeschehen und -erleben aus den narrativen Darstellungen der Patienten meist nicht verlässlich rekonstruieren lässt. Was die Patienten über ihre Beziehungserfahrungen mit Worten berichten, drückt oft nur nachträgliche Bearbeitungen von Erfahrungen des Im-Kontakt-mit-anderen-Seins aus. »Worte«, so musste Ulrich Moser (2001) mit Blick auf Patienten mit frühen Störungen feststellen, »sind in der therapeutischen Beziehung eher Aktionen« (S. 113). In der Art und Weise jedoch, wie sie mit körperlichen Mitteln das Zusammensein mit anderen gestalten, kommen oftmals zentrale Aspekte dieser Beziehungserfahrungen und des impliziten Beziehungswissens zur Darstellung, mit denen sie im Zusammensein mit anderen interpersonelle Beziehungen gestalten und regulieren. Das implizite Beziehungswissen der Patienten kann durch Deutungen nicht wesentlich verändert werden (Fonagy, 1999; Boston Change Process Study Group, 2012). Selbst dann, wenn der Patient über Beweggründe seines Verhaltens und darüber nachdenken könnte, welche subtilen oder weniger subtilen Mittel und Verfahren er denn eigentlich verwendet, wenn er mit anderen zusammen ist, wird das sein Verhalten kaum in nützlicher Weise verändern können. Weder könnte der Patient viel über sein Wie im Zusammensein mit anderen sagen, noch wäre es sonderlich hilfreich, wenn er sich mit Vermutungen darüber auseinandersetzen würde, aus welchen verborgenen Beweggründen er solche Mittel und Methoden verwende. Und selbst dann, wenn er die Vielfalt der nichtsprachlichen und sprachlichen Mittel, die er verwendet, um Beziehungen zu gestalten und zu regulieren, benennen und darüber sprechen könnte, würde er damit nicht implizites Beziehungswissen, sondern explizites Wissen über implizites Beziehungswissen zur Sprache bringen. Als »Wissen im Vollzug« verändert sich implizites Beziehungswissen nicht dadurch, dass die vielfältigen Elemente des nichtsprachlichen, körperlichen Verhaltens der Patienten im Zusammensein mit anderen zur Sprache gebracht werden. Ebenso wenig wie jemand lernt, Fahrrad zu fahren, indem ihm erklärt wird, wie das geht, erwirbt jemand implizites Beziehungswissen, indem ihm gesagt wird, welche Mittel und Verfahren er im Zusammensein mit anderen wie verwenden und einsetzen solle. Darum kann es nicht sinnvoll sein, in der Behandlung implizites Beziehungswissen in explizites, sprachgebundenes Wissen

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»übersetzen« zu wollen. Stattdessen nimmt der Therapeut auf implizites Beziehungswissen im Vollzug von Interaktion mit dem Patienten Bezug. Dabei bewegt er sich in der Rolle eines Teilnehmers und eines »sozialen Spiegels« (Prinz, 2013, S. 94 ff.). Die gezielte Übernahme dieser sozialen Spiegelfunktion durch den Therapeuten, die mit dem Modus der Antwort realisiert wird, ist in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie ein zentrales therapeutisches Mittel.

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

Um einen Patienten mit einer strukturellen Störung oder schweren Persönlichkeitsstörung mit der psychoanalytisch-interaktionellen Methode zu behandeln, müssen drei grundlegende Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss der Patient auf die Behandlung gründlich vorbereitet werden. Zweitens muss der Therapeut sowohl für Beziehungserfahrungen besonders aufmerksam sein, über die der Patient im therapeutischen Gespräch berichtet, als auch dafür, wie der Patient an der therapeutischen Beziehung selbst teilnimmt und mit welchen Mitteln er diese Beziehung mitgestaltet. Und drittens muss der Psychotherapeut in der Behandlung eine auf Interaktion und Austausch eingestellte Haltung dem Patienten gegenüber einnehmen und an dem therapeutischen Dialog in einem antwortenden Modus (siehe Abschnitt »Der antwortende Modus«) teilnehmen, wo dies für den Patienten entwicklungsförderlich ist. Dazu muss der Therapeut sich in das Erleben des Patienten einfühlen und antizipieren, welche Wirkung seine jeweils ins Auge gefassten antwortenden Interventionen auf den Patienten voraussichtlich haben werden.

Die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung Eine psychodynamisch-interaktionelle Behandlung erfordert eine gründliche Vorbereitung des Patienten. Dazu gehört, dass der Patient weiß, aus welchen Gründen der Therapeut ihm eine Behandlung empfiehlt. Das wiederum beinhaltet, dass der Patient darüber informiert sein sollte, wie der Therapeut seinen Zustand beurteilt und wie er über die Beeinträchtigungen denkt, derentwegen die Behandlung erforderlich ist. Weiter sollte dem Patienten möglichst anschaulich vor Augen geführt werden, wie die zukünftige gemeinsame Arbeit

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

mit dem Therapeuten aussieht; insbesondere muss er wissen, wie er sich in der Therapie verhalten sollte und aus welchen Gründen das von ihm erwartet wird; und der Patient muss vor Behandlungsbeginn darauf vorbereitet sein, wie der Therapeut seinerseits sich in der Therapie verhalten wird und weshalb er sich so verhalten wird. Schließlich muss es zwischen Patient und Therapeut klare Verabredungen darüber geben, welche Rahmenbedingungen die geplante Behandlung erfordert, um potentiell wirksam zu sein, und was zu tun ist, wenn die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind, die dafür notwendig sind. Im Einzelnen gehört zur Vorbereitung auf die bevorstehende Behandlung, dass ȤȤ der Patient über sein Krankheitsbild aufgeklärt wird, ȤȤ der Patient über die Art der ins Auge gefassten Behandlung, einschließlich der zugehörigen Verteilung der Aufgaben zwischen Patient und Therapeut, gründlich informiert wird, ȤȤ Patient und Therapeut sich über Schwerpunkte der Therapie und über Behandlungsziele verständigt haben und ȤȤ eindeutige und unmissverständliche Rahmenbedingungen für die bevorstehende Behandlung verabredet worden sind. Aufklärung des Patienten Wenn die Eingangsuntersuchungen zu dem Ergebnis geführt haben, dass den Symptomen und Beschwerden des Patienten eine strukturelle Störung zugrunde liegt, folgt als nächster Schritt, dass der Patient über die Diagnose aufgeklärt wird. Dazu gehört, dass der Therapeut seinem Patienten ausführlich erläutert, wie aus seiner Sicht die Beeinträchtigungen, mit denen der Patient zu tun hat, zu verstehen sind. Sodann wird der Patient über Sinn und Zweck der Behandlung informiert, die der Therapeut ihm empfiehlt. Noch vor Beginn der Therapie sollte der Patient auch wissen, welche Voraussetzungen grundsätzlich erfüllt sein müssen, damit er von der in Aussicht genommenen Therapie Besserung erwarten kann und wie die beiderseitigen Aufgaben verteilt sind. In diesem Zusammenhang muss der Therapeut dem Patienten ausreichend Gelegenheit geben, Fragen zu stellen. In jedem Fall sollte er sich vergewissern, ob und inwieweit er sich seinem Patienten hat verständlich machen können.

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Die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung47

Das erweist sich oftmals gerade dann als besonders wichtig, wenn der Patient von sich aus keine Fragen stellt. Für die Aufklärung des Patienten sollte sich der Therapeut ausreichend Zeit nehmen. Es genügt nicht, dass er den Patienten mit einigen mehr oder weniger flüchtig hingeworfenen Hinweisen auf die Diagnose und auf die ins Auge gefasste Therapie versorgt. Zusätzliche schriftliche Informationen zur Therapie können ein Hilfsmittel sein, können aber das aufklärende Gespräch nicht ersetzen. Die Notwendigkeit, den Patienten aufzuklären, wird oft nicht genügend beachtet. Zumal in Behandlungen, die unter stationären Bedingungen durchgeführt werden müssen und die unter Umständen nur wenige Wochen dauern, wird mit den Patienten oftmals nur flüchtig, pauschal oder auch gar nicht vorab über die Voraussetzungen gesprochen, die erforderlich sind, damit die Therapie effektiv sein kann. Besonders in Rehabilitationskliniken kommt es nicht ganz selten vor, dass therapeutische Maßnahmen wie beispielsweise Gruppentherapien angesichts des Druckes, der von Seiten der Kostenträger ausgeübt wird, begonnen werden, ohne dass die Patienten auch nur annähernd in der erforderlichen Weise über die bevorstehende therapeutische Arbeit aufgeklärt wurden. Dabei wird übersehen, dass eine Stunde, die für die Vorbereitung des Patienten aufgewendet wird, nicht etwa für die Rehabilitationsbehandlung verloren ist, sondern im Gegenteil eine gewinnbringende Investition darstellt. Geschieht eine solche Patientenvorbereitung nicht, nehmen oftmals Mitpatienten die »Aufklärung« vor. In der Folge verhält sich der neue Patient dann wie seine »erfahrenen« Mitpatienten, und so kommt es nicht selten dazu, dass sich Traditionen fortsetzen, die für die psychotherapeutische Behandlung nicht unbedingt förderlich sind. Merke: Der Patient wird sowohl über die Diagnose als auch über die Art der Behandlung, die der Therapeut ihm empfiehlt, ausführlich aufgeklärt. Dazu gehört, dass der Therapeut dem Patienten anschaulich erläutert, wie die beiderseitigen Aufgaben in der Behandlung verteilt sind.

Aufklärung des Patienten über die Diagnose Ärzte sind verpflichtet, ihre Patienten über die Diagnose aufzuklären. Das gilt auch für den Bereich der Psychotherapie. Dass der Psychotherapeut vor Beginn der Behandlung mit dem Patienten ausführlich

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

darüber spricht, wie seine Diagnose lautet und wie er die Beschwerden des Patienten im Rahmen dieser Diagnose versteht, ist für die bevorstehende therapeutische Arbeit mit Patienten mit strukturellen Störungen über diese Verpflichtung hinaus wichtig. Nicht nur kann jeder Patient erwarten, über die Diagnose und darüber, wie der Therapeut sein Störungsbild versteht, angemessen und ausführlich informiert zu werden; auch die Tatsache allein, dass es für die eigenen Beeinträchtigungen einen Namen gibt, kann entlastend und beruhigend wirken. Zudem ist für manche Patienten die Vorstellung schwer erträglich, dass der Therapeut in Form einer Diagnose, deren Bedeutung nur ihm verständlich ist, über Kenntnisse zu ihrer Person verfügt, die ihnen selbst nicht zugänglich sind. Nicht wenige Patienten haben dann das für sie unzumutbare Gefühl, dass der Therapeut etwas über sie weiß, was sie von sich selbst nicht wissen – eine Vorstellung, die mit einer schwer erträglichen Angst vor Abhängigkeit einhergehen und der der Psychotherapeut entgegenwirken kann, indem er dem Patienten seine diagnostischen Überlegungen ausführlich und verständlich genug erläutert. Das kann dem Patienten nicht zuletzt das Gefühl vermitteln, die Kontrolle nicht ganz aus der Hand zu geben und von dem Psychotherapeuten als gleichberechtigt respektiert zu werden. Die Diagnosen, die in den formalen diagnostischen Klassifikationssystemen (ICD, DSM) aufgeführt sind, sind wenig aussagekräftig. Es dabei zu belassen, einem Patienten eine Diagnose wie Depression, Borderline-Störung oder soziale Phobie zu nennen und sich vielleicht sogar mit dem Hinweis zu begnügen, dass es sich dabei um eine biologisch bedingte Erkrankung handele, die der medikamentösen Behandlung bedürfe, bedeutet noch nicht, den Patienten über die Diagnose aufgeklärt zu haben, und kann an Missachtung des Patienten und seiner Lebensgeschichte grenzen. Ein dermaßen flüchtiger Hinweis ist für die in Aussicht genommene Therapie nicht nützlich und kann im Hinblick auf die erforderliche Kooperation in der psychotherapeutischen Behandlung sogar schädlich sein, indem der Verzicht auf ausführliche Aufklärung über die Diagnose leicht dazu führen kann, eine Neigung mancher Patienten zu unkritischer, gläubiger Unterwerfung zu unterstützen. Dass Patienten, die von Seiten ihres Therapeuten nicht in der wünschenswerten Weise über die Diagnose aufgeklärt wurden, sich ihre Informationen im Internet beschaffen können und das auch häufig tun, sollte den Therapeuten nicht von seiner Aufgabe entpflichten.

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In Zusammenhang mit der Diagnose erläutert der Psychotherapeut dem Patienten: ȤȤ wie er dessen Beschwerden versteht, ȤȤ welche Umstände vermutlich zu den Beeinträchtigungen geführt haben und ȤȤ welche aktuellen Bedingungen gegebenenfalls daran beteiligt sind, die Beschwerden aufrechtzuerhalten. Die Aufklärung zur Diagnose sollte so umfassend sein, dass es dem Patienten möglich ist, nachzuvollziehen, wie sein zukünftiger Therapeut über seine Störung denkt. Beispiel: Auf der Grundlage einer ausführlichen Anamnese oder eines nach den Richtlinien der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD, 2006) durchgeführten Interviews, eventuell ergänzt durch gezielte Fragebogenuntersuchungen (z. B. Leichsenring, 1997; Leichsenring u. Chabrol, 2006), sei bei einem Patienten die ICD-Diagnose »emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typus« gestellt worden. Der Psychotherapeut teilt seinem Patienten die Diagnose mit, indem er ihm beispielsweise sagt: »Ich möchte Ihnen mitteilen, zu welchem Ergebnis ich aufgrund der bisherigen Untersuchungen und Gespräche mit Ihnen gekommen bin. Ich denke, dass Sie das haben, was heute eine Borderline-Störung genannt wird. Wichtiger, als Ihnen dieses Etikett mitzuteilen, ist mir aber, Ihnen zu erläutern, was damit gemeint ist. Borderline-Störung nennt man eine Beeinträchtigung, die sich unter anderem darin zeigt, dass die betroffene Person Schwierigkeiten hat, ihre Gefühle zu regulieren. Verschiedene Gefühlszustände können dann abrupt wechseln. Bei der Borderline-Störung handelt es sich um eine Entwicklungsstörung, also um eine Problematik, die ihren Ursprung wahrscheinlich in der Zeit Ihrer Kindheit und Jugend hat, in der sich die Persönlichkeit entwickelt hat. Dabei können verschiedene Einflussfaktoren eine Rolle gespielt haben, die wir nicht im Einzelnen kennen. Ziemlich sicher scheint aber – wie bei anderen Entwicklungsstörungen auch – zu sein, dass die Bedingungen, unter denen Sie aufgewachsen sind, dabei von einiger Bedeutung gewesen sind. Von den Schwierigkeiten und Problemen, die mit solchen Entwicklungsstörungen einhergehen und die Ihnen heute zu schaffen machen, kann man sagen, dass sie in der

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Vergangenheit einmal ihren guten Sinn gehabt haben. Denn darin zeigt sich, wie Sie früher mit den Umständen, unter denen Sie aufgewachsen sind, versucht haben, fertigzuwerden. Problematisch ist nur, dass die gleichen Verhaltensweisen, die Ihnen früher von Nutzen sein sollten, für Sie heute von Nachteil sind oder Ihnen sogar schaden, weil sie für Ihre gegenwärtigen Lebensbedingungen nicht mehr taugen. Wenn ihre Gefühle sich beispielsweise plötzlich verändern oder ihre Einstellung zu anderen Menschen oder auch ihre Einstellung zu sich selbst, dann ist das für Sie früher vermutlich einmal eine Möglichkeit gewesen, mit sehr schwierigen Umständen fertigzuwerden. Für Ihre jetzigen Lebensbedingungen gilt das aber nicht mehr, und das gleiche Verhalten, das für Sie früher wichtig gewesen sein mag, führt heute dazu, dass Sie selbst oder Ihre Beziehungen zu anderen Menschen Schaden nehmen. Dass Sie beispielsweise keine länger dauernden Beziehungen haben, die Sie sich auf der anderen Seite ja wünschen, hat unter anderem damit zu tun, dass es Ihnen nicht möglich ist, zu der gleichen Person, zu der Sie eben noch ein gutes Verhältnis hatten, die Beziehung aufrechtzuerhalten, wenn Sie sich über diese Person einmal sehr geärgert haben oder wütend waren, weil Sie dazu neigen, die Dinge schwarz-weiß zu sehen … Vielleicht war das jetzt viel auf einmal. Bitte fragen Sie, was unverständlich geblieben ist.«

Nicht alle Patienten fragen den Psychotherapeuten von sich aus danach, zu welchen Erkenntnissen er aufgrund der Anamnese und der weiteren Untersuchungen gelangt ist. Manche Patienten erleben den Experten wie eine übermächtige, einschüchternde Autorität, der sie nicht wagen, Fragen zu stellen. Allein eine Frage zu stellen kann für sie bedeuten, eine abstrakte, vielleicht bedrohliche oder unnahbare Autorität in Frage zu stellen und anzugreifen. Andere Patienten stellen keine Fragen, weil sie fürchten, der Therapeut könnte die Dinge, die sie wissen möchten, für Bagatellen halten und sie könnten angesichts ihrer Unwissenheit beschämt werden. Wieder andere Patienten sind aufgeregt und in der aktuellen Situation ganz mit ihrer Selbstregulierung beschäftigt und zu ängstlich, um Fragen stellen zu können. Wenn Patienten nicht danach fragen, welche Diagnose der Psychotherapeut gestellt hat und wie er ihre Beschwerden versteht, bedeutet das nicht, dass den Patienten bekannt ist, was sie über ihren eigenen Zustand wissen sollten. Manche Patienten stellen sich auch selbst mit einem diagnostischen Etikett vor wie »ich

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bin ein Borderliner« oder »ich will mein Trauma aufarbeiten« und haben sich im Internet mehr oder weniger brauchbare Informationen zu dem Störungsbild besorgt, dessen diagnostische Bezeichnung ihnen irgendwo mitgeteilt wurde. Das sollte den Therapeuten nicht daran hindern, mit dem Patienten darüber ins Gespräch zu kommen, wie er über dessen Beeinträchtigungen denkt. Sich dem Patienten gegenüber in Schweigen zu hüllen grenzt bei Patienten mit basalen strukturellen Störungen an einen Kunstfehler. Wenn der Psychotherapeut dem Patienten ausführlich genug verständlich macht, wie er über die Diagnose und die Beeinträchtigungen, die damit verbunden sind, denkt, kann das nicht zuletzt ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine verlässliche therapeutische Zusammenarbeit sein. Je mehr der Psychotherapeut nicht nur mit Worten, sondern auch mit seiner Haltung dem Patienten zu verstehen gibt, dass er in ihm einen Kooperationspartner bei einer gemeinsamen Unternehmung sieht, und je mehr er seine Seite der Kooperation für den Patienten nachvollziehbar macht, desto eher wird der Patient in der Regel sich seinerseits auf die gemeinsame Unternehmung einlassen und Verständnis für sich selbst aufbringen können (vgl. Luborsky, 1995; Crits-Christoph, Cooper u. Luborsky, 1988). Wenn strukturelle Störungen oder Persönlichkeitsstörungen über lange Zeit hinweg ohne Beschwerden geblieben sind und erst, wenn sich die äußeren Bedingungen verändern, schwerwiegende Beeinträchtigungen zutage treten, weil die Mittel und Wege, mit denen der Patient sein relatives Gleichgewicht bis dahin angesichts weitgehend gleich bleibender äußerer Lebensbedingungen hat aufrechterhalten können, jetzt nicht mehr ausreichen, um mit den veränderten Bedingungen fertigzuwerden, dann darf das nicht mit einer auslösenden Situation verwechselt werden. In einer auslösenden Situation wurde ein unbewusster Konflikt aktualisiert, in dessen Folge sich eine neurotische Symptomatik entwickelt hat, der ein solcher Konflikt zugrunde liegt. Bei strukturellen Störungen kommt es demgegenüber zur Dekompensation, wenn aufgrund veränderter Bedingungen die strukturell bedingten Beeinträchtigungen nicht mehr kompensiert werden können und der Patient sein relatives Anpassungsgleichgewicht nicht mehr aufrechterhalten kann. Die neurotische Symptomatik ist somit eine Neuproduktion, eine kreative Konfliktlösung, während im Fall der Veränderung von Lebensbedingungen und der dadurch bedingten Störung eines relativen Anpassungsgleich-

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gewichts die Beeinträchtigungen, die bereits zuvor bestanden haben, aber kompensiert waren, erst unter diesen Umständen zutage treten. Auch das sollte dem Patienten im Rahmen der Aufklärung über die Diagnose gegebenenfalls ausführlich genug erläutert werden. Die Beeinträchtigungen von Patienten mit strukturellen Störungen und Persönlichkeitsstörungen lassen sich in vielen Fällen nicht mit Hilfe einer einzigen Diagnose erfassen, sondern verlangen im Gegenteil mehrere Diagnosen gleichzeitig (sog. Komorbidität). Für die Aufklärung des Patienten über die Störung kann das bedeuten, dass der Therapeut sich zu mehreren Diagnosen äußern muss. Soweit dies möglich ist, sollte der Psychotherapeut versuchen, mit dem Patienten darüber zu sprechen, dass eine Mehrzahl von diagnostischen Etiketten nicht notwendigerweise bedeutet, dass er an mehreren Krankheiten gleichzeitig leidet, seine Beeinträchtigungen ganz besonders gravierend sind oder er ein besonders schwierig zu behandelnder Fall ist. Eventuell kann der Psychotherapeut die Gelegenheit nutzen, dem Patienten aus psychodynamischer Sicht zu erläutern, wie die verschiedenen Beeinträchtigungen, für die unterschiedliche diagnostische Bezeichnungen verwendet werden, miteinander zusammenhängen. Beispiel: Bei einer Patientin, die schon als Kind ängstlich war, jedoch nie zuvor Angstsymptome in einem klinischen Ausmaß gezeigt hatte, waren massive Ängste einschließlich sozialer Ängste nach dem Tod ihrer Mutter aufgetreten, mit der sie – inzwischen 32 Jahre alt – bis dahin in enger Verbindung zusammengelebt hatte. Bei den diagnostischen Untersuchungen hatte sich gezeigt, dass der Angstsymptomatik eine weit reichende strukturelle Störung der Persönlichkeit zugrunde lag, die bis dahin jedoch kaum in Erscheinung getreten war. Die Patientin hatte die psychischen und interpersonellen Beeinträchtigungen über ihre enge Bindung an die Mutter kompensieren können, indem die Mutter einige wichtige psychische und psychosoziale Funktionen für sie übernommen hatte. Außerdem war die Patientin depressiv. Der Psychotherapeut erläuterte der Patientin den von ihm angenommenen Hintergrund für ihre Symptomatik etwa in folgender Weise: »Sie haben berichtet, dass diese starken Ängste erst einige Zeit nach dem Tod Ihrer Mutter aufgetreten sind. Nach unseren Gesprächen bin ich zu der Vermutung gekommen, dass es bei Ihnen deshalb zu den Ängsten gekommen ist, weil Ihre Verbindung mit Ihrer Mutter

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es Ihnen ermöglicht hat, mit einigen äußeren, aber auch mit einigen inneren Umständen fertigzuwerden, mit denen Sie nun allein fertigwerden müssen. Jetzt stellt sich heraus, dass Sie einige Schritte in der Vergangenheit möglicherweise nicht so bewältigen konnten, wie das unter günstigeren Umständen vermutlich der Fall gewesen wäre. Das ist vermutlich deshalb so, weil das für Sie in gewisser Weise nicht erforderlich war, weil Sie sich ja darauf verlassen konnten, dass Ihre Mutter für Sie erreichbar war. Jetzt, wo Sie Ihre Mutter nicht mehr haben und auf sich allein gestellt sind, entwickeln Sie so heftige Angst, weil Sie unsicher sind, ob Sie Ihr Verhalten selbst ausreichend steuern und kontrollieren können. Das hat dann dazu geführt, dass Sie sich immer mehr zurückgezogen haben und darüber depressiv geworden sind. Sie haben sicher selbst schon viel darüber nachgedacht, weshalb Sie nach dem Tod ihrer Mutter so starke Ängste entwickelt haben. Glauben Sie, dass etwas an meiner Vermutung dran sein könnte?«

Der Psychotherapeut macht seine Überlegungen und Annahmen zur Diagnose der Störung, zu deren Entwicklung und psychodynamischem Hintergrund für den Patienten so transparent wie möglich. Das trägt oftmals entscheidend zur Entwicklung einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung bei und kann auch helfen, den Patienten zu einer aufmerksameren Einstellung seinen eigenen Beeinträchtigungen gegenüber anzuregen sowie dazu, sich für die eigene Person und die eigene Entwicklung zu interessieren und über seine psychische und soziale Realität mehr und anders als zuvor nachzudenken. Nicht zuletzt kann sich mit dem ausführlichen, aufklärenden Gespräch zur Diagnose für manche Patienten die ungewohnte Erfahrung vermitteln, wichtig genommen zu werden. Merke: Zur Aufklärung über die Diagnose gehört auch, dass der Psychotherapeut dem Patienten unter Einbeziehung der komorbiden Störungen erläutert, wie er dessen Beeinträchtigungen versteht und welche psychodynamischen Zusammenhänge er vermutet.

Aufklärung des Patienten über die Behandlung Wie die Aufklärung über die Diagnose so verlangt auch die Aufklärung des Patienten über die Behandlung, die der Psychotherapeut ihm vorschlägt, ausreichend Zeit und ein geduldiges Eingehen auf Fragen. Ebenso wichtig wie das Gespräch mit dem Patienten über die Diagnose

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ist bei der Aufklärung über die ins Auge gefasste Behandlung, dass der Therapeut sich dessen vergewissert, ob der Patient seine Hinweise tatsächlich so verstanden hat, wie das für die Behandlung erforderlich ist. Im Einzelnen gehört zur Aufklärung des Patienten über die vorgesehene Behandlung, dass ȤȤ der Psychotherapeut die Frage mit dem Patienten erörtert, ob eine psychotherapeutische Behandlung überhaupt Aussicht auf Erfolg hat und der Patient Besserung seines derzeitigen Zustandes erwarten kann, ȤȤ der Therapeut dem Patienten erläutert, welche Art von Behandlung er empfiehlt, aus welchen Gründen er das tut und in welcher Weise die ins Auge gefasste Therapie zur Besserung des derzeitigen Zustandes des Patienten beitragen kann, ȤȤ der Therapeut mit dem Patienten über Ziele »verhandelt«, die realistisch erscheinen und mit der Behandlung nach Möglichkeit erreicht werden sollen, ȤȤ der Therapeut dem Patienten anschaulich erläutert, wie er sich verhalten muss und wie er selbst sich in der Behandlung verhalten wird, damit die Therapie potentiell erfolgreich verlaufen kann. Verspricht eine psychotherapeutische Behandlung Aussicht auf Erfolg? Bevor der Therapeut den Patienten über Einzelheiten der empfohlenen Behandlung informiert, sollte er zu der Frage Stellung nehmen, ob er eine Therapie überhaupt für aussichtsreich hält und wie er deren Chancen einschätzt. Das sollte auch dann geschehen, wenn der Patient von sich aus nicht ausdrücklich danach fragt – zumal bei Patienten mit strukturellen Störungen oftmals mit einer Neigung zu rechnen ist, sich auf dem Hintergrund von grob idealisierenden Übertragungen in blindem Vertrauen dem Therapeuten zu überlassen, so dass sich jede prüfende und kritische Frage gleichsam zu erübrigen scheint. Andere Patienten vermeiden aus den gleichen Gründen Fragen zu stellen, insbesondere kritische Nachfragen. Wieder andere Patienten sind zutiefst resigniert und rechnen nicht mehr damit, dass ihnen auch nur irgendetwas helfen könnte. Für den Fall, dass der Psychotherapeut nach Abschluss der Anamnese und der weiteren diagnostischen Untersuchungen zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der Patient zwar behandlungsbedürftig ist, eine psychoanalytisch-interaktionelle Therapie, möglicherweise eine psychotherapeutische Behandlung überhaupt, ihm aber nicht

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nützen wird, sollte er das dem Patienten mitteilen und in verständlicher Weise begründen. Allerdings sollte das in der Regel nicht geschehen, ohne dass dem Patienten eine Alternative in Aussicht gestellt wird. Es kann beispielsweise sein, dass eine medikamentöse Therapie vordringlich ist, etwa bei einem Patienten, der mit psychosenahen Beeinträchtigungen dekompensiert ist, so dass eine psychotherapeutische Behandlung erst dann in Aussicht genommen werden kann, wenn der Patient ausreichend stabil medikamentös eingestellt ist. Eindeutig ist die Situation auch dann, wenn sich herausstellt, dass ein Patient zu süchtig-abhängigem Verhalten neigt und eine Entzugsbehandlung vordringlich ist und psychotherapeutischen Interventionen vorangehen muss, oder wenn nach einer Entzugsbehandlung Maßnahmen, die die Strukturierung des Alltags unterstützen und die Anbindung an eine Selbsthilfegruppe sichern helfen, vor jeder psychotherapeutischen Behandlung Vorrang haben müssen. Sind die Umstände weniger eindeutig, kann die Einschätzung der Veränderungsbereitschaft und der Veränderungsmöglichkeiten bei Patienten mit schweren Entwicklungsstörungen der Persönlichkeit, bei denen es sich immer um chronische Beeinträchtigungen handelt, größere Mühe bereiten, zumal dann, wenn die Störung mit der jeweiligen lokalen Umwelt des Patienten eng verlötet ist. Es kann beispielsweise sein, dass der Patient zwar Veränderungen will, bei genauerem Hinsehen sich aber herausstellt, dass er weder sich noch sein Verhalten in eigener Anstrengung wirklich zu ändern bereit oder in der Lage ist und im Grunde seit langer Zeit und fortdauernd passiv darauf wartet, dass Veränderungen von seiner Umwelt kommen, oder dermaßen resigniert ist, dass er im Grunde nicht damit rechnet, dass sich seine Lage zum Besseren wenden könnte. Als besonders schwierig erweist sich die Situation bei Patienten, deren passives Abwarten von Wiedergutmachungsansprüchen bestimmt oder zumindest unterstützt wird und die bewusst oder unbewusst davon ausgehen, ein Anrecht darauf zu haben, für erlittenes, ihnen in ihrer Entwicklung zugefügtes Unrecht entschädigt zu werden. Hier kann es erforderlich sein, dass der Psychotherapeut dem Patienten seine Bedenken mitteilt, diese Bedenken in für den Patienten nachvollziehbarer Weise begründet und – wenn überhaupt – eine Probebehandlung vereinbart, bei der nach einer Reihe von Sitzungen die Voraussetzungen für eine Psychotherapie, die aktive Mitarbeit und Veränderungsbereitschaft erfordert, erneut überprüft und diskutiert werden.

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Beispiel: Bei einem Patienten haben die Eingangsuntersuchungen ausgeprägte strukturelle Beeinträchtigungen erkennen lassen. Der Patient, der wiederholt in dem Bemühen gescheitert ist, eine Ausbildung abzuschließen, möchte einen weiteren Anlauf machen und hat auf Anraten eines entfernten Bekannten nach einer Psychotherapie nachgefragt, die ihn in diesem Bemühen unterstützen soll. Wie sich gezeigt hat, neigt der Patient nicht nur zu sporadischem Alkoholabusus, sondern auch dazu, sich sozial weitgehend zu isolieren, seine Tage im Bett zu verbringen, nachts stundenlang fernzusehen oder am Computer zu spielen. Im Anschluss an die diagnostischen Untersuchungen teilt ihm der Psychotherapeut bezüglich einer etwaigen Behandlung etwa Folgendes mit: »Ich habe den Eindruck gewonnen, dass dringend etwas geschehen muss. Ich glaube, dass Sie von einer psychotherapeutischen Behandlung im Grunde profitieren könnten, wenn Sie nicht dermaßen zur Passivität neigen und darauf warten würden, dass die Dinge von selbst besser werden. Eine Therapie erfordert Aktivität und aktive Anstrengungen, die eigene Situation und das eigene Verhalten zu verändern. Das ist schwierig, oft sogar sehr schwierig, aber eine Therapie kann nun einmal nicht an diesen Schwierigkeiten vorbei verlaufen, sondern nur durch sie hindurch. Ich habe Zweifel, ob Sie dazu tatsächlich bereit sind und ob Sie Ihren derzeitigen Lebensstil wirklich gewillt sind zu verändern. Ich schlage Ihnen vor, dass wir einen Versuch starten und dann in acht oder zehn Wochen noch einmal darüber sprechen. Allerdings meine ich, dass es auch für einen solchen vorläufigen Behandlungsversuch erforderlich ist, dass Sie sich darum bemühen, Ihren Alkoholkonsum einzuschränken, Ihren Tag-Nacht-Rhythmus zu verändern und Ihren Alltag zu strukturieren.«

Dass ein Patient einer Behandlung skeptisch gegenübersteht und voller Zweifel ist oder im Gespräch nicht motiviert erscheint, heißt nicht, dass er nicht behandelbar ist oder die Prognose in jedem Fall schlecht wäre. Wäre das so, könnten viele strukturell gestörte Patienten überhaupt nicht psychotherapeutisch behandelt werden. Beispielsweise ist es Patienten mit einer schwereren narzisstischen Pathologie oft nicht möglich, sich als behandlungsbedürftig zu erkennen zu geben. Hier gilt es für den Therapeuten zu bedenken, dass der Patient sich immerhin an eine therapeutische Institution gewandt hat oder – in

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anderen Fällen – dem Drängen von anderer Seite zumindest bereit war nachzukommen. Mit einem solchen Schritt hat ein narzisstisch gestörter Patient oftmals das Äußerste an Behandlungsbedürftigkeit bekundet, was ihm angesichts seines Autarkiebedürfnisses und seiner Angst vor Abhängigkeit möglich ist. Wenn der Patient die Behandlung, die potentiell hilfreich sein könnte, und diejenigen, die ihm therapeutische Unterstützung anbieten, im Weiteren immer wieder entwertet, muss auch das nicht bedeuten, dass er nicht behandelt werden will. Sein entwertendes Verhalten ist in vielen Fällen vielmehr als Ausdruck des Versuches zu verstehen, das Gefühl von Autonomie dadurch aufrechtzuerhalten, dass er denjenigen, von denen er Hilfe erhofft, aber fürchtet, in Abhängigkeit zu geraten, zu verstehen gibt, dass er sie vermeintlich nicht brauche. Das ist oftmals der Fall, wenn ein Patient mit einer gravierenden narzisstischen Störung von Mal zu Mal die begonnene Therapie abwertet, aber dennoch wiederkommt. Der Psychotherapeut klärt den Patienten über die Art der empfohlenen Behandlung auf. Die Indikation für eine psychoanalytisch-interaktionelle Therapie wird sich bei einem großen Teil der Patienten mit strukturellen Störungen der Persönlichkeit daraus herleiten, dass sie nicht in der Lage sind, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen und ihr alltägliches Zusammensein mit anderen so zu gestalten und sich selbst so zu regulieren, dass sie sich in der sozialen Welt halbwegs sicher fühlen und sich bewegen können. Vor diesem Hintergrund muss der Therapeut den Patienten vor Beginn der Behandlung darüber aufklären, dass es vorrangig darum geht, die zwischenmenschliche Seite seiner Schwierigkeiten und Probleme zu erkennen und zu untersuchen und nach Möglichkeit andere und stabilere Wege für das Zusammensein mit anderen und dafür, mit sich selbst umzugehen, zu finden. Dies klarzustellen, ist insbesondere bei Patienten wichtig, die davon ausgehen, dass es in einer Psychotherapie ausschließlich darum gehe, auf das eigene »Innere« zu schauen und sich mit der seelischen Binnenwelt zu beschäftigen, die damit aber – bewusst oder unbewusst – den Schwierigkeiten, die sie in ihrem sozialen Alltag haben, aus dem Weg gehen wollen. Statt sich mit den Problemen auseinanderzusetzen, die sie im Verhältnis zu anderen haben, halten diese Patienten daran fest, sich ausschließlich mit der seelischen Seite ihrer Probleme beschäftigen zu wollen und die »eigentlichen« Gründe für ihre Schwierigkeiten

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aus der vermeintlichen inneren »Tiefe« zutage zu fördern. Auf diese Weise setzen sie im Ergebnis ihr Vermeiden fort. Beispiel: Eine Patientin, die für kurze Zeit in psychoanalytischer Behandlung gewesen war, musste stationär aufgenommen werden, weil sie suizidal geworden war und einen erweiterten Suizid angedroht hatte. Der Psychoanalytiker hatte die Behandlung der Patientin von sich aus beendet und ihr eine andere Art der Therapie empfohlen, nachdem er sie mehrfach vergeblich damit konfrontiert hatte, dass es ihr offenkundig nicht darum gehe, sich und ihr Verhalten zu verstehen, sondern dass sie die Behandlung missbrauche, um einen großen Bogen um ihre tatsächlichen Probleme zu machen, die vor allem ihre äußerst destruktiven Beziehungen und ihre Schwierigkeiten betreffen würden, ihren Alltag einigermaßen zu strukturieren. Im Zuge des Vorgespräches gab die Patientin, deren Gedanken und Aufmerksamkeit ständig um sich selbst zu kreisen schienen, während sie für ihre Umwelt kaum Interesse aufbrachte und sich in der alltäglichen Lebenswelt nur schwer zurechtfand, dem Therapeuten zu verstehen, dass sie sich in der stationären Behandlung »ganz intensiv mit dem Unbewussten und ihren Träumen« beschäftigen wolle, weil – so ihre Heilungstheorie – ihre Verhältnisse »auf jeden Fall besser werden« müssten, wenn sie nur ihr Unbewusstes verstanden habe; Voraussetzung dafür, dass sich bei ihr etwas verändere, sei, dass sie zuerst einmal verstehe, aus welchen unbewussten Gründen sie sich so verhalte, wie sie das immer wieder tue. Der Therapeut erläuterte der Patientin, dass die Schwerpunkte bei der Therapie, die jetzt begonnen werden solle, etwas anders gelagert seien und dass es nicht vorrangig darum gehe, die unbewussten Motive für ihr Verhalten zu verstehen, obwohl das sicherlich auch einmal wichtig und hilfreich werden könne, aber jetzt solle die gemeinsame Arbeit zuerst einmal darauf ausgerichtet werden, sich die alltäglichen Beziehungen und die Schwierigkeiten im Verhältnis zu anderen genauer anzusehen und nach Möglichkeit auch zu verändern. Er habe den Eindruck, dass sie dem ausweiche, indem sie das Verstehen ihrer unbewussten Motive für ihr Verhalten zur Voraussetzung für dessen Veränderung mache. Daraufhin erwiderte die Patientin, dass sie ja »an die Scheißverhältnisse« nur angepasst werden solle und was das denn für eine Therapie sei, bei der das Unbewusste keine Rolle spiele.

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Der Therapeut widersprach ihr; das Unbewusste solle auch in dieser Behandlung sehr wohl eine Rolle spielen, aber vielleicht nicht in dem Sinn, wie sie das meine; hier spiele das Unbewusste vor allem in der Weise eine Rolle, dass es wichtig sei, zu erkennen und zu durchschauen, wie und mit welchen Mitteln sie das Zusammensein mit anderen und die gemeinsamen Beziehungen eigentlich gestalte und abwickele, so dass es immer wieder zu so enttäuschenden und schlimmen Erfahrungen komme, wie das bei ihr seit nunmehr schon vielen Jahren der Fall sei. Ihm scheine, dass das durchaus nicht bewusst und insofern tatsächlich auch etwas Unbewusstes sei, das sich allerdings nicht aufdecken lasse, indem sie sich ausschließlich mit sich selbst und ihren Gedanken, Gefühlen und Fantasien beschäftige, sondern indem sie ihre Aufmerksamkeit auch auf die Beziehungen und damit sowohl auf sich selbst wie auf andere richte. Durch eine Analyse ihrer Träume werde sie darüber, was in den Verhältnissen mit anderen eigentlich immer wieder schieflaufe, nicht viel herausfinden, wie die vergangenen Therapieerfahrungen ja auch gezeigt hätten; wohl aber gebe es eine Chance, das genauer zu erkennen, wenn sie sich darauf einlassen könne, ihr Verhalten in Beziehungen, das Verhalten anderer ihr gegenüber und die wechselseitigen Verhältnisse genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Patientin willigte schließlich in die Behandlung ein, nicht ohne zuvor ihrer Verachtung Ausdruck gegeben zu haben. Damit sicherte sie in dieser Situation ihren Selbstwert und musste auf diese Weise nicht das Gefühl haben, klein beigegeben zu haben.

Der Therapeut verhandelt mit dem Patienten über Therapieziele. Bevor der Therapeut eine psychotherapeutische Behandlung mit dem Patienten vereinbart, sollten beide darüber sprechen, was sich nach Meinung des Patienten durch eine Therapie verändern soll und welches Ziel oder welche Ziele er mit einer Behandlung verbindet. Um sich ein Bild davon zu machen, welche Vorstellungen und Erwartungen der Patient an eine Therapie knüpft und wie klar oder diffus die Ziele sind, die er anstrebt, kann es hilfreich sein, wenn der Therapeut den Patienten auffordert, sich einmal auszumalen, er hätte durch die Behandlung erreicht, was er erreichen möchte, und sich vor Augen zu halten, wie in diesem Fall im Unterschied zum gegenwärtigen Zeitpunkt sein Alltagsleben aussehen sollte.

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Wie unrealistisch oder unbestimmt und diffus die Vorstellungen davon, was mit der Therapie zu erreichen ist, auch immer sein mögen, so wird der Therapeut die Ziele des Patienten nicht einfach nur zurückweisen. Ziele für die therapeutische Arbeit sollten mit strukturell gestörten Patienten »verhandelt« werden. Damit kann bereits ein wichtiger Teil der Therapie verbunden sein, zumal dann, wenn Patient und Therapeut im Prozess des »Verhandelns« implizit die unbestimmten, diffusen Größenfantasien des Patienten bearbeiten, ohne dass diese Größenfantasien deshalb explizit zum Thema gemacht werden müssten. Manche Patienten haben keine auch nur annähernd konkreten Vorstellungen davon, was sich durch eine Behandlung verändern soll; sie wollen, dass es ihnen »irgendwie besser« geht, oder sie versprechen sich eine Veränderung ihres Zustandes von Veränderungen der Verhältnisse in ihrer Umwelt, ohne solche Veränderungswünsche näher benennen zu können. Andere Patienten haben illusionäre Vorstellungen von den Möglichkeiten einer Psychotherapie und verbinden mit einer Behandlung die vage Idee, »von jetzt ab alles anders« zu machen. Sie wünschen sich, ihr Leben »völlig umzukrempeln«, und erwarten, dass eine psychotherapeutische Behandlung sie in die Lage versetzt, noch einmal »neu anfangen« und sämtliche ihrer Schwierigkeiten endlich überwinden zu können. Der Psychotherapeut steht dann vor der Aufgabe, sich mit dem Patienten auf Ziele zu verständigen, die potentiell erreichbar sind. Manche Patienten werden sich dem Bemühen des Therapeuten widersetzen, sich auf konkrete und umschriebene Behandlungsziele festzulegen, weil sie von diffusen Hoffnungen nicht Abstand nehmen oder weil sie sich nicht auf überprüfbare Schritte festlegen lassen wollen, könnte daran doch das Ausmaß ihrer Beeinträchtigungen erkennbar werden. Andere strukturell gestörte Patienten haben erhebliche Schwierigkeiten, überhaupt halbwegs konkrete Zielvorstellungen, die sie mit Hilfe der Therapie erreichen wollen, zu benennen, beispielsweise Patienten, die keine Anschauung davon haben, wie schwierig es ist, sich selbst zu verändern. Bei einem Patienten, dem es nicht möglich ist, für eine Behandlung halbwegs konkrete und umschriebene Ziele zu nennen, kann ein erstes Ziel darin bestehen, eben solche Zielvorstellungen zu entwickeln. Wenn das geschieht, wird sich oftmals herausstellen, dass mit der therapeutischen Arbeit mehr verbunden ist, als nur Ziele für die Behandlung zu finden: Im gemeinsamen Nachdenken darüber,

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was sich durch die Behandlung verändern möge und wie der Patient sich seine Situation vorstellt, wenn er seine Ziele erreicht hat, wird oftmals nicht nur an Zielen für die Therapie gearbeitet, sondern der Patient setzt sich zugleich implizit mit Bedingungen seiner Realität auseinander. Beispiel: Ein Patient konnte auf die Frage des Therapeuten, was er versuchen wolle, mit Hilfe der Behandlung zu erreichen, nicht mehr sagen, als dass es ihm »besser gehen« solle; er konnte auch nicht genauer angeben, was er mit diesem »besser gehen« verbinde; »so das Ganze eben« lautete seine Antwort auf die entsprechende Nachfrage des Therapeuten. Um vielleicht doch zu einer fassbareren Antwort auf die Frage nach den Therapiezielen zu kommen, regte der Therapeut den Patienten, einen Studenten, an, sich einmal vorschweben zu lassen, wie sein Alltagsleben zukünftig aussehen möge, wenn die Behandlung einmal beendet und aus seiner Sicht erfolgreich verlaufen sei. Trotz dieser Anregung war es dem Patienten nicht möglich, eine konkretere Antwort zu geben; es müsse ihm eben »besser gehen«, er sei ja zur Behandlung gekommen, weil er nicht wisse, warum es ihm »schlecht geht«. Weitere Bemühungen des Therapeuten, von dem Patienten mehr darüber zu erfahren, was er mit »besser gehen« und »schlecht gehen« verband, führten nicht zu bestimmteren Antworten. Angesichts dieser Erfahrung schlug der Therapeut dem Patienten als ein erstes Ziel für die Therapie vor, herauszufinden, um welche weiteren Ziele es gehen könnte und wie die Veränderungen in seinem Alltagsleben eventuell aussehen könnten, aufgrund derer er dann möglicherweise und hoffentlich sagen könne, dass es ihm »besser geht«. Zwei Stunden später sprachen Patient und Therapeut darüber, wie sozial isoliert der Patient lebte und wie fremd er sich unter seinen Kommilitonen fühlte. Als der Patient meinte, dass er »vielleicht gerne eine Freundin« hätte, fragte der Therapeut, ob er meine, dass das ein aus seiner Sicht wichtiges Ziel sein könne; in diesem Fall könne man ja in der folgenden Phase der Behandlung versuchen zu untersuchen, welcher Art die Schwierigkeiten seien, die es schwer machten, mit anderen in Kontakt zu kommen und eventuell eine Freundin zu finden.

Wieder andere Patienten möchten überhaupt keine Ziele formulieren, weil sie fürchten, wie schon so oft, ein weiteres Mal mit einer

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schweren Enttäuschung fertigwerden zu müssen und dann wieder als Versager dazustehen, wenn sie die ins Auge gefassten Ziele nicht erreichen. Manche Patienten sind zutiefst resigniert, und sie haben jede Hoffnung aufgegeben, dass es für sie noch irgendetwas Gutes geben und sich an ihrem Zustand irgendetwas zum Positiven verändern könnte. Solange ein Patient nichts Gutes mehr erwartet und jedes Aufkeimen von Hoffnung auf Besserung seines Zustandes sofort im Keim ersticken muss, wird er auch jeden kleinen, nach vorn gerichteten Schritt in der Therapie zunichtemachen müssen. In diesem Fall muss bis auf Weiteres und als ein erster Schritt die therapeutische Arbeit an der Resignation des Patienten im Vordergrund stehen, damit der Patient wieder handlungsfähig wird. Denn erst dann können die nächsten Schritte folgen. Fragt man Patienten, wie sie sich vorstellen, die Ziele, die sie genannt haben, in der Therapie zu erreichen, kommen manchmal magische Erwartungen, diffuse narzisstische Vollkommenheitsideale und illusionäre Hoffnungen, von einem omnipotenten, mit Macht und Makellosigkeit ausgestatteten Therapeuten von allem Schlechten und Unansehnlichen befreit zu werden, zum Vorschein. Es soll sich Entscheidendes ändern, und was das Leben seit vielen Jahren und manchmal seit Jahrzehnten erschwert hat, soll innerhalb von wenigen Wochen zum Verschwinden gebracht worden sein. Beispiel: Wenn ein Patient dem Therapeuten vor Behandlungsbeginn zu verstehen gibt, dass er davon ausgehe, seine Schwierigkeiten und Probleme, mit denen er seit vielen Jahren zu tun habe, innerhalb von wenigen Wochen zu lösen und zu klären, sollte der Therapeut diese Erwartung vor Beginn jeder Therapie zum Thema mit dem Patienten machen. Der Therapeut könnte darauf etwa in folgender Weise Bezug nehmen: »Dass Sie Ihre Schwierigkeiten so rasch wie möglich überwinden möchten, ist verständlich. Nur muss ich Ihnen sagen, dass das nicht möglich sein wird. Die meisten seelischen Probleme und die Schwierigkeiten, die sich im Verhältnis zu anderen Menschen immer wieder in ähnlicher Weise zeigen, haben fast immer eine lange Geschichte und gehen häufig auf frühe Erfahrungen in der Entwicklung zurück. Damals haben die Verhaltensweisen, die Ihnen heute zu schaffen machen, wahrscheinlich ihren guten Sinn gehabt und Ihnen einmal über längere Zeit hinweg ermöglicht, mit den Bedingungen, die für sie schwierig

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waren, fertigzuwerden. Inzwischen haben sich Ihre Verhälltnisse aber verändert und die Verhaltensweisen, die in der Vergangenheit einmal wichtig für Sie waren, haben inzwischen ihren Nutzen verloren und beeinträchtigen Sie. Nur: Was einmal über viele Jahre hinweg wichtig gewesen ist und seinen guten Sinn gehabt hat, kann man nicht innerhalb von kurzer Zeit verändern. Das wäre ja auch ganz beunruhigend, wenn wir uns so einfach und wie nebenher verändern und unsere Erfahrungen und unsere Geschichte beiseitelassen könnten. Um zu erreichen, etwas von dem zu verändern, was seit vielen Jahren zu Ihnen gehört hat und noch gehört, ist ein längerer Prozess erforderlich. Das heißt aber nicht, dass das aussichtslos ist. Aber wenn Sie das ernsthaft in Angriff nehmen wollen, müssen Sie sich darauf einstellen, dass das nicht schnell zu erreichen sein wird, und Sie werden Geduld aufbringen und darauf gefasst sein müssen, dass es dabei nicht nur Erfolge gibt. Sich selbst und das eigene Verhalten zu verändern, ist nach meiner Erfahrung harte Arbeit. Wenn Sie dazu trotzdem bereit sind, können wir versuchen, die ersten Schritte in diese Richtung gemeinsam zu gehen.«

Bei Patienten, die mit Psychotherapie nie zuvor in Berührung gekommen sind, begegnet man gelegentlich der Überzeugung, dass in einer psychotherapeutischen Behandlung der Patient von eigenen Problemen berichtet und der Therapeut ihm Hinweise und Tipps gibt, was zu tun ist, um die Probleme zu bewältigen. Solche Vorstellungen sollte der Therapeut in Verbindung mit der Frage von Behandlungszielen von vornherein richtigstellen. Der Therapeut erläutert dem Patienten, welches Verhalten von ihm erwartet wird. Der Patient muss wissen, wie er sich in der Behandlung verhalten sollte. Patienten, die keine Erfahrungen mit Psychotherapie haben, gehen manchmal davon aus, dass der Therapeut ihnen Fragen stellen und ihnen sagen wird, was er von ihnen wissen will. Der Therapeut muss dem Patienten in verständlicher Weise erläutern, dass für eine erfolgreiche Behandlung seine aktive Mitarbeit erforderlich ist. Dabei reicht gewöhnlich nicht aus, an die Mitarbeitsbereitschaft des Patienten nur zu appellieren, sondern der Therapeut sollte dem Patienten so anschaulich wie möglich erläutern, was mit aktiver Mitarbeit gemeint ist und wie der Patient sich dabei verhalten sollte. Darüber hinaus muss der Patient vor Beginn der Behandlung wissen, dass eine effektive Behandlung nicht an seinen

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Schwierigkeiten vorbei erfolgen kann, sondern nur »durch die Probleme hindurch«. Er sollte darauf vorbereitet sein, dass er sich diesen Schwierigkeiten auch in der Behandlung immer wieder wird stellen und bislang gemiedene Situationen mit therapeutischer Begleitung in gewissem Umfang wird auf sich nehmen müssen. Manche Patienten stellen sich vor, dass eine Psychotherapie darin besteht, dass sie sich an vergangene Erfahrungen, die zu ihren gegenwärtigen Beeinträchtigungen beigetragen haben, erinnern und darüber reden müssen, was sie in ihrer Kindheit erlebt haben, damit ihre derzeitigen Schwierigkeiten verschwinden. Insbesondere Patienten mit sozialen Ängsten, die bei strukturellen Störungen häufig sind, hoffen oftmals insgeheim, dass ihre Scheu, ihre quälenden Schamgefühle und ihre Angst vor anderen Menschen verschwinden werden, wenn sie darüber nur ausführlich sprechen. Sie versuchen aber weiterhin, die sozialen Situationen, an die ihre Angst gebunden ist, zu meiden. Der Therapeut muss dann klarstellen, dass eine effektive Behandlung nicht erfolgen kann, indem über Schwierigkeiten lediglich geredet wird, sondern dass der Patient auch bereit sein muss, sich mit therapeutischer Unterstützung Situationen auszusetzen, die er bislang gemieden hat. Beispiel: »Es ist wichtig für Sie zu wissen, dass eine psychotherapeutische Be­ handlung, wie wir sie planen, sich nicht darauf beschränken kann, dass wir über Ihre Schwierigkeiten und Probleme nur sprechen. Sie müssen auch bereit sein, sich den Schwierigkeiten zu stellen und sich Situationen auszusetzen, um die Sie in der Vergangenheit einen großen Bogen gemacht haben. Das wird nicht immer leicht für Sie sein. Wir werden uns dann mit diesen Situationen beschäftigen und beispielsweise über Ihre Befürchtungen sprechen. Aber Sie müssen sich den Situationen zu gegebener Zeit auch stellen, und wir werden uns dann damit beschäftigen, welche Erfahrungen Sie dabei machen.«

Wenn der Therapeut dem Patienten erläutert, wie er sich in der Behandlung verhalten sollte, kann das beispielsweise folgendermaßen geschehen: Beispiel: »Viele Ihrer Schwierigkeiten treten im Verhältnis zu anderen Menschen auf. Darum wird es wichtig sein, dass wir uns nicht ausschließlich damit

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beschäftigen, wie Sie die anderen und sich selbst im Zusammensein mit diesen anderen erleben, sondern auch damit, wie es eigentlich dazu kommt, dass die Verhältnisse zwischen Ihnen und anderen manchmal so schwierig sind. Ihre Beziehungen zu anderen, die Art und Weise, wie Sie Beziehungen erleben, sind wichtig, aber auch die Art und Weise, wie Sie sich verhalten, wenn Sie mit anderen zusammen sind, und wie andere sich Ihrer Erfahrung nach Ihnen gegenüber verhalten, sollte ein Schwerpunkt in der Therapie sein. Damit das möglich ist und wir Ihre Erfahrungen mit Beziehungen gemeinsam untersuchen können, sollten Sie versuchen, möglichst unzensiert mitzuteilen, was Sie bei sich selbst sowie bei Ihrem Gegenüber bemerken und was Ihnen auffällt. Sie sollten Ihre Gedanken und Ihre Gefühle mitteilen oder wonach Ihnen im Moment der Sinn steht. Weil zu Beziehungen aber immer auch die andere Seite gehört, sollten Sie versuchen, auch darauf zu achten, wie Sie die andere Person erleben, wie Sie das Verhalten der anderen Person verstehen, wie die Personen, mit denen Sie gerade zu tun haben, sich Ihnen gegenüber verhalten und wie Sie sich das erklären und was Sie im Verhältnis zu den anderen Personen im Moment vielleicht am liebsten tun würden. Wir sollten darüber hinaus aber auch das Geschehen hier zwischen uns dafür nutzen, um uns das anzusehen, und deshalb möchte ich Ihnen manchmal auch sagen, wie ich Sie und Ihr Verhalten hier erlebe.«

Je nach individuellem Störungsbild kann diese Empfehlung ergänzt oder modifiziert werden. Bei Patienten beispielsweise, die in hohem Maße sozial ängstlich sind und deren Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf die eigene Person gerichtet ist, ist es wichtig, die Erwartung zu betonen, auch für das Gegenüber und dessen Verhalten aufmerksam zu sein. Bei Patienten, die dazu neigen, Erwartungen anderer wie selbstverständlich nachzukommen und eigene Belastbarkeitsgrenzen zu missachten oder nicht wahrzunehmen, sollte der Therapeut auf die Notwendigkeit hinweisen, auf eigene Belastbarkeitsgrenzen zu achten. Weil Patienten mit strukturellen Störungen der Persönlichkeit ihre Erfahrungen oft nicht in Worten mitteilen, sondern sie handelnd darstellen, impulsiv agieren und sich selbstdestruktiv und manchmal auch fremddestruktiv verhalten, muss der Therapeut nachdrücklich betonen, dass es in der Therapie darum geht, Erfahrungen und momentanes Erleben in Worten mitzuteilen, dass augenblickliche Neigungen und Impulse aber nicht in die Tat umgesetzt werden

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sollten. Das kann der Therapeut seinem Patienten etwa in folgender Weise erläutern: Beispiel: »Sie neigen manchmal dazu, aus einem Gefühl oder einem Impuls heraus plötzlich zu handeln oder etwas zu tun, was Sie später bereuen. Sie haben mir berichtet, dass Sie manchmal auch schon dicht davor waren, gewalttätig zu werden oder in bedrohliche Situationen zu geraten und einmal ja auch schon die Grenze überschritten haben. Damit eine psychotherapeutische Behandlung möglich ist, ist es erforderlich, dass Sie mit Worten ausdrücken, was Sie tun möchten, dass Sie Ihrer Neigung, entsprechend zu handeln, aber nicht nachgeben. Wenn Sie merken, dass das für Sie schwierig wird, teilen Sie das bitte sofort mit, damit wir dafür sorgen können, dass nichts Gravierendes passiert. Unter Umständen werden wir die Behandlung dann kurzfristig unterbrechen, bis Sie die Sicherheit wiedergewonnen haben, dass Sie Ihre Gefühle und Impulse verlässlich genug steuern können.«

Angesichts dessen, dass Patienten oftmals gerade deswegen zur Behandlung kommen, weil ihnen die Fähigkeit zur Steuerung von Affekten und Impulsen nicht ausreichend zur Verfügung steht, mag diese Forderung auf den ersten Blick paradox erscheinen. Auch wenn Patienten dieser Aufforderung nicht immer verlässlich genug nachkommen können, so ist der unmissverständliche Hinweis, dass drängenden Handlungsimpulsen nicht nachgegeben werden kann, gleichwohl wichtig. Die Erwartung, die damit formuliert wird, ist der Markierung einer Grenzlinie vergleichbar, die orientierende und steuernde Funktionen hat. Wenn es einem Patienten nicht möglich ist, sein Verhalten angesichts intensiverer Affekte und Impulse ausreichend zu steuern, müssen andere Steuerungshilfen herangezogen werden, beispielsweise in Form vorübergehender medikamentöser Unterstützung. Der Therapeut erläutert dem Patienten, wie er selbst sich in der Therapie verhalten wird. Die der Behandlung vorgeschaltete Information des Patienten über einige Grundzüge des therapeutischen Gesprächs sollte auch beinhalten, dass der Therapeut erläutert, wie er selbst sich in der Therapie verhalten wird. Dazu sollte er dem Patienten unter anderem mitteilen, dass er, wenn ihm das sinnvoll und nützlich erscheint, äußern wird, was ihm an dem Verhalten des Patienten

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auffällt, wie er dessen Verhalten versteht oder was ein bestimmtes Verhalten bei ihm selbst bewirkt. Er bereitet den Patienten außerdem darauf vor, dass er gelegentlich auch sagen wird, wie er selbst sich möglicherweise verhalten würde oder verhalten hätte, wenn er an Stelle des Patienten wäre. Der Patient kann dann prüfen, ob das Verhalten, zu dem der Therapeut möglicherweise gegriffen hätte, für ihn nützlich sein könnte. Weiter teilt der Therapeut dem Patienten mit, dass er darüber hinaus manchmal versuchen wird, sich vorzustellen, wie er das Verhalten des Patienten möglicherweise erlebt hätte oder erleben würde, wäre er an der Stelle der anderen Person gewesen. Schließlich erläutert er dem Patienten möglichst anschaulich, dass er manchmal auch sagen wird, wie er selbst den Patienten und sein Verhalten in der momentanen Therapiesituation erlebt und welche Gefühle und welche Handlungsbereitschaften sich bei ihm dem Patienten gegenüber manchmal einstellen. Soweit das in einem vorbereitenden Gespräch irgend möglich ist, sollte der Therapeut den Patienten, zumal Patienten, die bereits Erfahrungen mit anderen psychotherapeutischen Verfahren haben, nachvollziehbar darstellen, etwa an kleinen Beispielen, wie das aussieht, wenn er sich im antwortenden Modus äußert (siehe Abschnitt »Der antwortende Modus«) und welches Verhalten damit verbunden ist. Für den Patienten sollte möglichst einsehbar sein, aus welchen Gründen der Therapeut es für nützlich hält, die therapeutische Beziehung dazu zu nutzen, manche Aspekte dessen, wie der Patient das Zusammensein mit anderen erlebt und er sich im Kontakt mit anderen verhält und andere sich im Kontakt mit ihm verhalten, zu erkennen und zu untersuchen. Beispiel: »Wir hatten darüber gesprochen, dass Ihr Verhältnis zu anderen ein wichtiges Thema in der Therapie sein sollte. Wir können damit rechnen, dass manche der Schwierigkeiten, die sie in Ihrem Alltag haben, auch zwischen uns auftauchen werden. Darum möchte ich mich an unserem Gespräch nicht nur in der Weise beteiligen, dass ich Ihnen sage, was mir an Ihrem Verhalten auffällt und wie ich das verstehe, sondern ich möchte Ihnen bei passender Gelegenheit, wenn wir über Ihre Beziehungen zu anderen sprechen, auch sagen, wie ich mich vielleicht an Ihrer Stelle verhalten hätte oder wie ich Sie erlebt hätte, wenn ich an Stelle der anderen Person gewesen wäre. Manchmal möchte ich Ihnen auch sagen, wie ich Sie hier in unserer gemeinsamen Situation

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erlebe und welche Gefühle Ihnen gegenüber sich bei mir einstellen. Auf diese Weise können wir das Geschehen zwischen uns auch dazu nutzen, uns mit diesem Thema zu beschäftigen.« Merke: Zur Aufklärung des Patienten über die Behandlung gehört, dass der Therapeut den Patienten darüber informiert, ob er eine psychotherapeutische Behandlung empfiehlt und wie er deren Chancen beurteilt; dass er dem Patienten die Art der Therapie, die er ihm nahelegt, erläutert und begründet; dass er mit dem Patienten über realistische Therapieziele verhandelt, ihm klarmacht, welches Verhalten von ihm in der Therapie erwartet wird, und ihm deutlich macht, wie er selbst sich in der Therapie verhalten wird.

Rahmenbedingungen Für die Behandlung sind klare Rahmenbedingungen unverzichtbar. Im Zuge der Vereinbarung von Rahmenbedingungen sollten Therapeut und Patient über alle Voraussetzungen sprechen, die mindestens erfüllt sein müssen, damit die Behandlung so durchgeführt werden kann, dass sie potentiell zum Erfolg führt. Klare und unmissverständliche Vereinbarungen im Hinblick auf die Bedingungen, die für die Therapie vorausgesetzt werden müssen, markieren Grenzen und strukturieren die therapeutische Situation. Sie vermitteln dem Patienten, aber auch dem Therapeuten, Orientierung und relative Sicherheit. Damit das möglich ist, müssen die Rahmenbedingungen von beiden Seiten ausreichend verlässlich eingehalten werden. Ähnlich wie die Ziele, die der Patient mit der Behandlung erreichen möchte, sollten auch die Rahmenbedingungen für die in Aussicht genommene Behandlung wie zwischen gleichberechtigten Partnern »verhandelt«, nicht aber »verordnet« werden. Dabei muss der Therapeut für all diejenigen Bedingungen eintreten, die nach seiner Erfahrung unbedingt gewährleistet sein müssen, damit eine Behandlung überhaupt möglich ist und potentiell erfolgreich verlaufen kann. Der Patient seinerseits sollte nach Möglichkeit ausdrücken, welche Bedingungen er zu brauchen meint, um in der Therapie mitarbeiten zu können, bzw. welche Bedingungen er seiner Erfahrung nach nicht oder nur schwer wird einhalten können.

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Dabei darf der Therapeut hinter Bedingungen, die unabdingbare Voraussetzung für die Behandlung sind, nicht zurückgehen. Umgekehrt kann der Therapeut Bedingungen, die der Patient geltend macht, dann akzeptieren, wenn sie mit einer effektiven Behandlung vereinbar sind. Allerdings darf er sich dabei nicht auf Bedingungen einlassen, die nach seiner Einschätzung und Erfahrung die Therapie fraglich werden lassen könnten. Eine Behandlung von Patienten mit schweren strukturellen Störungen ist beispielsweise nicht möglich, wenn der Therapeut sich auf halbherzige Verabredungen zum Umgang mit suizidalem Verhalten einlässt und in der Folge unter der Behandlung Gefahr läuft, angesichts suizidalen Agierens von dem Patienten immer wieder in Atem gehalten zu werden und nicht ausreichend handlungsfähig zu sein. Auf der anderen Seite wird der Patient Bedingungen in der Regel nicht ohne Weiteres hinnehmen können, die seine Toleranzgrenzen überschreiten. Im Zuge des Verhandelns von Patient und Therapeut über die Rahmenbedingungen erweist sich, ob beide sich auf einen Rahmen verständigen können, den sowohl der Patient tolerieren wie der Therapeut akzeptieren kann und der solange Gültigkeit behält, bis beide gemeinsam andere Bedingungen vereinbaren. In jedem Fall müssen beide Seiten, Patient und Therapeut, sich über Rahmenbedingungen nicht nur einigen, sondern deren Gültigkeit auch verbindlich festlegen. Ehe das nicht erfolgt ist, sollte die Therapie nicht begonnen werden. Manchmal kann es weiterführen, mit dem Patienten zu klären, was ihn daran hindert, die Bedingungen zu akzeptieren, deren Gültigkeit für den Therapeuten unverzichtbar sind. Die Rahmenbedingungen sollten in den meisten Fällen Regelungen zu folgenden Punkten umfassen: ȤȤ zum Schwerpunkt der Behandlung, ȤȤ zum Verhalten in Krisensituationen wie nicht sicher steuerbare Suizidalität, bedrohliches selbstverletzendes Verhalten, Rückfallgefährdungen bei süchtig-abhängigem Verhalten, psychotische Dekompensation u. a., ȤȤ zum Umgang mit Medikamenten, ȤȤ zur voraussichtlichen Dauer der Therapie, ȤȤ zur vorzeitigen Beendigung der Behandlung, ȤȤ zu Kontakten mit dem Therapeuten außerhalb der festgelegten Therapiezeiten, ȤȤ zum Umgang mit ausgefallenen Stunden und

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ȤȤ zu Honorarfragen, wenn die Behandlung ambulant durchgeführt wird. Dazu gehört auch, dass der Therapeut sich mit dem Patienten darüber verständigt, was geschehen muss, wenn die vorab vereinbarten Rahmenbedingungen nicht eingehalten werden oder nicht eingehalten werden können. Der Rahmen sollte nach Möglichkeit auf jeden Patienten individuell abgestimmt werden. Die Vereinbarungen sollten sich auf jedwedes Verhalten beziehen, das für die therapeutische Arbeit mit diesem Patienten unabdingbare Voraussetzung ist, bzw. jedes Verhalten, das die therapeutische Arbeit ernsthaft gefährden könnte. Mit Patienten, bei denen zu erwarten ist, dass sie in kritischen Situationen dazu neigen, sich in erheblichem Maße selbst- oder fremdschädigend zu verhalten, muss vorab festgelegt werden, unter welchen Bedingungen eine Verlegung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung erfolgen, die Therapie unterbrochen werden muss oder im Extremfall auch gar nicht fortgesetzt werden kann. Wurde dies vor Beginn der Therapie klar und unmissverständlich besprochen, trägt das oft maßgeblich dazu bei, dass folgenreiche Belastungen der therapeutischen Kooperation vermieden werden oder zumindest begrenzt bleiben, wenn es während der Behandlung tatsächlich zu krisenhaften Situationen kommt. Reagiert der Therapeut erst dann, wenn sich die Situation bereits zugespitzt hat, ohne mit dem Patienten zuvor verabredet zu haben, was angesichts der Umstände, die jetzt eingetreten sind, zu geschehen hat, muss er damit rechnen, dass der Patient sein Verhalten als willkürlich erlebt und den nunmehr erforderlich gewordenen Schritten erheblichen Widerstand entgegensetzt. Manche Patienten geraten immer wieder in Situationen, die die eigene körperliche und seelische Gesundheit gefährden. Das verlangt meist besondere Vereinbarungen, die auf die spezifischen situativen Bedingungen, unter denen es dazu kommt, und auf die individuellen Umstände des Patienten, die dabei zum Tragen kommen, abgestimmt sind. Solche spezifischen Vereinbarungen können auch für Patienten erforderlich sein, deren Fähigkeit gering ist, Beziehungen auch unter schwierigen Umständen aufrechtzuerhalten, und die schon in Verbindung mit geringfügigen Versagungen immer wieder in tiefe Zustände von Verlassenheit und Verlorenheit geraten. Ähnlich

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kann es bei Patienten, die imperativ nach sofortiger Befriedigung ihrer Bedürfnisse verlangen und zu einem Befriedigungsaufschub kaum in der Lage sind, erforderlich sein, besondere, auf dieses Problem abgestimmte Verabredungen zu treffen, die den Patienten dabei unterstützen können, auf der einen Seite die jeweiligen Bedingungen allmählich mehr auszuhalten, ohne sich auf der anderen Seite Belastungen zuzumuten, die ihn momentan noch überfordern. Beispiel: Mit einer jungen Patientin, die über Jahre hinweg unter unbehausten Verhältnissen gelebt, sich Geld mit der Teilnahme an »street-fights« verdient, während dieser Zeit regelmäßig diverse Drogen konsumiert hatte, neben anderen Beeinträchtigungen Zeichen einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung im Erwachsenenalter zeigte und kaum in der Lage war, auch nur minimale Versagungen zu tolerieren und die Befriedigung von Bedürfnissen aufzuschieben, wurde als Teil der Rahmenbedingungen vereinbart, dass sie in einem ersten Schritt versuchen solle, vor Erfahrungen, die für sie mit Unlust verbunden seien, nicht sofort zu fliehen, sondern den Versuch zu machen, die Zeitspanne mehr und mehr auszudehnen, über die hinweg sie solche Unlusterfahrungen aushalte. Zu dieser Vereinbarung gehörte, dass die Patientin versuchen möge, über die gesamte Zeit hinweg bei der Gruppentherapie anwesend zu bleiben, was für sie mit erheblichen Unlustspannungen einherging. Um die Patientin auf der anderen Seite nicht zu überfordern und ihr damit weitere Misserfolgserfahrungen zuzumuten, wurde mit ihr ausdrücklich verabredet, dass sie sich vorerst nicht unbedingt an dem Gespräch in der Gruppe aktiv beteilige, wenn das für sie zu schwierig und spannungsreich sei, sondern dass sie sich zunächst darum bemühe, sich den aktuellen Umständen auszusetzen und die Situation trotz unangenehmer Gefühle auszuhalten, soweit ihr das möglich sei, statt wie sonst, wenn es für sie unangenehm und schwierig werde, wegzulaufen und sich der Situation zu entziehen. So könne sie die Erfahrung machen, dass es ihr mehr und mehr gelinge, auch unangenehme Gefühle und Spannungen auszuhalten. Darüber hinaus wurden der Patientin einige Vorschläge gemacht, was sie in Anwesenheit der Mitpatienten in der Gruppe tun könne, um sich die Situation dort leichter und aushaltbarer zu machen.

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Allein aufgrund der Diagnose lässt sich im Vorhinein nicht sicher sagen, wie der Rahmen für die Behandlung gestaltet sein muss. Im Gegenteil können diagnostische Kategorien dazu verführen, die individuellen Besonderheiten des je einzelnen Patienten, die im Hinblick auf die Gestaltung des Rahmens zu beachten sind, außer Acht zu lassen. Vor allem weit gefasste und unspezifische Diagnosen, die ein breites Spektrum höchst heterogener Störungen umfassen, wie beispielsweise die der Borderline-Störung, verleiten dazu, aus dem Auge zu verlieren, wie verschieden die Patienten sind und wie wichtig es deshalb ist, die Rahmenvereinbarungen auf ihre individuellen Besonderheiten abzustimmen. Schwerpunkt der Behandlung Der Schwerpunkt oder Fokus hat die Funktion eines roten Fadens für die Therapie oder für einen Abschnitt der Therapie. In der Regel sollte der Schwerpunkt auf diejenigen Beeinträchtigungen gelegt werden, die im Gefüge der Störung dieses Patienten einen zentralen Platz einnehmen. Gelegentlich kann es nützlich sein, mit einem Patienten nicht nur einen einzigen, sondern zwei oder auch mehrere solcher Schwerpunkte zu vereinbaren. Gewöhnlich wird ein anfangs festgelegter Schwerpunkt über eine längere Therapiephase hinweg, seltener auch für die gesamte Dauer der Behandlung beibehalten. Ob und wann es in einer Behandlung angezeigt ist, den Schwerpunkt zu verändern oder zu erweitern, richtet sich nach dem Therapieverlauf. Manchmal stellt sich kurz nach Beginn der Therapie heraus, dass der gewählte Schwerpunkt zu weit reichende Anforderungen stellt und der Patient über die Voraussetzungen, die für die therapeutische Arbeit an diesem Fokus erforderlich sind, noch nicht verfügt. In diesem Fall sollte der Therapeut mit dem Patienten offen darüber sprechen, warum er den ursprünglich gewählten Schwerpunkt für ungeeignet und welchen näherliegenden Schwerpunkt er für angemessener hält. Seltener kommt es vor, dass der Patient mit dem ins Auge gefassten Fokus unterfordert wird. Viele Patienten verlieren den anfangs für die Behandlung vereinbarten Schwerpunkt rasch wieder aus den Augen. Dann gehört es zu den Aufgaben des Therapeuten, den Patienten an den verabredeten Schwerpunkt zu erinnern und das Verhalten des Patienten immer wieder mit der Problematik, die mit dem Fokus aufgegriffen wurde, zu verknüpfen.

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Beispiel: Bei einem Patienten in stationärer Behandlung erwies es sich über einige Zeit hinweg und in unterschiedlicher Weise als schwierig, sich mit ihm auf einen Schwerpunkt für die Behandlung zu verständigen. Anfangs konnte er kaum ausdrücken, was ihm aus seiner eigenen Sicht Probleme bereitete. Er wollte, dass es ihm besser gehe, konnte aber nicht genauer sagen, was er damit meinte und in welcher Weise es ihm schlecht ging. »Das Ganze eben, mein ganzes Leben, wie das so läuft«, schien das Konkreteste, was er dazu sagen konnte. Vor diesem Hintergrund galt das vorrangige Bemühen der Therapeutin dem Versuch, sich in einem ersten Schritt mit ihm darauf zu verständigen, dass zu Beginn der gemeinsamen Arbeit die Frage im Vordergrund stehen sollte, wo bei der dann folgenden weiteren Therapie aus seiner Sicht der Schwerpunkt liegen solle. Wenige Wochen später konnte der Patient sehr viel klarer sagen, was »das Ganze« für ihn umfasste und in welcher Weise dieses »Ganze« sich für ihn problematisch darstellte: Er kam eines Tages mit einem Zettel in der Hand in die Behandlungsstunde und hatte eine Liste mit Themen erstellt, die er in der Therapie behandeln wollte. Auch darin spiegelte sich noch seine Schwierigkeit wider, Realitätsbedingungen genauer wahrzunehmen; gleichwohl hatte »das Ganze« mit seiner Liste konkretere Formen angenommen, als das noch einige Zeit zuvor der Fall gewesen war. So hatte er sich unter anderem notiert, dass er in der Behandlung in Erfahrung bringen wolle, wie er eigentlich sei. Er wollte mit anderen Menschen besser zurechtkommen, obwohl er nicht sagen konnte, in welcher Weise das bis dahin nicht der Fall war; dann wollte er klären, warum er sich eigentlich nicht für andere interessiere, weiter wollte er sich darüber im Klaren werden, was er »mal machen« könne – gemeint war beruflich; hinzu kamen diverse körperliche, hypochondrisch getönte Beschwerden, im Hinblick auf die er in der Therapie ausfindig machen wollte, »was das eigentlich ist«. Die Therapeutin begrüßte ausdrücklich, dass der Patient eine Liste erstellt hatte und damit in einem ersten Ansatz in dem »Ganzen« Teile identifiziert und seine Wirklichkeit etwas genauer als zuvor in den Blick hatte nehmen können, indem sie meinte: »Jetzt kann ich schon etwas genauer erkennen, was für Sie wichtig ist. Haben Sie eine Idee, welcher dieser Themenbereiche an erster Stelle stehen sollte?« Sie tat dies nicht in der Erwartung, dass der Patient darauf eine rasche Antwort würde geben können, sondern um ihn dazu anzuregen, im

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Hinblick auf seine Realität weiter zu differenzieren, wie er das mit der Erstellung der Liste begonnen hatte, indem er versuchte, darüber mehr Klarheit zu gewinnen, welches der vom ihm gleichgewichtig nebeneinander gestellten Problemfelder für ihn mehr und welches weniger Bedeutung haben sollte. Viel später in der Behandlung kam der Patient in anderem Zusammenhang, als die Frage nach seinen Maßstäben anstand, noch einmal darauf zu sprechen, dass die Therapeutin es gut gefunden habe, als er sich aufgeschrieben habe, worum es in der Behandlung gehen solle, und er meinte verlegen lächelnd, er habe das erst gar nicht glauben können, dass sie das wirklich gut gefunden habe, für ihn sei das »überhaupt nichts« gewesen, das habe gar nicht gezählt, ihm sei das nicht mal aufgefallen. Daran wurde im Weiteren deutlich, dass der Patient an sich und seine Welt, an »das Ganze«, durchweg unrealistische, unerreichbare Maßstäbe anlegte, die er – noch einige Zeit später – in der Weise kommentierte, dass etwas »Weltklasse« sein müsse, andernfalls lohne es nicht, auch nur an den Start zu gehen.

In besonderen Fällen wird auf die Festlegung eines umschriebenen Schwerpunktes bewusst verzichtet, zum Beispiel bei Patienten, die daraus eine Quelle perfektionistischer Anforderungen und masochistischen Scheiterns machen würden. Suizidales und selbstverletzendes Verhalten Suizidgedanken und Suizidimpulse sind bei Patienten mit strukturellen Störungen häufig; sie können unter einer psychotherapeutischen Behandlung stärker und drängender werden. Das muss für sich genommen noch kein Alarmzeichen sein. Manchmal können Suizidgedanken auch ein Hinweis darauf sein, dass ein bis dahin starres psychisches Gleichgewicht labil geworden ist und die Therapie Wirkungen zeigt. Besondere Wachsamkeit ist immer dann geboten, wenn der Patient nicht mehr sicher ist, dass er angesichts von Suizidimpulsen sein Verhalten noch verlässlich steuern kann. Die Behandlung darf dann nur unter der Voraussetzung fortgesetzt werden, dass der Patient in der Lage ist, die getroffenen Vereinbarungen einzuhalten. Genauer gesagt heißt das, dass er sein Verhalten noch so weit kontrollieren können muss, dass er in der Lage ist, sich zu melden, wenn er nicht mehr sicher ist, ob er die hinsichtlich seines suizidalen Ver-

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haltens getroffenen Absprachen sicher einhalten kann. Eine Behandlung ist nur möglich, solange der Therapeut sich darauf verlassen kann, dass der Patient nicht suizidal handelt, auch dann nicht, wenn ihn drängende Suizidimpulse quälen. Andernfalls gerät der Therapeut leicht in eine Situation, in der er sich suizidalem Agieren des Patienten ausgeliefert fühlt. So kann es beispielsweise sein, dass ein Patient den Therapeuten mit suizidalem Agieren unbewusst unter Kontrolle zu halten versucht. Darum muss der Therapeut sich vergewissern, ob der Patient noch so weit mit ihm kooperieren kann, dass er sich im Falle schwer beherrschbarer Suizidimpulse an ihn oder – im stationären Rahmen – an das therapeutische Personal wendet. Suizidfantasien und Selbsttötungsimpulse des Patienten können nur dann in der gebotenen Intensität und Dichte Gegenstand der therapeutischen Arbeit werden, wenn der Therapeut sicher sein kann, dass der Patient sich an die gemeinsam getroffenen Vereinbarungen hält und seine Gedanken und Impulse nicht in die Tat umsetzt. Umgekehrt darf der Patient nicht den begründeten Eindruck haben, dass der Therapeut vor seinen Suizidgedanken und Suizidimpulsen ängstlich zurückweicht. Ist der Patient dessen nicht sicher, kann sich bei ihm leicht das Gefühl einstellen, den Therapeuten nicht belasten zu dürfen, und er wird in der Folge seine Suizidfantasien verschweigen. Für manche Patienten verbindet sich die Vorstellung, sich jederzeit suizidieren zu können, mit dem Gefühl von Autonomie. Deshalb wollen sie sich nicht eindeutig und verbindlich darauf festlegen, dass sie ihren Suizidimpulsen unter keinen Umständen nachgeben. Darauf darf der Therapeut sich nicht einlassen. Er muss jederzeit sicher sein können, dass der Patient die Vereinbarungen zum Umgang mit suizidalen Impulsen verbindlich einhält. Sagt der Patient das nicht verbindlich zu, sondern versichert eventuell nur, dass er sich darum bemühen werde oder dass der Therapeut sich »95-prozentig« darauf verlassen könne, dass er »sich nichts antun« werde, sollte der Therapeut die Behandlung nicht beginnen. Tut er das doch, kann es leicht dazu kommen, dass der Patient diese »Hintertür« für seine Zwecke – und das heißt in diesem Zusammenhang für suizidales Agieren – nutzen wird. Insbesondere manche depressive Patienten erkennen in einer derartigen Forderung des Therapeuten zum Umgang mit suizidalem Verhalten manchmal nur das altruistische Interesse des Therapeuten, der sich um seinen Patienten sorgt, und sie reagieren darauf unter

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Umständen mit verstärkten Schuldgefühlen. In diesem Fall kann es hilfreich sein, wenn der Therapeut zum Ausdruck bringt, dass es durchaus auch in seinem eigenen Interesse liegt, wenn er von dem Patienten erwartet, dass er die gemeinsam getroffenen Verabredungen absolut verlässlich einhält, beispielsweise deshalb, um in und auch außerhalb der Behandlung nicht in ständige Unruhe versetzt zu sein. Eine derartige Erläuterung dem Patienten gegenüber könnte beispielsweise folgendermaßen lauten: Beispiel: »Ich möchte mich darauf verlassen können, dass Sie Ihren Selbstmordimpulsen nicht nachgeben. Das ist durchaus auch in meinem eigenen Interesse. Ich möchte meine freie Zeit nicht in ständiger Unruhe verbringen müssen. Das wäre aber so, wenn ich nicht sicher sein kann, dass Sie keinen Versuch machen werden, gegen sich selbst gewalttätig zu werden.«

Ein zentraler Aspekt für die psychotherapeutische Arbeit mit suizidalen Patienten unter nichtgeschlossenen Bedingungen ist deshalb die Einschätzung der Verlässlichkeit. Ist der Therapeut sicher, dass der Patient auch dann, wenn es ihm schlecht geht, die getroffenen Verabredungen verlässlich einhält, kann das unter Umständen für den Patienten ein Halt sein, der die Sicherheit der Bedingungen einer geschlossenen psychiatrischen Station ersetzt. Mit Patienten, von denen bekannt ist oder im Zuge der diagnostischen Untersuchungen zutage getreten ist, dass sie zu suizidalem Agieren neigen, sollte der Therapeut noch vor Beginn der Behandlung gemeinsam festlegen, was geschehen muss, wenn der Patient die suizidalen Impulse nicht mehr sicher kontrollieren kann. Der Patient muss sich damit einverstanden erklären, sich im Fall nicht mehr steuerbarer Suizidimpulse zu seinem eigenen Schutz auf eine geschlossene psychiatrische Station aufnehmen zu lassen, und zwar so lange, bis er seine Fähigkeit wiedererlangt hat, sein Verhalten ausreichend verlässlich zu steuern. Für die Behandlung suizidaler Patienten ist in jedem Fall eine gut funktionierende Kooperation mit einer psychiatrischen Einrichtung, die über eine geschlossene Station verfügt, erforderlich. Ist eine notfallmäßige vorübergehende Einweisung oder Verlegung des Patienten in eine geschlossene psychiatrische Einrichtung

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unumgänglich geworden, sollte der Therapeut den Kontakt zu seinem Patienten nach Möglichkeit auch während der Zeit der Unterbringung aktiv aufrechterhalten, soweit die äußeren Umstände das zulassen. Das ist zumal dann wichtig, wenn der Patient zum Objektverlust neigt und ihm in seiner krisenhaften psychischen Verfassung die Beziehung zu seinem Therapeuten in seinem Erleben gänzlich verloren zu gehen droht, weil er nicht in der Lage ist, die Verbindung zu ihm innerlich aufrechtzuerhalten. Gerade dann, wenn der Patient seine guten inneren Objekte zu verlieren droht oder schon aufgegeben hat, muss der Therapeut von sich aus alles unternehmen, um dem Patienten als »gutes Objekt« erhalten zu bleiben. Die meisten Patienten stimmen den notwendigen Vereinbarungen letztlich, wenn auch bisweilen widerwillig, zu. Dass alle Vereinbarungen letztlich kein Mittel sind, um mit absoluter Sicherheit zu verhindern, dass ein Patient sich suizidiert oder einen Suizidversuch unternimmt, versteht sich von selbst. Hat ein Patient die getroffenen Vereinbarungen nicht einhalten können und unter der Behandlung tatsächlich einen Suizidversuch unternommen, muss geprüft werden, ob die Therapie fortgeführt werden kann oder ob eventuell eine andere Art der Behandlung für den Patienten besser geeignet ist. Umgang mit Medikamenten Bei einigen Patienten mit strukturellen Störungen ist neben der Psychotherapie – dauerhaft oder vorübergehend – auch eine symptomatische psychopharmakologische Behandlung unerlässlich, etwa bei schwereren depressiven Verstimmungen, bei chronischen Schlafstörungen, massiven Ängsten und Panikattacken oder bei gravierenden paranoiden Symptomen. In diesem Fall sollte der Therapeut immer auch dafür aufmerksam sein, welche Bedeutung die Medikamente über ihre biologischen Wirkungen hinaus für das subjektive Erleben des Patienten im Kontext der psychotherapeutischen Behandlung und insbesondere in Zusammenhang mit der therapeutischen Beziehung haben (Kapfhammer, 1999). Soweit vor Beginn der psychotherapeutischen Behandlung absehbar ist, dass der Patient auch psychopharmakologisch behandelt werden muss, sollte eine Vereinbarung darüber getroffen werden, wer für die medikamentöse Behandlung zuständig ist. In den meisten Fällen sollte die psychopharmakologische Therapie in den Händen

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eines im Umgang mit Psychopharmaka erfahrenen Psychiaters liegen. In diesem Fall ist eine vertrauensvolle Zusammenarbeit von Psychotherapeut und Psychiater – soweit der Psychiater die psychotherapeutische Behandlung nicht selbst durchführt – wichtig. Ist die Kooperation schwierig, beispielsweise deshalb, weil der Psychiater der Psychotherapie skeptisch gegenübersteht, ist die Gefahr groß, dass der Patient zu manipulativem und agierendem Verhalten eingeladen wird, ohne dass der manipulative Charakter des Verhaltens erkannt wird. Therapie außerhalb der Therapiezeiten Wenn es unter der Behandlung zu nicht vorhersehbaren erheblicheren Komplikationen kommt, kann es sich unter Umständen als notwendig erweisen, von einmal getroffenen Vereinbarungen abzurücken und neue Verabredungen zu treffen. Beispielsweise kann es erforderlich werden, die zu Beginn vereinbarte Stundenfrequenz zu verändern, andere Behandlungszeiten festzulegen oder die Dauer der einzelnen Sitzung zu variieren, beispielsweise deshalb, weil ein Patient zusätzliche Krisentermine benötigt oder weil es angezeigt erscheint, mit dem Patienten häufigere Termine zu verabreden, dafür aber die Dauer der einzelnen therapeutischen Sitzung zu verkürzen. Der Therapeut sollte sich eindeutig dazu äußern, ob er im Notfall außerhalb der vereinbarten Therapiezeiten für den Patienten zu erreichen ist und wann und unter welchen Umständen der Patient sich an ihn wenden kann. Erfahrungsgemäß führt ein derartiges von dem Therapeuten in Aussicht gestelltes Angebot kaum jemals zu regressivem Agieren, wie das gelegentlich befürchtet wird. Tatsächlich nehmen Patienten die Möglichkeit, den Therapeuten außerhalb der fest vereinbarten Behandlungszeiten zu erreichen, nur äußerst selten und meist nur dann in Anspruch, wenn das tatsächlich unvermeidlich ist. Im Gegenteil zeigen die meisten Patienten eher mehr Verantwortung für ihr eigenes Verhalten, wenn der Therapeut ihnen angeboten hat, dass sie sich im dringenden Notfall auch außerhalb der Behandlungszeiten an ihn wenden können. Dauer der Behandlung Die voraussichtliche Dauer einer Behandlung ist im ambulanten Rahmen meist durch die Richtlinien für tiefenpsychologisch fundierte Einzel- und Gruppenbehandlungen innerhalb gewisser Grenzen

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vorgegeben. Findet die Behandlung im stationären Rahmen statt, ist die Dauer der Therapie meist auf einige Wochen bis wenige Monate begrenzt. Unabhängig davon, wo die Behandlung stattfindet, sollte der Therapeut den Patienten noch vor Beginn der Behandlung an den begrenzten zeitlichen Rahmen erinnern. Im Verlauf der sich anschließenden Behandlung wird der Therapeut den Patienten unter Umständen frühzeitig auf das zu erwartende Ende der Therapie aufmerksam machen, um die Beendigung der Behandlung ausreichend gründlich mit dem Patienten vorbereiten zu können. Manche Patienten versuchen zum Ende der Behandlung hin, den Therapeuten dazu zu veranlassen, von der anfangs festgelegten Dauer der Therapie abzurücken und die Behandlung zu verlängern. Insbesondere Patienten mit Borderline-Störungen geraten häufiger in regressive Krisen, wenn das Behandlungsende naht. Ihr Zustand verschlechtert sich, und es mag dem Therapeuten unzumutbar erscheinen, die Therapie zu beenden. Gibt der Therapeut dem Agieren des Patienten nicht nach, droht er in die Rolle des ausnahmslos Bösen und Unerbittlichen zu geraten, der den so bedürftig erscheinenden Patienten trotz dessen unübersehbaren Leids wegschickt. Wenn sich eine derartige Entwicklung abzeichnet, ist es wichtig, dass der Therapeut an den Vereinbarungen festhält und die Möglichkeit nutzt, so wie schon viele Male zuvor während der Behandlung, konsequent die therapeutische Arbeit an den Spaltungen des Patienten fortzusetzen, die sich in diesem Falle an der Frage der Beendigung der Therapie bekunden. Bei einigen Patienten kann sich unter der Behandlung herausstellen, dass die anfangs ins Auge gefasste Dauer der Behandlung tatsächlich zu knapp veranschlagt ist. Inwieweit das tatsächlich zutrifft, lässt sich nur im Einzelfall klären. Ausfall von Stunden Viele Patienten mit strukturellen Störungen haben in ihrer Entwicklung die Erfahrung gemacht, dass Beziehungen unzuverlässig sind und für sie wichtige Personen nicht für sie da waren, wenn sie sie dringend gebraucht hätten. Weder rechnen sie damit, dass das in der Therapie anders sein wird, noch sind sie in der Lage, sich auf eine verbindliche Beziehung wirklich einzulassen. Wenn der Therapeut Behandlungstermine absagen muss, fühlen sie sich unter Umständen in ihrer Erfahrung bestätigt und glauben, dass andere Personen

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ihm wichtiger sind als sie und die Vereinbarung, sich mit ihnen zu beschäftigen. In Kommentaren wie »ich bin eben nicht interessant genug« oder »wenn ich Sie wäre, würde ich mich auch lieber mit anderem beschäftigen« können sich dann Selbstwertabwertungen infolge der Terminabsage ausdrücken. Umgekehrt neigen manche Patienten dazu, mit verabredeten Terminen relativ beliebig umzugehen. Das hat oftmals den Grund, dass sie sich damit ihrer Unabhängigkeit zu vergewissern und der Gefahr zu entgehen versuchen, sich eingestehen zu müssen, die Therapie und den Therapeuten zu brauchen. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, dass der Therapeut klare Vereinbarungen zur Verbindlichkeit verabredeter Termine mit dem Patienten trifft und Patient und Therapeut gemeinsam festlegen, wie damit umzugehen ist, wenn es einmal unvermeidlich sein sollte, dass eine Behandlungsstunde abgesagt wird. Dazu sollte der Therapeut dem Patienten möglichst offenlegen, welche Umstände – neben »höherer Gewalt« wie beispielsweise Krankheit – dazu führen können, dass er einen Behandlungstermin absagen muss, etwa unaufschiebbare, anderweitige berufliche Verpflichtungen; er sollte aber auch betonen, dass er einen verabredeten Termin nur dann und in diesem Fall auch so frühzeitig, wie ihm das möglich ist, absagen wird, wenn sich das nicht umgehen lassen sollte. Weiter sollte der Therapeut dem Patienten ankündigen, dass er sich unter solchen Umständen darum bemühen wird, einen anderen Termin zu finden. Schließlich bedarf es auch einer verbindlichen Vereinbarung im Hinblick auf etwaige Terminabsagen durch den Patienten. Termine sollten in der Regel nur dann abgesagt werden, wenn es für den Patienten keine andere Möglichkeit gibt. Darüber hinaus sollte der Patient sich damit einverstanden erklären, in einem solchen Fall den Termin möglichst frühzeitig abzusagen. Nicht zuletzt sollte der Therapeut dem Patienten auch bei dieser Gelegenheit deutlich machen, dass er sich ebenso wie auf die anderen auch auf diese Absprache verlässt. Manche Patienten versuchen den Therapeuten in eine Auseinandersetzung darüber zu verwickeln, was genau die getroffene Vereinbarung bedeutet, was genau etwa darunter zu verstehen ist, dass es »keine andere Möglichkeit« gegeben habe als die, einen Termin abzusagen. Solche Bestrebungen haben selten zum Ziel, zu mehr Klarheit und Verbindlichkeit zu gelangen; vielleicht bezieht sich der

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Patient auf den Wortlaut statt auf den Sinn einer Vereinbarung, um sich auf diese Weise gerade nicht verlässlich festlegen zu müssen, vielleicht möchte er damit auch versuchen, den Therapeuten in eine »Haarspalterei« und einen »Machtkampf« zu verwickeln. Honorarfragen Im stationären Rahmen spielen Honorarfragen in der Behandlung üblicherweise keine Rolle. Auch im ambulanten Bereich werden Honorarfragen meist nur dann zum Thema, wenn entweder der Patient den Therapeuten selbst bezahlt oder wenn die Vereinbarung getroffen wurde, dass der Patient Behandlungsstunden, die er hat ausfallen lassen, selbst bezahlen muss. Patienten mit schwereren strukturellen Störungen leben häufig nicht nur in äußerst schwierigen sozialen Verhältnissen, sondern auch in wirtschaftlich angespannten Situationen, sind arbeitslos, haben Schulden oder sind noch in einer Ausbildung. Auf diesem Hintergrund sollte der Therapeut das sogenannte Ausfallhonorar, soweit seine eigene Situation das erlaubt, mit den finanziellen Umständen des Patienten abstimmen. Manchmal kann es sinnvoll sein, auch mit einem Patienten, der unter schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebt, ein geringes Honorar für Behandlungsstunden, die er hat ausfallen lassen, zu vereinbaren, anstatt ganz darauf zu verzichten. Selbst mit jugendlichen oder jungen erwachsenen Patienten, die nur über geringe eigene finanzielle Mittel verfügen, kann es unter Umständen günstig sein zu verabreden, dass sie einen ihren Umständen angepassten Betrag für Behandlungsstunden, die sie haben ausfallen lassen, aufbringen, vor allem dann, wenn zu erwarten ist, dass für den Patienten ausschließlich symbolische Folgen seines eigenen Verhaltens keine greifbare Realität sind. Merke: Welche Rahmenbedingungen mit einem Patienten verhandelt und vereinbart werden, richtet sich nach den jeweils individuellen Besonderheiten. In die Rahmenvereinbarungen sollte möglichst alles aufgenommen werden, was erforderlich ist, damit die Behandlung potentiell erfolgreich verlaufen kann. Dazu gehört auch, dass mit dem Patienten vorab Vereinbarungen dazu getroffen werden, was zu geschehen hat, wenn die Rahmenbedingungen nicht eingehalten werden.

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Verstehen Patient und Therapeut die vereinbarten Rahmenbedingungen gleich? Bei der Vereinbarung von Rahmenbedingungen sollte sich der Therapeut nicht damit begnügen, die verschiedenen für die nachfolgende Behandlung wichtigen Punkte mit dem Patienten angesprochen zu haben. Vielmehr sollte er sich immer auch vergewissern, wie der Patient seine Hinweise und Erläuterungen zu der bevorstehenden therapeutischen Arbeit verstanden hat. Das kann etwa in der Weise geschehen, dass er den Patienten bittet, mit seinen eigenen Worten zu wiederholen, wie dieser verstanden hat, was er ihm versucht hat zu erläutern. Damit der Therapeut damit bei seinem Patienten nicht den Eindruck erweckt, dass er ihm nicht zutraut, zu verstehen, was er ihm gerade erklärt hat, oder dass er ihn gar für dumm hält, sollte der Therapeut offenlegen, aus welchem Grund er den Patienten bittet, ihm in seinen eigenen Worten zu sagen, wie er die miteinander besprochenen Rahmenbedingungen aufgefasst hat. Das kann der Therapeut seinem Patienten beispielsweise damit verständlich machen, dass es im Hinblick auf die vorgesehene Behandlung besonders wichtig ist, dass beide die Rahmenbedingungen gleich verstehen und »am gleichen Strang ziehen«. Oftmals wird sich herausstellen, dass der Patient etwas ganz anders verstanden hat, als der Therapeut meint, ihm erklärt zu haben. Der Therapeut kann dann im nächsten Schritt die Gelegenheit nutzen, die Missverständnisse auszuräumen, und dem Patienten weitere Erläuterungen geben. Beispiel: »Bitte seien Sie doch so gut, mir mit Ihren Worten noch einmal zu sagen, wie Sie verstanden haben, was wir jetzt im Hinblick auf die Therapie miteinander besprochen haben. Ich bitte Sie darum, weil es nach meiner Erfahrung sehr wichtig ist, dass Sie und ich die Voraussetzungen für unsere weitere Arbeit und die Bedingungen, die dafür gelten sollen, gleich verstehen. Und ich möchte sicher gehen, dass ich mich auch wirklich verständlich genug ausgedrückt habe.« Merke: Der Therapeut sollte sich nicht damit begnügen, den Patienten über die Bedingungen zu informieren, die für die Behandlung vorausgesetzt werden. Er sollte sich auch vergewissern, dass der Patient die Rahmenvereinbarungen in dem gemeinten Sinn verstanden hat.

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Modifikationen des Rahmens im Verlauf der Therapie Je nach Stand der Behandlung kann es sich anbieten, die Rahmenbedingungen im Verlauf der Therapie zu modifizieren. Es kann sich zum Beispiel herausstellen, dass die anfangs vereinbarten Bedingungen dem Patienten keine ausreichend klaren Orientierungen bieten und der Patient sich nicht ausreichend gehalten fühlt, so dass der Rahmen eindeutiger, klarer und engmaschiger gestaltet werden muss. Bei anderen Patienten kann es sich im Verlauf der Behandlung als sinnvoll erweisen, den Rahmen weitmaschiger zu gestalten, so dass der Patient mit neuen Bedingungen konfrontiert wird, die innerhalb des bis dahin festgelegten Rahmens von geringerer Bedeutung waren. Das kann sich beispielsweise dann empfehlen, wenn es nützlich scheint, dass der Patient sich Situationen aussetzt, die er bis dahin gemieden hat. Im günstigen Fall kann der Rahmen im Verlauf der Therapie sukzessive weiter und durchlässiger und den Bedingungen der Alltagswelt mehr und mehr angenähert werden, bis der Patient in der Lage ist, mit Verhältnissen, wie sie auch unter Ernstfallbedingungen anzutreffen sind, allein fertigzuwerden. In der Arbeit mit Patienten mit schweren strukturellen Störungen sind klare, unmissverständliche und Orientierung vermittelnde Rahmenbedingungen unverzichtbar, sollten aber nicht rigide aufrechterhalten werden, ohne dass das therapeutisch begründet ist, damit der Rahmen nicht wie das Instrument einer starren Ordnungsmacht erlebt wird. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass der Therapeut mit den vereinbarten Rahmenbedingungen wie mit weitgehend unverbindlichen Regelungen umgeht, die mehr oder weniger beliebig verändert werden können. In diesem Fall ist der therapeutische Raum von Willkür bedroht; die Patienten können sich unter solchen Bedingungen nicht ausreichend sicher und gehalten fühlen. Veränderungen des Rahmens angesichts von unvorhersehbaren Problemen oder sich zuspitzenden Krisensituationen sollte der Therapeut nicht vornehmen, ohne das mit dem Patienten besprochen und gegebenenfalls verhandelt zu haben. Sowohl der Patient wie der Psychotherapeut haben mehr oder weniger klare Vorstellungen davon, welche Bedingungen angesichts der jeweils aktuellen Umstände für die gemeinsame Arbeit erforderlich sind. Der Therapeut sollte dem Patienten in diesem Zusammenhang in einer Haltung begegnen, die ihm nahebringt, dass er als Betroffener potentiell selbst

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am besten einschätzen kann, was für ihn jetzt in dieser Situation gut und zuträglich ist und in welcher Weise die derzeitigen Schwierigkeiten und kritischen Umstände am besten aufgefangen werden können. Allenfalls dann, wenn der Patient nicht mehr in der Lage ist, sein Verhalten ausreichend selbstverantwortlich zu steuern, muss der Therapeut das für seinen Patienten übernehmen und notwendige Entscheidungen allein treffen, im äußersten Notfall auch einmal gegen den Willen des Patienten. Merke: Die mit dem Patienten vereinbarten Rahmenbedingungen sollten nach Möglichkeit dem jeweiligen Stand der Behandlung angepasst werden. Rahmenbedingungen können zu eng und zu detailliert sein, können sich aber auch – insbesondere zu Beginn einer Behandlung – als zu weitmaschig erweisen. Immer sollte sowohl für den Patienten wie für den Therapeuten – im stationären Rahmen für alle an der Behandlung beteiligten Therapeuten – der Sinn der jeweils vereinbarten Rahmenbedingungen als Instrumente, die für eine wirksame Behandlung dieses Patienten erforderlich sind, deutlich bleiben.

Die Vereinbarung verbindlicher Rahmenbedingungen misslingt Der Therapeut muss sich darüber im Klaren sein, welche Bedingungen gewährleistet sein müssen, damit er mit diesem Patienten potentiell erfolgreich therapeutisch arbeiten kann. Der Patient seinerseits sollte verstanden haben, weshalb bestimmte Voraussetzungen für die Behandlung erforderlich sind und aus welchen Gründen der Therapeut auf diese Bedingungen drängt und daran festhält. Nicht nur der Therapeut muss sicher sein können, dass die Bedingungen, über die beide sich verständigt haben, für den Patienten verbindlich sind, sondern auch der Patient muss sich darauf verlassen können, dass der Therapeut sich an die vereinbarten Regelungen hält. In seltenen Ausnahmefällen können sich Patient und Therapeut nicht über Rahmenbedingungen verständigen, die für beide akzeptabel sind. Es kann beispielsweise sein, dass ein Patient einer Regelung im Hinblick auf suizidales Agieren zwar »prinzipiell« zustimmt, sich aber nicht »für jeden Fall« festlegen will. Darauf kann sich der

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Therapeut nicht einlassen. Wenn es im Folgenden nicht gelingt zu verstehen, welche Gründe der Patient hat, sich nicht festlegen zu wollen, und wenn es daraufhin nicht möglich ist, doch noch zu verbindlichen Vereinbarungen zu kommen, sollte der Therapeut die Behandlung nicht beginnen. Manche Patienten wollen sich nicht auf Rahmenbedingungen festlegen, weil sie in verbindlichen Regelungen einen Versuch des Therapeuten vermuten, ihnen seine Bedingungen aufzuzwingen, und sie fürchten, dass ihre Selbstbestimmung eingeschränkt wird. Der Therapeut sollte solchen misstrauischen Befürchtungen entgegentreten, die Vermutungen des Patienten unmittelbar richtigstellen und dem Patienten den Sinn der Regelungen nachvollziehbar und verstehbar darlegen. Das kann unter Umständen ein längerer Prozess sein. Die ängstlichen Besorgnisse des Patienten werden damit nicht auszuräumen sein. Der Patient muss aber zumindest wissen, dass es nicht darum geht, seine Eigenständigkeit einzuschränken, auch wenn er das so erleben mag, sondern dass es darum geht, sicherzustellen, dass unter den Umständen, für die die Rahmenbedingungen vereinbart wurden, auch tatsächlich geschieht, was zu tun therapeutisch notwendig ist; so wie ein Arzt von einem Patienten, dessen Knöchel gebrochen ist, erwarten muss, dass er den Fuß nicht zu früh belastet, selbst wenn er das vielleicht nicht einsieht, so muss auch der Therapeut sicher sein, dass sein Patient sich an die Vereinbarungen hält. Zwar kann auch der Arzt den Patienten mit dem gebrochenen Knöchel letztlich nicht daran hindern, »eigenständig« zu handeln und sich trotz der warnenden Hinweise des Arztes körperlichen Schaden zuzufügen, wird als verantwortungsbewusster Arzt die weitere Behandlung unter Umständen jedoch ablehnen müssen, wenn der Patient sich wiederholt weigert, sich in einer Weise zu verhalten, die für seine Heilung unverzichtbar ist. Lässt der Therapeut sich auf uneindeutige Rahmenbedingungen ein, die mehr oder weniger beliebig ausgelegt werden können, kann leicht die Gefahr drohen, dass sich die therapeutische Situation über kurz oder lang in eine Richtung entwickelt, die mit einer wirksamen Behandlung nicht vereinbar ist. Es kann dann dazu kommen, dass der Patient in agierendes Verhalten gerät, das sich immer mehr zuspitzt, oder es kann sein, dass der Therapeut in Kollusionen hineingezogen wird, die sich nicht wieder auflösen lassen. Wenn der Therapeut dagegen vor Beginn der Behandlung für Rahmenbedingungen eintritt, die nach seiner Erfahrung gelten und eingehalten werden müs-

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sen, damit sich die gemeinsame therapeutische Arbeit gut genug entwickeln kann, wird er in den meisten Fällen sich und dem Patienten solche leidvollen Erfahrungen ersparen können. Merke: Mit dem Rahmen vereinbaren Patient und Therapeut Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit die Behandlung potentiell erfolgreich durchgeführt werden kann. Sind diese Bedingungen nicht gewährleistet, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Therapie dem Patienten nicht ausreichend nützt. Der Therapeut sollte sich nicht auf Vereinbarungen mit dem Patienten einlassen, von denen er mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen kann, dass sie mit einer wirksamen Behandlung nicht vereinbar sind.

Ringen um Rahmenbedingungen als Therapie Manche Patienten mit strukturellen Störungen greifen in Krisensituationen zu Alkohol oder Drogen, verhalten sich willkürlich, neigen dazu, sich selbst Schaden zuzufügen oder sich in destruktive Aktionen mit anderen zu verwickeln. Die therapeutische Situation ist davon nicht immer ausgenommen: Angesichts geringfügiger Frustrationen entwerten manche Patienten den Therapeuten und die Therapie und neigen dazu, schon bei – von außen betrachtet – unerheblichen Versagungen die therapeutische Beziehung aufkündigen zu wollen. Weil verbindliche Absprachen und Regelungen sich mit ihrem Autarkiebedürfnis und ihrem Verlangen nach Kontrolle nicht vereinbaren lassen, werden Grenzen mehr oder weniger willkürlich überschritten. Das muss keineswegs bedeuten, dass die Patienten keine Therapie wollen. Sie erwarten durchaus therapeutische Hilfe, allerdings soll es sich dabei um eine Therapie zu ihren Bedingungen handeln, etwa um eine Therapie, bei der die unmittelbare Befriedigung ihrer Bedürfnisse möglichst nicht eingeschränkt wird. Wenn sich herausstellt, dass dies doch der Fall ist, kann es sein, dass Auseinandersetzungen über den Rahmen und dessen Gültigkeit unvermeidlich werden. In der Folge kann es zu einer Art Ringen von Patient und Therapeut um Rahmenbedingungen kommen. Mehr noch kann das Ringen um Rahmenbedingungen geradezu die Behandlung weitgehend bestimmen oder zumindest ein zentrales Element der Behandlung

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werden. Therapeut und Patient versuchen sich über verbindliche Rahmenbedingungen zu verständigen, verhandeln miteinander, es kommt zu keiner Einigung, der Dialog geht mehr und mehr in ein gemeinsames Ringen um die Verbindlichkeit von Absprachen über – ein Ringen im Hinblick auf notwendige Grenzen, auf unvermeidbare Einschränkungen, denen der Patient meint nicht zustimmen zu können, auf die Verbindlichkeit von Absprachen und die Verlässlichkeit von Festlegungen – und dieses Ringen zieht sich über längere Zeit hin. Unausgesprochen werden die Autarkiebedürfnisse des Patienten und seine Angst vor Abhängigkeit im Zuge des Verhandelns zum Fokus des Geschehens im Behandlungszimmer, und das gemeinsame Ringen wird zu deren therapeutischer Bearbeitung. Das setzt voraus, dass das Ringen um verbindliche Vereinbarungen nicht zu einem Machtkampf gerät. Auch unter der Behandlung kann es dazu kommen, dass der Therapeut ein ums andere Mal dem Patienten gegenüber die Unverbrüchlichkeit des Rahmens geltend macht und dafür einsteht, dass die Rahmenbedingungen Gültigkeit haben und aufrechterhalten bleiben. Gelingt das Ringen, unterstützt er den Patienten damit auf dem Weg, Realitätsbedingungen anerkennen zu können, die – dem Gesetz vergleichbar – als ein Drittes außerhalb der beiderseitigen Beziehung liegen. Dabei darf der Therapeut sich nicht darauf beschränken, verstehen zu wollen, was auf Seiten des Patienten dazu geführt hat, dass er Vereinbarungen nicht eingehalten hat. Der Patient muss vielmehr die Erfahrung machen können, dass Rahmenbedingungen nicht beliebig außer Kraft gesetzt werden können, dass der Rahmen nicht zu unterminieren ist und dass ein Verhalten, das solche Grenzen unbeachtet lässt, mit missliebigen Folgen einhergeht. Erst an solchen Folgen des eigenen Verhaltens kann sich für den Patienten oftmals erweisen, dass Realitätsbedingungen nicht nach Maßgabe seiner jeweiligen Bedürfnislage manipulierbar sind. Allein damit, dass Patient und Therapeut sich auf Rahmenbedingungen festgelegt haben, ist noch nicht gewährleistet, dass sich der Patient bei der therapeutischen Arbeit auch tatsächlich daran halten kann. Das schmälert die Bedeutung des Rahmens und das Ringen um dessen Gültigkeit jedoch nicht.

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Beispiel: Eine 29-jährige Patientin hatte große Schwierigkeiten, sich an die Bedingungen des Alltagslebens so weit anzupassen, dass sie einer Arbeit nachgehen und anderen alltäglichen Verpflichtungen nachkommen konnte. Sie war mehrere Jahre lang von Drogen abhängig gewesen; dabei hatte sie ihren Drogenkonsum über Gelegenheitsarbeiten finanziert. Alle Versuche, eine Ausbildung zu machen, waren gescheitert, und schließlich hatte sie eine Zeit lang auf der Straße gelebt. Mit Unterstützung war es ihr gelungen, ihren Drogenkonsum aufzugeben. Sie wohnte bei ihrer Mutter, mit der es täglich heftige Spannungen und Konflikte gab. Meist stand sie erst gegen Mittag auf. Sie ließ ihre Kleidung verkommen und pflegte sich kaum. Sie ließ sich von ihrer Mutter versorgen, die ihrerseits ihre Tochter für ihr Verhalten zwar kritisierte, ihr aber dennoch die Wäsche wusch, wenn sie den Gestank der Kleider nicht mehr ertragen konnte, ihr Essen kochte und von Zeit zu Zeit, wenn ihr die Unordnung über den Kopf wuchs, das Zimmer ihrer Tochter aufräumte. Die Patientin hatte sich auf Anraten eines Mitarbeiters einer sozialen Einrichtung um eine Therapie bemüht. Die Behandlung erfolgte unter stationären Bedingungen. Als Ziel gab die Patientin an, von ihrer Mutter unabhängig werden zu wollen und selbstständig leben zu können. Dieses Ziel wurde von therapeutischer Seite aufgegriffen und als Orientierung für die therapeutische Arbeit verbindlich festgelegt. Tatsächlich setzte sich das Verhalten, das die Patientin im Zusammenleben mit der Mutter gezeigt hatte, auch in der Klinik fort: Sie verschlief verabredete Termine, ließ ihr Zimmer verkommen und schien sich körperlich zu vernachlässigen. Gleichzeitig gelang es ihr, Mitpatienten zu veranlassen, sie mit Zigaretten und zusätzlichen Nahrungsmitteln zu versorgen. Zwar ärgerten sich ihre Mitpatienten über ihre fordernde Art und die Selbstverständlichkeit, mit der sie Versorgungsleistungen entgegennahm, ohne sich dafür zu revanchieren, schienen sich aber nicht in der Lage zu sehen, sich ihren Bitten zu widersetzen, zumal die Patientin immer eine Erklärung wusste, weshalb es ihr angeblich nicht möglich war, sich anders zu verhalten. Das Ziel, selbstständiger zu werden, sollte sich – so die therapeutische Zielsetzung – in erster Linie darin konkretisieren, dass die Patientin Anforderungen der äußeren Realität so weit würde nachkommen können, dass sie ein weitgehend unabhängiges Leben würde führen können. Tatsächlich schien sich die Patientin um eine Veränderung

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ihres Verhaltens jedoch kaum zu bemühen. Immer wieder hielt sie Vereinbarungen nicht ein und verschlief verabredete Termine. Die Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen erschien ihr unzumutbar: Sie beteuerte ein ums andere Mal, dass sie sich ja anders verhalten wolle, dazu aber aufgrund ihrer Erkrankung nicht in der Lage sei. Sie nehme sich durchaus fest vor, anderes Verhalten zu zeigen, aber ihre Störung sei doch stärker als sie. Sie nutzte ihre zweifellos vorhandenen psychischen Beeinträchtigungen als Legitimation ihres Verhaltens. Gleichwohl behandelten die Therapeuten, die in der Klinik an ihrer Behandlung beteiligt waren, sie ausnahmslos als erwachsene Frau, die sie war und die für ihr Handeln selbst verantwortlich ist. Als die Patientin Vereinbarungen weiterhin nicht einhielt, wurde die Behandlung nach mehreren Vorankündigungen vorläufig beendet, allerdings unter Hinweis auf die Möglichkeit, die Therapie fortzusetzen, wenn sie in der Lage wäre, die Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und sich an die für die Behandlung erforderlichen Rahmenbedingungen zu halten. Als die Patientin einige Wochen später auf eigenen Wunsch erneut zur Behandlung aufgenommen wurde, setzte sich das Ringen um den Rahmen noch einige Zeit fort. Dabei zeigte sie sich einigermaßen erfinderisch darin, sicherzustellen, morgens rechtzeitig wach zu werden und Vereinbarungen einzuhalten. Mehr und mehr war sie schließlich in der Lage, selbst ihre Neigung zu erkennen, sich auf ihre Störung zu berufen, wenn sie Vereinbarungen nicht einhielt, und die Therapie konnte unter Geltung unmissverständlicher Rahmenbedingungen effektiv fortgeführt werden. Zu einem Katamnesegespräch zehn Monate nach der Therapie kam sie in gepflegtem Zustand, wirkte aufmerksam und schien interessiert an ihrer Umgebung. Sie hatte sich von ihrem drogenabhängigen Freund getrennt, war aus der Wohnung der Mutter ausgezogen, hatte einen Ausbildungsplatz in Aussicht, hatte zwischenzeitlich einen Billigjob angenommen, weil sie nicht von Sozialhilfe leben wollte, und war einigermaßen stolz darauf, was sie geschafft hatte. Merke: Mit einigen Patienten kann es schwierig sein, verbindliche Rahmenbedingungen zu verabreden, etwa dann, wenn sie darin eine Einschränkung ihrer Autonomie sehen. In diesem Fall kann sich der Prozess des Verhandelns über Rahmenbedingungen über längere Zeit hinziehen und manchmal sogar den wichtigsten Teil der Behandlung ausmachen.

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

Die Haltung des Therapeuten Haltung meint die Art und Weise, wie der Therapeut seine Rolle in der Behandlung wahrnimmt und mit welcher Einstellung er seinem Patienten bei der therapeutischen Arbeit gegenübertritt. Bei der psychoanalytisch-interaktionellen Arbeitsweise ist der Therapeut auf interpersonellen Austausch eingestellt. Er nimmt an dem therapeutischen Geschehen als eine für den Patienten erreichbare andere Person im Gegenüber teil. Seine Aufmerksamkeit gilt vornehmlich interpersonellem Geschehen, dem Erleben und der Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen oder – mit anderen Worten  – dem Selbst des Patienten in dem jeweiligen sozialen Kontext. Auch wenn das nicht heißt, dass der unbewusste seelische Hintergrund von Äußerungen und Verhaltensweisen des Patienten unbeachtet bleibt, so richten sich die therapeutischen Bemühungen jedoch nicht vorrangig auf bewusstes und unbewusstes Erleben des Patienten. Vorrangig bezieht sich die therapeutische Arbeit vielmehr bis auf Weiteres darauf, wie der Patient mit seinem sprachlichen und nichtprachlichen Verhalten an interpersonellen Situationen teilnimmt, wie und mit welchen Mitteln er dazu beiträgt, das Zusammensein mit anderen einschließlich der therapeutischen Beziehung zu gestalten. Das aber erschließt sich nicht aus dem individuellen Erleben des Patienten. Der Patient wird somit in erster Linie im Hinblick auf seine soziale Lebenswelt und auf Aspekte des Selbst und der Selbstregulierung im Kontext seiner sozialen Lebenswelt angesprochen, auf den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, an denen er teilhat und die er mit seinem Verhalten im Zusammensein mit anderen immer selbst mitgestaltet. Die gemeinsame Aufmerksamkeit von Therapeut und Patient kreist – mit anderen Worten – vor allem darum, welche Implikationen das Verhalten des Patienten in interpersonellen Situationen für seine Beziehungen hat und wie sein Verhalten im Kontext des Verhaltens von anderen das jeweilige Miteinander mitprägt. Dabei trägt der Therapeut mit seiner Haltung dem Umstand Rechnung, dass auch er selbst mit seinem eigenen Verhalten mit hervorbringt, was zwischen dem Patienten und ihm in der Therapie geschieht. Somit wird die therapeutische Beziehung vorrangig in den Dienst des Bemühens gestellt, dem Patienten interpersonelles Geschehen durchschaubar zu machen und zu Mitteln und Wegen zu verhel-

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Die Haltung des Therapeuten91

fen, reziproke zwischenmenschliche Beziehungen mitzugestalten. Dabei beteiligt sich der Therapeut erkennbar aktiv und manchmal auch initiativ an dem interaktiven Geschehen im Behandlungszimmer. Er bietet sich dem Patienten in der Haltung einer erreichbaren anderen Person an, als aufmerksames, zugewandtes Gegenüber und macht sich als Mitspieler am gegenwärtigen interpersonellen Geschehen im Behandlungszimmer kenntlich. Auch wenn er für den unbewussten, nicht sagbaren Sinn der Mitteilungen des Patienten aufmerksam ist, steht an erster Stelle die manifeste, Beziehungen konstituierende Funktion des sicht- und hörbaren Verhaltens des Patienten. Im Unterschied zu der zurückgenommenen Haltung des Psychoanalytikers, der darauf eingestellt ist, unbewusste Bedeutungen, die er hinter dem manifest Gesagten vermutet, zur Sprache zu bringen, nimmt der Therapeut bei der psychoanalytisch-interaktionellen Arbeit eine Haltung ein, die auf Interaktion und Austausch im Miteinander ausgerichtet ist. Das schließt die Art und Weise ein, wie er selbst, der Therapeut, sich mit seinem Verhalten zu dem Patienten ins Verhältnis setzt und gemeinsam mit dem Patienten ihre Beziehung im Prozess des therapeutischen Geschehens fortlaufend und von Moment zu Moment hervorbringt. Wenn der Psychotherapeut sich dem Patienten in dieser Weise als Gegenüber, als eigenständige andere Person zeigt, dann heißt das nicht, dass er eigenes Erleben und eigene Handlungsbereitschaften beliebig zum Ausdruck bringt. Im Gegenteil tut er das immer nur insoweit, wie er damit dazu beitragen kann, dass dem Patienten Aspekte seiner Erfahrungen im Zusammensein mit anderen erkennbarer und durchschaubarer werden können. Wenn der Therapeut etwas von seinem eigenen Erleben, das sich auf das Zusammensein mit dem Patienten bezieht, erkennen lässt, dann geschieht das durchweg authentisch, in Übereinstimmung mit seinem tatsächlichen momentanen Erleben. Nur unter der Voraussetzung solcher Authentizität können dem Patienten interpersonelles Geschehen und seine manchmal von endlosen Wiederholungen – manchmal auch von Retraumatisierungen – geprägte soziale Lebenswelt durchschaubarer werden. Authentisch wird Verhalten im sozialen Alltag meist dann genannt, wenn das Verhalten wahrhaftig ist; das meint indessen nicht, dass die Innenwelt beliebig oder gar unbegrenzt offengelegt wird. Immer wird dabei die soziale Situation in Rechnung gestellt. So meint authentisches Verhalten des Therapeuten auch in diesem Zusammenhang wahrhafti-

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

ges Verhalten und wahrhaftiger Ausdruck eigenen Erlebens, eigener Handlungsbereitschaften und eigener Gefühle – ebenfalls immer mit Blick auf die aktuelle interpersonelle Situation und somit nur innerhalb dieser und nur insofern, wie das jeweilige Beziehungsgeschehen für den Patienten dadurch transparenter und verstehbarer und davon eine entwicklungsförderliche Wirkung erwartet werden kann. Der Therapeut äußert sich somit nicht zuerst und nicht vorrangig über den Patienten, sondern spricht – selektiv – von sich selbst, von eigenen Wahrnehmungen und eigenen Gefühlen in »Antwort« auf den Patienten. Das hat eine andere beziehungskonstituierende Funktion, als wenn er sich über den Patienten äußert. Wenn er den Patienten etwas davon erkennen lässt, welche Gefühle oder Handlungsbereitschaften sich bei ihm angesichts des Verhaltens seines Gegenübers einstellen, dann fordert er den Patienten damit implizit nicht zur Selbstreflexion auf und lenkt die Aufmerksamkeit des Patienten nicht vorrangig auf die eigene Person und auf das eigene psychische Erleben, sondern zeigt gleichsam auf sich selbst und auf Aspekte des mit dem Patienten gemeinsam konstituierten Beziehungsgeschehens hin. Er regt den Patienten auf diese Weise dazu an, auf sein momentanes Gegenüber – hier auf den Therapeuten – hinzusehen. Damit nimmt er dem Patienten gegenüber immer auch die Rolle eines Interaktionspartners ein. Statt als neutraler oder technisch neutraler Experte an dem therapeutischen Geschehen teilzunehmen, zeigt er sich als eigenständig erlebender Mitspieler in einem Beziehungsgeschehen, das von beiden gemeinsam gestaltet wird. Angesichts der oftmals heftigen und imperativen Affekte von Patienten mit Störungen der Persönlichkeitsentwicklung und angesichts der oft nicht weniger heftigen Gefühle des Psychotherapeuten oder seiner Gegenübertragungsgefühle kann es besonders schwierig sein, dem Patienten gegenüber eine grundlegend akzeptierende Einstellung aufrechtzuerhalten. Die Gefühle des Therapeuten können manchmal ähnlich archaisch sein wie die des Patienten; darum kann der Therapeut versucht sein, seine Gefühle – manchmal theoretisch rationalisiert – damit abzuwehren, dass er sie ausschließlich dem Patienten zuschreibt, der diese Gefühle vermeintlich nur in ihn verlagert oder in ihn projiziert. Nicht selten »passen« die Gegenübertragungsgefühle des Therapeuten zu den vernachlässigenden, von Gewalt geprägten oder ausbeuterischen Beziehungserfahrungen, die die Entwicklung des

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Die Haltung des Therapeuten93

Patienten bestimmt haben. Manchmal kommt dem Therapeuten in dem interpersonellen Geschehen, das sich in der therapeutischen Beziehung ausbreitet, die Funktion des Repräsentanten eines abgespaltenen Selbstanteils des Patienten zu. Dann wieder repräsentiert der Therapeut eine andere Person oder umschriebene Teilaspekte einer anderen Person, mit der die Beziehungserfahrungen des Patienten in der Vergangenheit verbunden waren. So können die Gegenübertragungsgefühle bzw. die in der Interaktion mit dem Patienten aktualisierten Affekte und Verhaltensbereitschaften zum Verständnis der vielfältigen Schwierigkeiten und der oftmals heftigen Verstrickungen beitragen, die die interpersonellen Beziehungen im sozialen Alltag des Patienten immer wieder zum Scheitern bringen und seine alltägliche soziale Lebenswelt so problembeladen machen. Um eine Haltung grundlegender emotionaler Akzeptanz aufrechterhalten zu können, kann es hilfreich sein, wenn der Therapeut sich vor Augen führt, dass das Verhalten des Patienten meist aus äußerst belastenden, oft leidvollen und manchmal chronisch deprivierten Lebensumständen seiner Vergangenheit hervorgegangen ist und Versuche widerspiegelt, mit unzuträglichen Bedingungen fertigzuwerden, trotz schwierigster Verhältnisse sein psychisches und unter Umständen sogar sein physisches Überleben sicherzustellen. Sich das immer wieder klarzumachen mag es dem Therapeuten erleichtern, dem Patienten mit der gebührenden Achtung zu begegnen und seinen Respekt auch dann aufrechtzuerhalten, wenn die gemeinsame therapeutische Arbeit hochgradig belastet ist. Grundlegend emotional akzeptierend zu sein, bedeutet nicht, Rahmenbedingungen aufzuweichen. Unabhängig davon, wie verständlich das Verhalten des Patienten ist und wie grundlegend emotional akzeptierend der Therapeut sich verhält, muss er seine Verantwortung für die Aufrechterhaltung des Rahmens wahrnehmen und das heißt meist immer wieder: klar und unmissverständlich und unter Umständen auch entschieden und nachdrücklich Grenzen zu setzen, falls der Patient den Rahmen außer Kraft zu setzen versucht. Dazu muss der Therapeut manchmal seine ganze Autorität geltend machen. Merke: Der Therapeut bietet sich dem Patienten als jederzeit präsente, reale, erreichbare Person in einer Haltung an, die mehr auf den manifesten Sinn der Äußerungen des Patienten und seines Ver-

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haltens eingestellt ist als auf etwaige dahinter verborgene unbewusste Bedeutungen. Auch wenn sich der Therapeut dem Patienten als andere Person »in ihrem eigenen Recht« zeigt, muss für den Patienten immer erkennbar sein, dass der Therapeut ihn grundlegend akzeptiert und respektiert.

Beziehungsstörungen im therapeutischen Gespräch Vorrangiges Ziel einer psychoanalytisch-interaktionell geführten Behandlung ist, dem Patienten zu ermöglichen, in befriedigenderer Weise am sozialen Alltagsleben teilzunehmen und verlässliche, auf Wechselseitigkeit gründende, zwischenmenschliche Beziehungen zu gestalten und mitzugestalten. Die Teilnahme am sozialen Leben verlangt Fähigkeiten, sich mit seinem Verhalten auf sein jeweiliges Gegenüber beziehen und dabei sich selbst ausreichend regulieren zu können. Wenn der Patient dazu in der Lage ist, seine Beziehungen zu anderen in befriedigender Weise zu gestalten, entwickeln sich in der Folge auch psychische Funktionen, die bis dahin aufgrund von strukturellen Beeinträchtigungen nur eingeschränkt verfügbar waren. Die therapeutische Arbeit gilt somit nicht zuerst dem individuellen – unbewussten und bewussten – seelischen Hintergrund unter der Annahme, dass nur dann, wenn unbewusstes Erleben dem Patienten zugänglich geworden ist, sich auch sein Verhalten im Zusammensein mit anderen verändern kann; die therapeutische Arbeit richtet sich vielmehr auf die interpersonellen Beeinträchtigungen, weil dann, wenn sich die interpersonellen Beziehungen verbessern, der Patient sich in der Folge auch psychisch stabilisiert. Selbstregulative Funktionen haben – unter Entwicklungsgesichtspunkten betrachtet – ihren Ursprung in interpersonellen Beziehungen. Auch noch bei Erwachsenen entwickeln sich – unterstützt durch gute interpersonelle Beziehungen – selbstregulative Funktionen weiter, so wie umgekehrt die Fähigkeit, reziproke interpersonelle Beziehungen zu gestalten und Interaktion zu regulieren, sich verbessern kann, wenn bislang nicht verfügbare psychische Funktionen entwickelt werden. Wenn sich psychische, primär der Selbstregulierung dienende Funktionen verbessern, gewährleistet das alleine jedoch noch nicht,

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Beziehungsstörungen im therapeutischen Gespräch95

dass auch das Zusammensein mit anderen befriedigender gestaltet werden kann. Die kompetente Teilnahme am sozialen Alltagsleben wird nicht durch selbstregulative psychische Funktionen gesichert, sondern verlangt Fähigkeiten, die erst in Zwei- oder Mehr-Personen-Situationen aktualisiert werden, beispielsweise die Fähigkeit, das Gegenüber als eigenständige andere Person wahrzunehmen und sowohl eigenes wie das Verhalten anderer Personen in seinem jeweiligen Kontext zu lesen. Das wiederum schließt die Fähigkeit ein, Wirkungen des eigenen beabsichtigten wie tatsächlichen Verhaltens antizipieren zu können. Keine dieser Kompetenzen lässt sich ausschließlich auf selbstregulative psychische Funktionen zurückführen. Das implizite Beziehungswissen, über das Patienten mit Störungen der Persönlichkeitsentwicklung verfügen und das sie in Interaktion mit anderen aktualisieren wird und das ihr interaktives Verhalten bestimmt, erschwert oder verhindert zwischenmenschliche Beziehungen, die auf Wechselseitigkeit und wechselseitiger Anerkennung gründen. Um an reziproken interpersonellen Beziehungen teilzunehmen, muss der Patient andere Personen in ihrer Individualität wahrnehmen und behandeln können. Das kann nicht gelingen, wenn die andere Person für Zwecke der Selbstregulierung benötigt wird. Weiterhin muss der Patient möglichst realistisch erkennen und antizipieren können, wie sein eigenes tatsächliches oder beabsichtigtes Verhalten auf die andere Person oder die anderen Personen wirkt oder vermutlich wirken wird, was wiederum voraussetzt, dass die andere Person als andere Person und nicht wie ein Selbstobjekt erlebt wird. Der Patient muss in der Lage sein, Beziehungen zu wichtigen anderen Personen auch bei deren Abwesenheit und auch dann aufrechtzuerhalten, wenn die andere Person sich nicht in Übereinstimmung mit eigenen Erwartungen und Bedürfnissen verhält. Außerdem muss das Verhalten der anderen Personen auch im Kontext des eigenen Verhaltens gelesen werden können, wie umgekehrt der Patient wissen muss, dass das eigene Verhalten immer in den Kontext des Verhaltens der anderen eingebettet ist. Schließlich muss der Patient sein Verhalten auf jeweilige situative Umstände abstimmen können. In Ergänzung zu den initialen diagnostischen Gesprächen mit dem Patienten stehen für die diagnostische Untersuchung der Beziehungen und des Beziehungserlebens standardisierte Untersuchungs-

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verfahren, die die Anamnese ergänzen können, zur Verfügung. Hat sich herausgestellt, dass bei einem Patienten eine strukturelle Störung oder schwere Persönlichkeitsstörung vorliegt, was in der Regel auch bedeutet, dass die Persönlichkeitsstruktur nur gering oder mäßig integriert ist, ist eine Therapie nach der psychoanalytisch-interaktionellen Methode indiziert. Hat der Therapeut sich im Zuge der Diagnostik ein Bild davon gemacht, wie und mit welchen Mitteln der Patient an zwischenmenschlichen Beziehungen teilnimmt, werden die Beeinträchtigungen, die sich in der sozialen Lebenswelt des Patienten manifestieren, zum Schwerpunkt der therapeutischen Arbeit gemacht. Die Aufmerksamkeit des Therapeuten richtet sich vorrangig auf die Erfahrungen des Patienten mit interpersonellen Beziehungen, die in seinen Mitteilungen und Erzählungen zum Ausdruck kommen, und auf die Art und Weise, wie der Patient sich selbst in den jeweiligen sozialen Kontexten reguliert; vor allem aber richtet sich seine Aufmerksamkeit auch darauf, wie der Patient die therapeutische Beziehung gestaltet und mitgestaltet und wie er sich in Interaktion mit dem Therapeuten verhält und sich selbst reguliert. Das implizite Beziehungswissen des Patienten und die Art und Weise, wie er in seiner sozialen Lebenswelt verankert ist, stellt sich in der therapeutischen Situation somit darin dar, ȤȤ wie der Patient über interpersonelle Situationen und Beziehungen berichtet und ȤȤ wie er die therapeutische Beziehung mitgestaltet und sich zum Therapeuten ins Verhältnis setzt. Wenn der Patient über seine soziale Lebenswelt spricht, bezieht er sich ȤȤ auf interpersonelle Situationen, die er von außen beobachtet oder von denen er auf andere Weise erfahren hat, ohne selbst an der Situation teilgenommen zu haben oder ȤȤ auf interpersonelle Situationen, in die er selbst involviert war. Wenn der Patient in der Behandlung über Beziehungen spricht, an denen er selbst nicht unmittelbar beteiligt war, sondern die er nur von außen beobachtet oder von denen er nur auf andere Weise erfahren hat, können sich für ihn wichtige Aspekte seines Erlebens von zwischenmenschlichen Verhältnissen darin zeigen, wie er die

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Interaktion von anderen beschreibt und beurteilt, beispielsweise bestimmte Verhaltensweisen von anderen Personen im Kontakt miteinander, die er beobachtet hat. Dabei kann es sich auch um Szenen handeln, die der Patient im Fernsehen gesehen oder von denen er nur gelesen hat. Anders als neurotische Patienten drücken Patienten mit gravierenden strukturellen Störungen in derartigen Schilderungen nicht nur ihr Erleben, ihre Fantasien und Vorstellungen aus, die sie von der äußeren Wirklichkeit ausreichend sicher zu unterscheiden wissen, sondern zeigen damit etwas von ihrer sozialen Welt. Spricht der Patient von Situationen, an denen er selbst als Akteur beteiligt war, zeigen sich zentrale Seiten seiner Einstellungen und Handlungsbereitschaften im Zusammenhang mit interpersonellen Verhältnissen darin, wie und mit welchen Mitteln er sich anderen Personen gegenüber verhalten hat oder zu verhalten beabsichtigt und wie er wahrgenommen und erlebt hat, dass andere Personen sich ihm gegenüber verhalten haben. Bei Patienten mit schweren strukturellen Störungen ist üblicherweise nicht zu erwarten, dass sie das in Worten mitteilen; vielmehr zeigt sich ihr Beziehungswissen darin, wie sie das Verhalten der beteiligten Akteure im Verhältnis zueinander schildern. Noch unverstellter zeigt sich, wie der Patient zwischenmenschliche Beziehung gestaltet und welche Mittel ihm zur Verfügung stehen, um sich selbst zu regulieren und an der sozialen Lebenswelt teilzunehmen, darin, wie er sich in der therapeutischen Beziehung verhält und wie Patient und Therapeut sich miteinander ins Verhältnis setzen. Hier, in der therapeutischen Beziehung, entfalten sich die Möglichkeiten des Patienten, sich in interpersonellen Verhältnissen zu bewegen, gleichsam vor den Augen und Ohren nicht nur des Therapeuten, sondern auch des Patienten selbst, im Kontext ihres wechselseitigen Verhaltens. Auch hier kommt das implizite Beziehungswissen nicht in erster Linie in der symbolischen Bedeutung dessen zum Ausdruck, was der Patient mit Worten schildert, sondern zeigt sich im Verhalten des Patienten im Verhältnis zum Therapeuten, in therapeutischen Gruppen im Verhältnis zu den Anwesenden in der Gruppe. An den Schilderungen von Beziehungen und an dem Verhalten des Patienten im Kontext des Verhaltens des Therapeuten im Behandlungszimmer stellt sich somit dar, welche Mittel und Wege

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dem Patienten offen stehen oder verschlossen sind, um das Zusammensein mit anderen zu gestalten. Merke: Im Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit stehen die soziale Lebenswelt des Patienten und seine Probleme im Zusammensein mit anderen. Die Schwierigkeiten des Patienten in interpersonellen Beziehungen kommen im Behandlungszimmer darin zum Ausdruck, was und wie der Patient über soziale Situationen, an denen er entweder selbst beteiligt war oder die er nur beobachtet hat, berichtet, und darin, wie er sich in der therapeutischen Situation verhält und gemeinsam mit dem Therapeuten die therapeutische Beziehung gestaltet.

Zur Manifestation struktureller Beeinträchtigungen im therapeutischen Gespräch Wie zeigen sich strukturelle Beeinträchtigungen, die die Teilnahme des Patienten am sozialen Leben erschweren, in der therapeutischen Situation? Die folgenden Hinweise, die die Aufmerksamkeit des Psychotherapeuten für Manifestationen struktureller Beeinträchtigungen in der Interaktion zwischen dem Patienten und ihm lenken, sind als diagnostische Fragen formuliert, gleichsam wie Fragen, die der Therapeut sich selbst im Gespräch mit seinem Patienten vorlegen kann – anfangs bewusst und gezielt, mit zunehmender Erfahrung wie nebenher. Die verschiedenen Aspekte, die mit den Fragen angesprochen sind, beziehen sich auf die Art und Weise, wie der Patient Beziehungen erlebt und gestaltet; wie er sich selbst in interpersonellen Situationen wahrnimmt und reguliert; auf die Fähigkeit des Patienten, die Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere zu antizipieren und das Verhalten von anderen im Kontext seines eigenen Verhaltens zu lesen; auf seine psychische und interpersonelle Abwehr; auf seine Möglichkeiten, Affekte und Impulse im Kontext der jeweiligen Beziehungen zu steuern, Befriedigung aufzuschieben und Frustrationen zu tolerieren; auf die Fähigkeit des Patienten zur Regressionssteuerung im Zusammensein mit anderen und auf Gewissensmanifestationen und Idealansprüche.

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Zum Erleben von Beziehungen (Objektbeziehungen) ȤȤ Wie ist der Patient mit anderen Personen verbunden? Zieht er sich zum Beispiel von anderen Menschen immer wieder zurück (autistischer Rückzug), haben die Beziehungen überwiegend narzisstische oder symbiotische Qualitäten oder handelt es sich um Beziehungen, die von Wechselseitigkeit und Empathie bestimmt sind? ȤȤ Kann der Patient andere Menschen als eigenständige Personen wahrnehmen oder sind andere für ihn eher wie Extensionen des Selbst, die ganz überwiegend selbstregulativen Funktionen dienen? ȤȤ Wie, mit welchen Mitteln und wie flexibel kann der Patient sich in zwischenmenschlichen Beziehungen bewegen und wie autonom kann er die Interaktion mit seinem Gegenüber regulieren bzw. in welchem Maße verhält er sich in interpersonellen Beziehungen passiv und lässt das Geschehen nur über sich ergehen? ȤȤ Wie genau und wie vielfältig vermag der Patient andere Personen wahrzunehmen? Ist er in der Lage, das Verhalten anderer Personen aus deren je eigener psychischer und sozialer Situation heraus und vor dem Hintergrund der jeweiligen sozialen Rollen zu sehen und zu verstehen? Die Art und Weise, wie der Patient Beziehungen zu anderen wahrnimmt und erlebt, zeichnet sich im therapeutischen Gespräch unter anderem darin ab, wie der Patient zwischenmenschliche Beziehungen schildert. Der Therapeut sollte seine Aufmerksamkeit darauf richten, wie der Patient sich mit seinen Mitmenschen verbunden fühlt, ob er Beziehungen überwiegend als dyadische oder pseudodyadische Beziehungen erlebt, ob seine Beziehungen von Wechselseitigkeit bestimmt sind, ob der Patient sich in andere Menschen einfühlen kann, wie er mit Nähe und Distanz umgeht, welche Bedeutung Autonomie, Abhängigkeit, Dominanz oder Unterwerfung in den jeweiligen Beziehungen haben, wie er eigene Bedürfnisse und Wünsche zur Geltung zu bringen und die anderer zu erkennen und zu respektieren vermag, ob Verbundenheit mit wichtigen anderen auch unter schwierigen Umständen aufrechterhalten werden kann oder ob der Patient sich von anderen Menschen habituell zurückzieht. Weiter sollte der Therapeut versuchen zu erkennen, ob der Patient andere Personen in ihrer Eigenständigkeit wahrnehmen kann, inwie-

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weit er von anderen Personen abhängig ist, um selbstregulative Funktionen aufrechterhalten zu können, ob er andere beispielsweise ganz überwiegend für die Sicherung seines Selbstwertgefühls benötigt, ob Beziehungen narzisstische oder symbiotische Merkmale aufweisen oder ob die andere Person als unabhängige andere Person erlebt werden kann. Auch anhand des Verhaltens des Patienten in der therapeutischen Beziehung kann der Therapeut Fähigkeiten, am Zusammensein mit anderen teilzunehmen und Beziehungen zu gestalten, erkennen und untersuchen. Hier zeigt sich das implizite Beziehungswissen des Patienten nicht nur in symbolischer Form in Erzählungen, sondern unmittelbar im Vollzug der interpersonellen Interaktion im Behandlungszimmer. Beispiele: Wenn ein Patient berichtet, dass er sich von anderen Menschen immer wieder unverstanden fühlt, kann das ein Hinweis darauf sein, dass andere Menschen nicht aus ihrer eigenen Realität heraus wahrgenommen werden, sondern in erster Linie im Hinblick darauf, welche Funktionen sie für die Selbstregulierung haben. Ein genaueres Bild davon, wie vertraut oder unvertraut und fremd dem Patienten andere Menschen sind, kann der Therapeut sich anhand der Art und Weise machen, wie der Patient andere Menschen schildert und wie er deren Verhalten versteht. Zu diesem Zweck kann der Therapeut den Patienten beispielsweise bitten, ihm ein Bild von dieser oder jener Person zu vermitteln. In den Schilderungen bildet sich dann meist ab, ob der Patient andere Personen als unabhängig und eigenständig wahrnimmt oder aber wenig in der Lage ist, andere Personen als eigenständige andere zu erkennen. Manche Patienten haben so gut wie keine Kontakte, weder zu Arbeitskollegen noch zu Nachbarn oder Verwandten. Es kann sein, dass der Patient vor jeder emotionalen Beziehung zurückschreckt und deshalb von vornherein dafür sorgt, dass es nicht zu größerer Nähe kommt, wenn es einmal zu näheren Kontakten kommen könnte. Ein Patient, der von sich aus große soziale Distanz einhält, wird wegen dieses Verhaltens nicht zur Behandlung kommen. Viele Patienten mit strukturellen Störungen leben aber sozial relativ isoliert, obwohl sie

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sich nähere Kontakte wünschen, die aber gleichwohl nicht zustande kommen. Wenn ein Patient immer wieder Begebenheiten schildert, die erkennen lassen, dass er Streitigkeiten vom Zaun bricht oder andere destruktive Verhaltensweisen zeigt, wenn es zu Annäherungen an andere Personen auf eine Weise kommt, die zur Folge hat, dass jede nähere Beziehung rasch zunichtegemacht wird, ist es oft hilfreich, wenn der Psychotherapeut den Patienten auffordert, solche Ereignisse möglichst genau wiederzugeben. Daran wird eventuell zu erkennen sein, wie der Patient durch sein eigenes Verhalten dafür sorgt, dass sich die andere Person zurückzieht, worin manche Patienten dann wiederum eine Bestätigung für die Unzuträglichkeit des Verhaltens anderer sehen. Wenn die Schilderungen Hinweise darauf erkennen lassen, dass der Patient sich an andere Menschen anklammert und nur schwer ertragen kann, von anderen getrennt zu sein, sollte der Psychotherapeut im weiteren Gespräch mit dem Patienten klären, ob der Patient sich generell auf die physische Anwesenheit anderer Personen angewiesen fühlt oder ob sich das lediglich auf eine oder wenige andere Personen bezieht, der Patient sich ansonsten aber von anderen unabhängig fühlen kann. Besteht im Gespräch mit dem Patienten der Verdacht, dass Gefühle, Meinungen und Beweggründe anderer Menschen kaum von deren eigenem Standpunkt aus nachvollzogen werden können oder der Patient davon ausgeht, dass andere Menschen so wie er selbst erleben, lassen sich dafür weitere Anhaltspunkte gewinnen, indem der Therapeut beispielsweise danach fragt, welche Gefühle die Person oder die Personen, von denen der Patient gerade spreche, seiner Meinung nach gehabt haben könnten, als sie sich so verhalten hätten, wie der Patient das berichtet habe, aus welchen Beweggründen die anderen Personen das möglicherweise getan hätten und wie sie seiner Vermutung nach denken könnten. Wenn der Patient wiederholt dysphorisch wird, sich wertlos fühlt, sich nicht leiden kann oder in noch weiter reichende psychische und Selbstwertkrisen gerät, wenn er sich durch den Therapeuten nicht ausreichend gesehen und bestätigt fühlt, legt sich der Verdacht nahe, dass der Patient den Therapeuten und dessen Bestätigung für seine Selbstwertregulierung braucht.

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Stabilität von Beziehungen (Beziehungskonstanz, Objektkonstanz) ȤȤ Kann der Patient die Beziehungen zu Menschen, die für ihn wichtig sind, auch dann aufrechterhalten, wenn die andere Person nicht anwesend ist, sich nicht in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen des Patienten verhält oder wenn es zu Meinungsverschiedenheiten und Konflikten kommt? ȤȤ Ist der Patient in der Lage, im Verhältnis zu für ihn wichtigen anderen Menschen auch Frustration, Konflikte und Angst auszuhalten, ohne sich von der anderen Person deshalb dauerhaft zurückziehen zu müssen? Die Stabilität der interpersonellen Beziehungen des Patienten zeigt sich darin, ob er in der Lage ist, die Abwesenheit für ihn wichtiger anderer Menschen zu ertragen und Frustration und Angst auszuhalten, die in der Beziehung zur anderen Person erlebt werden, ohne die andere Person innerlich fallenlassen oder auslöschen zu müssen und ohne dass sich die zuvor guten Eigenschaften der anderen Person in ihr Gegenteil verkehren. In der Psychoanalyse wird diese Fähigkeit Objektkonstanz genannt. Beispiele: Wenn ein Patient schildert, wie eine Person, die ihm bis dahin wichtig war, nicht mehr zu existieren und keine Bedeutung mehr zu haben scheint, schon kurze Zeit, nachdem diese Person nicht mehr physisch anwesend ist, sollte der Psychotherapeut im Gespräch versuchen, weitere Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, inwieweit der Patient in der Lage ist, Beziehungen zu anderen Menschen auch dann aufrechtzuerhalten, wenn diese anderen Personen sich nicht so verhalten, wie der Patient sich das wünscht oder zu brauchen meint. Das kann sich auch darin zeigen, dass der Patient sich fast unmerklich, undramatisch und blande von einer Person zurückzieht, die ihm bis dahin wichtig gewesen ist, nachdem diese Person sich anders verhalten hat, als von dem Patienten gewünscht oder erhofft. Wenn ein Patient große Mühe hat, die Beziehung zum Therapeuten innerlich wie nach außen hin aufrechtzuerhalten, wenn dieser einmal länger als üblich abwesend ist, liegt der Verdacht nahe, dass die

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Zur Manifestation struktureller Beeinträchtigungen103

Fähigkeit zur Objektkonstanz eingeschränkt ist. Sowohl dann, wenn ein Patient unter diesen Umständen unangemessen dramatisch und unangepasst reagiert, wie auch dann, wenn ein Patient auf Trennungen oder vorübergehende Trennungen immer wieder mit diffusem und körperlichem Missbehagen reagiert, sollte der Therapeut sich fragen, ob es weitere Hinweise auf mangelnde Objektkonstanz gibt. Unter Umständen zeigt ein Patient entsprechende Reaktionen bereits bei einem Mangel an Übereinstimmung mit dem Therapeuten. Wenn ein Patient sich von einer anderen Person nicht ausreichend geliebt oder sich gekränkt fühlt, kann es zu unmerklichen, blanden, aber auch zu dramatischen Reaktionen kommen. Manche Patienten erleben auch den Verlust einer anderen Person dauerhaft als Katastrophe. Wenn der Therapeut im Gespräch mit dem Patienten den Verdacht hat, dass der Patient Trennungsangst niemals bewusst erlebt, sollte er bei entsprechender Gelegenheit im Gespräch mit dem Patienten der Frage nachgehen, wie der Patient sich generell mit anderen Menschen verbunden fühlt und wie stabil andere Menschen gleichsam in ihm verankert sind.

Selbstwahrnehmung und Selbstregulierung in interpersonellen Beziehungen ȤȤ Kann der Patient Fantasien, Impulse, eigene Wünsche, innere Verbote u. a. wahrnehmen, während er mit anderen Menschen zusammen ist? ȤȤ Kann er im Zusammensein mit anderen für sein eigenes Verhalten aufmerksam sein und gleichsam auf sich selbst blicken, mit anderen Worten: selbstreflexiv sein? Ist er in der Lage, sein eigenes Beteiligtsein zu erkennen und zu reflektieren, wie das Zusammensein mit anderen verläuft, und sein Verhalten daraufhin gegebenenfalls zu verändern? ȤȤ Ist der Patient sich im Kontakt mit anderen seiner Eigenständigkeit sicher und verfügt so weit über ein stabiles Selbstbewusstsein und über ein stabiles Körperschema, dass er dafür nicht die fortlaufende Bestätigung durch andere benötigt? ȤȤ Kann der Patient sein Selbstwertgefühl auch mit eigenen Mitteln

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regulieren, ohne dafür unbedingt nach der Bestätigung durch andere Personen suchen zu müssen? ȤȤ Kann der Patient akzeptieren und ertragen, von anderen Menschen vorübergehend abhängig zu sein und sich abhängig zu fühlen? ȤȤ Wie sicher und flexibel kann der Patient Grenzen zwischen sich und anderen aufrechterhalten, deren Durchlässigkeit aber auch nach Bedarf vorübergehend erhöhen? Der Therapeut sollte die Schilderungen und das Verhalten des Patienten daraufhin befragen, wie sicher der Patient sich seiner selbst und seiner Individualität ist, ob er in der Lage ist, für sein eigenes Erleben aufmerksam zu sein, während er mit anderen zusammen ist, wie er sein Selbsterleben und insbesondere sein Selbstwertgefühl reguliert und ob er über ein ausreichend stabiles Selbstbewusstsein und ein stabiles Körperschema verfügt. Zudem kann der Therapeut aus den Mitteilungen des Patienten und seinem Verhalten und Erleben in der therapeutischen Situation darauf schließen, wie stabil der Patient Grenzen zwischen sich und der anderen Person bzw. der äußeren Realität ziehen und aufrechterhalten kann. Beispiele: Wenn sich im therapeutischen Gespräch der Eindruck verdichtet, dass dem Patienten im Zusammensein mit anderen eigenes psychisches Erleben kaum zugänglich ist und Gefühle, eigene Bedürfnisse, Wünsche oder auch Belastbarkeitsgrenzen nicht oder nur grob und wenig differenziert wahrgenommen werden können, sollte der Therapeut im Weiteren dafür aufmerksam bleiben oder auch durch entsprechende Nachfragen zu klären versuchen, ob es dem Patienten generell schwer fällt, seine innere Befindlichkeit und sein Erleben zu bemerken, während er mit anderen zusammen ist. Es kann aber auch sein, dass es dem Patienten nur ganz bestimmten Personen gegenüber oder in besonderen Situationen so ergeht. Wenn ein Patient sich immer wieder weitgehend nutz- und wertlos fühlt oder aber toll und grandios, ohne dass das mit realen Misserfolgen oder Erfolgen oder anderen guten oder schlechten Erfahrungen zusammenhängt, kann das ein Hinweis darauf sein, dass der Patient nicht in der Lage ist, sein Selbstwertgefühl halbwegs stabil zu regulieren. Um

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das weiter abzuklären, kann es hilfreich sein, wenn der Therapeut im Gespräch in Erfahrung zu bringen versucht, in welcher Weise es sich auf die Selbstregulierung des Patienten auswirkt, wie andere Personen ihn einschätzen und beurteilen. Bei Patienten mit strukturellen Störungen haben die Urteile anderer Personen oftmals so gut wie keine unterstützende Wirkung im Hinblick auf die Entwicklung eines stabilen und realistischen Gefühls für die eigene Person. Dass ein Patient generell und nicht nur in umschriebenen oder Extremsituationen kein sicheres Gefühl dafür hat, wie er selbst eigentlich ist, wird allerdings meist erst im Verlauf längerer therapeutischer Arbeit deutlich. Das unsichere Identitätsgefühl zeigt sich oft mehr zwischen den Zeilen der Äußerungen des Patienten, als dass der Patient es explizit zum Ausdruck bringt. Der Umstand, dass einem Patienten äußere Gratifikationen wie soziales Ansehen, Geld, Erfolg oder sexuelle Attraktivität wichtig sind, ist noch kein ausreichend verlässlicher Hinweis auf eine narzisstische Problematik dieses Patienten. Wenn der Therapeut bemerkt, dass er solche Zusammenhänge gleichwohl herstellt, sollte er sich zuerst fragen, inwieweit seine Auffassung auf ein Gegenübertragungsproblem hinweist und beispielsweise Ausdruck abgewehrten Neides ist. Auf eine schwerwiegendere Beeinträchtigung der Selbstwertregulation weist das nur dann hin, wenn der Patient die äußeren Gratifikationen unbedingt braucht, um sich ausreichend wertvoll zu fühlen und sich umgekehrt dauerhaft wertlos fühlt, wenn solche Gratifikationen ausbleiben. Dass ein Patient die Grenzen zwischen sich und anderen nicht stabil aufrechterhalten kann, kann sich beispielsweise darin zeigen oder andeuten, dass der Patient unsicher ist oder sogar in Verwirrung darüber gerät, ob sein Erleben seinen Ursprung in der eigenen Person oder in anderen Menschen hat. Meist wird der Patient das nicht in Worten ausdrücken; aber der Therapeut kann aus der Art und Weise, wie der Patient über Erfahrungen im Zusammensein mit anderen spricht, dafür Anhaltspunkte gewinnen. Beeinträchtigungen der Fähigkeit, Grenzen zwischen sich und anderen aufrechtzuerhalten, können außerdem daraus erschlossen werden, dass der Patient danach verlangt, mit anderen Menschen bis zur Ununterscheidbarkeit eins zu sein oder aber sich ständig gegen das Bedürfnis wehren zu müssen scheint, mit der anderen Person zu verschmelzen. Das kann sich zum Beispiel darin zeigen, dass er versucht, sich autark

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zu zeigen oder seine Eigenständigkeit in anderer Weise in besonderem Maße betonen muss.

Wahrnehmen und Ausdruck von Gefühlen ȤȤ Kann der Patient im Zusammensein mit anderen Menschen unterschiedliche Empfindungen und Gefühle wahrnehmen, oder werden Gefühle unter solchen Umständen nur diffus, grob und körpernah wahrgenommen? ȤȤ Nimmt der Patient Gefühle meist erst im Nachhinein wahr, wenn die Situation, auf die sich die Gefühle beziehen, schon vorüber ist oder die Person, der die Gefühle gelten, abwesend ist, oder kann der Patient die Gefühle unmittelbar in der Situation wahrnehmen? ȤȤ Ist der Patient in der Lage, seine Gefühle im Zusammensein mit anderen als Signale zu nutzen, um seine Beziehungen zu regulieren, oder wird der Patient von seinen Gefühlen leicht überwältigt? ȤȤ Kann der Patient den Ausdruck von Gefühlen steuern und an die jeweiligen situativen und personellen Umstände anpassen, oder neigt der Patient dazu, Gefühle entweder wie dranghaft zu zeigen oder aber deren Ausdruck zu unterdrücken? Patienten mit strukturellen Störungen können Gefühle oft nicht oder nur diffus und als körpernahe Empfindungen wahrnehmen, beispielsweise als diffuses Wohlbehagen oder Missbehagen. Bei anderen Patienten haben Gefühle eine impulsive Qualität und bestimmen das Verhalten, ohne dass der Patient affektive Signale nutzen kann, um sein Verhalten zu steuern. So kann es beispielsweise sein, dass Wut sich unmittelbar in wenig gesteuertem aggressivem Verhalten ausdrückt, ohne dass das Verhalten abgestimmt und moduliert werden kann, wenn die Gefühle intensiv und heftig sind. Einige Patienten können nur ganz bestimmte Gefühle wahrnehmen, während sie andere Gefühle nicht zu kennen scheinen. Wieder andere Patienten können Gefühle zwar mehr oder weniger differenziert wahrnehmen, merken aber erst, wenn eine Situation vorüber ist, wie sie sich fühlen. Dabei werden bei Patienten diese Gefühle nicht abgewehrt, weil sie beispielsweise mit bestimmten Idealvorstellungen oder normativen Erwartungen nicht kompatibel sind, sondern sind dem Patienten nicht verfügbar.

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Beispiele: Im therapeutischen Gespräch gibt es viele Hinweise dafür, dass der Patient nur grobe und diffuse emotionale Qualitäten kennt, es ihm beispielsweise immer wieder nur entweder »ganz gut« geht oder er »gut drauf« ist oder es ihm auf der anderen Seite »nicht so gut« geht oder er »mies drauf« ist, während er sein seelisches Befinden nicht genauer verspüren und schildern kann. Auch Nachfragen oder entsprechende Anregungen oder Aufforderungen, sein Befinden genauer zu schildern, führen nicht dazu, dass der Patient differenziertere Qualitäten oder umschriebene Gefühle schildern kann. Einige Patienten schildern, dass ihnen Gefühle anderen Menschen gegenüber gänzlich fremd sind; andere Patienten sagen eventuell, dass jemand, der sich ihnen gegenüber nicht angemessen verhält, von da an für sie nicht mehr existiere, können aber keine Gefühle schildern, mit denen sie auf das Verhalten der anderen Person reagiert haben. Wenn ein Patient Situationen mit anderen schildert, ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass der Patient sich häufiger impulsiv verhält, sein Verhalten ganz von seiner augenblicklichen Gefühlslage bestimmt wird und er nicht in der Lage ist, sein Verhalten auf die jeweiligen Umstände abzustimmen. Wird der Patient in der therapeutischen Situation darauf angesprochen, kann sich herausstellen, dass ihm Gefühle entweder nicht zugänglich sind oder dass er zwar zumindest grobe Gefühlsqualitäten wahrnimmt, aber sich nicht in der Lage sieht, sein Verhalten unter dem Einfluss dieser Gefühle zu steuern. Eine mildere Form eingeschränkter Gefühlswahrnehmung kann sich darin zeigen, dass ein Patient immer erst im Nachhinein merkt, dass jemand ihn enttäuscht hat, er sich geärgert hat, gekränkt war, sich gefreut hat oder jemanden sympathisch fand und der Person gerne näher gekommen wäre.

Psychische und interpersonelle Abwehr ȤȤ Kann der Patient seine soziale Anpassung und sein seelisches Gleichgewicht mit Hilfe psychischer Mechanismen sichern und aufrechterhalten, oder muss er versuchen, die andere Person dazu zu bewegen, ihrerseits ihr Verhalten zu verändern?

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ȤȤ Wirken sich die Mittel und Mechanismen, mit denen der Patient seine soziale Anpassung aufrechtzuerhalten versucht, beeinträchtigend auf seine zwischenmenschlichen Beziehungen und gegebenenfalls auch auf psychische Funktionen und seine Selbstregulierung aus? Abwehr und Anpassung sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Bei Patienten mit strukturellen Störungen spiegelt die vorherrschende Abwehr meist das höchste erreichte Abwehrniveau wider. Die vorherrschenden Abwehrmittel und -mechanismen muss der Therapeut aus den Schilderungen des Patienten und aus seinem Verhalten erschließen; sie lassen sich nicht an ganz bestimmten Phänomenen erkennen. Im Grunde kann jedes Verhalten auch Ausdruck von Abwehr- bzw. Anpassungsbemühungen sein. Der Therapeut sollte unter anderem versuchen herauszufinden, inwieweit sich die Abwehr des Patienten beeinträchtigend auf sein Denken, auf andere psychische Funktionen und auf sein Verhalten im Zusammensein mit anderen auswirkt. Schließlich sollte der Therapeut darauf achten, ob die momentane Abwehr des Patienten ihren Zweck erfüllt oder nicht. Beispiele: Im Verlauf der therapeutischen Arbeit gewinnt der Therapeut anhand der Schilderungen des Patienten und seines Verhaltens den Eindruck, dass die Abwehr unflexibel ist und sich oft stärker beeinträchtigend als fördernd auf seine soziale Anpassung auswirkt. Das kann sich beispielsweise darin zeigen, dass der Patient immer wieder zu den gleichen Mitteln greift, um sich sicher fühlen zu können, obwohl sich in verschiedenen Situationen wiederholt gezeigt hat, dass das Verhalten ungeeignet ist, die Anpassung zu gewährleisten, oder nicht effektiv ist. Ein Patient berichtet von Erfahrungen, die zeigen, dass er sein psychisches Gleichgewicht und seine interpersonelle Anpassung unter Rückgriff auf Abwehrmechanismen wie Verleugnung, Projektion, projektive Identifizierung, primitive Idealisierung, Spaltung und eine impulsive Form der Identifikation mit dem Angreifer zu sichern versucht, während er über Möglichkeiten, sein Gleichgewicht unter Anerkennung von äußeren und inneren Realitätsbedingungen aufrechtzuerhalten, kaum zu verfügen scheint.

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Ein Patient verhält sich immer wieder sozial abweichend. Kaum fühlt er sich angegriffen, greift er seinerseits den Angreifer an, kehrt auf diese Weise den Spieß um und wird seinerseits aggressiv. Dieser Mechanismus der Identifikation mit dem Angreifer bestimmt in hohem Maße sein Verhalten in konflikthaften interpersonellen Beziehungen. Wenn ein Patient über Zustände von affektiver Erregung, die der Realität nicht angemessen sind, berichtet, ist das kein sicherer Hinweis für eine strukturell bedingte Beeinträchtigung; der Therapeut sollte sich aber im Zuge der weiteren therapeutischen Arbeit fragen, ob dem Patienten eventuell ausreichende und ausreichend flexible Möglichkeiten fehlen, um sein psychosoziales Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.

Antizipation der Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere ȤȤ Ist der Patient in der Lage, sich Wirkungen seines eigenen tatsächlichen oder beabsichtigten Verhaltens auf andere einigermaßen realistisch klarzumachen und die Konsequenzen zu bedenken, die dieses Verhalten nach sich ziehen kann? ȤȤ Kann der Patient bei der Planung und Ausführung seines Handelns in Rechnung stellen, wie sein Handeln für andere beteiligte Personen sein wird und welche Reaktionen anderer Menschen auf sein eigenes Verhalten hin möglich oder mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind? ȤȤ Wie angemessen erscheint das Verhalten des Patienten im Hinblick auf die jeweilige soziale Situation und die jeweiligen Umstände? Ist der Patient in der Lage, sich emotional und mit seinem Verhalten auf verschiedene Personen und Situationen abzustimmen? Die Fähigkeit, sich in interpersonellen Kontakten über die Wirkung seines eigenen Verhaltens auf andere Menschen einigermaßen klar zu sein, zeigt sich im therapeutischen Gespräch darin, dass der Patient sich in verschiedenen Situationen zu erwartende Folgen seines tatsächlichen oder beabsichtigten Verhaltens vor Augen führt, potentielle Gefahren, etwaige Strafen, soziale Konsequenzen oder physische Folgen bedenkt, die sein Verhalten nach sich ziehen kann, und im Kontakt mit anderen zu erwartende Reaktionen des jeweiligen

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Gegenübers auf sein eigenes Verhalten in Rechnung stellt. Zusätzlich kann der Therapeut aus dem Verhalten des Patienten auf diese Fähigkeiten schließen, insbesondere anhand dessen, inwieweit der Patient in der Lage ist, sein Verhalten auf verschiedene Personen und situative Umstände abzustimmen und sich emotional auf verschiedene Personen und Situationen einzustellen. Beispiele: Im Zuge der therapeutischen Arbeit schildert eine Patientin immer wieder Situationen, in denen sie erheblich gefährdet ist, ohne dass sie sagen könnte, wie es dazu kommt. Wenn der Therapeut sie im Gespräch danach fragt, was sie darüber gedacht hat, welche Folgen ihr Verhalten haben könnte, kann sich herausstellen, dass sie scheinbar ahnungslos und wie selbstverständlich davon ausgegangen ist, dass die Situation schon gut ausgehen würde; dabei gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass bei der Patientin etwa unbewusste Absichten eine Rolle spielen, wenn sie sich immer wieder in dieser Weise verhält. Es kann sein, dass sich ein Patient wiederholt in einer Weise verhält, die ihm erhebliche Nachteile einbringen, er beispielsweise immer wieder erst im letzten Moment mit Prüfungsvorbereitungen beginnt, obwohl er sich dadurch inzwischen Schaden zugefügt hat, aber trotzdem nicht in der Lage ist, mögliche Folgen seines Verhaltens vorab zu bedenken. Versucht der Therapeut, den Patienten im Gespräch dazu anzuregen, Folgen seines Verhaltens zu antizipieren, stellt sich ein ums andere Mal heraus, dass es dem Patienten nicht möglich ist, sich eine Situation, an der er selbst beteiligt sein wird, vorausschauend vor Augen zu führen und Konsequenzen vorab zu bedenken, die sich aus seinem Verhalten ergeben können. Die Schilderungen eines Patienten von unterschiedlichen Situationen, an denen er selbst beteiligt war, lassen darauf schließen, dass er die Wirkung seines eigenen Verhaltens auf andere Personen ein ums andere Mal grob verzerrt einschätzt und kaum in der Lage ist, Wirkungen seines Verhaltens auf andere einigermaßen realistisch zu antizipieren. Ein Patient schildert wiederkehrende Reaktionen der Umgebung auf sein Verhalten, die es wahrscheinlich erscheinen lassen, dass sein Verhalten für seine Umwelt häufiger grob unangemessen ist oder von

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Zur Manifestation struktureller Beeinträchtigungen111

anderen als befremdlich wahrgenommen wird, ohne dass der Patient selbst jedoch in der Lage wäre, diese Zusammenhänge zu erkennen und zu sehen, dass sich das Verhalten in seiner Umgebung mehr oder weniger weitgehend aus seinem eigenen Verhalten erklärt.

Handlungsimpulse, Befriedigungsaufschub und Frustrationstoleranz ȤȤ Kann der Patient Affekte und Handlungsimpulse in zwischenmenschlichen Beziehungen ausreichend sicher und flexibel steuern? ȤȤ Neigt der Patient in Beziehungen zu impulsivem Verhalten und zum Ausagieren? ȤȤ Stehen dem Patienten wirksame Aufschub- und Kontrollmechanismen zur Verfügung und kann er es tolerieren, in interpersonellen Beziehungen frustriert zu werden? Neigt der Patient dazu, sich übermäßig und in rigider Weise zu kontrollieren, oder gibt es Hinweise dafür, dass der Patient sich häufiger eher unterkontrolliert verhält? Das Verhalten von strukturell gestörten Patienten erscheint häufig affekt- und impulsbestimmt. Ihre Möglichkeiten, Affekte und Impulse aufzuschieben und zu modulieren, sind eingeschränkt. Wenn es bei einem Patienten dazu kommt, dass Affekte und Impulse mobilisiert werden, kann das zur Folge haben, dass der Patient dicht davor ist, den Affekten und Impulsen nachzugeben und sich in seinem Verhalten davon bestimmen zu lassen. Die Fähigkeit, sich sozial anzupassen, setzt voraus, Affekte und Impulse ausreichend sicher steuern und kontrollieren zu können. Beeinträchtigungen der Affekt- und Impulssteuerung können sich sowohl in Über- wie in Unterkontrolle zeigen. Die Mittel und Wege, mit denen der Patient versucht, den Ausdruck von Affekten und Impulsen zu kontrollieren und zu steuern, erscheinen wenig effektiv. Um das eigene Handeln flexibel auf die jeweiligen Umstände abstimmen zu können, ist es erforderlich, Frustrationen auszuhalten und die Befriedigung von Bedürfnissen aufzuschieben. Fähigkeiten zur Affekt- und Impulssteuerung stellen sich auch darin dar, ob und wie der Patient Affekte und Impulse in sein Den-

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ken, seinen affektiven Ausdruck und sein manifestes Verhalten einfließen lassen kann. Beispiele: Dass ein Patient Frustrationen kaum ertragen oder ein anderer Patient Angst oder depressive Stimmungen nur schwer aushalten kann und zu Verhaltensweisen greifen muss, die ihm das erleichtern sollen, gehört oftmals zu den Hinweisen, aus denen auf eine strukturell bedingte Einschränkung geschlossen werden kann. Wenn ein Patient immer wieder von impulsivem Verhalten berichtet oder Situationen schildert, die den Psychotherapeuten darauf schließen lassen, dass der Patient kaum in der Lage war, seine Impulse zu steuern, sollte der Therapeut die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass der Patient aus strukturellen Gründen nicht ausreichend in der Lage ist, Impulse und Affekte aufzuschieben, und dass darin einer der Gründe liegt, weshalb der Patient wiederholt Gefahr läuft, sich in einer Weise zu verhalten, die von wenig kontrollierten Impulsen und Affekten bestimmt ist und entsprechend unterkontrolliert erscheint. Es kann sich herausstellen, dass sexuelle und aggressive Fantasieinhalte sich von dem tatsächlichen sexuellen oder aggressiven Verhalten des Patienten kaum unterscheiden, unter Umständen mit der Folge, dass das Verhalten des Patienten für andere bedrohlich wird. Wenn ein Patient sporadisch zu Wutausbrüchen oder zu Impulsdurchbrüchen anderer Art wie massivem Alkoholkonsum, ungesteuerten Essattacken oder zu impulsivem sexuellen Verhalten neigt, ist das oftmals ein Hinweis auf strukturelle Beeinträchtigungen. Es stellt sich dann nicht selten heraus, dass der Patient nur unter erheblichen Schwierigkeiten und sehr bedingt in der Lage ist, sexuelle, aggressive oder andere Bedürfnisse aufzuschieben. Auch wenn ein Patient sich immer wieder selbstschädigend verhält und zu suizidalem Verhalten neigt, sollte der Therapeut nicht nur die Hintergründe dieses Verhaltens zu klären versuchen, sondern sich auch fragen, inwieweit das Verhalten des Patienten darauf schließen lässt, dass er nur eingeschränkt in der Lage ist, sein Verhalten unter dem Einfluss von Impulsen und Affekten zu steuern.

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In vielen Fällen kann der Psychotherapeut im Gespräch feststellen, dass der Patient kaum in der Lage zu sein scheint, eigene Bedürfnisse und Impulse wahrzunehmen, dass sein Verhalten jedoch auf von dem Patienten selbst nicht wahrgenommene Bedürfnisse und Impulse schließen lässt. Das sollte dem Therapeuten Anlass geben, die gemeinsame Aufmerksamkeit in der Behandlung auf die Wahrnehmung von Bedürfnissen und Impulsen zu legen und den Patienten darin zu unterstützen, sein Verhalten auf die jeweiligen situativen Umstände besser abstimmen zu können. Wenn der Therapeut erfährt, dass der Patient seine Impulse oder Bedürfnisse kaum anders als mit Hilfe von physischen Aktivitäten wie exzessiven körperlichen Anstrengungen oder durch die Zufuhr massiver körperlicher Reize einigermaßen unter Kontrolle halten kann, sollte das den Verdacht aufkommen lassen, dass dementsprechende strukturell bedingte Einschränkungen des Patienten zugrunde liegen. Einschränkungen der Fähigkeit, Bedürfnisse und Impulse aufzuschieben, können sich nicht nur in unterkontrolliertem Verhalten und in Impulsdurchbrüchen zeigen, sondern auch in Gestalt von Überkontrolle oder auch in psychosomatischen Reaktionen. Auch wenn ein Patient zu abrupten und extremen Stimmungsschwankungen neigt, sollte das für den Psychotherapeuten Anlass zu der Vermutung sein, dass dem strukturell bedingte Beeinträchtigungen der Fähigkeit zur Impulskontrolle und der Frustrationstoleranz zugrunde liegen.

Regression und interpersonelle Beziehungen ȤȤ Ist der Patient im Zusammensein mit anderen in der Lage, von realistischen Wahrnehmungen und realitätsbezogenem, »vernünftigem« Denken und Verhalten vorübergehend auch einmal Abstand zu nehmen und – wie man sagt – einmal »alle Fünfe gerade sein« oder »die Seele baumeln« zu lassen? ȤȤ Kann der Patient solche vorübergehenden regressiven Veränderungen begrenzen und steuern, oder können diese dazu führen, dass regressives Verhalten die Anpassung behindert? ȤȤ Kann der Patient sich regressive Erfahrungen wie zum Beispiel

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Tagträumereien oder Fantasien zunutze machen, um neue Ideen, Einfälle, Planungen oder Problemlösungen zu entwickeln? ȤȤ Kann der Patient damit auch seine Möglichkeiten erweitern, mit Beziehungen zu anderen umzugehen und sich an andere anzupassen? Die Fähigkeit zur Regressionssteuerung zeigt sich dem Therapeuten unter anderem darin, ob der Patient in der Lage ist, seinen Bezug zur äußeren Realität und sein realitätsorientiertes Denken gelegentlich einmal und vorübergehend zu lockern, so dass primärprozessnäheres, vorbewusstes Erleben in sein bewusstes Erleben Eingang finden kann. Das setzt zugleich die Fähigkeit des Patienten voraus, regressives Verhalten zu begrenzen und zu steuern, ohne Gefahr zu laufen, dass regressives Erleben seine Anpassung erschwert oder gar behindert. Die Fähigkeit zur Regressionssteuerung zeigt sich nicht zuletzt darin, inwieweit ein Patient sich regressive Erfahrungen zunutze machen kann, etwa in der Weise, dass er vor dem Hintergrund regressiven Erlebens zu neuen Ideen, Einfällen oder Problemlösungen kommt und über regressive Erfahrungen auf neue Möglichkeiten stößt, sich in seiner sozialen Lebenswelt zu bewegen. Beispiele: Ein Patient berichtet, dass er manchmal, wenn er allein ist, von Fantasien geradezu überschwemmt wird und in der Folge in panische Angst gerät, ein Zustand, den er nur unterbrechen kann, indem er zu drastischen Reizen greift, sich beispielsweise Schmerzen zufügt. Dass ein Patient aus Gründen strukturell bedingter Beeinträchtigungen nicht in der Lage ist, sein rigide kontrolliertes Verhalten auch nur ein wenig und nur vorübergehend zu lockern oder auch einmal partiell aufzugeben, kann sich beispielsweise darin zeigen, dass der Patient spielerische Fantasien nicht einmal kennt oder sich an humorvollen, witzigen oder albernen Aktivitäten und Gesprächen nicht beteiligen kann. Wenn ein Patient davon berichtet, wie beunruhigend es für ihn ist, wenn er sich vorübergehend der äußeren Realität nicht mehr ganz sicher ist, oder dass es ihm sehr schwerfällt, aus einem regressiven Zustand wieder aufzutauchen und auf ein der Realität angepassteres Niveau gleichsam zurückzukehren, sollte der Therapeut den Patienten

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im Gespräch anregen, andere und weitere Situationen zu schildern, in denen er vergleichbare Erfahrungen gemacht hat. Meist ergeben sich daraus wichtige Anhaltspunkte zur Einschätzung des psychischen Funktionsniveaus des Patienten. Der Psychotherapeut stellt im Verlauf der therapeutischen Arbeit fest, dass dem Patienten kaum jemals neue oder originelle Ideen oder Lösungen für Probleme einfallen. Auf der anderen Seite erweist sich, was vielleicht wie Originalität aussehen könnte, nicht als Ergebnis einer kontrollierten Lockerung des Bezugs zur Realität, sondern allenfalls als Resultat mechanischen Lernens oder anderer einfacher und unkreativer Prozesse.

Gewissen und Idealansprüche ȤȤ Zeigt der Patient im Zusammensein mit anderen häufiger Verhaltensweisen, die den Charakter von strafenden Tendenzen haben, die gegen die eigene Person gerichtet sind und/oder der Vermeidung von Schuld- oder Schamgefühlen zu gelten scheinen? ȤȤ Neigt der Patient zu Racheimpulsen und dazu, sich tatsächlich auch rächend zu verhalten? Haben etwaige Schuldgefühle eine realistische Grundlage? ȤȤ Kann der Patient sich in Beziehungen zu für ihn wichtigen anderen Personen so zeigen, wie er ist, oder muss er wie zwanghaft immer wieder »mehr scheinen als sein«? ȤȤ Hat der Patient im Verhältnis zu anderen ein stabiles Gefühl für den Wert der eigenen Person und ist er in der Lage, seine Selbstachtung zu regulieren? Manifestationen von Schuld- und Schamgefühlen oder deren Verarbeitungen im Gespräch mit dem Patienten veranlassen den Therapeuten dazu, strenge Gewissenszüge auf dessen Seite zu vermuten. Strenge Gewissenszüge zeigen sich auch an Verhaltensweisen, die den Charakter von strafenden, gegen die eigene Person gerichteten Tendenzen aufweisen oder der Vermeidung von Scham gelten. Auch Racheimpulse und rächendes Verhalten können auf ein unerbittliches Gewissen hinweisen. Häufig kann der Therapeut nur aufgrund des Verhaltens eines Patienten auf Gewissenszüge des Patienten schließen, beispielsweise

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dort, wo für den Patienten Regeln von besonders hoher Bedeutung gelten oder der Patient außergewöhnlich pflichtbewusst erscheint, um auf diese Weise Kritik und Schuld oder Schuldgefühle unbedingt zu vermeiden. Manchmal lässt das Verhalten des Patienten auch erkennen, dass jegliches Schuldbewusstsein oder Schuldgefühle zu fehlen scheinen. Idealansprüche zeigen sich unter anderem an dem Gefühl des Patienten für den Wert der eigenen Person. Auch in dem Verhältnis von Idealvorstellungen zu den tatsächlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Patienten zeigen sich Merkmale der Ideale des Patienten. Schließlich geben auch Schilderungen, die auf die Fähigkeit des Patienten schließen lassen, seine Selbstachtung zu regulieren, Aufschluss über seine Idealansprüche. Beispiele: Wenn es bei einem Patienten immer wieder zu gegen die eigene Person gerichteten Impulsen bis hin zu suizidalem Verhalten oder extremer depressiver Verstimmung kommt, kann das beispielsweise auf die eingeschränkten Fähigkeiten des Patienten zur Selbstwertregulation hinweisen oder auch Ausdruck unerbittlich strenger, sadistischer Gewissenszüge sein. Dabei muss der Patient gegen die eigene Person gerichtete Tendenzen nicht unbedingt bewusst erleben. Der Psychotherapeut kann aus dem Verhalten des Patienten aber meist erkennen oder zumindest erahnen, dass solche Tendenzen gravierend sind; sie können sich beispielsweise in Form von Suizidgedanken zeigen, die dem Patienten nicht erklärlich sind. Wenn ein Patient sich im therapeutischen Gespräch in verschiedenen Situationen, über die er berichtet, immer wieder ausgesprochen selbstgerecht zeigt und Schuld ausschließlich der Umwelt zuschreibt, lässt das auf ein sehr strenges Gewissen schließen. Zumindest in frühen Phasen der Therapie wird der Patient etwaige Versuche des Therapeuten, die eigene Beteiligung des Patienten an Situationen, die aus der Sicht des Patienten auf Fehlverhalten hinweisen, vorsichtig in Erwägung zu ziehen, mehr oder weniger empört zurückweisen. Manchmal legt sich dem Therapeuten gleichsam aufgrund des gesamten Lebensstils des Patienten die Vermutung nahe, dass Schuld- und

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Schamvermeidung für den Patienten besonders wichtig sind. In dieser Hinsicht scheint der Patient wie in einer Sanatoriumswelt zu leben oder leben zu müssen, gleichsam um in jeder Hinsicht makellos – ohne jede Schuld und Beschämung – zu bleiben. Wenn der Therapeut im Gespräch auf die wiederkehrende Überzeugung eines Patienten trifft, unheilbar krank zu sein, ohne dass es irgendwelche körperlichen Anzeichen dafür gibt, sollte er versuchen, bei entsprechenden Gelegenheiten der Frage nachzugehen, in welchen Kontexten sich diese Krankheitsüberzeugungen des Patienten manifestieren, und er sollte die Möglichkeit im Auge behalten, dass es sich dabei um ein Indiz für ein übermäßig strenges Gewissen handelt. Auch wiederkehrende Hassgefühle können ein unerbittlich strenges Gewissen anzeigen, insofern die Hassgefühle der Vermeidung von Schuldgefühlen dienen. Unrealistische Ideale zeigen sich beispielsweise darin, dass die Vorstellungen eines Patienten, wie er sein sollte, in extremem Missverhältnis zu seinen tatsächlichen Fähigkeiten stehen. Auch wenn der Patient immer wieder massive Selbstkritik übt, sollte das die Aufmerksamkeit des Psychotherapeuten auf die Idealvorstellungen des Patienten von seiner eigenen Person und seinen Fähigkeiten lenken. Sind die Ideale eines Patienten so unrealistisch und in der Folge destruktiv, dass der Patient sich häufiger selbst hasst oder Ekel vor sich selbst empfindet, sollte das ein Warnsignal für den Therapeuten sein. Es muss dann vorrangig abgeklärt werden, ob der Patient trotz dieser gegen sich selbst gerichteten, von unerbittlichen Idealansprüchen gelenkten zerstörerischen Tendenzen sein Verhalten noch ausreichend steuern kann oder droht, gegen sich selbst destruktiv zu handeln. Vergleichsweise mildere Idealansprüche zeigen sich daran, dass ein Patient für verschiedene Bereiche, in denen er sich bewegt, Leistungsstandards schildert, an denen er sich misst, die unerfüllbar scheinen. Es kann aber auch sein, dass ein Patient zu seinen Leistungsstandards wenig sagen kann, aber sein Verhalten auf vielen Gebieten auf perfektionistische Ansprüche an sich selbst schließen lässt.

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Wenn der Psychotherapeut im Gespräch feststellt, dass ein Patient sich gegenüber eigenen Leistungen und Zielen relativ gleichgültig zeigt, sollte er das zum Anlass nehmen, zu klären, ob sich darin eine generelle Tendenz des Patienten dokumentiert, die wiederum auf strukturell verankerte Idealanforderungen verweist; oftmals wird sich das erst im Zuge der therapeutischen Arbeit herausstellen.

Die Behandlungstechnik Im therapeutischen Gespräch mit Patienten mit schwereren Entwicklungsstörungen der Persönlichkeit ist es meist nicht möglich, aus ihren sprachlichen Mitteilungen ein hinreichend anschauliches Bild davon zu gewinnen, was dazu führt, dass es in ihrem sozialen Alltag im Zusammensein mit anderen immer wieder zu ähnlichen Schwierigkeiten kommt und Beziehungen oftmals instabil und konfliktreich sind oder gar ein ums andere Mal scheitern. Was die Patienten über ihre soziale Welt berichten, steht oftmals in auffälligem Kontrast zu den Erfahrungen, die der Therapeut im unmittelbaren Umgang mit ihnen macht. Wenn der Therapeut auf das gegenwärtige Verhalten des Patienten im Hier und Jetzt eingeht, beispielsweise die angenommene Übertragung zur Sprache zu bringen versucht, stellt sich heraus, dass die Patienten selten in der Lage sind, sich reflexiv auf das interpersonelle Geschehen zu beziehen, an dem sie selber gerade eben beteiligt waren oder im Moment gerade beteiligt sind. Die Patienten können – mit anderen Worten – keine dezentrierte Position (Piaget) einnehmen. Darum können Beziehungsgeschehen und -erleben meist nicht aus dem Inhalt der Narration der Patienten rekonstruiert werden. Wenn der Psychotherapeut seine Aufmerksamkeit zwar auf den Inhalt der sprachlichen Äußerungen und auf das subjektive Erleben konzentriert, das sich in den Äußerungen des Patienten mitzuteilen scheint, aber das nichtsprachliche, körperliche Verhalten und die Art und Weise, wie und mit welchen Mitteln der Patient sich zu anderen Personen und auch zu ihm ins Verhältnis setzt – Freud hat vom »Benehmen« des Patienten gesprochen – mehr oder weniger weitgehend außer Acht lässt, wird er sich kein zutreffendes Bild von den interpersonellen Problemen des Patienten machen können. Der

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Patient zeigt seine Beziehungserfahrungen und sein implizites Beziehungswissen im Vollzug von Interaktion, als »embodied knowledge«, darin, wie er Beziehungen gestaltet und reguliert. Führt man sich das vor Augen, ist es naheliegend, das Hauptaugenmerk in der therapeutischen Arbeit auf das jeweilige Beziehungsgeschehen und die Selbstregulierung des Patienten zu richten. Primär sollen sich die interpersonellen Beziehungen und das implizite Beziehungswissen verändern, das die Patienten im Verhältnis zu anderen aktualisieren und das immer wieder in ähnlichen interpersonellen Konstellationen mündet und ihre soziale Lebenswelt prägt. Bei der psychoanalytisch-interaktionellen Methode steht entsprechend nicht das Bemühen im Vordergrund, zu verstehen, worauf die Worte des Patienten unbewusst referieren, sondern das Wie von Interaktion und der Regulierung des Selbst. Dabei führt der therapeutische Weg über die Arbeit an den Beeinträchtigungen des Patienten, die sein Zusammensein mit anderen prägen, und an seiner Selbstregulierung hin zur psychischen Stabilisierung – und nicht, wie das meist angestrebt wird, umgekehrt. Soziales Leben wird für den Patienten transparent und interpersonelles Geschehen verstehbarer, und dem Patienten eröffnen sich neue Möglichkeiten, zwischenmenschliche Beziehungen ausreichend gut zu gestalten und mitzugestalten, und stabilere Wege, sich selbst im Kontext des Verhaltens von anderen zu regulieren. Kennzeichnend für die Arbeitsweise des Therapeuten bei der psychoanalytisch-interaktionellen Arbeitsweise ist der antwortende Modus. Im antwortenden Modus verhält sich der Psychotherapeut im Gespräch mit dem Patienten auf eine Weise, die sich charakteristisch von dem Verhalten des Psychotherapeuten bei anderen psychodynamisch ausgerichteten Behandlungsmethoden unterscheidet. Wenn man davon ausgeht, dass Psychotherapie ein Gespräch ist, so wie Freud von der Psychoanalyse gemeint hat, dass sie ein »Gespräch« sei, bei dem nichts anderes vorgehe »als ein Austausch von Worten« (1916/17/1944, S. 43), unterscheiden sich Behandlungsmethoden in erster Linie durch die Art und Weise, wie das therapeutische Gespräch geführt wird. Dabei sind neben Worten nichtsprachliches und körperliches Verhalten integraler Teil der kommunikativen Mittel, mit denen sich Patient und Therapeut verständigen und das Geschehen im Behandlungszimmer einschließlich ihres Verhältnisses zueinander hervorbringen. Wenn in der

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Psychotherapie Begriffe wie beispielsweise Behandlungsmethode, Intervention, Therapiedosis wie selbstverständlich verwendet werden, kann das leicht verdecken, dass es sich dabei im Grunde um metaphorische Begriffe handelt, die den Umstand vergessen lassen, dass Psychotherapie zuallererst ein Gespräch ist. Wenn der Psychotherapeut »interveniert«, dann heißt das erst einmal nichts anderes, als dass er etwas gesagt hat; wenn er den Patienten »konfrontiert«, dann bedeutet auch das, dass er in einem bestimmten interpersonellen Kontext in bestimmter Weise mit dem Patienten gesprochen hat. Der Psychotherapeut wendet nicht eine Methode an einem Patienten an, sondern Patient und Psychotherapeut führen zuallererst und durchweg ein Gespräch miteinander, und was sie in der Beziehung zueinander tun, realisieren sie durch die Art und Weise, wie sie miteinander kommunizieren. Kommunizieren ist soziales Handeln. Die Frage, welche Behandlungsmethode mit dem Gespräch, das ein Patient und ein Psychotherapeut miteinander geführt haben, realisiert wurde, wird gewöhnlich auf der Grundlage dessen beantwortet, welcher methodischen Orientierung der Therapeut sich selbst zurechnet. Um diese Frage aber empirisch auf der Grundlage dessen zu beantworten, was im Behandlungszimmer geschehen ist, müsste über das therapeutische Geschehen nicht in der Metaphorik von Methoden und Interventionen gesprochen werden, sondern aufgezeigt werden, wie und mit welchen Mitteln Patient und Therapeut ihr Gespräch im Behandlungszimmer miteinander abgewickelt haben und was sie mit ihrem kommunikativen Verhalten im Verhältnis zueinander tatsächlich getan haben. Das erst hieße, ernst zu nehmen, dass Psychotherapie ein Gespräch ist. Der antwortende Modus Das Ziel der psychoanalytisch-interaktionellen Methode, dem Patienten zu einer befriedigenderen Teilnahme am sozialen Leben zu verhelfen, wird in erster Linie durch Veränderung seines impliziten Beziehungswissens erreicht. Zu Stabilisierungen seines psychischen Zustands kommt es eher als Folge neu gewonnener Möglichkeiten, mit anderen zusammen zu sein, als dass sich die therapeutischen Interventionen primär auf die psychische Binnenwelt des Patienten richten würden.

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Die Art und Weise, wie der Psychotherapeut in diesem Zusammenhang das Gespräch mit dem Patienten führt, wird »antwortender Modus« genannt. Im antwortenden Modus teilt sich der Psychotherapeut dem Patienten gegenüber selektiv und gezielt auch mit eigenem Erleben und eigenen Handlungsbereitschaften mit. Damit liegt der Fokus der therapeutischen Arbeit vornehmlich auf interpersonellen Beziehungen, dem Selbst des Patienten im Kontakt mit anderen. Nicht Deutungen sind das maßgebliche Mittel im therapeutischen Dialog, sondern Antworten, mit deren Hilfe dem Patienten interpersonelles Geschehen und seine eigene Beteiligung daran durchschaubarer und die Teilnahme an reziproken zwischenmenschlichen Beziehungen erleichtert werden. Dabei nimmt der Psychotherapeut als ein Gegenüber in Interaktion am therapeutischen Gespräch teil; wo der Therapeut sich auf Deutungen stützt, bleibt er demgegenüber weitgehend anonymer, ein für den Patienten unerkennbarer Experte. Die Verbundenheit mit anderen wird in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie nicht als Nebenprodukt der Fähigkeit zu mentalisieren gesehen, sondern steht im Gegenteil im Zentrum der therapeutischen Arbeit. »Antwort« als Bezeichnung für den therapeutischen Modus in der psychoanalytisch-interaktionellen Methode unterstreicht den auf Interaktion angelegten Charakter der therapeutischen Arbeit. Im antwortenden Modus tritt der Therapeut dem Patienten als andere Person in ihrem eigenen Recht gegenüber und bringt in Antwort auf den Patienten eigenes Erleben und eigene Handlungsbereitschaften und damit Aspekte der Gegenübertragung so weit zur Sprache, wie dies für den Patienten entwicklungsförderlich ist und dazu beiträgt, ihm die soziale Welt durchschaubarer und seine Teilnahme und Mitgestaltung leichter zu machen. Dabei werden sowohl das Verhalten des Patienten wie auch des Psychotherapeuten im Behandlungszimmer immer im Kontext des Verhaltens des jeweils anderen gelesen. Aus psychoanalytischer Sicht verhält sich der Psychotherapeut mit der selektiven Offenlegung von Gegenübertragung »unanalytisch«. Das ist allerdings ein methodenbezogener, kein klinischer Einwand. Tatsächlich ist die kompetent realisierte, selektive Offenlegung von Gegenübertragung ein effektives therapeutisches Mittel, die interpersonellen Probleme von Patienten mit strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen und das implizite Beziehungswissen, das sich in den vielfältigen interpersonellen Situa-

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tionen zeigt, zu verändern und Patienten dazu zu verhelfen, das Zusammensein mit anderen in stabilerer und befriedigenderer Weise zu gestalten. Was »Antwort« in der psychoanalytisch-interaktionellen Methode meint, sei anhand eines Beispiels konkretisiert, und zwar zum einen im Vergleich zu einer Antwort im alltagssprachlichen Sinn und zum anderen im Kontrast zu einer Deutung: Beispiel: Der Patient fragt: »Wissen Sie noch, was ich Ihnen gestern über die Reise nach P. erzählt habe, zu der mich mein Vater mitgenommen hat?« Der Therapeut antwortet daraufhin: »Ja, ich erinnere mich.« Bei dieser Äußerung des Therapeuten handelt es sich um eine Antwort im alltagssprachlichen Sinn. Wenn der Therapeut auf die Frage des Patienten: »Wissen Sie noch, was ich Ihnen gestern über die Reise nach P. erzählt habe, zu der mich mein Vater mitgenommen hat?«, hingegen sagt: »Sie rechnen damit, dass ich schnell vergesse, was Sie mir anvertrauen«, interpretiert er das – vermeintlich unbewusste – Motiv, das den Patienten dazu veranlasst haben könnte, diese Frage zu stellen. Es handelt sich in diesem Falle um eine Deutung bzw. um den Vorläufer einer Deutung. Denn Deutungen erschließen subjektive Handlungsmotive: »Es handelt sich immer dann um eine Deutung, wenn ein Vorgang geschildert wird, der nur durch die persönlich motivierte Handlungsweise einer Person zustande kommt und wenn die Erklärung für diese Handlungsweise aus den persönlichen Motiven derselben Person abgeleitet wird […] Fragestellungen, die sich aus der Deutung ergeben […], erfordern weitere Deutungen, die die persönlich motivierte Einflussnahme in ihrer Subjektivität verdichten, die Subjektivierung vorantreiben und letztlich die Genese der Subjektivierung ins Spiel bringen« (Argelander, 1981, S. 1003 f.). Eine Antwort im Sinne der psychoanalytisch-interaktionellen Methode könnte – abhängig vom jeweiligen Kontext – beispielsweise lauten: »Obwohl das ja eigentlich eine einfache Frage ist, mag ich Ihnen nicht so ohne Weiteres antworten und zögere auch, das zu tun, weil ich unsicher bin, ob Sie das wirklich als Frage meinen und das tatsächlich wissen möchten. In den letzten Stunden wollten Sie mir mit ähnlichen Fragen ja meistens nachweisen, dass ich Ihnen nicht zuhöre und mich nicht für Sie interessiere.«

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In dieser dritten und letzten Antwortvariante bringt der Therapeut im antwortenden Modus eigenes Erleben und eigene Handlungsbereitschaften selektiv zur Sprache, die sich bei ihm in Antwort auf das Verhalten des Patienten, hier als Reaktion auf seine scheinbar neutrale und sachliche Frage eingestellt haben. Das geschieht nicht beliebig, sondern therapeutisch begründet und gezielt. Dabei richtet sich die Antwort auf das aktuelle Beziehungsgeschehen in der Behandlung, das der Therapeut für den Patienten dadurch transparenter macht, dass er selektiv von seinem eigenen Erleben spricht. Deutungen und Alltagsgespräche Auch in Alltagsgesprächen kommen ständig sowohl kommunikative Ereignisse vor, die Deutungen ähneln, als auch interaktive Sequenzen, die Antworten im Sinne der psychoanalytisch-interaktionellen Methode entsprechen. Deutungen verwenden Gesprächsteilnehmer am ehesten mit Blick auf das Verhalten von Dritten, werden doch mit Deutungen der Person, auf die sich die Deutung bezieht, Beweggründe für ihr Verhalten zugeschrieben, die ihr selbst nicht oder momentan nicht zugänglich sind (»die redet doch nur so, weil sie neidisch ist«). Deutungen müssen nicht immer sprachliche Äußerungen sein; auch eine scheinbar leicht hingeworfene Randbemerkung kann einen Sinnzusammenhang für das Verhalten der gemeinten Person nahelegen, der über die Motive hinausgeht, die ihr selbst für ihr Verhalten bewusst sind. So kann eine Bemerkung wie »wenn Sie mich so lächelnd ansehen, sollte ich wohl vorsichtig sein« zum Ausdruck bringen, dass der mimischen Geste des Lächelns möglicherweise nicht nur freundliche Zuwendung zugrunde liegt, sondern eventuell auch eine aggressive Handlungsintention. Insofern implizieren Deutungen, dass der Adressat in diesem Augenblick nicht ganz Herr seines Handelns ist und nicht genau weiß, was er tut. Werden Deutungen direkt an die andere Person adressiert und der Person mit der Deutung Motive unterstellt, die gemeinhin als problematisch oder gar als verpönt gelten, kann das weit reichende Folgen und schlimmstenfalls den Abbruch des Kontakts zur Folge haben. »Wenn wir einem Gegenüber als Subjekt und nicht als einem Gegenstand, den wir manipulieren können, begegnen«, so Habermas (1971), »unterstellen wir ihm (unvermeidlich) Zurechnungsfähigkeit. Wir können mit ihm zusammen nur in eine Interaktion eintreten, ihm auf der Ebene der Intersubjektivität […] begegnen, wenn wir supponieren, daß er

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bei geeigneter Nachfrage über sein Handeln Rechenschaft ablegen könnte« (S. 118). Wer seinem Gegenüber somit Beweggründe für sein Handeln zurechnet, die weder dessen bewussten Gründen entsprechen, noch sich aller Voraussicht nach als solche herausstellen würden, würde man die betreffende Person danach fragen, behandelt das Gegenüber nicht als anderes Subjekt, als Person, die über sich zu verfügen und verantwortlich zu handeln in der Lage ist. Vielmehr wird die andere Person in diesem Moment insofern wie ein Objekt behandelt, als ihr unterstellt wird, dass sie selbst über die Gründe ihres Handelns allenfalls eingeschränkt verfüge und augenblicklich nicht ganz wisse, was sie tue. Damit wird der Person momentan mangelnde Zurechnungsfähigkeit unterstellt: Sie könne über sich selbst nicht ausreichend kompetent Auskunft geben und nur bedingt über sich verfügen. »Wir sind also unfähig«, so Habermas weiter, »in der Interaktion selber dem Gegenüber unbewußte Motive zuzuschreiben. Sobald wir das tun, verlassen wir die Ebene der Intersubjektivität und behandeln den anderen als ein Objekt, über das wir mit dritten kommunizieren können, aber eben nicht mit ihm selber« (S. 118 f.). Bei Deutungen, die direkt an die andere Person adressiert werden, handelt es sich somit um einen Äußerungsmodus, mit dem die eine Person – in der Behandlung der Psychotherapeut – einer anderen Person – in der Behandlung dem Patienten – sagt, was ihrem Erleben zugrunde liegen könnte und welcher ihr selbst nicht bewusste Sinn und welches unbewusste Motiv sich hinter ihren Äußerungen und ihrem Verhalten möglicherweise verbergen könnten. In einer analytischen Psychotherapie haben sich Patient und Therapeut zuvor darauf geeinigt, solche unbewussten Motive miteinander zu suchen und zu erforschen; sie haben darüber ausdrücklich einen Vertrag geschlossen. Anders im sozialen Alltag: Weil Deutungen mit einer Infragestellung der Zurechenbarkeit des Handelns der gemeinten Person einhergehen, werden sie im Alltag der Person gegenüber, mit der man gerade im Gespräch ist, kaum jemals, es sei denn im Streit, geäußert. Ein kleines Beispiel für den grenzenüberschreitenden Charakter einer Äußerung, mit der einer anderen Person ein Motiv unterstellt wird, das nicht das bewusste Motiv dieser anderen Person ist, schildert Michael Ondaatje (1993) in seinem Roman »Der englische Patient«: »›Warum bewunderst du ihn so sehr?‹ ›Ich liebe ihn.‹

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›Du liebst ihn nicht, du bewunderst ihn.‹ ›Geh. Bitte‹« (Hervorh. v. Verf.). Einer anderen Person auf diese Weise ihr selbst nicht zugängliche Motive für ihr Handeln und damit zu unterstellen, dass sie sich über die Beweggründe ihres eigenen Verhaltens nicht im Klaren sei und insofern nicht über sich verfüge, gilt eben darum als Indiskretion, als rüde Attacke oder als Versuch der Machtausübung, weil der anderen Person – zumindest für dieses bestimmte Verhalten – mangelnde Zurechnungsfähigkeit unterstellt wird. Antworten und Alltagsgespräche Mit Antworten im Sinne des antwortenden therapeutischen Modus unterstellt nicht die eine Person der anderen bestimmte Motive ihres Verhaltens, sondern macht sich mit der Art und Weise, wie sie kommuniziert, als andere Person kenntlich, etwa indem sie etwas von ihrem eigenen Erleben im Verhältnis zu der anderen Person zu erkennen gibt. Eine Äußerung wie: »Du meintest zuerst, nicht kommen zu können, weil dir das bestimmt wichtiger war«, ist eine Aussage über die andere Person; eine Äußerung wie: »Als du gesagt hast, du könntest wahrscheinlich nicht kommen, war ich sehr enttäuscht. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass du dich doch noch hast loseisen können«, lässt ganz und gar unerwähnt, welche Motive die andere Person gehabt haben mag, ihren Besuch in Frage zu stellen. Stattdessen gibt das Gegenüber etwas von dem eigenen Erleben in Reaktion auf die andere Person zu erkennen: die anfängliche Enttäuschung und die Freude über den doch noch erfolgten Besuch. In beiden Fällen hat die Äußerung eine ganz unterschiedliche, die Beziehung konstituierende Qualität oder pragmatische Funktion. Diese Funktion bestimmt sich nicht in erster Linie durch die Wortwahl, ob freundliche, schmeichelhafte oder unfreundlich erscheinende Worte gewählt werden, sondern durch die »Richtung« der Äußerung. Wenn in Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung zwischen Ehepartnern der Mann zu seiner Frau sagt: »Wenn du dich so zurückziehst, bekomme ich ein ganz schlechtes Gewissen«, beurteilt er das Verhalten seiner Frau nicht explizit und interpretiert auch ihre Motive nicht, die sie zu ihrem Rückzug veranlasst haben könnten, sondern er lässt sie wissen, was ihr Verhalten bei ihm bewirkt. Damit bleibt es ihr überlassen, wie sie im nächsten Zug ihrerseits in Rechnung

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stellt oder auch nicht in Rechnung stellt, was ihr Mann ihr gerade über sich und seine Gewissensnöte mitgeteilt hat. Ganz ähnlich zeichnen sich therapeutische Interventionen im Modus der Antwort dadurch aus, dass sich der Therapeut dem Patienten als anderes Subjekt erkennbar macht. Ob er das in dieser Sequenz und in diesem Moment tatsächlich tut und welche Aspekte seines Erlebens er dem Patienten offenlegt, bemisst sich daran, ob der Patient von einer antwortenden Intervention in diesem Kontext voraussichtlich entwicklungsförderlichen Gebrauch wird machen können oder nicht. Um das zu ermöglichen, bezieht der Therapeut meist nur bestimmte, ausgewählte Aspekte seines eigenen Erlebens in seine Antworten ein; er gibt – mit anderen Worten – sein Erleben selektiv nach Maßgabe therapeutischer Kriterien zu erkennen. Dass der Therapeut eigenes Erleben zu erkennen gibt, bedeutet nicht, dass er in privater Weise agiert und den Patienten mit seiner Privatheit behelligt. Weder teilt er eigenes Erleben beliebig oder unreflektiert mit, noch wird damit eine Beziehung mit dem Patienten begründet, die besonders vertrauensvolle oder gar private Züge trägt. Indem der Psychotherapeut mit seinen Antworten dem Patienten gegenüber eigenes Erleben im aktuellen Beziehungsgeschehen selektiv transparent macht und damit die Wirkungen zu erkennen gibt, die das vorangegangene Verhalten des Patienten auf die andere Person – hier den Therapeuten – hat, rückt momentan das interpersonelle Geschehen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Anders als deutende Interventionen fordern Interventionen im antwortenden Modus den Patienten implizit nicht zur Selbstreflexion auf, sondern lassen dem Patienten vielmehr interaktives Geschehen in der therapeutischen Situation und im Weiteren Aspekte der sozialen Lebenswelt durchschaubarer und verstehbar werden. Damit unterstützen sie den Patienten dabei, seine Beeinträchtigungen im Zusammensein mit anderen allmählich zu überwinden. Aus psychoanalytischer Sicht gibt der Psychotherapeut dem Patienten Aspekte seiner Gegenübertragung zu erkennen, ein Verhalten, das in der Psychoanalyse nicht praktiziert, wenn auch zunehmend häufig diskutiert wird (vgl. Kantrowitz, 2009). Wenn man bedenkt, dass sich die Beeinträchtigungen von Patienten mit strukturellen, in der Persönlichkeit verankerten Störungen vor allem als »Störungen des Sozialen« manifestieren und die Gegenübertragungsreaktionen des Therapeuten sich nicht grundlegend unterscheiden von den Reaktionen der Personen, denen

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der Patient in seinem sozialen Alltag begegnet und mit denen das Zusammensein häufig schwierig ist, dann können es diese Gegenübertragungsantworten des Therapeuten sein, die den Weg zu den Gründen für das häufige Scheitern des Zusammenseins des Patienten mit anderen und anderer mit dem Patienten weisen. Ähnliche Interaktionsmuster, wie sie in der therapeutischen Situation durch die Verschränkung des Verhaltens des Patienten bzw. von dessen Übertragung mit der dadurch induzierten Verhaltensbereitschaft des Psychotherapeuten bzw. mit dessen Gegenübertragung hervorgebracht werden, ereignen sich in der sozialen Welt des Patienten immer wieder gleichsam »blind«, mit der Folge, dass das Zusammensein mit anderen für den Patienten in für ihn undurchschaubarer Weise immer wieder belastet oder gar unmöglich gemacht wird. Auf diesem Hintergrund wird der therapeutische Nutzen verständlich, den der Patient aus antwortenden Interventionen des Therapeuten ziehen kann. Während im sozialen Alltag in der Regel nicht zu erwarten ist, dass eine andere Person zur Sprache bringt, was das Zusammensein mit dem Patienten so schwierig macht, warum sie sich von ihrem Gegenüber, dem potentiellen Patienten, zurückzieht, mit heftigen Affekten reagiert oder den Kontakt abbricht, und noch weniger zu erwarten ist, dass sie das sogar auf eine Weise zur Sprache bringt, die von dem potentiellen Patienten aufgenommen und bedacht werden könnte, besteht in der therapeutischen Situation die Chance, das eben das geschieht und der Patient auf diesem Weg allmählich erkennen und verstehen kann, wie er selbst dazu beiträgt, dass Beziehungen immer wieder so schwierig verlaufen oder andere sich von ihm zurückziehen. Damit das möglich wird, kann der Therapeut Gegenübertragung weder uneingeschränkt noch beliebig zum Ausdruck bringen. Vielmehr muss das ebenso selektiv und gezielt erfolgen wie auch Personen im sozialen Alltag ihre Gefühle, Impulse und Handlungsbereitschaften einander in der Regel selektiv mitteilen, soweit sie das nach Maßgabe dessen, welcher Art ihre Beziehung momentan ist oder in welche Richtung sich ihre gemeinsame Situation bewegen soll, überhaupt tun. Selektiv antwortende Interventionen vermitteln dem Patienten Einblicke in das Zusammenspiel seines eigenen Verhaltens und des Verhaltens seiner sozialen Mitwelt. Das ist für strukturell gestörte Patienten umso bedeutsamer, als sie gewöhnlich nicht in der Lage sind, sich diesem Zusammenspiel in reflexiver Einstellung zu nähern.

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Implizites Beziehungswissen des Patienten zeigt sich in der Therapie zum einen darin, wie er die therapeutische Beziehung mitgestaltet, zum anderen in seinen Äußerungen über interpersonelle Beziehungen. Im Verhalten des Patienten in der therapeutischen Beziehung kommt das implizite Beziehungswissen direkt und unmittelbar zum Tragen; spricht der Patient über Beziehungen und interpersonelle Situationen, zeigt sich sein implizites Beziehungswissen indirekt in der Art und Weise, wie er soziale Situationen wahrnimmt und darüber spricht. Wenn der Patient über Beziehungen spricht, äußert er sich entweder über soziale Situationen, an denen er selbst beteiligt war, oder er spricht von Beziehungen, die er nur beobachtet, von denen er nur gehört oder über die er gelesen hat, ohne an den Situationen selbst beteiligt gewesen zu sein. Wenn der Psychotherapeut auf das Verhalten des Patienten im Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung eingeht, kann er seine antwortenden Interventionen aus der Position eines Gegenübers formulieren; aus psychodynamischer Sicht bezieht er dann Aspekte der komplementären Gegenübertragung (Racker, 1978) in seine antwortenden Interventionen ein. Der Therapeut kann aber auch auf das Verhalten des Patienten eingehen, indem er sich momentan mit dem Patienten identifiziert und sich virtuell an dessen Stelle setzt; in diesem Fall bezieht er Aspekte seiner konkordanten Gegenübertragung in seine Antworten ein. Wenn der Therapeut die antwortenden Interventionen aus der Position eines Gegenübers des Patienten (komplementäre Gegenübertragung) formuliert, lenkt er die Aufmerksamkeit des Patienten damit auf die andere Person, in der therapeutischen Situation auf den Therapeuten. Bringt der Therapeut im antwortenden Modus sein Erleben in passagerer Identifikation mit dem Patienten zur Sprache (konkordante Gegenübertragung), führt er ihm eine alternative Perspektive vor Augen, die partiell neue Mittel und Wege der Bewältigung von Situationen des Mit-anderen-in-Kontakt-Seins eröffnet, die er sich in der Folge identifikatorisch aneignen kann. Beispiel: Ein Patient hat Schwierigkeiten damit zu erkennen, dass das distanziertabweisende Verhalten von Menschen in seiner Umgebung auch eine Reaktion auf sein eigenes, häufig taktloses, manchmal unkontrolliertes und von eigenen Bedürfnissen beherrschtes Verhalten ist. Als der Patient wieder einmal wegen seiner vermeintlichen Unzulänglichkeit über ihn

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schimpft und ihn mit abwertenden Äußerungen überhäuft, sagt der Therapeut: »Offensichtlich sind Sie heute wieder mit mir unzufrieden. Vielleicht rechnen Sie damit, dass mir das gar nichts ausmacht. Ich denke über Ihre Kritik durchaus nach. Manchmal – so wie jetzt – ärgere ich mich aber auch, wenn ich den Eindruck habe, dass es Ihnen ganz egal ist, wie das für mich ist, wenn Sie mich dermaßen abwertend behandeln.«

Indem der Therapeut dem Patienten auf diese Weise antwortet, spricht er nicht nur über ihn, sondern zeigt sich als Gegenüber, als Adressat der abwertenden Äußerungen des Patienten. Er zieht den Blick des Patienten auf sich selbst und die interpersonellen Wirkungen des vorangegangenen Verhaltens des Patienten. Seine Antwort aus der Position des Objekts des Patienten bzw. des anderen Subjekts (komplementäre Gegenübertragung) impliziert den pragmatischen Sinn einer Aufforderung an den Patienten, im interaktiven Austausch seinen Blick auch auf die andere Person zu richten. In diesem Fall gibt der Therapeut dem Patienten zu erkennen, dass er einerseits dessen Äußerungen aufnimmt und darüber nachdenkt, wenn sie die Form einer Kritik haben, dass er andererseits aber aversiv reagiert, weil er sich abgewertet sieht, wenn der Patient sich verhält und äußert, wie er das gerade getan hat. Auf diese Weise legt er dem Patienten implizit nahe, die Wirkungen seines Verhaltens auf sein Gegenüber im Auge zu haben, wenn er nicht eine nachhaltige Störung der Beziehung riskieren will. Der Patient erfährt gleichsam, welchen interaktiven Nutzen es hat, wenn er entgegen seinem habituellen Verhalten die andere Person – in der therapeutischen Situation die Person des Therapeuten – als andere Person wahrnimmt, das Gegenüber als anderes Subjekt mit eigenem Erleben und mit eigenen Gefühlen sieht und von der Möglichkeit Gebrauch macht, sich bei der Regulierung seines Handelns nicht ausschließlich auf eigene Vorstellungen, Gefühle oder Wünsche zu stützen, sondern auch auf Signale von Seiten seines jeweiligen Gegenübers, mit dem er in Kontakt ist, zu achten. Interventionen im antwortenden Modus unterstützen den Patienten also auch dabei, ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass er mit seinem Handeln Wirkungen auf die andere Person ausübt. Indem antwortende Interventionen ihm vor Augen führen, dass er auf das Erleben und die Handlungsbereitschaften der anderen Person, auch des Therapeuten, Einfluss nehmen kann, verweisen sie den Patienten auf seinen Akteursstatus.

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Beispiel: In einer Einzeltherapie spricht ein Patient mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung immer wieder über lange Zeit hinweg, ohne Pause, gleichförmig und monoton, »ohne Punkt und Komma«. Dabei kommt er von einem Thema zum nächsten, ohne dass er sich dafür zu interessieren scheint, ob und wie der Therapeut seine Äußerungen aufnimmt. Er scheint sich mehr zu entäußern, als sich dem Therapeuten mitteilen zu wollen. Der Therapeut sieht über längere Zeit hinweg keine Gelegenheit, seinerseits etwas zu sagen, hat aber auch den Eindruck, dass dem Patienten das nicht wichtig ist. Er scheint für den Patienten zwar wichtig zu sein, als konkrete andere Person gleichwohl keine Rolle zu spielen. Schließlich bietet sich für den Therapeuten eine Gelegenheit zu sagen: »Ich höre Ihnen zu. Es könnte sein, dass ich es nicht vermeiden kann, Sie zu kränken; ich möchte Ihnen aber trotzdem sagen, dass ich mich anstrengen muss, aufmerksam zu bleiben. Ich denke nicht, dass das mit dem Inhalt dessen zu tun hat, worüber Sie berichten. Es war wohl etwas anderes: Ich habe mich von Ihnen nicht gemeint gefühlt, während sie gesprochen haben, und ich bin zunehmend ins Zweifeln gekommen, ob Sie eigentlich mir etwas mitteilen möchten.« In der Folge spricht der Patient darüber, dass Reden für ihn Übermittlung von Information sei. Es sei sein Bestreben, sich möglichst präzise auszudrücken, damit der Therapeut möglichst alle verfügbaren Informationen erhalte. Je mehr ihm das möglich sei und je mehr an Informationen er in seinem Reden unterbringen könne, desto mehr wisse der Therapeut von ihm und desto besser werde er ihn behandeln können.

Im antwortenden Modus nimmt der Therapeut nicht die Rolle eines neutralen Experten in Anspruch, der über die unbewusste psychische Realität seines Patienten Mutmaßungen anstellt und mit einer deutenden Intervention eine mögliche Sichtweise oder Hypothese anbietet, wie dessen unbewusste psychische Realität aussehen mag. Indem sich der Therapeut – innerhalb bestimmter Grenzen, die sich an den vorherrschenden Beeinträchtigungen des Patienten orientieren – als eigenständige andere Person selektiv zu erkennen gibt, ist seine Rolle eher der eines kompetenten Mitspielers in sozialer Interaktion vergleichbar. An den antwortenden Interventionen, die sich auf die therapeutische Beziehung richten, kann der Patient das Verhalten des Therapeuten als motiviertes Verhalten im Kontext seines eigenen Verhaltens verstehen, das

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in dessen subjektiver, von seiner eigenen verschiedenen Realität gründet (vgl. Berghaus, 2005). Merke: Im antwortenden Modus als dem charakteristischen Interventionsstil in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie gibt der Psychotherapeut sich dem Patienten selektiv und nach Maßgabe therapeutischer Gesichtspunkte als eigene andere Person zu erkennen, soweit das für den Patienten entwicklungsförderlich sein kann. Indem der Therapeut sein eigenes Erleben im Kontext des Verhaltens des Patienten gezielt offenlegt, macht er das interpersonelle Geschehen in der aktuellen therapeutischen Situation für den Patienten transparent. Dem Patienten steht auf diese Weise vor Augen, wie sein eigenes Verhalten zur Gestaltung der therapeutischen Beziehung und zu Beziehungen zu anderen überhaupt beiträgt.

Antwortende Interventionen und Toleranzgrenzen Um zu verhindern, dass seine Interventionen, insbesondere seine antwortenden Interventionen, zu erheblicheren Labilisierungen der Selbstregulation, vor allem des leicht störbaren, relativen narzisstischen Gleichgewichts seines Patienten beitragen, ist der Therapeut bei der Arbeit mit Patienten mit strukturellen Störungen in besonderem Maße gehalten, auf Toleranzgrenzen des Patienten zu achten, insbesondere auf die hohe Kränkbarkeit vieler Patienten. Dass Toleranzgrenzen überschritten wurden, zeigt sich in der therapeutischen Situation im Verhalten des Patienten vornehmlich als ȤȤ Erstarrung, ȤȤ Angriff bzw. Gegenangriff oder ȤȤ Fluchtverhalten. Wenn der Patient im therapeutischen Gespräch plötzlich wie unmotiviert schweigt, das Behandlungszimmer verlassen will, körperlich reglos wird, den Therapeuten scheinbar ohne erkennbaren Anlass attackiert und dem Therapeuten die innere Verbindung zu dem Patienten plötzlich verloren zu gehen droht, kann das ein Hinweis darauf sein, dass der Therapeut mit seinem Verhalten Toleranzgrenzen des Patienten überschritten hat.

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Merke: Bei der Behandlung strukturell gestörter Patienten muss der Therapeut sorgfältig darauf achten, Toleranzgrenzen des Patienten, insbesondere die Kränkungstoleranz, nicht zu überschreiten. Das darf jedoch nicht dazu führen, dass der Therapeut sich übermäßig vorsichtig und vermeidend verhält und den Patienten unterfordert.

Antworten und die therapeutische Arbeit an und mit Gefühlen Interventionen im antwortenden Modus verbindet der Therapeut häufig mit dem Ausdruck von Gefühlen, die sich bei ihm in Reaktion bzw. in Antwort auf das vorangegangene Verhalten des Patienten eingestellt haben. Auch die eigenen Gefühle legt der Therapeut nur selektiv und therapeutisch gut begründet offen, immer jedoch authentisch. Dabei bemisst sich die Selektivität seiner Gefühlsantworten nicht nur an allgemeinen Regeln des Takts, wie das in jeder anderen Therapie und meist auch im sozialen Alltag üblich ist, sondern vor allem an dem auf Progression ausgerichteten Ziel der therapeutischen Interventionen sowie an den Toleranz- und Belastbarkeitsgrenzen des Patienten. Angesichts der oft heftigen und archaischen Affekte, die sich in der Arbeit mit Patienten mit strukturellen Störungen leicht einstellen, kommt der Beachtung von Toleranzgrenzen und der daran bemessenen Selektivität der Äußerungen des Therapeuten besondere Bedeutung zu. Solche heftigen affektiven Reaktionen des Therapeuten verweisen oftmals auf Erfahrungen des Patienten mit vernachlässigenden und traumatisierenden Beziehungen und lassen dann vermuten, dass der Patient Aspekte des Selbst auf den Therapeuten projiziert hat. In anderen Fällen spiegeln sie Erfahrungen des Patienten mit missbrauchenden oder gewalttätigen Objekten wider. In einem frühen Stadium der Behandlung, solange die therapeutische Beziehung noch wenig belastbar ist, sollte vermieden werden, einem Patienten im antwortenden Modus zu zeigen, wie er durch sein Verhalten heftigere negative Gefühle zu wecken vermag und in welcher Weise das der Fall ist. Insbesondere Gefühle wie Verachtung, Hass, Wut oder Missgunst oder destruktive Handlungsbereitschaften können erst dann in die therapeutische Arbeit einfließen, wenn sich eine stabile und belastbare therapeutische Beziehung entwickelt hat. Andernfalls drohen in dem frühen Stadium der Behandlung die Toleranzgrenzen des Patienten in den allermeisten Fällen überschritten zu werden. Demgegenüber kann es in einer fortgeschritteneren Behandlung, wenn die therapeutische Beziehung belastbarer

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geworden ist und Frustrationen und Spannungen aushält, durchaus hilfreich sein, wenn der Therapeut auch heftige Gefühle, die der Patient durch sein Verhalten bei ihm auslöst, erkennbar zum Ausdruck bringt. Die antwortenden Gefühle des Therapeuten weisen den Patienten somit auf Wirkungen hin, die sein eigenes Verhalten im interpersonellen Geschehen im Hier und Jetzt auf sein Gegenüber hat. So wird der Patient anhand der gegenwärtigen Beziehung zum Therapeuten dafür aufmerksam, wie er in seinen Kontakten mit anderen – ihm selbst meist unerklärlich – immer wieder in ähnliche Verwicklungen, Konflikte und Probleme hineingerät und wodurch er selbst dazu beiträgt, dass das und wie das geschieht. Darüber hinaus kann der Patient nach und nach ein emotionales Wissen von seinem eigenen Akteursstatus gewinnen, und das in einem Geschehen, in dem er sich bis dahin oftmals nur als der Unterworfene und passiv Ausgelieferte erlebt hat. Beispiel: Mit einer Patientin in stationärer Behandlung, die dazu neigte, die Menschen in ihrer Umgebung meist dann wütend zu attackieren, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlte, und die deswegen wiederholt in gravierende Schwierigkeiten geraten war, hatte sich nach längerer Zeit eine gute therapeutische Beziehung entwickelt. Als sich ihre Therapeutin jedoch angesichts eines Streits der Patientin mit einer Mitpatientin, über den sie in einer Behandlungsstunde berichtete, nicht eindeutig auf ihre Seite schlug und nicht für sie Partei ergriff, wurde sie wütend und war empört. Als sie abrupt aufstand und das Behandlungszimmer gerade lärmend und wortlos verlassen wollte, reagierte ihre Therapeutin sofort und sagte mit Nachdruck: »Jetzt sagen Sie mir nicht einmal auf Wiedersehen. Ärgerlich! So möchte ich nicht von Ihnen behandelt werden.« Die Patientin blieb ebenso abrupt stehen wie sie aufgestanden war, drehte sich um und meinte: »Tun Sie doch nicht so, als wenn Ihnen das nicht völlig egal wäre.« Nachdem die Therapeutin erwidert hatte, dass ihr das ganz und gar nicht egal sei, kam die Patientin langsam zurück, setzte sich zögernd wieder in ihren Sessel, und das Gespräch drehte sich im Folgenden darum, wie sehr ihr ihrerseits andere Menschen egal wurden, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlte.

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

Merke: Im antwortenden Modus gibt der Psychotherapeut dem Patienten auch eigene Gefühle zu erkennen, die sich bei ihm in Antwort auf das Verhalten des Patienten eingestellt haben. Das erlaubt dem Patienten, die affektive Seite des gegenwärtigen interpersonellen Geschehens genauer zu sehen und zu erkennen, wie er durch sein Verhalten Affekte und korrespondierende Handlungsimpulse bei der anderen Person weckt. Eigene Gefühle zeigt der Therapeut nur insoweit, als Toleranzgrenzen des Patienten damit nicht überschritten werden und eine entwicklungsförderliche Wirkung davon zu erwarten ist.

Zum antwortenden Umgang mit Idealisierungen Idealisierungen gehören zu den häufigen Mitteln, mit denen sich strukturell gestörte Patienten vor Selbsthass und Selbstverachtung und vor der Gefahr von Objektverlust und damit einhergehenden seelischen Zuständen wie Leere, Verzweiflung und tiefe Verlassenheitsgefühle schützen. Das gilt auch für die therapeutische Beziehung. Dass der Therapeut in der Arbeit mit strukturell gestörten Patienten massiv idealisiert wird, stellt manchmal die wichtigste Schiene dar, über die sich der Kontakt mit dem Patienten vermittelt und aufrechterhalten werden kann. In diesem Fall darf der Therapeut die Idealisierung nicht als Ausdruck eines Widerstandes in Frage stellen. Das würde die Gefahr mit sich bringen, dass dem Patienten mit der Desidealisierung des Therapeuten die Funktion eines guten Objekts verloren geht und mit der einzigen, auf der Idealisierung beruhenden Brücke zwischen Patient und Therapeut die therapeutische Beziehung zerstört wird. Schlimmstenfalls hat der Therapeut für den Patienten von einem Moment zum nächsten keine Bedeutung mehr. Etwaige Bemühungen des Therapeuten, das Verhalten des Patienten zu deuten, bleiben in solchen Fällen gewöhnlich wirkungslos. Der Patient bricht als Folge der abrupten Entidealisierung die Behandlung ab. Darum ist es bei der therapeutischen Arbeit mit strukturell gestörten Patienten immer wichtig zu erkennen, inwieweit Idealisierungen des Therapeuten eine wichtige oder sogar die einzige Grundlage des therapeutischen Kontakts sind.

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Beispiel: Ein 38-jähriger Patient, nach einer längeren Alkoholkrankheit seit mehreren Jahren abstinent, der mehrfach bei dem Versuch gescheitert war, in der Arbeitswelt Fuß zu fassen, sich für einen verkannten Künstler hielt und tatsächlich einige Begabungen hatte, konnte nähere Beziehungen allenfalls für kurze Zeit aufrechterhalten, um sich dann – meist abrupt – von der jeweiligen Partnerin zu trennen. Er wurde von einem niedergelassenen Psychiater zur stationären Behandlung überwiesen, und auch er selbst meinte, einer Therapie zu bedürfen. Die Schilderung seiner Beschwerden blieb diffus, so dass weitgehend unklar war, welche Probleme genau ihm zu schaffen machten. Kaum in der Klinik angekommen wertete der Patient alles und jeden ab. Die äußeren Bedingungen in dem für die meisten Patienten recht komfortablen und angenehmen Ambiente der Klinik erschienen ihm als Zumutung, das Essen war für ihn schwer genießbar, das Pflegepersonal inkompetent und die meisten Ärzte seiner Erkrankung nicht gewachsen. Nur der Chefarzt wurde von ihm idealisiert, noch bevor er ihn genauer hatte kennen lernen können. Obwohl er auch den Therapeuten, der für seine Einzeltherapie zuständig war, immer wieder abwertete und Zweifel an dessen Erfahrung und Kompetenz äußerte, während er den Chefarzt weiterhin uneingeschränkt idealisierte und bei vielen Gelegenheiten erkennen ließ, dass er von diesem behandelt zu werden wünschte, weil nur er seine Probleme würde erfassen können, und obwohl auch die Klinik insgesamt von ihm immer wieder als für ihn nicht gut genug abgewertet wurde, schien er sich doch zu keinem Zeitpunkt ernsthaft mit dem Gedanken zu tragen, den Klinikaufenthalt zu beenden. Und auch die Einzeltherapie bei dem von ihm manifest so wenig wertgeschätzten Therapeuten schien er nicht für dermaßen wertlos zu halten, wie das aufgrund dessen, was er mit Worten ausdrücklich darüber sagte, angenommen werden musste. In seinem Verhalten zeigte sich etwas anderes. Der Patient hatte große Angst, sich abhängig fühlen zu müssen. Seine einzige Möglichkeit, sich auf einen therapeutischen Kontakt einzulassen, bestand darin, dass er die Personen, von denen er therapeutische Unterstützung erwarten konnte, zugleich abwertete. Vor diesem Hintergrund war es ganz folgerichtig, dass er keine Anstalten machte, seinen Aufenthalt in der Klinik ernsthaft in Frage zu stellen. Mit der Idealisierung des Chefarztes stützte er die Sicherung seines Selbstwertgefühls.

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So gab, was der Patient mit Worten ausdrückte, seine verbalen Abwertungen, weit weniger Aufschluss über den Zustand des Patienten und den psychodynamischen Hintergrund seines Verhaltens als das, was er tat, insbesondere, dass er tatsächlich in der Klinik blieb und an der Behandlung, die seinen Äußerungen zufolge so wert- und nutzlos war, weiter teilnahm. Für die Behandlung ist es unter solchen Umständen entscheidend wichtig, von therapeutischer Seite zu verstehen, dass es dem Patienten nur unter der Voraussetzung möglich ist, sein Gefühl von Unabhängigkeit und sein Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten und sich auf eine Behandlung einzulassen, dass er die potentiell hilfreichen und gerade deswegen gefährlichen Objekte per Abwertung für sich ungefährlich macht.

Hätte der Therapeut die Idealisierung als Abwehr interpretiert, wäre die zu diesem Zeitpunkt einzige Verbindung des Patienten zu ihm und zu der therapeutischen Institution, deren Unterstützung er dringend benötigte, mit einiger Wahrscheinlichkeit zerbrochen. Solange Patienten eine therapeutische Beziehung nur auf der Grundlage von Idealisierungen eingehen und aufrechterhalten können, muss die Idealisierung unangetastet bleiben. Erst unter der Voraussetzung, dass die therapeutische Beziehung so weit tragfähig ist, dass die Gefahr eines abrupten Abbruchs der Behandlung selbst im Fall einer plötzlichen Entwertung des Therapeuten bzw. der Therapie bewältigt und repariert werden kann, kann die Idealisierung angesprochen werden. Das sollte dann in einer nichtdeutenden Weise geschehen, die die Selbst- und Selbstwertregulierung des Patienten weitgehend unangetastet lässt. Das folgende Beispiel erscheint auf den ersten Blick einfach und alltäglich. Tatsächlich ist der antwortende Umgang der Therapeutin mit der Idealisierungsneigung des strukturell gestörten Patienten jedoch wohl überlegt (Blanck u. Blanck, 1974). Beispiel: Ein Patient mit einer schweren strukturellen Störung, der mehrere vorausgegangene Behandlungsversuche jeweils schon nach wenigen Stunden abgebrochen hatte, hatte die Therapeutin von Beginn an idealisiert. Die Idealisierung war über längere Zeit hinweg der einzige halbwegs tragfähige Boden, auf dem Patient und Therapeutin sich bewegen konnten. Als die therapeutische Beziehung allmählich mehr

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in den gemeinsamen Blickpunkt rückte, konnte schließlich auch die Idealisierung des Patienten vorsichtig zur Sprache gebracht werden. In diesem Fall meinte die Therapeutin bei passender Gelegenheit sinngemäß: »Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie mich als eine so sehr über alle Zweifel erhabene Person sehen. Ich hoffe nur, nicht zu sehr in Ihrer Achtung zu sinken, wenn ich Ihnen sage, dass ich ganz so fehlerlos nicht bin.« In der Annahme, dass die Idealisierung ihrer Person für den Patienten in erster Linie selbstregulative Funktionen erfüllte und der Stabilisierung seines narzisstischen Gleichgewichts diente, versuchte die Therapeutin, sich dem Patienten mit ihrer Antwort in einer Weise zu zeigen, die seine Neigung, sie zu idealisieren, partiell frustrieren würde. Gegenläufig zu der Tendenz des Patienten, sie als idealisiertes Selbstobjekt zu verwenden, versuchte sie, sich ihm als anderes, realistischeres Subjekt zu erkennen zu geben. Indem sie dabei auch andeutungsweise erkennen ließ, wie sie selbst zu sein glaubte, tat sie etwas, was dem Patienten nicht möglich war, nämlich ein Bild von sich selbst zu haben, das sich nicht nur aus »guten« und makellosen Elementen zusammensetzt, sondern ganz im Gegenteil auch Seiten umfasst, die sie selbst kritisch sieht. Potentiell zeigte sie dem Patienten damit zugleich, dass es und wie es möglich sein kann, unabhängiger von dem Bild zu werden, das andere von einem haben, dadurch nämlich, dass man selbst ein halbwegs realistisches Bild von sich hat. Merke: Idealisierungen bzw. idealisierende Übertragungen können manchmal die einzige Schiene sein, über die die therapeutische Beziehung aufrechtzuerhalten ist. Wenn das der Fall ist, sollte die Idealisierung solange nicht relativiert oder in Frage gestellt werden, wie zu befürchten ist, dass der idealisierte Therapeut in der Folge völlig entwertet wird und die Behandlung abgebrochen zu werden droht.

Antworten und Antizipation habituellen Verhaltens Vor dem Hintergrund der oftmals desolaten Erfahrungen mit Beziehungen, die die Entwicklung von Patienten mit schweren strukturellen Störungen geprägt haben, ist ihre Fähigkeit, zu erwartende Folgen des eigenen Verhaltens zu antizipieren, häufig erheblich eingeschränkt. Hier können Interventionen im antwortenden Modus den Patienten wirksam dabei unterstützen, Folgen seines proble-

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matischen und dysfunktionalen Verhaltens, von dem nach allen vorangegangenen Erfahrungen zu erwarten ist, dass der Patient sich dieses Verhaltens auch aktuell wieder bedienen wird, zu antizipieren. Dabei kann es sich als erforderlich erweisen, dass der Therapeut gelegentlich Funktionen übernimmt, die für die Gestaltung und Regulierung von interpersonellen Beziehungen unverzichtbar sind, dem Patienten selbst aber nicht oder nur rudimentär zur Verfügung stehen, beispielsweise die Funktion der Beziehungs- und Objektkonstanz. Auch die passagere Übernahme solcher Funktionen kann im antwortenden Modus erfolgen. Beispiel: Eine strukturell gestörte Patientin, die mit massiven sozialen Ängsten zu kämpfen hatte und sich immer wieder selbstschädigend verhielt, sich häufiger schwere Schnittverletzungen beibrachte, die chirurgisch versorgt werden mussten, und die darüber hinaus einen massiven Diuretika-Abusus betrieb, der gelegentlich bedrohliche Folgen hatte, geriet ein ums andere Mal in schwer auszuhaltende Spannungszustände. Wenn ihre Therapeutin auch nur vorübergehend, etwa am Wochenende, für sie nicht erreichbar war, zog sie sich bis zur völligen Abschirmung zurück und ließ selbst therapeutische Mitarbeiter, mit denen sie kurz zuvor noch ein vertrauensvolles Gespräch geführt hatte, innerlich für sich sterben. In der Folge entstanden über längere Zeit hinweg immer wieder kritische Situationen, die Maßnahmen erforderlich machten, die verhinderten, dass die Patientin sich schweren Schaden zufügte. Aber auch nachdem das selbstschädigende Verhalten mehr in den Hintergrund getreten war und von der Patientin besser kontrolliert werden konnte, drohten ihre Spaltungstendenzen immer wieder in unumkehrbare Objektverluste zu münden. In der Therapie wurde ihre Neigung, auf Trennungen, insbesondere auch auf Trennungen von ihrer Therapeutin, mit massiven Spaltungen und nachfolgendem Objektverlust zu reagieren, antizipatorisch zur Sprache gebracht. In diesem Fall sagte die Therapeutin einige Zeit vor dem Ende der letzten Stunde vor einer mehrtägigen Unterbrechung der Behandlung: »Ich mache mir Sorgen, wenn unsere Zeit gleich zu Ende geht. Ich befürchte, dass Ihnen das, was hier heute war, nachher, wenn Sie mit sich allein sind, wieder verloren geht und dass bis zur nächsten Woche nicht viel von unseren heutigen Erfahrungen für Sie zurückbleibt. Das wird mich in der Zwischenzeit, bis wir uns wieder

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treffen, sicherlich gelegentlich beschäftigen, wenn ich an Sie denke.« Von ihren vorangegangenen Erfahrungen mit der Patientin ausgehend vermutete die Therapeutin, dass die Patientin gute Erfahrungen, die sie mit ihr in der Behandlung machte, als Folge mangelnder Beziehungsbzw. Objektkonstanz nicht festhalten und sich manchmal nicht einmal an sie als Person erinnern konnte, wenn sie sich auch einmal als versagend erwies oder für sie nicht verfügbar war, sobald die Patientin meinte, ihrer zu bedürfen. Darum nahm die Therapeutin selbst die Funktion aktiv wahr, die Beziehung aufrechtzuerhalten, indem sie ihrer Patientin mitteilte, dass sie ihrerseits durchaus gelegentlich an sie denken werde, was tatsächlich auch der Fall war, gleichsam nach dem Motto: »Wenn es schon mich für Sie nicht mehr gibt, wenn ich weg bin, bleibe ich doch in Gedanken mit Ihnen verbunden.« Merke: Mit Interventionen im antwortenden Modus kann der Therapeut sich auf zu erwartende Schwierigkeiten des Patienten beziehen und in Antizipation dieser bei dem Patienten zu erwartenden Probleme Funktionen selbst übernehmen, die dem Patienten aktuell zur Ausübung nicht zur Verfügung stehen.

Antworten und das Primat der Progressionsorientierung Für die Behandlung von Patienten mit schweren strukturellen Störungen kann die innere Rückkehr zu verdrängten Erfahrungen der Kindheit des Patienten und die regressive Wiederbelebung schon überwundener psychosozialer Entwicklungsstufen kein gangbarer und kaum jemals entwicklungsförderlicher Weg sein. Die Behandlung bewegt sich deshalb nicht in die Vergangenheit, sondern schlägt, damit der Patient den Weg nach vorne beschreiten kann, von vornherein eine progressive Richtung ein – im Bemühen, dem Patienten zu ermöglichen, Wege zu finden und nicht verfügbare Mittel allmählich sich zu eigen zu machen, für das eigene Verhalten im Kontext des Verhaltens anderer allmählich aufmerksam zu werden, Veränderungen anzustreben, Entwicklungsschritte nachzuholen, im Zuge des Bemühens um Veränderung unvermeidliche Frustrationen und Misserfolge besser zu ertragen und sich weitere Fähigkeiten aneignen zu wollen, die er sich aufgrund der Bedingungen in seiner Entwicklung nicht hat aneignen können.

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Beispiel: In einer Therapie, die schon längere Zeit dauerte, kam die Patientin eines Tages zur Behandlungsstunde, blickte die Therapeutin bei der Begrüßung musternd an, zögerte einen Moment lang und fragte sie schließlich: »Geht es Ihnen heute nicht gut?« Die Therapeutin beließ es dabei, ihrer Patientin freundlich zu antworten: »Oh, danke der Nachfrage […], tatsächlich geht es mir gut.«

Mit dieser scheinbar so einfachen und leicht hingeworfenen Antwort hatte die Therapeutin deshalb geantwortet, weil sie zu verstehen meinte, dass die Patientin erstmals im Verlauf der Behandlung mit ihrer Frage so etwas wie Sorge um eine andere Person zeigte, sich damit auf eine depressive Position zubewegte und sie, die Therapeutin, nicht mehr wie bis dahin nur als Funktion wahrnahm. Mit ihrer kurzen Äußerung, die ausnahmsweise das Format einer Antwort auch im linguistischen Sinn hatte, versuchte die Therapeutin diesen Entwicklungsschritt zu bestätigen, indem sie die besorgte Frage der Patientin dankend aufnahm. Sie kommentierte das Verhalten somit nicht, sondern machte die Erkundigung der Patientin implizit als ein von ihr begrüßtes Verhalten kenntlich, weil sie darin ein Zeichen für einen wichtigen therapeutischen Fortschritt sah (vgl. Blanck u. Blanck, 1974). Dass der Therapeut bei der psychoanalytisch-interaktionellen Arbeit mit strukturell gestörten Patienten auf Progression und Entwicklung ausgerichtet ist, bedeutet nicht, dass er vermeidet, mit dem Patienten über dessen frühere Erfahrungen zu sprechen. Wenn der Patient von sich aus darauf zu sprechen kommt, wird der Therapeut meist auch darauf eingehen. Allerdings kann das nicht bedeuten, dass der Weg der Therapie über Erinnerungen des Patienten an seine Vergangenheit verläuft. Merke: Der Therapeut sollte vermeiden, regressives Verhalten des Patienten zu unterstützen, sondern sollte im Gegenteil für progressive Entwicklungsschritte des Patienten aufmerksam sein und diese bestätigen.

Motivation zur Behandlung Patienten mit strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen leiden oft mehr daran, dass ihre Umwelt sich ihnen gegenüber nicht so verhält, wie sie das erwarten und wünschen, als

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dass ihnen ihr eigenes Verhalten ein Problem wäre. Zwar ahnen sie manchmal untergründig, dass sie selbst zu den Reaktionen ihrer Umwelt, gegen die sie oft so vehement aufbegehren müssen, beitragen, aber sie sind gleichwohl nur selten in der Lage, sich selbstreflexiv mit ihrem Erleben und Verhalten auseinanderzusetzen und sich der Kraft der Schablonen ihrer Beziehungserfahrungen entziehen zu wollen. Man kann deshalb nicht davon ausgehen, dass der Patient zu einer psychotherapeutischen Behandlung kommt, weil er sich selbst und sein eigenes Verhalten verändern will. Das ist jedoch kein hinreichender Grund, den Patienten für nicht behandelbar zu halten und eine Therapie abzulehnen. Dass der Patient den Weg zum Psychotherapeuten gefunden hat oder zumindest den Empfehlungen gefolgt ist, die ihm den Weg dorthin nahegelegt haben, bedeutet für manche Patienten bereits einen großen Schritt. In Institutionen, in denen der Anteil strukturell gestörter Patienten hoch ist, ist daher folgender Ausgangspunkt für die psychotherapeutische Therapie sogar eher die Regel als die Ausnahme: Die Patienten sind zwar zur Behandlung gekommen, manchmal auch zur Behandlung verpflichtet worden, ohne aber ihr eigenes Verhalten in Frage zu stellen oder für problematisch zu halten. Die Fähigkeit, die eigene Beteiligung an sich wiederholenden Schwierigkeiten im Zusammensein mit anderen zu erkennen, muss erst entwickelt und die Motivation zu einer Behandlung, die das voraussetzt, mit therapeutischer Hilfe erst gewonnen werden. Die Motivation zur Behandlung ist dann nicht Voraussetzung für die Therapie, sondern ist selbst ein erstes wichtiges Ziel der Behandlung. Merke: Wenn Patienten mit strukturellen Störungen sich abweisend und abschätzig gegenüber der Behandlung und den Therapeuten äußern, muss das nicht heißen, dass sie zur Behandlung nicht motiviert sind.

Zusammenfassung: Funktionen von Interventionen im antwortenden Modus Interventionen im antwortenden Modus erfüllen die im Folgenden zusammengefassten Funktionen: ȤȤ sie unterstreichen die Differenz von Selbst und anderer Person (Objekt) und betonen damit Getrenntheit und Individuierung, ȤȤ sie geben selektiv Wirkungen zu erkennen, die das Verhalten des Patienten in Beziehungen einschließlich der therapeutischen

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Beziehung auf den Psychotherapeuten und auf dessen Erleben und dessen Handlungsbereitschaften hat, sie unterstützen die Entwicklung auf Wechselseitigkeit gründender Beziehungen, sie tragen zur Verbesserung von interaktiven Kompetenzen sowie der Fähigkeit bei, die für die Gestaltung und Regulierung von hinreichend stabilen Kontakten mit anderen erforderlich ist, sie machen dem Patienten grundlegende Elemente interpersonellen Geschehens transparent, sie führen dem Patienten vor Augen, wie er mit seinem Verhalten zu dysfunktionalen interpersonellen Zirkeln beiträgt, in die er sich im Zusammensein mit anderen immer aufs Neue verstrickt, sie unterstützen die Entwicklung nicht oder nur eingeschränkt verfügbarer psychischer Funktionen, sie fördern die Funktion des Mentalisierens, sie zeigen dem Patienten, dass der Therapeut sich nicht in destruktive und ausbeuterische Beziehungen verstricken lässt, sondern in der Lage ist, seine eigenen Grenzen zu beachten und für seinen eigenen Schutz zu sorgen (vgl. Ott, 2001).

Der Therapeut als realer und als virtueller Interaktionsteilnehmer Wenn das interpersonelle Geschehen im Hier und Jetzt der therapeutischen Situation in den Brennpunkt der therapeutischen Arbeit rückt, treten zentrale Züge des Verhaltens des Patienten im Zusammensein mit anderen oftmals in größter Dichte und Unmittelbarkeit hervor. Der Patient führt mit seinem »Benehmen« (Freud, 1914/1946) dem Therapeuten unmittelbar vor Augen, wie er sich in interpersonellen Beziehungen häufig verhält, und der Therapeut erfährt gleichsam am eigenen Leib die Wirkungen eines Verhaltens, zu dem der Patient im Kontakt mit anderen immer wieder greift. Wenn der Therapeut sich auf dieses interpersonelle Geschehen zwischen sich und dem Patienten mit Interventionen im antwortenden Modus bezieht, übernimmt er momentan eine Rolle wie die eines realen Teilnehmers an der Interaktion mit dem Patienten im sozialen Alltag.

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Wenn der Patient sich stattdessen über interpersonelle Situationen und Beziehungen äußert, bezieht er sich entweder auf soziale Situationen, an denen er selbst gar nicht beteiligt war, oder er berichtet von Situationen, an denen er selbst teilgenommen und die er selbst mitgestaltet hat. Dabei zeigt der Patient in seinen Schilderungen, wie er Beziehungen wahrnimmt und erlebt, welche Einstellungen im Hinblick auf interpersonelle Beziehungen er hat, was er im Hinblick auf das Zusammensein mit anderen für wichtig hält, wie er sich im Kontakt mit anderen verhält oder gerne verhalten würde und welche Bedeutung Beziehungen mit anderen für ihn haben. Meist bilden sich in seinen Beschreibungen vielfältige Aspekte seiner Beziehungserfahrungen und seines impliziten Beziehungswissens ab, nicht selten weniger im Inhalt seiner Mitteilungen als im Wie seiner Erzählungen. Der Therapeut bezieht sich mit seinen antwortenden Interventionen auf die Schilderungen, mit denen der Patient seine Erfahrungen im Zusammensein mit anderen darstellt und in denen sich sein Erleben und Verhalten und seine Verhaltensbereitschaften in interpersonellen Beziehungen zeigen, indem er virtuell entweder die Rolle des Patienten übernimmt oder die Rolle der anderen Person, des Objekts des Verhaltens des Patienten. Inhaltlich nimmt der Therapeut mit seinen antwortenden Interventionen zu grundlegenden Aspekten des von dem Patienten jeweils geschilderten interpersonellen Geschehens Stellung, etwa indem er mitteilt, wie es ihm an Stelle einer der Personen ergangen wäre, oder indem er erkennen lässt, weshalb er eventuell anders gehandelt hätte oder Ähnliches. Es bleibt dann dem Patienten überlassen, wie weit er von diesen Hinweisen des Therapeuten Gebrauch macht und etwaige Alternativen für sein eigenes Handeln, die darin zum Ausdruck kommen, in Erwägung zieht oder nicht. Beispiel: Eine Patientin berichtet, dass einer Kollegin mit einer Kündigung gedroht wurde, und sie empört sich im Folgenden über den unzumutbaren Umgang des Arbeitgebers mit dieser Kollegin. Da der Therapeut weiß, dass die Patientin sich kaum vorstellen kann, wie ihr eigenes Verhalten auf andere wirken kann, setzt er sich mit seiner Intervention virtuell an die Stelle der anderen Person und fordert die Patientin damit implizit auf, die Situation aus der Perspektive des Objekts, hier

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des Arbeitgebers, zu betrachten und etwaige Beweggründe des Arbeitgebers für dessen Handeln in Betracht zu ziehen: Therapeut: »Ich frage mich, was Ihren Arbeitgeber wohl dazu gebracht haben könnte, der Kollegin mit einer Kündigung zu drohen.« Daraufhin empört sich die Patientin ein weiteres Mal: »Wieso ›dazu gebracht haben könnte‹, das ist doch einfach mies.« Therapeut: »Mag sein … kann ich nicht beurteilen. Da Sie den ja kennen, hatte ich gedacht, Sie könnten sich vielleicht vorstellen, wie der dazu gekommen sein könnte, das zu tun.« (Pause) Patientin: »Na ja … zu mir ist der eigentlich ganz anständig. Vielleicht … die fehlt montags ziemlich oft …«

Der Therapeut kann sich angesichts vergleichbarer Schilderungen aber auch virtuell an die Stelle der anderen Person setzen. Beispiel: Eine Patientin spricht darüber, dass eine Kollegin, auf die sie nicht gut zu sprechen ist, morgens öfter einmal zu spät zur Arbeit kommt, und sie zeigt sich empört darüber, dass »die noch nicht rausgeflogen ist«. Auch diese Patientin, die häufig impulsiv handelt, hat große Schwierigkeiten damit, sich in die Lage anderer Personen zu versetzen. Zumal dann, wenn sie der anderen Person gerade nicht freundlich gesonnen ist, zieht sie nicht einmal die Möglichkeit in Erwägung, dass diese Person ihrerseits Gründe für ihr Verhalten haben könnte. In diesem Fall »identifiziert« sich der Therapeut in seiner Intervention virtuell mit dem Subjekt der Szene, der Kollegin, die zu spät kommt, und regt die Patientin implizit dazu an, sich deren Beweggründe für das Verhalten vor Augen zu führen, indem er sagt: Therapeut: »Gibt’s denn irgendwelche Hinweise dafür, aus welchen Gründen Ihre Kollegin häufiger zu spät zur Arbeit kommt?« Tatsächlich stellte sich einige Zeit später heraus, dass die Kollegin kleine

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Kinder zu versorgen hatte und vor allem dann gelegentlich zu spät zur Arbeit kam, wenn eines der Kinder krank war. Die anfängliche missgünstige Feindseligkeit der Patientin ihrer Kollegin gegenüber wurde dadurch merklich gemildert.

Emotional dichter wird die Situation in der Therapie, wenn der Patient über Erfahrungen und Ereignisse berichtet, in die er selbst involviert war. Beispiel: Ein Patient, der wegen einer Neigung zu impulshaftem Verhalten mehrfach seinen Arbeitsplatz verloren und bereits einmal vor Gericht gestanden hatte, weil er einem Nachbarn Gewalt angedroht hatte, berichtet, dass ein Kollege ihn »von der Seite angemeckert« habe. Während der Patient darüber sprach, schien er zunehmend in Wut zu geraten. Dann meinte er, dass er seinen Kollegen am liebsten »eins in die Fresse gehauen« hätte. Therapeut: »Na, gut, dass Sie’s nicht getan haben und dass Sie Ihr Verhalten haben kontrollieren können. War vermutlich nicht ganz leicht für Sie, die Wut für sich zu behalten. Aber Sie haben’s geschafft. Wer weiß, was sonst passiert wäre.« In seiner Intervention identifizierte sich der Therapeut mit dem Patienten und übernahm virtuell dessen Position. Zugleich bestätigte er den Patienten für die in der Situation gezeigte Fähigkeit, seine Wut und korrespondierende Handlungsimpulse zu kontrollieren. Patient: »Fühlt sich aber nicht so gut an.« Therapeut: »Erst einmal nicht?« Patient: »Jetzt bin ich natürlich froh, dass ich an mich gehalten habe.« Zu einer ganz ähnlichen Situation kam es in der Behandlung eines jugendlichen Patienten. Der Jugendliche hatte berichtet, dass er den Impuls verspürt habe, seinen Lehrherrn wütend zu beschimpfen. In der Therapie drehte sich das Gespräch in der Folge um die Frage, ob es für den Jugendlichen noch andere Möglichkeiten geben könnte, mit

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derartigen Situationen umzugehen, ohne Gefahr zu laufen, entweder wütend zu werden oder aber in Resignation zu verfallen. Patient: »Vielleicht sollte ich dem mal so richtig meine Meinung sagen.« Therapeut: »Hm. Was würden Sie dann sagen?« Patient: »Dass er ein verdammtes … ein Nazi ist.« (Pause) Therapeut: »Ernsthaft?« Patient: »Fänd’ ich schon nicht schlecht.« Therapeut: »Okay, … Nur frag’ ich mich, wie der das aufnehmen würde und was das dann möglicherweise für Folgen hätte.« Der Therapeut hat mit seiner Intervention virtuell die Position des Objekts übernommen, hier des Lehrherrn des Patienten, und forderte den Patienten implizit dazu auf, zu antizipieren, welche Folgen sein anfangs beabsichtigtes, impulshaftes Verhalten hätte haben können. Hätte der Therapeut sich in der gleichen Situation mit einer Intervention an die Stelle des Patienten gesetzt und virtuell dessen Rolle übernommen, hätte er, um den Patienten zur Antizipation möglicher Folgen seines beabsichtigten Handelns anzuregen, beispielsweise sagen können: Therapeut: »Wenn ich versuche, mich an Ihre Stelle in dieser Situation zu versetzen, würde es mich nach allem, was Sie über den Meister berichtet haben, möglicherweise ziemlich in den Fingern gejuckt haben, dem so etwas zu sagen. Aber ich hätte es auch nicht gemacht, weil ich damit gerechnet hätte, dass das die Sache eher noch schlimmer für mich gemacht hätte.« Hätte der Therapeut sich hingegen mit dem Objekt, hier dem Meister, »identifiziert« und mit seiner Intervention virtuell dessen Rolle übernommen, hätte er beispielsweise folgendermaßen intervenieren können: Therapeut: »Ich versuche gerade, mir vorzustellen, ich wäre Ihr Meister in dieser Situation, und Sie würden mich einen Nazi nennen, nachdem ich mich über Sie geärgert habe, und das auch noch, während andere

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dabei sind … verbessern würde das Ihren Stand bei mir nicht gerade, ganz im Gegenteil.«

Patienten mit strukturellen Störungen verhalten sich nicht nur auf dem Hintergrund umschriebener Übertragungen bestimmten Personen gegenüber auffällig, während sie andere interpersonelle Beziehungen in befriedigenderer Weise gestalten können, sondern das dysfunktionale Verhalten prägt meist ihre gesamte soziale Lebenswelt. Wenn der Patient sich über Beziehungen äußert, von denen er nur erfahren hat, oder über Beziehungen, an denen er selbst beteiligt war, und sich der Therapeut entweder in die Lage des Patienten bzw. des Akteurs oder aber der anderen Person versetzt und dabei virtuell Funktionen in dem jeweiligen interpersonellen Geschehen, die dem Patienten nicht verfügbar sind, übernimmt, ist er gleichsam virtueller Interaktionspartner in der von dem Patienten jeweils geschilderten Szene. Merke: Wie der Patient das Zusammensein mit anderen erlebt und sich in interpersonellen Situationen verhält, zeigt sich auch darin, wie er über Beziehungen spricht. Dabei kann es sich um Beziehungen handeln, an denen er selbst beteiligt war, aber auch um Beziehungen, an denen er selbst nicht beteiligt war. Um dem Patienten Funktionen verfügbar zu machen, die für die Regulierung und Gestaltung von Beziehungen erforderlich sind, versetzt der Therapeut sich entweder in die Lage des Akteurs bzw. des Patienten oder in die Lage des Objekts bzw. der anderen Person und äußert sich aus dieser virtuellen Rolle heraus zu dem Beziehungsgeschehen, von dem der Patient berichtet hat.

Zum therapeutischen Umgang mit Affekten Affekte als biologisch verankerte Signale haben wichtige Funktionen sowohl für die Selbstregulierung als auch für die Regulierung von interpersonellen Beziehungen. Affekte vermitteln – entsprechend ihrer propositionalen Struktur (Krause, 2006) – im Verhältnis von Selbst und anderem, von Subjekt und Objekt. Um die oft gravierenden Einschränkungen des affektiven Erlebens und des Ausdrucks von

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Affekten bei Patienten mit strukturellen Störungen in die Behandlung einzubeziehen und zum Gegenstand der therapeutischen Arbeit machen zu können, ist es günstig, wenn der Therapeut seine Interventionen mit dem Ausdruck eigener Gefühle verknüpft, die sich bei ihm in Antwort auf das Verhalten des Patienten einstellen. Damit bietet sich für den Patienten die Möglichkeit, anhand der therapeutischen Beziehung Einblick in die Funktionen zu gewinnen, die Affekte in diesem Moment für diese Beziehung und im Weiteren für Beziehungen überhaupt und für deren Regulierung haben. Indem der Therapeut mit seinen antwortenden Interventionen sein eigenes affektives Erleben im interpersonellen Geschehen in der Therapie dem Patienten selektiv zugänglich und transparent macht, regt er ihn zudem zur differenzierenden Wahrnehmung eigener Gefühle und von deren Ausdruck an. Wahrnehmung und Differenzierung von Gefühlen Patienten mit strukturellen Beeinträchtigungen der Persönlichkeit haben sich vor schmerzlichen, demütigenden, vernachlässigenden und traumatisierenden Erfahrungen, die ihnen in ihrer Entwicklung zugemutet wurden, oftmals nur schützen können, indem sie sich nach innen hin taub, gleichsam gefühlstaub gemacht haben. Das hat in der weiteren Entwicklung oftmals dazu geführt, dass sie verschiedene Qualitäten von Gefühlen nicht oder nur schwer wahrnehmen können. Sie empfinden vielleicht, dass sie »gut drauf« oder »schlecht drauf« sind, oder sie fühlen sich »toll« oder »mies«, empfinden Behagen oder Missbehagen. Differenziertere Gefühlsqualitäten wahrzunehmen ist ihnen aber oft nicht möglich, weder scheinen sie Freude zu kennen noch Kummer, weder Dankbarkeit noch Zärtlichkeit, weder Ärger noch Zuneigung. »Schlechte Gefühle« oder andere Formen von Unwohlsein können bei ihnen die Qualität eines körpernahen, physisch-psychischen Missbehagens haben, das dem Erleben diffusen Schmerzes ähnlich ist (Bellak, Hurvich, Silvan u. Jacobs, 1968). Bei anderen Patienten, etwa bei Patienten mit schweren Borderline-Störungen, beschränkt sich die Wahrnehmung von Gefühlen oftmals auf wenige, vergleichsweise grobe Gefühlsqualitäten, beispielsweise von ungerichteter Wut, während andere, zumal ambivalentere Gefühlsqualitäten nur wenig

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zugänglich sind. Vor allem Gefühle, die sich mit dem Ausdruck von Bedürftigkeit verbinden, beispielsweise Enttäuschung oder Sehnsucht, oder Gefühle, die dokumentieren könnten, dass andere Personen nennenswerten Einfluss auf sie haben und ihnen wichtig sind, beispielsweise Kränkungen, sind den Patienten oft verschlossen. Für wieder andere Patienten sind Gefühle generell bedrohlich, weil sie fürchten, angesichts intensiver Gefühle die Kontrolle über das eigene Verhalten zu verlieren oder damit ihre Unabhängigkeit bzw. Autarkie einzubüßen. Indem sie Gefühle nicht wahrnehmen, können sie das Bild von Unberührbarkeit und Souveränität aufrechterhalten. Beispiel: Eine Patientin, die in einem südeuropäischen Land aufgewachsen ist und während ihrer Kindheit über Jahre hinweg körperlich misshandelt worden ist, meinte, sie habe, soweit sie sich zurückerinnern könne, Gefühle niemals bewusst empfunden. In der Behandlung in der Klinik sah sie sich damit konfrontiert, dass einige andere Patienten relativ offen über ihre Gefühle sprachen. Mit einem anfangs unbehaglichem Befremden musste sie registrieren, dass Mitpatienten bei Abschieden traurig waren, sich übereinander ärgerten, manchmal wütend reagierten oder sich vor Neid grämten. Nachdem sie glaubte, feststellen zu müssen, dass sie selbst gar keine Gefühle habe, ihr von therapeutischer Seite aber gesagt wurde, dass auch sie sicherlich Gefühle habe, sich wahrscheinlich aber habe schützen müssen, indem sie ihre Gefühle nicht wahrgenommen habe, schien sie erleichtert. Einige Zeit später wandte sie sich mit dem Ausdruck zunehmend neugierigen Erstaunens an Mitpatientinnen, um sie zu fragen, ob sie eigentlich keine Angst vor ihren Gefühlen hätten, immerhin seien sie doch jederzeit in Gefahr, dass ihre Gefühle außer Kontrolle gerieten, und dann könnten sie ja wohl nicht mehr sicher sein, was sie dann tun würden.

Wie bei dieser Patientin kann es bei strukturell beeinträchtigten Patienten, bei denen es Hinweise dafür gibt, dass sie seit vielen Jahren – unter Umständen sogar schon in frühen Entwicklungsphasen – kaum Zugang zu ihren Gefühlen hatten, manchmal hilfreich sein, wenn der Therapeut in einem ersten Schritt umschriebenes, kognitives Wissen über Gefühle vermittelt und über deren Funktion und Bedeutung informiert, insbesondere plausibel darstellt, dass mit der eingeschränkten Wahrnehmung von Gefühlen wichtige Signale für

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die Selbstregulierung und für die Regulierung von interpersonellen Beziehungen nicht zur Verfügung stehen. Für viele Patienten sind insbesondere von ihnen oft als negativ bezeichnete Gefühle einfach nur unangenehm und sollen »weg« sein. Über kognitives Wissen von der Funktion von Gefühlen zu verfügen, kann dazu beitragen, Gefühle zu entdämonisieren, was für die weitere therapeutische Arbeit von einigem Nutzen sein kann. Indem er die Aufmerksamkeit des Patienten immer wieder auf gefühlshaftes Erleben lenkt, unterstützt der Therapeut den Patienten dabei, Gefühle nach und nach deutlicher wahrzunehmen und körperliches Erleben und diffuse Gefühlsqualitäten zu differenzieren. Dabei kann es hilfreich sein, wenn der Therapeut verschiedene Gefühlsqualitäten benennt, die dem augenblicklichen Erleben des Patienten eventuell nahekommen könnten. Beispiel: Bei einem Patienten, der über viele Jahre hinweg alkoholabhängig war, zeigte sich, dass er – wie Kranke mit süchtig-abhängigem Verhalten häufig – nicht in der Lage war, Gefühle genauer wahrzunehmen. Wenn es ihm »ganz gut« ging, verspürte er – wie sich nach und nach erkennen ließ – diffuses, körperliches Behagen; wenn es ihm »schlecht« ging, empfand er ein ebenfalls körperlich empfundenes, schmerzähnliches Missbehagen. Als der Patient wieder einmal berichtete, dass es ihm »schlecht« ergangen sei, nachdem er sich von einer Bekannten, für die er sich interessiere, abgewiesen gefühlt habe, legte er, während er das sagte, seine Hand auf die Gegend über dem Brustbein. Der Therapeut meinte: »Ist es Ihnen möglich, sich daran zu erinnern, wie sich dieses ›schlecht‹ angefühlt hat? Sie haben das offenbar in der Brust verspürt – wie einen Schmerz, wie eine Verletzung, vielleicht wie Kummer?« Daraufhin antwortete der Patient: »Ich weiß nicht … ein Schmerz vielleicht … ja, so … als wenn mir jemand in die Brust gestochen hat … ja, so vielleicht.« In diesem Fall versuchte der Therapeut, das diffuse körperliche Missbehagen zu differenzieren, das der Patient zum Ausdruck gebracht hatte, indem er verschiedene Qualitäten in Betracht zog – körpernah als Schmerz und Verletzung, gefühlshafter als Kummer. Sein Bemühen galt der Wahrnehmung von Gefühlen und deren genauerer Unterscheidung, damit der Patient sich nach Möglichkeit deren Signalfunktion allmählich würde zunutze machen können.

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Ein derartiges Vorgehen kann bei strukturell gestörten Patienten, denen Affekte häufig so gut wie gar nicht oder nur diffus wahrnehmbar sind, immer nur in kleinen Schritten erfolgen. Wenn der Therapeut mit seinem Patienten an der Wahrnehmung von Gefühlen arbeitet, sollte er sorgsam darauf achten, dass der Patient nicht lediglich Gefühlswörter benutzt, die Gefühle aber nicht wirklich empfindet. Dazu kann es immer dann leicht kommen, wenn der Patient die Sprache, die der Therapeut oder andere Patienten verwenden, um gefühlshaftes Erleben auszudrücken, imitiert, um damit einer vermeintlichen Erwartung nachzukommen. Ein Patient sagt dann beispielsweise, dass er ärgerlich oder enttäuscht sei, während sich bei genauerem Hinsehen herausstellt, dass er weder das eine noch das andere Gefühl empfunden hat, sondern lediglich sozialen Regeln für den Gebrauch von Gefühlswörtern gefolgt ist. Andere Patienten sprechen zwar von Gefühlen, beispielsweise von Ärger, verspüren tatsächlich aber diffuses Unbehagen, oder sie nennen Enttäuschung, was sich tatsächlich als Kränkung erweist. Manchmal passen sich Patienten – insbesondere in stationären Einrichtungen – an Konventionen an, die sich in dem jeweiligen therapeutischen Milieu etabliert haben. In der einen Einrichtung mag es erwünscht erscheinen, in bestimmten Situationen ärgerlich zu sein oder sich durchsetzen zu können, sich einzufühlen und sich zu verstehen, in einer anderen, nein sagen zu können oder sich gekränkt zu fühlen oder sich zur Wehr zu setzen. So kann es leicht dazu kommen, dass Patienten eine mit sprachlichen Stereotypen durchsetzte Ausdrucksweise verwenden, sie »fühlen eine Aggression«, »sind jetzt betroffen«, merken »eine Kränkung« oder können sich »schon gut abgrenzen«, ohne dass den sprachlichen Stereotypen Gefühle korrespondieren. Viele Patienten mit strukturellen Störungen können auch die Gefühle anderer Menschen nicht verstehen und sich in andere Menschen nur schwer einfühlen. Sie gehen davon aus, dass andere genauso wie sie selbst empfinden, und missdeuten deren affektive Signale. Die Erfahrung, dass die andere Person in Wirklichkeit nicht wie sie selbst fühlt, kann dann manchmal ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Differenzierung von Selbst und anderem hin zu Beziehungen sein, bei denen die andere Person als eigenständiges Subjekt in ihrem eigenen Recht wahrgenommen wird.

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Ausdruck von Gefühlen Die Folgen struktureller Beeinträchtigungen affektiven Erlebens manifestieren sich oftmals auch darin, dass Gefühle, die nur diffus wahrgenommen werden, mit einem schwer aushaltbaren Spannungszustand einhergehen und leicht zu imperativen Handlungszwängen werden. Kränkungswut droht in der nächsten Sekunde in gewalttätiges Verhalten zu münden, Scham weckt den heftigen Impuls, sich selbst zum Verschwinden zu bringen. Vor allem Patienten mit antisozialen und narzisstischen Störungen, aber auch Borderline-Patienten können erhebliche Probleme damit haben, intensivere Gefühle auf eine Weise auszudrücken, die von anderen toleriert werden kann. Sie halten Affekte nur schwer aus, versuchen Gefühle mit selbstschädigenden Gegenmaßnahmen unter Kontrolle zu bringen oder reagieren diese Gefühle agierend in impulsivem Verhalten ab. Manche Patienten vertreten private Ideologien, die ihr affektgetriebenes Verhalten legitimieren sollen, beispielsweise damit, dass »Gefühle rauslassen« gesund oder Gefühle zu zeigen »ehrlich« sei, ganz gleich, ob die Grenzen anderer damit überschritten werden oder nicht. Beispiel: In einer Gruppe, in der bei einigen Patienten eine narzisstische Entwicklungsstörung im Vordergrund stand, bei mehreren anderen Patienten eine dependente Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde, hatte sich eine Patientin wütend und lauthals über die Verspätung eines Mitpatienten mit den Worten beschwert, dass sein Verhalten »zum Kotzen« sei. Nach einigem von Attacken und ängstlichem Rückzug geprägten Hin und Her wurde in der Gruppe implizit darüber verhandelt, ob überhaupt und wenn ja, wie man Gefühle ausdrücken solle. Einige Patienten vertraten nachdrücklich, dass man Gefühle so, wie man sie jeweils empfinde, auch »rauslassen« solle, alles andere sei nur »Theater« und »verlogen«; die Patientin, der das Verhalten ihres Mitpatienten »zum Kotzen« erschienen sei, habe ihre Gefühle »offen und ehrlich« gezeigt. Andere Patienten ließen Erschrecken erkennen und deuteten ängstlich an, dass sie solche Gefühle nicht kennen; zwar könnten sie sich selbst oft nicht leiden, manchmal ekelten sie sich auch geradezu vor sich selbst, aber es bereite ihnen panische Angst, wenn es in der Gruppe so heftig zugehe. Im Weiteren blieb die eine Fraktion dabei, dass man sich in der Gruppe äußern wolle, wie man gerade empfinde; wer so »mimosenhaft«

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sei, das nicht zu vertragen, müsse damit selber fertigwerden. Die andere Fraktion sanktionierte diese Auffassung mit Schweigen, mit angstgetönter Abwendung und dem Ausdruck duldsamer Leidensbereitschaft. In der Folge entwickelten sich zwischen beiden Untergruppen Züge einer sadomasochistischen Kollusion, und es verging einige Zeit, ehe man sich bis auf Weiteres darauf verständigt hatte, dass Gefühle zwar »spontan und ungeschminkt« geäußert werden sollten, aber nur mit Einschränkungen, nämlich dann, wenn die anderen »das auch abkönnen«.

Der antwortende Modus eignet sich dazu, den Patienten mit Folgen zu konfrontieren, die sein affektbestimmtes Verhalten für die gegenwärtige Beziehung hat, in diesem Fall die therapeutische Beziehung, ohne dass der Therapeut auf den Patienten mit Worten hinzeigt, wie das bei Deutungen leicht der Fall sein kann. Über die selektiv und gezielt eingesetzten Antworten des Therapeuten erfährt der Patient, dass er mit dem Ausdruck seiner Gefühle Wirkungen auf sein Gegenüber haben kann und welche Wirkungen das in diesem Fall sind, ohne hier – anders als unter Alltagsbedingungen – mit schwerer wiegenden Folgen seines affektiv bestimmten Verhaltens rechnen zu müssen. Merke: Um die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Gefühlen zu fördern, die bei Patienten mit strukturellen Störungen oft erheblich beeinträchtigt ist, kann es hilfreich sein, wenn der Therapeut sich den Gefühlen des Patienten annähert, indem er ihm verschiedene Qualitäten für das affektive Erleben anbietet, die sich möglichst nahe an dem augenblicklichen Erleben des Patienten bewegen. Wenn andere Patienten die Auffassung vertreten, Gefühle ungefiltert ausdrücken zu wollen, spiegelt das oftmals eingeschränkte Fähigkeiten wider, den Ausdruck von Gefühlen zu steuern und auf die jeweiligen Umstände abzustimmen.

Zum therapeutischen Umgang mit nichtsprachlichem Verhalten Die frühen, oftmals vernachlässigenden oder traumatisierenden Beziehungserfahrungen von Patienten mit strukturellen Störungen der Persönlichkeitsentwicklung sind nicht sprachlich-symbolisch

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repräsentiert und ihnen deshalb nicht als explizites, kommunizierbares Wissen zugänglich, sondern werden im Zusammensein mit anderen im Vollzug von Interaktion – auch in der therapeutischen Beziehung – aktualisiert. Das implizite Beziehungswissen wird gezeigt, aber nicht sprachlich-symbolisch mitgeteilt. Das nichtbewusste Beziehungswissen stellt sich in dem jeweils aktuellen Beziehungsgeschehen dar (Streeck, 2000, 2004). Dabei gerät das interpersonelle Geschehen häufig zu szenischen Darstellungen oder Enactments; sie werden in erster Linie mit körperlichen, nichtsprachlichen Mitteln gestaltet. Das nichtsprachliche Verhalten hat darin keine semantische Funktion, keine bestimmten, mehr oder weniger festen Bedeutungen (»wer sich am Kopf kratzt, ist verlegen« und Ähnliches), sondern dient in erster Linie der Regulierung der Interaktion. Wenn der Psychotherapeut kontrafaktisch davon ausgeht, dass körperliches, nichtsprachliches Verhalten seelisches Erleben ausdrückt, gerät er leicht und oft unbemerkt in die Haltung eines Beobachters, der meint, aus dem Verhalten des Patienten Rückschlüsse auf dessen seelisches Befinden ziehen zu können. Das kann strukturell gestörte Patienten leicht beunruhigen und ängstigen, weil sie die Haltung des Therapeuten wie einen Versuch erleben, durch Beobachtung ihres sichtbaren Verhaltens ihres »Inneren« habhaft zu werden. Wenn der Therapeut meint, angesichts des körperlichen Verhaltens des Patienten auf dessen seelisches Befinden schließen zu können und sich diesbezüglich eines hinzeigenden therapeutischen Gestus bedient, kann das bei Patienten, die im Zusammensein mit anderen ohnehin unsicher sind, zu einer Verstärkung etwa ihrer Angst vor Beschämung führen; Patienten, deren Selbstgrenzen instabil sind und die das Gefühl haben, sich gegenüber ihrer Umgebung nicht sicher abschirmen zu können, beispielsweise präpsychotische Patienten, erleben Interventionen, die offen lassen, ob der Therapeut aus ihrem nichtsprachlichen Verhalten möglicherweise ihr inneres Befinden zu erkennen vermag, als intrusiv und grenzenüberschreitend und fühlen sich dadurch unter Umständen sogar bedroht. Zudem werden strukturell beeinträchtigte Patienten in Reaktion auf den Verweis auf ihr körperlich-gestisches Verhalten versuchen, ihr Verhalten oftmals noch mehr als bis dahin schon zu kontrollieren, was wiederum leicht zur Folge hat, dass das Zusammensein mit anderen noch schwieriger als ohnehin schon wird. Wenn der Therapeut nichtsprachliches Verhalten des Patienten anspricht, sollte das mit großer Zurückhaltung geschehen. Will er

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nicht riskieren, dass der Patient sich zum Objekt von Beobachtung gemacht fühlt, beschämt wird, sich ängstlich zurückzieht, das Gefühl bekommt, vor dem Therapeuten nichts verbergen zu können, oder sich gar in der psychotischen Fantasie bestätigt sieht, dass der Therapeut in der Lage ist, in sein Inneres zu blicken, muss der Therapeut von der Versuchung Abstand nehmen, dem beobachteten Verhalten irgendeine fixe Bedeutung zu unterlegen, die er im Unterschied zu seinem Patienten vermeintlich kennt und die das Verhalten ohnehin nicht hat. Darum sollte das nichtsprachliche Verhalten des Patienten in keinem Fall auf den Ausdruck unbewussten seelischen Erlebens hin interpretiert werden. Bei Patienten, die Gefühle kaum wahrnehmen und ausdrücken können, kann der Therapeut manchmal anhand ihres körperlichen Verhaltens erahnen, wie in diesem Moment die Beziehung zu ihm ist oder sich verändern soll. So können eine flüchtige Abwendung des Blickes oder ein geringfügiges Herabrutschen im Sessel im Kontext einer vorangegangenen Äußerung des Therapeuten ein Hinweis darauf sein, dass der Patient auf die Äußerung des Therapeuten hin die Distanz zu seinem Gegenüber zu vergrößern wünscht, oder eine kaum merkliche Verzögerung der Antwort kann einen Vorbehalt gegenüber dieser zuvor geäußerten Intervention des Therapeuten markieren. Vielleicht hat den Patienten die vorangegangene Äußerung des Therapeuten gekränkt, ohne dass er das bewusst bemerkt hätte, und er vergrößert mit seiner Blickabwendung die interpersonelle Distanz oder er macht sich in seinem Sessel kleiner, um nicht von einem nächsten Angriff getroffen zu werden. Vielleicht wagt der Patient auch nicht, sich seine Kritik einzugestehen, weil Kritik als destruktiv gefürchtet wird, und er zeigt lediglich mit seiner verzögerten Reaktion, dass er mit dem Therapeuten nicht übereinstimmt. Solches Verhalten hat dann eine interpersonelle Funktion, ist aber kein Hinweis auf bestimmtes innerseelisches Befinden des Patienten. Beispiel: Als der Therapeut bemerkte, dass der Patient, von dem er wusste, dass er große Schwierigkeiten hatte, seine Belastbarkeitsgrenzen und insbesondere seine Kränkbarkeit zu bemerken, unmittelbar nach Beendigung seiner Äußerung kaum merklich ein wenig in sich zusammenzusacken schien, und daraufhin vermutete, dass das körperliche Verhalten des Patienten eine Reaktion auf seine Intervention sei, sagte er im nächsten

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Schritt: »Könnte es sein, dass Sie eben ein wenig in ihrem Sessel nach unten gerutscht sind, nachdem ich diese Bemerkung gemacht habe?« Wenn der Patient geantwortet hätte, dass da nichts gewesen sei, hätte der Therapeut das auf sich beruhen lassen, zumal dann, wenn er vermutet hätte, dass der Patient nicht bemerken könne oder wolle, wenn ihn eine Äußerung des Therapeuten getroffen oder berührt habe. In diesem Fall antwortete der Patient mit einem Lachen, das der Therapeut als Ausdruck von Beschämung verstand: »Na ja, das war ja auch ganz schön starker Tobak.« Daraufhin meinte der Therapeut: »Ich hoffe, ich habe Sie nicht gekränkt, das wäre nicht meine Absicht gewesen. Bitte sagen Sie mir, wenn mir das einmal passieren sollte oder jetzt schon passiert ist.« Daraufhin der Patient: »Gekränkt? Weiß ich nicht, kenne ich, glaub’ ich, nicht. Aber angenehm war’s nicht gerade.«

Der Therapeut hat hier nicht auf das körperliche Verhalten seines Patienten hingewiesen und auch keine Vermutungen darüber angestellt, was das Verhalten vermeintlich bedeuten könnte, sondern er hat es dem Patienten überlassen zu sagen, ob es überhaupt die Äußerung des Therapeuten gewesen war, auf die er reagiert hatte, und in welcher Weise das eventuell der Fall gewesen war. Merke: Der Therapeut sollte für körperliches, nichtsprachliches Verhalten des Patienten besonders aufmerksam sein, das Verhalten aber nur ausnahmsweise ansprechen. Wird das Verhalten des Patienten angesprochen, sollte das zurückhaltend und in einer Weise geschehen, die es dem Patienten überlässt, sich zu der etwaigen Bedeutung des Verhaltens zu äußern.

Zum Primat der Selbstregulierung Manchmal sind Patienten mit strukturellen Störungen so weitgehend davon in Anspruch genommen, ihre Selbstregulierung aufrechtzuerhalten, dass sie nicht oder kaum noch in der Lage sind, sich auf das Gespräch mit dem Therapeuten einzustellen. Sie sind motorisch hochgradig unruhig und scheinen unter erheblicher Spannung zu stehen, so dass sie für das Geschehen um sie herum nicht mehr aufmerksam sein können, oder sie scheinen fortlaufend mit ihrer

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eigenen Körperlichkeit beschäftigt zu sein. Obwohl jedes Verhalten in Anwesenheit von anderen, auch der Selbstregulierung dienendes Verhalten, immer auch Implikationen für die Regulierung der Beziehung hat, muss für den Therapeuten unter solchen Umständen im Vordergrund stehen, den Patienten dabei zu unterstützen, seine Selbstregulierung zu stabilisieren. Soweit dies nicht schon bei den ersten Untersuchungen zutage getreten ist und deshalb im Zuge der Diagnostik nicht hat abgeklärt werden können, sollten hochgradige motorische Unruhe und andere, primär der Selbstregulierung dienende, auffällige Verhaltensweisen den Therapeuten zudem immer daran denken lassen, dass es sich um einen schwer traumatisierten Patienten handeln könnte. Wenn das auffällige Verhalten des Patienten sich erst im Verlauf der therapeutischen Arbeit zeigt, sollte der Therapeut, sobald der Patient sich wieder stabiler regulieren kann, versuchen, mit dem Patienten die Umstände zu klären, die dazu geführt haben, dass seine selbstregulativen Fähigkeiten in der therapeutischen Situation überfordert waren. Sollte sich herausstellen, dass das auffällige Verhalten des Patienten Hinweis auf einen dissoziativen Zustand war, muss der Therapeut eventuell weitergehende therapeutische Maßnahmen treffen, wie sie für die Behandlung posttraumatischer Zustände angezeigt sind. Merke: Wenn ein Patient in der therapeutischen Situation so weitgehend mit seiner Selbstregulierung beschäftigt ist, dass er für seine Umgebung und für sein eigenes Verhalten im Kontext des Verhaltens seiner Umgebung nicht mehr aufmerksam sein kann, muss in der Behandlung im Vordergrund stehen, den Patienten bei der Wiedergewinnung stabiler selbstregulativer Fähigkeiten zu unterstützen. Sobald der Patient seine selbstregulativen Fähigkeiten wiedergewonnen hat, sollte der Therapeut mit dem Patienten auch zu klären versuchen, welche Umstände dazu geführt haben, dass der Patient hinsichtlich seiner Selbstregulation vorübergehend überfordert war.

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Besondere Probleme in der therapeutischen Arbeit Schweigen des Patienten und Initiative zum Kontakt Patienten mit schwereren strukturellen Störungen, mit Beeinträchtigungen der Selbstwertregulierung und Beschämungsängsten schaffen es oft nicht, die Initiative zu übernehmen, um in Kontakt zu Personen zu treten, die sie nicht oder kaum kennen. Zumal dann, wenn die Patienten unter nennenswerten sozialen Ängsten leiden, kann die Angst vor Beschämung überwältigend sein. Wenn der Therapeut das Schweigen des Patienten seinerseits mit Schweigen beantwortet, kann das leicht dazu führen, dass der Patient den Eindruck bekommt, dass ihm nur ein weiteres Mal seine Schwierigkeiten vor Augen geführt werden, was dann weitere Beschämung nach sich zieht, bis es dem Patienten schließlich ganz unmöglich erscheint, sich von sich aus zu äußern. Dazu kann es insbesondere dann leicht kommen, wenn der Patient zu Beginn der Behandlungsstunde schweigt und es ihm nicht gelingt, den ersten Schritt zu machen. Unter diesen Umständen sollte der Therapeut seinerseits die Kontaktinitiative übernehmen, und zwar in der Behandlung weiterhin so lange, wie der Patient selbst dazu noch nicht in der Lage ist. Andere Patienten schweigen zu Beginn deshalb, weil es ihnen nicht möglich ist, die diffus empfundene Vielfalt ihres schwer fassbaren inneren Erlebens in Worten auszudrücken. Manchmal berichten sie im Rückblick von einem Empfinden »wie viele lose Enden«, das sich immer noch verstärkt hat, wenn sie versucht haben, dessen habhaft zu werden, was in ihnen vor sich geht. Auch in diesem Fall sollte der Therapeut die Initiative ergreifen und das Schweigen frühzeitig unterbrechen. Dazu kann eine Einladung an den Patienten, zu sagen, was ihn beschäftigt, manchmal ebenso ausreichen wie eine kurze Nachfrage nach seinem Befinden. Darüber hinaus ist es in solchen Fällen hilfreich, damit der Patient nicht noch mehr in Verwirrung gerät, wenn der Therapeut durch sein Verhalten den Patienten dabei unterstützt, seine Aufmerksamkeit von sich selbst weg und stattdessen der äußeren Realität zuzuwenden. Merke: Patienten mit strukturellen Beeinträchtigungen sind häufig nicht in der Lage, die Initiative zum Kontakt zu übernehmen. Abzuwarten und den Patienten mit seinen Schwierigkeiten sich selbst zu

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überlassen ist therapeutisch nicht sinnvoll und würde dem Patienten seine Einschränkungen nur ein weiteres Mal vor Augen führen. Deshalb sollte in diesem Fall der Therapeut die Kontaktinitiative übernehmen.

Schweigen während der Behandlung Schweigen des Patienten im Verlauf des therapeutischen Gesprächs kann vielfältige Gründe haben. Das Schweigen kann Ausdruck von Ratlosigkeit sein; es kann eine missbilligende Stellungnahme zu einer vorangegangenen Äußerung des Therapeuten sein; Schweigen kann ein Zeichen dafür sein, dass der Patient nach Orientierung sucht; Schweigen kann für den Patienten die Funktion haben, eine Grenze zwischen sich und dem Therapeuten zu ziehen, die er auf andere Weise nicht herstellen oder aufrechterhalten kann; und Schweigen kann einfach darauf hinweisen, dass der Patient nachdenkt. Selten ist das Schweigen bei strukturell gestörten Patienten nur Ausdruck des Versuches, einen Machtkampf nach dem Motto zu führen, dass der, der das Schweigen bricht, verloren hat. Derartige Inszenierungen sind in Behandlungen von Patienten mit Störungen auf neurotischem Niveau nicht selten, und auch strukturell gestörte Patienten verbinden mit beiderseitigem Schweigen manchmal Aspekte, wie wenn es um einen Machtkampf ginge. Oft stellt sich jedoch heraus, dass dem Verhalten, das auf den ersten Blick wie ein Machtkampf aussieht, weitergehende Beeinträchtigungen zugrunde liegen und das Schweigen basalere Funktionen erfüllt. Welche Funktion das Schweigen auch immer hat, so sollte der Therapeut einen Patienten mit einer strukturellen Störung nicht über längere Zeit hinweg seinem Schweigen überlassen und selbst schweigen und damit regressive Bewegungen des Patienten fördern, zumal dann nicht, wenn fraglich ist, ob das Schweigen für den Patienten förderlich ist. Stattdessen sollte der Therapeut in den meisten Fällen das Schweigen von sich aus unterbrechen und den Patienten ansprechen. Merke: Schweigen kann für strukturell gestörte Patienten in der therapeutischen Arbeit vielfältige Funktionen haben. In der Regel ist es nicht förderlich, wenn der Therapeut den Patienten zu lange seinem

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Schweigen überlässt, und der Therapeut sollte das Schweigen dann von sich aus unterbrechen.

Affektives und impulsives Verhalten Viele Patienten mit strukturellen Störungen können heftigere Gefühle und drängende Impulse nur schwer steuern und kontrollieren. Entsprechendes gefühls- und impulsbestimmtes Verhalten darf nicht mit Agieren im Sinn eines expressiven Verhaltens, dem eine unbewusste Bedeutung zugrunde liegt, verwechselt werden. Ist der Patient in seiner Fähigkeit, Affekte und Impulse zu steuern, in erheblicherem Maß eingeschränkt, kann es erforderlich sein, dass der Therapeut für Steuerungs- und Orientierungshilfen sorgt, beispielsweise in Form von klaren und unmissverständlichen Grenzziehungen. Deutliche Grenzziehungen können den Mangel an innerer Orientierung des Patienten zumindest teilweise kompensieren. In schwerwiegenden Fällen – beispielsweise bei Patienten, bei denen das impulsbestimmte Verhalten auf manische Dekompensationen zurückzuführen ist, oder bei Patienten, bei denen die Gefahr besteht, dass sie sich in bedrohlicher Weise selbst- oder fremddestruktiv verhalten – kann es vorübergehend erforderlich sein, zum Zweck der Grenzziehung auf die Mauern einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung zurückzugreifen. Derartig einschneidende Maßnahmen sind jedoch nur in Ausnahmefällen erforderlich. Meist reichen symbolische Grenzziehungen durch den Therapeuten aus, um den Mangel an inneren Steuerungsmöglichkeiten und Orientierungen auszugleichen. Symbolische Grenzen müssen jedoch eindeutig sein. Der Patient muss wissen, welche Folgen es hat, wenn er diese Grenzen nicht beachtet. Nur unter dieser Voraussetzung können sie dem Patienten als Orientierungshilfe für sein Handeln dienen. Dazu bedarf es auf therapeutischer Seite einer klaren und unmissverständlichen Haltung, mit der Grenzen vertreten und deutlich gemacht werden. Bleiben Grenzziehungen dagegen uneindeutig und diffus oder werden zwiespältig vertreten, kann das zur Folge haben, dass das affekt- und impulsbestimmte Verhalten des Patienten noch verstärkt wird. Unter Umständen eskaliert die Situation dann so weit, dass das Verhalten des Patienten Grenzen erzwingt, mit dem Ergebnis, dass die Situation sich schließlich entspannt, weil der Patient sich

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eben dann wieder ausreichend orientieren kann, wenn Grenzen klar und unübersehbar geworden sind. Wird dieser Zusammenhang nicht frühzeitig erkannt, kann es dazu kommen, dass ein sinnvoller therapeutischer Kontakt nicht entsteht, und die Behandlung wird, kaum begonnen, wieder abgebrochen. Dass der Patient die Behandlung abbricht, kann aus seiner Sicht eine ultima ratio sein, gleichsam eine absolute Grenzziehung. Weil der Therapeut nicht erkannt hat, dass der Patient stabile Grenzen als Orientierungs- und Steuerungshilfen benötigt und sein impulsives, wenig gesteuertes Verhalten Ausdruck des Versuches ist, den Therapeuten zu solchen Grenzziehungen zu veranlassen, bleibt dem Patienten nur die einzig definitive Grenze, der Abbruch der Therapie. Merke: Affekt- und impulsbestimmtes Verhalten von strukturell gestörten Patienten darf nicht mit expressivem Agieren verwechselt werden. Der Therapeut muss diesem Verhalten gegenüber oftmals grenzenziehende Funktionen übernehmen. Das kann entweder symbolisch geschehen, muss im Notfall aber auch mit physischen Mitteln erfolgen. Eindeutige Grenzen haben für Patienten, die sich angesichts sie überflutender Affekte und Impulse bedroht fühlen, orientierende und Sicherheit vermittelnde Funktionen.

Negative Übertragungen Bei strukturell gestörten Patienten haben negative Übertragungen häufig eine durchdringende, allumfassende Qualität. Das Objekt der Übertragung ist durch und durch schlecht, böse und unwert. Solche massiven negativen Übertragungen stellen sich oft als Folge von Kränkungen oder Versagungen ein: Ein zuvor gutes Objekt wird gleichsam von einer Sekunde zur nächsten schlecht und unwert. Vielen Patienten mit strukturellen Störungen der Persönlichkeitsentwicklung fehlt die Möglichkeit, sich auf eine ausreichend gute Beziehung zu stützen, die ihnen erst ermöglichen würde, solche negativen Übertragungen als Wiederholungen zu relativieren. Trifft die negative Übertragung den Therapeuten oder andere für die Behandlung des Patienten wichtige Personen, droht die Therapie vom Patienten abgebrochen oder sinnlos zu werden, weil unter dem Einfluss der Übertragung das relevante Objekt, der Therapeut, durch und durch

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unwert geworden ist und verachtet wird. Das gilt erst recht, wenn eine ganze therapeutische Institution, etwa die Klinik, unter das Verdikt einer solchen umfassenden negativen Übertragung gerät. Von dem in seinem Erleben wertlosen, verachteten Objekt kann für den Patienten nichts für ihn Nützliches mehr kommen, weil dessen Wertlosigkeit auch dessen »Produkte« wertlos macht. Erst dann, wenn der Patient zumindest in Erwägung ziehen kann, dass es auch etwas mit ihm selbst zu tun haben könnte, dass das für ihn eben noch ausreichend gute Objekt abrupt durch und durch schlecht und böse geworden ist, besteht die Chance, dass die therapeutische Beziehung erhalten und repariert werden kann. Darum ist es wichtig, dass der Therapeut derartige Entwicklungen rechtzeitig erkennt und massiven negativen Übertragungen aktiv entgegentritt. Dagegen führen Deutungen der negativen Übertragung bei Patienten mit strukturellen Störungen kaum jemals zu deren Abmilderung oder gar Auflösung. Beispiel: Frau C., eine 37-jährige Patientin, war wegen einer Reihe von Ladendiebstählen vorbestraft, mehrere Partnerschaften waren jeweils schon nach kurzer Zeit gescheitert. Sie hatte einen schweren Suizidversuch unternommen, nachdem ein Mann, den sie bis dahin noch kaum kannte, ihr zu verstehen gegeben hatte, dass er an einer näheren Beziehung nicht interessiert sei. Zu ihrem Therapeuten schien sie eine gute und ausreichend stabile Beziehung entwickelt zu haben. Während sie eines Tages vor dem Zimmer ihres Therapeuten auf den Beginn ihrer Stunde wartete, kam eine ihr bis dahin nicht bekannte Frau, klopfte an der Tür des Behandlungszimmers ihres Therapeuten und schien in das Zimmer zu gehen, ohne eine Antwort abgewartet zu haben. Als der Therapeut Frau C. zu sich hereinbitten wollte, fand er sie dort nicht mehr vor. Sie war in ihr Zimmer gegangen und hatte damit begonnen, ihre Kleider voller Wut in ihren Koffer zu werfen, um die Therapie abzubrechen. Als der Therapeut das Zimmer betrat, beschimpfte sie ihn als »verlogenen Heuchler«, für den sie »irgendein Stück Holz« sei und der das Interesse an ihr und ihren Problemen nur vortäusche. In einer Klinik, in der »solche Leute auf Patienten losgelassen« würden, wolle sie keine Sekunde länger bleiben. Der Therapeut verstand anfangs nicht, was geschehen war. Er sagte seiner Patientin, dass er nicht wisse, was geschehen sei, aber was immer das auch gewesen sein mochte, so sei er doch sicher, dass er kein verlogener Heuchler und dass sie für ihn

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kein Stück Holz sei. Daraufhin schrie ihn die Patientin an, wie er denn wohl sonst dazu komme, sie einfach warten zu lassen, ohne etwas zu sagen, aber »für andere Leute« selbstverständlich Zeit zu haben. Erst jetzt verstand er, dass die Patientin offenbar die Krankenschwester einer Nachbarstation, die ihm eine wichtige Nachricht hatte zukommen lassen müssen, in sein Zimmer hatte gehen sehen. Er musste erkennen, dass er es versäumt hatte, das seiner Patientin zu erläutern und sie um einige Minuten Geduld zu bitten. Er sagte ihr das, entschuldigte sich für sein Verhalten und bekräftigte noch einmal, dass weder sein Interesse geheuchelt noch sie für ihn irgendeine Sache sei. Das führte zu einer Beruhigung der Situation, und die Patientin konnte sich schließlich dazu durchringen, das Gespräch mit ihm fortzuführen.

Wenn erkennbar ist, dass eine globale negative Übertragung eine Reaktion auf eine vorangegangene Kränkung oder Versagung ist, sollte der Therapeut den inneren oder auch nach außen dokumentierten Beziehungsabbruch des Patienten, mit dem unter derartigen Umständen zu rechnen ist, sofort ansprechen, um den Patienten in der Therapie zu halten. Versäumt er das, kann es sein, dass der Patient die Therapie entweder lauthals oder – meist bedrohlicher – per stillem Rückzug abbricht. Der Therapeut kann beispielsweise seiner Vermutung Ausdruck verleihen, den Patienten gekränkt zu haben, und sich – falls das tatsächlich der Fall gewesen sein sollte – für sein Verhalten entschuldigen. Tut er das, wird der Patient seine Entwertung oftmals nicht aufrechterhalten, weil sich sein wütendentwertender Angriff auf den Therapeuten jetzt gleichsam erübrigt, zeigt der Therapeut mit seiner Selbstkritik doch, dass er selbst mit sich nicht einverstanden ist. Im Unterschied zu den Abwertungen des Patienten hat die Selbstkritik des Therapeuten allerdings eine mildere, »integrierte« Qualität und kann damit zugleich als Modell für den Patienten dienen. Merke: Negative Übertragungen gehen bei Patienten mit strukturellen Störungen oft mit der Tendenz einher, die gesamte Therapie und den Therapeuten rundum zu entwerten und zu verachten. Solchen negativen Übertragungen muss der Therapeut aktiv entgegentreten.

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Suizidalität Ist der Patient nicht in der Lage, sein Verhalten angesichts von Suizidgedanken und Suizidimpulsen soweit sicher zu steuern, dass Versuche, sich selbst zu töten, ausgeschlossen sind, muss die Behandlung unterbrochen werden und der Patient muss vorübergehend in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung untergebracht werden. Wenn in Zusammenhang mit den Rahmenbedingungen für die Behandlung ausführlich genug vorbesprochen wurde, was im Fall einer derartigen suizidalen Krise geschehen muss, wie das in der Behandlung von schwer strukturell gestörten, gefährdeten Patienten immer der Fall sein sollte, wird der Patient der vorübergehenden Unterbringung unter geschlossenen Bedingungen meist leichter zustimmen können und eine Zwangseinweisung sich eher erübrigen als dann, wenn diese Möglichkeit nicht ausführlich vor Beginn der Therapie verabredet wurde. Mit größeren Schwierigkeiten kann diese Situation dann einhergehen, wenn der Patient aktuell nicht in der Lage ist, seine eigene Situation halbwegs realistisch einzuschätzen, beispielsweise deshalb, weil er von psychotischem Erleben bestimmt wird. Soweit die Umstände das erlauben und soweit damit zu rechnen ist, dass die Verlegung in eine psychiatrische Abteilung nur als kurzzeitige Krisenintervention erforderlich ist, sollte der Therapeut den Patienten während der psychiatrischen Unterbringung wenn irgend möglich selbst weiter behandeln. Geht die Verlegung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung über eine Krisenintervention hinaus und ist absehbar, dass der Patient über längere Zeit unter geschlossenen Bedingungen psychiatrisch behandelt werden muss, ist es meist günstiger, die psychotherapeutische Behandlung auszusetzen, bis der Patient wieder in einem Zustand ist, der es zulässt, dass die Behandlung mit psychotherapeutischen Mitteln, falls weiterhin indiziert, fortgesetzt werden kann. Soweit die Kooperation zwischen dem Therapeuten, der für die Psychotherapie des Patienten zuständig ist, und dem Psychiater nicht schon vorab verabredet war, wird es sich spätestens jetzt nahelegen, eine Zusammenarbeit unter Einbeziehung des Patienten zu verabreden und die Verteilung der Aufgaben und Zuständigkeiten von behandelndem Psychotherapeuten und Psychiater klar zu regeln.

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Merke: So weit die äußeren Umstände das zulassen, sollte der Therapeut den Patienten, der wegen akuter Suizidalität vorübergehend in eine geschlossene psychiatrische Einrichtung verlegt werden musste, selbst weiter behandeln. Das setzt eine gute Zusammenarbeit zwischen Psychiater und behandelndem Psychotherapeuten voraus.

Zum Umgang mit Träumen Manche Patienten mit strukturellen Störungen kommen mit der Vorstellung zur Behandlung, allein dadurch mehr Stabilität erreichen und mit ihren Problemen besser fertigwerden zu können, dass sie sich mit ihrer inneren Realität beschäftigen, mit Erinnerungen, Träumen und Fantasien. Diese Vorstellung kommt in vielen Fällen einer Neigung der Patienten entgegen, Anforderungen der äußeren Realität aus dem Weg zu gehen. Statt sich mit unliebsamen Bedingungen der äußeren Welt auseinanderzusetzen, soll sich die therapeutische Arbeit auf ihre psychische Realität konzentrieren. Erst wenn sich ihre seelische Verfassung verändert hat, so die Vorstellung, die die Patienten manchmal entschieden vertreten, wollen sie sich auch mit den Anforderungen der äußeren Realität beschäftigen. Dieser Vorstellung korrespondiert gelegentlich auch eine Neigung, viel über Träume zu sprechen, wobei meist rasch deutlich wird, dass auch die Beschäftigung mit Träumen dem Vermeiden dienen soll und nicht zu einem vertieften Verständnis ihrer selbst und ihrer sozialen Lebenswelt führen kann. Ganz im Gegenteil versuchen die Patienten auf diese Weise von ihren tatsächlichen Schwierigkeiten im Zusammensein mit anderen wegzusehen und den Therapeuten dazu zu bringen, das Gleiche zu tun. Ihre Beschäftigung mit Träumen, Fantasien und Erinnerungen steht dann nicht im Dienst von Entwicklung, sondern fixiert im Gegenteil habituelles Vermeiden. Träume haben in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie nicht die gleiche Bedeutung für die Behandlung wie in der analytischen Psychotherapie. Der Therapeut nimmt Traumberichte des Patienten zwar mit Interesse zur Kenntnis, unterstützt den Patienten aber nicht in dem Glauben, dass die Beschäftigung mit Träumen ihm zu Veränderungen bei der Bewältigung seiner alltäglichen Lebensbedingungen verhelfen wird. Zudem verzichtet der Therapeut darauf zu untersuchen, was Träume über die nichtbewusste psychische

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

Realität des Patienten zum Ausdruck bringen könnten. Stattdessen kann er zum Beispiel die Frage in den Vordergrund stellen, welche Funktion der Traumbericht zu diesem Zeitpunkt in diesem Kontext des therapeutischen Prozesses für den Patienten hat. Entschließt der Therapeut sich, auf den Inhalt des Traums einzugehen, sollte sich der Blick auf den manifesten Inhalt richten, der nach Möglichkeit mit dem aktuellen Fokus in der Therapie verbunden wird. Auf ihre unbewusste Dimension hin werden die Traumberichte dagegen explizit nicht untersucht. Beispiel: Ein Patient spricht davon, dass er neulich »etwas Schreckliches« geträumt habe: »Ich war im Haus. Da merkte ich, dass es ein wunderschöner Tag war. Draußen war ganz blauer Himmel und die Sonne schien. Ich wollte raus, aber ich hatte Angst. Dann habe ich die Tür aufgerissen und bin einfach rausgerannt. Plötzlich kam ein riesiger Hund auf mich zu, mit so scharfen Reißzähnen. Ich bekam Panik und wollte ins Haus zurückrennen. In dem Moment hörte ich, dass die Tür zufiel, und ich hatte keinen Schlüssel. Ich bekam Panik. Dann bin ich schweißnass aufgewacht. Das hat dann noch lange gedauert, bis ich mich wieder beruhigt hatte.« Der Therapeut beschränkt sich darauf zu sagen: »Vielleicht wäre es besser gewesen, Sie hätten die Tür erst einmal nur einen Spalt weit geöffnet, um nachzusehen, ob draußen alles einigermaßen in Ordnung ist?« In der diagnostischen Annahme, dass der Patient, von seiner Sehnsucht nach einem nur guten Objekt überflutet, alle Vorsicht außer Acht lässt und mit nichts Bösem rechnet, beschränkt er sich darauf, den Patienten auf die Möglichkeit aufmerksam zu machen, dass es auch bei »schönem Wetter« – mit anderen Worten: einem scheinbar nur guten Objekt gegenüber – sinnvoll ist, auch mit der Möglichkeit von weniger zuträglichen Bedingungen zu rechnen und die Realität, auf die er sich zubewegen will, vorab zu überprüfen – ein ganz am manifesten Inhalt ausgerichteter Umgang mit dem Traumbericht des Patienten, fern von etwaigen unbewussten Bedeutungen. Merke: Für manche Patienten mit strukturellen Störungen hat die Beschäftigung mit Träumen die Funktion, sich nicht mit unliebsamen Bedingungen ihres realen Lebensalltags beschäftigen zu müssen. Soweit Trauminhalte in der Behandlung überhaupt aufgegriffen wer-

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den, werden sie nicht auf unbewusste Erfahrungen hin untersucht, sondern auf ihren manifesten Inhalt hin aufgenommen.

Zur Beendigung der Behandlung Die Behandlung soll dem Patienten nach Möglichkeit dazu verhelfen, ohne zu große Beeinträchtigungen am sozialen Alltagsleben teilnehmen zu können. Davon leiten sich die Kriterien für die Beantwortung der Frage ab, wann die Behandlung beendet werden kann. Gemessen am Ausmaß der Beeinträchtigungen vieler strukturell gestörter Patienten ist das ein hochgestecktes Ziel. Sich im sozialen Alltagsleben ohne schwerwiegende Belastungen für die eigene Person oder für die soziale Umwelt bewegen zu können, setzt unter anderem voraus, dass der Patient ȤȤ andere Personen zumindest in groben Zügen als Personen in ihrem eigenen Recht wahrnehmen und behandeln kann (SelbstObjekt-Differenzierung, Mentalisierungsfunktion, reziproke Beziehungen), ȤȤ im Zusammensein mit anderen das Verhalten der anderen Personen auch im Kontext des eigenen Verhaltens lesen und das eigene Verhalten mit Blick auf andere hin gestalten kann (Interaktionsregulierung), ȤȤ die Beziehung zu ihm wichtigen anderen Personen auch dann aufrechterhalten kann, wenn diese Personen nicht physisch anwesend sind oder sich nicht bedürfnisbefriedigend verhalten (Beziehungs- bzw. Objektkonstanz) und ȤȤ Affekte und Impulse so weit steuern kann, dass das eigene Verhalten auf die soziale Umwelt zumindest so weit abgestimmt bleibt, dass erheblichere nachteilige Folgen vermieden werden können. Ehe der Patient dazu nicht annähernd in der Lage ist, sollte die Therapie nicht beendet werden. Wenn die Dauer der Behandlung von vornherein zeitlich eng begrenzt ist, wie beispielsweise im stationären Rahmen, muss der Therapeut den Patienten von sich aus daran erinnern und frühzeitig auf das bevorstehende Ende der Therapie hinweisen. Manchmal verschlechtert sich der Zustand von Patienten, wenn die Beendigung der Behandlung näher rückt. Dermaßen regressives Verhalten kann

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Die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik

vielfältige Gründe haben, beispielsweise ein Zeichen dafür sein, dass bevorstehende Abschiede gefürchtet werden. Andere Patienten versuchen durch regressives Verhalten eine Verlängerung der Behandlung zu erzwingen. Aber das Verhalten kann auch darauf hinweisen, dass der Patient die Stabilität, die erforderlich ist, damit er sich im Alltagsleben wieder sicherer bewegen kann, tatsächlich noch nicht erreicht hat. In den letzten drei bis fünf Behandlungsstunden sollten möglichst keine ganz neuen Themen angesprochen werden. Der Therapeut sollte sich vielmehr gemeinsam mit dem Patienten darauf konzentrieren, die Rückkehr in den Alltag, eventuell auch dessen Bewältigung ohne therapeutische Unterstützung, vorzubereiten. Dazu gehört, dass der Therapeut jetzt Schwierigkeiten und Probleme in den Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit rückt, die für den Patienten in seinem sozialen Alltagsleben zu erwarten sein werden, und mit dem Patienten der Frage nachgeht, wie das vordem schwierige Zusammensein mit anderen mit Hilfe der Mittel und Möglichkeiten, die sich der Patient in der Behandlung angeeignet hat, zukünftig bewältigt und gestaltet werden kann. Patienten, die wie viele strukturell gestörte Patienten zunächst unter stationären oder teilstationären Bedingungen behandelt werden mussten, werden nach Entlassung aus der therapeutischen Institution meist ambulant weiterbehandelt werden müssen. Auch die Weiterbehandlung sollte mit dem Patienten frühzeitig besprochen und vorbereitet werden. Das letzte Gespräch mit dem Patienten wird oftmals ein Rückblick von Patient und Therapeut auf die gemeinsame therapeutische Arbeit sein. Manche Patienten geben zu verstehen, dass sie sich nicht mehr daran erinnern können, wie sie »damals« waren. Dann kann es von Vorteil sein, wenn der Therapeut dem Patienten in Erinnerung ruft, wie seine Schwierigkeiten und Probleme vor Beginn der Therapie ausgesehen haben. Erst im Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart können viele Patienten ein Maß dafür gewinnen, welchen Weg sie mit Hilfe der Therapie zurückgelegt haben. Manche Patienten sind enttäuscht oder wütend darüber, dass sie nicht mehr erreicht haben, auch Patienten, die aus der Sicht des Therapeuten beachtliche Schritte zurückgelegt haben. Um zu verhindern, dass die Patienten mit der Beendigung der Therapie die gesamte voraufgegangene Behandlung abwerten müssen, um sich damit die Trennung erträglicher zu machen, sollte der Therapeut dem Patienten ein weiteres

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Mal deutlich machen, dass Veränderungen immer nur in kleinen Schritten möglich sind, und er sollte den Patienten auch wissen lassen, wie er selbst das Behandlungsergebnis einschätzt und sollte diese Einschätzung dem Patienten anschaulich genug begründen. Manche Patienten äußern den Wunsch, nach Beendigung der Behandlung den Kontakt zum Therapeuten aufrechtzuerhalten. Anders als bei Patienten mit neurotischen Störungen, die damit eventuell die Trennung und die damit verbundenen Gefühle vermeiden möchten, kann sich bei Patienten mit strukturellen Störungen in einem solchen Wunsch ein wichtiger Entwicklungsfortschritt zeigen, indem sich in seinem Wunsch beispielsweise zeigt, dass er jetzt in der Lage ist, von sich aus den Kontakt zu einer für ihn wichtig gewordenen Person aufrechtzuerhalten. Dann wird der Therapeut dem Wunsch des Patienten, die Verbindung zu seinem Therapeuten zu erhalten, in der Regel entsprechen, soweit nicht äußere Gründe dagegen stehen. Merke: Die Beendigung der Behandlung ist für Patienten mit strukturellen Störungen oft ein besonders kritisches Ereignis, das sie versuchen mit verschiedenen Mitteln zu umgehen. Der Therapeut muss das Ende der Therapie frühzeitig ansprechen, wenn der Patient das nicht von sich aus tut. Ein besonderes Problem stellt die Beendigung der Therapie bei denjenigen Patienten dar, bei denen das Behandlungsende die Gefahr mit sich bringt, dass die guten und hilfreichen Erfahrungen nicht aufrechterhalten werden können und der Therapeut und die Therapie von dem Patienten als Ausdruck eines Objektverlustes entwertet werden.

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

Die Teilnehmer an einer therapeutischen Gruppe bewegen sich in einem Spannungsfeld von Privatheit und Öffentlichkeit. Jeder Teilnehmer sieht sich einer relativen Öffentlichkeit von vorerst Fremden gegenüber, und jeder der Anwesenden und alle Anwesenden miteinander müssen dieses Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit austarieren, weiterentwickeln und ihr Verhalten den jeweiligen Verhältnissen anpassen. Den Gegensatz von öffentlich und privat gibt es in seiner heutigen Bedeutung erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts. Öffentlich bedeutete, dem prüfenden Blick von jedermann zugänglich; privat bezeichnete einen abgeschirmten, durch Familie und enge Freunde begrenzten Lebensbereich (Sennett, 1983). Die Grenzlinie zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre trennte einen Bereich von Ansprüchen der Zivilisation, von kosmopolitischem, öffentlichem Verhalten, und einen Bereich der Ansprüche der Natur, in erster Linie der Familie. Sich darin geübt zu haben, am öffentlichen Leben teilzunehmen, mit Fremden umzugehen, wurde bis in die Mitte des 18. Jahr­hunderts hinein als Voraussetzung angesehen, sich zu einem gesellschaftlichen Wesen heranzubilden. Das Verhalten im öffentlichen Raum vollzog sich auf dem Hintergrund des Wissens von der Anwesenheit von Publikum: Es war an Rollen orientiert, der Ausdruck von Emotionen wurde kontrolliert, die Sprache gezü­ gelt, sichtbares Verhalten auf die Blicke von Fremden hin ausgelegt, rituelle Masken von Geselligkeit getragen. Etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zu einem zunehmenden Zerfall des öffentlichen Raumes. Die Familie wurde zu einer Zufluchtsstätte vor den Anfeindungen des öffentlichen Lebens idealisiert, die dem öffentlichen Sektor mora­lisch überlegen sein sollte. Das öffentliche Leben wurde mehr und mehr von Verhaltens­weisen bestimmt, wie sie früher ausschließlich dem privaten Raum vorbehalten waren. Sennett hat in diesem Zusammenhang von einer Intimisierung des öffentlichen Lebens und einer »Tyrannei der Intimität« gesprochen. Jetzt wurde das private Selbst vor den Blicken eines fremden Publi-

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

kums nicht mehr verborgen, son­dern im Gegenteil der Öffentlichkeit sichtbar gemacht, »geoutet«. Für Hannah Arendt (2002) war der Gegensatz von öffentlich und privat auch für Gruppen konstitutiv. Wenn therapeutische Gruppen in erster Linie dazu genutzt werden, unbewusste psychische Erfahrung aufzudecken, wird der potentiell öf­fentliche Raum der Gruppe mit seinen besonderen Anforderungen an das soziale Leben privatisiert und intimisiert und gerade nicht als öffentlicher Raum – in historischer Perspektive: als Raum des zivilisierten Umgangs mit Fremden – genutzt. Statt des Umgangs mit Fremden, mit dem urbanen Mitbürger, der Verständigung mit Mitakteuren, wird Selbstentäußerung gefördert. Tatsächlich scheint es manchen Patienten – und nicht nur Patienten – heute oftmals leichter zu fallen, intime Erfahrungen in Gegenwart anderer Anwesender in der Gruppe zu berichten und zu intimen gemein­samen Fantasien auszugestalten, als das Gegen­über in der Gruppe als Ge­genüber, als Mitakteur zu erkennen und in seiner relativen Fremdheit anzuerkennen. Der Blick »in die seelische Tiefe« scheint dann vergleichsweise zwanglos zu gelingen, der Blick »auf die Oberfläche« des fremden Ande­ren hingegen zu ängstigen. Weil wir auf die Präsenz anderer und die Verständigung mit anderen angewiesen sind, bedarf es, so Arendt, eines öffentlichen Raumes; erst die Anwesenheit in der Öffentlichkeit garantiere Wirklichkeit, bedeute Gesehen- und Gehört-Werden: »Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren« (S. 169). Im Sprechen und Handeln unterscheiden sich Personen aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein. Sprechen und Handeln mit und unter anderen Menschen garantieren den Zugriff auf die Welt. Klinische und theoretische Fragen, die die Arbeit mit Gruppen betrafen, wurden insbesondere in den 1960er Jahren mit großem Engagement diskutiert. Gruppentherapeutische Konzepte wurden neu entwickelt, bis dahin unbetretene Anwendungsfelder erschlossen und Gruppenpsychotherapie als wirksames und differenziertes therapeutisches Instrument entdeckt. Dabei sollte sich die therapeutische Arbeit in Gruppen nicht nur auf die psychische Seite der Störungen der Patienten richten, sondern auch deren soziale Dimension

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untersuchen und therapeutisch beeinflussen. Dazu schien kaum ein anderes Setting so gut geeignet zu sein wie Gruppenpsychotherapie. In der Folgezeit bewegte sich die Arbeit mit Gruppen – ausgeprägt im Bereich der humanistischen Psychologie – jedoch in eine andere Richtung. Die soziale Dimension von Gruppenpsychotherapie geriet mehr und mehr in Vergessenheit; der interaktive, intersubjektive Charakter von Gruppen und damit die spannungsreiche Dialektik von Einzelnem und anderen, von Privatheit und Öffentlichkeit fanden immer weniger Interesse. Bald wurde in Gruppen vor allem Selbstverwirklichung und Entfaltung des vermeintlich »begabten« Selbst (Miller, 1979) gesucht. Zwar blieb Gruppenpsychotherapie in der medizinischen und psychotherapeutischen Versorgung als effektive Methode zur Behandlung seelischer und psychosomatischer Krankheiten verankert, gewann aber mehr und mehr den Ruf einer zweitklassigen Behandlungsmethode und wurde als therapeutisches Mittel überwiegend nur noch im Sektor der stationären Patientenversorgung, seltener dagegen ambulant eingesetzt. Dass auch für psychische Beeinträchtigungen die Dimension des Sozialen konstitutiv ist, war zunehmend schwer zu vermitteln. Erst seit wenigen Jahren rücken Interpersonalität und Intersubjektivität, das Verhältnis von Selbst und anderen, von Selbstverstehen und Verstehen der anderen Person, wieder mehr ins Zentrum einer modernen Psychotherapie. Dabei setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, dass sich Therapie in der Gruppe in besonderem Maße dazu eignet, »Störungen des Sozialen«, interpersonelle Konflikte und Probleme zu untersuchen und zu bearbeiten. Auf der einen Seite scheuen manche Patienten angesichts der relativen Öffentlichkeit die therapeutische Arbeit in Gruppen. Auf der anderen Seite vertreten Psychotherapeuten gelegentlich die Auffassung, dass das Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit in der Gruppe nicht geeignet sei, um »Selbstöffnung« zu ermöglichen. Dabei übersehen sie leicht, dass gerade der zwischen Öffentlichkeit und Privatheit aufgespannte Raum der Gruppe als Ort sozialen Verhaltens, des Umgangs mit relativ Fremden, des Sich-Äußerns in Gegenwart von anderen, vielfältige Möglichkeiten bietet, um Störungen therapeutisch zu bearbeiten, die sich wie strukturelle Störungen vor allem im »Zwischen« – also interpersonell – aufspannen. Wird »Selbstöffnung« für ein Wert an sich gehalten wird, mag der Blick in vermeintliche »Tiefen« individueller, privater Erfahrungen ver-

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

gleichsweise leicht gelingen, während der Blick auf den fremden anderen im Gegenüber beunruhigt und deshalb vermieden wird. Probleme im Kontakt mit anderen sind nicht allein Neuauflagen verinnerlichter pathologischer Beziehungsmuster. Vielmehr zeigen sie sich im Mehrpersonen-Setting der therapeutischen Gruppe gleichsam an der Schnittstelle einer vertikalen Achse vergangener Beziehungserfahrungen und einer horizontalen Achse der gegenwärtigen Interaktion mit anderen. An dieser Schnittstelle treffen innere und äußere, intrapsychische und interpersonelle Realität, subjektive und soziale Wirklichkeit zusammen. Verinnerlichte Erfahrungen mit früheren Beziehungen nehmen ihre spezifische Gestalt im Prozess wechselseitigen, aufeinander bezogenen Verhaltens in der Gruppe an und zeigen sich schließlich in gestörten interpersonellen Verhältnissen (Streeck, 2000). Das gruppentherapeutische Setting ist besonders geeignet, um zu untersuchen, wie die Patienten an der Hervorbringung der sozialen Realität in der Gruppe im Vollzug ihrer Interaktion miteinander beteiligt sind, Regeln und Normen für das Miteinander entwerfen und verwerfen, überschreiten und außer Kraft setzen, Situationen definieren, Führer küren und ihnen folgen und Außenseiter schaffen, wie Macht und Ohnmacht, Abhängigkeit und Unabhängigkeit nicht als Eigenschaften Einzelner, sondern als soziale Produkte zustande kommen, mit welchen Mitteln und auf welchen Wegen die interpersonellen Beziehungen reguliert werden und wie sich das alles schließlich mit individuellen Erfahrungen und individuellem Erleben verbindet. Patienten wünschen sich Kontakt, andere in der Gruppe fühlen sich dennoch, ohne dass sie und die Patienten sich das erklären können, von ihnen abgewiesen. Zurückhaltung erleben die Patienten als kränkend. Wütend-entwertende Attacken führen dazu, dass sie tatsächlich zurückgewiesen werden. Sie suchen Anerkennung und Bestätigung, aber sehen nicht, dass sie Mitpatienten in der Gruppe ihrerseits nicht sehen und Toleranzgrenzen überrennen. Andere Patienten können sich nicht schützen, weil sie fürchten, ihnen wichtige andere zu verlieren, wenn sie Grenzen ihrer Belastbarkeit erkennen lassen. Manchmal kommt es zu missbräuchlichen Interaktionen. Manche Patienten in der Gruppe schließen sich unter Verzicht auf unterscheidende Individualität regressiv zu einem Kreis von vermeintlich Gleichen zusammen und verleugnen eigene Meinungen und Urteile, weil sie Verluste fürchten, wenn Unterschiede

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deutlich werden. Sie lassen sich benutzen und werden tatsächlich benutzt. Sie versuchen, eine »nur gute« Welt in der Gruppe zu etablieren und alles »Böse« in die Außenwelt zu projizieren, verfolgen aber unnachgiebig jeden, der diese normative Ordnung in der Gruppe zu stören droht. So spiegelt, was in der Gruppe in Interaktion miteinander geschieht, oftmals die Beziehungsprobleme wider, die die Patienten auch in ihrem sozialen Alltag im Zusammenleben mit anderen haben. Die therapeutische Arbeit in der Gruppe mit der psychoanalytisch-interaktionellen Methode konzentriert sich auf dieses »Zwischen«, auf den Bereich interpersonellen Geschehens und die Gestaltung von Beziehungen und deren Regulierung sowie die Selbstregulierung im interpersonellen Kontext der Gruppe. Was für die psychoanalytisch-interaktionelle Arbeitsweise in der Einzeltherapie relevant ist, ist zum überwiegenden Teil auch für die psychoanalytisch-interaktionelle Arbeit in der Gruppe wichtig. Das betrifft die Vorbereitung des Patienten auf die Behandlung einschließlich seiner Aufklärung über die Diagnose. Weiter betrifft das die ausführliche Aufklärung des Patienten über die Art der Behandlung und über die Gründe, die aus Sicht des Therapeuten für diese Behandlung sprechen. Ebenso sind Rahmenbedingungen für die Behandlung in der Gruppe mindestens so wichtig wie für die Einzeltherapie; sie müssen für die therapeutische Arbeit in der Gruppe allerdings um einige besondere Vereinbarungen ergänzt werden. Schließlich gleichen die behandlungstechnischen Mittel und Vorgehensweisen, auf die sich der Therapeut in der Einzeltherapie stützt, in ihren Grundzügen denen, die der Therapeut bei der therapeutischen Arbeit in der Gruppe verwendet. So ist der antwortende Modus für die Arbeitsweise des Therapeuten in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppe ebenso charakteristisch wie für die Einzeltherapie. Hier wie dort bietet sich der Therapeut als reale andere Person, als präsentes, erreichbares Gegenüber, als Teilnehmer am interaktiven Austausch in der Gruppe an, dabei immer aufmerksam für das manifeste Geschehen im Hier und Jetzt des Zusammenseins der Anwesenden in der Gruppe. Und auch die Art und Weise, wie der Therapeut sich im Kontext der Gruppe äußert, wenn er sich auf den antwortenden Modus stützt, unterscheidet sich nicht grundlegend von der Art und Weise, wie er in der Einzeltherapie am therapeutischen Gespräch teilnimmt.

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

Psychoanalytisch-interaktionelle Arbeit in der Gruppe Soziale Wirklichkeit, jede interpersonelle Situation und so auch das Geschehen in therapeutischen Gruppen wird immer und unvermeidlich von allen Anwesenden konstituiert. Wie jede andere soziale Realität ist, was in Gruppen vor sich geht, nie das Produkt individuellen Verhaltens und wird nicht durch das Verhalten von Einzelnen bestimmt. Immer werden Mehr-Personen-Situationen gemeinsam von den beteiligten Akteuren hervorgebracht – im Zuge ihrer Interaktion. Daraus können weit reichende Konsequenzen für die Gestaltung von therapeutischer Arbeit in und mit Gruppen gezogen werden. Wie und mit welchen Mitteln die Beziehungen in therapeutischen Gruppen gestaltet werden und welche Erfahrungen die Patienten dort im Verhältnis zueinander machen, ist nicht nur auf das Erleben und Verhalten der je einzelnen Patienten in der Gruppe zurückzuführen, sondern wird im Vollzug ihres Verhaltens zwischen allen anwesenden Gruppenmitgliedern gestaltet. Jedes individuelle Verhalten in der Gruppe ist Verhalten in Anwesenheit von anderen und im Kontext des Verhaltens von anderen in der Gruppe, die ihrerseits mit ihrem nachfolgenden Verhalten zu diesem vorangegangenen Verhalten Stellung nehmen. »Stellung nehmen« heißt, dass nachfolgendes Verhalten sprachlich oder nichtsprachlich zeigt, was das vorangegangene Verhalten jeweils bedeutet. Das ist soziale Interaktion. So gilt für die Gruppentherapie, was für jede soziale Situation zutrifft: Das Verhalten jedes Patienten ebenso wie das Verhalten des Psychotherapeuten ist immer im Kontext des Verhaltens der anderen Anwesenden zu lesen, erschließt sich in seinem Sinn nur innerhalb dieses jeweiligen Kontextes. Unerfahrene Gruppentherapeuten neigen oftmals dazu, sich auf das je individuelle Verhalten und Erleben einzelner Patienten zu konzentrieren, zumal dann, wenn das Verhalten eines einzelnen Patienten gegenüber dem Verhalten von anderen besonders auffällt oder nur dieser eine Patient sich äußert, während die Mehrheit der anderen Anwesenden schweigt. Ein Patient mag sich in den Vordergrund drängen, den überwiegenden Teil der zur Verfügung stehenden Zeit für sich in Anspruch nehmen, andere Patienten in der Gruppe scheinbar nicht zu Wort kommen lassen oder das Gruppengeschehen scheinbar auf andere Weise dominieren. Dabei

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wird leicht übersehen, dass Verhalten, das in der Weise beschrieben wird, dass ein einzelner Gruppenteilnehmer sich in den Vordergrund dränge, die verfügbare Zeit für sich allein beanspruche oder andere dominiere, im Grunde falsch beschrieben ist. Denn sich in den Vordergrund zu drängen, die verfügbare Zeit für sich allein zu beanspruchen oder andere zu dominieren ist kein individuelles Verhalten einzelner Personen, sondern wird in sozialer Interaktion koproduziert. Keiner der Anwesenden in der Gruppe kann irgendetwas tun, wenn nicht die anderen Anwesenden durch ihr Verhalten zulassen, dass eben das geschieht. Soziale Wirklichkeit ist das Produkt des Verhaltens aller beteiligten Anwesenden. Nicht nur, dass man sich nicht nicht verhalten kann (Watzlawick, Beavin u. Jackson, 1969, S. 145), charakterisiert soziale Interaktion, sondern ebenso, dass in Anwesenheit von anderen jeder Anwesende sich mit seinem Verhalten unvermeidlich ins Verhältnis zu den anderen Anwesenden und zu deren Verhalten setzt. Auch wenn bei vordergründiger Betrachtung nur ein einzelner Patient aktiv ist, während alle anderen passiv und schweigsam zu bleiben scheinen, ist die Aktivität dieses Einzelnen so nur angesichts der scheinbaren Passivität der anderen möglich, deren Schweigsamkeit tatsächlich eine die Aktivität des Einzelnen mit hervorbringende und gestaltende Schweigsamkeit ist. Individuelles Verhalten kann die interpersonellen Verhältnisse in einer Gruppe somit nur insoweit »bestimmen«, wie dieses Verhalten durch das Verhalten der anderen Anwesenden mitgestaltet wird – beispielsweise dadurch, dass die übrigen Gruppenteilnehmer den Patienten, der solches Verhalten zeigt, gewähren lassen, ihn vielleicht sogar durch subtile Signale unterstützen, ihrerseits aus dem scheinbar bestimmenden und andere dominierenden Verhalten Gewinn ziehen oder vielleicht die Rolle entschädigungsberechtigter Opfer für sich in Anspruch nehmen. Insofern bestimmt nicht dieser einzelne Patient, was in der Gruppe geschieht, sondern auch in Fällen, in denen das Geschehen auf den ersten Blick nur Ausdruck der Dominanz eines Einzelnen zu sein scheint, wird dieses Geschehen von allen Patienten in der Gruppe mit konstituiert. Merke: Was in einer therapeutischen Gruppe geschieht, ist nie nur Ergebnis des Verhaltens von einzelnen Patienten, sondern wird von den in der Gruppe anwesenden Patienten gemeinsam hervorge-

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

bracht. Nicht ein einzelner Patient kann bestimmen, was in der Gruppe geschieht, sondern jedes individuelle Verhalten ist immer Verhalten im Kontext des Verhaltens der anderen Anwesenden. So wie jede soziale Realität in sozialer Interaktion koproduziert wird, ist auch das Geschehen in therapeutischen Gruppen immer das Produkt aller Beteiligten.

Die Grundeinheit sozialer Interaktion Erfahrungen des In-Beziehung-zu-anderen-Seins gehen weder in psychischen Dispositionen auf, noch sind sie nur aus psychischen Dispositionen, aus bewusstem und unbewusstem Erleben zu erklären. Ein individueller Zustand ist in einem soziologischen Sinn nicht von seinem »an sich seienden Wesen« her zu bestimmen, sondern von der »sozialen Reaktion« her, also der Reaktion des anderen, die auf diesen Zustand hin eintritt (Simmel, 1908; vgl. Bergmann, 1994). Das Soziale, Interaktion, ist nicht das Verhalten eines Einzelnen, der dieses Verhalten aus sich heraus an den Tag legt und sich einem anderen gegenüber irgendwie benimmt, sondern »Beziehung ist immer ein Produkt doppelter Beschreibung […] Eine Beziehung existiert nicht innerhalb einer einzelnen Person« (Bateson, 1993, S. 165). Die Grundeinheit sozialen Handelns, also Verhaltens in Gegenwart von anderen, ist somit nicht das jeweils individuelle Verhalten eines Einzelnen, auch nicht das individuelle Verhalten eines Einzelnen plus dem individuellen Verhalten eines oder mehrerer einzelner anderer. Soziale Interaktion wird in Dreierschritten vollzogen (vgl. Heritage, 1984): ȤȤ A tut etwas; ȤȤ B reagiert auf A’s Verhalten und zeigt damit an, welche Bedeutung A’s Verhalten für B hat, mit anderen Worten: B’s Verhalten in Antwort auf A’s Verhalten zeigt, wie B A’s initiales Verhalten interpretiert; ȤȤ A reagiert wiederum auf B’s Verhalten und nimmt mit seinem Verhalten seinerseits dazu Stellung, wie B A’s anfängliches Verhalten interpretiert hat. Auf diese Weise wird Bedeutung von Verhalten kooperativ produziert. Interaktion ist somit Verhalten, das in den Kontext des Verhaltens von anderen, in ein semiotisches Feld eingebunden ist (Goodwin,

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2000). Auch soziale Normen, interpersonelle Beziehungen und Gruppen existieren nicht jenseits des Verhaltens derer, die in Gruppen zusammen sind. Wie gesellschaftliche Verhältnisse ganz allgemein werden auch soziale Normen, interpersonelle Beziehungen oder Gruppen im Alltag und im Bereich von Psychotherapie immer und immer von Neuem durch das Verhalten der Anwesenden im Umgang miteinander erzeugt. Die in Interaktion vollzogene Hervorbringung von sozialer Wirklichkeit verläuft auch im Alltag wie in therapeutischen Gruppen überwiegend jenseits bewussten Erlebens und bewusst intendierten Verhaltens. Konzepte zum Verständnis von Mehr-Personen-Situationen Wie die Patienten sich in der Gruppe mit ihrem Verhalten zueinander ins Verhältnis setzen und wie sie damit ihre interpersonellen Beziehungen gestalten und regulieren, ist in der psychoanalytischinteraktionellen Gruppentherapie der zentrale Schwerpunkt der therapeutischen Arbeit. In der aus der Interaktion hervorgehenden sozialen Welt der Gruppe kommt das implizite Beziehungswissen der Patienten zur Geltung. Nicht die Frage, wie durch die interpersonellen Prozesse hindurch intrapsychische Verhältnisse oder ein vermeintlich »gemeinsames Unbewusstes« zur Darstellung kommen, steht hier im Fokus der therapeutischen Arbeit, sondern die Erfahrungen des In-Beziehung-zu-anderen-Seins, die im Vollzug der Interaktion zwischen den Anwesenden in der Gruppe und zwischen Patienten und Gruppentherapeuten gezeigt werden, genauer: sich zeigen. Dazu wird in der therapeutischen Arbeit der Entfaltung des interpersonellen Geschehens zwischen mehreren Anwesenden und der gemeinsamen kooperativen, im beschreibenden Sinn unbewussten Gestaltung und Regulierung der Beziehungen in der Gruppe in besonderer Weise Rechnung getragen. Individuelles Erleben und Verhalten wird im Kontext des Mehr-Personen-Geschehens gelesen, und der Gruppentherapeut fokussiert die gemeinsame Aufmerksamkeit darauf, wie und mit welchen Mitteln die Anwesenden in der Gruppe in der Abwicklung ihrer Interaktion die Verhältnisse in der Gruppe und ihre jeweiligen Verhältnisse zueinander hervorbringen und regulieren.

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

Dazu nimmt die psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie ausdrücklich soziologische Aspekte auf, insbesondere des symbolischen Interaktionismus, einer traditionsreichen Entwicklung in der Soziologie und Mikrosoziologie sozialer Interaktion (z. B. Wilson, 1973) sowie der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (z. B. Peräkylä et al., 2008). Um die gemeinsam konstituierte soziale Wirklichkeit der Gruppe und in der Gruppe zu erfassen, sind verschiedene Begriffe und Konzepte hilfreich, die sich in Ergänzung zu psychodynamischen Konzepten für die therapeutische Arbeit anbieten, beispielsweise soziale Interaktion, Konversation, »Definition der Situation«, Verhaltenserwartung, soziale Norm oder soziale Rolle. Damit werden wichtige Aspekte des interpersonellen Geschehens und des »Wie« der interaktiven Produktion von sozialer Wirklichkeit in der therapeutischen Gruppe in den Blick genommen. Sie verweisen nicht zuletzt auf die Bedeutung körperlichen, nichtsprachlich vermittelten sozialen Handelns und impliziten Beziehungswissens und damit auch auf die Bedeutung subtiler Details des interaktiven und interpersonellen Geschehens für die Herstellung von sozialer Realität. Mit diesen Begriffen und Konzepten für soziales Handeln und Mikrointeraktion verfügt der Gruppentherapeut über ein begriffliches Instrumentarium, mit dessen Hilfe die therapeutische Arbeit auf die Schnittstellen von Erleben des Einzelnen und Verhalten einer Mehrzahl von Personen sowie deren Zusammenspiel ausgerichtet werden kann und die deshalb für die Praxis von Gruppentherapie dann kaum verzichtbar sind, wenn Prozesse der Herstellung und Gestaltung interpersoneller Beziehungen und der Regulierung des Selbst und intersubjektiven Geschehens im Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit stehen sollen. »Definition der Situation« Sich bei der therapeutischen Arbeit vor Augen zu halten, dass Interaktion in Gruppen immer Verhalten in Anwesenheit einer Mehrheit von anderen und im Kontext des Verhaltens einer Mehrheit von anderen ist, kann für Psychotherapeuten manchmal eine ungewohnte Perspektive sein. Psychotherapeuten neigen dazu, das Geschehen in therapeutischen Gruppen von der Subjektivität der je einzelnen Anwesenden her und als Produkt je individueller psychischer Dispositionen zu verstehen. Um das Gesamtgeschehen in der therapeutischen Gruppe, das im interaktiven Austausch der anwesenden Gruppenmitglieder kons-

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tituiert wird, zu erfassen, ist das Konzept der »Definition der Situation« (Thomas, 1966) hilfreich. »Definition der Situation« meint, dass sich nicht von außen sagen lässt, was eine jeweilige soziale Situation ist; die Bedeutung einer Situation ist keine der Situation innewohnende Eigenschaft, sondern wird der Situation von den Anwesenden zugeschrieben und in diesem Sinne »definiert«. An Definitionen der Situation vermag der Gruppentherapeut die je individuellen Bedeutungen zu identifizieren, die einzelne Teilnehmer der aktuellen Situation in der Gruppe zuschreiben, ebenso wie die Bedeutungen, die eine augenblickliche Situation für eine Mehrheit oder für die Gesamtgruppe hat. Definitionen der Situation müssen nicht ausdrücklich zur Sprache gebracht werden; auch mit ihrem körperlichen Verhalten können Anwesende zur Definition von Situationen beitragen, durch Verhalten, das als Zu- oder Abwendung aufgefasst wird, als Bekundung von Interesse oder Desinteresse, als Unterstützung für diese oder Missbilligung einer anderen Position. Auch hier sind unvermeidlich alle in der Gruppe Anwesenden an dem fortlaufenden Prozess der Definition der Situation beteiligt, auch die, die schweigen und scheinbar nichts tun und gleichwohl, ob sie das wollen oder nicht, die Situation mit hervorbringen. Die Grundregel für die Gruppe und die Offenheit der Situation Von außen betrachtet weisen therapeutische Gruppen ein hohes Maß an Konstanz auf: Die Patienten sitzen im Kreis zusammen und reden oder schweigen; allenfalls wechseln sie von einer Stunde zur nächsten ihre Plätze, und oftmals geschieht selbst das nicht. Für die gemeinsame therapeutische Arbeit wird erwartet, dass die Patienten sich möglichst unzensiert äußern und möglichst freimütig mitteilen, was immer ihnen in den Sinn kommt, was sie beobachten und denken, gleich, ob sich das auf sie selbst oder auf andere Anwesende bezieht – ihre Gefühle, Gedanken und Fantasien. Handlungsimpulsen soll nicht nachgegeben werden, das Geschehen in der Gruppe soll sich darauf beschränken, dass sich die Teilnehmer mit Worten äußern. Indem die Patienten ihre Äußerungen so wenig zensieren, wie ihnen das möglich erscheint, ist in keinem Moment vorhersehbar, was im nächsten geschieht. Das ist damit gemeint, dass die Situation in der Gruppe offen ist: Was als Nächstes zur Sprache kommt, wie die anderen sich verhalten, wie man sich im nächsten Moment

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zueinander ins Verhältnis setzt, ist allenfalls in Grenzen vorhersagbar. Niemand in der Gruppe kann aus irgendwelchen Zeichen sichere Rückschlüsse ziehen, die ihm sagen, »was hier gerade los ist«, wie man sich verhalten soll und mit welchem Verhalten der anderen zu rechnen ist. Die Empfehlung des Gruppentherapeuten, sich möglichst unzensiert zu äußern, bringt es mit sich, dass jeder Patient in der Gruppe damit rechnen muss, dass alle anderen sich ebenfalls unzensiert äußern. Darum ist bis auf Weiteres unvermeidlich unsicher, welchen Erwartungen man in der Gruppe folgen kann und soll und welchen Erwartungen das Verhalten der anderen Anwesenden folgen wird. Kein Patient in der Gruppe kann vorerst auf eine Geschichte zurückblicken, die er mit anderen teilt. Noch gibt es keine gemeinsamen Orientierungen oder Habitualisierungen des wechselseitigen Verhaltens im Verhältnis zueinander. Keiner der Anwesenden kann wissen, was in der Gruppe als Nächstes zur Sprache gebracht und wie sich in der Folge die Verhältnisse untereinander entwickeln werden. Kein Gruppenteilnehmer kann sicher sein, wie die Beziehungen und das Miteinander in der Gruppe sich entwickeln und miteinander fortentwickelt werden. In diesem Sinn ist die Situation in der Gruppe offen. Je mehr Erfahrungen die Anwesenden im Umgang miteinander haben, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die anfängliche Unsicherheit verringert. Erst nach einiger Zeit kann man sich einigermaßen sicher bewegen, vorerst noch auf schmalen Pfaden, soweit man sich über einige wechselseitige Erwartungen verständigt hat. Von Stunde zu Stunde werden die Wege breiter, auf denen man geht, weil das wechselseitige Verhalten relativ vorhersehbarer wird und gemeinsam gefundene und als mehr oder weniger verbindlich angesehene Definitionen der Situation bis auf Weiteres Unsicherheit reduzieren und Orientierung vermitteln. Aber auch das ist immer nur vorläufig der Fall, bleibt doch die Situation in der Gruppe angesichts der weiterhin für alle Patienten gültigen Aufforderung, möglichst keine Zensur auszuüben und sich uneingeschränkt zu äußern, grundsätzlich weiterhin offen. Was in einer nächsten Stunde zur Sprache gebracht wird, kann zu neuen Unsicherheiten führen, die Verhältnisse zwischen den Anwesenden können sich wieder verändern und schwieriger werden, so dass erneut offen ist, was im Weiteren geschehen und wie die Situation in der Gruppe gestaltet wird.

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Merke: Weil die Patienten in der Gruppe sich so wenig zensiert wie möglich äußern sollen, kann keiner der Anwesenden in der Gruppe wissen, wie sich das Miteinander im nächsten Moment gestalten und entwickeln wird. In diesem Sinn ist die Situation in der Gruppe offen.

Explizite und implizite Situationsdefinitionen Wie die Patienten in der Gruppe die momentane Situation wahrnehmen und erleben und welche Verhaltenserwartungen gelten sollen, geben sie gewöhnlich mit Worten nur ausnahmsweise zu verstehen. Viel häufiger zeigen sie sich mit ihrem Verhalten, wie sie das augenblickliche Miteinander verstehen und handhaben wollen; die Definition der Situation wird dann implizit im Vollzug der Interaktion zwischen den Anwesenden in der Gruppe »verhandelt«. Die Patienten in der Gruppe machen sich Situationsdefinitionen auf ganz unterschiedliche Weise füreinander kenntlich: Manchmal vergleichen einzelne oder auch mehrere Teilnehmer die gegenwärtige Situation in der Gruppe mit anderen Situationen und bringen auf diese Weise indirekt zum Ausdruck, wie sie das derzeitige Geschehen in der Gruppe erleben. Wenn es etwa heißt, dass es in der Gruppe zugehe wie in einer »Talkshow«, oder wenn der Gruppentherapeut als »Oberlehrer« tituliert wird, dann werden mit solchen Definitionen Hinweise auf den Charakter der Beziehungen in der Gruppe – aus psychodynamischer Sicht Aspekte der Übertragungen – mehr oder weniger deutlich zur Sprache gebracht. So mag sich herausstellen, dass die Beziehungen momentan den Charakter dyadischer Beziehungen haben und haben sollen, vergleichbar denen in einer Talkshow, wo der Talkmaster jeweils nur mit einem seiner Gäste spricht, während die anderen Anwesenden mehr oder weniger schweigend zuhören; oder die Patienten schließen sich in dieser Phase mehrheitlich einer zwiespältig erlebten Autorität (»Oberlehrer«) gegenüber zusammen, gegen die offen Stellung zu beziehen sie vielleicht nicht wagen. Wenn Situationen in der Gruppe ausdrücklich »definiert« werden, kann das auch in Gestalt von Vergleichen mit Situationen erfolgen, die den Anwesenden aus ihrem sozialen Alltag vertraut sind – einmal geht es zu »wie im Karneval«, dann zeigen sich die Anwesenden das, indem sie die momentane Situation wie eine Diskussionsrunde unter Fachleuten handhaben, ein anderes Mal verhalten sie sich zueinander wie Fremde, die einander wenig zu sagen haben. Gelegentlich wer-

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den solche Vergleiche mit ironischem Unterton gezogen, mit dem Distanz zu dem aktuellen Geschehen gesucht wird. Beispiele: In einer Gruppe, bei der Beobachter anwesend waren, meinte ein Gruppenteilnehmer bald nach Beginn: »Das ist ja wie im Theater hier.« In der Folge verhielten sich mehrere Teilnehmer in Übereinstimmung mit dieser Situationsdefinition tatsächlich höchst rollenhaft, als müssten sie sich vor einem großen Publikum zeigen und ihren Part besonders gekonnt spielen. In einer anderen Gruppe sprachen einige Teilnehmer angeregt über Mitpatienten von einer anderen Station. Sie hatten sichtlich Spaß daran zu tratschen. Nach einiger Zeit meinte eine Teilnehmerin unzufrieden und mit vorwurfsvollem Ton, das Geschehen in der Gruppe sei doch »Kaffeeklatschgerede«, eine Situationsdefinition im Dienst der moralischen Infragestellung des Verhaltens der anderen Gruppenteilnehmer. Auf die Frage einer Mitpatientin, was sie denn damit meine, gab sie zur Antwort, dass »dieses Reden über Abwesende« doch »ziemlich mies« sei, und bekräftigte damit ihre mit moralischen Implikationen aufgeladene Definition der aktuellen Situation, mit der das Verhalten der anderen Teilnehmer sanktioniert und unterbunden werden sollte. Tatsächlich schienen sich mehrere Gruppenteilnehmer der Kritik der Patientin zu beugen, statt ihr eben noch lustvolles Tratschen fortzusetzen, verfielen sie in Schweigen, blickten wie schamhaft zu Boden und schienen im nächsten Schritt »ernsthaft arbeiten« zu wollen. Das eine oder andere Thema wurde gestreift, aber bald wieder fallengelassen. Gelegentlich fiel noch eine »Tratschbemerkung«, von verstecktem Lachen begleitet, ohne dass der gemeinsame Tratsch aber wieder aufgenommen wurde. Bald wurde das Gespräch in der Gruppe zäh, und erst in der folgenden Sitzung fanden die Patienten in der Gruppe eine Antwort auf die Frage, ob man denn über Abwesende reden dürfe oder nicht. Erst viel später konnten einige Teilnehmer sagen, wie lustvoll das gelegentliche Tratschen sei.

Explizite Definitionen der Situation sind nicht einfach ein mehr oder weniger willkürlich gewähltes sprachliches Etikett, das einer momentanen interpersonellen Situation in der Gruppe beliebig angeheftet und ebenso beliebig wieder entfernt werden könnte. Viel-

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mehr kommt in Situationsdefinitionen der Versuch zum Ausdruck, die potentiell immer offene Gruppensituation in eine relativ vertraute Situation umzuwandeln, um auf diese Weise Unsicherheit zu reduzieren und sich über wechselseitige Verhaltenserwartungen zu verständigen: Man soll sich, so die damit zur Geltung gebrachte Erwartung, eben so verhalten, wie man sich verhalten oder gerade nicht verhalten würde, wenn es sich um eine Situation wie die soeben definierte handeln würde. Damit haben Definitionen der Situation normative Implikationen. Sie verweisen darauf, dass ganz bestimmte soziale Normen in der Gruppe gelten sollen. Oftmals verraten die sprachlichen Äußerungen der Anwesenden nur wenig davon, wie sie die gegenwärtige Situation definieren oder zu definieren wünschen. Dann kann es sein, dass die Gruppenteilnehmer umso deutlicher in ihrem Verhalten zu erkennen geben, wie sie das aktuelle Geschehen erleben und welche Bedeutung das Miteinander für sie momentan hat und haben soll. Vielleicht benehmen sie sich in der Gruppe, als säßen sie tatsächlich in einer Schulstunde einem »Oberlehrer« gegenüber, ohne das aber ausdrücklich zu sagen; oder ihr Verhalten mag in gewisser Hinsicht dem von Teilnehmern an einer Talkshow ähneln, als säßen sie tatsächlich einem Moderator gegenüber, ohne dass zuvor zu irgendeinem Zeitpunkt ausdrücklich die Rede davon gewesen ist. Statt die Situation explizit zu definieren, zeigen die Gruppenmitglieder mit ihrem Verhalten, dass die momentane Situation für sie wie eine Schulstunde oder wie eine Talkshow oder wie eine Bühnenaufführung ist: Die Definition der Situation wird implizit im interaktiven Vollzug zur Geltung gebracht. Immer enthält das Verhalten jedes einzelnen Gruppenteilnehmers eine Aussage darüber, wie die augenblickliche Situation gesehen wird und was diese Situation bedeutet und bedeuten soll, und das Gleiche gilt für das Verhalten aller anderen Anwesenden in der Gruppe. Auch wenn ein Teilnehmer mit seinem Verhalten nicht ausdrücken will, wie er die Situation im Moment sieht und somit »definiert«, tut er das trotzdem. Indem sie sich fortlaufend zueinander verhalten und sich mit ihrem Verhalten vor Augen führen, wie jeder die momentane Situation »definiert«, wird die Bedeutung von Situationen in der Gruppe, das, was eine jeweilige Gruppensituation ist, »verhandelt«. Ausdrücklich wird über Situationsdefinitionen, darüber, »was hier gerade los ist«, oft erst dann gesprochen, wenn dieser Prozess impliziten Ver-

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handelns ins Stolpern gerät, eine Situation besonders ungewöhnlich ist und die Gruppenmitglieder stillschweigend keine Übereinkunft erzielen können. Manchmal scheinen alle Anwesenden in der Gruppe in einer Definition der Situation übereinzustimmen, dann wieder werden mehrere und miteinander nicht vereinbare Situationsdefinitionen geltend gemacht, und es entscheidet sich erst im weiteren Fortgang der Gruppe, welche Situationsdefinition sich durchsetzt. Situationsdefinitionen können sich im Verlauf einer einzigen Gruppensitzung verändern. Manchmal werden Situationsdefinitionen aber auch über lange Zeit hinweg aufrechterhalten. Das ist meist dann der Fall, wenn eine Situationsdefinition für die Mehrheit der Gruppenteilnehmer Vorteile mit sich bringt, beispielsweise dann, wenn vermieden werden soll, anstehende Konflikte und Probleme zur Sprache zu bringen und auszutragen. Merke: Was eine jeweilige Situation für die Anwesenden bedeutet, ist nicht der Situation selbst eingeschrieben, sondern wird von den Anwesenden definiert. Die Teilnehmer an der Gruppe verständigen sich ausdrücklich oder mit ihrem nichtsprachlichen Verhalten darüber, was eine augenblickliche Situation für sie bedeutet. »Definitionen der Situation« sind eine Antwort auf die grundsätzliche Offenheit der Situation. Die Teilnehmer verhalten sich vor dem Hintergrund solcher Situationsdefinitionen.

Sanktionen Die Patienten zeigen sich mit ihrem Verhalten in der therapeutischen Gruppe, wer sie hier füreinander sind und sein wollen; nur manches davon wird gesagt. Im Zuge ihres Verhaltens im Verhältnis zueinander gestalten sie ihr Zusammensein und ihre Beziehungen. Im Prozess der Abwicklung ihrer Interaktion verständigen sie sich über eine Vielzahl von Fragen und Themen, so unter anderem darüber, welches Verhalten in der Gruppe erwünscht ist, welches Verhalten möglichst unterbleiben sollte, welche Themen als wichtig und welche als unwichtig erachtet werden, wie man sich zueinander in Beziehung setzen will, wie viel Autorität der Gruppenleiter hat, welche normativen Regulierungen für das Miteinander in der Gruppe gelten sollen. Auch das geschieht zum großen Teil implizit, jenseits dessen, was ausdrücklich gesagt wird. Manchmal werden Verhaltensweisen

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von Einzelnen oder von einer Mehrheit von Gruppenmitgliedern missbilligt, anderes Verhalten wird begrüßt, wieder anderes Verhalten wird von einigen Patienten in der Gruppe scheinbar gleichgültig und ohne erkennbare Reaktion hingenommen, von anderen nachdrücklich kritisiert und findet vielleicht bei einem weiteren Teil der Gruppe Zustimmung. Auch wenn sie das nicht absichtlich tun, so nehmen die Patienten in der Gruppe doch unvermeidlich zueinander und zu ihrem Verhalten, das sie in der Gruppe zeigen, Stellung. Und selbst dann, wenn das nicht ausdrücklich geschieht, ist jedes Verhalten in der Gruppe immer auch eine Stellungnahme zu vorangegangenem Verhalten, zu dem mit nachfolgendem Verhalten wiederum Stellung bezogen wird. Mit zustimmendem oder unterstützendem Verhalten auf der einen Seite, missbilligendem und ablehnendem Verhalten auf der anderen, wird in der Gruppe zur Geltung gebracht, welches Verhalten erwünscht ist und welches Verhalten möglichst unterbleiben soll. In diesem Sinn hat zustimmendes und missbilligendes Verhalten die Funktion einer Sanktion, einer positiven oder einer negativen Sanktion. Sanktionen sind Mittel, um Verhaltenserwartungen durchzusetzen. Mit Hilfe von Sanktionen wird sozialen Normen Geltung verschafft und schon etablierten normativen Regulierungen Nachdruck verliehen. Verhalten hat nicht per se eine positiv oder negativ sanktionierende Funktion. Das Verhalten eines Gruppenteilnehmers erlebt der eine Mitpatient als Kritik, ein anderer Patient behandelt das gleiche Verhalten eher wie eine neutrale Meinungsbekundung; Verhalten, das für den einen zustimmende Unterstützung ist, fasst ein anderer als versteckt ironische Übertreibung auf. Ob ein Verhalten die Funktion einer Sanktion hat, ist deshalb nicht ein Merkmal dieses Verhaltens selbst, sondern wird von dem Adressaten mitbestimmt, an den sich solches Verhalten richtet. In diesem Sinn werden auch Sanktionen interaktiv produziert bzw. koproduziert. Beispiel: Nachdem ein Teilnehmer in einer Weiterbildungsgruppe von einem Ereignis berichtet hatte, hatten zwei Gruppenmitglieder das kommentiert, was den Erzähler wiederum veranlasst hatte, auf einen der beiden Kommentare einzugehen. Der andere Gruppenteilnehmer meinte nach einer Weile zu dem Erzähler: »Schade, dass du auf meine Bemerkung

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nicht eingegangen bist.« Daraufhin erwiderte der angesprochene Teilnehmer dem Erzähler: »Ja, tatsächlich war mir der Hinweis von Susanne im Moment wichtiger.« Zu einer ganz ähnlichen Konstellation war es in einer therapeutischen Gruppe mit überwiegend strukturell gestörten Patienten gekommen. Nachdem ein Patient von einer Begegnung berichtet hatte, zu der es am Vortag außerhalb der Gruppe gekommen war, hatte ein Mitpatient eine kurze kommentierende Bemerkung dazu gemacht. Der Erzähler war darauf nicht eingegangen. Als der Mitpatient, von dem der Kommentar gekommen war, daraufhin meinte: »Du hast ja zu dem, was ich dir dazu gesagt habe, gar nichts gesagt«, verstummte der Erzähler mit sichtlich gekränktem Ausdruck und ließ nun auch diese Bemerkung seines Mitpatienten unkommentiert. Als sein Verhalten später noch einmal angesprochen und er gefragt wurde, warum er denn gar nichts mehr gesagt habe, meinte er in gereiztem Tonfall, dass »man hier ja sofort abgekanzelt« werde, wenn man etwas von sich berichte.

In dem ersten Fall behandelt der Erzähler den Ausdruck von Enttäuschung eines Gruppenmitglieds (»Schade, dass du […] nicht eingegangen bist«) wie eine Mitteilung, nicht wie eine Sanktion. In dem anderen Fall behandelt der Erzähler die Bemerkung eines Mitpatienten, dass er auf ihn nicht eingegangen sei, als kränkende Kritik und damit als nachhaltige, negative Sanktion. In therapeutischen Gruppen mit strukturell gestörten Patienten wird offen missbilligendes oder eindeutig zustimmendes Verhalten manchmal ängstlich vermieden. Das geschieht zumal dann, wenn erwartet wird, dass das ablehnende oder das affirmative Urteil von der Meinung einer Mehrheit in der Gruppe abweicht oder zumindest unsicher ist, ob das der Fall sein wird. Manchmal wird Verhalten nur dann ausdrücklich begrüßt und bekräftigt, wenn es mit einer gültigen Norm konform geht, die unbedingt aufrechterhalten werden soll. Normkonformes Verhalten kann aber auch aufrechterhalten werden, ohne mit positiven Sanktionen ausdrücklich gestützt zu werden; erst wenn es zu abweichendem Verhalten kommt, treten Sanktionen in Kraft – negative Sanktionen beispielsweise dann, wenn an der gültigen Norm unbedingt festgehalten werden soll, positive Sanktionen etwa dann, wenn Abweichungen von der bis dahin gültigen Norm als Zuwachs an innerer und äußerer Bewegungsfreiheit erlebt werden.

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Auf der anderen Seite muss der Therapeut in Gruppen mit strukturell gestörten Patienten, insbesondere mit Patienten, die zu impulsivem Agieren neigen, damit rechnen, dass abweichendes Verhalten massiv negativ sanktioniert und heftig attackiert wird. Das empörte oder entwertende Verhalten, mit dem der Abweichler zur Ordnung gerufen werden soll, fällt manchmal dann besonders vehement aus, wenn das sanktionierende Verhalten vordergründig damit legitimiert werden kann, im Dienst einer »guten Sache« zu stehen. Nicht nur verbale Äußerungen können sanktionierende Kraft haben. Auch nichtsprachliches Verhalten kann positiv oder negativ sanktionierend wirken, unter Umständen nachhaltiger als Worte das können. Nichtsprachliche Sanktionen können subtil sein. Insbesondere von negativen Sanktionen wird oftmals nur versteckt Gebrauch gemacht. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die Teilnehmer an der Gruppe sich darauf geeinigt haben, dass Kritik und missbilligende Äußerungen unterbleiben sollen; in einem derartig vermeidenden Gruppenmilieu werden sich Kritik und Missbilligung am ehesten in flüchtigem körperlichen Verhalten und angedeuteten Gesten zeigen. Die sanktionierende Wirkung von sprachlichem und nichtsprachlichem Verhalten ist unabhängig von der »Lautstärke« des sanktionierenden Verhaltens. Ein nur scheinbares Auf-den-anderen-Eingehen, ein flüchtiger missbilligender Blick oder schweigendes Nicht-Beachten können eine wirksamere negative Sanktion sein als lauthals vorgetragene, ausdrückliche Ablehnungen. Beispiele: In einer therapeutischen Gruppe war es seit einiger Zeit wie selbstverständlich geworden, dass jeder Teilnehmer, der von einem eigenen Problem berichtete, mit ungeteilter Aufmerksamkeit und vielfältigen Hinweisen und Ratschlägen der anderen Anwesenden rechnen konnte. Als wieder einmal ein Patient schilderte, wie schlecht er sich bei einem abendlichen Telefonat von seiner Partnerin behandelt gefühlt habe, verstieß eine Teilnehmerin gegen diese Gruppennorm, indem sie zu diesem Patienten gewandt meinte, sie wolle ihm doch einmal sagen, dass sie sich von seinen ständigen Klagen über seine Partnerin »ziemlich genervt« fühle. Falls er auch nur annähernd so klagsam der Partnerin gegenüber sei, wie er sich hier zeige, könne sie sich gut vorstellen, dass seine Partnerin sich nicht gerade darüber freue, mit ihm zu reden. Daraufhin kam es in der Gruppe zu minutenlangem Schwei-

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gen, einem Verhalten, das in diesem Kontext ganz unabhängig davon, welche Motive jeder einzelne Teilnehmer für sein Schweigen gehabt haben mag, die interpersonelle Funktion einer negativen Sanktion hatte. Die Kritikerin wurde erst versteckt, dann immer unverhüllter Zielscheibe von negativen Sanktionen, die von Unverständnis signalisierendem Kopfschütteln über manifeste Empörung, ihr vermeintlich uneinfühlsames Verhalten gegenüber dem Mitpatienten betreffend, dem es doch nach seinem Telefonat offenkundig nicht gut ging, bis hin zu der »Deutung« reichten, dass sie da ja möglicherweise selbst ein Problem habe, wenn sie sich ihrem Mitpatienten gegenüber dermaßen verständnislos zeige. Zu einer anderen therapeutischen Gruppe, in der eine Mehrheit der Patienten besonders kontrolliert und scheinbar gefühlsneutral miteinander umging, war eine Patientin neu hinzugekommen, die über Wochen hinweg in einer psychiatrischen Klinik medikamentös behandelt worden war. Der Patientin war es ein dringendes Anliegen zu klären, warum es für sie so schwierig war, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen, und warum vor allem andere nicht den gleichen engen Kontakt zu ihr wollten, den sie ihrerseits suchte. Sie hatte den Mitpatienten in der Gruppe auf eine ihr eigene, etwas unbeholfene Art mitgeteilt, dass es ihr sehr wichtig sei, das in der Gruppe und mit Hilfe der Gruppe herauszufinden. In der folgenden Gruppensitzung meinte sie in Richtung auf drei Mitpatienten, die ihrerseits engeren Kontakt miteinander hatten, sie würde gerne mehr mit ihnen zu tun haben. Statt ausdrücklich zu dem Anliegen der Patientin Stellung zu nehmen, tauschten die Patienten verstohlene Blicke aus und schwiegen. Darauf später angesprochen, meinten alle drei, sie hätten ihre Mitpatientin nicht kränken wollen. Als die Patientin ihrerseits zu erkennen gab, dass das Schweigen für sie weitaus belastender gewesen sei und sie sich mehr zurückgewiesen gefühlt habe, als eine ablehnende ausdrückliche Stellungnahme das vermocht hätte, stellte sich heraus, dass es für die drei schweigenden Patienten ein erhebliches Problem war, an sie herangetragene Bedürfnisse – in diesem Fall den Wunsch der Patientin nach mehr Kontakt – zu versagen und sich damit als »böse« zu zeigen. Merke: In der Gruppe sollte der Therapeut für die sanktionierende Funktion des Verhaltens der Anwesenden in der Gruppe aufmerksam sein. Die Gruppenteilnehmer versuchen mit Hilfe von positiven

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und negativen Sanktionen gegenüber bestimmten Verhaltenszügen soziale Normen in dieser Gruppensituation durchzusetzen oder die Geltung schon etablierter Normen aufrechtzuerhalten. Missbilligende Stellungnahmen kommen häufig in nichtsprachlichem Verhalten zum Ausdruck. Soziale Normen können in der Gruppe relativ konstant bleiben, Normen können sich aber auch verändern und weiterentwickeln.

Soziale Normen Soziale Normen sind wechselseitige Verhaltenserwartungen. Sie machen soziales Miteinander relativ vorhersagbar und vermitteln damit Orientierung und Sicherheit. Soziale Normen sind nicht irgendwo schon da oder »vorhanden«, unabhängig vom Verhalten derer, die da miteinander zu tun haben. Sie werden immer wieder und immer wieder neu in sozialer Interaktion zur Geltung gebracht. Auch in therapeutischen Gruppen verständigen sich die Teilnehmer über soziale Normen im Zuge ihres Miteinander-Umgehens. Weil aber alle Anwesenden in der Gruppe aufgefordert sind, sich möglichst unzensiert und freimütig zu äußern, lässt sich nicht mit Sicherheit vorhersagen, welchen Normen in der Gruppe voraussichtlich Gültigkeit verschafft wird. Vor dem Hintergrund der Offenheit der Situation kann keiner der Anwesenden ganz sicher sein, welches Verhalten jeder der anderen Teilnehmer im nächsten Moment zeigen wird. Gegenüber dieser ständig präsenten Unvorhersehbarkeit des Geschehens schränken gemeinsame Verhaltenserwartungen die Offenheit der Situation ein. Verhalten ist in einer Situation so lange relativ vorhersagbar, wie diese Verhaltenserwartungen gelten. Halten die Anwesenden in der Gruppe die Verhaltenserwartungen für nicht mehr angemessen oder tauchen neue Umstände und Situationen auf, für die es bislang keine normativen Regelungen gibt, müssen meist neue soziale Normen entwickelt werden. Vor dem Hintergrund der immer gegenwärtigen Möglichkeit von Unvorhersagbarkeit und Regellosigkeit des Verhaltens der Teilnehmer kann unter der Perspektive normativer Regulierungen das Geschehen in der Gruppe als ein fortlaufender Prozess der Produktion und Fortentwicklung von Regeln des Miteinander-Umgehens und der Sicherung relativer sozialer Ordnung in der Gruppe verstanden werden. Die Teilnehmer an der Gruppe verständigen sich immer wieder erneut darüber, welche normativen Erwartungen für

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ihr Miteinander gelten sollen. Auf welche Normen man sich schließlich verständigt, ergibt sich aus den jeweiligen Situationen nicht von selbst. Weder gehören bestimmte Normen zwangsläufig zu einer bestimmten Gruppensituation, noch liegen Normen für bestimmte Situationen schon irgendwo in der Gruppe bereit. Auch die individuellen Vorstellungen, die jeder der an der Gruppe Beteiligten davon hat, wie man sich in dieser jeweiligen Situation verhalten möge, garantieren noch keine gemeinsamen Orientierungen. Soziale Normen sind das Produkt der Interaktion aller Gruppenteilnehmer. Das Verhalten, das ein einzelner Patient in der Gruppe zeigt, ist unabhängig von der Absicht, die damit verbunden ist, immer auch eine Stellungnahme zu dem gerade vorangegangenen Verhalten, das Mitpatienten oder der Therapeut zuvor gezeigt haben, und zugleich ist eben dieses Verhalten wiederum Kontext für das nachfolgende Verhalten von Mitpatienten oder des Therapeuten, die dazu mit ihrem Verhalten Stellung beziehen. Und auch die Bedeutung dieses nachfolgenden Verhaltens erklärt sich nicht allein aus der Absicht dessen, der das Verhalten zeigt, sondern erschließt sich gleichermaßen im Kontext des vorangegangenen Verhaltens. In diesem Sinn hat Verhalten in Anwesenheit von anderen seine eigenen Implikationen als soziale Interaktion. Indem sie sich zueinander verhalten, beziehen die Teilnehmer an der Gruppe mit ihrem Verhalten unvermeidlich und auch dann, wenn sie das nicht bewusst beabsichtigen, Position dazu, welche Regeln und Normen für das momentane Geschehen gelten sollen. Dieses Stellungnehmen ist eine Implikation des Umstands, dass Verhalten in Anwesenheit von anderen in der Gruppe wechselseitig aufeinander bezogenes Verhalten ist. Auf diese Weise »verhandeln« die Patienten in der Gruppe im Zuge ihrer Interaktion über die Geltung von Normen, auch dann, wenn ihnen das in diesem Augenblick nicht bewusst ist, und auch dann, wenn das nicht ausdrücklich geschieht. Dass sich die Patienten in der Gruppe über die Gültigkeit von Normen explizit miteinander verständigen, ist eher die Ausnahme als die Regel. Weitaus häufiger wird über Verhaltenserwartungen »verhandelt«, ohne dass ausdrücklich darüber gesprochen wird. Um sich über die Gültigkeit sozialer Normen zu verständigen, muss darüber nichts gesagt werden. In der therapeutischen Gruppe sind die Patienten mit einer Vielzahl von Umständen, Problemen und Situationen konfrontiert,

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für die vorerst offen ist, ob und wie sie normativ reguliert werden. Das gilt unter vielem anderen: für den Umgang mit Fremdheit und Vertrautheit, für Fragen von Gleichheit und Ungleichheit, für den Umgang mit Ablehnung und Zuneigung, mit Nähe und Distanz, mit Sympathie und Antipathie, mit aggressiven und libidinösen Gefühlen, für sexuelle Anziehung und Abneigung, für Fragen von Macht und Einflussnahme, für Spontaneität und Kontrolle, für Kritik und Friedfertigkeit. Manchmal äußern sich die Anwesenden in der Gruppe ausdrücklich dazu, häufiger nehmen sie nur implizit mit ihrem Verhalten dazu Stellung. Nicht ganz selten wird geltend gemacht, dass »jeder das so machen soll, wie er will«; an gemeinsamen, verbindlichen Regelungen besteht kein Interesse, allein das Interesse jedes Einzelnen soll relevant sein. An der Art und Weise, wie die Patienten sich daran beteiligen, soziale Normen in der Gruppe zur Geltung zu bringen, sowie an den Erwartungen an das wechselseitige Verhalten, die darin zum Ausdruck kommen, kann der Gruppentherapeut oftmals Aspekte dessen erkennen, wie die Patienten sich auch in ihrer alltäglichen sozialen Lebenswelt orientieren und wie sie interpersonelle Beziehungen dort im sozialen Alltag gestalten. Merke: Soziale Normen werden in der Gruppe selten mit Worten, sondern meist implizit in der Art und Weise geltend gemacht, wie die Teilnehmer sich zueinander verhalten. Ihr Verhalten orientiert sich nicht nur an außerhalb geltenden Normen, sondern ist selbst Element der Gestaltung und Durchsetzung sozialer Normen. Soziale Normen werden durch das Verhalten aller Gruppenteilnehmer in jedem Moment und in jeder Phase interpersonellen Verhaltens »verhandelt«, festgelegt, revidiert und weiterentwickelt.

Interaktionsmuster Die Interaktion zwischen einer Mehrzahl von Patienten in der Gruppe, zwischen Subgruppen oder auch nur zwischen einzelnen Patienten verläuft oftmals über einige Zeit hinweg nach einem mehr oder weniger gleich bleibenden Abfolgeschema oder Muster. Beispiel: In einer therapeutischen Gruppe kam es über mehrere Stunden hinweg wiederholt dazu, dass eine Patientin sich kritisch über eine Mitpatientin

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äußerte, woraufhin die kritisierte Patientin ihrerseits mit Kritik reagierte, während alle anderen Patienten in der Gruppe sich schweigend verhielten und sich auch nicht äußerten, nachdem sie auf ihr vermeidendes Verhalten angesprochen worden waren.

Solche interpersonellen Abfolgeschemata oder Muster können über lange Zeit hinweg aufrechterhalten bleiben. Auch wenn an dem Verhalten manifest nur wenige Patienten beteiligt zu sein scheinen, etablieren sich solche Muster doch als Resultat des Verhaltens aller Anwesenden, auch derer, die sich im Augenblick nicht sichtbar oder hörbar aktiv beteiligen. Dabei kann ein einzelnes Gruppenmitglied zwar Einfluss nehmen, aber wiederkehrende Muster interpersonellen Verhaltens nicht allein gestalten. Hat sich ein bestimmtes Interaktionsmuster erst einmal eingespielt, kann es sein, dass über lange Zeit hinweg daran festgehalten wird, vor allem dann, wenn unerwünschte interpersonelle Situationen damit vermieden werden können. Beispiel: In einer geschlossenen therapeutischen Gruppe, die sich über einen Zeitraum von acht Wochen erstreckte, hatte es sich von Anfang an eingespielt, dass sich alle Anwesenden ausschließlich mit dem Problem befassten, das von einem der Teilnehmer zu Beginn einer Gruppensitzung geschildert wurde. Das führte dazu, dass jedes Mal ein Rat suchender Patient und sieben Rat erteilende Mitpatienten in der Gruppe zusammenzusitzen schienen. Alle Bemühungen der Gruppentherapeutin, dieses Interaktionsmuster und dessen Sicherheit vermittelnde Funktion anzusprechen, blieben ohne Wirkung. Auch ihre Versuche, die Beratungsaktivitäten als Ausdruck des Bemühens zu interpretieren, sie in ihrer Funktion auszuschließen, blieben über längere Zeit hinweg erfolglos. Merke: Die Interaktion in einer therapeutischen Gruppe folgt manchmal einem bestimmten Abfolgemuster, das unter Umständen über mehrere Stunden hinweg konstant bleibt. Oft sollen damit unerwünschte interpersonelle Situationen vermieden werden.

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Vorbereitung der Patienten auf die Gruppentherapie Die Vorbereitung der Patienten auf die Therapie in der Gruppe beinhaltet die Aufklärung über die Diagnose und über die in Aussicht genommene Behandlung (siehe dazu S. 47 ff. und 53 ff.). Wenn für die Behandlung aufgrund äußerer Umstände, beispielsweise im stationären Rahmen, nur wenig Zeit zur Verfügung steht, werden die Patienten manchmal weder über die Diagnose noch über die ins Auge gefasste Therapie in der Gruppe ausführlich genug aufgeklärt. Wenn ein Patient auf die bevorstehende Behandlung in der Gruppe nicht ausreichend vorbereitet ist, kann das leicht zur Folge haben, dass er in der Gruppe anwesend ist, ohne genau zu wissen, wie er sich verhalten muss, damit er von der Therapie profitieren kann. Häufig passen sich Patienten unter solchen Voraussetzungen dem Verhalten von anderen Patienten in der Gruppe an, die sich ihrerseits in der Vergangenheit an andere Patienten in der Gruppe angepasst haben. So haben therapeutische Gruppen manchmal lange Traditionen, die mit dem Sinn von gruppentherapeutischer Arbeit nur bedingt vereinbar sind. Unter solchen Voraussetzungen kann, was Gruppentherapie genannt wird und ein effektives Instrument des Verstehens interpersonellen Geschehens und der Veränderung sein kann, nicht Therapie sein. Bestenfalls handelt es sich dann um Gespräche in Gegenwart von anderen; im ungünstigen Fall entsteht dem Patienten Schaden. Merke: Auch wenn für die Gruppentherapie insgesamt wenig Zeit zur Verfügung steht, muss der Patient sowohl über seine Diagnose wie über die in Aussicht genommene Behandlung in der Gruppe ausführlich aufgeklärt werden. Der Patient muss die Bedingungen für die therapeutische Arbeit in der Gruppe kennen und wissen, wie er sich in der Gruppe verhalten sollte, damit die Behandlung für ihn nützlich sein kann.

Das Vorgespräch für die Gruppentherapie In dem Vorgespräch, mit dem der Patient über die in Aussicht genommene Behandlung in der Gruppe informiert wird, werden über die allgemeinen Fragen hinaus, wie sie auch vor einer Einzeltherapie mit jedem Patienten besprochen werden müssen, die speziell für die Gruppentherapie geltenden Rahmenbedingungen

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verabredet und andere wichtige Voraussetzungen geklärt, die dem Patienten vor Beginn der therapeutischen Arbeit in der Gruppe bekannt sein müssen. In gleicher Weise wie für die Vorbereitung von Patienten auf eine Behandlung im Einzelsetting muss auch für die Vorbereitung auf die Gruppentherapie ausreichend Zeit zur Verfügung stehen. Die für ein Vorgespräch investierte Zeit ist im Hinblick auf die therapeutische Arbeit in der Gruppe – und hier besonders – gut angelegt und amortisiert sich über das Mehr an Gewinn, den der Patient aus der Therapie in der Gruppe wird ziehen können. Die Schlussfolgerung, dass für ein Vorgespräch und für die Vereinbarung von Rahmenbedingungen nur wenig Zeit erübrigt werden kann, weil die für die Behandlung insgesamt zur Verfügung stehende Zeit knapp bemessen ist, geht in die falsche Richtung. Eher trifft das Gegenteil zu: Je weniger Zeit für die Therapie in der Gruppe zur Verfügung steht, desto mehr Klarheit muss der Patient in einem vorbereitenden Gespräch darüber gewinnen können, wie er sich verhalten und was er tun muss, um die wenigen gruppentherapeutischen Sitzungen für sich gewinnbringend gestalten und mitgestalten zu können. Merke: Für das auf die Gruppentherapie vorbereitende Gespräch mit dem Patienten muss der Therapeut ausreichend Zeit erübrigen. Wenn für die Gruppentherapie insgesamt wenig Zeit zur Verfügung steht, muss die Vorbereitung um so gründlicher und klarer sein, damit der Patient weiß, wie er sich verhalten sollte, um aus der Gruppentherapie Nutzen ziehen zu können.

Der Nutzen von Gruppentherapie Patienten, denen der Therapeut eine Behandlung in der Gruppe empfiehlt, sind manchmal unsicher darüber, welchen Nutzen eine Therapie haben kann, die in Anwesenheit anderer Patienten durchgeführt wird. Noch unerfahrene Therapeuten wissen darauf manchmal keine plausible Antwort zu geben, es sei denn die, dass Gruppentherapie sich eben als ein wirksames therapeutisches Verfahren erwiesen habe. Auch wenn das zutrifft und manche Patienten sich damit scheinbar zufrieden geben, kann eine dermaßen pauschale Antwort nicht wirklich überzeugen, sondern fördert im Gegenteil die Neigung von Patienten, sich passiv dem auf sie zukommenden Geschehen zu überlassen, statt sich als Akteur und Mitakteur in der Behandlung zu ver-

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stehen. Tendenzen zur gläubigen Idealisierung des Therapeuten, der Besserung und Heilung zu versprechen scheint, soweit der Patient sich nur der Therapie überlässt, die sich doch als wirksam erwiesen haben soll, werden dadurch unterstützt. Eine derartige regressive Bereitschaft findet sich besonders ausgeprägt bei Patienten, deren strukturelle Störungen mit klinisch relevanten sozialen Ängsten und Unsicherheiten einhergehen. Wenn der Therapeut nicht in der Lage ist, den Nutzen von Gruppentherapie rational und überzeugend zu begründen, werden die Patienten nicht ausreichend darin ermuntert, kritische Kooperationspartner des Therapeuten zu werden und sich in der Therapie in eine entwicklungsförderliche Richtung zu bewegen, sondern im Gegenteil zu regressivem Verhalten veranlasst. Ein daraus resultierendes passives Verhalten ist dann keineswegs allein einer genuinen Passivität des Patienten und seiner Idealisierungsbereitschaft geschuldet, sondern Folge einer von äußeren Umständen diktierten Eile des Therapeuten und in diesem Sinn eine von dem Gruppentherapeuten mitproduzierte Haltung. Die Frage, warum der Therapeut ihm die Teilnahme an einer psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie empfiehlt, kann einem Patienten, der wegen einer schwereren strukturellen Störung behandelt wird, beantwortet werden, indem der Therapeut gemeinsam mit dem Patienten der Frage nachgeht, wie die Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsentwicklung des Patienten, die jetzt Gegenstand der Behandlung sein sollen, sich in seinen interpersonellen Beziehungen zeigen und sich auf sein soziales Leben beeinträchtigend auswirken. Für die meisten Patienten ist es unmittelbar plausibel, dass ihnen empfohlen wird, an einer Behandlung teilzunehmen, die sich nicht nur auf die innerseelische Seite ihrer Beeinträchtigungen richtet, sondern die auf die Schwierigkeiten im Zusammensein mit anderen fokussiert und dadurch gute Chancen bietet, die zwischenmenschliche Seite ihrer Probleme und Schwierigkeiten zu untersuchen und zu behandeln. Weil das Schwergewicht in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppe greifbarer noch als in der Einzeltherapie auf dem Geschehen zwischen den Anwesenden liegt, bietet sich dem Patienten in der therapeutischen Gruppe in besonderem Maße die Möglichkeit, seine Aufmerksamkeit auf dieses »Zwischen« zu richten und zu erkennen und zu verstehen, wie er im Zusammensein mit anderen erlebt und fühlt und sich verhält, wie sein Verhalten von den anderen Anwesenden in der Gruppe erlebt

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wird, wie die anderen ihrerseits ihm gegenüber fühlen, sich ihm gegenüber erleben und verhalten, wie er umgekehrt das Verhalten der anderen Anwesenden in der Gruppe oder einzelner anderer wahrnimmt und erlebt und sich auf deren Verhalten hin seinerseits verhält usw. Den meisten Patienten fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, dass viele ihrer Schwierigkeiten im Verhältnis zu anderen, unter denen sie im Alltag leiden, sich mit einiger Wahrscheinlichkeit in der therapeutischen Gruppe wiederfinden werden. Darum können sie den potentiellen Nutzen zumindest erahnen, den sie daraus ziehen können, wenn sie sich in der Gruppe mit therapeutischer Unterstützung damit beschäftigen, wie sie das Zusammensein mit anderen erleben und gestalten, und wie sie dort neue Mittel und Wege erproben können, sich mit anderen ins Verhältnis zu setzen. Merke: Dem Patienten sollte möglichst anschaulich verständlich gemacht werden, dass sich seine Schwierigkeiten im Verhältnis zu anderen aller Voraussicht nach auch in der therapeutischen Gruppe zeigen werden und deshalb dort besonders gut untersucht und gerade dort zudem neue Mittel und Wege erprobt werden können.

Die Grundregel für die therapeutische Arbeit in der Gruppe Die Grundregel für die psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie legt dem Patienten nahe, was er tun und wie er sich verhalten möge, damit er aus der gemeinsamen Arbeit potentiell Nutzen ziehen kann. In Anlehnung an die »freie Assoziationsregel« wird die Grundregel für die Gruppentherapie manchmal auch »freie Interaktionsregel« genannt. Diese Empfehlung kann etwa folgendermaßen formuliert werden: »In der Gruppentherapie geht es in erster Linie um die Beziehungen zu anderen. Das bedeutet, dass in der Gruppe das Erleben und Verhalten im Verhältnis zu anderen besonders gut untersucht und gegebenenfalls bislang ungewohnte und geeignetere Mittel und Wege, um Beziehungen zu gestalten, gefunden werden können. Damit das möglich wird, sollten Sie versuchen, sich möglichst unzensiert und freimütig zu äußern. Damit ist gemeint, dass Sie versuchen sollten auszusprechen, was immer Sie wahrnehmen, an den anderen in der Gruppe, was Sie bei sich selbst bemerken, was Sie momentan denken und

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fühlen, was Ihnen bei Mitpatienten auffällt oder was Sie im Verhältnis zu den anderen in der Gruppe beschäftigt. Versuchen Sie möglichst zu sagen, was immer Ihnen gerade in den Sinn kommt, auch wenn Sie glauben, das sei vielleicht unpassend oder gehöre nicht in die Gruppe. Mit »möglichst« ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass Sie darauf achten sollten, die Grenzen dessen nicht zu überschreiten, was aushaltbar ist – weder Ihre eigenen Grenzen noch die der anderen Anwesenden in der Gruppe. Das heißt aber nicht, dass Sie um alles, was Ihnen unangenehm ist, einen Bogen machen sollen. Damit würden Sie Ihren Schwierigkeiten und Problemen nur aus dem Weg gehen, sie aber nicht überwinden können, und die Gruppentherapie würde Ihnen nicht nützen. Sie sollten stattdessen angesichts solcher Schwierigkeiten versuchen zu klären, was es jeweils ist, das es Ihnen schwer macht, tatsächlich zu äußern, was Sie in diesem Moment beschäftigt. Ist Ihnen das verständlich? Fragen Sie bitte, wenn ich mich nicht klar genug ausgedrückt habe und Ihnen noch nicht recht klar ist, was für unsere gemeinsame Arbeit in der Gruppentherapie für Sie wichtig ist.«

Modifikationen der Grundregel für besondere Patientengruppen Die Grundregel wird für einzelne Patienten und für deren spezifische Umstände im Hinblick auf die im Vordergrund stehende Problematik variiert und ergänzt. Bei Patienten, die zu impulshaftem Verhalten und zum Agieren neigen, sollte der Therapeut die Notwendigkeit, Toleranzgrenzen zu beachten, besonders betonen. Insbesondere bei strukturell gestörten Patienten, deren Verhalten von Affekten und Impulsen bestimmt wird und zur Folge hat, dass andere sich angesichts ihres häufig verletzenden, entwertenden, taktlosen und grenzenüberschreitenden Verhaltens von ihnen zurückziehen, ist es mehr als bei anderen Patienten wichtig, dass der Therapeut die Empfehlung für die Arbeit in der Gruppe im Vorgespräch dahingehend ergänzt, dass die Verletzbarkeiten, Schutznotwendigkeiten und Belastbarkeitsgrenzen der Mitpatienten in der Gruppe beachtet werden mögen. Das bedeutet nicht, dass die Patienten daraufhin in der Lage sein werden, zu tun und zu beachten, worauf der Therapeut vorab aufmerksam gemacht hat. Gleichwohl bleibt es entscheidend wichtig, dass der Therapeut vorab auf Belastbarkeitsgrenzen hinweist. Unter Umständen kon-

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kretisiert sich für einen Patienten im Folgenden zum ersten Mal, in welchem Maß er selbst in der Lage ist, interpersonelles Geschehen zu beeinflussen und zu steuern. Patienten, die dazu neigen, sich schon angesichts von kleinen Schwierigkeiten und geringfügiger Ängstlichkeit vermeidend zurückzuziehen, sollte der Therapeut vorab ausführlich erklären, weshalb sie von der Gruppentherapie keinen Gewinn haben werden, wenn sie Unannehmlichkeiten in der Gruppe nur vermeiden und jeder Schwierigkeit und jedem Konflikt aus dem Weg gehen, statt sich den Herausforderungen zu stellen. Sozial ängstliche Patienten hoffen manchmal insgeheim, ihre Probleme könnten sich verändern, wenn sie ihre Ängste nur verstanden haben, ohne dass sie sich den unangenehmen und beunruhigenden Erfahrungen im Zusammensein mit anderen auch stellen müssten. Bei strukturell gestörten Patienten, die sich nicht gut schützen können, muss der Gruppentherapeut der Grundregel für die gemeinsame Arbeit in der Gruppe eventuell einige Einschränkungen hinzufügen. So kann es beispielsweise erforderlich sein, einen Patienten darin zu unterstützen, Themen, die überwältigende Angst auslösen oder massives Unbehagen bereiten, so lange für sich zu behalten, bis er geklärt hat, welcher Art die Gefahr ist, die er bei der Vorstellung, sich möglichst unzensiert zu äußern, auf sich zukommen sieht, und bis er es für möglich hält, mit dieser Gefahr umzugehen. Patienten, die dazu neigen, sich mehr oder weniger blind auszuliefern und eigene Belastbarkeitsgrenzen zu überrennen, oder die nicht in der Lage sind, eigene Grenzen des Verträglichen auch nur zu bemerken, sollte der Gruppentherapeut nachdrücklich auffordern, auch für eigene Bedenken und Ängste aufmerksam zu sein. Falls der Therapeut den Eindruck gewonnen hat, dass der Patient kaum in der Lage sein wird, sich gegebenenfalls ausreichend zu schützen, kann er diese Aufforderung eventuell durch das Angebot ergänzen, seinerseits die Belastbarkeit des Patienten mit im Auge zu behalten. Auch bei Patienten, die dazu neigen, sich in selbstschädigender Weise zu überfordern, kann der Hinweis angeraten sein, für etwaige Bedenken und Belastbarkeitsgrenzen aufmerksam zu sein und Ängste, die darauf hinweisen könnten, dass der Patient Schutz benötigt, nicht einfach zu übergehen. Demgegenüber ist es ratsam, Patienten, die von Gefühlen und Impulsen leicht überschwemmt werden, darin zu unterstützen, ihr

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Verhalten auch rational zu kontrollieren, soweit ihnen entsprechende Ressourcen zur Verfügung stehen. Merke: Die Grundregel bzw. freie Interaktionsregel sollte im vorbereitenden Gespräch auf die besonderen Umstände bei einzelnen Patientengruppen abgestimmt werden, beispielsweise auf Patienten, die zu impulsivem Verhalten neigen, indem die Notwendigkeit besonders betont wird, Toleranzgrenzen zu beachten, oder auf besonders ängstliche Patienten, indem sie ermuntert werden, sich den für sie beunruhigenden Situationen als Herausforderungen zu stellen.

Ausblick auf die bevorstehende Gruppenbehandlung Im Zuge des Vorgesprächs für die Gruppentherapie ist es oftmals hilfreich, den Patienten auch dazu anzuregen, sich die Situation, wie er sie in der Gruppe erwartet, vorab einmal vor Augen zu führen. Zu diesem Zweck kann der Therapeut den Patienten beispielsweise ermuntern, sich vorzustellen, wie es voraussichtlich für ihn sein wird, wenn er im Kreis von Mitpatienten sitzt, die anderen sieht und selbst gesehen wird; wenn sich dann Gefühle bei ihm einstellen, Gedanken und Erinnerungen, die sich auf die eigene Person beziehen; wenn in ihm Vorstellungen, Fantasien und Bilder auftauchen, die sich auf Mitpatienten beziehen, wieder andere, die scheinbar weder mit ihm selbst noch mit Mitpatienten noch mit dem Gruppentherapeuten zu tun haben; wenn er sich zum Handeln gedrängt fühlt, aber statt dem nachzugeben, in Worte fassen soll, wonach ihm zu Mute ist; und wie er damit meint umgehen zu können, wenn ihm manches, das ihn gerade beschäftigt, vielleicht banal erscheint, anderes möglicherweise peinlich ist; wenn er das Gefühl haben wird, dass nicht in die Gruppe gehört, was ihm gerade eingefallen ist, oder etwas nicht zu dem passt, worüber in der Gruppe gerade gesprochen wird, oder wenn sich andere Einwände und Hindernisse auftun und er sich mit der Absicht beschäftigt, tatsächlich zu äußern, was bei ihm und zwischen ihm und anderen gerade vor sich geht. Auch wenn der Therapeut immer wieder die Erfahrung machen wird, dass Patienten mit strukturellen Störungen oft nur wenig dazu in der Lage sind, seinen Anregungen, sich die auf sie zukommende Situation im Zusammensein mit anderen vorzustellen, nachzukommen, sollte er nicht darauf verzichten, dem Patienten diese Anregun-

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gen zu geben, nicht zuletzt deshalb, weil sich daran oftmals Aspekte der strukturell bedingten Einschränkungen des Patienten zeigen, die zuvor nicht hervorgetreten waren, und an denen manchmal anschaulich deutlich wird, wie der Patient sich in Erwartung einer ihm nicht vertrauten Situation verhält. Noch unerfahrene Therapeuten gehen manchmal davon aus, dass es ausreichend sei, wenn sie dem Patienten mit wenigen Worten gesagt haben, wie er sich in der Gruppe äußern möge. Sie sagen dem Patienten, der an einer Gruppentherapie teilnehmen soll, vielleicht nicht mehr, als dass er in der Gruppe möglichst alles mitteilen möge, was ihm einfalle. Sie sind dann verwundert, wenn sich herausstellt, dass der Patient keineswegs weiß, wie sein Anteil an der gemeinsamen Arbeit in der Gruppentherapie aussehen soll. Ein dermaßen knapper Hinweis auf die Art und Weise, wie der Patient in der Gruppe mitarbeiten sollte, muss tatsächlich für die allermeisten Patienten weitgehend abstrakt und unverständlich bleiben. Viele strukturell gestörte Patienten haben keine auch nur halbwegs anschauliche Vorstellung davon, was es heißen könnte, für das eigene Erleben und Verhalten in Anwesenheit von anderen und für das Verhalten von anderen im Kontext des eigenen Erlebens und Verhaltens aufmerksam zu sein und sich anders zu äußern, als sie das aus ihrem Alltag gewohnt sind. Deshalb ist es notwendig, dass der Gruppentherapeut die Empfehlung für das Verhalten in der therapeutischen Gruppe vorab ausführlich genug erläutert und jedem Patienten in einem Vorgespräch so anschaulich wie möglich vor Augen führt, wie in der bevorstehenden Gruppentherapie gearbeitet werden soll. Gruppentherapie ist ein höchst wirksames und effektives therapeutisches Mittel (z. B. Tschuschke, 2010), verlangt, um das sein zu können, aber auch besondere Kenntnisse und Erfahrungen. Die in manchen stationären Einrichtungen geübte Praxis, unerfahrenen Therapeuten die Arbeit in und mit Gruppen zu überlassen, konterkariert Gruppentherapie; das Ergebnis ist dann nicht Gruppentherapie, sondern kann nichts anderes sein als die Anwesenheit eines unerfahrenen Therapeuten in einer Gruppe von Patienten. Merke: Um den Patienten dabei zu unterstützen, sich auf die bevorstehende Arbeit in der therapeutischen Gruppe vorzubereiten, sollte der Therapeut ihn im Vorgespräch dazu anregen, sich vorzustellen, wie es für ihn sein wird, in der Gruppe zu sein und sich dort in

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Anwesenheit von Mitpatienten zu äußern. Ein paar knappe Hinweise auf die Arbeitsweise in der therapeutischen Gruppe reichen für die Vorbereitung auf die Gruppentherapie in keinem Fall aus.

Zur Rolle des Gruppentherapeuten Der Gruppentherapeut muss dem Patienten auch seine eigene Rolle verdeutlichen und ihm im Vorgespräch vor Augen führen, wie er selbst sich während der gemeinsamen Arbeit in der Gruppe verhalten wird und warum er das tut. Manchmal erwarten Patienten, zumal Patienten, die mit Psychotherapie bislang noch keine Erfahrungen gemacht haben, dass der Gruppentherapeut Vorgaben macht, Fragen stellt, Themen vorschlägt und Antworten auf die Frage gibt, wie man in der Gruppe miteinander umgehen oder nicht miteinander umgehen soll. Dieser Erwartung sollte der Therapeut möglichst schon bei der Vorbereitung der Patienten auf die Gruppentherapie entgegentreten und nicht darauf hoffen, derartige Vorstellungen später im Verlauf der Behandlung als Ausdruck von Übertragungen untersuchen und auflösen zu können. Dabei sollte der Therapeut möglichst unmissverständlich klarstellen, dass er bis auf die Empfehlung, sich möglichst wenig zensiert zu äußern, und die Verpflichtung zur Verschwiegenheit keine weiteren Vorgaben für die gemeinsame Arbeit machen wird, sollte aber auch möglichst anschaulich begründen, warum er meint, das nicht tun zu sollen, und welchen therapeutischen Nutzen er darin sieht, dass es den Patienten in der Gruppe innerhalb der genannten Grenzen überlassen ist, wie sie miteinander umgehen und wie sie das Geschehen in der Gruppe gestalten. Den meisten Patienten leuchtet zwar ein, dass Vorgaben des Gruppentherapeuten der Empfehlung, sich möglichst freimütig zu äußern, zuwiderlaufen würden, aber solange sie noch keine Erfahrung mit dem konkreten In-der-Gruppe-Sein haben, fällt es ihnen schwer, sich anschaulich vorzustellen, was es heißt, sich ohne klare Vorgaben von außen vor anderen zu äußern, und wie es sein kann, wenn in der Gruppe grundsätzlich alles angesprochen werden kann, auch Themen, die vielleicht unwichtig und banal erscheinen, peinlich oder komisch, möglicherweise auch unsinnig und unvernünftig. Weiter sollte der Gruppentherapeut den Patienten im Vorgespräch anschaulich genug erläutern, wie er selbst sich bei der gemeinsamen Arbeit in der Gruppe verhalten wird, und insbesondere sollte

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er sie darauf vorbereiten, dass er gelegentlich auch eigenes Erleben, eigene Gefühle und Erfahrungen mitteilen wird, soweit ihm das nützlich erscheint. Um einen ersten Eindruck davon zu gewinnen, ob ein Patient in der Gruppe voraussichtlich in der Lage sein wird, von Interventionen im antwortenden Modus in nützlicher Weise Gebrauch zu machen, kann der Gruppentherapeut sich schon im Vorgespräch bei einer passenden Gelegenheit im Sinne der interaktionellen Arbeitsweise antwortend äußern und dem Patienten damit unmittelbar erfahrbar machen, was damit gemeint ist, dass er als Therapeut auch eigenes Erleben zum Ausdruck bringen wird. Auf diese Weise kann der Patient eine anschauliche Vorstellung davon gewinnen, wie es für ihn sein wird, wenn der Gruppentherapeut gelegentlich von sich selbst spricht, von eigenen Gefühlen oder eigenen Handlungsbereitschaften, die sich während der therapeutischen Arbeit in Antwort auf das Verhalten einzelner oder mehrerer Patienten im Kontext des Geschehens in der Gruppe und seines eigenen Verhaltens bei ihm eingestellt haben. Merke: Zur Vorbereitung des Patienten auf die bevorstehende therapeutische Arbeit in der Gruppe gehört, dass der Therapeut den Patienten ausführlich darüber informiert, wie er selbst sich in der Gruppe äußern und sich verhalten wird und aus welchen Gründen er das tut. Dazu sollte der Therapeut den Patienten auch darüber informieren, dass er keine Vorgaben dazu macht, wie und worüber die Patienten sich in der Gruppe äußern mögen.

Gruppe ohne Gruppentherapeut Manchmal führen Patienten, die an einer Gruppentherapie teilnehmen, in der Gruppe begonnene Gespräche ohne den Therapeuten fort und versuchen, das in gleicher Weise und ebenso wenig zensiert zu tun, wie der Therapeut das für die gemeinsame Arbeit in der Gruppe vorgegeben hat. Dass es gelegentlich dazu kommt, ist zwar eher im stationären Rahmen zu beobachten, wenn auch selten, ergibt sich aber bei ambulant durchgeführten Gruppen ebenfalls schon einmal. Um dem vorzubeugen, sollten die Patienten darauf hingewiesen werden, dass die Gruppengespräche auf die Sitzungen mit dem Therapeuten beschränkt bleiben mögen. Im stationären Bereich sollten die Patienten darauf hingewiesen werden, dass es

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nicht nur nicht günstig ist, von morgens bis abends über »PsychoThemen« zu reden, sondern sogar eher schadet und manchmal geradezu unerträglich werden kann. Die Kommunikation unter den Patienten in den Zeiten außerhalb der therapeutischen Aktivitäten sollte sich ganz im Gegenteil möglichst wenig von dem kommunikativen Verhalten unterscheiden, das auch im Alltag üblich ist. Sich darum zu bemühen, sich möglichst unzensiert zu äußern, würde im Alltag tatsächlich rasch destruktive Folgen nach sich ziehen. Merke: Der Therapeut sollte dem Patienten im Vorgespräch dringend empfehlen, auf Gruppensitzungen ohne Gruppentherapeuten zu verzichten.

Verpflichtung zur Verschwiegenheit Worüber in der therapeutischen Gruppe gesprochen wird, sollte im Kreis derer bleiben, die an der Gruppe teilgenommen haben. Darauf ausführlich genug hinzuweisen, ist nicht nur bei Behandlungen wichtig, die unter stationären Bedingungen stattfinden, auch bei ambulant durchgeführten Gruppenbehandlungen sollte der Therapeut das betonen, nicht zuletzt, um »Nebentherapien« zu verhindern. Weil sich die Patienten in der Klinik auch außerhalb der Gruppentherapie mehr oder weniger häufig begegnen und – insbesondere in kleinen stationären Einrichtungen – große Teile des Alltags miteinander teilen, liegt die Versuchung nahe, in der Gruppentherapie begonnene Gespräche auch außerhalb der Therapie fortzusetzen und auch mit Patienten, die nicht an der Gruppe teilnehmen, über dort angeschnittene Themen weiterzusprechen. Beispiel: Beim gemeinsamen Essen am Tag nach der Gruppentherapie waren einige Patienten Zeuge von Gesprächen, die am Nachbartisch von Patienten einer anderen Station geführt wurden. Dabei mussten sie plötzlich hören, was in der eigenen Gruppe am Vortag vermeintlich »gelaufen« war, und tatsächlich wurden selbst einzelne Äußerungen, die in der Gruppentherapie gefallen waren, am Nachbartisch – teilweise wörtlich – zitiert.

Solche Erfahrungen können das wechselseitige und oftmals ohnehin mühsam aufgebaute Vertrauen in einer therapeutischen Gruppe über

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lange Zeit hinweg erschüttern, mit der Folge, dass um alle Themen, die für schwierig oder sehr persönlich gehalten werden, ein Bogen gemacht wird. Nicht immer bringen Patienten derartige Regelverletzungen von sich aus zur Sprache, insbesondere dann nicht, wenn in der Gruppe noch keine tragfähigen Möglichkeiten entwickelt wurden, Konflikte miteinander auszutragen, ohne schwerwiegende Folgen wie soziale Isolation, Beschämung oder Kontaktabbruch fürchten zu müssen. In diesem Fall muss der Gruppentherapeut die Aufgabe übernehmen, den Rahmenbedingungen, die Voraussetzung für die gemeinsame therapeutische Arbeit sind, Geltung zu verschaffen. Unterlässt er das, droht die Schutz und Halt vermittelnde Funktion des Rahmens untergraben zu werden. Merke: Im Vorgespräch sollte der Therapeut jeden Patienten davon überzeugen, dass alles, worüber in der Gruppe gesprochen wurde, im Kreis derer bleiben möge, die an der Gruppentherapie teilgenommen haben.

Wie hat der Patient die Hinweise des Gruppentherapeuten verstanden? Es empfiehlt sich, am Ende des Gesprächs, mit dem der Therapeut den Patienten auf die bevorstehende gemeinsame Arbeit in der Gruppe vorbereitet hat, den Patienten zu bitten, ihm zu sagen, wie er seine verschiedenen Hinweise verstanden hat. Das mag sich bei manchen Patienten, die die Aufforderung des Therapeuten verstehen, als halte der sie für begriffsstutzig, als schwierig erweisen. In diesem Fall sollte der Therapeut den Sinn seiner an den Patienten gerichteten Aufforderung erläutern und plausibel zu machen versuchen, warum es für die gemeinsame Arbeit in der Gruppe wichtig ist, dass er zumindest einigermaßen sicher sein kann, sich für den Patienten verständlich genug ausgedrückt zu haben. Beide, Patient und Gruppentherapeut, müssen davon ausgehen können, dass sie sich auf eine Reihe gemeinsamer Orientierungen und Regelungen im Hinblick auf ihre zukünftige Arbeit in der Gruppe stützen können. Wenn der Therapeut daraufhin erfährt, wie der Patient seine vorbereitenden Erläuterungen tatsächlich verstanden hat, stellt sich nicht ganz selten heraus, dass der Patient manche der Empfehlungen des Therapeuten für die Arbeit in der Gruppe weitgehend anders aufgefasst hat, als von dem Therapeuten gemeint. Der Therapeut kann

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jetzt gleichsam in einem zweiten Durchgang richtigstellen, was er tatsächlich hat sagen wollen und den Patienten eventuell mit weiteren Erläuterungen auf die therapeutische Arbeit in der Gruppe vorbereiten. Hätte er darauf verzichtet, den Patienten zu bitten, ihn wissen zu lassen, wie er die anfänglichen Erläuterungen verstanden hat, hätte sich möglicherweise erst spät im Verlauf der Gruppenarbeit herausgestellt, dass der Patient von anderen Voraussetzungen als denen ausgegangen ist, die der Therapeut mit seinen Hinweisen gemeint hatte. Merke: Bevor der Therapeut das Vorgespräch mit dem Patienten beendet, sollte er sich vergewissern, wie der Patient seine Hinweise verstanden hat, um gegebenenfalls noch einmal zu erläutern, was er tatsächlich gemeint hat.

Haltung und Aufgaben des Therapeuten in der Gruppe Die Haltung, die der Therapeut bei der psychoanalytisch-interaktionellen Arbeit in und mit der Gruppe einnimmt, ist weitgehend identisch mit der Haltung des Therapeuten in der psychoanalytischinteraktionellen Einzeltherapie. Aufmerksam für das hörbare und sichtbare kommunikative Geschehen zwischen den Anwesenden in der Gruppe bietet er sich den Patienten als ein reales Gegenüber an und nimmt als ein immer präsenter, für Interaktion und wechselseitigen Austausch erreichbarer Mitakteur an dem Gruppengeschehen teil. Auch hier dokumentiert sich der Mitakteursstatus darin, dass er partiell und therapeutisch gezielt eigenes Erleben und eigene Handlungsbereitschaften offenlegt, die aus dem Geschehen in der Gruppe erwachsen sind. Über die Funktionen hinaus, die er in der Einzeltherapie hat, kommen dem Therapeuten in der Gruppe weitere Aufgaben zu, die sich aus dem besonderen Charakter der therapeutischen Arbeit im Mehr-Personen-Setting herleiten. Insbesondere nimmt der Gruppentherapeut hier über seine allgemeinen Funktionen hinaus Einfluss auf Situationsdefinitionen und auf den Prozess des Verhandelns von sozialen Normen, soweit das angezeigt ist. Er unterstützt, falls das erforderlich erscheint, die Etablierung progressiver Normen, die Entwicklung ermöglichen, während er normative Regulierungen, die Regression fördern, in Frage stellt, wenn die Teilnehmer das nicht von sich aus tun und an derartigen regressiven Normen hartnäckig festhalten. Manchmal kann es nützlich sein, dass der Gruppentherapeut

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mit Blick auf das Geschehen in der Gruppe zu Erläuterungen greift, indem er beispielsweise bestimmte Aspekte der Regulierung von interpersonellen Beziehungen in Mehr-Personen-Situationen erklärt. In therapeutischen Gruppen zeigen sich dysfunktionale interpersonelle Beziehungen, die bei strukturell gestörten Patienten einen großen Teil ihrer Problematik ausmachen, oftmals von Beginn an. Meist sind Patienten mit schweren strukturell bedingten Beeinträchtigungen kaum in der Lage zu erkennen, wie sie selbst an solchen dysfunktionalen, nicht selten destruktiven oder gar retraumatisierenden Beziehungen, in die sie immer wieder hineingeraten, beteiligt sind. Sie können kaum sehen, dass sie ein ums andere Mal Gefahr laufen, mit ihrem Verhalten zur Wiederholung genau jener schädigenden und selbstschädigenden Verhältnisse beizutragen, denen sie sich nur ausgesetzt fühlen. Wenn das der Fall ist, muss sich der Gruppentherapeut in die Gestaltung der interpersonellen Verhältnisse und in den Prozess des »Verhandelns« von sozialen Normen aktiv einschalten und unterstützende Funktionen im Hinblick auf die Regulierung des momentanen interaktiven Geschehens in der Gruppe übernehmen. Wenn sich in der Gruppe soziale Normen durchzusetzen drohen, die geeignet sind, zu solchen dysfunktionalen und retraumatisierenden Verhältnissen beizutragen, wird der Gruppentherapeut es in der Regel übernehmen müssen, mit antwortenden Interventionen gleichsam den interpersonellen Preis aufzuzeigen, den die Anwesenden in der Gruppe zahlen müssten, falls solche Normen tatsächlich Gültigkeit erlangen sollten. Seine Interventionen sind dann auf das Ziel ausgerichtet, dass die Patienten schädigende und ihre Entwicklung behindernde, einschränkende soziale Normen allmählich aufgeben und durch normative Regulierungen ersetzen können, die vielfältigere und differenziertere Beziehungen untereinander zulassen und unterstützen. Dabei gilt es für den Therapeuten zu beachten, dass soziale Normen in der Gruppe nur selten explizit benannt werden; ebenso wenig wie Personen im Alltag sich über Regulierungen ihres Verhaltens im Zusammensein verständigen, indem sie über die Gültigkeit normativer Orientierungen ausdrücklich miteinander sprechen, sondern sich vielmehr im Vollzug ihres Verhaltens wechselseitig zeigen, »wie es zwischen ihnen zugehen soll«, sprechen auch die Teilnehmer in therapeutischen Gruppen nur höchst selten ausdrücklich darüber,

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was »man hier tun und nicht tun darf« und wie die Anwesenden sich verhalten sollen. Eine aktive Rolle im Prozess des Verhandelns normativer Regulierungen muss der Therapeut insbesondere auch dann übernehmen, wenn die Gruppenmitglieder an vermeidenden, eine Weiterentwicklung behindernden Normen unverrückbar festhalten und wenn deshalb nicht zu erwarten ist, dass diese von einer Mehrheit in der Gruppe getragenen normativen Regulierungen aus dem Kreis der Patienten heraus in Frage gestellt werden, weil jeder befürchtet, in der Folge als Abweichler sozial isoliert zu werden. Beispiel: In einer therapeutischen Gruppe von Patienten mit überwiegend dependenten und ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörungen wurde über mehrere Stunden hinweg unter dem Einfluss von Spaltungs- und Externalisierungsmechanismen ein lähmendes Milieu von Friedfertigkeit, jegliche Spannung vermeidender Harmonie und Kritiklosigkeit aufrechterhalten. Unterschiede und Differenzierungen und damit soziale Situationen, die potentiell Neid, Missgunst und destruktive Impulse hätten wecken können, wurden hartnäckig vermieden. In der impliziten sozialen Norm schien die Erwartung zum Ausdruck zu kommen, dass die Anwesenden in der Gruppe sich ausnahmslos gut verstehen und in jeder Hinsicht übereinstimmen sollten. Vereinzelte Versuche, Unterschiede zwischen den Anwesenden zu machen und damit Prozesse der Differenzierung einzuleiten, blieben erfolglos. Abweichungen von der normativen Erwartung allseitiger Übereinstimmung wurden mit bagatellisierenden »Umdeutungen«, mit mehr oder weniger subtilen körperlich-gestischen Signalen der Missbilligung und Verachtung, mit versteckten Drohungen oder mit Schweigen sanktioniert und unterbunden. Auf diese Weise wurde die Gültigkeit der Übereinstimmung sichernden Norm ein ums andere Mal bestätigt und bekräftigt. So konnten sich die Anwesenden in der Gruppe der illusionären Überzeugung überlassen, sich unter »nur guten« Menschen zu bewegen, die einander in ungestörter Harmonie nahe sind. Vor einem solchen Hintergund gab es gleichsam keinen Anlass, sich ein differenziertes Bild voneinander zu machen, sich zu beurteilen, Kritik aneinander zu üben oder gar »Böses« bei sich und anderen zu sehen. An dieser restriktiven Norm wurde über lange Zeit festgehalten. Deshalb sah der Gruppentherapeut es schließlich als notwendig an, die

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Norm seinerseits in Frage zu stellen. Er brachte zum Ausdruck, dass er »Harmonie« durchaus angenehm finden könne, sich aber angesichts des derzeit in der Gruppe geltenden Harmonie- und Übereinstimmungsgebotes, das ihm wie ein Kritikverbot vorkomme, ziemlich eingeengt fühle. Daraufhin schienen zwei Patienten in der Gruppe erleichtert aufzuatmen; sie deuteten an, dass es ihnen schon seit geraumer Zeit ähnlich ergehe. Weil ein Verhalten, das gegen geltende Normen verstößt, mit der Gefahr einhergeht, in der Gruppe – zumindest vorübergehend – zum Außenseiter zu werden, hatten sie nicht gewagt, gegen die Gruppennorm Stellung zu beziehen. Mehrere andere Gruppenteilnehmer verharrten in unbeweglichem Schweigen und versuchten so, die Wirkung der Infragestellung der Norm unwirksam zu machen. Nach und nach geriet deren Gültigkeit, unterstützt durch die Initiative des Therapeuten, dennoch ins Wanken, und schließlich wurden neue Regeln verhandelt, die sich jetzt auch auf den Umgang mit in der Gruppe vorhandener Kritik beziehen mussten. Merke: Der Gruppentherapeut bietet sich den Patienten als ein reales Gegenüber und Mitakteur an dem interaktiven Geschehen in der Gruppe an. In der Gruppenarbeit nimmt der Therapeut falls erforderlich auch Einfluss auf die Entwicklung progressiver »Situationsdefinitionen« und sozialer Normen, um Entwicklung zu ermöglichen.

Zur therapeutischen Technik in der Gruppenbehandlung Der antwortende Modus Die therapeutische Technik in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie stützt sich auf den antwortenden therapeutischen Modus (siehe S. 120 f.). In gleicher Weise wie der Therapeut in der Einzelbehandlung nimmt der Therapeut an dem Geschehen in der Gruppe als beteiligtes Gegenüber im interaktiven Austausch mit den Anwesenden teil. Er bewegt sich nicht in der Rolle eines für die Patienten weitgehend unerkennbaren Experten, der darauf hinweist, wie sich ihm das Geschehen in der Gruppe, das sich vor ihm ausbreitet, darstellt, sondern nimmt die Rolle einer teilnehmenden,

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realen anderen Person in ihrem eigenen Recht wahr. Sein Expertenstatus gründet sich somit auf reflektierte Teilnehmerschaft an sozialer Interaktion in der Gruppe. Dabei verzichtet der Therapeut ebenso wie in der Einzeltherapie auch in der Gruppentherapie auf Deutungen von unbewusstem Sinn des jeweiligen Geschehens. Denn wo der Gruppentherapeut mit Deutungen auf gemeinsamen unbewussten Sinn fokussiert, bezieht er sich auf das »in der Tiefe« unter dem manifesten interpersonellen Geschehen vermutete gemeinsame Unbewusste in der Gruppe. Das jedoch erlaubt noch keine Aufschlüsse darüber, wie und mit welchen Mitteln die Anwesenden die soziale Welt der Gruppe und ihre interpersonellen Beziehungen im Zuge ihrer Interaktion hervorbringen und regulieren. Soll das untersucht werden, muss die Aufmerksamkeit statt dem »tiefen« Unbewussten dem Zug um Zug abgewickelten Geschehen zwischen den Akteuren in der Gruppe gelten. Der Therapeut entwickelt somit auch bei der therapeutischen Arbeit in der Gruppe keine Hypothesen über dem Geschehen vermeintlich zugrunde liegendes Unbewusstes und formuliert keine Deutungen über Verdrängtes, sondern fokussiert auf die Mittel und Methoden, auf die sich die Anwesenden stützen, wenn sie ihre interpersonellen Beziehungen abwickeln und gestalten. Deutungen, mit denen sich gewöhnlich die pragmatische Funktion einer Aufforderung an den oder die Patienten verbindet, über Gründe und Intentionen seines oder ihres Verhaltens nachzudenken, haben auf implizites Beziehungswissen und damit auf die Art und Weise, wie und mit welchen Mitteln der Patient das Zusammensein mit anderen gestaltet, gewöhnlich keine nachhaltige Wirkung (Stern et al., 2001). Die Interventionen im antwortenden Modus werden an die Gesamtgruppe adressiert, an Subgruppen oder an einzelne Teilnehmer. Darüber hinaus antwortet der Therapeut mit seinen Interventionen auch auf jeweils in der Gruppe zur Geltung gebrachte Situationsdefinitionen, auf soziale Normen und auf das manifeste Verhalten, über das die Anwesenden sprechen oder das sie im Verhältnis zueinander zeigen. Soweit erforderlich, gibt der Gruppentherapeut im antwortenden Modus zu erkennen, wie er selbst angesichts der jeweiligen Situation und der aktuell geltenden sozialen Normen das interpersonelle Geschehen in der Gruppe erlebt und was sich für ihn damit verbindet – auch das vor allem im Hinblick auf die Beziehungen zueinander.

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Über den antwortenden Modus, mit dem immer interpersonelle Verhältnisse angesprochen sind, rückt der Gruppentherapeut vornehmlich Aspekte der interaktiven Gestaltung von Mehr-PersonenSituationen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Auf diese Weise tragen seine Interventionen im antwortenden Modus dazu bei, das Geschehen in der sozialen Mikrowelt der Gruppe und dessen interaktive Hervorbringung transparent zu machen. In den Mitteln, mit deren Hilfe die Patienten soziale Situationen gestalten, dem impliziten Beziehungswissen, auf das sie dabei zurückgreifen, und an den Wegen, die sie dabei einschlagen, tritt zutage, wie sie selbst die soziale Welt in der Gruppe hervorbringen. Das sind gewöhnlich keine grundlegend anderen Mittel und Wege als die, mit denen die Patienten auch in ihrer Alltagswelt soziale Situationen mitgestalten und regulieren. Darum werden in der therapeutischen Arbeit in der Gruppe die Beeinträchtigungen, zu denen es im Zusammensein mit anderen im Alltag der Patienten so häufig kommt, in ihrer interaktiven Genese besonders deutlich und durchschaubar. In der Gruppe können die Patienten das Zusammenspiel ihres eigenen Verhaltens mit dem Verhalten ihrer gegenwärtigen sozialen Mitwelt, der anderen Patienten in der Gruppe, gleichsam mit Händen greifen. Der Gruppentherapeut kann seine antwortenden Interventionen aus einer zur Mehrheit der Gruppe komplementären Position formulieren. In diesem Fall bringt er zum Ausdruck, welche Wirkungen das Verhalten der Gruppenmitglieder auf sein eigenes Erleben und auf seine Handlungsbereitschaften hat. Er lenkt die Aufmerksamkeit damit auf die Position des Gegenübers, auf die andere Person im interaktiven Austausch, deren Position er hier einnimmt. Formuliert der Therapeut seine antwortenden Interventionen hingegen aus einer konkordanten Position in passagerer Identifikation mit einer Mehrheit der Patienten oder auch einer Subgruppe, manchmal auch in Identifikation mit einem einzelnen Patienten, der sich einer Mehrheit in der Gruppe gegenübersieht, gibt er zu erkennen, wie er selbst erleben und handeln würde, wenn er an deren oder dessen Stelle wäre. Damit bringt er eine andere Perspektive und alternative Mittel und Wege des Umgangs und der Bewältigung der jeweiligen sozialen Situation zur Geltung. Immer muss die Aufmerksamkeit des Therapeuten bei der Arbeit mit strukturell gestörten Patienten in der Gruppe in besonderem Maße der Art und Weise gelten, wie die Anwesenden sich äußern

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und wie sie sich dabei mit ihrem Verhalten ins Verhältnis zueinander setzen. Wenn er sich nur oder auch in erster Linie darauf bezieht, was die Patienten inhaltlich mitteilen, besteht die Gefahr, dass er die Prozesse der Gestaltung der sozialen Realität in der Gruppe und die Mittel, die dafür im Zusammensein eingesetzt werden, aus den Augen verliert. Beziehungserfahrungen und implizites Beziehungswissen strukturell gestörter Patienten zeigen sich vor allem darin, wie sie sich im Verhältnis zu anderen in der Gruppe verhalten, weniger oder gar nicht darin, was sie über ihr Erleben sagen. Vorrang hat hier deshalb – mit anderen Worten – die pragmatische, Beziehungen konstituierende Dimension des kommunikativen Verhaltens der anwesenden Teilnehmer an der Gruppe. Beispiel: Eine Patientin, die keinen Zugang zu ihren Gefühlen hatte, war in der Gruppe jedes Mal sehr aufmerksam für die teilweise schweren und schwerwiegenden Probleme der Mitpatienten, und sie schien sich mit den bedrückenden und desolaten Erfahrungen, die einige Patienten schilderten, vollkommen zu identifizieren, so weitgehend, dass es so wirkte, als sei sie momentan nur noch im Medium der von den anderen dargestellten Erfahrungen präsent. Darauf angesprochen, brachte sie zum Ausdruck, dass es für sie ganz selbstverständlich sei, dass sie »ein offenes Ohr« für die Probleme der anderen habe, so wie sie ihrerseits von anderen erwarte, dass sie ihr zuhörten, falls es für sie einmal wichtig werden sollte, von sich zu sprechen. Sie sei gerne »offen« für die Belange ihrer Umgebung, und es sei für sie eine Genugtuung, wenn sie anderen so helfen könne, wie sie meinte, das in der Gruppentherapie zu tun. Gleichzeitig war die Patientin schwer depressiv und in der Vergangenheit immer wieder in suizidale Krisen geraten. Einige Zeit nach Beendigung der Gruppensitzungen zeigte sie sich erschöpft und resigniert, konnte aber keinen Zusammenhang zwischen diesem Zustand und ihrer vorausgegangenen identifikatorischen Angleichung an die Mitpatienten in der Gruppe herstellen, deren Probleme sie zu ihren eigenen gemacht hatte.

Weil Patienten mit schwereren strukturellen Störungen ihre Beeinträchtigungen und Probleme häufig nur in ihrem Verhalten zeigen, wenn sie über sich sprechen, jedoch ein Bild präsentieren, das nicht selten in auffälliger Diskrepanz zu ihrem tatsächlichen Verhalten

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steht, erfährt der Therapeut die Beeinträchtigungen und Schwierigkeiten der Patienten nicht, wenn er sich vornehmlich auf die Inhalte ihrer sprachlichen Schilderungen stützt, sondern erst dann, wenn sich seine Aufmerksamkeit in besonderem Maße darauf richtet, was die Patienten in ihrem Verhalten im Zusammensein mit anderen zu erkennen geben. Beispiel: Ein Patientin, die über Jahre hinweg ihre Selbstregulierung nur mit Hilfe von Drogen und Alkohol hatte sichern können und sich immer wieder in bedrohlicher Weise Schnittverletzungen zufügte, war selbst jedes Mal, nachdem sie wieder in eine schwere Krise geraten war, davon überzeugt, dass sie bei einem nächsten Mal in der Lage sein würde, mit den Problemen fertigzuwerden. Sie hatte scheinbar klare Vorstellungen davon, was sie in welcher Weise würde tun müssen, um nicht wieder in den gleichen bedrohlichen Zustand zu geraten, und stellte – auf den ersten Blick überzeugend – dar, auf welche Weise sie zukünftig verhindern würde, dass sich ihr krisenhafter Zustand ein weiteres Mal bis zur Bedrohlichkeit steigern würde. Obwohl sie solche oder ähnliche auf Vorsorge abzielenden Überlegungen bereits viele Male zuvor angestellt hatte, war sie jedes Mal von Neuem zutiefst davon überzeugt, dass sie sich tatsächlich wie geplant verhalten würde, falls es dazu käme. Die Patientin war nicht in der Lage, vergangene Erfahrungen so in ihr Selbstbild zu integrieren, dass ihre tatsächlichen Einschränkungen Ausgangspunkt für Bemühungen um ein realitätsangemesseneres Verhalten wurden. Würde der Therapeut sich auf die verbalen Darstellungen verlassen, würde er die tatsächlichen Beeinträchtigungen vieler strukturell gestörter Patienten wie der Patientin des Beispiels nicht erkennen können. Erst indem er sich darauf einstellt, dass die relevanten Beziehungserfahrungen der Patienten nicht oder nicht ausreichend in den sprachlichen Mitteilungen zur Darstellung kommen, sondern im Verhalten gezeigt werden, wird er deren tatsächliches Ausmaß erfassen können.

Charakteristisch für die Arbeitsweise des Gruppentherapeuten im antwortenden Modus sind folgende, verschiedene Typen von Interventionen: ȤȤ Antwortende Interventionen, mit denen der Therapeut selektiv eigenes Erleben und eigene Handlungsbereitschaften in Antwort auf das Gesamtgeschehen in der Gruppe erkennbar macht:

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Beispiel: In einer Gruppe, in der der Umgang der Patienten miteinander durch äußerste Vorsicht und durchgängiges Vermeiden aller Äußerungen, die in irgendeiner Weise Missbehagen auslösen könnten, gekennzeichnet ist, sagt der Therapeut: »Allmählich fühle ich mich hier zunehmend beengt, weil es mir so vorkommt, als müsse jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden. Ich merke, dass sich bei mir inzwischen einiges dagegen sträubt.«

ȤȤ Selektive Antworten, die sich darauf beziehen, wie eine momentane Situation definiert wird und welche sozialen Normen für diese Situation aktuell gelten oder für die Geltung beansprucht wird: Beispiel: In einer Gruppe gilt seit einiger Zeit die Verhaltenserwartung, dass zwischen den Patienten in der Gruppe nach Möglichkeit keine zu deutlichen Unterschiede gemacht werden, dass insbesondere vermieden werden soll, Unterschiede der Erfahrung und der Kompetenz deutlich werden zu lassen. Das veranlasst den Gruppentherapeuten bei passender Gelegenheit zu sagen: »Ich meine schon festgestellt zu haben, dass Sie in verschiedenen Bereichen sehr unterschiedliche Erfahrungen haben und gemacht haben.«

ȤȤ Interventionen, mit denen der Therapeut sich virtuell an die Stelle von mehreren oder von einzelnen Patienten in der Gruppe versetzt und aus dieser virtuellen Position heraus psychische Funktionen übernimmt, die den Patienten aufgrund struktureller Einschränkungen nicht verfügbar sind: Beispiel: Als sich in einer Gruppe einige Patienten darüber beschweren, dass ihre Bemühungen um mehr gemeinsame Aktivitäten innerhalb der Patientengruppe nicht nur auf freundliche Resonanz stoßen, die Patienten auf der anderen Seite aber gemeinsame Aktivitäten an die Bedingung knüpfen, dass alle dabei mitmachen, meint der Gruppentherapeut bei passender Gelegenheit: »Ich glaube, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich mich mit meinem Interesse an gemeinsamen Aktivitäten an die halten, die ähnliche Interessen haben, und ich würde darauf hoffen, dass die anderen dann vielleicht von sich aus mitmachen, wenn ihnen daran gelegen ist«.

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ȤȤ Interventionen, mit denen der Therapeut virtuell die Rolle des Objekts, der anderen Person bzw. des Gegenübers in interpersonellen Beziehungen, von denen in der Gruppe die Rede ist oder die im Austausch zwischen den Patienten im Hier und Jetzt der Gruppe gerade gestaltet werden, übernimmt, um damit unter anderem auf potentielle Wirkungen des Verhaltens hinzuweisen, das das Geschehen in der Gruppe aktuell bestimmt: Beispiel: In einer therapeutischen Gruppe, die unter stationären Bedingungen durchgeführt wurde, wird über einen Mitpatienten, der vor noch nicht allzu langer Zeit aufgenommen wurde, abschätzig geredet, mit der deutlichen Tendenz, diesen Patienten entweder zu meiden, zur Ordnung zu rufen, am besten aber dazu zu bewegen, die Station wieder zu verlassen. Hier sagt der Gruppentherapeut bei passender Gelegenheit: »Ich wäre nicht gerne in der Lage von Herrn A. – gerade eben in einer solchen Klinik angekommen, Neuer in einer Gruppe, keiner, den ich kenne, und dann eine solche Stimmung, die mir da begegnet.«

ȤȤ Interventionen, mit denen der Therapeut Funktionen im Prozess des Verhandelns von Situationsdefinitionen und Gruppennormen übernimmt: Beispiel: Als in einer Gruppe darüber »verhandelt« wird, dass man sich in verschiedener Hinsicht jeweils nach dem Patienten richten solle, der momentan am kränksten oder am schwächsten ist bzw. erscheint, meint der Therapeut: »Was mich angeht, so möchte ich das nicht mitmachen. Da würde ich mir, wäre ich hier Patient, ja geradezu dumm vorkommen, wenn ich mich anstrengen würde, damit es mir besser geht«.

ȤȤ Interventionen, die auf Affekte und Gefühle fokussieren einschließlich der Mitteilung von eigenen Gefühlen, die sich beim Therapeuten in Antwort auf das aktuelle Geschehen in der Gruppe einstellen, soweit von der Mitteilung dieser »antwortenden« Gefühle eine entwicklungsförderliche Wirkung erwartet werden kann:

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Beispiel: Der Gruppentherapeut hatte mehrfach versucht, ein wiederholtes und anhaltendes Schweigen der Patienten anzusprechen, hatte sich mit Fragen an die Patienten gewandt und angeregt, doch miteinander ins Gespräch zu kommen. Als die Patienten weiterhin darauf nicht eingehen, sagt er schließlich: »Ich merke, dass mir das etwas ausmacht, wenn ich Sie anspreche und versuche, mit Ihnen in Kontakt zu kommen, und Sie reagieren darauf nicht. Ich fühle mich dadurch missachtet, und Ihr Schweigen auf meine Bemühungen hin ermuntert mich auch nicht, weitere Versuche zu machen, mit Ihnen in Kontakt zu kommen, wie ich das gerne würde«.

ȤȤ Interventionen, mit denen Informationen und Erläuterungen zu grundlegenden Aspekten interpersoneller Beziehungen vermittelt werden, soweit dieses kognitive Wissen unterstützend dazu beitragen kann, den Patienten Orientierungen in interpersonellen Beziehungen zu erleichtern und ihre soziale Lebenswelt für sie durchschaubarer werden zu lassen. Erläuterungen zu grundlegenden Aspekten interpersoneller Beziehungen Weil Patienten mit strukturellen Störungen oftmals keine Erfahrungen mit sozialen Beziehungen haben, die von Reziprozität bestimmt sind, kann es nützlich sein, wenn der Therapeut im Verlauf der Arbeit in der Gruppe bei passender Gelegenheit umschriebenes kognitives Wissen zu sozialen Beziehungen und zu verschiedenen Aspekten interpersonellen Verhaltens unterstützend vermittelt. Manche Patienten können beispielsweise nur schwer verstehen, dass Mitpatienten ihr Verhalten in der Gruppe als aufdringlich oder als aggressiv oder als verletzend empfinden, obwohl sie selbst weder aufdringlich sein wollten, noch verärgert waren, sondern lediglich Interesse hatten zeigen wollen, und ebenso wenig verletzend hatten sein wollen, sondern nur ihre Meinung hatten sagen wollen. Der scheinbar so selbstverständliche Umstand, dass die Wirkung, die ein Verhalten auf eine andere Person hat, unabhängig von der Absicht sein kann, mit der das Verhalten ausgeführt wurde, und das Verhalten deshalb von einer anderen Person nicht so wahrgenommen werden muss, wie

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es den Absichten des Akteurs entspricht, ist für strukturell gestörte Patienten oftmals alles andere als selbstverständlich. Viele Patienten mit strukturellen Störungen der Persönlichkeit gehen davon aus, dass die Bedeutung ihres Verhaltens mit der Absicht identisch ist, die sie selbst mit ihrem Verhalten verbinden, unabhängig davon, wie ihr Gegenüber das Verhalten auffasst, unabhängig davon also, ob die andere Person sich beispielsweise angegriffen fühlt oder das Verhalten als zudringlich empfindet. Wenn sich herausstellt, dass die andere Person das Verhalten anders erlebt, als es der eigenen Absicht entspricht, die mit dem Verhalten verbunden war, behandeln sie das daher als Beleg dafür, dass es der Adressat dieses Verhaltens sein muss, der ein »Problem« hat und vermeintlich nicht in der Lage ist zu erkennen, wie das Verhalten »eigentlich« gemeint war: »Wenn du das so siehst, dann ist das dein Problem« ist eine verbreitete Strategie, um sich für etwaige interpersonelle Konflikte nicht verantwortlich oder mitverantwortlich fühlen zu müssen, Gefühle von Schuld zu vermeiden und die Zuständigkeit für die Lösung von Konflikten allein dem Gegenüber zuzuweisen. Viele Patienten können somit nicht verstehen, dass die Bedeutung ihres Verhaltens für die andere Person unabhängig davon sein kann, welche Absicht sie selbst damit verbunden haben, und dass ihr Verhalten unvermeidlich immer auch eine Stellungnahme zu der anderen Person und deren Handeln ist, damit auch potentiell sanktionierende Funktionen hat und so in einer Weise dazu beitragen kann, die jeweiligen Beziehungen zu gestalten, die nicht von dem Akteur alleine zu kontrollieren ist. Beispiel: In einer therapeutischen Gruppe zeigt sich ein Patient von einigen Bemerkungen eines Mitpatienten sichtlich getroffen und verstummt in der Folge immer mehr. Darauf angesprochen, gibt er zu erkennen, wie verletzt er sich fühlt. Das wiederum veranlasst den Patienten, der als Urheber der Verletzung angesprochen ist, sich mit dem Ausdruck von Empörung zu rechtfertigen, dass er lediglich seine Meinung gesagt, aber niemanden verletzt habe. Sollte es so sein, dass sich sein Mitpatient, der der Adressat seiner Äußerungen gewesen sei, verletzt fühle, so könne er das auch nicht ändern, dann sei das dessen Problem, dann müsse der sich selbst fragen, was er da für ein Problem habe.

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Vergleichbare Reaktionen sind bei Patienten mit strukturellen Entwicklungsstörungen nicht selten. In diesem Fall brachte allein die Möglichkeit, einem Mitpatienten etwas »Böses« angetan zu haben und dementsprechend eventuell dafür mitverantwortlich sein zu müssen, dass die andere Person eine seelische Verletzung davongetragen hat, die Gefahr mit sich, diffuse Unwert- und Schuldgefühle, Selbsthass und Selbstverachtung nach sich zu ziehen. Nur dadurch, dass der Patient jede Beteiligung an der Verletzung, die der anderen Person zugefügt worden war, weit von sich wies und die alleinige Verantwortung der von seiner Äußerung betroffenen Person mit ihrer Verletzbarkeit zuwies, konnte diese Gefahr vermieden werden. Auch zu wissen, dass Verhalten im Zusammensein mit anderen nicht ausschließlich individuelles Verhalten, sondern unvermeidlich Verhalten im Kontext des Verhaltens dieser anderen und damit wechselseitig mit dem Verhalten aller verschränkt ist, die an der Situation beteiligt sind, kann zu einer Irritation bislang als selbstverständlich hingenommener Überzeugungen führen und sich schließlich entwicklungsförderlich auswirken. Im günstigen Fall wird der Patient durch solch kognitives Wissen zumindest dabei unterstützt zu erkennen, welche Wirkungen sein eigenes Verhalten auf andere Anwesende in der Gruppe hat, zumal ein Patient, der kein Gefühl für die interpersonelle Wirkung seines Verhaltens hat und wieder und wieder in destruktive oder missbrauchende Kollusionen zu geraten droht, ohne erkennen zu können, wie er selbst mit seinem Verhalten dazu beiträgt. Wenn es einem Patienten möglich wird, aus relativer, eventuell auch nur kognitiv vermittelter Distanz solche Interaktionszirkel zu erkennen, kann das manchmal ein erster Schritt auf dem Weg sein, die sich wiederholenden Muster schließlich unterbrechen zu können. Weiter kann für strukturell gestörte Patienten das intellektuelle Wissen, dass Gefühle wichtige Signale im Dienst der Selbst- und der Beziehungsregulierung sind, ausgesprochen hilfreich sein. Der Gruppentherapeut übernimmt mit der Vermittlung solcher umschriebenen Aspekte kognitiven Wissens die Funktion eines Experten oder eines Lehrers, der die Anwesenden in der Gruppe mit Informationen versorgt, die für die Gestaltung ihrer sozialen Lebenswelt potentiell hilfreich sein können.

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Merke: Für die therapeutische Arbeit in Gruppen mit strukturell gestörten Patienten kann es hilfreich sein, wenn der Therapeut gelegentlich grundlegende Gesichtspunkte interpersoneller Beziehungen erläutert, beispielsweise die Funktion von Gefühlssignalen in zwischenmenschlichen Beziehungen oder den Umstand, dass die Wirkung von Verhalten auf eine andere Person unabhängig von der Absicht sein kann, mit der das Verhalten ausgeführt wurde.

Schwerpunkte der therapeutischen Arbeit in der Gruppe Explizite und implizite Themen Manchmal fragt in einer therapeutischen Gruppe ein Patient in die Runde, ob jemand »ein Thema« hat; oder ein Patient, der auf sein Schweigen angesprochen wird, meint, er könne »zu dem Thema« nichts sagen. Mit »Thema« ist damit gewöhnlich eine umschriebene, explizit zur Sprache gebrachte Problemstellung gemeint, und oftmals verständigen sich die Patienten in der Gruppe auf die Norm, dass die Problemstellung, die ein oder mehrere Patienten zur Sprache gebracht haben, »das Thema der Gruppe« sei oder zu sein habe. Auch das geschieht häufig nur implizit – die Patienten sagen das nicht, aber verhalten sich entsprechend. Was aus der Sicht der Patienten als »Thema« deklariert wird, spiegelt aus der Sicht des Therapeuten, der für die interpersonelle Funktion des jeweiligen Geschehens aufmerksam ist, häufig eher den Versuch wider, Gemeinsamkeit herzustellen, mit Differenz und Individualität potentiell verbundene Spannungen zu vermeiden und durch Konstituierung eines für alle relevanten »Gegenstandes« potentielle Konflikte zu vermeiden. Für den Therapeuten ist unter Umständen dann das – in diesem Fall implizite – »Thema« viel eher eben dieses Bemühen der Gruppenteilnehmer. Gelegentlich kommt es zu Beginn einer Gruppensitzung zu flüchtigen Ereignissen, die kaum beachtet werden, aber im weiteren Verlauf der Gruppensitzung offen oder versteckt eine Rolle spielen und die ein Problem zur Darstellung bringen, das dann über eine mehr oder weniger lange Spanne hinweg im Zentrum des Gruppengeschehens steht.

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Vielleicht wirft ein Teilnehmer wie nebenher eine Frage auf oder macht beiläufig eine kurze Bemerkung, mit der nichts Besonderes verbunden zu sein scheint, und die damit implizit angesprochene Thematik scheint bald wieder von der Bühne des Geschehens zu verschwinden und in die Kulissen zurückzutreten. Gleichwohl kann sich daraus ein »Thema« im Sinne einer impliziten Problemstellung entwickeln, das die Gruppe im Weiteren immer wieder beschäftigt. Beispiel: Nachdem in den letzten beiden Gruppensitzungen jeweils ein Mitglied der Gruppe seine Teilnahme hatte absagen müssen, macht zu Beginn der folgenden Sitzung ein Patient die knappe Mitteilung, zur folgenden Sitzung nicht kommen zu können. Niemand scheint der Mitteilung besondere Aufmerksamkeit zu schenken; die Anwesenden nehmen die angekündigte Abwesenheit kommentarlos hin, ohne dass ausdrücklich über das Fernbleiben gesprochen würde. Im Folgenden entwickelt sich eine lebhafte, mit wechselseitiger Kritik und Vorwürfen gespickte Auseinandersetzung über die Frage, wie es mit der Verbindlichkeit in der Gruppe und der Zuverlässigkeit des Therapeuten steht.

Manchmal werden Ereignisse, die mit dem Geschehen in der Gruppe scheinbar wenig zu tun haben, wie die symbolische Verdichtung einer Thematik aufgenommen, die dann im Fortgang der Gruppe entfaltet wird und von der sich herausstellt, dass damit ein in der Gruppe aktuell wichtiges Problem angesprochen ist. Beispiel: In einer Gruppe eröffnet eine Teilnehmerin, noch ein wenig aufgeregt, die Sitzung und berichtet, dass sie gerade große Angst gehabt habe und beinahe auf dem Absatz kehrt gemacht hätte, weil zwei Hunde sie unten in der Nähe der Eingangstür zur Praxis des Therapeuten angebellt hätten. Ihre kurze Erzählung über die streitenden Hunde führt in der Gruppe dazu, dass anfangs verdeckt, später zunehmend direkt über die Frage verhandelt wird, ob überhaupt und wie deutlich Meinungsverschiedenheiten in der Gruppe zur Sprache gebracht und ausgetragen werden können.

Selbst in flüchtigen nichtsprachlichen und scheinbar nebensächlichen Ereignissen, die keiner weiteren Erwähnung wert zu sein schei-

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nen, kann wie in einem Kern die Thematik enthalten sein, die sich im weiteren Verlauf der Gruppe mit zunehmender Deutlichkeit und in vielfältigen Schattierungen entfaltet. Manchmal können es auch flüchtige Szenen zu Beginn einer Gruppensitzung sein, scheinbar kaum wert, beachtet zu werden, die im Fortgang zum Ausgangspunkt für eine die Gruppe zentral betreffende Thematik werden. Beispiel: Ein Patient kommt ein wenig später zur Gruppe, während alle anderen Patienten bereits Platz genommen haben. Bevor er sich hinsetzt, zögert er kurz, macht dann noch einmal kehrt, geht zum Lichtschalter und knipst wortlos die Beleuchtung in dem Gruppenraum an. Ausdrücklich reagiert darauf keiner der Anwesenden. Ohne dass dieses flüchtige initiale Ereignis im Folgenden noch einmal ausdrücklich erwähnt würde, entspinnt sich in der Gruppe bald darauf eine lebhafte Diskussion über die – scheinbar nur abstrakte – Frage, ob Verhalten, das gut gemeint ist, gleichwohl als willkürlich gelten könne.

Manchmal werden die Themen, die das weitere Gruppengeschehen bestimmen, ausdrücklich benannt und ausführlich kommentiert. Dann wieder kann es sein, dass ein Problem zwar ausdrücklich zur Sprache gebracht, im nächsten Schritt aber scheinbar wieder fallengelassen oder – obwohl noch kaum näher beleuchtet – als erledigt beiseitegelegt wird. Erst im weiteren Ablauf der Gruppe wird dann deutlich, dass das angeschnittene Thema so beunruhigend war, dass man sich in der Gruppe stillschweigend darauf geeinigt hat, darüber hinwegzugehen und die mit diesem Thema aufgeworfene Problematik fallenzulassen. Weil sich schon mit den allerersten interaktiven Zügen zu Beginn der Gruppe abzeichnen kann, womit sich die Gruppe im Folgenden explizit oder implizit beschäftigen wird, sollte der Gruppentherapeut für das initiale Verhalten und die einleitenden Äußerungen besonders aufmerksam sein. Er sollte sich fragen, ob sich Aspekte dessen, was sich da in den ersten Verhaltenszügen gezeigt hat oder das Thema, das in den anfänglichen Äußerungen angeklungen ist, fortsetzt, in den weiteren Mitteilungen der Gruppenteilnehmer offen oder zwischen den Zeilen weiterbehandelt wird, fallengelassen wurde oder ob sich ein anderer roter Faden im Sinne eines gemeinsamen »Themas« ausmachen lässt.

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Merke: Die Patienten, die an der Gruppe teilnehmen, meinen mit »Thema« oft ein ausdrücklich benanntes Problem, das mehr oder weniger alle Anwesenden in der Gruppe beschäftigt. Aus therapeutischer Sicht muss ein Thema nicht unbedingt ausdrücklich zur Sprache gebracht werden, um für die Gruppe relevant zu sein. Für die Gruppe aktuell relevante Probleme können sich auch über körperliches, nichtsprachliches Verhalten konstellieren, beispielsweise In Gestalt flüchtiger Enactments, und häufig zeigen sich aktuelle Schwierigkeiten in den interpersonellen Beziehungen in den ersten interaktiven Zügen einer Gruppensitzung.

Wie wird die aktuelle Situation definiert? In ihrem sprachlichen und nichtsprachlichen Verhalten machen die Gruppenmitglieder kenntlich, wie sie die Situation in der Gruppe wahrnehmen und erleben. Das zu erkennen ist für den Gruppentherapeuten dann nicht schwierig, wenn einzelne oder mehrere Gruppenteilnehmer das Geschehen in der Gruppe ausdrücklich mit Situationen vergleichen, die sie aus ihrem Alltag kennen. Ein Gruppenmitglied sagt: »Das ist ja wie im Theater hier«, und andere Anwesende signalisieren Zustimmung; »wir können ja abstimmen« heißt es angesichts einer strittigen Frage; »wir sitzen alle im gleichen Boot« lautet bei anderer Gelegenheit eine Warnung; »wir sind uns hier doch alle sympathisch« bekräftigt eine Mehrheit der Anwesenden, als der Therapeut in Frage stellt, dass die Gruppe scheinbar durchgängig fern jeglicher Konflikte und Meinungsverschiedenheiten ist; mit »jeder muss selbst wissen, was er macht« wird angesichts weitgehenden Desinteresses der Anwesenden aneinander die Situation in der Gruppe gekennzeichnet. Mit solchen expliziten Definitionen der Situation ist am ehesten dann zu rechnen, wenn die Gruppenteilnehmer sich einer Situation gegenübersehen, die ihnen unvertraut ist und die sie deshalb beunruhigt. Häufig sagen die Gruppenteilnehmer jedoch nicht ausdrücklich, wie sie eine augenblickliche Situation wahrnehmen und erleben. In diesem Fall lässt oftmals jedoch ihr Benehmen (Freud, 1914/1946), ihr Verhalten, das sie im Verhältnis zueinander zeigen, Schlussfolgerungen darauf zu, welche Bedeutung sie der momentanen Situation geben. Unter Umständen kann der Gruppentherapeut mehr noch angesichts

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des manifesten körperlichen Verhaltens der Teilnehmer darauf schließen, dass sie das Geschehen ähnlich wie bestimmte andere Situationen oder Ereignisse, die ihnen aus dem Alltag bekannt sind, erleben und sich deshalb so verhalten, wie sie das in diesem Augenblick tun. Wenn mehrere Gruppenteilnehmer in einer Situationsdefinition erkennbar übereinstimmen, hat die Gruppe implizit zu einem vorläufigen Konsens darüber gefunden, wie ihre gemeinsame Realität momentan beschaffen ist und sein soll. Unter den Anwesenden herrscht Einigkeit darüber, »was das hier gerade ist«, und darüber, dass man sich dementsprechend so und nicht anders zu verhalten hat. Manchmal gibt es auch unterschiedliche und miteinander nicht vereinbare Situationsdefinitionen; dann steht zunächst die Frage an, ob und wie die Anwesenden in der Gruppe ihr wechselseitiges Verhalten aufeinander abstimmen werden. Wenn Situationsdefinitionen sich im Verlauf einer Gruppensitzung verändern und neu darüber verhandelt wird, »was hier los ist«, geschieht auch das häufig implizit und kommt nicht unbedingt ausdrücklich zur Sprache. Meist nimmt erst dann, wenn sich Missverständnisse einstellen oder Interessen konfligieren, die Wahrscheinlichkeit zu, dass die Gruppenteilnehmer ausdrücklich darüber sprechen, wie sie die augenblickliche Situation definieren und wie man sich deshalb verhalten möge. Häufiger sprechen die Patienten, die an der Gruppentherapie teilnehmen, rückblickend über eine Situation und verständigen sich im Nachhinein darüber, ob das zurückliegende Geschehen so oder anders zu verstehen war und ist. Auch mit geltend gemachten retrospektiven Situationsdefinitionen ist häufig die Funktion verbunden, sich darüber miteinander ins Benehmen zu setzen, welches Verhalten in bestimmten Situationen erwartet werden soll und welches Verhalten nicht zu akzeptieren ist. Merke: Über die Bedeutung einer Situation, darüber, »was hier gerade los ist«, wird oft implizit mit der Art und Weise, wie die Patienten sich verhalten, »verhandelt«, seltener mit Worten.

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Welche sozialen Normen gelten hier? Das Geschehen in der therapeutischen Gruppe kann sich immer in vielfältige Richtungen entwickeln, und potentiell ist in verschiedenen Situationen höchst unterschiedliches Verhalten möglich. Die Unsicherheit, die damit einhergeht, dass es für eine Situation keine verbindlichen sozialen Normen gibt und dass deshalb weitgehend offen ist, was im nächsten Moment geschieht, veranlasst die Patienten in der therapeutischen Gruppe – grundsätzlich nicht anders als das im sozialen Alltag geschieht – dazu, Verhalten relativ vorhersagbar zu machen, indem Erwartungen geltend gemacht werden, die wechselseitiges Verhalten vorhersehbar machen und regulieren sollen. Im Fortgang der Gruppentherapie entwickeln sich immer wieder neue Situationen, für die dementsprechend nach neuen mehr oder weniger verbindlichen Verhaltenserwartungen gesucht wird. Die Teilnehmer in der Gruppe verständigen sich fortlaufend darüber, welches Verhalten sie in den verschiedenen, sich entwickelnden und weiterentwickelnden Situationen voneinander erwarten. Zu Beginn einer therapeutischen Gruppe versuchen die Patienten, grundlegende Regelungen für ihren Umgang miteinander zu finden, beispielsweise für die Form der wechselseitigen Anrede oder dafür, wie man sich den anderen Gruppenteilnehmern vorstellen und welche Informationen man dabei über die eigene Person »öffentlich« machen will. Beispiel: In der ersten Sitzung einer Gruppe, die sich zu Fortbildungszwecken getroffen hat, schlägt eine Teilnehmerin nach einigen Minuten des Schweigens vor, man möge sich doch wechselseitig bekannt machen, und sie beginnt sogleich damit, ihren Namen und Vornamen zu nennen und ihren Beruf und Arbeitsplatz mitzuteilen. Nach kurzem Zögern fährt ihr Nachbar fort und stellt sich seinerseits vor, ebenfalls unter Nennung seines Namens, seines Vornamens, seines Berufes und seines Arbeitsplatzes. So setzt sich die Reihe fort, bis sich fünf der Anwesenden in gleicher Weise vorgestellt haben. Der sechste Teilnehmer nennt lediglich Vornamen und Namen. Daraufhin folgt ein kurzes Schweigen; der Gruppenteilnehmer belässt es bei seiner Vorstellung. Dann fährt die siebte Teilnehmerin damit fort, sich vorzustellen, auch sie wieder unter Hinzufügung von Beruf und Arbeitsplatz zu ihrem Namen, und

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

auch die beiden Teilnehmer, die sich bis jetzt noch nicht vorgestellt haben, schließen sich dem an. In dieser kurzen und ganz und gar gewöhnlichen Eingangssequenz nehmen die Anwesenden in der Gruppe mit ihrem Verhalten gleich zu mehreren »Themen« Stellung: Sie halten es in dieser Situation mehrheitlich für wichtig, die Anwesenden über den eigenen Beruf und die eigene Arbeitssituation zu informieren, sie entscheiden sich dafür, das Verhalten des Teilnehmers, der mit den Angaben, mit denen er sich vorgestellt hat, von der Mehrheit abgewichen ist, nicht ausdrücklich zu kommentieren, und sie zeigen einander damit, dass konformes Verhalten sichergestellt werden kann, ohne auf abweichendes Verhalten ausdrücklich einzugehen.

Im weiteren, dem Beginn folgenden Gruppenverlauf werden die Situationen, für die soziale Normen geltend gemacht werden, vielfältiger und differenzierter. Im gleichen Zug müssen auch die Normen, die für die jeweils aktuelle Situation gelten sollen, differenzierter und spezifischer werden. Welche sozialen Normen in einer Gruppe gelten, lässt sich spätestens dann feststellen, wenn dagegen verstoßen wird und nicht erwartungsgemäßes Verhalten sanktioniert wird. Soziale Normen in der Gruppe können sich auf vielfältige Realitätsbereiche beziehen, etwa auf interpersonelle Beziehungen oder auf moralische Überzeugungen. Beispiel: Eine Teilnehmerin an einer therapeutischen Gruppe kritisiert eine Mitpatientin, von der sie sich unaufmerksam und unfreundlich behandelt sieht. Das nehmen andere Patienten zum Anlass, die Patientin, die die Kritik geäußert hat, ihrerseits zu kritisieren, weil sie sich angeblich »immer so vorwurfsvoll« äußere; wenn sie etwas sage, müsse man immer das Gefühl haben, »was Schlimmes gemacht zu haben«; es sei vor allem ihr »vorwurfsvoller Tonfall«, der schwer zu ertragen sei. Schließlich rechtfertigt sich die Patientin mit dem Hinweis, dass ihre anfängliche Kritik »doch gar nicht als Vorwurf gemeint« gewesen sei. Nach kurzer Zeit ist in der Gruppe einer sozialen Norm Geltung verschafft bzw. eine bereits gültige soziale Norm bekräftigt worden: Soweit in der Gruppe Kritik geübt wird, ist darauf zu achten, dass die Kritik nicht den Charakter eines Vorwurfs hat; gegenseitig aneinander Kritik zu üben wird akzeptiert, Vorwürfe zu machen ist jedoch bis auf Weiteres untersagt.

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Eine soziale Norm, die darauf abzielt, Vorwürfe zu unterbinden, wird vor allem in Gruppen aufrechterhalten, in denen die Anwesenden dazu neigen, mit erheblichen Schuldgefühlen, möglicherweise auch mit Selbsthass und Selbstverachtung zu reagieren. Dem Gruppentherapeuten geben soziale Normen, die mit Worten vertreten oder im Verhalten zur Geltung gebracht werden, wichtige Hinweise auf Stärken und Ressourcen, aber auch auf die Probleme, die die Patienten im sozialen Miteinander haben, und auf die ihnen verfügbaren Mittel und Wege, mit solchen Schwierigkeiten umzugehen. Beispiel: Nachdem sich mehrere Patienten in einer Gruppe darüber unterhalten haben, ob eine bestimmte Schauspielerin gut aussehe oder nicht, wird eine Patientin mit zweifelnd-spöttischem Unterton gefragt, ob sie wohl neidisch sei. Nachdem sie das mit einem knappen »Weiß ich nicht« abgewiesen hat, entspinnt sich in der Gruppe ein Gespräch über Neid, bei dem man sich rasch darauf verständigt, dass man in der Gruppe nicht neidisch sei. Der Umstand, dass man Neidgefühle eigentlich nicht kenne, wird mit einem deutlichen Ausdruck von Überlegenheit gegenüber denen vorgetragen, bei denen man Anhaltspunkte dafür sieht, dass sie »ja nur neidisch« seien. Nachdem es in der Gruppe auch über längere Zeit hinweg keinen Anhalt dafür gegeben hat, dass sich einer der Anwesenden zu solchen »primitiven Gefühlen« stellen würde, meint schließlich der Gruppentherapeut: »Neidisch sein? Das kenne ich sehr wohl, mal mehr, mal weniger. Ich gehöre zu denen, denen Neid keineswegs fremd ist.«

Um Aufschluss darüber zu gewinnen, für welche sozialen Normen in der Gruppe Gültigkeit beansprucht wird, liest der Gruppentherapeut zum einen die manifesten sprachlichen Äußerungen der Gruppenteilnehmer immer auch unter der Perspektive, welche Erwartungen damit für das augenblickliche Miteinander in der Gruppe geltend gemacht werden. Zum anderen betrachtet er das nichtsprachliche Verhalten auch unter dem Aspekt, inwiefern das Verhalten als Mittel eingesetzt wird, um bestimmte Regeln interpersonellen Verhaltens für diese konkrete Situation zu reklamieren. Wird ein bestimmtes Verhalten in der Gruppe mehrheitlich offen oder mit subtilen Mitteln negativ sanktioniert, lässt das auf Normen in der Gruppe schließen, die in diesem Moment durch dieses Verhalten in Frage gestellt und

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deren Gültigkeit mittels Abweisung des normabweichenden Verhaltens bekräftigt werden. Zu kontroversen Diskussionen über die Geltung und Verbindlichkeit sozialer Normen kommt es meist erst dann, wenn eine Gruppe Lösungen und Regeln gefunden hat, um Meinungsverschiedenheiten auszutragen, ohne dass in Verbindung damit schwerwiegende Folgen zu befürchten sind. Erst wenn es verlässliche Regulierungen für den Umgang mit konfligierenden Auffassungen gibt, welches Verhalten man voneinander erwartet und welche Normen gelten sollen, falls es angesichts von Konflikten zu heftigeren Gefühlen kommt, die mit Kontroversen geweckt werden können, und wie mit Toleranzgrenzen umgegangen werden sollte, können Meinungsverschiedenheiten auch ausgetragen werden. Solange zu befürchten ist, dass Kontroversen in destruktive Auseinandersetzungen münden, werden divergierende Meinungen in der Gruppe in der Regel weder zugelassen noch diskutiert. Merke: Die Patienten in der Gruppe verständigen sich fortlaufend darüber, welches Verhalten sie wechselseitig voneinander erwarten. Das Aushandeln von Verhaltenserwartungen ist meist ein impliziter Aspekt des kommunikativen Verhaltens. Der Gruppentherapeut muss die manifesten Äußerungen ebenso wie das körperliche nichtsprachliche Verhalten der Gruppenteilnehmer deshalb auch immer unter dem Gesichtspunkt lesen, welche Verhaltenserwartungen für die momentane Situation damit geltend gemacht werden.

Gefühle Gefühle haben wichtige Funktionen sowohl für die Selbstregulierung wie für die Regulierung von Beziehungen und sind ein wichtiger Schwerpunkt der therapeutischen Arbeit in der Gruppentherapie. Welche Folgen damit verbunden sein können, wenn Gefühle nicht oder nur vage wahrgenommen werden können und damit für selbstund beziehungsregulierende Funktionen nicht oder nur begrenzt verfügbar sind, kann an den Beziehungen in der therapeutischen Gruppe und der Art und Weise, wie und mit welchen Mitteln die Gruppenteilnehmer ihr Zusammensein gestalten und regulieren, besonders deutlich werden.

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Der Therapeut verbindet Interventionen im antwortenden Modus häufiger mit der Äußerung von Gefühlen, die er in Antwort auf das Verhalten der Gruppe, einer Mehrheit von Patienten, gelegentlich auch einzelner Patienten empfunden hat. Auf diese Weise macht er für die Patienten erkennbar, welche Gefühle ihr Verhalten bei ihm als dem momentanen Gegenüber geweckt haben und in welcher Weise die Patienten damit zur Gestaltung dieser Beziehung beigetragen haben. Mit der Äußerung eigener, antwortender Gefühle wird für die Patienten zudem deutlich, wie diese Gefühle, die das Verhalten der Patienten hervorgerufen hat, Handlungsbereitschaften auf Seiten des Gegenübers, in diesem Fall des Therapeuten, induziert haben. Damit kann für die Patienten die Erfahrung gleichsam in greifbare Nähe rücken, dass und wie sie selbst mit ihrem Verhalten Gefühle bei anderen induzieren und damit deren Verhalten in Grenzen beeinflussen können. In diesem Zusammenhang empfiehlt es sich für den Gruppentherapeuten, auch den jeweiligen Kontext aufzuzeigen, innerhalb dessen sich seine Gefühle eingestellt haben. Gefühle und Affekte, die aus psychodynamischer Sicht Teil der Gegenübertragung des Gruppentherapeuten sind, werden hier somit in erster Linie im Hinblick auf ihre interpersonelle Funktion aufgegriffen statt als Erleben, über das auf unbewusstes Geschehen in der Gruppe geschlossen wird. Erst recht verbindet der Gruppentherapeut seine Gefühle nicht kurzschlüssig mit psychischen Dispositionen der Patienten nach dem Motto »ich habe nicht klar gesehen, also wollten die Patienten mir Sand in die Augen streuen« oder »ich war verärgert, also wollten die Patienten mich ärgern«, wie das manchmal bei unerfahrenen Therapeuten zu beobachten ist – auch wenn das im Einzelfall einmal zutreffen mag. Weiter trägt der Therapeut der Bedeutung von Gefühlen damit Rechnung, dass er seine Aufmerksamkeit nicht alleine auf die Gefühle richtet, die Gruppenteilnehmer zu erkennen geben, sondern ebenso darauf, welche Gefühle einzelne oder mehrere Patienten in der Gruppe nicht oder nur mehr oder weniger eingeschränkt wahrnehmen können. Für manche strukturell gestörten Patienten, die Gefühle gar nicht wahrnehmen können oder nur als diffuse und vergleichsweise grobe körpernahe Empfindungen, etwa als Spannungsgefühle, so dass sie ihre Selbst- und Beziehungsregulierung nicht auf Gefühlssignale stützen können, bietet die Therapie in der Gruppe

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auch in dieser Hinsicht manchmal Vorteile, indem die Patienten durch die Beobachtung anderer Patienten in der Gruppe, die in diesem Bereich weniger eingeschränkt sind, angeregt werden, auf ihre Gefühle mehr zu achten und Gefühle differenzierter wahrzunehmen. Auch wenn sich die Interventionen des Gruppentherapeuten im antwortenden Modus auf Situationsdefinitionen oder auf Normen richten, die in der Gruppe gelten, wird er oftmals versuchen, seine Antworten mit dem Ausdruck eigenen gefühlshaften Erlebens im Kontext der in der Gruppe definierten Situation oder der aktuell vorherrschenden Norm zu verbinden. Wie bei allen Interventionen im antwortenden Modus sollten auch für Interventionen, die der Therapeut in der Gruppe mit dem Ausdruck antwortender Gefühle verbindet, zwei Voraussetzungen erfüllt sein: ȤȤ Die Mitteilung eigener Gefühle darf die Toleranzgrenzen der Patienten, insbesondere ihre Kränkungstoleranz nicht überschreiten und ȤȤ die Mitteilung eigenen gefühlshaften Erlebens des Therapeuten muss begründete Aussicht bieten, sich für die Patienten entwicklungsförderlich auszuwirken. Ist entweder das eine oder das andere oder beides nicht gegeben, sollte der Therapeut auf die Mitteilung eigener Gefühle verzichten. Ist beispielsweise unsicher, ob ein Patient gekränkt sein wird, wenn der Therapeut ihm mit nichtzustimmenden Gefühlen gegenübertritt, sollte der Therapeut auf die Mitteilung seines gefühlshaften Erlebens verzichten, ist doch bei Patienten mit schwereren strukturellen Störungen die Gefahr groß, dass sie auf Kränkungen hin die andere Person innerlich aufgeben und als nur böse, ungenügend und schlecht abwerten. Das wiederum hat leicht zur Folge, dass sie von dem Therapeuten nichts Gutes mehr erwarten. Die Therapie droht sinnlos zu werden, oder der Patient stellt seine Zusammenarbeit mit dem Therapeuten ganz ein. Wenn die normativen Erwartungen, für die von Patienten mit strukturellen Störungen Geltung in der Gruppe beansprucht wird, regressives, vermeidendes Verhalten unterstützen, kann die Mitteilung gefühlshaften Erlebens des Therapeuten in Antwort auf solche regressiven Normen wirksam dazu beitragen, transparent zu machen, welche Einschränkungen für interpersonelle Beziehungen damit einhergehen.

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Beispiel: In einer Gruppe, in der die Patienten wenig miteinander reden und sich ausschließlich zustimmend, höflich-freundlich und »nett« zeigen, wenn sie sich äußern, damit aber auch weitgehend nichtssagend bleiben, sagt die Gruppentherapeutin bei passender Gelegenheit: »Sie sind so freundlich miteinander. Irgendwie ein ganz angenehmes Klima. Auf der anderen Seite: Was mir hier einfällt und mich beschäftigt, ist nicht ausschließlich freundlich. Mir würde es aber nicht leichtfallen, das hier auszusprechen, weil ich nicht gerne diejenige sein möchte, die dann zum Bösewicht gemacht wird.« Merke: Gefühle haben wichtige Funktionen für die Selbst- und Beziehungsregulierung. Der Gruppentherapeut verbindet seine Interventionen im antwortenden Modus häufig mit der Äußerung von eigenen Gefühlen in Antwort auf das Verhalten von Patienten in der Gruppe. Damit wird für die Patienten erkennbar, wie sie durch ihr Verhalten auf andere Personen – in diesem Fall auf den Gruppentherapeuten und auf dessen Handlungsbereitschaften – Einfluss nehmen können. Gefühlsantworten des Therapeuten richten sich auch auf momentan vorherrschende Situationsdefinitionen oder auf soziale Normen. Die Mitteilung eigener Gefühle des Therapeuten darf die Toleranzgrenzen der Patienten nicht überschreiten und muss entwicklungsförderlich sein.

Beziehungserleben und Beziehungsgestaltung (Objektbeziehungen) Der Therapeut hat in der Gruppe mit strukturell gestörten Patienten immer wieder mit der wichtigen Frage zu tun, ob es sich bei den Beziehungserfahrungen, die bei den Patienten im Verhalten zueinander und im Verhältnis zu ihm in jedem Moment aktualisiert werden, und bei den Beziehungen, die sie miteinander gestalten, um vergleichsweise reife, auf Reziprozität beruhende interpersonelle Beziehungen handelt oder ob – wie bei Patienten mit strukturellen Einschränkungen der Persönlichkeitsentwicklung meist – die jeweils anderen in erster Linie für Zwecke der Selbstregulierung gebraucht werden, also selbst- und selbstwertregulierende oder bedürfnisbe-

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friedigende Funktionen haben, in psychoanalytischer Terminologie: Selbst- bzw. Teilobjekte sind – das heißt, nicht als eigenständige andere Personen »in ihrem eigenen Recht« und dementsprechend nicht als Personen erlebt werden, die dem Patienten um ihrer selbst willen wichtig sind. Teilobjektbeziehungen unterscheiden sich von Beziehungen zu »ganzen« Objekten in erster Linie dadurch, dass gleichsam ein Teil der Person für die ganze Person genommen wird. Beherrschen Teilobjektbeziehungen das Feld in der Gruppe, werden Unterschiede zwischen den Anwesenden nivelliert. Die anderen verschwimmen zu einem mehr oder weniger homogenen Ganzen. Ein potentiell triadisches Beziehungsfeld wird zu einem dyadischen oder pseudodyadischen Geschehen gleichsam zusammengeschmolzen. Mit dem antwortenden Modus ist der Therapeut in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppe auf Progression und damit auf Differenzierung ausgerichtet. Darum macht er sich – besonders angesichts dessen, dass etwaige Teilobjektbeziehungen in der Gruppe aufrechterhalten werden – als getrenntes, eigenständiges »Objekt« kenntlich, als zwar zugewandte und erreichbare, aber doch auch andere, von dem Patienten unabhängige Person: Damit entzieht er sich den Selbstobjektbedürfnissen der Patienten in nichttraumatisierender Weise. Wenn der Gruppentherapeut seine Interventionen auf Situationsdefinitionen, auf soziale Normen, auf strukturell eingeschränkte Funktionen einzelner Gruppenteilnehmer sowie einer Mehrheit in der Gruppe und die dazugehörigen Gefühle auf aktualisierte Beziehungserfahrungen bzw. Teilobjektbeziehungen ausrichtet, heißt das nicht, dass er nicht auch für unbewusste Konflikte und deren psychosoziale Abwehr aufmerksam ist. In jedem Fall geht er aber auf unbewusste Konflikte nicht mit deutenden Interventionen ein. Merke: Mit Interventionen im antwortenden Modus gibt sich der Therapeut als eigenständige andere Person zu erkennen. Während strukturell gestörte Patienten die andere Person meist für Zwecke der Selbstregulierung als Selbstobjekte benötigen, gibt der Therapeut sich dadurch als getrenntes »Objekt« zu erkennen.

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Komplikationen in der Gruppentherapie Gefährdungen des Rahmens Wenn ein Patient in einer therapeutischen Gruppe die vereinbarten Rahmenbedingungen nicht einhält, betrifft das nicht nur diesen einen Patienten. Die anderen Patienten in der Gruppe sind Zeugen der Verletzung des Rahmens. Unvermeidlich steht in diesem Moment für alle Teilnehmer die Frage an, wie stabil und unverbrüchlich der Rahmen tatsächlich ist. Das individuelle Ereignis wird zu einem Präzedenzfall, an den – ausdrücklich zur Sprache gebracht oder gleichsam zwischen den Zeilen – die Frage geknüpft ist, ob die Vereinbarung, gegen die das rahmenverletzende Verhalten gerichtet war, zukünftig noch gilt oder aber außer Kraft gesetzt ist. Mit der Art und Weise, wie der Gruppentherapeut sich jetzt in Anwesenheit der anderen Gruppenmitglieder dazu verhält, nimmt er deshalb nicht nur zu dem individuellen Verhalten dieses Patienten, der solches Verhalten zeigt, Stellung, sondern er bekundet gleichzeitig vor allen anderen und für alle anderen Patienten in der Gruppe, wie verbindlich der Rahmen ist und welche Folgen es hat, wenn Rahmenvereinbarungen nicht eingehalten werden. Damit steht der Gruppentherapeut in diesem Moment in seiner Funktion als Vertreter und Garant unverbrüchlicher Rahmenvereinbarungen gleichsam auf dem Prüfstand. Jetzt erweist sich an seinem Verhalten, ob und inwieweit er die Sicherheit und Orientierung vermittelnde Funktion des Rahmens garantiert und garantieren kann. Dabei darf der Gruppentherapeut Rahmenvereinbarungen nicht wie Instrumente handhaben, denen er nur um einer von ihm bestimmten Ordnung willen Nachdruck verleiht. Rahmenbedingungen, die nicht erkennbar die Funktion haben, eben die Bedingungen zu gewährleisten und aufrechtzuerhalten, die für die gemeinsame therapeutische Arbeit erforderlich sind, drohen zu Instrumenten zu werden, die seiner Macht und Autorität dienen, aber nicht die Bedingungen sichern helfen, die notwendig sind, damit die gemeinsame therapeutische Arbeit in der Gruppe potentiell erfolgreich durchgeführt werden kann. Dem Therapeuten wäre damit in den Augen der Patienten mit großer Wahrscheinlichkeit jede legitime Grundlage entzogen, um für die mit den Patienten vereinbarten Bedingungen mit Nachdruck eintreten zu können.

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

Werden Rahmenbedingungen nicht eingehalten, sind grundlegende Voraussetzungen nicht mehr gewährleistet, die für eine potentiell erfolgreiche Arbeit in der Gruppe unverzichtbar sind. Eine Behandlung fortzusetzen, bei der die erforderlichen Rahmenbedingungen nicht oder nicht mehr eingehalten werden, hieße deshalb, die Arbeit in der Gruppe in dem Wissen fortzuführen, dass davon kein therapeutischer Nutzen zu erwarten ist; der Therapeut würde fahrlässig handeln. Unter solchen Bedingungen muss die Wiederherstellung der Gültigkeit eines stabilen Rahmens Priorität haben. Manche Patienten können sich nur schwer auf verbindliche Rahmenvereinbarungen festlegen. Sie fürchten, damit ihre Selbstbestimmung aufzugeben und sich einem fremden Willen zu unterwerfen. Umso wichtiger ist es, dass der Gruppentherapeut nicht nur verbal, sondern auch durch die Art und Weise, wie er die Rahmenbedingungen handhabt, erkennbar macht, dass der Rahmen kein Ordnungsoder Herrschaftsinstrument ist, sondern notwendige Voraussetzung für die gemeinsame therapeutische Arbeit. Beispiel: Die Verlässlichkeit des Rahmens kann beispielsweise dann in Frage stehen, wenn ein Patient häufiger ohne triftigen Grund nicht zur Therapie erscheint. Ein derartiges Verhalten betrifft immer alle Patienten in der Gruppe. Fehlen ein oder mehrere Teilnehmer, ist die Gruppe nicht mehr dieselbe. Auch wenn regelmäßiges Zuspätkommen eines Gruppenteilnehmers für sich genommen keine gravierenden Auswirkungen auf die therapeutische Arbeit haben muss, manchmal von Mitpatienten und Therapeuten eher wie eine individuelle Marotte hingenommen wird und in einer Einzeltherapie im Hinblick auf die Motive des Patienten für sein Verhalten geduldig untersucht werden kann, kann es in der Gruppe zu einem Prüfstein werden, an dem sich für alle Patienten erweist, wie sicher man vor willkürlichem Verhalten in der Gruppe geschützt ist. Wie der Gruppentherapeut damit umgeht, bringt immer auch zum Ausdruck, wie wichtig ihm die gemeinsame therapeutische Arbeit ist und welche Bedeutung er der verabredeten Anwesenheit aller an der Gruppentherapie beteiligten Patienten beimisst. Nimmt der Therapeut die Abwesenheit nur achselzuckend hin, legt sich den anderen Patienten unter Umständen der Eindruck nahe, dass willkürliches Verhalten keine nennenswerten Folgen hat. Darum ist es wichtig, dass der Therapeut in Anwesenheit aller Gruppenteilnehmer auf den

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Komplikationen in der Gruppentherapie235

gemeinsamen Beginn der therapeutischen Arbeit dringt, nicht, weil er Pünktlichkeit per se für eine Tugend halten müsste, sondern weil alle Patienten davon betroffen sind, wenn ein Mitpatient in der Gruppe habituell zu spät kommt und damit die gemeinsame Arbeit erst mit Verspätung beginnen kann oder wenn Patienten in anderer Weise von den vereinbarten Rahmenbedingungen abweichen. Geschieht das nicht, ist die Gefahr groß, dass sich Hinweise auf willkürliches Verhalten innerhalb von kurzer Zeit mehren.

Oft sind es Patienten im jungen Erwachsenenalter, insbesondere Borderline-Patienten, die die Begrenzungen des Rahmens nur schwer tolerieren können. Junge Patienten beispielsweise, die typische Entwicklungsanforderungen über längere Zeit hinweg mit Drogen gedämpft haben und deren psychisches Funktionsniveau sich in weiten Teilen auf dem Niveau von Bedürfnisbefriedigung bewegt, können Versagungen und Frustrationen manchmal kaum aushalten und reagieren darauf mit heftiger Wut, die gelegentlich dem Ausdruck einer Wut ähnelt, die das Entbehrte gleichsam herbeischreien will. Sie können die Grenzsetzungen des Rahmens, die ihnen abverlangen, auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zu verzichten und ihr Verhalten mit von außen an sie herangetragenen Erwartungen abzustimmen, kaum ertragen. Morgens rechtzeitig aufzustehen, verabredete Termine einzuhalten oder auch nur die Lautstärke von Musik auf ein für andere akzeptables Maß zu reduzieren, erleben sie leicht als unzumutbare Versagungen. Unabhängig davon, welche bewussten und unbewussten Beweggründe die Patienten zu ihrem Verhalten, mit dem Rahmenvereinbarungen überschritten werden, veranlasst haben mögen, so steht in der Gruppe auch in diesen Fällen immer auf dem Spiel, ob die Begrenzungen des Rahmens Gültigkeit behalten oder ob die Gefahr realistisch ist, dass sich Beliebigkeit und Willkür breitmachen. Patienten mit Borderline-Störungen fällt es zudem häufig schwer, ihr impulsgeprägtes Verhalten zu steuern, besonders unter affektiv stimulierenden Bedingungen. Auch dann muss der Therapeut grenzenüberschreitendes Verhalten gegebenenfalls unmissverständlich unterbinden und so verlässlich dafür Sorge tragen, dass der Rahmen für die therapeutische Gruppenarbeit nicht außer Kraft gesetzt wird.

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Beispiel: In eine ambulante Gruppe, an der Patienten teilnahmen, die nach einer längeren stationären psychiatrischen Behandlung beim Übergang in ihren sozialen und beruflichen Alltag therapeutische Unterstützung benötigten, kam ein Patient eines Tages in leicht alkoholisiertem Zustand. Er hatte am Nachmittag – die Gruppe fand abends statt – Alkohol getrunken, wie sich später im Gespräch mit dem Therapeuten herausstellte. In der Gruppe verhielt er sich weitgehend still, aber der Geruch des Alkohols hing untrüglich im Raum. Weil der Patient sich in der Gruppe ruhig verhielt, sprach der Therapeut ihn während der Sitzung auf seinen Alkoholkonsum nicht an und nahm sich stattdessen vor, ihn nach der Sitzung an die gemeinsam getroffenen Vereinbarungen zu erinnern. Sowohl zur nächsten wie zur übernächsten Gruppensitzung erschienen drei Teilnehmer gar nicht; von zwei der Abwesenden war nicht bekannt, welche Gründe für ihr Verhalten ausschlaggebend waren. Eine Teilnehmerin ließ dem Gruppenleiter durch eine Mitpatientin ausrichten, dass sie verhindert sei, obwohl vereinbart war, dass die Teilnehmer mit dem Therapeuten persönlich sprechen sollten, falls sie einmal durch besondere Gründe daran gehindert sind, zur Therapie zu kommen. Der Therapeut hatte nicht bedacht, welche Implikationen es für die anderen Gruppenmitglieder haben könnte, dass er das Verhalten des alkoholisierten Patienten in der Gruppe unkommentiert gelassen hatte. Damit hatte der Gruppentherapeut – ohne das zu beabsichtigen – für die anderen Gruppenteilnehmer zu einer von ihm selbst deklarierten Rahmenbedingung Stellung genommen – nicht mit Worten, sondern mit seinem Verhalten, genauer gesagt: damit, dass er das Verhalten des alkoholisierten Patienten schweigend quittiert und damit aus der Sicht der anderen Anwesenden zum Ausdruck gebracht hatte, dass Vereinbarungen außer Kraft gesetzt werden können, ohne dass das gravierende Folgen hat. In den folgenden Sitzungen hatte der Gruppentherapeut einige Mühe, den Rahmenbedingungen wieder Geltung zu verschaffen und den Patienten in der Gruppe das Gefühl zu geben, sich innerhalb eines verlässlichen, Halt und Orientierung vermittelnden Rahmens bewegen zu können.

Manchmal zeigen Patienten in Gruppensitzungen mehr oder weniger impulsives Verhalten. Ein Patient springt auf und läuft aus dem Raum, die Tür laut hinter sich zuschlagend; eine Patientin steht plötz-

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lich auf, um einen Mitpatienten in der Gruppe zu umarmen und damit vermeintlich Trost zu spenden oder Sympathie zu bekunden; ein Patient baut sich im Zuge einer verbalen Auseinandersetzung plötzlich mit drohender Geste vor einem Mitpatienten auf. Obwohl die verschiedenen Situationen sich hinsichtlich der Dringlichkeit unterscheiden, mit der sie eine Stellungnahme des Therapeuten verlangen, haben sie doch darin eine Gemeinsamkeit, dass Gefühlen und Handlungsimpulsen nicht mehr nur mit Worten Ausdruck verliehen wird, sondern dass die Patienten zu konkretem Handeln greifen. Ist eine Umarmung auch vergleichsweise harmlos, während bei aggressiv-willkürlichem und destruktivem Verhalten eines Gruppenmitglieds rasch die Sicherheit aller Gruppenteilnehmer und damit die Therapie insgesamt auf dem Spiel stehen kann, muss doch damit gerechnet werden, dass selbst mit milderen Rahmenverletzungen die Unverbrüchlichkeit des Rahmens und die Verlässlichkeit des Gruppentherapeuten getestet werden. Darum sollte der Therapeut bei allem Verständnis auch solchen Rahmenverletzungen entgegentreten. Wird ein Patient von Impulsen und Gefühlen überflutet und scheint nahe daran zu sein, die Kontrolle über sein Verhalten zu verlieren, ist es besonders wichtig, dass der Therapeut unverzüglich und unmissverständlich Grenzen zur Geltung bringt, gegebenenfalls auch mit Nachdruck oder manchmal auch mit einem barschen, Einhalt gebietenden Hinweis, der dann gleichsam die Funktion eines unübersehbaren Verbotsschildes hat. Patienten mit strukturellen Störungen können in der Gruppentherapie in Zustände geraten, die mit erheblicher Angst oder mit schwer kontrollierbarer Erregung einhergehen und ihnen kaum erträglich erscheinen. Soweit diese Problematik vor Beginn der gemeinsamen Arbeit in der Gruppe absehbar ist, aber dennoch eine Indikation für eine Gruppentherapie gesehen wird, kann mit dem Patienten vereinbart werden, dass er die Gruppe vorübergehend verlässt, wenn ihm die Situation nicht mehr aushaltbar erscheint und er meint, nicht mehr in der Lage zu sein, seine Selbstregulierung in der Gruppe auf andere Weise aufrechterhalten zu können. Dabei sollte die Bereitschaft des Patienten in die Vereinbarung eingeschlossen werden, in die Gruppe zurückzukommen, sobald er sich hat beruhigen können. Die Befürchtung, derartige Vereinbarungen könnten ausgenutzt und in den Dienst wiederholten Vermeidens gestellt werden, bewahrheitet sich erfahrungsgemäß selten. Im Gegenteil reagieren die meisten

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Patienten erleichtert auf die damit in Aussicht gestellte Möglichkeit, machen tatsächlich aber selten davon Gebrauch. Die Patienten, die an der Gruppentherapie teilnehmen, sollten untereinander keine sexuellen und Liebesbeziehungen eingehen, weil das für die gruppentherapeutische Arbeit hinderlich ist. Patienten, die eine intime Beziehung zueinander eingegangen sind, entziehen sich dem Geschehen in der Gruppe, sparen Themen aus, die sie als Paar betreffen könnten, beteiligen sich nur noch selektiv am Geschehen und vermeiden alles, was die neu eingegangene Beziehung stören könnte. In der Folge wird das vermeidende Verhalten des Paares für die anderen Teilnehmer an der Gruppe leicht zum Signal, dass die verabredeten Rahmenbedingungen nicht mehr gelten. Dieses Problem lässt sich oft nur dadurch lösen, dass mindestens einer der beiden Patienten die Gruppe verlässt. Nur so lassen sich die für die gemeinsame Arbeit in der Gruppe erforderlichen Voraussetzungen wiederherstellen. Manchmal entschließen sich daraufhin beide Patienten, die Gruppentherapie zu verlassen, eine Lösung, die meist das geringere Übel im Vergleich zu der Gefahr ist, dass beide in der Gruppe verbleiben, an ihrer Beziehung festhalten und die Therapie aller Gruppenmitglieder gefährdet wird oder ineffektiv bleibt. Wird die Paarbeziehung von den Beteiligten selbst in der Gruppe öffentlich gemacht, kann es sein, dass die anderen Patienten viel Verständnis für das Paar bekunden und ebenso viel Unverständnis für den Therapeuten zeigen, der solche Versagungen auferlegt und dann gerne als »lustfeindlich« und »verständnislos« an den Pranger gestellt wird. Es ist in Gruppen mit strukturell gestörten Patienten nicht hilfreich, wenn der Therapeut versucht, solche Äußerungen als Übertragungen in der Schwebe zu belassen. Vielmehr sollte er dem ausdrücklich entgegentreten und an die schon im Vorgespräch erläuterten Gründe erinnern, weshalb sexuelle und Liebesbeziehungen unter Mitgliedern der Gruppe mit der therapeutischen Arbeit nicht vereinbar sind. Merke: Bei der gruppentherapeutischen Arbeit mit strukturell gestörten Patienten sind Gefährdungen des Rahmens ein die Behandlung ständig begleitendes Thema. In Rahmenvereinbarungen sind Regelungen festgehalten, die auf der einen Seite aus therapeutischer Sicht unabdingbare Voraussetzung für eine potentiell nützliche Behandlung sind, die auf der anderen Seite aus der Sicht der Patienten

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tolerierbar sind. Rahmenvereinbarungen dürfen nicht zu Ordnungsoder Herrschaftsinstrumenten werden. Der Therapeut muss für die Verlässlichkeit von Rahmenbedingungen einstehen und sollte auch bei milderen Grenzüberschreitungen die Unverbrüchlichkeit des Rahmens betonen.

Normen in der Gruppe, die Entwicklung behindern Halten die Teilnehmer der Gruppentherapie an einschränkenden, Differenzierung und Entwicklung behindernden Normen über lange Zeit fest und schreiben sie mit vermeidenden Normen den Status quo fort, können sie keine neuen Beziehungserfahrungen machen. Zu den einschränkenden, aber häufig vertretenen Gruppennormen, die Entwicklung und Weiterentwicklung behindern, gehören Erwartungen, die Gleichheit und Unterschiedslosigkeit unter den Mitgliedern in der Gruppe proklamieren. Jegliche Schritte, die damit einhergehen würden, Unterschiede zwischen den Anwesenden zu machen und Ungleichheit festzustellen, werden normativ unterbunden. Korrespondierend dazu ist der Interaktionsstil in der Gruppe unter derartigen Bedingungen meist höchst stereotyp und manchmal ritualisiert. Dermaßen vermeidende normative Regulierungen werden in Gruppen, die ihr vermeidendes Verhalten nicht bereit sind, in Frage zu stellen, selten ausdrücklich zur Sprache gebracht, weil allein die Aussicht, sie zu benennen, mit dem Risiko ihrer Infragestellung einhergeht. Soziale Normen, die Gleichheit und Konformität fordern und Schritte der Individualisierung verhindern, können sich auf ganz verschiedene Geltungsbereiche beziehen: Meinungen sollen nicht zu deutlich voneinander abweichen, kritische Stellungnahmen haben zu unterbleiben, Toleranz wird mit Verzicht auf eigene Urteile gleichgesetzt, Harmonie im Sinne von Gleichklang und Gleichheit wird zum Ziel aller Beziehungen erklärt. Unterschiede des Alters, der Erfahrung, des Geschlechts, des sozialen und ökonomischen Status, der Bildung oder der Begabung werden nivelliert oder für unwichtig gehalten. Auf diese Weise sollen Konflikte und Spannungen, die aus der Differenz zwischen den Anwesenden in der Gruppe erwachsen könnten, Neid, Eifersucht, Missgunst, Konkurrenz und Rivalität vermieden werden.

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Beispiel: Eine junge Frau, die wegen schwerer depressiver Verstimmungen und chronischer Suizidalität zur stationären Behandlung hatte aufgenommen werden müssen, saß oft schweigend in der therapeutischen Gruppe. Manchmal, wenn auch nur geringfügige Meinungsverschiedenheiten zwischen anderen Gruppenmitgliedern anklangen, weinte sie leise vor sich hin. Dann wurde es in der Gruppe still. Man hatte den Eindruck, dass sie mit ihrem Verhalten großen Einfluss hatte. Dem manifest geäußerten Wunsch einer anderen Patientin in der Gruppe, in Harmonie miteinander umzugehen, die doch wichtig sei, weil das für die seelische Gesundung aller vonnöten sei, stimmte sie schweigend-nickend zu. Mehr und mehr breitete sich in der Gruppe ein Verhalten aus, dem die implizite Norm zugrunde zu liegen schien, dass man auf Harmonie und dauernden Gleichklang bedacht sein müsse und dass alles zu vermeiden sei, in dem sich Verschiedenheit und Getrenntheit bekunden und das die Illusion von All-Einheit und Ungeschiedenheit stören könnte. Der Gruppentherapeut intervenierte einige Zeit, nachdem sich diese Norm etabliert hatte, in folgender Weise: »Ich sehe, dass einige von Ihnen sich im Augenblick bedrückt fühlen. Vielleicht gehen Sie deshalb ganz besonders vorsichtig miteinander um und verhalten sich – wie mir scheint – eher vermeidend zueinander. Es scheint hier im Augenblick nicht ganz einfach zu sein, sein eigenes Befinden und seine eigene Meinung zu äußern, weil Sie wohl davon ausgehen, das könnte die Harmonie stören, die Sie wünschen. Ich merke allerdings, dass mir das zu eng ist.«

Nicht nur Normen, die kollektive Harmonie und Gleichheit fordern, können Entwicklung erschweren, sondern auch diesen genau entgegengesetzte, »individualistische« Normen, indem sie die Verbundenheit mit anderen, Mitverantwortung und wechselseitige Unterstützung behindern. Das trifft beispielsweise für Erwartungen wie die zu, dass jeder in der Gruppe nur für sich selbst verantwortlich sein solle. Nicht Rücksichtnahme bestimmt dann das Verhalten im Zusammensein, sondern im Vordergrund steht die Durchsetzung des jeweils eigenen Interesses. Solche »individualistischen« Normen können einen ausgesprochen antisozialen Charakter haben. Beziehungen bleiben unverbindlich, Vertrauen wird erschwert, das Verhalten im Kontakt bleibt unbezogen. Unter derartigen Bedingungen kann der Spannungspegel in der Gruppe hoch sein.

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Oftmals werden die Gültigkeit von Normen und normkonformes Verhalten in therapeutischen Gruppen mit hohem moralischem Druck eingefordert und abweichendes Verhalten unerbittlich sanktioniert. Abweichler, die sich dem Zwang zur Einheit nicht beugen können oder wollen, müssen mit dem sozialen Druck einer Mehrheit rechnen, der manchmal unauffällig, aber deshalb umso wirksamer ausgeübt wird, nicht selten mit versteckter Empörung, leiser Verachtung und mit Andeutungen der Androhung, jegliche soziale Unterstützung zu entziehen. Wer von der Norm abweicht, läuft Gefahr, zum Außenseiter gestempelt zu werden. Angesichts dieses Risikos beugen sich die Betroffenen auf der einen Seite meist dem Konformitätsdruck, auch dann, wenn sie mit den aktuell in der Gruppe geltenden Regeln des Miteinander-Umgehens nicht einverstanden sind. Zu groß ist die Angst, ins soziale Abseits zu geraten und die Verbindung zu den anderen Gruppenmitgliedern zu verlieren. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass ein Patient sich dem Anpassungsdruck, der von einer Mehrheit in der Gruppe ausgeübt wird, nur dadurch entziehen kann, dass er die Therapie beendet. Unter solchen Umständen muss der Gruppentherapeut die Aufgabe übernehmen, die aktuell in der Gruppe geltende, Entwicklung behindernde Norm in Frage zu stellen. Dieser therapeutische Schritt kann auch beim Gruppentherapeuten Ängstlichkeit wecken, in der sich meist ebenfalls die Gefahr für ihn ankündigt, ausgestoßen und sozial isoliert zu werden. Manchmal versuchen die Gruppenmitglieder, den Therapeuten mit seinen Bemühungen, geltende normative Erwartungen in Frage zu stellen, scheitern zu lassen, um an ihrem gewohnten Verhalten festhalten zu können. Dann hört man ihm zwar zu, nimmt aber nicht auf, was er geäußert hat; seine Anwesenheit wird zur Kenntnis genommen, aber man zeigt zugleich, dass seine Präsenz keine Bedeutung hat oder zumindest keine Bedeutung haben soll. Merke: Werden in der Gruppe als soziale Normen Konformität und Unterschiedslosigkeit gefordert und damit Differenzierung und Entwicklung behindert, muss der Gruppentherapeut die Aufgabe übernehmen, diese normativen Verhaltenserwartungen in Frage zu stellen. Das ist besonders dann erforderlich, wenn die Infragestellung derartiger Normen mit dem Risiko behaftet ist, in der Gruppe sozial isoliert zu werden.

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

Häufiger Wechsel von Gruppenteilnehmern Dass die Teilnehmer an der therapeutischen Gruppe innerhalb von kurzer Zeit wechseln, ist in erster Linie unter stationären Bedingungen ein erschwerender Umstand. Für die Behandlung in der Klinik stehen oft nur wenige Wochen zur Verfügung. Dann besteht die Gefahr, dass das Geschehen in der Gruppe über längere Zeit hinweg und immer wieder vornehmlich davon bestimmt wird, dass Patienten neu in die Gruppe kommen bzw. sich aus der Gruppe verabschieden. Unter derartigen Bedingungen können sich dichtere Beziehungen unter den Gruppenmitgliedern nur schwer entwickeln. Im schlechtesten Fall unterscheidet sich das Geschehen in der Gruppe nicht wesentlich von einem mehr oder weniger oberflächlichen Gespräch unter Wartesaalbedingungen, und der Umgang miteinander hat hochgradig virtuellen Charakter. Wenn diese Gefahr droht, ist es günstiger, eine Kurztherapie mit einer geschlossenen Gruppe – eventuell auch nur im Umfang von acht bis zwölf Gruppensitzungen – durchzuführen, als das ständige Kommen und Gehen und den ritualisierten interpersonellen Stil, der die Vordergründigkeit der Beziehungen verdecken soll, hinzunehmen. Solche »Kurzgruppen« können – die erforderlichen Vorbereitungen der Patienten, Rahmenbedingungen und therapeutisch-technischen Parameter vorausgesetzt – durchaus bemerkenswerte therapeutische Wirkungen haben. Merke: Wenn die für die Gruppentherapie zur Verfügung stehende Zeit knapp bemessen ist und deshalb ständig neue Teilnehmer in die Gruppe kommen und alte die Gruppe verlassen, ist es meist günstiger, mit einer geschlossenen Gruppe mit wenigen Sitzungen zu arbeiten.

Sozial ängstliche Patienten Nicht alle strukturell gestörten Patienten sind zu einer Behandlung in der Gruppe zu motivieren. Manche Patienten, die in hohem Maße sozial ängstlich sind, widersetzen sich der Empfehlung zur Gruppentherapie, obwohl die Behandlung in der Gruppe indiziert ist. Bei einigen Patienten ist die Angst vor Bewertung und vor Beschämung so groß, dass sie es nur unter großer Anspannung aushalten, sich in

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Komplikationen in der Gruppentherapie243

Gegenwart von anderen zu äußern, und sie fühlen sich nicht in der Lage, an der Gruppe aktiv teilzunehmen. Bei Patienten mit dermaßen gravierenden generalisierten sozialen Ängsten, die bei Patienten mit strukturellen Störungen häufig sind, kann es hilfreich sein, besondere Absprachen zu treffen, damit sie doch noch an der therapeutischen Gruppe teilnehmen können. So kann es beispielsweise nützlich sein, vor einer Gruppe bestimmte Schritte für die bevorstehende Sitzung zu verabreden und im Anschluss die Gruppensitzung gemeinsam auf die Erfahrungen hin auszuwerten, die der Patient dort gemacht hat. Bei anderen Patienten kann es eine Hilfe sein anzuregen, die Aufmerksamkeit gezielt auf bestimmte Aspekte des Verhaltens von Mitpatienten in der Gruppe zu richten, beispielsweise um Ähnlichkeiten und Unterschiede festzustellen – eine Empfehlung, die helfen kann, die andauernde Selbstaufmerksamkeit sozial ängstlicher Patienten zu unterbrechen. Die Indikation zur Gruppentherapie wird gewöhnlich an die Voraussetzung gebunden, dass die Patienten in ihrem Alltagsleben zumindest einige Erfahrungen damit haben, sich in Gruppen aufzuhalten (z. B. König u. Lindner, 1991). Aber auch manche Patienten, die in ihrem Alltag nähere Kontakte zu unbekannten anderen Menschen und zu Gruppen bis dahin weitgehend gemieden haben, berichten nach Abschluss der Gruppentherapie nicht ganz selten, dass sie sich deutlich sicherer als zu Beginn fühlen und sich inzwischen zutrauen, sich ohne zu große Anspannung unter anderen zu bewegen. Wenn Patienten gleichzeitig einzel- und gruppentherapeutisch behandelt werden, wie das im stationären Rahmen annähernd regelhaft der Fall ist, kann es sein, dass sie versuchen, als schwierig empfundene Themen nur in der Einzeltherapie zu besprechen, in der Gruppe dagegen nur unverfängliche Themen zur Sprache zu bringen. Das macht nicht zuletzt deutlich, wie wichtig es ist, dass Einzelund Gruppentherapeut gut kooperieren, sich über die gemeinsamen Patienten in ausreichend dichten Abständen austauschen und die Patienten wissen lassen, dass sie das tun. Nicht die Möglichkeit der Trennung von Themen macht die Kombination von Einzel- und Gruppentherapie sinnvoll, sondern die Möglichkeit, in der Einzeltherapie intrapsychische Aspekte einer Problematik vertiefend zu bearbeiten, deren vielfältige interpersonelle, interaktive Aspekte in der Gruppentherapie bearbeitet werden.

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

Auch Psychotherapeuten neigen manchmal dazu, von strukturell gestörten Patienten anzunehmen, die Behandlung in der Gruppe sei – zumindest bis auf Weiteres – eine Überforderung. Das ist kaum jemals tatsächlich der Fall. Allerdings zeigt sich oftmals, dass die Einstellung des Therapeuten zur Gruppentherapie sich maßgeblich darauf auswirkt, wie die Patienten selbst zur Behandlung in der Gruppe stehen. Ein Therapeut, der aufgrund seiner Erfahrungen überzeugend zeigen kann, wie nützlich die therapeutische Arbeit in der Gruppe für die Patienten mit schweren Entwicklungsstörungen der Persönlichkeit sein kann, wird mit seiner gruppentherapeutischen Arbeit meist auch effektiver sein als Therapeuten, die Gruppentherapie scheuen oder für weniger nützlich halten. Merke: Obwohl sozial ängstliche Patienten sich häufig davor scheuen, an einer Gruppentherapie teilzunehmen, ist die Behandlung in der Gruppe meist indiziert. Manchmal kann es dann erforderlich sein, mit den Patienten besondere Absprachen zu treffen, die ihnen eine gewinnbringende Teilnahme an der Gruppe ermöglichen. Wenn Patienten gleichzeitig einzel- und gruppentherapeutisch von verschiedenen Therapeuten behandelt werden, ist es besonders wichtig, dass beide gut miteinander kooperieren und sich über die gemeinsamen Patienten austauschen.

Wiederkehrende interpersonelle Probleme in der Gruppe Die Probleme, für die in Gruppen mit strukturell gestörten Patienten Regelungen gefunden werden müssen, werden von weniger beeinträchtigten Patienten oftmals ohne Schwierigkeiten und gleichsam im Vorbeigehen gelöst, können für strukturell gestörte Patienten aber gravierend sein. Zumal in der Anfangsphase der therapeutischen Arbeit in der Gruppe werden mit einiger Regelmäßigkeit typische, das soziale Miteinander der Gruppenteilnehmer betreffende Themen verhandelt, die ähnlich zwar auch in Gruppen mit weniger gestörten Patienten auf der Tagesordnung stehen, dort aber meist rascher und unaufwendig gelöst werden können.

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In Kontakt treten In den ersten Sitzungen einer neuen therapeutischen Gruppe spielt für die Patienten regelhaft die Frage eine vorrangige Rolle, ob man überhaupt zueinander Kontakt aufnehmen will, und wenn ja, wer den ersten Schritt dazu unternimmt. Nicht minder dringlich stellt sich dann die Frage dar, wie man sich den Anwesenden zeigen soll, wie offen oder zurückhaltend man sein will und sein kann. Die Initiative zu übernehmen, in Kontakt zu treten, ist für viele Patienten mit dem Risiko behaftet, abgewiesen und dadurch beschämt zu werden, könnte es doch sein, dass das Interesse, das mit einem ersten Schritt bekundet wird, von der anderen Person nicht erwidert wird. Die Vorstellung, den ersten Schritt auf einen fremden Menschen zuzugehen, ist für viele strukturell gestörte Patienten darüber hinaus mit der Angst verbunden, beurteilt zu werden und für dumm, hässlich und nicht der Beachtung wert gehalten und zurückgewiesen zu werden und sich mit der Bekundung von Interesse der Lächerlichkeit preiszugeben. Die Ängste können so groß sein, dass jede Kontaktaufnahme vermieden wird und jeder darauf wartet, dass die Initiative vom anderen ausgehen möge. Patienten, die habituell davon ausgehen, dass andere Menschen nur »gut« sind, laufen in den Anfangsphasen therapeutischer Gruppen manchmal Gefahr, in blindem Vertrauen ohne jeden Vorbehalt selbst intime Details von sich preiszugeben, noch bevor sie auch nur annähernd wissen, wer die anderen sind, mit denen sie in der Gruppe zu tun haben, und was von den anderen zu erwarten ist. Aggressivität und Kritik Nicht minder regelhaft steht in den Anfangsphasen therapeutischer Gruppen das Problem an, wie man mit etwaigen aggressiven Gefühlen und Handlungsbereitschaften untereinander umgehen kann, mit Antipathie, Ablehnung, Ärger und negativer Kritik. Viele Patienten haben große Angst davor, dass aggressives und destruktives Verhalten Eingang in die Gruppe finden könnte. Schon die initialen Definitionen der Situation lassen dann erkennen, dass jegliches aggressives und destruktives Verhalten als gefährlich gefürchtet wird und gemieden werden soll. Entsprechend fordern die normativen Erwartungen, die sich darauf beziehen, wechselseitige Zustimmung ohne Vorbehalt. In der Anfangsphase versuchen die Patienten in der Gruppe, die Gefahr, die für sie mit aggressiven Gefühlen und Impulsen verbunden ist, nicht selten dadurch zu bannen, dass sie alles »Böse« exter-

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

nalisieren und auf Objekte außerhalb der Gruppe projizieren. Zwar kann es sein, dass die Anwesenden viel und intensiv über aggressives Verhalten, über destruktive Ereignisse und deren gravierende Folgen, die sich außerhalb der Gruppe ereignet haben, miteinander sprechen, zugleich bleibt es in der Gruppe aber ganz und gar friedfertig. »Böses« ist ausschließlich bei anderen, die weit entfernt und vermeintlich ganz anders als alle in der Gruppe Anwesenden sind. Manchmal kommt es in Gruppen mit strukturell gestörten Patienten im Kontrast dazu zu wenig gesteuerten Durchbrüchen heftiger aggressiver Gefühle und Impulse. Noch bevor die Patienten erste Antworten auf die Frage gefunden haben, wie sie ihr Zusammensein in der Gruppe miteinander gestalten und regeln wollen und können, kommt es zu aggressiv aufgeladenen, ängstigenden Situationen, die die weitere therapeutische Arbeit zu lähmen oder sogar in für manche Patienten retraumatisierende Verhältnisse zu münden drohen. Unter solchen Umständen muss der Therapeut begrenzend eingreifen und sich für normative Regelungen einsetzen, die die Situation für die Patienten in der Gruppe handhabbar machen. Toleranzgrenzen Damit auch unfreundliche Urteile übereinander, Kritik, Antipathie, Ablehnung und negative Gefühle oder Verachtung in der Gruppe zur Sprache gebracht und zum Gegenstand der therapeutischen Arbeit gemacht werden können, muss zuvor die Frage des Umgangs mit Toleranzgrenzen, in diesem Fall insbesondere der Umgang mit wechselseitiger Kränkbarkeit, beantwortet sein. Zu Beginn sind die Patienten in der Gruppe notwendigerweise unsicher, wie die Gefahr, gekränkt zu werden, und die Gefahr, andere zu kränken, einzuschätzen ist, ob eine Lösung darin liegen könnte, dass man einander die eigene Kränkbarkeit kenntlich macht, oder ob man damit möglicherweise das Risiko erhöht, verletzt zu werden. Auch im Hinblick auf andere, potentiell beunruhigende Probleme muss geregelt werden, wie mit Erträglichkeits- und Toleranzgrenzen umgegangen werden soll, ob beispielsweise die Frage, was in der Gruppe geäußert werden darf oder nicht geäußert werden darf, von dem Gruppenmitglied bestimmt wird, dessen Toleranzgrenze am niedrigsten zu sein scheint, oder – im anderen Extrem – ob man unabhängig von jeweiligen Erträglichkeitsgrenzen alles »ohne Rücksicht auf Verluste« äußern will, was immer einem im Augenblick

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einfällt, oder ob man Lösungen finden will, die irgendwo dazwischenliegen könnten. Die Frage des Umgangs mit Toleranzgrenzen stellt sich häufig in Zusammenhang mit Ängsten, die vor allem bei Patienten mit ängstlich-vermeidenden und Borderline-Persönlichkeitsstörungen rasch das Maß des Aushaltbaren erreichen können, aber auch im Hinblick auf emotionale Nähe, die für schizoide, schizotypische, paranoide und narzisstische Persönlichkeitsstörungen ein großes Problem sein kann; andere Patienten können es kaum ertragen, dass einmal erlebte Nähe zu anderen sich zugunsten von größerer Distanz verändert oder gar die Gefahr von Trennung droht, etwa Patienten mit dependenten, histrionischen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Gruppen, die alles »Böse« per Projektion und Externalisierung aus dem eigenen Kreis fernzuhalten versuchen, stützen sich oftmals auf eine Norm, die man »das Recht des Schwächeren« nennen könnte: Wer »schwach« ist, weint, Angst hat, Verletzbarkeit zeigt oder depressiv ist, bestimmt, was in der Gruppe möglich ist und sein darf und was vermieden werden muss. Das kann dazu führen, dass sich eine Sanatoriumsatmosphäre in der Gruppe entwickelt, die von regressiven Normen und vermeidendem Verhalten bestimmt ist – eine Atmosphäre, in der selbst kraftvollere Äußerungen missbilligend unterbunden werden und jede Entwicklung und Weiterentwicklung behindert wird. Wird an derartigen vermeidenden und Weiterentwicklung behindernden Normen festgehalten, muss der Gruppenleiter die Aufgabe übernehmen, die Norm in Frage zu stellen, und sollte den Versuch einleiten, die Situation in der Gruppe neu zu definieren, damit sich Beziehungen entwickeln können, die eine größere Vielfalt erlauben, auch wenn dies für einige Patienten im Moment beunruhigend ist. Zeigen Patienten Zeichen von Erstarrung, von Fluchtverhalten oder greifen zu wütenden Gegenangriffen, weist das darauf hin, dass ihre Toleranzgrenzen im Moment überschritten sind. Emotionale Nähe und Intimität Regelmäßig muss in Gruppen auch eine Antwort auf die Frage gefunden werden, wie viel und welche Art emotionaler Nähe und Intimität untereinander möglich ist und realisiert werden soll. Emotionale Nähe und Intimität, die Ausdruck der Wahrnehmung des anderen als eigenständige Person in ihrer spezifischen Individualität sind, sind in

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

therapeutischen Gruppen mit strukturell gestörten Patienten selten. Scheinbar unverstelltes Reden über Sexualität oder forcierte Annäherungen stehen hier oftmals im Dienst von Bemächtigungs- und Kontrollbedürfnissen, nehmen das Gegenüber als andere Person aber häufig nicht wahr und dienen der Vermeidung von emotionaler Nähe. Wenn die Situation im Hier und Jetzt tatsächlich emotional dichter wird und es um die Frage personaler Nähe und Intimität zwischen den Anwesenden geht, machen sich in Gruppen mit strukturell gestörten Patienten leicht Angst und Unsicherheit breit. Gleichheit und Differenz Häufig werden in Gruppen mit strukturell gestörten Patienten Versuche unternommen, Sicherheit dadurch zu erreichen, dass in der Gruppe Unterschiede untereinander geleugnet werden. Korrespondierend dazu werden Situationsdefinitionen und Normen vertreten und aufrechterhalten, die Gleichheit und Unterschiedslosigkeit proklamieren. An solchen homogenisierenden, Gleichheit und Gleichbehandlung fordernden Normen wird meist so lange festgehalten, wie man sich in der Gruppe mit dem eigenen Verlangen nach Einfluss und Macht, mit Neid und Missgunst, Konkurrenz und Rivalität zu konfrontieren noch nicht in der Lage sieht. Unterschiede untereinander können erst dann wahrgenommen und zur Sprache gebracht werden, wenn man verlässlich miteinander geregelt hat, wie mit den Gefühlen und Impulsen, mit denen in diesem Zusammenhang zu rechnen ist, und mit den eigenen und den Toleranzgrenzen von anderen umgegangen werden soll. Angesichts von Gleichheit erklärenden und damit Differenzierung verhindernden Normen kann selbst eine auf den ersten Blick anspruchslose Intervention, mit der der Gruppentherapeut nicht mehr tut, als darauf hinzuweisen, dass er Unterschiede zwischen den Anwesenden feststellt, in manchen Phasen der therapeutischen Arbeit Verwunderung und Stutzen hervorrufen und zu überraschenden Weiterentwicklungen der interpersonellen Beziehungen in der Gruppe anregen. Trennung und Abschied Auch für den Umgang mit Trennung und Abschied müssen in der Gruppe regelhaft Lösungen gefunden werden. Abschied nehmen zu müssen kann für manche strukturell gestörten Patienten höchst

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Kurzgruppenpsychotherapie249

kritisch und belastend sein; am liebsten möchte man Abschiednehmen umgehen und vermeiden. Weil Trennungen häufig als Objektverlust erlebt werden, mit der Gefahr einer Devitalisierung des Selbst einhergehen können und Selbstentwertung, Selbsthass und selbstschädigendes Verhalten nach sich zu ziehen drohen, werden bevorstehende Trennungsereignisse verleugnet, vordergründige Tröstungsversprechen gemacht oder es wird aggressiv-abwertendes Agieren herangezogen, um sich vor Leeregefühlen und Zuständen tiefer Niedergeschlagenheit zu schützen. Soweit Gefühle von Schmerz und Kummer nicht gänzlich verleugnet oder – wie von narzisstischen und von Borderline-Patienten häufiger – als »albern« oder »Getue« abgewertet werden müssen, helfen manchmal rituelle Aktivitäten wie ein gemeinsames Abschiedsessen, der Austausch von Geschenken oder kleine Feiern dabei, die Situation gemeinsam zu bewältigen, sich der fortbestehenden wechselseitigen Beziehungen zu versichern und die drohende Gefahr der Auflösung der Gruppe zu bannen.

Kurzgruppenpsychotherapie Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode ist ursprünglich als Antwort auf die Herausforderung entwickelt worden, Patienten mit Störungen, die die Aufnahme in eine psychiatrische Klinik erforderlich gemacht hatten, mit psychotherapeutischen – genauer: mit gruppenpsychotherapeutischen – Mitteln zu behandeln (s. S. 19 f.). Dabei wurden die psychoanalytisch-interaktionellen Behandlungen in der Gruppe, die ein integraler Teil der Behandlung der Patienten in der Klinik waren, in der Regel als Kurzgruppentherapie durchgeführt. Nach entsprechender Indikationsstellung und Vorbereitung der Patienten auf die Gruppenarbeit wurden die psychoanalytisch-interaktionell geführten Gruppen als geschlossene Gruppen über einen Zeitraum von acht Wochen mit einer Frequenz von drei Gruppensitzungen wöchentlich durchgeführt, somit insgesamt 24 Gruppensitzungen. Vor diesem Hintergrund gibt es eine breite Erfahrungsbasis mit der Versorgung von schwer gestörten Patienten mit psychoanalytisch-interaktioneller Gruppentherapie als Kurzgruppenpsychotherapie im Rahmen stationärer Behandlungen.

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

Bei den erfahrenen Klinikern, die für die Behandlung der Patienten verantwortlich waren, galten die psychoanalytisch-interaktionell ausgerichteten achtwöchigen Kurzgruppen als effektiver Teil der Therapie in der Klinik. Gelegentliche Nachuntersuchungen von Patienten oder punktuell durchgeführte katamnestische Befragungen bestätigten den Eindruck der Kliniker, dass die 24-stündige gruppentherapeutische Behandlung für die Mehrzahl der Patienten, die von der stationären Therapie profitiert hatten, besonders wichtig und hilfreich gewesen ist. Das therapeutische Potential von Gruppenpsychotherapie wird in psychiatrisch-psychotherapeutischen Kliniken und in Rehabilitationskliniken manchmal unnötig vergeben. Weil für die Behandlung der Patienten oftmals nur wenige – vier oder fünf – Wochen zur Verfügung stehen, wird die gruppentherapeutische Arbeit dann leicht vernachlässigt; auf eine stringente Konzeptualisierung der Gruppenpsychotherapie wird unter Umständen verzichtet; die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die für die Durchführung der Gruppen zuständig sind, sind dafür nicht fortgebildet, und so kommt es dann leicht dazu, dass ein potentiell effektiver Baustein im Rahmen einer fünfwöchigen Therapie in einer Rehabilitationseinrichtung oder einer Versorgungsklinik von den zuständigen Therapeuten wie eine ungeliebte, in keiner Weise konzeptualisierte, wie nebenher durchgeführte »Pflichtveranstaltung« aufgefasst oder lediglich wie eine Informationsveranstaltung gehandhabt wird. Tatsächlich werden auf diese Weise reichhaltige therapeutische Möglichkeiten verschenkt. Auch wenn dazu nach wie vor nur wenige empirische Untersuchungen vorliegen, so besteht unter erfahrenen Klinikern doch weitgehend Einigkeit darüber, dass Kurzgruppenpsychotherapie im Rahmen stationärer psychotherapeutischer Behandlungen wirksam ist (z. B. Mattke u. Tschuschke, 1997; Tschuschke u. Mattke, 1997; Günther u. Lindner, 1999; Strauß, 2009; Tschuschke, 2010). Das setzt voraus, dass die Patienten auf die Behandlung in der Gruppe gründlich vorbereitet werden. Nicht ganz selten kommt es vor, dass die Patienten gänzlich unvorbereitet und uninformiert an einer Gruppe teilnehmen, oftmals begründet mit der knappen für den stationären Aufenthalt zur Verfügung stehenden Zeit. Manchmal wird diese Praxis von den Kostenträgern durch den Druck erzwungen, der auf die stationären Einrichtungen ausgeübt wird. In der Regel wird das the-

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Chancen psychoanalytisch-interaktioneller Gruppentherapie251

rapeutische Potential psychoanalytisch-interaktioneller Kurzgruppen mit einem derartigen Vorgehen erheblich geschmälert. Zu den weiteren Voraussetzungen für die psychoanalytisch-interaktionelle Kurzgruppentherapie gehört, dass der Gruppentherapeut mit dem Patienten im Rahmen der Vorbereitung einen Fokus für die Arbeit in der Gruppe vereinbart, dass sich die therapeutische Arbeit auf das Hier und Jetzt und da in erster Linie auf das Geschehen zwischen den Teilnehmern in der Gruppe konzentriert, dass frühzeitig an die Limitierung der zur Verfügung stehenden Zeit erinnert wird und dass der Gruppentherapeut sich nach außen hin erkennbar aktiv und initiativ zeigt und nicht zuletzt, dass der Therapeut über ein konsistentes Konzept psychoanalytisch-interaktioneller Kurzgruppentherapie verfügt.

Chancen psychoanalytisch-interaktioneller Gruppentherapie In der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie steht neben Aspekten der Selbstregulierung das Verhalten von strukturell gestörten Patienten im Verhältnis zu anderen und im Kontext des Verhaltens von anderen im Zentrum der therapeutischen Arbeit. Die Behandlung in der Gruppe konzentriert sich darauf, die Patienten dabei zu unterstützen, ȤȤ Funktionen der Beziehungs- und der Selbstregulierung weiterzuentwickeln, ȤȤ Erleben und Verhaltensbereitschaften im Zusammensein mit anderen zu identifizieren und zu untersuchen, ȤȤ Zusammenhänge zwischen eigenem Erleben und Verhalten im Kontext des Verhaltens von anderen und des Verhaltens anderer im Kontext des eigenen Verhaltens zu erkennen auf dem Hintergrund der Aktualisierung von implizitem Beziehungswissen, das häufig auf frühe vernachlässigende und traumatisierende Beziehungserfahrungen verweist. ȤȤ die Wirkungen zu erkennen und deren Folgen verstehen zu lernen, die das eigene Verhalten auf verschiedene andere Menschen in deren jeweiliger Individualität hat, ȤȤ ein Gefühl dafür zu entwickeln, selbst Akteur zu sein und Einfluss

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Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie

darauf nehmen zu können, was in der eigenen sozialen Welt in welcher Weise geschieht, ȤȤ Schritte hin zu einer Entwicklung, die zu reifen, von Reziprozität bestimmten Beziehungen führt, zu machen und ȤȤ neue Erlebens- und Verhaltensweisen und bisher ungewohnte oder unbekannte Mittel und Wege zu erproben, mit anderen im Kontakt zu sein. Damit bietet die psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie strukturell gestörten Patienten gute Chancen, dysfunktionale interpersonelle Verhaltensmuster aufgeben und befriedigendere interpersonelle Beziehungen entwickeln zu können. Die Patienten können zu neuen Möglichkeiten finden, sich des eigenen Erlebens und Verhaltens im Kontext des Erlebens und Verhaltens anderer sicherer zu werden, sich unter Wahrung der eigenen Individualität im Kontakt mit anderen angstfreier zu bewegen und damit die eigene soziale Lebenswelt befriedigender zu gestalten.

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Psychotherapie bei strukturellen Störungen: Forschungsstand

Gegenwärtig liegen mehrere psychodynamische Therapieansätze zur Behandlung struktureller Störungen vor. Im deutschsprachigen Raum hat sich über viele Jahre die von Heigl-Evers und Heigl (1983) begründete und seither erheblich weiterentwickelte psychoanalytisch-interaktionelle Therapie in einem breiten Feld klinischer Anwendung bei Patienten mit schweren Störungen bewährt. Im internationalen Bereich sind hier insbesondere die am Konzept Kernbergs orientierte Übertragungsfokussierte Therapie (Transference Focussed Psychotherapy, TFP; Clarkin et al., 2001) und die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) nach Bateman und Fonagy (2004) zu nennen. Für die Behandlung von Opiat-Abhängigkeit ist eine am Konzept von Luborsky (1995) orientierte psychodynamische Therapie entwickelt worden (z. B. Woody, Luborsky, McLellan u. O’Brian, 1990). Darüber hinaus ist in den letzten Jahren von Rudolf (2004) das Konzept einer strukturbezogenen Psychotherapie entwickelt worden, das zahlreiche Aspekte der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie übernommen hat. In Zeiten von Evidenzbasierter Medizin und empirisch belegter Psychotherapie (Chambless u. Hollon, 1998) reichen klinische Belege allein als Wirkungsnachweis nicht mehr aus. Es wird gefordert, die Wirksamkeit einer Methode in entsprechend konzipierten Studien zu belegen. Wie solche Wirkungsnachweise methodisch beschaffen sein sollten, wird gegenwärtig kontrovers diskutiert (z. B. Leichsenring u. Rüger, 2004). Nach unserer Auffassung können randomisierte kontrollierte Studien (RCTs, Randomized Controlled Trial) belegen, dass eine Behandlungsmethode unter kontrollierten experimentellen Bedingungen wirksam ist. Ist dies der Fall, folgt daraus jedoch nicht zwangsläufig, dass diese Methode unter den Bedingungen der klinischen Routine-Praxis in gleichem Maße wirksam ist. Für einen solchen Nachweis sind naturalistische Studien (»Beobachtungsstudien«) erforderlich, also Studien, die unter den Bedingungen der klinischen Praxis durchgeführt werden. Im Folgenden werden sowohl RCTs als auch naturalistische Studien

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Psychotherapie bei strukturellen Störungen: Forschungsstand

zur Wirksamkeit psychodynamischer Therapie bei strukturellen Störungen kurz referiert. Wirkungsnachweise in der Form randomisierter Studien liegen für verschiedene Formen psychodynamischer Therapie bei strukturellen Störungen vor. Für die am Konzept von Luborsky (1995) orientierte, spezifisch auf Opiat-Abhängigkeit zugeschnittene Therapie existieren bisher zwei RCTs. Gemäß dem ersten RCT war diese Form der Therapie ebenso wirksam wie Verhaltenstherapie und einer Drogenberatung überlegen (Woody et al., 1990, 1995). Im zweiten RCT erwies sich diese Methode erneut einer Drogenberatung als überlegen (Woody et al., 1995). In einer weiteren Studie zur KokainAbhängigkeit war dieses Konzept jedoch weniger erfolgreich als eine individuelle Drogenberatung (Crits-Christoph et al., 1999). Das galt allerdings auch für die ebenfalls untersuchte Verhaltenstherapie (Crits-Christoph et al., 1999). Bateman und Fonagy (1999) haben in einem RCT gezeigt, dass eine am Konzept der MBT orientierte tagesklinische Behandlung bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung wirksamer ist als eine tagesklinische psychiatrische Standardbehandlung. In einer neueren Studie konnten Bateman und Fonagy (2009) zeigen, dass MBT einem strukturierten klinischen Management überlegen ist. Clarkin, Levy, Lenzenweger und Kernberg (2007) verglichen TFP mit der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) von Linehan (1987). TFP erwies sich in einer Reihe von Ergebnismaßen als ebenso wirksam wie DBT. Im Hinblick auf die Verbesserung von Bindung und Mentalisierung war sie der DBT sogar überlegen (Levy et al., 2006). In einem RCT von Doering et al. (2010) war TFP einer Behandlung durch klinisch erfahrene Praktiker überlegen. Damit liegen für die MBT und die TFP jeweils zwei RCTs vor, die die Wirksamkeit belegen. Nach dem Konzept der American Psychological Association (APA) ist es erforderlich, dass mindestens zwei solcher Wirkungsnachweise vorliegen, damit die Wirksamkeit als ausreichend belegt angesehen werden kann (Chambless u. Hollon, 1998). Für die strukturbezogene Psychotherapie liegen Belege für die Wirksamkeit bisher in Form einer naturalistischen Studie vor (Rudolf, Jakobsen, Micka u. Schumann, 2004). Dies gilt auch für die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie, deren Wirksamkeit bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im Rahmen einer naturalistischen Studie belegt worden ist (Leichsenring, Masuhr, Jaeger u.

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Psychotherapie bei strukturellen Störungen: Forschungsstand255

Streeck, 2007). In dieser Studie wurde gezeigt, dass stationäre psychoanalytisch-interaktionelle Therapie bei Patienten mit BorderlinePersönlichkeitsstörung zu signifikanten Verbesserungen in verschiedenen Bereichen führt. Hierzu gehören bedeutsame Verbesserungen bei den Ziel-Problemen – den Problemen, die die Patienten als am meisten belastend schildern –, in der Symptomatik, bei interpersonellen Problemen und in der Lebenszufriedenheit. Besonders große Effekte wurden bei den Ziel-Problemen erreicht. Diese Ergebnisse sind umso bemerkenswerter, als verschiedene Daten gezeigt haben, dass es sich bei den Behandelten um schwer gestörte Patienten handelte (Leichsenring et al., 2007). Dies geht zum Beispiel aus den hohen Raten bei Arbeitsunfähigkeit, Suizidversuchen, Selbstverletzungen und Substanzmissbrauch in der Vorgeschichte hervor. Auch das hohe Maß an komorbiden Störungen spricht für die Stärke der Beeinträchtigung der behandelten Patienten: Bei 81 Prozent der Patienten wurden bei Aufnahme in die Klinik drei oder mehr ICD10-Diagnosen gestellt. Die eingesetzten Selbstbeurteilungsverfahren zeigten ebenfalls die Schwere der Störung an (Leichsenring et al., 2007). In einer weiteren Studie wurde gezeigt, dass stationäre psychoanalytisch-interaktionelle Therapie bei Patienten mit komplexen Störungen signifikante Verbesserungen ebenfalls in verschiedenen Bereichen erzielt (Leichsenring, Masuhr, Jaeger u. Streeck, 2010). Da diese Studie auf einer außergewöhnlich großen Patientenstichprobe beruht, soll etwas näher auf sie eingegangen werden. Ausgangspunkt war die Tatsache, dass psychische Störungen üblicherweise nicht isoliert auftreten, sondern in Kombination (Komorbidität). Die am Paradigma der randomisierten kontrollierten Studie orientierte Psychotherapieforschung hat dieses Problem jedoch bisher weitgehend ausgeblendet. Es gilt jedoch für die Frage, wie eine manualisierte Behandlung bei komplexen psychischen Störungen erfolgen soll, für die Frage, welche Kriterien für die Erfolgsbewertung herangezogen werden sowie für die Frage, für welche Patientengruppe ein entsprechender Wirkungsnachweis gewertet werden soll (Leichsenring et al., 2010). In der oben genannten Untersuchung wurde der Versuch unternommen, kombinierte (»komplexe«) psychische Störungen empirisch zu identifizieren und ihre Behandlungsergebnisse zu untersuchen. Zu diesem Zweck wurde eine große unausgelesene Stichprobe von Patienten untersucht, die in der Klinik Tiefenbrunn bei Göttin-

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Psychotherapie bei strukturellen Störungen: Forschungsstand

gen behandelt wurden (N = 2092). Anhand der ICD-10-Diagnosen wurde geprüft, welche psychischen Störungen regelhaft besonders häufig miteinander kombiniert sind. Es wurden zehn besonders häufige »komplexe Störungen« identifiziert. Diese deckten 75 Prozent der untersuchten Patientenpopulation ab. Für diese zehn komplexen Störungen wurden die Behandlungseffekte für die von den Patienten angegebenen Hauptprobleme und die Symptomatik berechnet. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass diese komplexen Störungen wirksam mit stationärer psychoanalytisch-interaktioneller Therapie behandelt werden können. Da die Studie unter den Bedingungen der klinischen Praxis durchgeführt wurde, haben ihre Ergebnisse eine besonders hohe Relevanz für die Frage der Wirksamkeit in der klinischen Praxis (Leichsenring u. Rüger, 2004). Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie hat bei der Behandlung solcher komplexen Störungen möglicherweise insofern einen strategischen Vorteil, als sie sich nicht nur und nicht in erster Linie an der vorliegenden Symptomatik orientiert, sondern an den strukturellen Einschränkungen und deren interpersonellen Auswirkungen, die funktional mit den verschiedenen Symptombildern verbunden sind. Psychoanalytisch-interaktionelle (psychodynamische) Therapie geht auch von vornherein davon aus, dass die verschiedenen Symptome nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern funktionell miteinander verbunden sind, und fokussiert auf diese Zusammenhänge. Eine randomisierte, durch Mittel der Heigl-Stiftung geförderte kontrollierte Studie zur psychoanalytisch-interaktionellen Therapie bei Patienten mit Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen ist gerade in der Klinik Tiefenbrunn abgeschlossen worden (Leichsenring et al., in Vorbereitung). Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen umfassen verschiedene schwere Persönlichkeitsstörungen, nämlich Borderline-, Antisoziale, Narzisstische und Histrionische Persönlichkeitsstörung. Da die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie auf die strukturellen Einschränkungen dieser Patienten fokussiert, geht sie über die kategoriale Unterscheidung der verschiedenen Persönlichkeitsstörungen, wie sie in den psychiatrischen Klassifikationssystemen vorgenommen wird, hinaus und stellt einen »transdiagnostischen« Therapieansatz dar (zum Konzept transdiagnostischer Therapieansätze siehe z. B. Leichsenring u. Salzer, 2014). In der oben genannten Studie erwies sich die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie

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einer quasi-experimentellen Wartebedingung als signifikant überlegen im Hinblick auf Veränderungen im Niveau der Persönlichkeitsorganisation und der Symptombelastung (Leichsenring et al., in Vorbereitung). Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie war ebenso wirksam wie die psychodynamische Therapie, die sich an den Prinzipien von Gabbard (2000) orientierte. Während sich in der Wartebedingung keinerlei signifikante Verbesserungen zeigten, führten sowohl psychoanalytisch-interaktionelle Therapie als auch psychodynamische Therapie zu signifikanten Verbesserungen im Niveau der Persönlichkeitsorganisation und der Symptombelastung. Die oben genannte Studie ist eine der ganz wenigen Untersuchungen zur Behandlung von Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen. Abgesehen von Studien zur Borderline-Persönlichkeitsstörung existieren gegenwärtig kaum Studien zur Therapie von Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen (Leichsenring et al., in Vorbereitung). Zwar ist zu vermuten, dass auch MBT, TFP und DBT bei entsprechender störungsorientierter Adaptierung für andere Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen als die Borderline-Persönlichkeitsstörung wirksam sind, ein erster Wirkungsbeleg liegt aber bisher nur für die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie vor (Leichsenring et al., in Vorbereitung).

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Fort- und Weiterbildung in der psychoanalytisch-interaktionellen Methode

Zur Fortbildung in der psychoanalytisch-interaktionellen Methode werden regelmäßig Kurse und Seminare angeboten, die nach Modulen mit unterschiedlichen Schwerpunkten gegliedert sind. Die einzelnen Module beziehen sich unter anderem auf die Diagnostik von strukturellen Störungen im therapeutischen Gespräch, auf die Gestaltung und Handhabung der therapeutischen Beziehung und auf die therapeutischen Techniken. Darüber hinaus wird im Rahmen der Fortbildung ein Modul zur videounterstützten Mikroanalyse therapeutischer Interaktion angeboten. An den Fortbildungsveranstaltungen sind psychotherapeutisch, psychiatrisch und psychoanalytisch kompetente Experten aus dem Bereich der klinischen Psychiatrie und Psychotherapie sowie der Psychosomatischen Medizin, der Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie und Psychotherapie sowie aus dem Beratungssektor beteiligt (zu weiteren Informationen siehe PIM – Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode unter www.interaktionell.de). Daneben führt die Arbeitsgemeinschaft für die Anwendung der Psychoanalyse in Gruppen seit über dreißig Jahren jährliche Fort- und Weiterbildungskurse in psychoanalytisch-interaktioneller Gruppentherapie durch. Die Arbeitsgemeinschaft wurzelt in der Praxis klinischer Gruppenpsychotherapie. Kurse finden jeweils in der ersten Dezemberwoche statt. Die Seminare beinhalten Selbsterfahrungsgruppen, die Demonstration von Gruppenbehandlungen mit anschließender Auswertung in Gruppen sowie Theorieseminare, in denen die theoretischen Grundlagen der Methode vermittelt werden. Die einwöchige Fortbildung wendet sich in erster Linie an Interessenten aus therapeutischen Tätigkeitsfeldern, aber auch an Angehörige aus anderen Berufsfeldern, die in Gruppentherapie ausgebildet sind und/oder ihre Kompetenzen und Erfahrungen erweitern wollen. Seit 1980 werden darüber hinaus dreijährige Weiterbildungskurse angeboten. Gemäß den Richtlinien der Krankenkassen rechnet die psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie zu den tiefenpsychologisch fundierten Behandlungsverfahren (weitere Informationen

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Fort- und Weiterbildung

siehe Arbeitsgemeinschaft für die Anwendung der Psychoanalyse in Gruppen e. V., unter www.psychoanalyse-in-gruppen.de). Mit der psychoanalytisch-interaktionellen Arbeitsweise stehen auch für den Beratungssektor effektive Mittel und Wege zur Verfügung. Zur Fortbildung in psychoanalytisch-interaktionell orientierter Beratung und Personalführung werden Seminare mit kleiner Teilnehmerzahl angeboten. Dabei nehmen unter anderem videounterstützte Mikroanalysen der Interaktion von Berater und Klient einen zentralen Platz ein (weitere Informationen siehe PIM, unter www.interaktionell.de). Für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Gruppentherapie in stationären und teilstationären psychotherapeutischen, psychiatrischen und psychosomatischen Einrichtungen durchführen, werden schließlich Fortbildungen in psychoanalytisch-interaktioneller Kurzgruppenpsychotherapie angeboten. Diese Fortbildungen werden in den entsprechenden Einrichtungen praxisnah durchgeführt (www. streeck.net).

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Checkliste für Therapeuten

Die folgende Checkliste wurde zunächst für Forschungszwecke entwickelt. Der Psychotherapeut kann diese Checkliste verwenden, um sich im Hinblick darauf einzuschätzen, inwieweit er die psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik in der jeweiligen Therapiestunde eingesetzt hat. 1. Die therapeutische Arbeit mit dem Patienten war auf einen Fokus (Schwerpunkt) ausgerichtet. 2. Der Therapeut hat eine aktive Haltung eingenommen. 3. Der Therapeut hat sich dem Patienten gegenüber als eigenständige andere Person »in ihrem eigenen Recht« gezeigt. 4. Der Therapeut hat den Patienten grundlegend emotional akzeptiert und den Patienten das erkennen lassen. 5. Der Therapeut hat sich dem Patienten als erreichbare und emotional berührbare andere Person angeboten. 6. Der Therapeut hat Interaktion und Austausch gefördert. 7. Der Therapeut hat dem Patienten gegenüber eigenes Erleben zum Ausdruck gebracht. 8. Der Therapeut hat eigene Gefühle, die sich bei ihm in Reaktion auf den Patienten eingestellt haben, erkennen lassen. 9. Die Gefühle und das eigene Erleben, das der Therapeut dem Patienten gegenüber zum Ausdruck gebracht hat, waren authentisch. 10. Wenn der Therapeut dem Patienten gegenüber eigenes Erleben und eigene Gefühle zum Ausdruck gebracht hat, war das auf Beeinträchtigungen des Patienten abgestimmt. 11. Der Therapeut hat Beeinträchtigungen des Patienten in zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich im therapeutischen Gespräch gezeigt haben, erkannt. 12. Die Interventionen des Therapeuten waren auf Beeinträchtigungen des Patienten ausgerichtet, die sich im Erleben von Beziehungen und in der Gestaltung von Beziehungen gezeigt haben. 13. Der Therapeut hat die Gefühle des Patienten erfasst.

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Checkliste für Therapeuten

14. Wo sich gezeigt hat, dass der Patient Gefühle, Impulse, Fantasien, Wünsche u. a. kaum wahrnehmen und differenzieren kann, ist der Therapeut mit antwortenden Interventionen darauf eingegangen. 15. Die antwortenden Interventionen des Therapeuten waren auf Beeinträchtigungen psychischer Funktionen des Patienten (z. B. Antizipation von Wirkungen und Folgen des Handelns, Regressionssteuerung, Affekt- und Impulssteuerung, Reizschwelle) ausgerichtet. 16. Wenn der Therapeut sein eigenes Erleben in Antwort auf das Verhalten des Patienten in der therapeutischen Beziehung zum Ausdruck gebracht hat, konnte der Patient das mit seinem eigenen Verhalten in Verbindung bringen. 17. Wenn Toleranzgrenzen des Patienten überschritten waren, hat der Therapeut das erkannt. 18. Die antwortenden Interventionen des Therapeuten waren klar und für den Patienten verständlich. 19. Der Therapeut hat Regression des Patienten nicht gefördert. 20. Soweit negative Übertragungen die Therapie hätten gefährden können, ist der Therapeut dem aktiv entgegengetreten. 21. Der Therapeut hat den Patienten dabei unterstützt zu erkennen, wie sein Verhalten zur Gestaltung der Beziehung mit dem Therapeuten beiträgt. 22. Der Therapeut hat Fortschritte, die der Patient gezeigt hat, bestätigt. 23. Der Therapeut konnte sich gut in den Patienten einfühlen.

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Register

A Abwehr 33, 98, 107 f., 136, 232 – psychosoziale 33, 232 Adoleszenz 18 Affekte 32, 35, 66, 92 f., 98, 111 f., 132, 134, 147 f., 151 f., 160 f., 167, 216, 229 Agieren 31, 75 f., 78 f., 84, 160 f., 189, 199, 249 Alltag sozialer 57 Alltagsleben – soziales 18, 30, 40 f., 57, 59, 61, 91, 93–95, 118, 124, 127, 132, 142, 167 f., 175, 183, 193, 225, 243 Alltagswelt 17, 23, 34, 83, 212 Anerkennung 17, 30, 95, 108, 174 Angewandte Psychoanalyse 20 Anpassung 17, 28, 32, 107 f., 113 f. Anpassungsgleichgewicht 51 Antizipation 109, 137, 139, 146, 262 antwortender Modus 45, 67, 119, 121, 123, 126, 128–132, 134, 137–139, 141 f., 175, 204, 211 f., 214, 229–232 Äquivalenz 33 Aufklärung des Patienten – über die Behandlung 53, 68 – über die Diagnose 47 f., 52 f., 175, 195 Ausfallhonorar 81 auslösende Situation 51 Außenseiter 174, 210, 241 Autarkie 149 Authentizität 91 Autonomie 57, 75, 89, 99

Autorität 50, 93, 183, 186, 233 B Beendigung 69, 79, 155, 167–169, 213 Befriedigungsaufschub 71, 111 Behandlungsabbruch 136 Behandlungsbedürftigkeit 57 Behandlungsdauer 72, 78 f., 167 Behandlungsende 79, 169 Behandlungsergebnis 169 Behandlungsmotivation 140 Behandlungsschwerpunkt 69, 72 Behandlungsziele 46, 60 Belastbarkeitsgrenzen 65, 104, 132, 155, 199 f. Beschämung 117, 154, 156, 158, 206, 242 – Angst vor 154, 158 Beziehung – interpersonelle 12, 15–17, 23, 36, 38, 42, 94, 113, 128, 143, 147, 179, 193, 208, 226, 230 f., 252 – retraumatisierende 208 – reziproke 16, 34, 91, 94, 121, 167 – sexuelle 31, 105, 112, 193, 238 – therapeutische 11 f., 17, 22 f., 30, 60, 67, 75, 82, 86 f., 90, 96, 98, 105, 108–110, 115, 118 f., 121, 128, 130, 132–134, 136 f., 142, 148, 153, 157–159, 162, 168, 175 f., 179 f., 196, 204, 207, 211 f., 220, 228, 235, 238, 244, 246, 248, 251

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Register277

– traumatisierende 17, 31, 132, 153, 251 Beziehungskonstanz 102 Beziehungspathologie 33 Beziehungsregulierung 11, 16–18, 21, 27, 32, 34, 219, 229, 231 Borderline-Störung 21 f., 27, 48 f., 72 D Darstellung 179, 214, 220 – szenische 154 Definition der Situation 180 f., 183, 185 f. Deutung 21, 122 f., 190 Diagnostik 28, 96, 157, 259 Distanz 39, 99 f., 155, 184, 193, 219, 247 – interpersonelle 155 Dominanz 99, 177 E »embodied knowledge« 37, 119 Enactment 154, 223 Erstarrung 131, 247 Externalisierung 32, 34, 247 F Fluchtverhalten 131, 247 Fokus 12, 23, 72, 87, 121, 166, 179, 261 Fokussierung 17, 179, 216 Fortbildung 259 f. Fragen des Patienten 46 f., 53 f. freie Interaktionsregel 198, 201 Frustration 86, 98, 102, 111 f., 133, 139, 235 Funktionen – beziehungsregulierende 228 – selbstregulierende 32 f., 94, 100, 137 G Gedächtnis – implizites 37

– narratives 37 Gefühle – aggressive 32, 106, 109, 112, 123, 193, 237, 245 f., 249 Gefühlsantwort 132, 231 Gefühlssignale 220, 229 Gefühlswahrnehmung 107 Gefühlswörter 151 Gegenangriff 131 Gegenübertragung 16, 21–23, 25, 121, 126 f., 129, 229 – komplementäre 128 f. – konkordante 128 Gegenübertragungsgefühle 92 f. Gesten 189 Grenzziehungen 160 f. Grundregel 181, 198–201 Gruppe 12, 18, 71, 97, 152, 181–183, 185 Gruppenleiter 247 – Autorität 186 H Handeln – soziales 13, 24, 120, 180 Handlungsbereitschaften 41, 67, 91 f., 97, 121, 123, 127, 129, 132, 142, 204, 207, 212, 214, 229, 231, 245 Handlungsimpulse 66, 111, 134, 145, 181, 237 Hassgefühle 117 I Idealisierung 35, 108, 134–137, 197 Idealvorstellungen 33, 106, 116 f. Identifikation – passagere 128, 212 implizites Beziehungswissen 12, 24 f., 34, 37, 39 f., 42 f., 95–97, 100, 119–121, 128, 143, 154, 179 f., 211, 213, 251 Impulskontrolle 28, 113 Individuierung 141

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278Register

Interaktionismus – symbolischer 180 Interaktionsmuster 127, 193 f. Interaktionsregulierung 167 Interaktionszirkel 219 Interpersonalität 18, 173 interpersonelle Situation 92, 96, 128, 143, 176, 194 Intersubjektivität 40 f., 123 f., 173 Intimität 171, 247 f. K Klinikbehandlung 242 klinischer Alltag 12, 29 Kollusion 85, 153, 219 Kombination – Einzel- und Gruppentherapie 243 Komorbidität 52, 255 komplexe Störungen 256 Konflikt 30 f., 51, 200, 218, 220, 223, 228, 232 – unbewusster 31, 51 Konformität 239, 241 Kontaktabbruch 206 Kontaktaufnahme 245 Kontaktinitiative 158 f. Kontext – interpersoneller 22, 120, 175 – sozialer 90 Kontrollbedürfnis 248 Kontrolle 34, 48, 75, 86, 113, 149, 152, 193, 237 Kooperation 51, 70, 76, 78 – in der Therapie 48, 164 Kränkbarkeit 131, 155, 246 Kränkungstoleranz 132, 230 Krisen 79, 213 Krisensituation 69, 83, 86 Kritik 33, 116, 129, 155, 184, 187– 189, 193 f., 209 f., 221, 226, 245 f. Kunstfehler 51 Kurzgruppentherapie 249, 251

L Lebenswelt – soziale 12, 16, 23, 90, 96 f., 114, 126, 165, 193, 219 Liebesbeziehungen 238 M Machtkampf 81, 87, 159 Medikamente 69, 77 Mehr-Personen-Situation 24, 95, 176, 179, 208, 212 Mentalisieren 18, 32, 142 Mentalization Based Treatment (MBT) 20, 22, 253 f., 257 Mikrointeraktion 180 Mikrosoziologie 180 Missverständnisse 82, 224 Modell 163 N Narrative 42, 118 nichtsprachliches Verhalten 36, 118 f., 153 f., 156, 189, 223 normative Erwartung 39 f., 106, 191, 209, 230, 241, 245 Normen – individualistische 240 – progressive 207 – regressive 207, 230, 247 – soziale 179, 185, 187, 191–193, 208, 211, 226 f., 231 f., 239, 241 O Objektbeziehung 21, 28, 32, 99, 231 Objektkonstanz 102 f., 138 f., 167 Objektverlust 77, 134, 138, 169, 249 Offenheit der Situation 181, 186, 191 öffentlicher Raum 171 f. Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) 21, 28, 49 Ordnung 166, 175, 189, 216, 233 – soziale 191

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P Paarbeziehungen 238 Persönlichkeit 12, 17, 27, 34, 41, 49, 52, 55, 57, 65, 118, 126, 148, 218, 244 – abnorme 19 Persönlichkeitsentwicklung 20, 27, 92, 95, 153, 161, 197, 231 Position 16, 34, 41, 118, 128 f., 140, 145 f., 181, 192, 212, 215 – komplementäre 212 – konkordante 212 Präsenz 172, 241 Probebehandlung 55 Progression 23, 132, 140, 232 Projektion 35, 108, 247 projektive Identifikation 24, 33, 108 Psychopathie 19 Psychopharmaka 78 R Rahmen – Unverbrüchlichkeit des 87, 237, 239 Rahmenbedingungen 46, 68–71, 81–87, 89, 93, 164, 175, 195 f., 206, 233–236, 238 f., 242 – Ringen um 86 Realität – psychische 18, 130, 165 – soziale 24 f., 53, 176, 178, 213 Regelverletzungen 206 Regression 31, 113, 207, 262 Regressionssteuerung 98, 114, 262 Regulierung – normative 207 f., 239 Reizschwelle 262 Repräsentanz 21 Resignation 62, 146 Ressourcen 201, 227 Retraumatisierung 91 Reziprozität 17, 34, 36, 217, 231, 252

Rolle 23, 33, 43, 49, 58 f., 79, 81, 90, 92, 110, 130, 142 f., 146 f., 177, 180, 203, 209 f., 216, 220, 245 – des Therapeuten 203 Rückblick 158, 168 S Sanktion 186–190 – negative 187–191 – positive 187 f., 190 Scham 115, 152 Schuld, Schuldgefühl 76, 115–117, 218 f., 227 Schutz 76, 142, 200, 206 Schweigen 51, 153, 158–160, 184, 189 f., 209 f., 217, 220, 225 Selbst 90, 99, 119, 121, 136, 141, 147, 151, 167, 171, 173, 180, 219, 221, 229, 231 f., 132 Selbstbestimmung 17, 85, 234 Selbsthass 134, 219, 227, 249 Selbstobjekt 33, 95, 137 Selbstobjektbeziehung 33 Selbst-Objekt-Differenzierung 167 Selbstreflexivität 18, 92, 126 Selbstregulierung 27, 31, 34 f., 50, 90, 94 f., 100, 103, 105, 108, 119, 147, 150, 156 f., 175, 214, 228, 231 f., 237, 251 Selbstverachtung 134, 219, 227 Selbstwert 59 Selbstwertregulierung 101, 136, 158 semiotisches Feld 178 Sexualität 248 Situationsdefinition 183–186, 207, 210 f., 216, 224, 230–232, 248 – explizite 183, 223 – implizite 183 soziale Angst 64 f. soziale Interaktion 176 f., 180, 192 soziale Isolation 31, 206 soziale Phobie 48 soziale Realität 24 f., 53, 176, 178, 213

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sozialer Spiegel 43, 132, 175 soziale Situation 25, 64, 98, 128, 143, 209, 212 Soziopathie 19 f. Spaltung 35, 108 Spannungsgefühle 229 Spannungsregulierung 34 Spiegelneuronen 40 f. stationäre Behandlung 25, 58, 73, 133, 135, 236, 240, 255 f. Stereotype – sprachliche 151 Störungen des Sozialen 19, 30, 126, 173 Stundenfrequenz 78 Suizidalität 31, 35, 69, 164 f., 240 Suizidfantasien 75 Suizidimpulse 74–76, 164 Suizidversuch 77, 162, 255 T Teilobjekt 232 Thema 39, 60, 62, 67 f., 81, 130, 184, 220–223, 238 Therapieziele 59, 61, 68 Toleranzgrenzen 69, 131 f., 134, 174, 199, 201, 228, 230 f., 246–248, 262 Transparenz 17, 53, 126, 148, 212 Traumberichte 165 f. Träume 58 f., 165 f. Trennung 22, 168 f., 243, 247 f. U Übertragung – idealisierende 54, 137 – negative 161, 163, 262 übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP) 20, 253 f., 257 V Verantwortung 78, 89, 93, 219 Verbindlichkeit 80, 87, 221, 228

Vereinbarungen 68, 70 f., 74 f., 77–82, 84–87, 89, 175, 196, 233, 236 f. Verhalten – fremdschädigendes 70 – nichtsprachliches 36, 119, 154, 156, 176, 180, 189, 223 – normkonformes 241 – regressives 113 f., 140, 167 f., 197, 230 – selbstschädigendes 112, 138 – selbstverletzendes 23, 34 f., 69, 74 – suizidales 69, 75, 112, 116 Verhaltenserwartung 180, 183, 185, 187, 191 f., 215, 225, 228, 241 Verhandeln 60, 69, 87, 89, 185, 207–209, 216 Verlässlichkeit 76, 87, 234, 237, 239 Vermeiden 58, 165, 215, 237 Verschwiegenheitsverpflichtung 203, 205 Videoaufzeichnungen 259 f. Vollzugswissen 37 Vorgespräch 58, 195 f., 199, 201–207, 238 W Wechselseitigkeit 16 f., 34, 94 f., 99, 142 Weiterbehandlung 168 Wiederholung 91, 161, 208 Willkür 83, 235 Wissen 37, 40, 42, 133, 149 f., 154, 217, 219 – implizites 37 – kognitives 37, 149 f., 217, 219 Z Ziele 54, 59–62, 68

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