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German Pages 264 [256] Year 2021
Julia Inthorn, Rudolf Seising (Hg.) Digitale Patientenversorgung
Medical Humanities | Band 3
Julia Inthorn (Dr. phil.) ist Direktorin des Zentrums für Gesundheitsethik Hannover. Sie forscht und lehrt in der Medizin- und Pflegeethik und ist Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Rudolf Seising (PD Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Senior Research Fellow des Forschungsinstituts für Technik- und Wissenschaftsgeschichte des Deutschen Museums München. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Geschichte der Informatik, insbesondere in der Geschichte der Künstlichen Intelligenz.
Julia Inthorn, Rudolf Seising (Hg.)
Digitale Patientenversorgung Zur Computerisierung von Diagnostik, Therapie und Pflege
Dieser Band kam aufgrund großzügiger Förderungen durch das Forschungsinstitut des Deutschen Museums in München und das Zentrum für Gesundheitsethik an der Evangelischen Akademie Loccum zustande.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4918-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4918-9 https://doi.org/10.14361/9783839449189 Buchreihen-ISSN: 2698-9220 Buchreihen-eISSN: 2703-0830 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Digitale Patientenversorgung Zur Computerisierung von Diagnostik, Therapie und Pflege. Einleitung
Julia Inthorn, Rudolf Seising | 7
I.
INTERDISZIPLINÄRE BLICKWINKEL
Anthropologische und ethische Aspekte des Einsatzes von Robotern im Gesundheitssektor
László Kovács | 19 Vom Laborautomaten zur computerisierten Laborfabrik Die Klinische Chemie als Vorreiter EDV-gestützter Medizin in den 1950er bis 1970er Jahren
Bernd Gausemeier | 35 Vom „Anschwellen der medizinischen Fachliteratur“ zur Computerunterstützung ärztlicher Entscheidungen
Rudolf Seising | 55 Computer in der Medizin im 20. Jahrhundert Zwei Fallstudien aus Wien
Rudolf Seising | 79
II. NEUE MÖGLICHKEITEN – NEUE FRAGEN: UMGANG MIT DEM WANDEL IN DER PATIENTENVERSORGUNG Akzeptanz und ethische Implikationen der ärztlichen Telekonsultation Das Beispiel Schmerztherapie
Mathias Schmidt, Saskia Wilhelmy, Michael Czaplik, Pascal Kowark | 107 „Warum stechen, wenn man scannen kann?“ Zum Einsatz sensorbasierter Glukosemesssysteme in der Typ 1 Diabetestherapie
Bianca Jansky | 127
Healthy Smart Home Verortung des Wohnraums in der digitalen Gesundheitsversorgung
Birgit Saalfeld, Urs-Vito Albrecht | 149
III. SELBSTBESTIMMUNG DES PATIENTEN UND TECHNISCHE INNOVATION Evaluation der „Entscheidungshilfe Prostatakrebs“ Chancen & Perspektiven eines Online-Tools für shared decision-making in der Versorgungsforschung
Philipp Karschuck, Johannes Huber | 171 Wer entscheidet? Medizintechnologie in der Altenpflege und die Perspektive von Pflegeschüler*innen
Julia Inthorn | 189 ‚Meine‘ Daten – ‚Meine‘ Verantwortung? Gesundheitsbezogene Apps und neue Dimensionen der Selbstbestimmung
Bettina Schmietow, Georg Lindinger | 201
IV. FORMEN DER AUSEINANDERSETZUNG MIT DEM TECHNOZÄN Eine Robbe für Oma Die zukünftige Dauerausstellung Robotik im Deutschen Museum
Nicolas Lange, Ludwig Bauer | 221 „Das Zukunftsmuseum“ – „Science or Fiction?“ Zur Darstellung von Zukunftsvisionen im Deutschen Museum Nürnberg anhand der Themen „Personalisierte Medizin“ und „Robotik“/ „Künstliche Intelligenz“
Florian Müller, Melanie Saverimuthu | 241 Autorinnen und Autoren | 259
Digitale Patientenversorgung Zur Computerisierung von Diagnostik, Therapie und Pflege. Einleitung Julia Inthorn, Rudolf Seising
Die Anwendung IT-gestützter Verfahren und Apparate in der Versorgung von kranken oder pflegebedürftigen Personen nimmt kontinuierlich zu. Die systematische Erfassung von Patientendaten, die Einführung von technikgestützter Diagnostik bei bildgebenden Verfahren und Operationsroboter sind nur einige Beispiele für die Nutzung digitaler Technik in der Medizin. In der Entwicklung der Rechnertechnik taucht der Digitalcomputer in den USA während des Zweiten Weltkriegs auf und wurde in der Nachkriegszeit weiterentwickelt. Er erwies sich dann auch schnell als nützliche Maschine, zunächst für numerische Berechnungen in Wissenschaft und Technik, schon kurze Zeit später aber auch als symbolverarbeitendes System. Diese Neuerung führte dazu, dass der Digitalcomputer zur Datenverarbeitung in vielfältiger Weise eingesetzt werden konnte und hier war die Medizin eines der frühen Gebiete. Deren Computerisierung setzte schon in den 1950er Jahren mit Projekten in der Patientendatenverarbeitung ein. Dann folgte der Einsatz auch zur Unterstützung in der Diagnostik und schließlich bei der Steuerung therapeutischer Geräte, die später oft als „Apparatemedizin“ bezeichnet wurde. Heute werden diagnostische Verfahren, Therapien und Therapieentscheidungen, Prävention, aber auch Handlungsfelder in der Pflege, Patientendatenverwaltung und Abrechnung in verstärktem Maß durch IT-gestützte Prozesse begleitet und strukturiert. In der Entwicklung neuer Technologien werden zunehmend weitere Anwendungsbereiche für IT-gestützte Verfahren erschlossen. Die Zahl der Tätigkeiten, die bislang genuin im Verantwortungsbereich von Fachpersonal lagen und nun durch robotische und andere Systeme ersetzt werden könnten, steigt ständig an. Digitale Technik verändert damit Prozesse und Wissensbestän-
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de in Medizin und Pflege und kann zu einem dritten Akteur zwischen Patient*innen und professionell im Gesundheitswesen Tätigen werden. Der Band widmet sich aus interdisziplinärer Perspektive den Fragen und Veränderungsprozessen, die durch den Einsatz digitaler Technik im Kontext der Patientenversorgung aufgeworfen werden und will zur kritischen Reflexion dieser Prozesse beitragen. Ausgehend von der wissenschafts- und technikhistorischen Einordnung der Entwicklungen werden anthropologische Grundlegungen sowie ethisch-normativen Anforderungen an den Wandel, der durch den Einsatz digitaler Technologie in Medizin und Pflege entsteht, analysiert und deren Zusammenspiel diskutiert. Insbesondere in Bereichen, in denen Wissen unmittelbar handlungsrelevant wird und potenzieller Nutzen wie auch Schaden durch den Technologieeinsatz entstehen kann, wie bei der Behandlung von Patient*innen, werden Fragen der Verantwortung aufgeworfen, die nur im komplexen Zusammenspiel der dabei beteiligten Disziplinen sinnvoll und zukunftsweisend beantwortet werden können. Dabei geht es darum, Fragestellungen der Computerisierung zu identifizieren und Gestaltungsspielräume an den Schnittstellen von Technikentwicklung, Medizin, Pflege zwischen technischen Visionen und Bedarfsbestimmung in der Praxis zu beschreiben. Auf dieser Grundlage können erste Ansätze zur Beschreibung von Handlungs- und Gestaltungsspielräumen und den damit verbundenen normativen Fragestellungen des Technologieeinsatzes entwickelt werden. Der Einsatz digitaler Technologie in Medizin und Pflege ist dabei eingebettet in einen gesellschaftlichen Prozess zunehmender Digitalisierung. Die gesellschaftlich diskutierten Fragen wie Zugangsgerechtigkeit, digital gap oder auch Fragen von Verantwortung und Haftung beim Einsatz von Technologien der so genannten Künstlichen Intelligenz (KI) sind auch für Medizin und Pflege relevant, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Patient*innen und pflegebedürftige Personen vulnerable Gruppen sind und hier andere Entscheidungsprozesse gestaltet werden müssen als im Bereich von Konsumentscheidungen oder Mobilität.
HINTERGRUND Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Digitalcomputer immer häufiger als enorm schnelle und programmierbare Maschinen für komplexe Berechnungen eingesetzt (Aspray 1989). Bald wurde der elektronische Computer auch ein neues Werkzeug in Wissenschaft und Forschung, das auch die Rolle einer treibenden und lenkenden Kraft einnahm (Agar 2006; Hashagen 2013). Ein wichti-
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ger Bereich, in dem zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Informationsflut nicht mehr ignoriert werden konnte, war die Medizin. Nicht nur die Fachliteratur, auch das in den Krankenhäusern in Patientenkarteien dokumentierte Datenmaterial wuchs immens (Seising, 2004). In den USA wurden daher schon in den 1950er Jahren Projekte zur elektronischen Datenverarbeitung mit Lochkarten im Gesundheitswesen durchgeführt und europäische Ärzte, die sich darüber informiert hatten, führten ähnliche Systeme nicht viel später auch in ihren Heimatinstitutionen ein. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre blieben die KI-Forschungsergebnisse weit hinter den Erwartungen zurück; es kam zum ersten sogenannten KI-Winter. Neuen Antrieb brachten die Konzeptionen sogenannter Expertensysteme, die auch in der Medizin zur Anwendung kamen. Für die Wissensbasen dieser Systeme wurde versucht, menschliches Wissen über Ausschnitte der wahrgenommenen Welt als Wenn-Dann-Beziehungen zu formulieren und zu speichern. Eine andere Komponente des Systems leitete dann aus diesen Regeln Handlungsvorschläge für die Benutzer ab. In der Medizin wären hier als die mit bekanntesten Systeme MYCIN (Shortliffe 1976) und INTERNIST (Miller 1982) zu nennen, die für das Fachgebiet der Infektionskrankheiten bzw. der internistischen Medizin entworfen und realisiert wurden. Die 1980er Jahre brachten einen erneuten KI-Winter, der auch die Medizin betraf: Medizinische Expertensysteme führten ein Nischendasein und konnten nie den großen Durchbruch erzielt. Gegen Ende des Jahrzehnts zeichnete sich ein neuer „KI-Sommer“ ab, zu dem die Renaissance der künstlichen neuronalen Netze im Deep Learning und die neuen Methoden der Datenanalyse und der Knowledge Discovery in Databases beitrugen. Neben den technischen Neuerungen durch die Möglichkeit der neuen Methoden der Datenanalyse veränderten sich auch die theoretische Grundlage der Medizin und die Formen der Wissensproduktion. Ziel der sogenannten datenzentrierten Analyse ist zum einen durch den Vergleich mit ähnlichen anderen Patienten auf eine individuelle Situation zugeschnittene Entscheidungsunterstützung zu erhalten. Zum anderen werden ökonomische Aspekte vorgetragen, da sich auf Grund einer systematischen ökonomischen Kosten-Nutzen-Analyse Entscheidungshilfen ableiten lassen. Darüber hinaus sind auch im diagnostischen Bereich in der Auswertung von Bildern (Mamma-Screening) algorithmenbasierte automatisierte Auswertungen möglich. Perspektivisch wird angenommen, dass viele weitere auf der Verarbeitung von Daten beruhende Prozesse der zukünftigen Patientenversorgung automatisiert ablaufen können und die Aufgabe des Arztes vor allem in der Anwendung dieses Wissens bzw. der Empfehlungen auf den einzelnen Patienten bestehen wird. Es
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ist zu erwarten, dass das ärztliche Selbstverständnis hierdurch neu justiert werden muss.
MEDIZIN UND GESUNDHEITSWESEN IM 21. JAHRHUNDERT: ZWISCHEN DIGITALER TECHNOLOGIE UND GRUNDLEGENDEN FRAGEN DER MENSCHLICHKEIT Allgemeine Aussagen dazu, welche Einsatzmöglichkeiten von Algorithmen es aktuell in der Medizin und außerhalb gibt, sind kaum zu treffen. Auch wenn theoretisch – entsprechend der bekannten Church-Turing-These – alle „mechanisierbaren“ Berechnungen mittels Algorithmen durchgeführt werden können, ergeben sich zwei wesentliche Einschränkungen einer allgemeinen Anwendung: Zum einen ist unklar, was tatsächlich „mechanisierbar“ ist, insbesondere im täglichen Leben. Zum anderen ergibt sich im Zusammenhang mit Big Data das Problem, wie nützliche Verbindungen von ebenfalls aufgefundenen ungeeigneten Korrelationen unterschieden werden können (Ethikrat 2017). In Bezug auf den Einsatz sogenannter intelligenter Roboter in Pflege und Medizin werden Fragen der Verantwortungszuschreibung (und -diffusion) im Zusammenspiel zwischen algorithmenbasierter Auswertung und Gesundheitsexpert*in zunehmend diskutiert. Begründungssätze aus dem Bereich der Medizinund Pflegeethik untersuchen Fragen nach der ethisch am besten zu rechtfertigenden Handlung, die durch Roboter ausgeführt wird, aktuell analog zur Beurteilung menschlicher Handlungen, für die allgemein gültige Regeln zur Beurteilung von Entscheidungen allerdings vorab mechanistisch festgelegt werden müssen. Die Debatte um Robotik in Medizin und Pflege, Medizin 4.0 und Big Data changiert vielfach zwischen Zukunftsvisionen einer technisch weit verbesserten Versorgung von Patient*innen einerseits und den Szenarien einer Entwicklung hin zu einer problematischen entmenschlichten Versorgungssituation andererseits. Dabei wird jeweils suggeriert, dass ein grundlegender Wandel von Medizin, Pflege und Patientenversorgung stattfindet. Eine allgemeine Debatte über Digitalisierung in Medizin und Pflege scheint vor dem Hintergrund der sehr unterschiedlichen Anwendungsbereiche und Technologien zunächst wenig zielführend. Chancen und Risiken der verschiedenen Technologien in sozialer, ethischer oder auch ökonomischer Hinsicht sind jeweils eigenständig abzuwägen. Gleichzeitig sind aber grundlegende anthropologische Fragen von menschlichem Miteinander und Fürsorge sowie Verantwortung aufgeworfen, die zentrale Dimensionen wie die gesellschaftlich geteilten Vorstellungen von würdevollem
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Umgang mit Menschen und dem sozialem Miteinander betreffen, und nur in einer grundlegenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung diskutiert werden können. Eine die technologische Entwicklung und Anwendung neuer Technologien in Medizin und Pflege begleitende wissenschaftliche Debatte muss daher die exemplarische anhand einzelner Technologiebereiche und Anwendungsfelder geführte Diskussion mit grundlegenden Überlegungen verbinden. Hierzu erscheint ein interdisziplinärer Ansatz sinnvoll, der die sozialwissenschaftliche und medizin- und pflegeethische Diskussion einzelner Technologien mit theoretischen Analysen und einer historischen Kontextualisierung der Debatte verbindet.
AUFBAU Daher stellt der Band fundamentale anthropologische Fragen und historische Zugangsweise zu den skizzierten Fragestellungen an den Anfang, an die sich die weiteren Wissenschaftsperspektiven anschließen. Im Abschnitt „Interdisziplinäre Blickwinkel“ werden grundlegende Argumentationslinien eröffnet. László Kovács zeigt in seinem Beitrag aus philosophischer Perspektive auf, welche Aspekte zwischenmenschlicher Interaktion und Fürsorge im Gesundheitssystem durch den Einsatz von Technologie, insbesondere durch Robotik, tangiert werden. Er verweist auf die für jede Behandlung zentrale Beziehung zwischen Ärzt*in und Patient*in, die Bedeutung von Vertrauen und den ganzheitlichen Blick auf den Menschen und setzt sich kritisch mit Entwicklungen auseinander, die eine stärker funktionale Vorstellung von Medizin befördern. Den Anfängen der Computerisierung im Gesundheitswesen spürt Rudolf Seising in seinen beiden Beiträgen nach. Im ersten Aufsatz verweist er darauf, dass der Digitalcomputer schon in den 1950er Jahren in den USA als ein Werkzeug zum Ausweg aus der Wissensexplosion und da vor allem der (medizinischen) Literaturkrise galt. Dieser Weg führte zu ersten Krankenhausinformationssystemen und von dort auch zu ersten Systemen der computerisierten Diagnoseunterstützung. Sowohl die Analyse als auch die zur Problemlösung geeigneten Technologien wurden etwas später auch in der Bundesrepublik Deutschland disziplinleitend. In seinem zweiten Beitrag wird diese Erzählung mit zwei Fallstudien aus den 1960er und 1970er Jahren ergänzt. Seising zeichnet nach, wie in Wien in einer Privatpraxis und im Allgemeinen Krankenhaus Computer zur Diagnoseunterstützung eingesetzt wurden. Eine weitere Entwicklung der Digitaltechnik begann ebenfalls aus der Situation heraus, dass die Patientendatenbestände immer mehr anwuchsen. In seinem Aufsatz über „Automatische Laboratorien“ und „vernetzte Kliniken“
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erläutert Bernd Gausemeier, wie die institutionellen Strukturen und Arbeitsformen in den bundesdeutschen Kliniken starke Veränderungen erfuhren. Am Beispiel der Klinischen Chemie während der 1950er bis 1970er Jahre zeigt er Konsequenzen der Rationalisierungs- und Automatisierungsprozesse auf. Im anschließenden Abschnitt werden konkrete Technologien und soziale und ethische Aspekte, die durch den Einsatz aufgeworfen werden, in den Blick genommen. Dabei werden die neuen Möglichkeiten und damit verbundene neue Fragen im Umgang mit dem Wandel der Patientenversorgung adressiert. Die Verbindung aus empirischen Ergebnissen und deren ethischer Reflexion regt dazu an, grundlegende Fragen zu vertiefen. Im Beitrag von Mathias Schmidt, Saskia Wilhelmy, Michael Czaplik und Pascal Kowark werden die Ergebnisse einer empirisch-ethischen Studie zum Einsatz von Telemedizin in der Schmerztherapie präsentiert. Der Beitrag macht deutlich, dass die Akzeptanz telemedizinischer Angebote aus der Perspektive von Patient*innen über Aspekte von Funktionalität und Erreichbarkeit von Spezialist*innen hinausgeht. Die ArztPatienten-Kommunikation ist wesentlich für den Behandlungsprozess. Für Telemedizin sind entsprechend ergänzende Kriterien für gelingende Kommunikation notwendig. Auch der Beitrag von Bianca Jansky geht von der Patient*innen-Perspektive aus. Die sozialempirische Analyse zu den Erfahrungen von Nutzer*innen mit dem Einsatz sensorbasierter Glukosemesssysteme in der Diabetestherapie zeigt auf, dass durch die Technik die Vorstellung eines gelingenden Krankheitsmanagements verschoben wird. Der Beitrag von Birgit Saalfeld und Urs-Vito Albrecht nimmt die Perspektive der Technologieentwicklung ein und gleicht an Hand verschiedener Beispiele Möglichkeiten des Technologieeinsatzes und die Ziele weiterer Entwicklungen mit den Zielsetzungen eines selbstbestimmten Lebens im Alter ab. Dabei wird deutlich, wie bereits in der Entwicklung Dimensionen wie Sicherheit oder Verbesserung der Gesundheit in Abwägungen einbezogen werden und werden müssen. Im dritten Abschnitt steht die Selbstbestimmung von Patient*innen bei technischen Innovationen im Zentrum. Autonomie ist ein grundlegendes Prinzip für Entscheidungsprozesse in der Medizin. Informationelle Selbstbestimmung oder die Möglichkeit auf lebenserhaltende Therapien etwa in Abwägung der Lebensqualität am Lebensende zu verzichten zeugen von der zentralen Bedeutung des Respekts der Selbstbestimmung. Die Beiträge in diesem Abschnitt nehmen verschiedene Blickwinkel auf Autonomie ein. Der Beitrag von Philipp Karschuck und Johannes Huber stellt ein Online-Tool vor, durch das die Patientenautonomie in einer spezifischen Entscheidungssituation gestärkt werden soll. Die Autoren zeigen mit Verweis auf die Evaluationsergebnisse des Tools, wie die ArztPatienten-Kommunikation und selbstbestimmte Entscheidung von digital vermit-
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telter, individuell zugeschnittener Information profitieren kann. Eine weitere Dimension der Selbst- und Mitbestimmung adressiert Julia Inthorn in ihrem Beitrag zur Perspektive von Pflegeschüler*innen auf den Einsatz von Technologie in der Altenpflege. Die Erfahrungen von Pflegeschüler*innen und ihre Position ergänzt wichtige Aspekte zur gesellschaftlichen Debatte und zu Überlegungen, wie Technologien in Alltagsroutinen der Pflege integriert werden können. Um sich in diese Diskussionen einbringen zu können müssen Pflegeschüler*innen unterstützt und Partizipation in der Weiterentwicklung Teil pflegerischer Ausbildung werden. Georg Lindinger und Bettina Schmietow untersuchen aus sozialwissenschaftlicher und ethischer Sicht, wie sich Autonomie durch den Übergang von Patient*in zu eigenständiger Nutzer*in von Gesundheitstechnologien insbesondere von Apps verändert. Dabei fragen sie auch danach, welche neuen Probleme durch diese Form der Selbstbestimmung beispielsweise durch Selbstüberwachung entstehen können. Der letzte Abschnitt ist überschrieben mit „Formen der Auseinandersetzung mit dem Technozän“ und nimmt nochmals einen Perspektivwechsel vor. In zwei Beiträgen zur Gestaltung von Ausstellungen wird der Bogen zwischen der historischen Entwicklung von Robotik und Technologien der Zukunft geschlagen. Im Aufsatz von Ludwig Bauer und Nicolas Lange wird diskutiert, wie durch die Auswahl von Exponaten ein Beitrag zu einer an der realen Technikentwicklung orientierten gesellschaftlichen Auseinandersetzung geleistet werden kann. Florian Müller und Melanie Saverimuthu stellen anhand der Überlegungen zu Ausstellungsbereichen im sogenannten Museum der Zukunft dar, welche grundlegenden Veränderungen in Bezug auf Wissen aber auch Gestaltung von Beziehungen und Kommunikation sich mit zunehmendem Einsatz von Technologien im Bereich von Gesundheit und Pflege ergeben können. Die Beiträge machen deutlich, dass in vielen Bereichen die Auseinandersetzung mit neuen Technologien über eine klassische Abwägung von Chancen und Risiken hinausgehen muss. Der sich gesellschaftlich etablierte Umgang mit dem Smartphone, mit der freiwilligen oder akzeptierten Nutzung persönlicher Daten oder KI-gestützten Verfahren der Personalisierung von Angeboten schafft den (diskursiven) Rahmen für spezialisierte Anwendungsbereiche in Medizin und Pflege. Dass die gesellschaftliche Akzeptanz hier anders sein kann zeigt die breite Auseinandersetzung mit Fragen des Datenschutzes und der Freiwilligkeit in Bezug auf die Corona Warn-App. Gesundheitsinformationen werden als besonders privat eingeschätzt und ein hohes Missbrauchspotenzial befürchtet. Zudem sind Patient*innen durch ihre Krankheit in einer Notlage und abhängig von Gesundheitsangeboten, so dass die Möglichkeit, Unerwünschtes ablehnen zu können, als besonders schützenswert gilt. Durch den Einsatz von Technologien
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verändert sich die Beziehung zwischen den professionell im Gesundheitswesen Tätigen wie Ärzt*innen und Pflegenden und Patient*innen. Kommunikation findet vermittelt statt, das Informationsgefälle zwischen dem Arzt /der Ärztin als Expert*in und Patient*in verschiebt sich durch automatisierte Erhebung von Vitaldaten und Verantwortung verändert sich, wenn Entscheidungsunterstützungssysteme eingebunden werden. Die Qualität der Behandlung und Pflege sollte dabei gleichbleiben oder sich verbessern, nicht nur hinsichtlich der funktionalen Dimension, sondern auch mit Blick auf Aspekte wie Vertrauen oder ethische Probleme. Die Diskussion um entsprechend angepasste Qualitätskriterien und deren Überprüfung durch Ärzt*innen und Pflegende steht dabei noch am Anfang. Damit verbunden ist die Frage, welche neuen Qualifikationen Pflegende und Ärzt*innen aber auch Patient*innen haben müssen, um selbstbestimmt in diesen Fragen entscheiden zu können. Darüber hinaus bedarf es Möglichkeiten der Partizipation, um eine breite gesellschaftliche Diskussion unter Beteiligung möglichst vieler verschiedener Gruppen zu führen.
DANKSAGUNGEN Die Beiträge des Bandes sind aus den Vorträgen während des interdisziplinären Workshops „Wer (oder was) versorgt uns(ere) Patienten? Computerisierung von Diagnostik, Therapie und Pflege“ hervorgegangen, den wir im Oktober 2018 am Deutschen Museum in München durchgeführt haben. Wir danken dem Forschungsinstitut für Wissenschafts- und Technikgeschichte des Deutschen Museums für die Finanzierung des Workshops und das anregende Setting der Veranstaltung im Kerschensteiner Kolleg sowie den Teilnehmer*innen für die Diskussion und Anregung zur Weiterentwicklung der Beiträge. Wir danken Michell Held für seine Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts.
LITERATUR Agar, Jon (2006): What Difference Did Computers Make? Social Studies of Science, 36 (6) S. 869-907. Aspray, William (1989): John von Neumann's Contributions to Computing and Computer Science. IEEE Annals of the History of Computing 11(3): S.189195.
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Ethikrat (2017): Big Data und Gesundheit – Datensouveränität als informationelle Freiheitsgestaltung https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/ Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-big-data-und-gesundheit.pdf
Hashagen, Ulf (2013): The Computation of Nature, Or: Does the Computer Drive Science andTechnology? In: Paola Bonizzoni et al. (Eds.): The Nature of Computation: Logic, Algorithms, Applications. Springer (2013), S. 263-270. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-642-390531_30 Miller, Randolph A. et al. (1982): INTERNIST-1: An Experimental ComputerBased Diagnostic Consultant for General Internal Medicine, New England Journal of Medicine 307, S. 468-476. Seising, Rudolf (2004): Zwischen Symptomen und Diagnosen: vom Raum medizinischen Wissens, seiner unscharfen Struktur und deren technologischer Bewältigung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zur Entwicklung Computerunterstützter Diagnoseverfahren in der Medizin, Technikgeschichte 71 (1), S. 19–58. Shortliffe, Edward H. (1976): Computer-Based Medical Consultations: MYCIN. New York: Elsevier.
Anthropologische und ethische Aspekte des Einsatzes von Robotern im Gesundheitssektor László Kovács
EINLEITUNG Die Anwendung von Robotern verbreitet sich nicht mehr nur in der Industrie, sondern auch zunehmend in der Gesundheitsversorgung. Der Eintritt von Robotern in diese neue Funktion scheint nicht neutral zu sein. Ihre bloße Präsenz löst Begeisterung, Hoffnung und zugleich Ängste und Ablehnung aus, bevor die Roboter etwas getan haben. Allein die Tatsache, dass ein Roboter im therapeutischen Kontext eingesetzt wird, bedeutet für viele bereits eine Grenzüberschreitung, die der Mensch dringend braucht, oder die ihm gerade nicht erlaubt ist. Diese meist sowohl emotional und als auch technisch-wissenschaftlich geprägten Haltungen gegenüber Robotern stehen in der Industrie unter dem Druck der Produktion und werden nach der betriebs- und volkswirtschaftlichen Logik bewertet. Im Gesundheitssektor hingegen stehen Roboter (neben der betriebswirtschaftlichen Logik) auch im Kontext von individuellen existenziellen Fragen des guten menschlichen Lebens. Ihre Bewertung sollte deshalb weder auf emotionale noch auf wissenschaftliche und ökonomische Effizienzkriterien reduziert werden. Eine solche Reduktion würde die Komplexität des menschlichen Lebens und des Erlebens der Krankheit nicht ernst nehmen. Deshalb nehme ich hier vor, die Frage nach der Anwendung von Robotern im therapeutischen Kontext aus einer umfassenden existenziellen, anthropologischen und ethischen Perspektive zu beleuchten. Ich werde vor allem die Beziehung zwischen den kranken und den behandelnden Menschen mit der Beziehung zwischen kranken Menschen und Robotern vergleichen. Dabei versuche ich, für den interdisziplinären Diskurs
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verständlich zu bleiben. Im ersten Schritt zeige ich, dass der Therapeut 1 durch die Technik eine zunehmende Distanz zum kranken Menschen aufbaut. Diese Distanz ist ein Nebenprodukt der Technisierung in der Medizin, die sowohl für den behandelnden Menschen als auch für die Behandlung und somit für den Patienten erhebliche Vor- und Nachteile hat. Die Vorteile lassen sich wissenschaftlich leicht nachweisen, die Nachteile sind hingegen schwer zu fassen. Im Anschluss untersuche ich deshalb das schwer erfassbare Bedürfnis des Patienten nach Beziehung zu Menschen, die sich für ihn einsetzen. Ich zeige, dass diese Beziehung einerseits die Möglichkeit einer Wertschätzung enthält, die von Robotern nicht geleistet werden kann, andererseits kann ein Roboter auch Vorteile haben, z.B. weil er das Bedürfnis nach Selbständigkeit und Kontrolle erfüllt. Aus dieser Untersuchung komme ich schließlich zu einer ethisch vertretbaren Präzisierung der Funktionen von Robotern im Kontext der Gesundheitsversorgung und einer Ba-lance zwischen ihren Funktionen sowie zum angemessenen Platz von Robotern im Kontext der Versorgung von Patienten.
MEDIZINTECHNIK UND DISTANZ Seit Hippokrates war das Abhören des menschlichen Körpers – insbesondere von Herz und Lunge – durch den Arzt eine etablierte diagnostische Methode. Dazu legte der Arzt sein Ohr an den Brustkorb des Patienten und lauschte. Er hatte also direkten Körperkontakt mit ihm. Vor etwa 200 Jahren fand der französische Arzt, René Laënnec, diesen Körperkontakt mit einer jungen Patientin zu intim und deshalb unprofessionell. Zur Überwindung dieses Problems erfand er das Stethoskop (Thomos et. al. 2016: 1667-1670). Er entwickelte das Gerät zunächst in Form einer Holzröhre. Im selben Jahrhundert wurde das Instrument für das Abhören mit beiden Ohren und für einen größeren Abstand zwischen Arzt und Patient mit einem Schlauch ergänzt. Das Interessante an dieser Geschichte ist nicht die verbesserte technische Leistung des Stethoskops, sondern die Motivation für seine Entwicklung. Das kleine Gerät diente primär zur Herstellung einer professionellen Distanz zwischen Arzt und Patient und nur sekundär zur Präzisierung der Diagnostik. Seit der Erfindung des Stethoskops wurden in der Medizin verschiedene Geräte entwickelt – in der Regel mit der Wirkung einer vergrößerten Distanz zwischen Patienten und Therapeuten. Röntgengeräte, Ultraschall, MRT und viele
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In diesem Beitrag wird zur besseren Lesbarkeit die grammatisch männliche Form für beide Geschlechter verwendet.
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andere Geräte ermöglichen viel genauere Erkenntnisse über den Körper des Patienten als der direkte Körperkontakt, gleichzeitig stellen sie räumliche, zeitliche und vielleicht auch emotionale Distanz zum Patienten her. Diese Entwicklung soll keineswegs als Rückschritt beklagt werden. Wenn eine Hebamme vor 100 Jahren die Gesundheit des Kindes noch durch die Bauchdecke ertasten musste, war die Methode bei weitem nicht so verlässlich wie der Ultraschall heute. Mit der Einführung des Ultra-schalls wurde zugleich eine kleine Distanz geschaffen. Das alles gilt nicht nur für die Diagnostik, sondern auch für die Therapie: Künstliche Nieren (Dialysegeräte), eiserne Lungen (Beatmungsgeräte) und vieles mehr haben die Handlungsmöglichkeiten von Ärzten erweitert und eine Behandlung in der Abwesenheit des Arztes ermöglicht. Diese erhöhte Distanz ist auch in der Pflege zu erfahren: Maschinen, die Patienten im Bett aufrichten, drehen oder aus dem Bett heben, erleichtern die Aufgaben von Pflegenden – und machen auch die Pflege, das letzte Bollwerk des direkten menschlichen Kontaktes in der Gesundheitsversorgung, zunehmend zu einem technisch vermittelten Beruf. Durch den Einsatz von Robotern erreicht diese Entwicklung nochmals eine neue Qualität. Roboter werden bereits seit Mitte der 1980er Jahre in der Chirurgie eingesetzt. Der erste Assistenzroboter für Operationen am Knie hieß Anthrobot (Lechky 1985). Der Name verrät die Absicht des Herstellers, eine ausgesprochen menschliche Funktion zu ersetzen. Anthrobot konnte das Bein des Patienten in einer fixen Position halten, auf Befehl drehen und die Position für den Operateur anpassen. Das konnte der Roboter verlässlicher und vor allem länger als ein Mensch.2 Aber Anthrobot hat noch nicht operiert. Er wurde sprachgesteuert, also war der Arzt für seine Bedienung anwesend. Inzwischen haben Roboter dem Chirurgen das Messer aus der Hand genommen. Ein weit verbreiteter Operations-Roboter heißt Da Vinci. Mit ihm kann der Chirurg sitzend (anstatt in gebückter Haltung über dem Körper des Patienten) durch Joysticks seine Eingriffe durchführen und er wird von Algorithmen des Operationssystems korrigiert, wenn seine Hand (z.B. durch Ermüdung in einer stundenlangen Operation) zittert oder wenn er etwas übersehen würde. Da Vinci Roboter werden bei vielen Operationen von der Urologie über Herzchirurgie bis hin zu gynäkologischen Eingriffen verwendet. Eine Studie aus dem Jahr 2013 bewertete die Leistung der Da Vinci Roboter als etwa gleich gut wie die Leistung eines Chirurgen mit der eigenen Hand. Berücksichtigt wurden dabei etwa Blutverlust bei der OP, Krankenhaustage oder Pflegeaufwand nach dem Eingriff (Wright et al. 2013, S. 689-698). Wer Da Vinci Roboter kritisieren will, kann folglich diese Qualitäten des Eingriffs schwer kritisieren. Kritiker 2
https://archive.org/details/theroboticrevolution
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argumentieren heute eher mit den hohen Anschaffungskosten. Das KostenArgument ist im Gesundheitswesen ein starkes Argument, gilt aber nur vorübergehend. Mit der Zeit werden die Kosten solcher Techniken erwartungsgemäß niedriger. Die großen deutschen Kliniken haben inzwischen ihre ChirurgieRoboter angeschafft. Wenn also die Kosten den einzigen Kritikpunkt bilden, dann dürften diese Roboter in Zukunft einen großen Anteil der Chirurgie erobern. Wird das so kommen? Für diese Prognose müssen wir die Situation etwas genauer untersuchen und realistisch bleiben. Zum einen geht es um den technischen Fortschritt. Da Vinci Operationssysteme sind keine selbständigen Roboter. Sie führen Bewegungen nicht allein aus, sondern der Chirurg muss sie steuern. Wir können nicht erwarten, dass in den kommenden Jahren Roboter entwickelt werden, die ohne direkte Einwirkung von Chirurgen eine OP durchführen können. So weit ist die Technik noch nicht. Aber schon jetzt ist möglich, dass ein Chirurg mit Hilfe eines Roboterarms operiert, ohne bei der OP direkt anwesend zu sein. Das Da Vinci Operationssystem kann auch über das Internet bedient werden. Sobald der Chirurg nicht anwesend sein muss und die kalte Hand des Roboters präziser und wirtschaftlicher arbeitet, ändert sich die Beziehung zwischen Patienten und Therapeuten. Der Krankenhausmanager wird sich freuen: Für die Versorgung von zahlreichen Patienten würden wenige hochspezialisierte Chirurgen in einem nichtsterilen Arbeitszimmer ausreichen, um Eingriffe durch ferngesteuerte Roboterarme zu erledigen. Die Distanz zwischen Patient und Arzt dürfte in der Folge wesentlich größer werden – nicht nur räumlich. Der Chirurg müsste keinen direkten Zugang zum Körper des Patienten haben. Er würde nicht den gesamten Körper wahrnehmen, sondern nur den kranken Teil. Der Körper des Patienten würde zu einem entpersönlichten Objekt, in dem nach wissenschaftlichen Standards Fehler zu beheben sind. Die Arzt-Patient-Beziehung reduzierte sich auf eine technische (und wahrscheinlich auf eine juristische) Dimension. Wir können bisher festhalten: Medizintechnik kann die Genauigkeit der Diagnose verbessern, die therapeutischen Handlungsmöglichkeiten erweitern, oder die professionell Tätigen entlasten. Nebenbei kann sie dazu dienen, die gleichen Leistungen billiger zu erbringen. All diese Eigenschaften sind erwünscht und gut. Doch sie tragen alle zur Schrumpfung der menschlichen Beziehung in den Gesundheitsberufen bei. Brauchen wir aber einen persönlichen Kontakt, eine persönliche Beziehung zwischen Arzt und Patienten?
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MENSCHLICHE BEZIEHUNG ALS AUFGABE IN DEN GESUNDHEITSBERUFEN Man könnte die berechtigte Frage formulieren, ob Ärzte und Pfleger dafür da sind, diese menschliche Beziehung zu pflegen, oder dafür, die physiologische Gesundheit wiederherzustellen. Oder zugespitzt formuliert: sollen Gesundheitsberufe die Krankheit oder auch die Einsamkeit behandeln? Ist es angemessen, die teure Gesundheitsversorgung für die sozialen Bedürfnisse von Patienten anzuwenden? Der Einsatz von Robotern und anderen technischen Geräten lädt dazu ein, diese Trennung konsequent durchzuführen. Doch diese Trennung ist künstlich. Eine Erkrankung bedeutet nicht nur eine körperliche, sondern auch eine existenzielle Notlage für den Patienten. Der Anspruch auf eine ganzheitliche Behandlung erfordert vom Therapeuten, den ganzen Menschen in den Blick zu nehmen. Oder zugespitzt formuliert: Man kann nicht bloß eine Krankheit behandeln, man behandelt immer einen Menschen. Ich kenne eine alte Patientin, ich nenne sie Frau S. Frau S ist 90 Jahre alt, sie lebt allein und bewegt sich seit Jahren sehr wenig. Ihre Knie haben eine schwere Arthrose und sie hat häufig Knieschmerzen. Ihr Arzt verschreibt ihr die Therapie, die derzeit nach bester Evidenz zur Linderung der Probleme von Frau S beitragen: eine Elektrotherapie. Nach der ersten Behandlung sagt Frau S zu Hause, sie will nie mehr hingehen. Die Therapie ist umsonst. Sie tut nicht weh, vielleicht hilft sie den Knien, aber bisher hat ein junger Mann sie behandelt, berührt, massiert und sich mit ihr unterhalten. Jetzt behandeln Kabel ihre Knie. Das möchte sie nicht. Nun: Die Therapie ist mehr als technische Leistung und wissenschaftliche Evidenz. Eine Therapie mag die beste Evidenz haben, aber wenn sie nicht genutzt wird, taugt sie nichts. Zwischen dem menschlichen Bedürfnis nach Beziehung und dem naturwissenschaftlich nachweisbaren Therapieerfolg lässt sich keine scharfe Trennung aufstellen. Bis vor kurzem war eine solche Trennung auch nicht möglich. Die Therapie von Frau S konnte nur durch Menschen durchgeführt werden und es war selbstverständlich, dass man bei der Suche nach der besten Therapie die beste wissenschaftliche Evidenz und die beste Wirtschaftlichkeit als wichtigste Kriterien betrachtet hat. Physiologische Parameter wie Blutwerte, Tumorgröße, Krankenhaustage etc. standen in der Aufmerksamkeit der Mediziner. Für Wirtschaftlichkeit sorgen die Manager. Die Technik, insbesondere die Roboter, haben die Situation aber verändert. Sie helfen dabei, die menschliche Präsenz zu reduzieren oder ganz auszuschalten. Dadurch stehen wir vor einem Problem, das wir noch nie hatten. Wir lernen durch den Einsatz von Robotern, dass der menschliche Therapeut oder Pfleger bisher etwas geleistet hat, was Roboter nicht leisten
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können. Wenn wir den Menschen durch Roboter ersetzen, geht etwas verloren. Was verloren geht, müssen wir genau verstehen, damit wir darüber urteilen können.
DER BLICK AUF DEN GANZEN MENSCHEN Was Frau S fehlt, ist eine direkte menschliche Begegnung. Wir können eine Krankheit als eine Funktionsstörung in einem Organ verstehen, aber damit reduzieren wir die ganze Wirklichkeit von Frau S auf die Wirklichkeit der naturwissenschaftlichen Perspektive. Eine Krankheit ist zugleich eine existenzielle Herausforderung oder gar eine existenzielle Not. Was eine existenzielle Not ist, wurde bereits vor 100 Jahren in der Existenzphilosophie ausgearbeitet. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, den Diskurs über die existenzielle Not des Menschen in ausreichender Tiefe und Breite vorzustellen. Ich will nur auf dieses Gedankengut hinweisen. Die kürzeste Zusammenfassung, die ich kenne, kommt von Martin Buber. Nach Buber ist das Grundwort der menschlichen Existenz das Wortpaar „Ich-Du“ (Buber 1999: 9). Dieses Wortpaar erfasst meine Beziehung zu einem anderen Menschen, der mich ernst nimmt, der mit mir Mitleid empfinden kann, vor dem ich mich als eine Person wahrnehmen kann. Diese Beziehung mit einem anderen Menschen ist ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen. Sie ist eine Voraussetzung des guten menschlichen Lebens, oder wie man es in der Medizin nennt: der Lebensqualität. Lebensqualität ist in der Medizin ein schwieriges Wort, denn es ist nicht konkret genug. Meistens meint man mit Lebensqualität zwei Dinge: Subjektive Lebenszufriedenheit und Erfüllung von objektiven Bedürfnissen. Subjektive Lebenszufriedenheit ist sehr wichtig, aber leicht manipulierbar – möglicherweise auch durch Roboter. Wenn nur die subjektive Lebenszufriedenheit das Ziel ist, könnte man das Konzept der Lebensqualität missbrauchen, indem man nicht die Lebensumstände verbessert, sondern die subjektiven Erwartungen des Patienten deprimiert. Je weniger er erwartet, desto zufriedener ist er mit dem, was er bekommt. Bei einer hohen Anerkennung für die Subjektivität im Erleben der Qualität des Lebens, konzentriere ich mich hier auf die Bedürfnisse, denn sie sind eine eher objektive Komponente. Was sind die wichtigsten Bedürfnisse des Menschen, die wir berücksichtigen sollten? In der Diskussion über die Bedürfnisse ist die Bedürfnispyramide von Abraham Maslow (Maslow 1943: 370-396) weit verbreitet. Diese Pyramide folgt einem sehr biologistischen Menschenbild und sagt uns, dass höhere Bedürfnisse nur dann wichtig werden, wenn die niedrigeren bereits zu einem gewissen not-
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wendigen Niveau befriedigt sind. Danach ist das Bedürfnis nach menschlicher Beziehung (soziale Bedürfnisse) erst dann wichtig, wenn die physiologischen Bedürfnisse und die Sicherheitsbedürfnisse gesichert sind. Diese Pyramide lädt also zur gerade beklagten Trennung zwischen Krankheit und Einsamkeit, zwischen physiologischen und sozialen Bedürfnissen ein. Sie bestätigt, die Gesundheitsversorgung soll sich nur mit physiologischen und ggf. mit Sicherheitsbedürfnissen beschäftigen aber nicht mit sozialen Bedürfnissen. Wie falsch diese Trennung ist, zeigen zahlreiche empirische Studien. Eine sehr umfangreiche und überzeugende Langzeitstudie, die Harvard Grant Study (Vaillant 2012), zeigt, wie zentral für ein gutes und auch ein gesundes Leben die menschlichen Beziehungen sind. Im Rahmen dieser Studie wurden hunderte von Probanden engmaschig seit 1938 beobachtet und medizinisch untersucht. Das wahrscheinlich gar nicht überraschende Ergebnis der Studie ist: diejenigen Menschen sind gesund und glücklich geblieben, die viele und gute menschliche Beziehungen hatten. Einsamkeit, das Nicht-Beachtet-Werden führt hingegen zur Verschlechterung des Gesundheitszustands. Das Bedürfnis nach Beziehung ist so grundlegend, dass sein Fehlen sogar physiologische Krankheiten verursacht. Maslows Pyramide ist also nicht mehr zeitgemäß. Eine neuere und differenzierte, weniger biologistische und mehr existenzielle Untersuchung der menschlichen Bedürfnisse, die speziell im Hinblick auf die Praxis helfender Berufe entwickelt wurde, stammt von Wolfram Kurz (Kurz 2005). Ich beziehe mich hier auf seine Ergebnisse. Kurz legt seinen Bedürfniskategorien ein existenzphilosophisch reflektiertes Menschenbild zugrunde und spricht von vier Bedürfnispaaren: Sinnbedürfnis und Kontrollbedürfnis, Lustgewinnungsbedürfnis und Explorationsbedürfnis, Impressionsbedürfnis und Expressionsbedürfnis, Bindungsbedürfnis und Selbstwerterhöhungsbedürfnis (Kurz 2005: 85-134). Kontrollbedürfnis bedeutet nicht allein, die Krankheit zu beherrschen, sondern mit Blick auf sinnvolle Lebensziele (da erscheint das Sinnbedürfnis) das Leben gestaltend in die Hand zu nehmen und zu wissen, dass man die Ziele umsetzen kann. Sinn- und Kontrollbedürfnis gehen deshalb über die Bedeutung der Kontrolle durch technische Geräte weit hinaus. Sie beziehen sich auf eine umfassende Idee vom Gelingen des Lebens. Das Fehlen der Lust oder das Vorhandensein von Schmerz kann die Wahrnehmung vom guten Leben so stark bestimmen, dass alle Denk- und Handlungsmöglichkeiten – auch Sinn- und Kontrollerleben – vom Schmerz überschattet, ja blockiert werden. Deshalb steht für Kurz auch das Lustbedürfnis auf der Liste. Mit der Empfindung von Lust geht auch das Bedürfnis einher, die Quellen der Lust zu benennen, über sie zu reflektieren, sie zu explorieren, sagt Kurz. Deshalb gehören die beiden zusammen. Das Bedürfnispaar Impressionsbedürfnis und Expressionsbedürfnis – Kurz
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erklärt das als das Bedürfnis, sich beeindrucken zu lassen bzw. das Bedürfnis, sich zum Ausdruck zu bringen – sind wie alle anderen Bedürfnisse lebensnotwendig. Hat ein Mensch keine Möglichkeit, Eindrücke von der Außenwelt zu bekommen und sich mitzuteilen, geht er zugrunde. Wenn man der Geschichtsschreibung im Mittelalter trauen kann, hatte Kaiser Friedrich II ein solches Experiment durchführen lassen: Neugeborene wurden von ihren Müttern getrennt und ohne Sprache aufgezogen, um herauszufinden, welche die natürliche Ursprache wäre. Man nahm an, dass die Kinder ohne externen Einfluss anfangen würden, die vorbabylonische Ursprache zu sprechen. Im Experiment seien aber alle Kinder gestorben. Wir wollen heute kein solches Experiment durchführen, aber das Ergebnis leuchtet auch ohne empirische Bestätigung ein. Menschen sind auf Kommunikation mit anderen Menschen angewiesen. Menschliche Bedürfnisse werden deshalb Bedürfnisse genannt, weil ohne ihre Befriedigung ein (erfülltes) menschliches Leben nicht möglich ist. Besonders wichtig in unserem Kontext ist das letzte Bedürfnispaar. Zunächst zum Bedürfnis nach Bindung: In jeder Lebenssituation, in jeder Lebensphase sind Bindungen von existenzieller Bedeutung. Der junge Mensch löst sich von seinen Eltern und bindet sich an Freunde, an einen Partner oder eine Partnerin; man bindet sich an Kollegen, Lehrer und man löst diese Bindungen wieder. Dieses Bedürfnis nach Bindung hat bereits das neugeborene Kind. Ist dieses Bedürfnis erfüllt, ist die Bindungsperson direkt verfügbar, beruhigt sich das Kind und kann seine eigenen Kräfte für die Lösung der Herausforderung einsetzen. Ist die Erreichbarkeit der Bindungsperson aber nicht garantiert, „dann richtet sich die ganze psychische Aktivität darauf aus, wieder Nähe herzustellen“ (Kurz 2005: 102). Ziel dieses angeborenen Bedürfnisses ist nicht, gebunden zu sein, sondern gerade frei oder freier zu sein, die komplexe Situation besser bewältigen zu können. Das Bindungsbedürfnis ist zwar typisch für bestimmte Altersgruppen, aber es ergibt sich nicht aus einem bestimmten Alter, sondern aus Situationen des Ausgeliefertseins und des Unerfahrenseins. Das sind also gerade die typischen Situationen für Patienten im Gesundheitswesen. In diesen Situationen suchen Menschen die Nähe zu Personen. Sie suchen Bindungen. Bindungen geben Schutz, Sicherheit, in entsprechenden Fällen auch Trost. Wenn solche Bindungen verfügbar und feinfühlig sind, kann der Mensch in ungewöhnlichen Lebenslagen dem eigenen Leben vertrauen. Ein gestörtes oder gar fehlendes Bindungsverhältnis belastet den Betroffenen und kann zu vielfältigen Störungen im Leben führen. Ergänzend zu diesem Bedürfnis steht das menschliche Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung. Es bedeutet, dass wir den Wunsch haben zu glauben, dass wir wertvolle Wesen sind und von anderen deshalb geschätzt, geliebt werden.
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Wir brauchen ein positives Selbstbild, ein positives Selbstwertgefühl (eine positive Beziehung zu uns selbst – als Ergänzung zum Bindungsbedürfnis im Sinne einer positiven Beziehung zu anderen). Das Selbstbild ergibt sich nicht aus dem körperlichen Wohlbefinden. Der Mensch kann sich körperlich oder psychisch wohl fühlen und unabhängig davon sich wertvoll oder wertlos fühlen. Der Mensch mit einem unerfüllten Bedürfnis nach Selbstwert erlebt Minderwertigkeit, Verletzlichkeit, Unsicherheit und Leere. Wie entsteht also das Gefühl des Wertvollseins? Der Mensch bewertet sein Leben permanent. Er bewertet den Prozess seiner Lebensführung – einerseits im Spiegel der Rückmeldungen, die er von anderen bekommt. Andererseits entwickelt er auch eigene Maßstäbe für die Bewertung. Das Gefühl „ein wertvoller Mensch zu sein“ entsteht also teilweise daraus, als ein wertvoller Mensch behandelt zu werden, d.h. aus der Wertschätzung anderer Menschen, und teilweise aus der Selbstbeurteilung.3 Vor allem wenn wir über unseren Selbstwert verunsichert sind, brauchen wir nicht nur viele positive Rückmeldungen. Das könnte ja ein Roboter auch tun oder eine App auf meinem Handy, die mir jede halbe Stunde sagt, Du bist super, Du hast es gut gemacht. Das hilft nicht, weil wir einen objektiven Grund für diese positiven Rückmeldungen brauchen. Der wirkliche Grund bedeutet, dass ich tatsächlich etwas Wertvolles voll-bracht habe. Und wenn ich das nicht getan habe, wenn der Grund fehlt, ist die positive Rückmeldung nur ärgerlich. Können Patienten in einer ausgelieferten Lebenssituation einen Grund zur Selbstachtung haben? Die Fähigkeit, etwas Wertvolles zu vollbringen, kann manchmal sehr reduziert erscheinen. Aber es geht nicht darum, dass der kranke Mensch für seinen Selbstwert täglich ein Lebenswerk hinterlassen muss. Er kann bereits dadurch etwas Wertvolles hervorbringen und Anerkennung verdienen, wenn er eine bewundernswerte Haltung zu einer unveränderbaren Tatsache (z.B. Krankheit oder Schmerz) einnimmt. Ein Patient, der eine solche Haltung einnimmt, der sich tapfer verhält oder trotz existenzieller Bedrohung anstrengt, die Krankenschwester auch nur in einer flüchtigen Begegnung heiterer zu stimmen, verdient Achtung. Wir haben einen guten Grund, ihn wertzuschätzen. Kann ein Roboter diese Wertschätzung leisten? Mit dieser Frage sind wir beim nächsten Punkt.
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Insbesondere unreife Persönlichkeiten sind auf fremde positive Rückmeldungen angewiesen, bei reifen Persönlichkeiten ist die Selbstbeurteilung stärker ausgeprägt.
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ROBOTER UND DAS MENSCHLICHE BEDÜRFNIS NACH BEZIEHUNG Der künstlichen Intelligenz wird oft zugetraut, sie könnte wichtige Aspekte dieser Beziehungsleistung übernehmen. Roboter im Gesundheitswesen könnten so gebaut werden, dass sie die gewünschten Emotionen von Frau S hervorrufen können. Sie können per Kamera die Mimik und Gestik von Frau S genau erfassen4 und daraus Rückschlüsse auf die emotionale Lage von Frau S gewinnen. Sie können ihr passende Rückmeldungen geben. Diese Rückmeldung kann in Worten sein, oder auch in der Nachahmung von menschlicher Gestik und Mimik. Solche Rückmeldungen sind programmierbar. Sie erscheinen entweder einfach auf einem Bildschirm mit Smileys (vgl. den Care-o-Bot des Fraunhofer Institutes5) oder mit einem höheren Aufwand mit einer hohen Präzision an einem Roboter mit menschenähnlichem Gesicht (vgl. den Roboter Sophia6). Nicht nur die Form der Rückmeldung kann präzise sein, sondern auch der Inhalt. Chatbots können geschult werden und sind zu sehr differenzierten Reaktionen fähig. Algorithmen für eine psychiatrische Behandlung durch Chatbots scheinen möglich zu sein.7 KI und Roboter sind also in der Lage, gewünschte emotionale Reaktionen beim Patienten hervorzurufen. Aber für die Erfüllung der wesentlichen Bedürfnisse des Menschen in seinen Beziehungen geht es nicht um diese Teilaspekte. Der Unterschied zwischen der Reaktion eines Menschen und der Reaktion eines Roboters ist für das menschliche Bedürfnis nach Beziehung absolut wesentlich. Um das zu schildern, möchte ich eine kurze Geschichte erzählen. Ich hatte einmal einen schwerkranken jungen Krebspatienten. Seine Leukämie ließ sich nach allen verfügbaren Therapieversuchen nicht heilen und man dachte über eine palliative Therapie nach. Der junge Mann war Student an der Uni Tübingen, war ein sehr heller Kopf und wusste natürlich von seinem Zustand. Ich war als Klinikseelsorger involviert und habe mich auf jede Begegnung innerlich vorbereitet und wollte alle seine Regungen genau wahrnehmen, um ihm optimal zu helfen. (Soweit könnte das auch ein Roboter tun.) Ich habe mich auch über meine Arbeitszeit hinaus mit ihm unterhalten. Ich weiß, dieses Verhalten hat einen unprofessionellen Beigeschmack. Ich könnte mich übernehmen. Ein Roboter würde das nicht tun. Er
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https://www.zeit.de/digital/internet/2016-10/deep-learning-ki-besser-als-menschen (letzter Zugriff: 29.07.2020).
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https://www.care-o-bot.de/de/care-o-bot-4.html (letzter Zugriff: 01.12.2019).
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https://de.wikipedia.org/wiki/Sophia_(Roboter) (letzter Zugriff: 01.12.2019).
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http://www.robot.md / (letzter Zugriff: 29.07.2020).
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würde genau wissen, wo seine Grenzen sind und er würde alles tun, was ihm möglich ist. Das wäre vielleicht sehr viel. Er würde z.B. rund um die Uhr präsent sein. Der Roboter hat perfekte Grenzen und ich habe keine klaren Grenzen. Ich muss meine Grenzen immer mit mir aushandeln und deshalb werde ich immer bedenken, ob ich hinterher bereuen würde, was ich tue oder was ich nicht tue. In diesem Fall wusste ich, ich will mich vielleicht über meine normalen Kräfte hinaus anstrengen, denn ich würde mir, wenn dem jungen Mann etwas Schlimmes passiert, Vorwürfe machen. Aber das kennen Sie bestimmt: wenn ein naher Angehöriger verstirbt, fragen wir uns immer, ob wir mehr für ihn hätten tun können und wir bereuen, wenn wir im Nachhinein feststellen, wir hätten mit ihm noch mehr Zeit verbringen sollen. Auf der anderen Seite, wenn wir jemandem durch unsere Anstrengung etwas Gutes getan haben, sind stolz darauf. Der Roboter kann sich keine Vorwürfe machen. Er kann weder etwas bereuen, sich für etwas schämen, noch auf etwas stolz sein, weil er das, was er kann, immer perfekt tut. − Nicht mehr und nicht weniger. Seine perfekte Handlung besteht darin, dass die best-verfügbaren Algorithmen ihn steuern. Aus diesem Unterschied ergibt sich etwas sehr Wichtiges für die Qualität menschlicher Beziehungen: Der Roboter kann für einen Patienten sorgen, ein Mensch hingegen macht sich auch Sorgen um den Patienten. Für den Arzt oder den Pfleger ist es natürlich wichtig, dass seine Anstrengungen von Erfolg gekrönt werden. Es liegt ihm viel daran, dass es dem Patienten gut geht. Dem Roboter liegt nichts daran. Der Roboter wird keine Probleme haben, wenn der Patient trotz der Behandlung verstirbt, denn ein perfekter Helfer muss sagen, wenn er nicht helfen konnte, dann war dem Patienten nicht zu helfen. Der Roboter ist deshalb existenziell nicht involviert. Wenn der Patient einen Schaden davonträgt, bedeutet das für mich eine Krise. Für den Roboter bedeutet das keine Krise. Wenn der Patient verstirbt, hat der Roboter nichts verloren. Ihm wird der Patient nicht fehlen. Er ist an der Genesung des Patienten nicht interessiert. Er hatte keine echte Bindung an den Patienten. Aber ich schon. Der Tod eines Patienten erinnert mich vielleicht sogar an meinen eigenen Tod. Ein Roboter kann sich keine solchen Gedanken machen. Mein Patient wusste genau, dass ich existenziell an seinem Zustand interessiert bin. Er wusste, dass in meinen Überstunden eine hohe Wertschätzung zum Ausdruck kommt. Ich opfere für ihn einen Teil aus meiner für mich wertvollen und begrenzt verfügbaren Lebenszeit. Er empfand diese besondere Behandlung auch als wertschätzend und hat das auch mit mir besprochen. Ich musste dazu Stellung nehmen. Ein intelligenter Roboter kann nur die Illusion einer wirklichen Beziehung geben. Er kann bei präziser Programmierung Zeichen von Emotionen nach Außen zeigen, er kann ein Lächeln oder ein enttäuschtes Gesicht zeigen. Er kann
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seine Reaktionen durch das Abfragen verschiedener Kontexte im Internet anpassen, wie der Roboter Sophia das tut. Aber er kann diese Emotionen nicht empfinden. Man könnte einwenden, dass das kein Ziel sein muss. Als Ziel reiche aus, dass ein Roboter die passenden Emotionen im Patienten erweckt – und das können intelligente Roboter wie Sophia. Das muss man zugeben. Aber das können auch andere Gegenstände wie ein Plüschtier, ein Foto von einem Angehörigen oder eine alte Tasse. Der Mensch ist in der Lage, auf jeden Gegenstand emotional zu reagieren. Wenn wir aber nur die Emotionen von Patienten anregen wollen und diese beispielsweise durch den Hormonspiegel oder seinen Gesichtsausdruck bestätigen, haben wir wieder nicht den ganzen Menschen vor Augen, sondern nur wenige ausgewählte Parameter. Diese Reduktion enthält wiederum einen Missbrauch der ganzen Person. Ein Arzt könnte mich für den besseren Placebo-Effekt auch anlügen, aber ich will doch nicht angelogen werden. Ein Leben, das durch eine Lüge vom Patienten als gut empfunden wird, ist nicht identisch mit einem guten Leben. Die Veränderung der emotionalen Verfassung des Patienten ist kein Selbstzweck, sondern nur ein Mittel, um ihm ein gutes Leben zu ermöglichen. Dieses Mittel darf einem so hochrangigen Ziel wie die echte Wertschätzung nicht im Weg stehen. Der Roboter kann vielleicht eine Wertschätzung imitieren, aber keine echte menschliche Wertschätzung leisten. Er kann nicht von seiner begrenzten Lebenszeit einen Teil für den anderen Menschen opfern, denn seine Lebenszeit ist nicht begrenzt (vielleicht abgesehen von einer „Lebensdauer“ eines technischen Gerätes, nach der Reparaturen sich nicht rentieren). Deshalb kann der Patient diese Wertschätzung an der Präsenz des Roboters nicht erfahren. Menschen in einer existenziellen Herausforderung brauchen genau solche wirklichen und wertschätzenden Beziehungen und keine beziehungsleeren Automatismen eines Roboters. Sie brauchen nicht unbedingt die perfekte, sondern eine ehrliche Rückmeldung, mit der sie sich auseinandersetzen können. Reduziert man diese Beziehung auf die Inhalte der Kommunikation oder auf Emotionen, geht die eigentliche Beziehung verloren. Wenn wir die Gemeinschaft mit Robotern suchen, bauen wir eine Pseudo-Gemeinschaft auf, denn Roboter können in uns Emotionen erwecken8, aber keine wirkliche Gemeinschaft für uns sein.
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Menschen können eine gewisse Bindung zu allen Gegenständen aufbauen. Dazu braucht es keine emotionale Rückmeldung von einem Gegenstand. Leblose Puppen, ein alter Schrank, eine schöne Landschaft können in uns Emotionen hervorrufen. Aber wir wissen, diese Gegenstände schätzen uns nicht.
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Roboter sind für die Werte, die Menschen als Werte erleben, vollkommen unsensibel.9 Die Reaktionen von Robotern müssen vom Programmierer geplant werden. Der Computer kann keine echte menschliche Achtung vor einer Person haben. Ein Patient kann durch sein tapferes Durchhalten in einer Therapie den Computer nicht beeindrucken und nicht enttäuschen. Eine existenzielle Notlage ohne die Möglichkeit einer echten menschlichen Beziehung führt zur Verunsicherung, Verzweiflung manchmal zu einer existenziellen Frustration. Braucht es im Gesundheitswesen immer eine solche direkte menschliche Beziehung? Nicht in jedem Fall. Aber in einer existenziellen Herausforderung sollten wir zunächst davon ausgehen, dass die menschliche Beziehung von Vorteil ist und diese Annahme nur dann ändern, wenn gute Gründe dagegensprechen. Es kann Gründe dafür geben! Ein solcher Grund ist gegeben, 1) wenn der Patient offensichtlich kein Bedürfnis nach Bindung und einem positiven Selbstwertgefühl hat oder die Möglichkeit sehr stark eingeschränkt ist. Dies kann z.B. bei Patienten mit Demenz der Fall sein. In diesem Fall sollen andere Bedürfnisse stärker in den Vordergrund stehen. Dafür ist der Therapieroboter „Paro“ vielversprechend. Er erfüllt wichtige Bedürfnisse, die in der Lebenslage erfüllbar sind. 10 2) Ein zweiter Grund wäre, wenn der Patient die Beziehung zwar wünscht, aber ein Kontakt ihn erheblich gefährden würde, z.B. bei Infektionsgefahr. 3) Ein dritter Grund wäre, wenn die persönliche Präsenz von Ärzten und Pflegern nicht der Ausdruck von Achtung der Person ist. Patienten können den reduzierten Kontakt in manchen Fällen sogar als verbesserter Schutz der Intimität verstehen wie beispielsweise bei Prostata-Operationen oder Mastektomien. Auch für Laënnec in meinem Eingangsbeispiel war der reduzierte Körper-kontakt die wichtigste Motivation für den Einsatz der Technik. 4) Ein vierter möglicher Grund: Die Achtung der Person bedeutet zugleich die Achtung des ärztlichen oder pflegerischen Personals, nicht nur die des Patienten. Diese Achtung kann durch die technische Vermittlung des Handelns gefördert werden, indem man das Personal von der Notwendigkeit befreit, den eigenen Körper für die Arbeit am kranken Menschen immer zur Verfügung stellen zu müssen. Wenn Roboter die gleiche 9
Vgl. Microsoft stellte 2016 den Chatbot Tay in Betrieb, der sich innerhalb von wenigen Stunden in Kontakt mit menschlichen Diskutanten zu einem Rassisten entwickelte, den Holocaust leugnete und Hitler lobte (vgl. Graff, Bernd (2016): Rassistischer Chat-Roboter: mit falschen Werten bombardiert. Süddeutsche Zeitung am 03. April 2016, sz.de/1.2928421.
10 Die Schwierigkeit ergibt sich für diese Studien eher bei der Feststellung der Erfolgskriterien. Häufig wird Cortisol, Blutdruck, Gesichtsausdruck gemessen. In welchem Verhältnis diese Kriterien mit den Bedürfnissen eines guten Lebens stehen, wird kaum geklärt. Vgl. z.B. (Liang et al. 2017).
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Arbeit verrichten können, braucht es weniger schweren Körpereinsatz in den Gesundheitsprofessionen. Die Arbeit wird erleichtert. 11
ROBOTER ALS PFLEGER Jetzt bleibt die Frage offen, was Roboter im Gesundheitswesen nun wirklich leisten können. Für die Antwort hilft eine Unterscheidung von zwei verschiedenen Inhalten: Ich verwende dafür die zwei Begriffe von Mark Coeckelbergh (Coeckelbergh 2009: 181-190). Er unterscheidet zwischen einer oberflächlichen und einer tiefen Pflege. Die beiden Begriffe finde ich sehr hilfreich in diesem Kontext, auch wenn ich in der Deutung der Begriffe von Coeckelbergh abweichen möchte. Tiefe Pflege bedeutet für ihn sowas wie tiefe menschliche Emotionen beim Anblick des Pflegebedürftigen. Dieses Kriterium ist etwas unklar, aber nach meiner Erklärung könnte man es so verstehen: im Sinne der tiefen Pflege sorgt der Pfleger nicht nur für den Patienten, sondern er macht sich um den Patienten Sorgen. Er ist existenziell involviert und bietet diese existenzielle Beziehung dem Patienten an. Roboter sind nur für die oberflächliche Pflege geeignet. Natürlich pflegen auch menschliche Pfleger nicht immer im Sinne einer tiefen Pflege. Sie führen teilweise Arbeiten wie Roboter aus. Aber sie werden von den Patienten als Menschen wahrgenommen und sie sind für Patienten immer Objekte einer menschlichen Beziehung. Leider ist die hochwertige Beziehungsarbeit in der Pflege kein Alltag. Trotzdem ist der Satz „Roboter sind besser als nichts.“ ein gefährliches Argument. Denn diese tiefe Pflege ist das, was wir schätzen und was wir bekommen wollen. Anbieter von Pflegeeinrichtungen werben immer mit einer tiefen Pflege. Das tun sie, weil sie wissen, dass diese tiefe Pflege eigentlich erwartet wird. Keine Werbung für ein Pflegeheim würde uns anpacken, wenn sie
11 Es fällt allerdings auf, dass eine technisch ermöglichte Distanzierung vom Körper des Patienten in den Gesundheitsberufen kaum gewünscht wird. Der persönliche Kontakt zum Patienten wird von ärztlichem und pflegerischem Personal sogar mehr gewünscht, als der Kontakt zu Computern und Robotern. Teilweise wird dieser Wunsch mit der Effizienz begründet: erfahrene MitarbeiterInnen in Medizin und Pflege nehmen in der Beziehung zum Patienten viele Details genauer wahr als Maschinen es können oder sie können eine Komplexität wahrnehmen, welche die Maschinen überfordern würde. Teilweise wird erkannt, dass die Tätigkeit die professionellen Helfer als Personen herausfordert und sie genau dies an ihrem Beruf schätzen.
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nur eine perfekte oberflächliche Pflege ankündigen würde. Auch die Mitarbeiter in der Pflege wünschen sich diese tiefe Pflege. Die Gefahr liegt nun darin, dass wir die oberflächliche Pflege als ausschließliche oder als die zentrale Aufgabe der Pflege verstehen und die tiefe Pflege nicht genug würdigen. Die oberflächliche Pflege können wir Robotern anvertrauen. Aber wenn wir die ganze Pflege Robotern anvertrauen, opfern wir die tiefe Pflege. Es wird sich zeigen, dass diese verkürzte Definition der Pflege nicht umsetzbar ist, denn die Menschen – insbesondere die kranken Menschen – haben ein Bedürfnis nach echter menschlicher Beziehung und damit nach echter menschlicher Wertschätzung. Eine Pflege, die nur ein biologisches Bedürfnis wahrnimmt, ist keine gute Pflege. Wir sollten deshalb ernsthaft darüber nachdenken, welche Pflege, welche Gesundheitsversorgung wir wirklich wollen und die technischen Veränderungen im Sinne eines guten Lebens für Menschen in existenzieller Not reformieren. Bedeutet das, dass wir auf Roboter in der Gesundheitsversorgung verzichten sollten? Keineswegs! Wir brauchen dringend mehr Roboter! Roboter können einen unschätzbaren Beitrag zum Bedürfnis nach Kontrolle leisten und die Pflegekräfte in ihrer körperlichen Belastung entlasten. Die Frage ist nur, was für Roboter wir brauchen. Wir brauchen Roboter, die dem Patienten das Bedürfnis nach Kontrolle befriedigen und in der selbständigen Verwirklichung seiner Ziele und Aufgaben unterstützen. Wenn es um menschliche Beziehung zwischen Ärzten oder Pflegern einerseits und Kranken und Pflegebedürftigen andererseits geht, sollen Roboter diese Beziehung fördern, ergänzen, erleichtern und nicht ersetzen oder abschaffen. Deshalb möchte ich Hersteller einladen, wenn Sie über Benchmarks für Roboter nachdenken, dieses Kriterium mit zu berücksichtigen.
LITERATUR Buber, Martin (1999): Ich und Du, Güntersloher Verlagshaus.https://archive. org/details/theroboticrevolution. Kurz, Wolfram (2005): Philosophie für helfende Berufe. Tübingen. Lechky, Olga (1985): World’s first surgical robot in B.C., The Medical Post, Vol. 21, No. 23. Liang, Amy/Piroth, Isabell/Robinson, Hayley et al. (2017): A Pilot Randomized Trial of a Companion Robot for People with Dementia Living in the Community, Journal of the American Medical Directors Association, Vol. 18(10), S. 871-887, https://doi.org/10.1016/j.jamda.2017.05.019.
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Malsow, Abraham (1943): A Theory of Human Motivation, Psychological Review, Vol. 50, S. 370-396. Thomos, Ioannis/Karakatsani, Anna/Manali, Effrosyni D./Papiris, Spyros A. (2016): Celebrating Two Centuries since the Invention of the Stethoscope, René, Théophile, Hyacinthe, Laennec (1781-1826). Annals of the American Thoracic Society, Vol. 13, Nr. 10, S. 1667-1670. Vaillant, George E (2012): Triumphs of Experience, the man of the Harvard Grant Study, Belknap Press. Wright, Jason D/Ananth, Cande V./Lewin, Sharin N. (2013): Robotically Assisted Laparoscopic Hysterectomy Among Women With Benign Gynecologic Disease, JAMA, 309(7), S. 689-698.
Vom Laborautomaten zur computerisierten Laborfabrik Die Klinische Chemie als Vorreiter EDV-gestützter Medizin in den 1950er bis 1970er Jahren Bernd Gausemeier
EINLEITUNG Wenn wir heute über Computer in der Medizin sprechen – das zeigt auch ein Großteil der Beiträge zu diesem Band – denken wir an „intelligente“ Systeme. Ob patientenberatende Apps, operierende Roboter oder Programme zur Analyse von Röntgenbildern – alle diese Techniken verkörpern die scheinbar unaufhaltsame Ablösung ärztlichen Handelns durch maschinelle Intelligenz. Dass Computer mit der Übernahme komplexer diagnostischer und therapeutischer Prozesse in das ureigene Gebiet des medizinisch geschulten menschlichen Verstandes eindringen, ist eine junge Entwicklung, aber keineswegs eine neue Idee. Schon nach dem Aufkommen elektronischer Rechentechnik in den 1950er Jahren wurde in kleinen Expertenzirkeln das Programm einer computerbasierten Diagnostik formuliert – ausgehend von der Feststellung, die immer größere Menge an diagnostisch relevanten Daten sei von einem noch so qualifizierten Individuum nicht mehr ausreichend analytisch zu durchdringen (Seising 2004). Die Entwicklung dieser in der Medizin eher randständigen, aber für die Ideengeschichte der „künstlichen Intelligenz“ bedeutenden Denkrichtung gehört zu den wenigen Aspekten der Geschichte der medizinischen Computernutzung, die bislang überhaupt Aufmerksamkeit erfahren haben. Auf größeres Interesse von Medizin- und Technikhistorikern sind daneben vor allem jene Felder der experimentellen Forschung gestoßen, auf denen der Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Innovation und dem Einsatz avancierter Rechentechnik besonders offensichtlich
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ist – speziell in der Neurobiologie und der molekularbiologischen Strukturforschung (November 2012, Stevens 2016). Wie im aktuellen Diskurs wird der Computer in der historischen Debatte vor allem dort wahrgenommen, wo er als technologische Triebkraft neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse auftrat. Diese Perspektive ist nachvollziehbar, aber sehr einseitig. Sie unterschlägt, dass Techniken der elektronischen Datenverarbeitung (EDV) in der Medizin zunächst weit weniger für die Lösung komplexer wissenschaftlicher Probleme als für administrativ-technische Aufgaben eingesetzt wurden – speziell für die Ordnung großer Mengen an Patientendaten und die Steuerung automatisierbarer Prozesse in klinischen Institutionen. Der britische Historiker Jon Agar hat die Entwicklung des Computers als einer „government machine“ nachgezeichnet, als einer technologischen Antwort auf Probleme der Organisation und Auswertung großer Informationsbestände, die sich großen staatlichen und privatwirtschaftlichen Institutionen stellten (Agar 2003). Aus dieser Perspektive sollte auch die Geschichte der Computernutzung in der Medizin betrachtet werden. Sie kann verdeutlichen, dass der Einzug der digitalen Technik nicht allein neue Erkenntnismöglichkeiten in Forschung und Diagnostik schuf, sondern vor allem die Arbeitsformen und Institutionen im Gesundheitswesen radikal veränderte. Besonders deutlich werden die Zusammenhänge zwischen Computerisierung und Strukturwandel in der Medizin am Beispiel der klinischen Laboratorien. Das klinisch-chemische Krankenhauslabor war der erste Ort innerhalb der klinischen Medizin, an dem EDV-Techniken größere praktische Relevanz erlangten (Collen/Miller 2015). Ausgehend von einer frühzeitig erreichten Automatisierung ihrer Analysepraktiken nutzte die klinische Chemie die EDV sowohl zur Kontrolle ihrer Arbeitsabläufe als auch zur Verarbeitung der von ihr produzierten Daten. Der Einzug von Computern in die Laboratorien verweist daher auf zwei zentrale Aspekte der Computerisierung – einerseits die Rolle der EDV als Mittel der Systemsteuerung, wie sie auch in industriellen Produktionsprozessen zum Tragen kamen, und andererseits ihre Nutzung für eine rationellere Speicherung und Kommunikation von Information. Während die dabei verwendeten Techniken keine außergewöhnlich komplexen informatischen Lösungen erforderten, brachte die Computerisierung der Laboratorien tiefgreifende Folgen für den gesamten Klinikbetrieb mit sich. Die Anfänge der Laborautomatisierung und computerisierung, die in diesem Beitrag verfolgt werden, berührten aus diesem Grund weit mehr als nur die technische Evolution einer medizinischen Teildisziplin. Sie waren grundlegend für den bis heute andauernden Prozess der Rationalisierung und Umstrukturierung, der klinische Institutionen seit den 1960er Jahren in quasi-industrielle Großbetriebe verwandelt hat.
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MODERNISIEREN Wird in Deutschland über Computer diskutiert, wird Rückständigkeit beklagt – so auch in einer Denkschrift, welche die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1971 zur Situation der Computernutzung in der Medizin veröffentlichte. So alarmistisch die beteiligten Experten das zunehmende Zurückbleiben gegenüber den USA ausmalten, so enthusiastisch äußerten sie sich zu den Entwicklungsmöglichkeiten der Elektronischen Datenverarbeitung (EDV) in Klinik und Forschung. Der Einsatz des Computers werde nicht nur alle Bereiche der Praxis durchdringen und verändern, sondern der Medizin auch den epochalen Schritt zu einer vollständigen Verwissenschaftlichung ermöglichen, indem er die in der klinischen Forschung vorherrschende Empirie durch exakte Methodik ersetze (Überla 1971). Entsprechend stellte der Report solche Nutzungsvisionen in den Vordergrund, in denen der Computer die Rolle einer Denkmaschine einnahm, etwa die Simulation biologischer Systeme sowie die statistische Auswertung von Patientendaten zum Aufbau einer maschinengestützten Diagnostik. Der weitere Projektierungskatalog zeigte indessen, dass diese wissenschaftlich-analytischen Aufgaben deutlich weniger konkret definiert waren als Anwendungen eher technischer Ausrichtung. Zu diesen gehörten etwa die Unterstützung von datenproduzierenden Apparaten, wie sie in der Nuklearmedizin und in der Kreislaufdiagnostik zum Einsatz kamen, sowie die Einrichtung von Datenbanken für die Patientenadministration oder Informationssysteme über toxische Substanzen. Es erstaunt, dass ein zu diesem Zeitpunkt bereits intensiv verfolgter Aspekt nur als Randerscheinung auftauchte – der Einsatz von elektronischen Rechnern in klinisch-chemischen Laboratorien. Um 1970 existierten computergestützte Analyselabore bereits an einigen deutschen Universitätskliniken. Einen besonders ambitionierten Ansatz verfolgte die Medizinische Klinik der Universität Tübingen, wo man zwischen 1965 und 1969 von der Automatisierung der Labore schrittweise zum Aufbau eines umfassenden „Diagnose-Informationssystems“ übergegangen war. Die Darstellung dieses Pilotprojekts wirkte wie eine Antithese zur DFG-Denkschrift. Erschien der Computer dort als multifunktionales Wundermittel für analytische Operationen, beschrieb ihn der Tübinger Klinikdirektor Hans Erhard Bock nüchtern als „grandios zweckhafte“ Maschine. Die Frage, ob diese menschliche Denkarbeit ersetzen oder gar eine übermenschliche Intelligenz erzeugen könne, war für ihn unwesentlich: EDV war dazu da, in der klinischen Praxis Arbeitskraft einzusparen, mechanisierbare Vorgänge zu steuern und fehleranfällige menschliche Tätigkeiten sicherer und verlässlicher zu gestalten (Bock 1970: V). Ihre Aufgabe lag vor allem in der schnellen Vermittlung und Ordnung klinisch wichtiger
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Daten. Die „zweckhafte Maschine“, die in Tübingen installiert wurde, war ein IBM-Prozessrechner, der direkt mit den Analysegeräten der klinisch-chemischen Labore verkoppelt war. Dieser technische Ansatz unterschied sich von computertechnischen Pilotprojekten anderer Großkliniken, die ihre elektronische Infrastruktur um einen Großrechner herum aufbauten. Solche Anlagen wurden aufgrund ihrer Kosten stets multifunktional für so verschiedene Aufgaben wie die Sammlung von Patientendaten, die Literaturverzeichnung oder die Lohnabrechnung genutzt. Bei der Verwendung für wissenschaftliche Zwecke stellte sich jedoch das Problem, dass die Daten nur in engen und vorbestimmten Zeitfenstern eingegeben und ausgewertet werden konnte (November 2012: 146–151). Prozessrechner waren dagegen ursprünglich für die Bedürfnisse der industriellen Regelungstechnik entwickelte Geräte, die sich besonders für die Verarbeitung von Messergebnissen eigneten. Das System diente ferner als Knotenpunkt eines Informationsnetzes, über das die behandelnden ÄrztInnen Anfragen nach biochemischen Blut- und Urinwerten direkt ins Labor schickten, von wo die Ergebnisse ebenso direkt und mit einem Minimum an Schreibarbeit zurück auf die Stationen gelangten. Indem der Computer alle aktuellen Befunde in kürzester Zeit zugänglich machte, sollte er, wie es der technische Leiter des Projekts ausdrückte, die Funktion einer „gut funktionierenden Auskunftei“ (Kenzelmann 1970: 55) erfüllen. Das Labor-Informationssystem war als erste Phase im Aufbau eines umfassenderen Klinikinformationssystems geplant, in dem weitere computerbasierte Teilsysteme in ein Großrechner-gesteuertes Netzwerk integriert werden sollten. Nicht nur in Tübingen war das klinische Laboratorium der logische Ausgangspunkt für ein solches Digitalisierungsprogramm. Dies lag nicht allein daran, dass eine schnelle und zuverlässige Versorgung mit klinischchemischen Befunden für den Krankenhausbetrieb essenziell war. Das Laboratorium wurde vor allem darum zum Schrittmacher der medizinischen Computernutzung, da es sich bereits als Vorreiter der Automatisierung etabliert hatte.
AUTOMATISIEREN Die Klinische Chemie ist ein sehr junger Bestandteil der Medizin. Ihre Fachhistoriographie kann zwar einige ihrer Methoden bis in die frühe Neuzeit zurückverfolgen und auf Ansätze einer Disziplinbildung im 19. Jahrhundert verweisen (Büttner 1994; Helmstädter 2005), eine wirkliche Etablierung im klinischen Fächerkanon vollzog sich jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst zu diesem Zeitpunkt führte der Stand der chemisch-physiologischen Analytik von Blut- oder Urinbestandteilen dazu, dass Großkliniken zentrale Diagnoselaborato-
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rien einrichteten und Arztpraxen auf die Dienste kommerzieller Speziallabore zurückgreifen konnten. Ab den 1950er Jahren nahmen die Möglichkeiten, pathologische Abweichungen von Blutwerten schnell und verlässlich zu erkennen, so rapide zu, dass die Klinische Chemie, bis dahin eine kaum selbstständige Hilfsdisziplin, zur unverzichtbaren Grundlage einer arbeitsteiligen Diagnostik wurde. Je mehr die Krankenhauslaboratorien durch die steigende Nachfrage nach blutchemischen Tests aufgewertet wurden, desto schneller und effektiver mussten sie ihre Arbeit gestalten. Das klinisch-chemische Krankenhauslabor wurde so zu einem Vorreiter der Rationalisierung und Technisierung der Klinik. Die klinisch-chemische Analysepraxis war von Beginn an durch apparative Messmethoden charakterisiert. Für die schnelle Feststellung von Blutparametern zählte weniger absolute analytische Präzision als eine verlässliche Konzentrationsbestimmung, wofür sich bereits vor dem II. Weltkrieg die Spektralanalyse mittels Colorimetern etablierte. Der Arbeitsprozess der Blutanalyse bot auch insofern Ansatzpunkte für eine Technisierung, als er eine Vielzahl von Schritten umfasste, die in größeren Laboratorien von einer Gruppe qualifizierter Hilfskräfte durchgeführt wurden. Eine Blutprobe musste vor der Messung deproteiniert, pipettiert, zentrifugiert und mit Reagenzien versehen werden. Hinzu kam ein hoher Aufwand für die Nutzung und Reinigung von Glasgefäßen. Zu Beginn der 1950er Jahre begann ein technisch beschlagener amerikanischer Biochemiker, diese Schritte zu einem mechanisierten Prozess zusammenzufassen. Leonard T. Skeggs, damals nur nebenberuflich Leiter des Laboratoriums am Veterans Administration Hospital in Cleveland, erreichte dies durch ein pumpengetriebenes Schlauchsystem, in dem die Blutproben nacheinander verdünnt, dialysiert, mit Reagenzien versetzt und schließlich an einem Colorimeter vorbeigeführt wurden, das die Messung auf eine bestimmte Substanz durchführte. Indem die einzelnen Proben durch Luftblasen getrennt wurden, entstand ein kontinuierlicher, fließbandähnlicher Strom von Messungen (Skeggs 1957). Das Gerät, der 1957 von der New Yorker Firma Technicon auf den Markt gebrachte „AutoAnalyzer“, wurde trotz aller Bedenken gegen eine solche Industrialisierung diagnostischer Datenermittlung schnell zu einem großen Erfolg. Skeggs‘ System benötigte nur wenige und einfache mechanische Komponenten und war daher sehr robust und leicht handhabbar. Aufgrund dieser Eigenschaft sollte es gegenüber technisch anspruchsvolleren Apparaten, die bald von Konkurrenzunternehmen angeboten wurden, noch lange Zeit marktführend bleiben (Vonderschmitt et al. 2004: 237f.). Seine Rolle als unumgehbares Referenzinstrument der klinischen Chemie wurde noch dadurch gestärkt, dass die ersten Nutzer der neuen Technik begannen, ihre Analysemethoden an das Gerät anzupassen. Schon wenige Jahre nach dem Marktgang des AutoAnalyzers war die klinisch-chemische Literatur voll
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von Beiträgen, welche die Adaption gängiger oder die Entwicklung neuer Methoden für den AutoAnalyzer beschrieben. Dies betraf zunächst vor allem Nachweisverfahren für häufig angefragte Blutparameter wie Natrium- und Kalium-Ionen oder Glukose, die das Haupteinsatzgebiet für das Gerät bildeten. Damit beschleunigte sich ein für die ganze Disziplin konstitutiver Standardisierungsprozess. Die klinisch-chemische Forschung der 1950er Jahre war einerseits durch ein rasantes Wachstum enzympathologischer Kenntnisse charakterisiert, welches das Spektrum an Markern für innere Krankheiten ständig erweiterte; andererseits benötigte die Praxis verlässlichere, schnellere oder einfachere Wege für die Bestimmung diagnostischer Standardwerte. Angesichts ständig steigender Nachfrage für solche Tests war es vor allem für die klinischen Chemiker von Großkliniken notwendig, den erforderlichen Aufwand an Zeit und Reagenzien zu minimieren. Möglichst sollten kombinierte Testsysteme Messungen auf mehrere gefragte Laborparameter durch einheitliche, auch durch gering qualifizierte Hilfskräfte beherrschbare Arbeitsprozesse erlaubten (Klein 1959). Das klinische Laboratorium wurde zum Testfeld der Automatisierung, da es als quasi-industrielle Einheit zur seriellen Produktion diagnostischer Daten ein Ort der Methodennormierung und Ökonomisierung war. Dabei führte die Automatisierung nicht allein zu einem massiven Produktivitätssprung – ein AutoAnalyzer lieferte an einem Tag so viele Analysen, wie sie eine Fachkraft manuell in einem Monat bewältigen konnte (Skeggs/Hochstrasser 1964: 931). Skeggs behauptete rückblickend, seine Entwicklungsarbeit sei mehr durch einen qualitativen als einen quantitativen Aspekt motiviert gewesen. Die Ergebnisse, die selbst die qualifiziertesten seiner Laborkräfte lieferten, wiesen bei Nachprüfungen stets Qualitätsschwankungen und nicht selten klare Fehler auf (Skeggs 2000: 1428). Der Prozessfaktor Mensch mit seinen Konzentrations- und Stimmungsschwankungen war für die langwierige Präzisionsarbeit im klinischen Labor nicht optimal geeignet. Auch von europäischen Experten wurde immer wieder hervorgehoben, dass die Automatisierung eine zuvor nicht erreichbare Konstanz der Analysenqualität ermöglichte, ein Desiderat, das umso dringlicher wurde, je mehr die Anforderungen an die Labore wuchsen und je mehr man auf angelernte Kräfte zurückgreifen musste (Wagner 1968: 278). Präzision und Verlässlichkeit waren, bei allem Zwang zur Produktivitätssteigerung, das wichtigste Kapital der Labormedizin. Die Verbreitung von Analyseautomaten in den Krankenhäusern Nordamerikas und Europas war entscheidend dafür, dass das klinisch-chemische Laboratorium sich als zentraler Durchgangspunkt im Arbeitsablauf moderner Großkliniken etablierte. Das automatenbestückte Labor wurde mehr noch als die radiologischen Stationen zum Inbegriff einer technisierten, arbeitsteiligen und präzisen
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Diagnostik. Die zweite Generation des AutoAnalyzers ermöglichte ab Mitte der 1960er Jahre die parallele Messung von acht Serumparametern an einer Probe; die Resultate konnte der Apparat auf einem übersichtlichen Formblatt ausdrucken (Skeggs/Hochstrasser 1964). Aus dieser Masse an Informationen ergaben sich jedoch neue Probleme. Die Messergebnisse bedurften einer rechnerischen Nachbereitung sowie der Korrektur zufälliger und systemimmanenter Fehler. Die bereinigten Ergebnisse mussten geordnet, gespeichert und den behandelnden ÄrztInnen möglichst schnell und einfach übermittelt werden. Alle diese Aufgaben machten die Laboranalyse zu einem potenziellen Einsatzgebiet für die neuen Techniken der elektronischen Datenverarbeitung. Klinische Chemiker zählten daher ab den 1960er Jahren zu den wichtigsten Trägern der Diskussion über die Computernutzung in der Medizin. In der Historiographie zur medizinischen Informatik ist diese Vorreiterrolle damit erklärt worden, dass die bereits automatisierte Datenproduktion der klinischen Labore „nur noch“ an den Computer gekoppelt werden musste (Collen/Miller 2015: 558). Diese Einschätzung ist insofern zutreffend, als in der Labormedizin „härtere“, mit der damaligen Rechentechnik leichter fassbare Daten generiert wurden als etwa in der klinischen oder radiologischen Diagnostik. In der Frühzeit der medizinischen Informatik hatten enthusiastische Pioniere die Vision einer computerbasierten Diagnostik entworfen, welche durch Verarbeitung aller verfügbaren anamnestischen und klinischen Daten wesentlich genauere und sicherere Ergebnisse ermöglichen werde als der subjektive ärztliche Blick. Dieser Optimismus wich aber bald der nüchternen Einsicht, dass diagnostisch relevante Angaben überwiegend zu uneinheitlich, uneindeutig und unvollständig, das heißt zu „weich“ für eine exaktrechnerische Analyse waren (Waxman 1966: 728). Die numerisch fassbaren Ergebnisse der klinischen Chemie boten einen der wenigen stabilen Ansatzpunkte für eine maschinelle Befundauswertung. Dennoch war der Übergang von einer mechanisierten Datenproduktion zur elektronischen Datenverarbeitung auch hier keineswegs ein trivialer Prozess. Er vollzog sich nicht, indem „der Computer“ an ein bereits bestehendes technisches System angehängt wurde, um komplexere analytische Aufgaben zu übernehmen. Vielmehr bestand er in der Integration verschiedener EDV-Techniken, durch die sukzessive einzelne Komponenten des Laborbetriebes automatisiert und miteinander vernetzt werden sollten.
ORDNEN UND IDENTIFIZIEREN Mit dem Produktivitätszuwachs im modernisierten Laboratorium wuchs auch der bürokratische Aufwand erheblich an. Die Übertragung, Zusammenfassung,
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Speicherung und Weiterleitung von Daten machte einen so großen Anteil der Arbeitsleistung aus, dass eine Technisierung dieser Schritte oft als vordringlichste Aufgabe nach der Automatisierung der Messpraktiken verfolgt wurde. Eingeleitet wurde sie durch ein Mittel, das die elektronische Rechentechnik nicht zwingend voraussetzte, aber noch lange nach der Verbreitung größerer Computeranlagen deren wichtigstes Speichersystem blieb: die gestanzte Lochkarte. Der Einsatz dieses Mediums zielte primär auf die Ersetzung des traditionellen Herzstücks klinischer Dokumentation, der Krankenakte, durch ein System ab, das sowohl platzökonomischer war als auch eine maschinelle Anordnung großer Datenmengen nach beliebigen Kriterien ermöglichte. Bereits um 1960 legten in einigen US-Großkliniken laufende Pilotversuche, den gesamten klinischen Datenanfall über Lochkarten abzuwickeln, einen Schwerpunkt auf den Fluss von Labordaten. Indem die Testanforderungen der behandelnden Ärzte sowie die Untersuchungsergebnisse des Labors jeweils auf Lochkarten verarbeitet wurden, konnte der gesamte Prozess auch ohne Verwendung avancierter Rechentechnik stark beschleunigt werden. Zudem ließen sich alle diagnostischen Befunde für einen Patienten ohne großen Zeitaufwand zusammenfassen und im Verlauf analysieren; entsprechend konnte auch das Auftreten bestimmter Parameter in größeren Patientengruppen untersucht werden. 1 Auch einzelne deutsche Kliniken nutzten zu dieser Zeit bereits IBM-Kartensysteme als Ersatz für papierne Patientenakten, stellenweise auch mit dem Ziel, klinische Messdaten wissenschaftlich auszuwerten (Büttner 1967). Für den Betriebsablauf eines Krankenhauslabors war es von größter Bedeutung, dass der Bedarf an einer Untersuchung schnell und fehlerlos von den Stationen an das Labor übermittelt wurde und die Ergebnisse entsprechend direkt dorthin zurückgelangten. In der Regel vollzog sich dieser Prozess über eine Reihe von Anforderungsformularen, laborinternen Laufzetteln und Berichtsbüchern. Dieses System manueller Überschreibungsprozesse war nicht nur zeitaufwändig, sondern auch sehr anfällig für eine Fehlübertragung von Daten oder gar die falsche Zuordnung von Resultaten. Durch die Automatisierung der Probenanalyse nahmen diese bürokratischen Prozeduren sowohl absolut als auch im Verhältnis zur eigentlichen Präparations- und Messarbeit einen immer größeren Raum ein. Die Arbeitszeit klinisch-chemischer Assistentinnen in großen Laboratorien konnte bis zur Hälfte mit Rechen- und Schreibarbeiten angefüllt sein. Wie der Medizinstatistiker Gustav Wagner vom Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg betonte, war diese Zweckentfremdung von Fachkräften nicht nur unökonomisch, sondern schürte auch Unzufriedenheit (Wagner 1968: 282). Es 1
Radin 1962; Peacock et. al. 1965; zur Bedeutung der Lochkarte in der klinischen Dokumentation vgl. (Seising 2004: 25–27).
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ist daher nicht verwunderlich, dass manche klinische Chemiker Mitte der 1960er Jahre den vordringlichen Ansatzpunkt für den EDV-Einsatz nicht in der Beschleunigung der Laborautomatisierung selbst, sondern in der Rationalisierung der rechnerischen und dokumentarischen Routinearbeiten sahen. Dafür war nicht zwingend die Integration von Computern in das Laboratorium notwendig. Das Zentrallaboratorium des Berner Kommunal- und Universitätskrankenhauses „Inselspital“ vollzog den ersten Schritt in die digitale Moderne etwa ohne Anschaffung eigener Rechentechnik. Seine Datenproduktion war, wie die des gesamten Spitals, konsequent auf Verlochkartung ausgelegt. Die Karten wurden täglich in das Universitäts-Rechenzentrum transportiert, dessen Großcomputer die Endresultate berechnete und auf Befundbögen für die behandelnden Ärzte zusammenfasste. Laborleiter Roland Richterich, einer der produktivsten und einflussreichsten Labormediziner Europas, sah diese schwerfällig erscheinende Offline-Lösung als maximal effektiven EDV-Einsatz an. Sie schloss angeblich die zuvor häufigen Schreib- und Übertragungsfehler, Personenverwechselungen sowie Doppelarbeiten bei der Archivierung aus und drückte den Anteil manueller Schreib- und Rechenarbeiten von mehr als 30% auf 10%. Für eine direkte Verkoppelung von Messautomaten und Computern, welche eine zuverlässige laufende Nachberechnung, Kontrolle und Weiterleitung von Resultaten erlaubt hätte, war nach seiner Einschätzung weder der technische Stand der Laborautomaten noch jener der verfügbaren Computersysteme ausreichend (Richterich/Ehrengruber 1968). Das Berner Modell war ein Beispiel für eine EDVNutzung, die primär auf die Rationalisierung arbeitsintensiver administrativer Prozeduren abzielte. Der Ansatz ergab sich auch aus dem Umstand, dass die Digitalisierung hier wie in den meisten Universitätskliniken mit der Installation eines Großrechners einsetzte. Laboratorien, die es sich leisten konnten, griffen Ende der 1960er Jahre außerdem auf die gerade aufkommenden Kleinrechensysteme zurück, um vor Ort Schritte wie die Nachberechnung, Plausibilitätskontrolle und Verzeichnung von Messergebnissen durchzuführen. Die Kommunikation mit den Messgeräten und die Übertragung auf den Zentralrechner fand dabei aber, aufgrund der technischen Schwierigkeit einer Online-Vernetzung, zunächst durch Lochkartentransfer statt (Borner 1968). Das bereits erwähnte Tübinger System stellte einen Versuch dar, die Computertechnik konsequent nach den Bedürfnissen des Laboratoriums aufzubauen. Die Verwendung eines Prozessrechners war darauf ausgerichtet, laufend die Ergebnisse mehrerer automatisierter Messgeräte parallel zu verarbeiten. Diese Online-Verknüpfung innerhalb des Laboratoriums, die hinsichtlich Gerätetechnik und Programmieraufwand sehr hohe Ansprüche stellte, sollte jedoch auch hier primär der Minimierung der zwischen Laborbank und
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Stationen anfallenden Schreibarbeiten dienen. Obwohl das System noch keine direkte elektronische Vernetzung mit den Nutzern auf den Stationen einschloss, zielte es auf eine Beschleunigung der Kommunikation zwischen Analytiklabor und Arzt ab. Diese vollzog sich durch Anforderungsformulare in Lochkartenform, mit denen Aufträge direkt in das Rechner-Automaten-System eingegeben werden konnten; die zusammengefassten Ergebnisse gingen täglich in Form einer „Fieberkurve neuen Typs“ auf die Stationen. Diese entscheidende „Informationsschleife“ basierte auf einer Technik, die in den Klinik-Neubauten der 1960er Jahre das Rückgrat des Informations- und Materialverkehrs bildete – einem Rohrpostsystem. Alle erhobenen Labordaten wurden nach Erstellung in einen externen Speicher eingegeben und waren so laufend verfügbar (Eggstein 1970). Der Informationsfluss zwischen Stationen und Laboratorien konnte jedoch nicht voll effektiv werden, wenn er nicht die Zirkulation der physischen Grundlage aller Analysearbeit, der Blutproben, mit einbezog. Alle Berichte über Laborinformationssysteme, die zu dieser Zeit geplant wurden, betonten die große Bedeutung und die ebenso große Schwierigkeit einer sicheren Identifikation der Probenröhrchen. Wurden diese manuell bewegt und zugeordnet, bedeutete dies einen hohen Aufwand für die Laborkräfte sowie ein erhebliches Verwechselungsrisiko. Das Interesse an einer mit den elektronischen Kommunikationsmitteln kompatiblen Lösung war so groß, dass der Marktführer IBM Mitte der 1960er Jahre ein speziell für klinische Labore entworfenes Lochkartendruckund Lesegerät herausbrachte, das parallel zur Patientendaten-Lochkarte auch Miniatur-Lochstreifen ausgeben konnte, die sich als digitale Markierung an die Probenröhrchen heften ließen (Wagner 1968: 283). Wirklich befriedigend gelöst war die automatisierte Erfassung von Proben damit aber noch nicht, da noch keine Ablesegeräte verfügbar waren, durch welche der Computer während der Messung den Probencode direkt einem digitalisierten Auftrag zuordnen konnte. Die Tübinger Techniker entwickelten eine solche Komponente gemeinsam mit dem AutoAnalyzer-Hersteller Technicon. Durch diese kleine Neuerung war es erstmals möglich, den Weg von Probe und Auftrag durch das Labor komplett mittels Geräten zu kontrollieren (Wustlich 1970). Damit näherte sich das System einem komplett durch digitalisierte Informationen gesteuerten Arbeitsprozess an, der nicht mehr von menschlichen Übertragungsleistungen unterbrochen werden musste.
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KONTROLLIEREN Die bis hier beschriebenen Ansätze betrafen Probleme der Ordnung, Speicherung und Identifikation von Daten und Dingen; sie verdeutlichten, dass klinische Chemiker die Techniken der elektronischen Datenverarbeitung zunächst dort einsetzten, wo sie möglichst viel Arbeitskraft einsparten und Fehler minimierten. Man könnte einwenden, dass dieser rationalisierende Ansatz nur periphere Aspekte, aber nicht den Kern der Computerisierung betrifft, nämlich eine selbsttätige Steuerung komplexer Prozesse und die Lösung komplexer mathematischer Probleme. Viele Pioniere der EDV-gestützten Labormedizin schätzten die Situation entsprechend nüchtern ein. Es war ein Gemeinplatz des Fachdiskurses, dass die Rede von der „Laborautomatisierung“ irreführend war, wenn man die Begriffe der Kybernetik zugrunde legte. Geräte wie der AutoAnalyzer mechanisierten nur zuvor manuelle Arbeitsprozesse. Von einer wirklichen Automatisierung, so der Hannoveraner Institutsleiter Johannes Büttner, könne erst die Rede sein, wenn eine „Selbststeuerung des gesamten Analysenprozesses auf Grund von Kontrollanalysen“ erreicht sei; das kybernetische Laboratorium erforderte also ein System, das automatisch Messfehler erkennen und korrigieren konnte (Büttner 1969: 95). Die laufende Kontrolle der Ergebnisqualität war stets ein Schlüsselproblem der Klinischen Chemie. Ein kritischer Fachvertreter wie Richterich bemerkte anfangs der 1960er Jahre, es sei deprimierend, dass in dieser Hinsicht bei der Produktion potenziell lebenswichtiger Befunde längst nicht die Standards erreicht wurden, welche Industrielaboratorien bei der „Herstellung von Medikamenten, Zigaretten oder Damenstrümpfen“ anlegten (Richterich/Colombo 1962, 532). Das System der Fehlerkontrolle, das er und andere Kollegen etablierten, basierte auf regelmäßigen Probemessungen an Standardseren. Je mehr der Probendurchsatz infolge der Mechanisierung der Laborpraxis anstieg, desto schwieriger gestaltete sich ein wirksames Kontrollmanagement. Die Verbreitung von Analyseautomaten beseitigte zwar nach vorherrschender Meinung einen Großteil der handwerklich bedingten groben Fehler, schloss aber nicht aus, dass durch Unzulänglichkeiten bei der Probenaufbereitung und den Messungen weiterhin größere („zufällige“) Fehler auftraten. Aufmerksame Ärzte oder Labormitarbeiter konnten solche deutlichen Abweichungen relativ leicht erkennen. Bei direkter Einspeisung der Ergebnisse in einen Computer war mit geeigneten Programmen – so etwa in Tübingen – die automatische Einleitung einer Nachkontrolle möglich (Eggstein et. al. 1969: 70). Einen wesentlich schwerer beherrschbaren Faktor stellten dagegen „systemische“ Fehler dar, die sich aus Materialmängeln ergaben oder den neuen Verfahren inhärent waren. Beim AutoAnalyzer trat in
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größeren Arbeitszeiträumen stets ein „Drifteffekt“ auf, eine Verzerrung der Ergebnisse durch Unreinheit oder Alterung der Reagenzien, Materialermüdung an Pumpe und Schläuchen oder Temperaturschwankungen im Labor. Darüber hinaus war es aufgrund des kontinuierlichen Durchflusssystems unvermeidbar, dass molekulare Rückstände einer Charge die Zusammensetzung der folgenden Proben beeinflussten („Verschleppung“) (Haeckel 1972: 238–242). Aufgrund dieses Problems mussten beim AutoAnalyzer regelmäßig Nachkalibrierungen durchgeführt werden, welche einen erheblichen Teil der Laufzeit beanspruchten. Manche Labormediziner sahen das Flow-Prinzip daher als technische Sackgasse an. Richterich, der mit einem schweizerischen Feinmechanik-Unternehmen ein eigenes diskontinuierliches (also auf strikte Probentrennung ausgelegtes) Gerät entwarf, wies darauf hin, dass Flow-Analysatoren aufgrund dieser Systemschwächen erst durch aufwändige Computerunterstützung die volle Leistungsfähigkeit erreichen konnten (Richterich/Greiner 1971: 191). Die Qualitätsabweichungen ließen sich nur durch ständige statistische Nachprüfung kontrollieren, die beim Arbeitstempo der Laboratorien allein durch Computer realisierbar war. Um 1970 existierten zahlreiche Ansätze zur Kalkulation solcher Abweichungen und ihrer Kontrolle durch regelmäßige Messung an Kontrollseren; der Aufbau eines computergestützten Selbstkorrekturmechanismus blieb jedoch im folgenden Jahrzehnt eine der schwierigsten Aufgaben der Labortechnik (Haeckel 1972: 241). Die rechnergestützte Qualitätskontrolle war darum von so großer Bedeutung für den Automatisierungsdiskurs, da sie das kybernetische Ideal einer kompletten maschinellen Selbstregulation verkörperte. Auch ohne eine volle Realisierung dieses Ideals setzte die Verbindung von Computertechnik und Analyseautomaten in kurzer Zeit einen Modernisierungsprozess in Gang, dessen Bedeutung weit über den Laborbetrieb hinausging. Großkliniken, die entsprechende Pilotsysteme aufbauten, boten Beispiele für eine industrialisierte Arbeitsorganisation in der Medizin; sie bewältigten eine Zirkulation von Datenmengen, wie sie im vor-maschinellen Zeitalter undenkbar gewesen wäre. Wie dargestellt, setzten solche Projekte, je nach den Möglichkeiten und Präferenzen der ausführenden Institutionen, unterschiedliche technologische Schwerpunkte. Mal fokussierten sie auf die Automatisierung der Laborarbeit selbst, mal auf schnelle Kommunikation oder auf die Vereinfachung administrativer Prozesse. Das Endziel war jedoch stets eine alle diese Teilaspekte verbindende Systemlösung, die maximale Rationalisierungseffekte für das gesamte Krankenhaus erbrachte. Nach dem technischen Stand der späten 1960er Jahre erschien durchaus eine Konzeption möglich, „in der ein großer Echtzeit-Computer durch ein Kommunikationsnetzwerk mit allen Funktionsteilen der Peripherie direkt verknüpft ist und
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in dem ein ständiger Informationsfluss erfolgt“. Umsetzbar erschien eine solche Gesamtlösung vorerst nicht, einerseits aus Kostengründen, andererseits, weil sie schwerwiegende „organisatorische Umstellungen im Betriebsablauf“ implizierte (Wagner 1968: 285f.). Tatsächlich stellte die Vision des vollmechanisierten Großlabors, das alle Klinikteile in Echtzeit mit präzisen diagnostischen Daten versorgte, hergebrachte Arbeitsstrukturen in Frage. Das Laboratorium sollte in den Augen der Automatisierungstheoretiker nur die Keimzelle für eine umfassende Strukturrevolution bilden, in der alle Betriebsteile ihre Arbeitsweisen auf computerisierte Informationserhebung und -vermittlung ausrichteten. Wie es ein kybernetisch aufgeklärter deutscher Ministerialbeamter ausdrückte, musste „der ganze Arbeitsablauf … rationalisiert werden und nicht nur der Teil, der auf die Maschine kommt. Alles andere ist ‚EDV zu Fußʻ. Eine schlechte Organisation kann nicht allein durch Automation einzelner Arbeitsprozesse zu einer guten werden“ (Gebhardt 1968: 25). Realisieren ließ sich eine solche Klinik neuen Typs am besten dort, wo die Hindernisse durch bestehende Strukturen gering waren. Nicht zufällig fanden sich die ehrgeizigsten Projekte in neugebildeten Institutionen.
VERNETZEN UND RATIONALISIEREN In den 1970er Jahren zählte die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) sowohl in der klinischen Chemie als auch in der medizinischen Informatik zu den innovativsten Einrichtungen in Deutschland. Die niedersächsische Reformuniversität war 1965 mit dem Anspruch gegründet worden, hinsichtlich der disziplinären Organisation sowie der technischen Infrastruktur neue Maßstäbe für Großkliniken zu setzen. Die äußerliche Architektur der MHH folgte dem in den 1960er Jahren vorherrschenden Imperativ einer Konzentration der Bettenkapazität in einem brutalistischen Hochhaus kombiniert mit funktional angegliederten Therapie- und Diagnoseabteilungen sowie einer möglichst weitgehenden Zentralisierung technischer Serviceeinrichtungen.2 Ihre innere Struktur ergab sich aus einer konsequenten Rationalisierung des Verkehrs von Patienten, Materialien und Informationen. Wichtigster Knotenpunkt dieser Verkehrsnetze war aus der Sicht der Planer der zentrale IBM-Großcomputer. Er steuerte nicht nur das Informationsnetz, das über EDV-Terminals in alle administrativen, klinischen und wissenschaftlichen Einrichtungen reichte, er sollte durch die Zusam-
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Grundlegend zu den Prinzipien der Klinikorganisation und -architektur in dieser Zeit (Keating und Cambrosio 2003: 30–39).
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menführung aller dort generierten Daten den ausdifferenzierten Betrieb der Hochschule zusammenhalten (Schneider 1968: 310–312). Eine ähnliche Schlüsselrolle kam dem klinischen Zentrallabor zu, das ebenfalls im Mittelpunkt eines Kommunikationsnetzes lag – der Rohrpostanlage, die den sekundenschnellen Versand von Proben erlaubte. Computerzentrum und automatisiertes Zentrallabor bildeten das Herzstück eines auf schnellen Austausch diagnostischer Daten ausgerichteten Klinikbetriebes. Neben dem Laboratorium waren auch die nuklearmedizinische und die elektrophysiologische Diagnostik mit eigenen Prozessrechnern ausgerüstet, die ihnen ermöglichten, ihre eigene Datenproduktion autonom zu steuern, zu überprüfen und zu speichern – ein Modell datentechnischer Unterzentren, das sowohl den unterschiedlichen Bedürfnissen der Anwender als auch der begrenzten Belastbarkeit des Zentralrechners Rechnung trug. Endziel des MHH-Datensystems war es, klinisch-chemische, radiologische und funktionsdiagnostische Befunde laufend in eine zentral geführte Patientendatenbank einzuspeisen, welche in der ganzen Klinik zugängliche elektronische Krankenblätter bereitstellte (Reichertz 1972: 11). Das klinisch-chemische Labor war in Hannover, wie an anderen Großkliniken, das Zugpferd der inneren Vernetzung. Die angestrebte Rationalisierung des Datenflusses entwickelte sich jedoch nicht wie gewünscht. Drei Jahre nach Erreichen der vollen Betriebsfähigkeit konnten nur 20% der in der Klinik erhobenen Labordaten auf dem Vorgesehenen Weg über das Zentrallabor direkt in den Zentralrechner eingespeist werden. Der Grund hierfür lag teilweise darin, dass noch nicht alle Stationen an das System angeschlossen waren, aber noch mehr in einer unvollständigen Realisierung der automatisierten Probenidentifikation (Reichertz 1975: 39). Auch im neukonzipierten Hannoveraner System zeigte sich, dass eine mit allen verfügbaren Mitteln realisierte Computerisierung der zentralen Betriebseinheiten nicht voll produktiv werden konnte, wenn die Organisation und Technisierung an der Peripherie nicht entsprechend Schritt hielt. Eine Erhöhung der Messgeschwindigkeit durch computergesteuerte Apparate erforderte auch eine Mechanisierung der Probenzirkulation auf allen Ebenen des Systems. Aus diesem Grund wurde etwa bei der Planung des städtischen Klinikums München-Harlaching, einem weiteren Vorzeigeprojekt deutscher Krankenhausmodernisierung, besonderer Wert darauf gelegt, dass das Zentrallabor mit einem automatisierten „Umschlagbahnhof“ für die eingehenden Rohrpostsendungen versehen war. Die eingehenden Proben wurden hier mittels EDVTechnik erfasst, sortiert und über Verteilbänder bis an die Messgeräte geliefert (Knedel 1969: 220). Von diesem Ansatz aus war es ein logischer – aber keineswegs einfach zu vollziehender – Schritt zur kompletten Integration aller Arbeitsprozesse in ein computergesteuertes Fließsystem. Als erste vollautomatisierte
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medizinische Laborfabrik gilt das 1981 eröffnete Zentrallaboratorium der Medizinischen Hochschule Kochi in Japan – auch diese war eine Neugründung, deren Planung von vornherein auf eine Minimierung des Arbeitskräfteaufwandes in den Serviceeinrichtungen abzielte. Ihr Leiter ließ sich bei der Konzeptionierung von den automatisierten Transportsystemen einer Hafenanlage inspirieren (Sasaki 1993). Es ist kein Zufall, dass solche Anleihen aus der Begriffs- und Ideenwelt der Produktions- und Verkehrstechnik die gesamte klinische Chemie prägten. Das klinische Laboratorium wurde seit den 1960er Jahren zum Testfall dafür, wie man aus der Industrie entlehnte Prinzipien der Betriebsorganisation auf die komplexen Abläufe medizinischer Institutionen übertragen konnte. Ausgehend von der Mechanisierung seiner wichtigsten Arbeitsmittel wurden zunächst sein innerer Aufbau – beeinflusst durch das Vorbild der industriellen Test- und Entwicklungslabore – und schließlich alle auf das Labor bezogenen Prozesse zum Gegenstand der Rationalisierung und Standardisierung. Eng damit verbunden war, dass Klinische Chemiker ein unter Medizinern außergewöhnliches ökonomisches Bewusstsein entwickelten. Die Effizienz der eingesetzten Systeme oder die Kosten einzelner Methoden konnten nicht zuletzt darum zum Objekt betriebswirtschaftlicher Analysen werden, weil die EDV-Verarbeitung aller relevanten Daten eine quantitative Basis lieferte (Haeckel 1982). Die Computertechnik durchdrang mithin zunehmend alle Aspekte der labormedizinischen Praxis. Mussten die Labormediziner anfangs geeignete technische Komponenten für ihre verschiedenen Arbeitsprozesse selbst adaptieren – Speicherung, Ergebnisberechnung und -korrektur, Probenidentifikation, Steuerung – entwickelte die Geräteindustrie aufgrund der hohen Nachfrage bald integrierte Systemlösungen. Der 1974 auf den Markt gebrachte AutoAnalyzer-Nachfolger SMAC verfügte über eine eingebaute Computereinheit. Für den damals gigantischen Preis von 200.000$ erhielt der Kunde eine weitreichend automatisierte Kontrolle der Funktionseinheiten der Anlage, eine Aufbereitung der Daten (zur weiteren Einspeisung in eine größere Rechenanlage) sowie eine automatische Meldung vermutlich pathologischer oder fehlerhafter Resultate (Skeggs 2000: 1433; Westgard 1977). In den 1970er Jahren begannen verschiedene führende Unternehmen aus der Büromaschinen- oder Laborgerätebranche in das Feld der klinisch-chemischen Automaten einzudringen. Bezeichnend ist, dass am Ende der Dekade der damals größte Laborchemikalienproduzent Europas, Boehringer Mannheim, zusammen mit dem japanischen Elektrotechnik-Riesen Hitachi ein sehr erfolgreiches EDV-gesteuertes Analysatorensystem auf den Markt brachte. Da die Reagenzien den Großteil der laufenden Kosten ausmachten, war es für deren Hersteller ein naheliegender Schritt, Geräte anzubieten, die auf ihre Pro-
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dukte ausgerichtet waren (Fischer 1991: 379–381). Damit wurde eine Entwicklung angestoßen, die dazu geführt hat, dass heute einige Marktführer komplette Laborstraßen mitsamt allen dazugehörigen Verbrauchsmitteln anbieten. Das Einsetzen dieser Entwicklung entsprach zwar ganz der von Klinischen Chemikern selbst entworfenen Idee einer durchrationalisierten Laboranalytik, musste bei ihnen aber zwangsläufig ein Krisengefühl hervorrufen, da sie einen großen Teil ihrer Arbeit in black boxes verschwinden ließ und damit ihre Gestaltungsmöglichkeiten stark einschränkte. Der renommierte dänische Labormediziner Poul Astrup stellte 1979 fest, dass die „Industrialisierung“ seines Faches zwar unumgänglich für die Gewährleistung seiner Kernaufgaben sei, aber zugleich seine wissenschaftliche Innovationsfähigkeit in Frage stelle. Der moderne Klinische Chemiker sei als Aufseher eines automatisierten Betriebes vor allem zu einem Experten für technische Berichte und Firmenbroschüren geworden, aber aufgrund fehlenden Austausches mit der klinischen Praxis kaum noch in der Lage, problembezogene neue Methoden zu entwickeln (Astrup 1979: 339). Derselbe Prozess, der das klinisch-chemische Labor zum Musterbeispiel der Effizienz und zum zentralen Anlaufpunkt der modernen Großklinik gemachte hatte, drohte die Stellung der Disziplin zu untergraben. Diese Entwicklung, die mit der Einführung einfacher, aber sehr produktiver Analysegeräte eingesetzt hatte, wäre ohne Computertechnik nicht möglich gewesen. Dabei beinhaltete der Begriff „Computer“ nicht allein die digitale Technik zur rechnerischen Bearbeitung von Messdaten, sondern auch Verfahren der Gerätekontrolle, Datenspeicherung, Kommunikation und Prozesssteuerung. Gerade ihre Fähigkeit, alle diese Aspekte nach dem Prinzip der digitalen Codierung einheitlich kontrollierbar zu machen, machte das große Potential der EDVTechnik aus. Sie beschleunigte nicht nur Rechenleistungen, sie schuf neuartige soziotechnische Netze. Aufgrund der hohen Kosten der Technologie nahmen diese Netze einen hochgradig zentrierten Charakter an. Zentrale Laboratorien und zentrale Rechner brachten die industrielle Logik der maximalen Ausnutzung großtechnischer Ressourcen in die Klinik. Während sich diese Entwicklung in Form fortgesetzter Kapazitätenkonzentration und des Outsourcing an kommerzielle Dienstleister bis heute fortsetzt, deuten die jüngeren Trends der Labormedizin zugleich in eine entgegengesetzte Richtung. Unter dem Leitbegriff point-of-care-testing (POCT) werden einzelne Testleistungen zurück auf die Krankenstationen verlagert – dank einer Kombination miniaturisierter Schnelltestverfahren mit mobiler Digitaltechnik zur schnellen Auswertung und Weiterleitung. Bislang haben diese Handheld-Labore wesentlich weniger öffentliche Aufmerksamkeit erregt als medizinische Smartphone-Apps zweifelhafter Qualität oder anthropomorphe Pflegeroboter mit
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praxisuntauglicher Arbeitsgeschwindigkeit, obwohl denkbar ist, dass sie ähnlich tiefgreifende Folgen für die diagnostische Praxis haben könnten wie die Automatisierungswelle, die vor einem halben Jahrhundert begann. Dass deren Bedeutung für die moderne Medizin kaum wahrgenommen wird, verdeutlicht, dass gerade die wirkmächtigsten Formen der Computerisierung dazu tendieren, sich selbst unsichtbar zu machen.
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Vom „Anschwellen der medizinischen Fachliteratur“ zur Computerunterstützung ärztlicher Entscheidungen Rudolf Seising
EINLEITUNG Vor 60 Jahren fand in Berlin das Internationale Seminar für medizinische Dokumentation und Statistik mit etwa 250 Teilnehmern statt.1 Im Tagungsgebäude, dem Anatomischen Institut der Freien Universität, hatte die Firma IBM einen Satz ihrer Lochkartenmaschinen aufgestellt und der Kieler Professor Gustav Wagner demonstrierte anhand von Beispielen, wie diese Technologie für die klinische Dokumentation genutzt werden konnte. Auch Dr. Otto Nacke aus Bielefeld sprach über verschiedene Lochkartenmethoden und Vortragende aus Amerika vertieften die Kenntnisse über diese neuen Techniken. Weitere Rechenhilfsmittel, die weniger aufwändig waren, wurden ebenfalls vorgestellt, z.B. die Funktionen der Tischrechenmaschinen von Olympia und Brunsviga, an denen die Kursteilnehmer auch anschließenden üben konnten. (Oberhoffer 1961)2 1
Das Seminar wurde vom Arbeitsausschuss „Medizin“ der Deutschen Gesellschaft für Dokumentation unter Leitung von Dr. O. Nacke (Bielefeld) in der zweiten Oktoberhälfte des Jahres 1961 im großen Hörsaal des Anatomischen Instituts der Freien Universität Berlin veranstaltet.
2
Gerhard Oberhoffer, der Autor des Berichts über diese Tagung (Oberhoffer 1962) war später Professor und Leiter der Abteilung für medizinische Statistik, Dokumentation und Datenverarbeitung der Universitätskliniken Bonn. Der genannte Otto Nacke hatte schon 1954 vor dem wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales referiert und wurde daraufhin Obmann des im Oktober 1955 gegründeten „Arbeitsausschuss Medizin“ in der Deutschen Gesellschaft für Dokumentation
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Abbildung 1: Wagner bei der Demonstration im Maschinensaal während des Internationalen Seminars für Medizinische Dokumentation und Statistik 1961 in Berlin
Quelle: Abb. in Oberhoffer 1962: 28
Die maschinelle Datenverarbeitung in der Medizin wurde hier nicht von USamerikanischen Ingenieuren oder Computerwissenschaftlern nach Europa gebracht, sondern von einigen technikbegeisterten europäischen Medizinern propagiert und weiterentwickelt, nachdem sie die neue Technik aus der Literatur oder direkt bei Besuchen in den Vereinigten Staaten kennengelernt hatten. In Deutschland waren wichtige Pioniere der Medizininformatik der im obigen Bericht ins Zentrum gestellte Gustav Wagner (1918-2006), der sich schon früh mit der Rolle von Computern in der Medizin in den USA hatte vertraut machen können3 (Abb. 3, 4) und Albin Proppe (1907-1990), in dessen Kieler Institut Wagner in den 50er Jahren Oberarzt war.
(DGD). 1966 wurde aus diesem Ausschuss die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Dokumentation und Statistik (GMDS), deren erster Präsident für die nächsten acht Jahre Gustav Wagner wurde. 3
Bald darauf wurde Wagner als Lehrstuhlinhaber für Medizinische Dokumentation und Statistik an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg maßgeblich an der Entwicklung des neuen Fachs Medizinische Dokumentation auf nationaler und internationaler Ebene beteiligt. Zu seinen Beiträgen zählen der „dermatologische Diagnoseschlüssel“, der „Allgemeine Krankenblattkopf“, das TNM-Verschlüsselungssystem
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Zunächst waren vor allem „Aktuelle Probleme auf dem Gebiet der Dokumentation und Information“ entscheidend – so der Titel eines Aufsatzes von Wagner für die Münchener Medizinische Wochenschrift zu Beginn des Jahres 1968. (Wagner 1968) Die damals viel benutzten Begriffe „Informationsflut“ oder „Literaturflut“ und „Publikationsexplosion“ bezeichnete Wagner zwar als „Phrasen“ mit denen „die derzeitige Situation auch bewusst und nicht selten im Sinne der Sensationsmache“ beschrieben werde, doch im Kern stimmte er zu: „so besteht doch über das erhebliche Anschwellen auch der medizinischen Fachliteratur kein Zweifel.“ (Wagner 1968: 134) Wagner verwies auf die Berechnungen von Derek de Solla Price zum Anwachsen der allgemeinen wissenschaftlichen Produktion (de Solla Price 1963), insbesondere auf Untersuchungen bei der National Library of Medicine (NLM) nach denen die Zahl der biomedizinischen Fachzeitschriften zwischen 1880 und 1968 von 850 (mit jährlich 20.000 erschienen Arbeiten) auf 15.000 (mit jährlich ca. einer halben Million Artikeln) gestiegen war. Speziell für die Physiologie führte er Arbeiten des US-amerikanischen Bibliothekswissenschaftlers Scott Adams (1909-1983) und des deutschen Mediziners und Medizinhistorikers Karl Eduard Rothschuh (1908-1984)4 an. Ihnen zufolge war die Literatur auf diesem Gebiet zwischen 1870 und 1960 35-mal mehr geworden. Adams nannte dies 1961 eine „medizinische Literaturkrise“, und Rothschuh hatte schon 1955 darauf hingewiesen, dass der größte Teil des hier veröffentlichten Wissens „ungenutzt“ blieb. (Adams 1961, Rothschuh 1955) Kein Wissenschaftler könne auf Fachlektüre verzichten, argumentierte Wagner damals. „Untragbar allerdings wird die Situation, wenn er dafür einen unverhältnismäßig großen Anteil an Zeit und Arbeitskraft opfern muß.“ Speziell dem praktischen Arzt sei „bei durchschnittlichen 64 Arbeitsstunden pro Woche nicht zuzumuten“ schwer zugängliche Schriften mühevoll zu suchen: „Man muß daher die Literatur an ihn heranbringen und nicht darauf warten, dass er zur Literatur kommt.“ (Wagner 1968: 135) In den USA waren dazu erste Projekte auch für den Bereich der Medizin begonnen worden. „Den Experten ist seit langem klar, daß sich diese Aufgabe in für Tumoren und „CancerNET“, das Krebsliteratur-Dokumentationssystem. Wagner war gleichzeitig Direktor des Instituts für Dokumentation, Information und Statistik am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) (1964-1986) und dessen Direktoriumsvorsitzender (1967-1968 und 1973-1974). Zudem war er Mitglied des Lenkungsausschusses des Tumorzentrums Heidelberg/Mannheim und Vorsitzender (sowie späteres Ehrenmitglied) der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Dokumentation und Statistik (GMDS). 4
K. E. Rothschuh (1908-1984), Gründer des Instituts für Theorie und Geschichte der Medizin in Münster.
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zukunftsträchtiger Weise nur durch den Einsatz elektronischer Datenverarbeitungsanlagen lösen lassen wird“ schrieb Wagner, ohne auf die „sich hier stellenden vielfältigen und komplizierten Probleme technischer, logischer, semantischer und syntaktischer Art“ näher einzugehen. Er betonte, „daß die elektronische Bearbeitung nicht-numerischer Aufgaben viel schwieriger ist als die Lösung selbst sehr umfangreicher und komplexer mathematischer Probleme.“ Speziell ging er auf das von Adams entwickelte und im Januar 1964 nach sechsjähriger Entwicklungsphase angelaufene System MEDLARS (Medical Literature Analysis and Retrieval System) ein, in dem damals ca. 2400 medizinische Fachzeitschriften (mit jährlich 175 000 Artikeln) ausgewertet wurden, somit also bis zu diesem Zeitpunkt etwa eine halbe Million medizinischer Publikationen auf Magnetband gespeichert und zur maschinellen Auswertung verfügbar waren. MEDLARS erstellte den monatlichen Index Medicus und Spezialbibliographien für die NLM, und bis zum Jahresende 1966 hatte es auch etwa 8000 individuelle Suchanfragen der Benutzer bearbeitet. (Wagner 1968: 136)
KRANKENBLATTDOKUMENTATION AUF LOCHKARTEN Als Direktor des Heidelberger Instituts für Dokumentation, Information und Statistik des DKFZ schrieb Wagner im Jahre 1966 den Aufsatz „Computer – Hilfsmittel der modernen Medizin“. Der Computer sollte damals vor allem bei der Dokumentation klinischer Daten und Befunde helfen, denn hier brach eine enorme Informationsflut ein, wie Wagner verdeutlichte: „So verfügt, um nur ein Beispiel zu nennen, ein mittleres Krankenhaus heute über 10-20, eine medizinische Universitätsklinik über 30-40 laufend und über weitere 60-80 bei Bedarf durchgeführte biochemische Reaktio-nen. Der Umfang dessen, was in der Medizin dokumentiert werden könnte, ist schier unübersehbar geworden. Wir stehen – wie Proppe es formuliert hat – vor einem »embarras de richesse«. Diese heute in der Klinik anfallende Fülle von Daten und Befunden lässt sich in herkömmlicher Weise nicht mehr bewältigen. Hier sind elektronische Datenverarbeitungsanlagen echte Hilfen, auf die moderne Medizin einfach nicht mehr verzichten kann.“ (Wagner 1966: 304)5
5
Wagner verwies hier auf den zwei Jahre zuvor erschienenen Artikel seines früheren Kieler Vorgesetzten, der aus einem Vortrag hervorging, den dieser auf der 8. Jahrestagung des „Arbeitsausschuß Medizin“ der Deutschen Gesellschaft für Dokumentation (14.-16. Oktober 1963) in Köln gehalten hatte (Proppe 1964).
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Albin Proppe, der seit dem 1. Oktober 1950 Professor und Direktor der Hautklinik der Christian-Albrechts-Universität in Kiel war, berichtete in „Die ärztliche Aufgabe und die Dokumentation“ über die an seiner Klinik gesammelten Erfahrungen mit „einer maschinell auswertbaren Dokumentation“, genauer der „Einrichtung einer Befunddokumentation mittels des Lochkartenprinzips nach Hollerith“, die er – unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und später auch vom Kultusministerium Schleswig-Holsteins „durch Anmietung von Locher, Prüfer und Fachzählsortiermaschine verwirklicht“ hatte. In diesem Projekt ging es darum, den „ungeheuren Erfahrungsschatz“ von Krankenblättern bzw. Ärzteaufzeichnungen „irgendwie ans Tageslicht zu bringen und nutzbar zu machen. Mit Hilfe moderner Datenverarbeitungsmaschinen wäre das vielleicht nicht ganz unmöglich; sind doch die Archäologen längst dazu übergegangen, die Merkmale ihrer Fundstücke auf Lochkarten zu archivieren, um die Sammlungen auswertbar und damit der Forschung zugänglich zu machen.“ Krankengeschichten müssten daher „lediglich die Form eines Erhebungsbogens – streng genommen: eines Lochbelegs – annehmen, und dann bedürfte es nur noch kodifizierbarer Stichworte. Das ist alles.“ (Proppe 1964: 11) Zwischen 1953 und 1962 waren Tausende Krankenblätter aus Ambulanzen und Krankenstationen als Lochkarten archiviert worden. Dazu kamen die ebenfalls auf Lochkarten übertragenen Daten über Blutbilder, serologische Befunde, epikutane Testungen und Röntgenprotokolle aus den Labors, die Daten aus Schleswig-Holsteins Lupuskartei und andere spezielle Daten. „Schließlich folgt die große Zahl der vom Urmaterial abgeleiteten Sekundärkarten, beispielsweise die Verknüpfung der epikutanen Testreaktionen mit meteorologischen Werten oder die verschiedenen aus Körpergröße und Gewicht errechneten Staturindizes.“ Das Lochkartenarchiv in Proppes Klinik enthielt 1964 ca. eine halbe Million Karten: „Es versteht sich, daß sich eine solche Menge – abgesehen von allen übrigen noch sehr viel schwerer wiegenden Gründen – schon allein ihrer Größe wegen nur noch maschinell beherrschen lässt.“ (Proppe, 1964, S. 12) Die Verlegenheit, in der sich die Kliniken wegen der großen Mengen an medizinischen Daten befanden, betraf die Suche nach Lösungen, sie verschwand aber nicht nachdem sie durch Maßnahmen der Maschinisierung scheinbar erfolgreich war: „Nach Einführung der Lochkarten in die Klinik lag es natürlich nahe, sich über die Fehlerhaftigkeit der Befunderhebung und der Dokumentation einen Überblick zu verschaffen. In einer Reihe von Arbeiten aus der Klinik ist über erstaunliche Ergebnisse dieser Untersuchungen ausschnittsweise berichtet worden…“6 Fehler schlichen sich beispielsweise ein, weil „die in einem großen 6
Proppe zitiert hier Arbeiten aus seiner Klinik: (Proppe/Fabry 1955, Proppe/Wagner 1956).
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Material in signifikanter Weise bei den Endziffern der Leukozytenzahlen zu beobachten sind, auf einer für die technische Assistentin jeweils charakteristischen Bevorzugung oder Vermeidung bestimmter Zahlenwerte beruhen“ (Proppe/Dörner 1950), oder weil „bei der Bestimmung des spezifischen Harngewichts im Routinebetrieb der Stationsarbeit die Urometerwerte abgelesen werden, ohne daß die von den Eichbedingungen abweichenden aktuellen Meßtemperaturen des Harns ordnungsgemäß Berücksichtigung fände.“ (Proppe/Gerauer 1952) – Fehler wohlgemerkt, die auf menschliches Falschverhalten zurückgeführt wurden, z.B. aufgrund von Ermüdung o.ä. (Proppe 1964: 14) Wagner hatte aus Proppes Klinik die erste Veröffentlichung über solche „Fehler“ geschrieben und daher gefolgert, dass das Dokumentationsverfahren mit Hilfe von Lochkarten „sich in der Kliniksführung als erzieherisches Mittel ausgezeichnet bewähre“ doch Proppe veranlasste ihn, „das Bedenken hinzuzufügen, daß offenbar kein Mensch imstande ist, auf welchem Gebiet auch immer fehlerfrei zu arbeiten.“ (Proppe 1964: 15) Auch in späteren mit Wagner gemeinsam publizierten Arbeiten vergaß Proppe nicht, entsprechende Bemerkungen einzuflechten. (Proppe/Wagner 1956, Proppe/Wagner 1957) So wollten die Autoren „mit aller Schärfe zum Ausdruck bringen, daß uns der Versuch, die Crew einer Klinik mittels maschineller Methoden zu qualifizieren, zur Verantwortung zu ziehen und damit zu beherrschen, in höchstem Grade bedenklich – und wir möchten eigentlich sagen; verbrecherisch – erscheint.“ (Proppe 1957: 93) Auch in seinem Vortrag auf der 24. Tagung der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft in Düsseldorf (10.-13. September 1958) plädierte Proppe für einen ethischen Kodex, für die „zählenden“, dokumentierenden, Lochkarten stanzenden MitarbeiterInnen, weil es nicht sicher sei, „ob ein Mensch, der zählt, den Zustand der Welt erkenne; daß es aber gewiß sei, daß er – nolens volens – ihn verändere.“ (Proppe 1964: 15) Viel später verwies er noch deutlicher darauf, dass die Computerisierung in der Medizin nur so gut funktionieren, wie der Mensch agieren kann: „Schon in den Anfängen des 19. Jahrhunderts treten in der klinischen Untersuchung eines Kranken pflichtige Erhebungen von Befunden auf, deren Unterlassung die Verantwortung des Arztes belasten würde, obgleich sie in gegebenen Fällen als höchst überflüssig erscheinen können: regelmäßige Bestimmungen der Temperatur, der Pulsfrequenz, des Blutdrucks, des Blutbildes, des Gewichtes beispielsweise. Seither ist das Programm solcher anscheinend beziehungslosen Untersuchungen enorm angewachsen. Läuft es ab, so heißt as im Klinikjargon, einen Kranken »durch die Mühle drehen«. Es handelt sich um eine typische Automation zur Erfassung des Allgemeinzustandes. Die Automation in der ärztlichen Diagnostik ist also nicht erst eine Erfindung der modernen Zeit. Der Sinn der Automatisierung besteht dabei darin, den gegenwärtigen Zustand des Untersuchten in
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jedem Falle ausreichend zu erfassen, d.h. in der Sicherung gegen die Zufälligkeit, einen für die Beurteilung oder Behandlung wesentlichen Befund zu übersehen.“ (Proppe 1966: 136)
Dennoch befürwortete Proppe die maschinelle Datenverarbeitung in der Medizin entschieden, und auch seinen Artikel von 1964 hatte er optimistisch beendet: „Es dürfte unzweifelhaft sein, daß die moderne Entwicklung der Medizin einen über alle hier aufgezeigten ungewöhnlichen Perspektiven gewiß noch hinausgehenden, sehr erstaunlich und überraschend revolutionären Weg nehmen wird. Wenn wir die Zeichen richtig verstehen, so ist dieser in den angelsächsischen Ländern bereits betreten worden. Die Technik der Elektronik mit ihren durchaus realen, in unserer bisherigen Vorstellungswelt jedoch vorerst noch märchenhaft erscheinenden Möglichkeiten einer dokumentarischen Erfassung, Ordnung und Auswertung medizinischer Befunde und Beobachtungen und mit ihren Operator- und Monitor-Systemen in der Betreuung der Kranken hilft, unwiderstehlich die Bahn zu brechen.“ (Proppe 1964: 17, Wagner 1963)
ANFÄNGE DER COMPUTERMEDIZIN IN DEN USA „It is not surprising that informatics should have been first diffused into the field of medicine by medical librarians and educators“ schrieb der amerikanische Pionier der Medizininformatik Morris Frank Collen (1913-2014) rückblickend im Jahre 1986. (Collen 1986: 778) In seiner vor einem Vierteljahrhundert erschienenen „History of Medical Informatics in the United State“ formulierte er jedoch differenzierter, dass diese „diffusion of informatics into medicine in this country was the result of many forces acting on both medical professionals and medical organizations. Major roles in the dissemination of this new field were played by medical publications, by professional bioengineering and medical organizations and their conferences, by commercial organizations, by government agencies, and by medical schools and universities.“ (Collen 1995: 44) Collen verwies auf Arbeiten von Robert Steven Ledley (1926-2012) und Lee Browning Lusted (1922-1994) und ein 1987 veröffentlichter Rückblick Ledleys auf diese Anfänge ist aufschlussreich:7
7
Siehe dazu ausführlichere Darstellungen: (Seising 2004) und (Seising, 2005: 272289).
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„The idea of using computers to assist in medicine had, of course, been discussed from time to time by many people, but a specific idea of how to go about it had not been published. My attempts in the area were actually first made a few years earlier while I was at the Bureau of Standards where I put together a deck of the McBee key sort cards (the cards with the holes around the margins) for diseases of the tongue. Each card was a disease, and the symptoms related to the disease of the card were punched out to the card margin. Then, if needles were pushed through the edge hole of the deck of cards corresponding to a selection of symptoms, the cards that dropped would be only those corresponding to diseases having these symptoms. I even made a little device for facilitating the shaking and dropping of the cards, and as I carried the deck and my device around the halls of NBS, it didn’t take the physicists more than a fraction of a second to say to me, „Oh, you’re going to automate medical diagnosis, huh?“ Of course, the cards did not truly carry out the logic that was required, and of course no probabilities are involved. But this work led Dr. Lusted and I to our first research accomplishment in medical informatics in 1959.“ (Ledley 1987: 34)
Lusted hatte vor dem Krieg in Harvard Mathematik und Physik, danach Medizin an der Harvard Medical School studiert und sich 1951 als Radiologe spezialisiert. Ledley hatte zunächst als Zahnarzt seinen Militärdienst abgeleistet und studierte anschließend Mathematik und Physik. Beide fanden großes Interesse an der Digitalcomputertechnologie und beide waren mit der „Wissensexplosion“ konfrontiert: „There was concern expressed in medical journals that a knowledge explosion was enveloping the field of medicine and there was speculation that computers could be used to help solve some of the problems. I felt that medical data could be processed by computer and that medical information could be made more useful to physicians by repacking it in a more usable form. I wasn’t sure how this could be done but the idea of making information more useful by making it more usable stuck with me.“ (Lusted 1987: 173)
Lusted war 1956 und 1957 am Clinical Center of the National Institutes of Health (NIH). Danach ging er als Berater für allgemeine Anwendungen elektronischer Methoden in der Medizin ans NIH vom Airbone Instruments Laboratory (AIL), Minelao, Long Island. Dort diskutierte er gelegentlich mit William J. Horvath vom dortigen Medical and Biological Physics Department über die Möglichkeiten der rechnerunterstützten Diagnostik. Horvath hatte einen Artikel von Ledley über Diagnostik Logik und gelesen. (Ledley 1955) Er stellte den Kontakt zwischen beiden her, die sich bald darauf trafen:
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„We found that we had been thinking about similar problems and possible solutions. The problem were caused by the large and increasing volume of medical literature. The possible solutions involved mathematical and computational aids for the physician.“ (Lusted 1987: 175)
Bevor ich auf die inhaltliche Pionierarbeit in der Computermedizin weiter eingehen werde, soll noch ein Blick auf deren „mechanische Vorgeschichte“ geworfen werden.
MECHANISIERUNG IN DER MEDIZINISCHEN DIAGNOSTIK Zwischen Symptomen und Erkrankungen spannt sich ein Raum auf, der mithilfe logischer bzw. mengentheoretischer Relationen strukturieren werden kann, und medizinisches Wissen genannt wird. Über dieses medizinische Wissen ständig und vollständig verfügen zu können, erschien Ärztinnen und Ärzten allerdings völlig illusorisch zu sein. Nie ließen sich alle Eventualitäten berücksichtigen, sehr oft blieben unwahrscheinliche, seltene oder vergessene Krankheitsphänomene unbeachtet. Diese „Unvollständigkeit“ thematisierten damalige Mediziner in Vorworten ihrer Lehrbücher; so schrieb Roscoe Leroy Pullen (1916-1960) von der University of Missouri School of Medicine: “that errors in diagnosis are more often errors of omission than of commission“ (Pullen 1944: vii), und Logan Clendening (1884-1945) von der University of Kansas verwies auf „Fehler durch Vernachlässigung“: „How to guard against incompleteness I do not know. But I do know that, in my judgement, the most brilliant diagnosticians of my acquaintance are the ones who do remember and consider the most possibilities. Even remote ones should be brought up even though they may be immediately rejected“. (Clendening/Hashinger 1947: 59f)
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Abbildung 2: Mechanische Tafel
Quelle: Nash 1954: 874.
Abhilfe sollten hier mechanische Diagnosehilfsmittel schaffen und eines der ersten war das Logoscope des britischen Arztes und Direktors des South West London Mass X-Ray Service Firmin A. Nash: „What is needed is a device which will answer the question „What are the possible causes of the group of symptoms and signs I have elicited from my patient?“ Theoretically a giant table containing hundreds of vertical columns of symptoms and signs and hundreds of
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horizontal rows of diseases would suffice, but such a table would be as big as the wall of a room and for too unwieldy for practical use. […] Unfortunately if one makes a table big enough to include as much data as would occupy a whole book of narrative type, the thing becomes utterly unmanagable. For any particular problem we have in mind, the table is cluttered with irrelevant data that obscure the data and their relationships that we are trying to trace.“ (Nash 1954: 874, Nash 1960)
Das Instrument ähnelte einem Rechenschieber. Auf der einen Seite des Rahmens war ein Index von insgesamt 337 Krankheiten angeordnet. Parallel dazu konnten bis zu sieben von 82 möglichen Stäbchen in den Rahmen eingelegt werden, auf denen jeweils in verschiedenen Höhen Symptome und Zeichen verzeichnet waren (Abb. 2). Ein „Schieber“ („cursor“) konnte über den Rahmen geschoben werden, wobei er über die verschiedene Symptom- und Zeichenkombinationen glitt, denen so die jeweils zugehörigen wahrscheinlichsten Diagnosen aus den 337 Krankheiten des Index’ zugeordnet wurden (Nash 1954: 874). Ein Jahr später schlug der französische Ophtalmologe François Paycha ein System zur Differentialdiagnose der Augenkrankheiten vor, bei dem alle Symptome auf Lochkarten übertragen wurden. (Paycha, 1955a; Paycha, 1955b) Ähnliche Vorschläge kamen bald auch von anderen Medizinern und Wissenschaftlern. (Baylund/Baylund 1954, Immich 1952) Gegen Ende der 1950er Jahre ließen sich Martin Lipkin und James D. Hardy von den Leistungen der ersten Großrechner inspirieren, darüber nachzudenken, wie diese in medizinischer Forschung und ärztlicher Praxis genutzt werden könne. Im Department of Medicine des New York Hospital-Cornell Medical Center suchten die beiden Mediziner nach Möglichkeiten, die bei ihnen angekommene Informationsflut zu meistern. Lipkin und Hardy fragten, wie effizient die damaligen Rechen- bzw. Sortiermaschinen mittels Karten und Nadeln bei der Suche nach Korrelationen zwischen Symptomen und Laborwerten sein könnten, und dazu lagen schon vereinzelte Versuchsergebnisse vor. (Brodmann et al. 1951) Sie selbst hatten ein Projekt mit Diagnosedaten hämatologischer Fälle durchgeführt. (Lipkin/Hardy 1958) Aus Standardlehrbüchern zur Hämatologie hatten sie 26 Blutkrankheiten für ihre Studie ausgewählt und alle dafür charakteristischen Symptome aufgelistet. Diese Daten speicherten und sortierten sie mit einem von ihnen schon drei Jahre zuvor entwickelten Karten-Nadel-System (Abb. 3). Jede Karte war 8x10,5 inch. groß und am Rand in insgesamt 138 kleine Flächenstücke unterteilt, in die jeweils ein kleines Löchlein gestanzt wurde. Für jede Krankheit wurde durch Übertragung der sie kennzeichnenden Symptome, Zeichen und Befunde auf die Kartenränder ein „Mastercode“ angefertigt: Auf der ersten Seite des Kartenrandes wurden die Daten der entsprechenden Krankengeschichte angebracht, Daten der körperli-
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chen Untersuchung auf der zweiten Seite. Für die Daten aus der periphären Blutuntersuchung war die dritte Seite und für Knochenmarksuntersuchungs- und andere Laborwerte die vierte Seite vorgesehen. Jede Karte repräsentierte eine Krankheit. Gab es für diese ein bestimmtes Symptom, so wurde die Karte an dem für dieses Symptom vorgesehenen Platz mit einer Kerbe versehen. Dadurch wurde das ursprünglich dort befindliche Löchlein entfernt. Gab es keine Beziehung zwischen diesem Symptom und der durch diese Karte repräsentierten Krankheit, so wurde dieser Platz nicht eingekerbt und das Löchlein blieb bestehen. Somit war jedes dieser Flächenstücke am Kartenrand ein binärer Informationsträger: mit einer Kerbe versehen oder nicht. Jede Karte war Träger einer großen Menge binärer Information zur Symptomatik der entsprechenden Erkrankung. Jedes Set solcher Karten konnte nach einzelnen Informationseinheiten sortiert werden: Suchte man z.B. alle Krankheiten, die durch ein einzelnes Ergebnis der körperlichen Untersuchungen gekennzeichnet sind, z.B. einer vergrößerten Milz, so führte man einen Metall- oder Plastikdraht durch die diesen Befund darstellenden Löcher, der zu einem Stapel angeordneten Karten. Hob man den Draht daraufhin an, so fielen alle Karten hinunter, die eine u.a. durch eine vergrößerte Milz erkennbare Krankheit repräsentieren, denn aufgrund der Einkerbung wurde die Karte vom Draht nicht gehalten. Mit mehreren Drähten ließen sich auch Krankheiten aufgrund von Mehrfacheingaben aussortieren. Die auf den Karten als Code festgehaltenen diagnostischen Kriterien konnten dann mit den Hospital-Daten verglichen werden.
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Abbildung 3: Kerbkartensystem von Lipkin und Hardy
Quelle: Lipkin/Hardy 1958: 119
COMPUTERISIERUNG IN DER MEDIZINISCHEN DIAGNOSTIK Die elektronischen Computer der 1950er Jahre hatten für damalige Vorstellungen immens große Kapazitäten zur Speicherung und Verarbeitung von Daten. Es lag daher nahe, dass technik-affine Mediziner wie Ledley und Lusted erwogen, die neuen Apparate auch heranzuziehen, um Auslassungsfehler bei der medizinischen Diagnose zu vermeiden. Konnte ein solcher Computer so programmiert werden, dass die Zeichen und Symptome der Patienten analysiert und eine Diffe-
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rentialdiagnose gestellt würde? Und wenn dies möglich wäre, könnten Computer dann nicht auch logischen Analyseprozessen folgen, die ihrer Meinung nach die Überlegungen der Ärzte bei der Diagnostik leiteten? Wenn deren Diagnosen durch mentale Prozesse zustande kommen, welche mentalen Prozesse waren es genau? (Lusted/Ledley 1960: 214) Im Jahre 1959 wurden die Weichen zum verstärkten Computereinsatz in der US-amerikanischen biomedizinischen Forschung gestellt: Am 14. Januar fand am Rockefeller Institute eine Conference on Diagnostic Data Processing statt (Eden 1960: 232) und am 9. und 16. Juli wurden zwei Hearings über den Gebrauch automatischer Datenverarbeitung in der Medizin vor dem von Senator Humphrey geleiteten Subcommittee on Reorganization and International Organization veranstaltet. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass entsprechende Entwicklungen von der Regierung organisiert und gefördert werden sollten. Ledley, inzwischen Associate Professor für Elektrotechnik an der George Washington University und als Mathematiker für die Datenverarbeitungssysteme des National Bureau of Standards zuständig und Lusted, nun Associate Professor an der University of Rochester School of Medicine, veröffentlichten in diesem Jahr ihren Artikel Reasoning Foundations of Medical Diagnoses, (Ledley/Lusted 1959) in dem sie formale Logik, Wahrscheinlichkeitstheorie und Spieltheorie für die medizinische Diagnostik aufbereiteten. Diese mittlerweile klassische Arbeit stand am Beginn einer ganzen Reihe von Publikationen zur Medizininformatik und seine Autoren wurden zu Pionieren dieses Fachs. Sie argumentierten, dass medizinische Diagnosen auf logischen Schlüssen beruhen, die auf Information aus zwei Quellen speisen: 1) 2)
Symptome der Patienten, die auf weitere Information schließen lassen. Medizinisches Wissen, also die Beziehungen zwischen Symptomen und Erkrankungen.
Unter den Überschriften „Learning Device“ und „Learning Machine“ behandelten die Autoren dann damalige Experimentierwerkzeuge zur Implementierung der analysierten logischen und probabilistischen Prinzipien. Für realistische Anwendungen, so schätzen sie, müssten ca. 300 mögliche Krankheiten und ca. 400 Symptome berücksichtigt werden. Symptome-Krankheiten-Sets dieser Größenordnung entsprächen Lochkarten mit bis zu 2700 Spalten, das sind mehr als 10200 Spalten! Dies war für die mit Lochkarten arbeitende Hardware nicht praktikabel; die logische Analyse des ärztlichen Diagnoseprozesses durch die Autoren sei hier kurz skizziert (vgl. Abb. 3):
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„Attribute“ eines Patienten, etwa das Anzeichen „Fieber“ oder die Krankheit „Lungenentzündung“, wurden durch Kleinbuchstaben x, y, ... dargestellt und die Aussagen über das jeweilige Attribut dann durch die entsprechenden Großbuchstaben X, Y, .... Steht Y für die Aussage „Der Patient hat das Attribut y.“, dann ist deren Negation die Aussage Y: „Der Patient hat nicht das Attribut y.“ Der Ausdruck X·Y repräsentiert die kombinierte Aussage „Der Patient hat die Attribute x und y.“, während der Ausdruck X+Y die folgende Kombination bedeutet: „Der Patient hat Attribut x oder Attribut y oder beide.“ „Wenn der Patient das Attribut x hat, dann hat er Attribut y.“ wird folgendermaßen symbolisiert X Y. Anhand von Abbildung 4 erläuterten die Autoren diese Zusammenhänge. Die von links oben nach rechts unten schraffierten Patientenfiguren in Abb. 4(a) haben das Attribut y, für sie gilt also die Aussage Y. Die entgegengesetzt schraffierten Patientenbilder haben ein zweites Attribut x. Abb. 4(b) zeigt alle Patienten, für die Aussage X·Y gilt. Ähnlich zeigt Abb. 4(c) alle Patienten, für die Aussage X+Y gilt; Abb. 4(d) zeigt schließlich die vier durch diese logischen Operationen entstandenen Patientenklassen, und Abb. 4(e) illustriert eine Patientenpopulation, für die XY gilt. Bei Beschränkung auf zwei Attribute,8 nämlich Symptome (S) und Erkrankungen (D) gilt (für i = 1, ..., n und j = 1, ..., m): S(i): Der Patient hat Symptom i. D(j): Der Patient hat Erkrankung j.
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Um auch mehr als zwei Attribute und auch kompliziertere Ausdrücke betrachten zu können, führten Ledley und Lusted „Boolesche Funktionen“ f (X, Y, ...) ein, um auch entsprechende Kombinationen zu formulieren.
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Abbildung 4: Logische Kombinationen von Attributen
Quelle: Ledley/Lusted 1959: 10
Entsprechende Beispiele aus einem Lehrbuch (mit i = 1, 2; j = 1, 2) lauten: Wenn der Patient die Erkrankung 2 hat, dann hat er das Symptom 1: D(2) S(1) Wenn der Patient Erkrankung 1 und nicht Erkrankung 2 hat, dann hat er Symptom 2.: D(1) D(2) (2) Wenn er Krankheit 1 und nicht Krankheit 2 hat, dann hat er nicht Symptom 2.: D(1)·D(2) S(2) Wenn er entweder eines von beiden oder beide Symptome hat, dann hat er eine von beiden oder beide Erkrankungen: S(1) + S(2) D(1) + D(2)
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Solche logischen Relationen ließen sich relativ einfach für den Computer umsetzen.
DER COMPUTER ALS MEDIZINISCHER ENTSCHEIDUNGSUNTERSTÜTZER? Als Gustav Wagner von der Dermatologie zur Medizinischen Dokumentation und Statistik gewechselt war, blickte er auf eine mehr als 10-jährige persönlich erlebte Geschichte der Computer als „Hilfsmittel der modernen Medizin“ zurück. Inzwischen wurden in der Bundesrepublik Deutschland jedes Jahr mehr als 9 Millionen Krankenblätter ausgefüllt, die an vielen Kliniken inzwischen „dokumentationsgerecht“ waren. Der an Wagners Heidelberger Institut entworfene und von der GMDS zur Einführung empfohlene „Allgemeine Krankenblattkopf“ wurde seit Januar 1966 in allen Heidelberger Universitätskliniken benutzt und in der gesamten Bundesrepublik Deutschland lag die Zahl der Kliniken, die lochkartengerechte Krankenblattköpfe verwendete, über 100. Auf seinen USAReisen als DKFZ-Mitglied konnte Wagner sich zudem davon überzeugen, dass man dort „stellenweise bereits einen Schritt weiter gegangen“ war: Hier wurden die Daten von maschinengerecht ausgefüllten Formblättern in den Computer übertragen, und dieser – kein Arzt – sammelte zur Patientenentlassung alle zugehörigen Daten, fasste sie zur Krankengeschichte zusammen und druckte sie in Sekundenschnelle. (Wagner 1966: 305) (Abb. 3, 4) Um ein solches Verfahren in größerem Umfang einsetzen zu können, bedurfte es allerdings einer klaren Terminologie und Begriffsordnung bzw. –normierung: „Die bisher vorliegenden nationalen und internationalen Verzeichnisse von Krankheiten und Todesursachen haben sich als nicht sehr brauchbar für die speziellen Zwecke einer klinischen Dokumentation erwiesen.“ Zu diesem Zweck hatte Wagners Mitarbeiter Herbert Immich9 „einen fünfstelligen klinischen Diagnoseschlüssel für alle Fachsparten der klinischen Medizin kompiliert, der mehr als 10.000 verschiedene Diagnosen und zusätzlich rund 5000 Synonyme enthält“ (Wagner 1966: 305).
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Herbert Immich (1917-2002), war Truppenarzt im 2. Weltkrieg und praktischer Arzt und Internist am Landeskrankenhaus Schleswig-Holstein. 1965 wechselte er zum DKFZ nach Heidelberg, 1967 habilitierte er sich und leitete von 1971 bis zu seiner Emeritierung 1982 das Institut für Medizinische Dokumentation, Statistik und Datenverarbeitung der Universität Heidelberg. Er war späteres Ehrenmitglied der GMDS, Mitglied im Bundesgesundheitsrat und Beauftragter der WHO.
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Auch über erste Versuche zur maschinellen Datenerhebung wusste Wagner aus den USA zu berichten: An der Mayo-Clinic in Rochester, Minnesota wurde schon in den ersten 1960er Jahren der so genannte MMPI-Test (Minnesota Multiphasic Personality Inventory) entwickelt, (Swenson/Pearson 1964) eine „Fragebogenmethode zur automatischen Interpretation der Persönlichkeitsstruktur“, deren 550 Fragen auf insgesamt 23 Lochkarten gedruckt (Abb. 5) und von den Patienten im mark-sensing (dem im Deutschen so genannten Zeichenloch- oder Markierungsleseverfahren) beantwortet wurden. Zu antworten war lediglich mit „true“ und „false“ möglich, und der Computer erstellte daraufhin ein Persönlichkeitsstrukturbild des Patienten (Wagner 1966: 307), (Abb. 6). Nachfolgende Systeme, die dann auch mit Terminal und Drucktasten ausgestattet waren, ließen zusätzliche Antwortmöglichkeiten, wie ‚ich weiß nicht‘ oder ‚ich verstehe nicht‘ zu. Nach Eingabe der Antwort auf eine Frage wurde davon abhängig die nächste Frage gestellt. Dieses „Verzweigungsprogramm“ (Abb. 7) bot die Möglichkeit für ein „Zwiegespräch zwischen Patient und Computer“, wie Wagner es damals nannte, bei dem „rund 95% aller anamnestisch relevanten, d.h. für die Behandlung des Patienten wichtigen Angaben erfaßt werden. Selbstverständlich soll durch derartige Praktiken das notwendige Gespräch zwischen Arzt und Patient nicht ersetzt werden; es bedeutet aber für den in der Regel überlasteten und gehetzten Arzt einen erheblichen Zeitgewinn, wenn ihm für dieses Gespräch bereits eine vom Computer ausgedruckte Liste der Patientenantworten vorliegt und er sofort gezielt auf die relevanten Angaben des ‚Mensch-MaschineDialogs‘ abheben kann.“ (Wagner 1972: 50) Keinesfalls sollte der Arzt als Diagnostiker durch den Computer ersetzt werden! Dies betonten Wagner und viele andere Mediziner in den 1960er Jahren stets im gleichen Atemzug, in dem sie vom „Computer als Hilfsmittel der Diagnostik“ sprachen und schrieben. Für die ersten und allesamt in den Vereinigten Staaten durchgeführten Versuche zur automatischen Diagnose zitierte Wagner die logisch-mathematischen Projekte von Ledley und Lusted (Ledley, Lusted, 1961) bzw. von Warner et al.,(Warner et al., 1961) das auf der Faktorenanalyse basierende Verfahren von Overall und Williams (Overall/Williams 1961), das mit der Maximum-Likeliood-Bestimmung arbeitende System von Collen (Collen 1965) und das auf Logik-Schritten bauende Verfahren von Bonner et al. (Bonner et al. 1966). Collen hatte als Erster routinemäßig ein maschinelles Diagnostik-Programm bei Präventivuntersuchungen eingesetzt. Seit 1951 wurden in Kalifornien um San Francisco rund 30000 Personen einem freiwilligen „Multiphasic Health Check“ unterzogen, bei dem während etwa 2,5 Stunden „eine ganze Batterie von klinischen Untersuchungsmethoden und Laboratoriumstests, einschließlich eines psychologischen Persönlichkeitstests (abgekürzter an der Mayo-Clinic entwickelter MMPI-Test) zur
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Anwendung kommen.“ (Wagner 1966: 307) Die Untersuchungsergebnisse wurden vom Computer verarbeitet, „so daß die ersten diagnostischen Hinweise schon bereitstehen, bevor noch der Untersuchte die Klinik verlässt. Nach Vorliegen aller Ergebnisse läuft das diagnostische Routineprogramm ab, das nach vorgegebenen Kriterien hinsichtlich Empfindlichkeit und Spezifität der angewandten Tests Wahrscheinlichkeitsangaben für das Vorliegen bestimmter Krankheiten ausdruckt.“ (Wagner 1966: 307) Projekte zur „Computer-Diagnose“ seien „in den letzten Jahren in der Laienpresse immer wieder, und häufig in recht aufgebauschter und verzerrter Form, herausgestellt worden“ kritisierte Wagner, und dabei hatte er den Stern-Titel von 1963 „Hausarzt Dr. med. Computer“ (N. N. a 1963, 1986) im Sinn ein „Hausarzt, vor dem „wir aber noch lange verschont bleiben“, da er „durch nichts als einen unerschütterlichen und unbegründeten Illustrierten-Optimismus getragenen“ werde. Weitere Beispiele für entsprechende „mehr oder weniger journalistische Elaborate“ gab es in der Kölnischen Rundschau, die „berichtete“, durch die Computerdiagnostik komme „die deutsche Mayo-Klinik um 3 Jahre zu spät“ (N. N. b 1967) und in der Wochenschrift „Puls“, die schrieb, dass „die deutschen Ärzte sich für Diagnose-Computer entschieden haben“. (N.. N c 1967)
SCHLUSS Dass ein Computer medizinische Diagnosen stellen könne, wenn man ihn mit den Daten über Befunde und Symptome der Patienten „füttert“, führte in den 1960er Jahren zu vielerlei Spekulationen. „Zweifellos bietet die Aussicht auf eine solche Möglichkeit, insbesondere für den Bio-Techniker, faszinierende Aspekte“ schrieb Wagner 1966. „Die Meinung, der Computer könne in absehbarer Zukunft den Arzt als Diagnostiker ersetzen, ist jedoch falsch und wird zudem der immensen Schwierigkeiten und Komplexität gerade dieser Problematik nicht gerecht.“ (Wagner 1966: 306) Das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass die Medizin als Fach sowohl theoretische als auch praktische Anteile hat. Der Arzt kennt die Krankheitsbegriffe aus der Theorie und nimmt als Diagnostiker über Zeichen und Symptome krankhafte Zustände des Patientenorganismus wahr. Die vielen Krankheitsbegriffe, die unsere Medizintheorie kennt, entstammen unterschiedlichen historischen Phasen und Kulturen, in denen über Ursachen und Wesen von Krankheiten sehr verschieden gedacht wurde. Zwar wird seit der Mitte des 20. Jahrhunderts an einer einheitlichen Klassifikation der Krankheits-
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begriffe und entsprechender Diagnoseverschlüsselung gearbeitet, 10 doch war man weit von einer einzigen verbindlichen Terminologie der Krankheitsbegriffe entfernt und erst recht von einem logischen Klassifikationsschema, das für eine „Computer-Diagnose“ aber ja notwendig wäre. Zudem nimmt die Zahl der Krankheitsbegriffe mit den sich ständig mehrenden differentialdiagnostischen Möglichkeiten zu – der österreichische Mediziner Karl Fellinger sah darin einen „fast revolutionär zu nennenden Einbruch der exakten Naturwissenschaften sowie eine technische und apparative Vervollkommnung, die unsere Diagnose und Therapie [...] in einem Maße erweitert haben, wie es noch vor einigen Jahrzehnten undenkbar schien“. (Fellinger 1969: 8)11 Unsere Krankheitsbegriffe sind allerdings sehr abstrakt, denn die „klassischen Lehrbuchfälle“ kommen in der Realität eher selten vor, daher lässt sich die medizinische Diagnose nicht auf ein kausales Denkschema reduzieren. Ähnlich argumentierte Wagner 1972: „Die ärztliche Diagnose ist mehr als eine bloße Addition von Symptomen und Zeichen; es spielt dabei etwas mit, was wir – sicherlich nicht ganz korrekt – als die „ärztliche Intuition“ anzusprechen pflegen: eine das Erinnerungsvermögen in Anspruch nehmende Integrationsleistung, die auf der persönlichen Erfahrung aufbaut. Welche Gedächtnisleistungen dabei ablaufen, wissen wir bis heute nicht; wir können daher diesen Prozeß auch nicht im Computer nachvollziehen (simulieren). Jede ärztliche Diagnose stellt eine Abstraktion dar; bis heute aber ist keine Maschine – auch nicht der größte Computer – in der Lage, auch nur die elementarsten Abstrahierungen durchzuführen.“ (Wagner 1972: 52) Dennoch betonte Wagner die Bedeutung des Computereinsatzes bei der Aufgabe, „die derzeitigen Krankheitsbilder in ihrem Merkmalsgehalt klarer zu definieren und zu präzisieren. Es soll auch nicht verschwiegen werden, daß die EDV, dem Arzt eine echte Hilfe sein kann, wenn es darum geht, bekannte Wahrscheinlichkeiten differentialdiagnos10 1893 wurde die von Jacques Bertillon (1851-1922), dem Leiter des Pariser Statistischen Amts im Auftrag des Internationalen Statistischen Instituts aufgestellte „Todesursachenklassifikation“ zur Grundlage des International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Diese erweiterte diese Systematik 1948 in der 6. Revision auf Krankheiten und Verletzungen. Aufgrund der medizinischen Fortschritte wurden immer wieder Änderungen und Ergänzungen notwendig, daher gab es bis 1976 im Abstand von ca. 10 Jahren Revisionen bis zu ICD-9. Die 1992 verabschiedete ICD-10wird von der WHO jährlich aktualisiert. Seit 1986 ist ICD-9 in Deutschland verpflichtend zur Diagnosenverschlüsselung in Krankenhäusern eingesetzt. 11 Siehe zu Fellinger auch den nächsten Beitrag in diesem Band.
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tisch gegeneinander abzuwägen oder Gedächtnishilfen zu geben. Derartige vom Rechner gelieferte Hinweise können dem Arzt auf seinem differentialdiagnostischen Weg weiterhelfen; man sollte daher auch statt von sog. ‚Computer-Diagnostik‘ besser von ‚computerunterstützter ärztlicher Entscheidungsfindung‘ sprechen. Dabei muß aber klar sein, daß noch sehr viel Grundlagenforschung und detaillierte Kleinarbeit zu leisten ist, bevor datenverarbeitende Maschinen auf breiterer Basis und effektiv zu differentialdiagnostischen Zwecken eingesetzt werden können.“ (Wagner 1972: 52f)
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Computer in der Medizin im 20. Jahrhundert Zwei Fallstudien aus Wien Rudolf Seising
EIN KLEINER COMPUTER FÜR DIE PRIVATPRAXIS „Elektronenrechner hilft bei der Diagnose“ – diese Kurznachricht in den IBM Nachrichten im Februar 1967 teilte weiterhin mit: „Als erster Privatarzt in Europa hat der Wiener Internist, Universitätsdozent Dr. Joseph Schmid einen eigenen Computer in seiner Privatpraxis in Betrieb genommen. Der Computer, eine elektronische Datenverarbeitungsanlage IBM 1130, soll den Internisten bei der diagnostischen Tätigkeit unterstützen. Er wird für die PatientenbefundDokumentation, automatische Angabe von Krankheiten aufgrund von Symptomen, automatische Diagnose und Diätvorschreibung eingesetzt.“ 1 Schmid übernahm im Juni 1968 die Schriftleitung der Beilage „Datenverarbeitung in der Medizin“ in der Münchner Medizinischen Wochenschrift und berichtete nun an dieser Stelle sowie in den IBM Nachrichten ausführlich über seine Erfahrungen mit diesem Praxisrechner: „In Anbetracht des Unabwendbaren entschloß ich mich schon vor Jahren zur Einführung der elektronischen Datenverarbeitung in meiner Ordination. Hierbei dachte ich zunächst nur an die Befund- und Therapiedokumentation, die Berechung von Isotopennephrogrammen, Ergometer- und Spirometerbefunden, also an die Arbeitserleichterung bei diesem Teil meiner ärztlichen Atteste. Auch die Automatisierung der Buchhaltung, angefangen von den Honorarnoten bis zur Lohn- und Bilanzbuchhaltung, schien mir beim raschen Wechsel meiner Arbeitskräfte und ihrer langen Anlerndauer insofern wichtig, als ich mir damit die oft monatelang anhaltenden Perioden des Korrigierens medizinischer
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Der IBM 1130 wurde 1965 als damals preisgünstigster Computer eingeführt.
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Fachausdrücke in den Attesten und Honorarberechnungen zu ersparen gedachte.“ (Schmid 1967: 429)
Schmids Darstellung zufolge funktionierte dies bald ohne Probleme und so motiviert wollte er nun auch mit Hilfe des Rechners die Genauigkeit seiner Diagnosen verbessern „bei – so unglaublich das für einen Laien klingen mag – gleichzeitiger Zeitersparnis.“ Dazu ließ er seinen Patient*innen schon im Wartezimmer einen Kasten mit 800 Frage-Lochkarten vorlegen, die in Anlehnung and den Cornell Medical Index verschiedene Beschwerden darstellten. Bei der ersten Version des Systems sollte der Patient diese Frage-Karten in die Fächer ‚JA‘, ‚NEIN‘, ‚ICH WEISS NICHT‘ einordnen, beim später „verbesserten Diagnoseverfahren“ waren dann sechs Fächer vorhanden „Rechts von den bisherigen Fächern befinden sich nunmehr drei mit der Aufschrift ‚TAGE‘, ‚MONATE‘, ‚JAHRE‘ (Schmid/Campbell/Bancsich 1968: 19) (Abb. 1) Noch bevor die Patient*in das Sprechzimmer betrat, hatte der Computer deren Angaben ausgewertet: „So wird aus Alter, Größe und Gewicht festgestellt, in welchem Ausmaß der Patient etwa über- oder untergewichtig ist (%); aus Alter und Blutdruck wird errechnet, ob letzterer etwa erhöht oder erniedrigt ist, durch die Geschlechtsangabe werden alle geschlechtsgebundenen Erkrankungen für den anderen Teil ausgeschlossen oder dort, wo eine Geschlechtsbevorzugung besteht, höhergewichtet. Sie wird übrigens auch für die Errechnung des normalen Körpergewichtes verwendet.“ (Schmid, 1968, S. 4) Wenn seine Patient*in das Sprechzimmer mit den Computerergebnissen in der Hand betrat, sah Schmid „darin oft mit einem Blick wichtige Symptome, auf die ich im Verlaufe der oft kurzen Anamnese nicht so leicht – zumindest nicht am ersten Tag – gekommen wäre. Hierdurch konnten die weitere klinische Untersuchung des Patienten und die Anordnung der Laborbefunde wesentlich gezielter erfolgen.“ (Schmid 1968/69: 266)
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Abbildung 1: Befundausgabe mit Hilfe des Computers, der einen Großteil aller Belege nach Eingabe der entsprechenden Steuerkarten automatisch schreibt. Die gezeigten Seiten stellen nicht immer den Gesamtinhalt einer Befundmappe dar
Quelle: Schmid 1968/69: 267
Derart ermutigt übertrugen Schmid und seine Mitarbeiter*nnen nun auch den jeweiligen klinischen Status und die Laborbefunde seiner Patienten auf Lochkarten, so dass nun auch die ärztlichen Atteste vom Rechner erstellt wurden. „Nach Ablauf einiger weiterer Monate erhielten meine Patienten ihre Befunde in Glanzkartonmappe überreicht, säuberlich nach Anamnese, Status, Laborbefunden, Diagnose und Therapievorschlag und Honorarnote geordnet. Ich hatte lediglich die Seite mit Diagnose und Therapievorschlag zu diktieren, alles andere schaffte der Computer automatisch. […] (Schmid 1968: 266) (Abb. 2) Schließlich wollte Schmid auch Diagnosevorschläge vom Computer erstellt bekommen, und so begann er mit seinen Mitarbeitern die „praktische Arbeit an der Computerdiagnose“, die zunächst im Aufsammeln der Beziehungen zwischen Anamnese-, Status-, und Laborsymptomen einerseits und den entsprechenden Krankheiten andererseits bestand, um dann diese Beziehungsmatrix mathematisch-logisch zu formulieren und dem Computer als ein Regelwerk einzugeben. Schnell wurde allerdings klar, dass die Symptome nicht unabhängig voneinander waren. Die Matrix für die Symptom-Krankheitskorrelationen konnte somit nur aufgrund der in Schmids Praxis gesammelten Erfahrungen konstruiert werden.
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Jede Symptom-Krankheits-Beziehung erhielt eine sie gewichtende Zahl zwischen 1 und 10. Sie drückte zum einen aus, wie häufig die Symptomkrankheitskombination in Schmids Praxis vorkam, zum anderen repräsentierte sie die patho-physiologische Bedeutung des Symptoms für die Erkrankung. Auf Details zur mathematischen Berechnung der Gewichtung und die noch notwendigen Korrekturen – „Nach Beendigung unserer Untersuchungsreihe an 2000 Patienten wurden die auf Grund von Lehrbuchangaben und meiner 25jährigen praktischen Erfahrung erstellten Gewichte durch die Symptom-Krankheitsmatrix der Patienten selbst korrigiert.“ (Schmid 1968: 269) – soll hier verzichtet werden, doch der eindrucksvolle Erfolg, den schon die erste Version des Verfahrens nach der Untersuchung von ca. 2000 Patienten aufweisen konnte, soll nicht ignoriert werden. „Wir erreichten damit bei der überwiegenden Mehrzahl aller Erkrankungen, die im WHO-Verzeichnis2 enthalten sind, eine Genauigkeit zwischen 80% und 90%. Dabei stellte sich allerdings heraus, daß durch die häufigere Einführung des Zeit- und Intensitätsparameters der Symptome nicht nur eine Reihe von ihnen eingespart, sondern auch Schnelligkeit und Genauigkeit der Diagnoseberechnung wesentlich vergrößert werden könnten.“ (Schmid/ Campbell/Bancsich 1968: 19) Aus diesem Grund „wurde die Möglichkeit geschaffen, die besondere Intensität (i) und die Dauer (Tage, Monate, Jahre) aller Symptome anzugeben. Außerdem berücksichtigten wir den Milieueinfluß auf gewisse Erkrankungen (Jahreszeiten, Aufenthaltsort, Rasse) durch besondere Gewichtung des Untersuchungstermins (z.B. Winter – grippöser Effekt, Sommer – Heufieber usw.)“ (Schmid 1968/69: 271) Am Ende dieses Verfahrens zur „Computerdiagnose“ gab der Rechner eine kurze Liste von Erkrankungen und zugehörigen Gewichtungen aus. Diese Gewichtungen verbesserte Schmid bei den regelmäßig stattfindenden statistischen Krankengutsauswertungen. „Alle Erkrankungen, bei denen dann eine genügend große Zahl statistisch signifikanter spezifischer Krankheitssymptome mit Kenntnis der nötigen Eigenschaften gefunden wurde, können der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung zugeführt werden, was nur eine Frage des Patientenmaterials und der Zeit ist.“ (Schmid 1968/69: 272)
2
Die World Health Organization (WHO) wurde am 7. April 1948 als Koordinationsbehörde der Vereinten Nationen für das internationale öffentliche Gesundheitswesen gegründet.
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Abbildung 2: Fragekasten mit Reihe für Tage, Monate und Jahre. Die Zeitkarten müssen jeweils in eines dieser Fächer gelegt werden
Quelle: Schmid 1968/69: 272
Schmid wurde 1968 erster Präsident der in Wien gegründeten Internationalen Gesellschaft für Prospektive Medizin (IGPM). Neben der Mithilfe bei der Diagnosebildung sah die IGPM ihre Hauptaufgabe in der Sammlung von Krankheitssymptomen mittels eines auf breiter Basis verwendeten medizinischen Symptom-Codes. (Abb. 3 zeigt einen Auszug der Symptommatrix eines Organs.) „Der komplette Datenbestand ist im medizinischen Symptom-Code der IGPM enthalten. Er umfasst derzeit 1657 Symptome.“ (Schmid 1968/69: 4) Nun hätte es aber erheblichen zusätzlichen Zeitaufwand für den Arzt bedeutet, wenn er für jeden zu erstellenden Patientenstatus die jeweiligen Code-Nummern hätte aussuchen müssen, bevor sie von einer Locherin in IBM-Karten gelocht werden konnten, daher wurden anfangs alle Befunde auf dem Patienten-Karteiblatt vermerkt und von der Sprechstundenhilfe die entsprechenden Zahlen eingetragen „so daß
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die Locherin keine Schwierigkeiten bei der Augnahme der Daten hatte“ (Schmid 1968/69: 4). Abbildung 3: Auszug der Symptommatrix eines Organs
Quelle: Schmid, 1968/69: 270
Nachdem Schmid mit diesem System einige Erfahrungen gesammelt hatte, konnte er dieses Problem durch ein anderes methodisches Vorgehen sehr elegant lösen: „Der Arzt verzichtet nämlich dabei völlig auf sein gewohntes Karteiblatt und locht zunächst die normalen Befunde und später die krankhaften in mehrere Port-A-Punch-Karten, auf denen die einzelnen Krankheiten zugehörenden Krankheitssymptome in anschaulichen Zeichnungen mittels Abkürzungen leicht erkennbar sind. Auch die Ordinationshilfe erhält
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eine Port-A-Punch-Karte, worin sie die von ihr aufzunehmenden Befunde in anschaulicher Form dargestellt findet und für jeden Wert ein Loch setzt. Nur die Sekretärin nimmt Alter, Geschlecht und eine Reihe weiterer Daten mit der Schreibmaschine für die Kartei auf, aus der von der Locherin die Patientenstammkarte erstellt wird.“ (Schmid 1968/69: 274)
Schmid hatte sich zu Anfang einen Satz mit vergrößerten solchen Karten erstellt, auf denen neben der Abkürzung auch der Symptomtext stand, doch schon bald brauchte er diese Hilfe nicht mehr. Um den Patientenstatus mit Hilfe dieser Lochkarten festzuhalten, perforierte Schmid die den jeweiligen Symptomen entsprechenden Stellen und ihre etwaige besondere Intensität oder Dauer (intensiv, Tage, Monate, Jahre) durch zusätzliche Perforation besonders gekennzeichneter Stellen. Der Gesamtstatus ergab sich aus zwölf insgesamt für die medizinischen Fachgebiete angefertigten Karten (Abb. 4), die mit Kenntnis des medizinischen Symptom-Codes leicht lesbar waren. (Schmid 1968/69, S. 274) Einen großen Vorteil dieser Methode sah Schmid auch „darin, dass jeder Patient von seinem behandelnden Arzt mit der entsprechenden FacharztKarte zum Spezialisten geschickt werden kann, der den Befund in dieselbe locht und sie dem Patienten wieder aushändigt. Alle so erstellten Karten werden dann gemeinsam mit Anamnese- und Laborsymptomen für die Berechnung der Krankheitskorrelationen und der weiteren notwendigen Untersuchungen verwendet.“ (Schmid 1968/69: 274)
Auch die Ausschaltung zweier Quellen menschlichen Versagens, die bei der Symptomcodierungsmethode der ersten Systemversion niemals ausgeschlossen werden konnten, führte er als Fortschritt an, „nämlich die Möglichkeit des Schreibens einer falschen Codezahl durch die Ordinationshilfe und die Möglichkeit des Lochens einer falschen Codezahl durch die Locherin.“ Die Einwände, dass es wieder Zeit kostet, ggf. mehrere Port-A-Punch-Karten zu lochen sind, um auch Zeit- und Intensität berücksichtigen zu können und, dass die SymptomLokalisierungen auf den Karten, die Symptom-Zeichen bzw. Abkürzungen einzuprägen sind, entkräftete Schmid mit Blick auf die zukünftige technische Entwicklung: die Anschaffung eines Bildschirms, „der die Port-A-Punch-Karte in derartiger Größe wiedergibt, daß der Symptom-Text direkt gelesen werden kann und wo anstatt der Lochung die bloße Berührung der entsprechenden Stelle mit einem Lichtstift genügt. Anschließend muß der Arzt am Konsol im Bedarfsfall den Knopf ‚intensiv‘ oder ‚Tage‘ oder ‚Monate‘ oder ‚Jahre‘ oder beides betätigen, um jedes Symptom seinen Wünschen entsprechend direkt in den Computer eingeben zu können. Leider sind derartige Monitore noch zu kostspielig und
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benötigen außerdem den direkten Anschluß an einen Computer größeren Formates, weshalb diese Möglichkeit nur für wenige in Frage kommen wird.“ (Schmid 1968/69: 8) Abbildung 4: Sechs der insgesamt 10 von Schmid benutzten perforierten Port-APunch-Karten zur Dokumentation des medizinischen Status
Quelle: Schmid 1968/69: 273
EIN GROSSRECHNER FÜR DIE UNIVERSITÄTSKLINIK Privat praktizierende Ärzt*innen konnten sich den Kauf eines Großrechners damals kaum leisten, schon eher ein großes Universitätskrankenhaus, wenn es zudem kräftige Förderung erhielt. So erhielt die Medizinische Fakultät der Wie-
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ner Universität im Jahre 1967 ein IBM System/360 Modell 30 als Herzstück ihrer „Computerstation“,3 „die sämtlichen Kliniken und Instituten der Fakultät zur Verfügung“ stand. (N. N. 1 1968/69: 237) Die Initiative zur Errichtung dieser neuen „Station“ der II. Medizinischen Universitätsklinik ging von deren damaligem Vorstand aus, Prof. Dr. Karl Fellinger, bei dem Josef Schmid 11 Jahre lang Oberarzt war, bevor er die Klinik verließ um frei zu praktizieren. Fellinger galt damals schon als „Doyen der Internisten Österreichs“, wie Anna Ehrlich in ihrem Buch zur Geschichte der österreichischen Medizin schreibt. „Unter Fellingers Leitung fand die Wiener medizinische Schule endlich wieder Anschluss an die internationale Forschung, zuerst auf dem Gebiet der Inneren Medizin, das in den fünfziger Jahren weltweit noch am Anfang stand. Fellinger und seine Schüler spezialisierten sich auf Rheumatologie, Nuklearmedizin und Elektronenmikroskopie. Sein Labor für klinische Elektronenmikroskopie war eine wissenschaftliche Sensation.“ (Ehrlich 2007: 282) Fellinger war nicht nur Klinikchef und Dekan seiner Fakultät, sondern auch Senator der Wiener Universität und deren Rektor im Jubiläumsjahr 1964/65, als die Universität das 600. Jahr ihres Bestehens feierte. Als im Jahre 1971 eine Festschrift zu seinem 25-jährigen Dienstjubiläum erschien, schrieb der damalige Prodekan der Wiener Medizinischen Fakultät, Univ.-Prof. Dr. Otto Novotny bemerkenswerte Worte über den Jubilar: „Für die Außenstehenden frappiert die Kunst, im Rahmen des Bestehenden völlig Neues zu schaffen, umzubauen, auszustatten, anzupassen und vor allem das notwendige Kapital bereitzustellen. Vieles davon ist nicht durch das Kollegium gegangen. Fellinger’s geradezu kriminalistischer Spürsinn, Geld zu finden und zu bekommen, ist zu bewundern. Man denke an den Ausbau von Hörsaal, Röntgen, Isotopenlaboratorium, Computerstation, Cheftrakt und vieles andere mehr. Mit dieser Art von Investition hat Fellinger uns allen, weil nicht diskutiert werden musste, viel Zeit erspart, noch mehr aber finanzielle Mittel, da der gemeinsame Kuchen von ihm nur in der äußersten Not angebissen wurde.“ (Novotny 1971: 7)
Fellinger war ein bei den Prominenten der damaligen Welt ungeheuer bekannter und begehrter Arzt. Nicht nur seiner Autobiographie (Fellinger 1984), auch Ehrlichers Buch und dem Wikipedia-Eintrag zu seiner Person ist das zu entnehmen.4 Die Aufzählungen seiner damaligen Patienten strotzten vor Berühmtheiten 3
Dieser IBM-Rechner, in der ersten Version 1964 (und als Modell 30 1965) fertig gestellt, wurde mit dem Anspruch geplant, allumfassend zu sein. Die Zahl 360 in seinem Namen war ein Hinweis auf den maximalen Grad eines Winkels.
4
http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Fellinger (letzter Zugriff: 29.07.2020).
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und Reichen. „Er behandelte aber auch ganz »gewöhnliche« Leute, und manche davon kostenlos.“ schreibt Ehrlich (Ehrlich 2007: 282). Fellinger selbst schilderte die Aktivitäten im Vorfeld der Computerstationsgründung in seiner Autobiographie Arzt zwischen den Zeiten: „Die 600-Jahrfeier hatte auch vom materiellen Gesichtspunkt her positive Seiten, die der Fakultät und auch meiner Klinik sehr zustatten kamen. Die Gemeinde Wien gründete eine Jubiläumsstiftung, deren jährliche Zinsen für wissenschaftliche Arbeiten verteilt wurden, und auch die Bundeswirtschaftskammer rief eine derartige Stiftung ins Leben. Das war eine große Hilfe, besonders zu einer Zeit, in der die wissenschaftlichen Ausrüstungen immer teurer wurden. Die allergrößte Hilfe aber kam vom Rundfunk. Auf Anregung von Kommerzialrat Hinteregger organisierte der Leiter des Rundfunks, Professor Übelhör, die erste „Rundfunkspende Kampf dem Krebs“. Der Erfolg war überraschend. Es kamen viele Millionen zusammen, die von einem Kuratorium, dem ich als Jubelrektor angehörte, auf die drei medizinischen Fakultäten Österreichs aufgeteilt wurden. In Wien wurde vor allem die Krebs-Liga mit fünf Millionen bedacht, verschiedene moderne Bestrahlungsgeräte für die Röntgentherapie finanziert und eine Reihe von Forschungsgeräten an Kliniken und Instituten angeschafft. Ich hatte schon vor dem Zusammentritt des Kuratoriums in der Fakultätssitzung den Antrag auf Errichtung einer modernen Computerstation gestellt, die mir sehr wichtig erschien. [..] Es war mir klar, dass es sich dabei um ein Projekt handelte, das den Rahmen meiner Klinik, vor allem auf dem Gebiet der Krebsforschung schon bald sprengen würde. So machte ich dem Kollegium den Vorschlag, den Antrag für eine fakultätseigene Computerstation beim Kuratorium „Kampf dem Krebs“ einzubringen. Dieser Vorschlag rief im Kollegium alles anders als Begeisterung hervor. „Wozu brauchen wir einen Computer?“ meinten viele und es wurde mir sogar vorgeworfen, ich verschwende auf diese Weise Gelder der Krebsspendenaktion. Zu guter Letzt gelang es mir aber doch, dem Kollegium die Bedeutung der Computertechnik sowohl für die Krebsforschung als auch für die allgemeine Diagnostik, die sich von der Krebsdiagnostik ja nicht trennen lässt, klarzumachen. Mein Antrag wurde angenommen, ebenso dann auch als Antrag der Fakultät im Kuratorium der Aktion ‚Kampf dem Krebs‘.“ (Fellinger 1984: 158f)
Fellingers ließ die Computerstation und die Isotopenstation im 8. Hof des Allgemeinen Krankenhauses aus Kostengründen zunächst in einer provisorischen und 1967 in Betrieb genommenen „Baracke“ unterbringen: „im Untergeschoß vollklimatisierte Arbeitsräume für den Computer, im Obergeschoß die Isotopenstation.“ (Fellinger 1984: 160) (Abb. 5)
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Abbildung 5: Gebäude im 8. Hof des früheren Allgemeinen Krankenhauses Wien, in dem (neben der Isotopenstation) der II. Medizinischen Universitätsklinik die „Computerstation“ der Medizinischen Fakultät der Universität Wien untergebracht war
Quelle: Archiv der Core Unit for Medical Statistics and Informatics der Medizinischen Universität Wien
Von diesem Rechner erhofften sich Fellinger und seine Mitarbeiter im ebenfalls neu gegründeten Medizinischen Rechenzentrum der Universität Wien große Unterstützung: „Zunächst einmal im Sinne eines groß angelegten Dokumentationssystems für alle Krankengeschichten, einschließlich aller Labor- und Funktionswerte, was schon aus zahlenmäßigen Gründen wegen der explosiven Vermehrung dieser Befunde unerlässlich erscheint; ein Beispiel – im Jahre 1964 wurden an dieser Klinik ca. 80.000 Untersuchungen im Zentrallabor durchgeführt, 1968 waren es schon über 180.000, dazu kamen noch ca. 120.000 Untersuchungen in Speziallaboratorien; soweit man das bisherige Jahr abschätzen kann, wird sich diese Zahl schon heuer wieder um mindestens 25% erhöhen. – Vom Arzt aus gesehen heißt das, dass sich ein klinischer Oberarzt, der etwa 30 Betten führt, täglich mit über 300 Befunden kritisch auseinandersetzen soll, wobei zu bedenken ist, dass die immer subtileren neuen Methoden ein großes (und ständig neu hinzukommendes) engeres
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Fachwissen zwecks richtiger Wertung und Einordnung der gelieferten Laborbefunde voraussetzen. Das menschliche Gehirn wird hier zunehmend an seine Leistungsgrenze gedrängt und die zunehmende Flut von Befunden, Berechnungen, Einzelwerten kann eben in Kürze nur mehr durch einen Computer aufgefangen werden, der sie registriert, sichtet, einordnet, Labor- und Gerätefehler kritisch analysiert und anmerkt und sie womöglich bereits zu einem logisch geordneten System entwickelt.“ (Fellinger 1969: 6)
Um „besonders sensible, nämlich patientenbezogene Informationen“ zu bearbeiten, „gab es für das methodische Vorgehen selbst keine Vorbilder. Entwicklungs- und Forschungsarbeiten waren daher ebenso notwendig wie umfassende organisatorische Maßnahmen.“ Wachsendes Interesse von Ärzten und Studenten an der Medizinischen Informatik und der Anspruch, hier eigene Forschungen durchzuführen, führten zur Gründung des Instituts für Medizinische Computerwissenschaften. Die Kliniker erhofften sich von der elektronischen Datenverarbeitung eine Steigerung des Qualitätsniveaus ihrer Diagnostik, deren schnellere Erstellung und die Vermeidung von Fehldiagnosen. Für die „Erschließung dieses Neulands und zur Übernahme der Station“ hatte Fellinger seinen Oberarzt Univ.-Doz. Dr. Georg Grabner „mit mathematischem Talent“ (Fellinger 1984: 160) gewinnen können, der am „21. Februar 1972 zum außerordentlichen Universitätsprofessor für Medizinische Computerwissenschaften und für Gastroenterologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien ernannt“ (N. N. 2 1972: 234) und am 30. September 1975 auch Fellingers Nachfolger in der Klinikleitung wurde. (Abb. 6) Grabner hatte schon 1968 gemeinsam mit Walter Spindelberger von IBM Österreich ein Computerverfahren zur diagnostischen Hilfestellung vorgestellt. (Grabner et al. 1968) Es sollte aktiver Partner des Arztes im diagnostischen Prozess sein, medizinisches Expertenwissen aus der internen Medizin bereitstellen und aufgrund von Patientensymptommustern medizinische Diagnosen logisch folgern und begründen können. Dazu wurden mögliche Beziehungen zwischen Symptomen, Diagnosen, Krankheiten und Patienten durch Formeln des Kalküls der Prädikatenlogik 1. Ordnung dargestellt. 5
5
Für Details siehe dazu: (Seising 2004: 45-50, Seising 2005: 292-302).
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Abbildung 6: Fellinger, Bauer, Grabner und der neue IBM-Rechner in der „Computerstation“
Quelle: Archiv der Core Unit for Medical Statistics and Informatics der Medizinischen Universität Wien
Unter der Überschrift „Computer in der Medizin“ publizierte Klinikleiter Fellinger dieses Verfahren stolz in der Wiener Klinischen Wochenschrift als erste Originalabhandlung im ersten Heft des Jahres 1969, um den Lesern „in groben Zügen einiges über den Sinn und Wert und über die praktische Anwendung einer elektronischen Datenverarbeitungsanlage näherzubringen“: „Darf ich - unter Weglassung aller technischen Details - anhand eines praktischen Beispieles unser Verfahren erklären […]: Es wird ein junger Mann eingeliefert, der eine Reihe wenig charakteristischer Symptome aufweist. Alle Symptome, die bei der ersten Untersuchung festgestellt wurden, wurden dem Computer eingegeben. Dieser hat sie nach ihrer Vieldeutigkeit geordnet und die 10 wichtigsten Symptome ausgedruckt […]. Als zweites gibt uns der Computer bekannt, welche Krankheiten in Betracht kämen […]. Um diese Vorschläge weiter einzuengen, druckt der Computer eine oder mehrere Listen mit Vorschlägen zu weiteren Untersuchungen aus […], aus denen der Arzt jene auswählt, die technisch am leichtesten realisierbar sind die auch den geringsten Grad an Vieldeutigkeit haben. Mit den neuen Untersuchungsergebnissen, die vom Computer ebenfalls ausge-
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druckt werden […], wird dann ein weiterer, schon sehr eingeengter, eventuell definitiver Diagnosevorschlag gemacht. Im konkreten Fall wurde durch eine gezielte, vom Computer vorgeschlagene ophtalmologische Untersuchung ein Kayser-Fleischer-Ring und damit der Morbus Wilson nachgewiesen.“ (Fellinger 1984: 5-7)
In den Jahren 1968/69 wandten Grabner und seine damaligen Mitarbeiter Alfred Gangl6 und Peter Bauer7 das Verfahren zuerst im Bereich der Lebererkrankungen (Gangl et al. 1969) und dann in anderen medizinischen Feldern an. (Bauer et al. 1984, Horak et al. 1984) Dazu wurden unter Heranziehung der Lehrbuchliteratur zur Gastroenterologie 82 Diagnosen (Krankheiten) eines umschriebenen Fachgebiets aufgezeichnet und mit 323 Symptomen dokumentiert. Da die einzelnen Symptome bei verschiedenen Erkrankungen unterschiedliche Bedeutungen haben, wurden sie in Kategorien eingeteilt, z.B.: obligat und beweisend, obligat und nicht beweisend, fakultativ und beweisend, fakultativ und nicht beweisend, und jede Symptom-Kategorie erhielt eine feste Code-Bezeichnung8 gemäß folgender Tabelle:
6
Alfred Gangl war ordentlicher Universitätsprofessor der Universitätsklinik für Innere Medizin III der Medizinischen Universität Wien und Leiter der Klinischen Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie.
7
Peter Bauer war ordentlicher Universitätsprofessor in der Besonderen Einrichtung für Medizinische Statistik und Informatik der Medizinischen Universität Wien und Leiter des Instituts für Medizinische Statistik.
8
Die Auswahl dieser Code-Ziffern entstammte einer früheren Einteilung dieser Symptomkategorien, die sich bei den Klinikärzten schon eingebürgert hatte.
Computer in der Medizin im 20. Jahrhundert | 93
Abbildung 7: Code-Tabelle für die computerunterstützte Diagnose Beweisend
nicht beweisend
nicht vorhanden
Voraussetzung
Obligat
8
7
0
5
Fakultativ
2
1
-
-
Quelle: Gangl et al, 1969, S. 96
Da z.B. das Symptom „SGOT erhöht“9 für die Diagnose „Hepatitis“ vorliegen muss, sie aber nicht beweist (der Patient könnte auch an anderen Krankheiten, z.B. an einer Leberzirrhose leiden), erhält dieses Symptom bezüglich der Diagnose „Hepatitis“ den Code 7. Ein anderes Beispiel: Bei einer Leberbiopsie darf kein grünschwarzes Pigment nachgewiesen worden sein, wenn der Patient am „Rotor-Syndrom“ leidet. Das Symptom „Biopsie: grünschwarzes Pigment“ erhält daher den Code 0. Diese Code-Bezeichnungen wurden in eine SymptomDiagnose-Matrix eingetragen: Abbildung 8: Beispiel einer Symptom- Diagnose-Matrix (Si: Symptome, Di: Diagnosen) ∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙
S7
S8
S9
D1
1
1
1
0
2
D2 D3
1
D4
8
∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙∙
7 1
1
Quelle: Gangl et al. 1969: 96
Ebenso wurde eine Diagnose-Diagnose-Matrix mit entsprechenden Codes aufgefüllt, denn auch die möglichen Beziehungen zwischen den Diagnosen selbst
9
SGOT (Glutamat-Oxalacetat-Transferase, frühere Bezeichnung des heute jetzt ASAT (Aspartat-Aminotransferase) genannten Enzyms, das in Leber, Niere, Herz, Skelettmuskulatur, Pankreas, Milz, Lunge und in den Erythrozyten vorkommt und für bestimmte Stoffwechselschritte von entscheidender Bedeutung ist. In den Leberzellen ist es hochkonzentriert, so dass es bei deren Schädigung ins Plasma gelangt. Die Bestimmung von SGOT im Blut dient somit dem Nachweis von Leberschäden.
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führen zu differentialdiagnostischen Aussagen.10 Schließlich wurden diese Daten auf Lochkarten übertragen. Der Computer bestimmte nun für jedes Symptom, die Anzahl der Krankheiten bei denen es im betrachteten Diagnose-Kollektiv als vorhanden dokumentiert wurde. Nach diesem „Vieldeutigkeitsgrad“ (VD-Grad) ordnete der Computer nun für jede Krankheit die dokumentierten Symptome und bildete dann Kombinationen aus den Symptomen mit dem kleinsten VD-Grad. Daraufhin überprüfte er, ob diese Kombinationen im dokumentierten Material einmal oder öfter vorkommen. Die einmaligen Symptomkombinationen wurden dann als „Hinreichende Bedingungen“ zur Erstellung dieser Diagnose gespeichert, da sie ein starker Hinweis für diese Krankheit sind. Auch Symptome, deren Vorkommen nur bei einer Krankheit dokumentiert ist, gelten (mit Vorbehalt) als Nachweiskriterium für diese Krankheit; sie wurden als „Symptom mit VD-Grad 1“ gespeichert. Um eine Diagnose positiv nachzuweisen, musste der Computer somit einzelne die Krankheit beweisende Symptome finden (Code 2 oder 8), Hinreichende Bedingungen oder die Symptome mit VD-Grad 1. Andererseits konnte er Diagnosen ausschließen, wenn die obligaten Voraussetzungen bzw. Symptome (Code 5 oder 7) oder die entsprechenden Symptom-Kombinationen nicht gegeben waren, oder wenn Symptome oder Diagnosen vorlagen, die diese Krankheit ausschlossen (Code 0). „Das Computerprogramm, gab schließlich eine nach VD-Graden geordnete Liste aller vorhandenen Symptome aus, woraufhin der Arzt eines dieser Symptome als „LeitSymptom“ auswählen konnte. Nun ließ er den Computer alle Diagnosen suchen, bei denen dieses Leit-Symptom vorkommt und überprüfen, ob dadurch alle eingegebenen Symptome erklärt werden können. Die so ermittelten Diagnosen wurden dann als Liste „offener Diagnosen“ nebst Untersuchungsvorschlägen zum weiteren Vorgehen ausgegeben (Abb. 7). Zuweilen gab es dann sehr viele „offene Diagnosen“, aber meist gelang es dann, Fragen zu Symptomen oder Zeichen „ohne nochmalige Untersuchung des Patienten, gleich an der Maschine, zu beantworten“, da sie wohl erfasst nicht aber registriert wurden. Auf diese Weise konnte „sowohl die Anzahl der „offenen Diagnosen“ als auch er Untersuchungsvorschläge für den folgenden Lauf beträchtlich zu reduzieren.“ (Grabner et al, 1970, S. 6) In diesem 2. Lauf „konnte für 13 von 28 Patienten die richtige Diagnose vom Computer fix erstellt werden. Bei den übrigen 15 Patienten war die tatsächliche Krankheit unter 2 von 6 vom Computer vorgeschlagenen möglichen Diagnosen zu finden.“ (Grabner et al. 1970: 6) 10 In dem Programm wurden mit Hilfe Boolescher Verknüpfungen auch komplexere Symptom-Diagnose-Beziehungen dokumentiert, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann.
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Als Leiter der Computerstation und in Personalunion auch der II. Universitätsklinik für Gastroenterologie und Hepatologie, initiierte Grabner 1973 die Testphase des Forschungsprogramms WAMIS (Wiener Allgemeines Medizinisches Informationssystem) in seiner Klinik. Nach zweijährigem Probebetrieb wurde dieses medizinische Datenbank- und Informationssystem dann auch weiteren Kliniken über Terminals zur Verfügung gestellt (Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung 1982: 9, Grabner 1985). WAMIS hatte mehrere „Bausteine“:
Daten, die am Bildschirm eingegebenen wurden, erfasste das Dokumentationssystem, die Erfassung der Labordaten geschah vollautomatisch durch das Wiener Laborsystem WIELAB. Über eine Auskunft konnten gespeicherte patientenbezogene Daten ausgeben werden und zur wissenschaftlichen Auswertung der Datenbank kam das Wiener Allgemeine Medizinische Auswerte-System (WAMAS) zum Einsatz. Ein computerunterstütztes Diagnosesystem CADIAG (ComputerAssisted DIAGnosis) sollte aufgrund der in der Datenbank gespeicherten Symptome Diagnosevorschläge erstellen.
Motiviert durch die Arbeiten von Ledley und Lusted zur computerunterstützten diagnostischen Hilfestellung11 hatten Grabner und Spindelberger bis 1968 die erste Version von CADIAG entwickelt (Grabner/Spindelberger 1968), das bald darauf in der Differentialdiagnostik von Lebererkrankungen angewendet wurde (Gangl et al. 1969). An den Computermethoden aus den USA hatten sie bemängelt, dass sie nicht kompatibel, „ihre Verschmelzung nicht möglich ist und ihrer Anwendung in der Praxis eine Differentialdiagnose, die das Spezialgebiet umreißt, vorausgehen muss.“ (Grabner/Spindelberger 1968: 189) Außerdem sahen sie es als einen Nachteil an, dass die Auftretenswahrscheinlichkeiten von Krankheitsphänomenen, die bei der Diagnoseerstellung in die Berechnung eingehen oder sogar subjektive Gewichtungen, die aufgrund persönlicher Erfahrungen gebildet worden sind, nichts mit der Definition von Krankheiten zu tun haben und solche Methoden daher nicht allgemeingültig sein können. Das in WAMIS integrierte CADIAG hatte nun folgende Eigenschaften:
11 Siehe dazu den Beitrag „Vom ‚Anschwellen der medizinischen Fachliteratur‘ zur Computerunterstützung ärztlicher Entscheidungen“ des Autors in diesem Band.
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1. 2. 3.
4.
Auf der Grundlage medizinischen Wissens schlug das System alle möglichen Diagnosen vor, die auf gegebene Symptommuster passen. Alle Diagnosen wurden gleich behandelt. Der Arzt konnte die Resultate analysieren und die Computeraktionen beeinflussen. Weitere diagnostische Schritte wurden entsprechend der Effizienz, mit der sie die Diagnose bestätigten, geordnet und aufgelistet vorgeschlagen. Begründungen für diagnostische Entscheidungen wurden auf Anfrage gezeigt.
Das neue Wiener Konsultationssystem sollte aktiver Partner des Arztes im diagnostischen Prozess sein, medizinisches Expertenwissen aus der internen Medizin bereitstellen und aufgrund von ihm mitgeteilten Patientensymptommustern medizinische Diagnosen logisch fol-gern und begründen können. Auf diesem Wege erhoffte man sich, bessere und schnellere Diagnosen erstellen zu können und Fehldiagnosen zu vermeiden. Bewusst und betont wurde darauf verzichtet, Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik zu benützen, denn: „Das Ziel des Programms ist nicht die Erstellung einer einzigen wahrscheinlichen Diagnose, sondern es sollen alle jene Krankheiten erfasst werden, die bei einer bestimmten Symptomkonstellation überhaupt möglich sind.“ (Gangl et al. 1969: 585) Der Verzicht auf statistische Methoden kennzeichnet die gesamte CADIAGEntwicklungslinie. Das Programm lief damals auf einem IBM System/360 (Modell 30, 32 K Bytes Kernspeicher und eine Magnetplatteneinheit). Die Peripherie bestand aus Lochkartenstanzer und -leser, Schreibkonsole, Schnelldrucker und vier Magnetbandeinheiten. Die Dateneingabe erfolgte über Lochkarten. Dazu wurde die aus einem Verzeichnis aller Symptome und Diagnosen erhältliche Nummer auf der Karte durch eine Ziffer 1 oder 0 ergänzt gestanzt und dem Rechner über den Lochkartenleser eingegeben. Nach Durchlauf des Programms konnten gefundene bzw. ausgeschiedene Diagnosen ausgedruckt werden. Die Spalten auf der Karte wurden für Angaben zur Klinik und Kartenart reserviert (1 bis 5), enthielten den Diagnoseschlüssel der WHO12 und zusätzliche Klinik-interne Ergänzungsnummern (6 bis 15)13, oder den Diagnosenamen und 12 Der WHO-Schlüssel der World Health Organisation, Vorläufer des Klassifikationssystems ICD (International Classification of Diseases) wurde für interne Zwecke der Klinik bis auf 10 Stellen erweitert. 13 So diente die 9. Stelle der Kennzeichnung des Schweregrades der Krankheit (vom Ausschluss bis zur Todesgefahr), die 10. Stelle blieb Begriffen wie „Zustand nach ...“, „Selbstmord mit ...“ vorbehalten.
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das Stadium (16 bis 80), falls mehrere Stadien existierten. Für weitere Einträge konnten zusätzliche Karten genutzt werden, so dass eine möglichst vollständige Auflistung aller Symptome einer Krankheit vorlag. Abbildung 9: Karte Nr. 3. für das Wiener System CADIAG
Quelle: Grabner/Spindelberger 1968: 198
Für jedes Symptom gab es eine Zeile; nach dem Namen des Symptoms folgten Begriffe, mit denen pathologische Veränderungen kategorisiert werden können: Ausmaß, bzw. Schweregrad der Erkrankung wurden durch Bezeichnungen wie „sehr“, „mäßig“, „exzessiv“, angeben, außerdem konnten Zahlenangaben über Größen und Häufigkeiten sowie Zeitpunkte und Zeitdauern von Symptomen eingetragen werden. Eine Spalte wurde für eine Bewertung der Beziehungen zwischen Symptomen und den in Frage kommenden Krankheiten reserviert. Dazu wurde folgende Konvention gewählt:
Symptom ist fakultativ und nicht beweisend für Krankheit: Code 1 Symptom ist fakultativ und beweisend für Krankheit: Code 2
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Symptom kommt bei dieser Krankheit obligatorisch vor, beweist sie aber nicht endgültig: Code 7 Symptom ist obligatorisch für die Krankheit und beweist sie auch: Code 8
Die eingelesenen Symptomdaten wurden auf ein Magnetband übertragen und konnten dann beliebig nach einzelnen Kategorien umsortiert werden; die so entstandenen Listen durchliefen verschiedene Korrekturprozeduren, so dass danach ein relativ fehlerfreies Diagnose-Symptomeband vorhanden war. In CADIAG wurden die logischen Operatoren für Konjunktion (UND, ), Disjunktion (ODER, ), Negation (NON, ), Implikation (WENN ... DANN, ) und Äquivalenz (GENAU DANN, WENN..., ) in der Programmiersprache PL/1 dargestellt, Symptome und Krankheiten waren Variablen, die entweder den Wahrheitswert „wahr“ oder „falsch“ bzw. „0“ oder „1“ erhielten. Die obigen Aussagenkombinationen entsprachen folgenden Operatoren:
Symptom S obligat, beweisend für Krankheit K. Symptom S fakultativ, beweisend für Krankheit K. Symptom S obligat, nicht beweisend für Krankheit K. Symptom S schließt Krankheit K aus.
S K. S K. S K. S K.
Dieses System wurde in der Hepatologie (Gangl et al. 1969) und in der Rheumatologie (Bauer et al. 1968, Horac et al. 1969) erfolgreich angewendet. Die hepatologische Wissensbasis besteht aus 82 Leberkrankheiten, 323 Symptomen, Zeichen, Labortests, Daten aus der Patientengeschichte, dem körperlichen Zustand des Patienten, Ergebnissen aus Biopsie, Histologie, Röntgen- und anderen möglicherweise spezielleren Untersuchungen. Für 20 Testfälle bot das Computersystem die klinisch bestätigten Diagnosen zumindest als diagnostische Hypothesen an.
COMPUTERDIAGNOSTIK VERSUS ARZTTUM An den in den USA entwickelten „Computermethoden“ zur medizinischen Diagnose hatten die Wissenschaftler in der Wiener Computerstation bemängelt, dass sie von verschiedenen Forschergruppen jeweils nur für kleine Fachbereiche verwendbar waren, aber „ihre Verschmelzung nicht möglich ist und ihrer Anwendung in der Praxis eine Differentialdiagnose, die das Spezialgebiet umreißt, vorausgehen muss.“ (Grabner/Spindelberger 1968: 189) Alle ihnen bekannten
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Verfahren hatten außerdem den Nachteil, dass entweder Auftretenswahrscheinlichkeiten der Symptome bei der Diagnosestellung in die Berechnung eingehen, oder den Symptomen sogar aus persönlicher Erfahrung gebildete Gewichte zugeordnet werden, die nichts mit der Definition des Leidens zu tun haben. Weder diese Methode der subjektiven Gewichtungen noch jene der Wahrscheinlichkeitsbelegungen könne aber Allgemeingültigkeit beanspruchen. Ihr eigenes Programm sollte dagegen „alle Krankheiten gleichrangig beurteilen und innerhalb der Symptome auf eine Gewichtung verzichten.“ Es sollte außerdem es in der Lage sein, die regionalen, jahreszeitlichen, soziologischen und anderen Gegebenheiten zu berücksichtigen, um, wenn die vom Computer aufgezeigten Möglichkeiten zu umfangreich werden, auf diesem Wege eine Einschränkung zu erzielen.“ (Grabner/Spindelberger 1968: 189) Es wurde „bewusst auf Verwendung von graduierten Wahrscheinlichkeiten verzichtet, da das Ziel des Programms nicht die Erstellung einer einzigen sehr wahrscheinlichen Diagnose ist, sondern alle jene Krankheiten differentialdiagnostisch erfasst werden sollen, die bei einer bestimmten Symptom-Konstellation überhaupt möglich sind.“ (Gangl et al. 1969: 95f) Dies lief auf eine Arbeitsteilung bei der medizinischen Diagnose hinaus: „Während das Erkennen der Krankheitszeichen vor allem dem Arzt obliegt, kann das zur Deutung der festgestellten Symptome notwendige medizinische Wissen großteils von einem entsprechend programmierten Computer beigestellt werden. Da der Computer, im Gegensatz zum Arzt, sein einmal gespeichertes Wissen nie mehr vergisst, kann er für den Arzt zu einer wertvollen Hilfe bei der Erstellung von Differentialdiagnosen werden, insbesondere dann, wenn es sich um seltenere Diagnosen handelt.“ (Gangl et al. 1969: 95f)
Es sei „jedem von uns bekannt, daß es leicht ist, eine Diagnose zu stellen, wenn die Symptome einer Krankheit entsprechend ihrer Häufigkeit gefunden werden“ schrieb Fellinger in der Wiener klinischen Wochenschrift: „Schwierig wird diese Aufgabe, wenn auf Grund seltener Symptome die Diagnose gestellt werden soll; und für schwierige Diagnosen ist der Computer wertvoll.“ In der Computerstation war ein System entworfen worden, „in dem alle Krankheiten, die im Gedächtnis des Computers gespeichert sind, gleichwertig behandelt werden; der Computer wird also z.B. eine gewöhnliche Virushepatitis ebenso ins Auge fassen wie eine seltene Amöbenhepatitis – was bei dem heutigen Reiseverkehr sicherlich zweckmäßig ist“. (Fellinger 1984: 4f) Ohne die Arbeiten des früher an ihrer Klinik beschäftigten Josef Schmid zu berücksichtigen, hatten Fellinger, Grabner und deren Mitarbeiter natürlich auch das von Schmid in seiner Privatpraxis eingesetzte und eher begonnene Verfahren
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ablehnend beurteilt, denn dieses arbeitete mit den von ihnen kritisierten Gewichtungen, die aus einem wahrscheinlichkeitstheoretischen und einem vom subjektiven Expertenwissen abhängigen Anteil zusammengesetzt wurden. Der von Computern begeisterte (und ebenfalls mathematisch talentierte) Schmid, dessen Literaturverzeichnis allein 311 Arbeiten „angloamerikanische Literatur… über die Problematik der medizinischen Diagnostik mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung“ (Schmid 1968/69) enthielt, hatte daraus aber andere Schlüsse gezogen, als die Forscher um Fellinger und Grabner: 1. Zumindest jeder ältere Patient, der zum Arzt kommt, besitzt Symptome, die auf mehrere Krankheiten oder Leiden zurückzuführen sind. Diese „Annahme wurde vom Theoretiker zunächst wegen der mathematischen Schwierigkeiten nur für die Sicherung der Diagnose benützt und vom Arzt, der ihm bei der Bildung eines Modellfalles helfen wollte, gutgeheißen. Keiner wollte glauben, daß sie infolge zu starker Simplifizierung mit unbrauchbaren Modellen arbeiteten.“ 2. Selbst bei sorgfältiger Arbeit arbeiten Arzt und Patient bei der Anamnese nicht fehlerfrei. Die Übereinstimmung zwischen Anamnese- und Status- sowie Anamnese- und Laborbefunden“ liege zwischen 80% und 90%. „Wie groß muß aber das Datenmaterial des Mathematikers sein, wenn er mit der Annahme, dass jedes fünfte Symptom unrichtig ist, noch zu statistisch verwertbaren Resultaten kommen möchte? Auch daran scheitern alle derzeit üblichen mathematischen Diagnoseberechnungen in der Medizin. Dies gilt vor allem für jene Verfahren, die sich eines Leitsymptoms für die Erfassung der jeweiligen Erkrankungen bedienen wollen. Wird nämlich dieses oder eines der darauffolgenden falsch angegeben, ist jede Diagnose rettungslos verloren.“ 3. Die vorliegenden Symptome können nicht als unabhängig betrachtet werden. „Es wird aber kaum gelingen, die gegenseitige Abhängigkeit von Anamneseund status- oder Anamnese- und Labor- oder Status- und Laborsymptomen zu beseitigen, zumal diese in den meisten Fällen noch nicht durchschaubar ist. Alle Symptome gemeinsam müssen aber für die Diagnoseberechnung verwendet werden.“ (Schmid 1968/69: 267f) Eine sinnvolle exakt-mathematische Diagnoseberechnung schloss Schmid daher noch für lange Zeiten aus, stattdessen benutzte er in seinem Verfahren Gewichtungen für die Symptom-Krankheitsbeziehungen, Zahlen zwischen 1 und 10, „die sich aus der a priori-Wahrscheinlichkeit für die Erkrankung und der a posteriori-Wahrscheinlichkeit des Symptoms für sie zusammensetzen.“ Diese Größen
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waren subjektive Erfahrungsangaben des Spezialisten. Schmid sah darin eine der so genannten „semi-mathematischen Untersuchungsmethoden mit größerer Fehlerbreite, geringerer statistischer Signifikanz, aber mit bedeutend besseren Erfolgsquoten als bei der herkömmlichen Diagnostik.“ (Schmid 1968/69: 268) Der Unterschied zwischen Schmids Verfahrensweise, die von den Medizinern der Wiener „Computerstation“ abgelehnt wurde und deren Verfahrensweise, die Schmid in seiner oben angesprochenen Schlussfolgerung 2 ablehnte, liegt in der jeweiligen Beantwortung der Frage, ob es prinzipiell möglich sei, dass ein Computer diagnostizieren könne, ob es also in Zukunft irgendwann „Computerdiagnose“ in der Medizin geben werde. Schmids Einstellung war da optimistisch: „Zweifelsohne wird der Fortschritt in der Medizin beim Übergang vom semi-mathematischen zum rein mathematischen Verfahren zumindest so groß sein, wie derjenige unserer Zivilisation wo von den Pferden auf Autos und Flugzeuge umgesattelt wurde. Diese wurden aber auch nicht an einem Tag gebaut.“ (Schmid, 1968/69, S. 268) Und am Anfang des hier zitierten Artikels schrieb er: „Diagnosevorschläge mit Hilfe elektronischer Datenverarbeitung stoßen noch bei vielen praktizierenden Ärzten auf beträchtliche, oft unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten. Die Hauptursache hierfür liegt fast regelmäßig im Verkennen des Vorganges bei der Diagnosebildung durch den Computer, in der falschen Vorstellung über den Wert einer solchen ‚Diagnose‘ überhaupt und in der eingefleischten Doktrin, ein Großteil der Diagnose beruhe auf intuitiven Vorgängen, die bisher noch kein Computer bewältigen könne. (Schmid 1968/69: 266)
Nicht „intuitive Vorgänge“ nannten die Wissenschaftler in der Wiener „Computerstation“ einen wichtigen Teil der Diagnose, sondern – der Tradition ihrer Universität verbunden – schrieben sie: „Die Dokumentation der Anamnese stellt zweifellos das schwierigste Problem dar. Die klassisch Wiener Anamnese mit all ihren, auch den psychologischen und sozialen Hintergrund erfassenden Details (deren Kenntnis ja für eine optimale Therapie notwendig ist), entzieht sich bisher noch unseren Bemühungen. (Grabner et al. 1969: 17) Dass ein Computer die Diagnose jemals selbständig würde durchführen können, war ihrer Ansicht nach unmöglich. Niemals würde ein mathematisches Verfahren den diagnostizierenden Arzt ersetzen können: „Mit dem „Wiener differentialdiagnostischen Programm“ haben wir versucht den Computer als einen auf Vollständigkeit bedachten Prüfer und Helfer des Arztes einzusetzen“ (Grabner et al. 1970: 6). „Welchen Vollkommenheitsgrad auch immer dieses Projekt erreichen wird, der Computer wird unseres Erachtens nie den Arzt von
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der endgültigen Entscheidung und Verantwortung der Diagnose befreien können.“ (Bauer et al. 1968: 231) Fellinger hatte sich ähnlich geäußert: „In dieser Zeit der Gärung und Erneuerung fällt nun das Wort „Automation“, „Computer“, „medizinische Datenverarbeitungsanlage“ oder wie immer man die Einrichtung eines Elektronenrechners in der Medizin benennen mag, und wie so häufig, wenn Neues hereinbricht, erhitzen sich bereits dort und da die Gemüter im Streite für und wider, wobei leider Schlagworte (wie etwa „die Maschine wird nie den Arzt verdrängen können“) oft genug die noch mangelnde persönliche Einsicht in eine sehr schwierige Technik und Problematik verdecken sollen.“ (Fellinger 1969: 1)
Es waren und sind nun einmal nicht die Computer, die Fehler machen, sondern die Menschen: die Ärzte und Ärztinnen. technischen Assistent*innen und die Patient*innen, deren Versagen die Ursachen für viele Unstimmigkeiten in den Dokumentationsdaten damaliger Kliniken waren und sind. Auch Schmid hat auf die vielen Fehler hingewiesen, die bei der Anamnese unterlaufen. Dennoch vertrauten und vertrauen Patient*innen sich Ärzten und Ärztinnen, Schwestern, Pflegern und Laborpersonal in Privatpraxen und Kliniken an, lassen sich befragen und untersuchen, sie vertrauen der Diagnose ihrer ‚Ärztin oder Ihres Arztes und deren Therapievorschlag. Vielleicht sind sie (irrigerweise) von deren fehlerlosem Arbeiten überzeugt, aber sie erwarten sicherlich auch menschliche Begleitung und Kommunikation. Diese Erwartungen kann ein Computer nicht erfüllen. Somit ist seine Aufgabe in der Arbeitsteilung bei der medizinischen Diagnose völlig klar: Er soll stets das gesamte gespeicherte Datenmaterial bereithalten und für die Diagnoseberechnung berücksichtigen, und zwar unabhängig von Häufigkeiten, Wahrscheinlichkeiten, Erfahrungen oder subjektiven Bewertungen. Sich die Aufgaben der Diagnosetätigkeit mit diesem Apparat teilen zu müssen, kann nicht einfach sein, wusste Grabner schon 1969: „Die Konfrontation eines so extrem genauen, ja pedantischen Instruments wie des Computers mit der klinischen Alltagsrealität stellt ein besonderes Problem dar, das nur auf dem Wege des Kompromisses gelöst werden kann.“ (Grabner et al. 1969: 14)
Ärztinnen und Ärzte können bei Ihrer diagnostischen Aufgabe die Hilfe des Computers jederzeit in Anspruch nehmen: Ihr Teil der Arbeit ist die Reflektion. Sie müssen beurteilen, ob ihre Differentialdiagnose sich vom Vorschlag des Rechners unterscheidet, das Für und Wider abwägen und dann nach menschlichem Ermessen entscheiden. In diesem Sinne – so hoffte Fellinger damals – konnte die „Computermedizin vielleicht der Wegbereiter sein kann – sie soll
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den Arzt frei machen von den immer mehr belastenden administrativen, registrierenden, rein technischen, labormässigen und apparategebundenen Aufgaben und soll ihn wieder frei machen für echtes Arzttum, für das Gespräch mit dem Kranken, auch mit dem Gesunden – dem einen, um ihm zu heilen, dem anderen, um ihn gesund zu halten – denn Prophylaxe wird in der Zukunft mindestens gleichwertig neben der curativen Medizin stehen.“ (Fellinger 1969: 8f) Die Frage nach der Verdrängung des Arztes durch den Computer ist so an die Frage nach dem Arztbild und dessen möglichen Wandel geknüpft. Sie ist aber auch ein Spezialfall jener noch heute – Jahrzehnte später – diskutierten und weit von einer Entscheidung entfernten Frage nach der Existenzmöglichkeit starker künstlicher Intelligenz.
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Akzeptanz und ethische Implikationen der ärztlichen Telekonsultation Das Beispiel Schmerztherapie Mathias Schmidt, Saskia Wilhelmy, Michael Czaplik, Pascal Kowark
Das Profil der Telemedizin hat sich in den letzten Jahren verstärkt gewandelt und bietet Lösungswege und -ansätze für unterschiedliche Herausforderungen des deutschen Gesundheitswesens. Zum Beispiel bezüglich des demografischen Wandels oder der medizinischen Versorgung in struktur- und bevölkerungsschwachen Regionen (Roine/Ohinmaa/Hailey 2001). Telemedizin ist ein Sammelbegriff für verschiedene medizinische Versorgungskonzepte in Diagnostik, Therapie und Rehabilitation sowie Arzt-PatientKontakten bei räumlich-zeitlicher Entfernung (BÄK 2014; Gärtner 2006: 75-77). In vielen medizinischen Fachdisziplinen wurde die Telemedizin bereits erfolgreich integriert (Gärtner 2006: 79-168; Currell et al. 2000; Czaplik et al. 2015; Hess et al. 2005; Scalvini et al. 2002). Beispielsweise konnte der Zugang zu medizinischen Spezialisten1 oder Fachärzten durch Telemedizin erleichtert oder auch die notärztliche Versorgung durch einen Tele-Notarzt effizienter gestaltet werden (Skorning et al. 2009; Bergrath et al. 2011; Brokmann et al. 2015). Während die Funktionalität und die technischen Möglichkeiten der Telemedizin in den letzten Jahren verstärkt getestet und erweitert wurden, gilt dies nicht gleichermaßen für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und medizinethischen Implikationen dieser Technik. Der Einsatz neuer Technologien darf sich nicht nur an Machbarkeit, Funktionalität und Wirksamkeit orientieren, sondern auch an der Akzept der Nutzer bzw. der Patienten (Groß 2013; Grunwald 2005: 54-60). In einer 2016 veröffentlichten Untersuchung konnte eine 1
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde in diesem Beitrag das generische Maskulinum verwendet; es umschließt dabei immer alle Geschlechter.
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zustimmende Haltung gegenüber der Telemedizin seitens der Ärzteschaft festgestellt werden (Dockweiler/Hornberg 2017; Dockweiler 2016) und gleichzeitig, dass diese eine ebenso zustimmende Haltung von Patienten erwarten (Schultz/Kock 2005; Dockweiler 2016). Insgesamt existieren jedoch nur wenige Untersuchungen, die sich mit der Akzeptanz von Ärzten und Patienten gegenüber telemedizinischer Anwendungen beschäftigen (vgl. Dockweiler 2016: 262; Wielpütz/Rossaint 2011: 21-25; Krüger-Brand 2014; Mennicken/Ziefle 2010). Der Deutsche Ärztetag hat 2015 explizit auf ebendieses Forschungsdesiderat hingewiesen: Die „Akzeptanz telemedizinischer Methoden sollte bei Ärzten und Patienten in wissenschaftlichen Analysen besondere Beachtung finden und bei der Auswahl und Einführung telemedizinischer Methoden berücksichtigt werden.“ (Deutscher Ärztetag 2015). Im Fokus steht dabei die Annahme, dass die wahrgenommene Qualität und Akzeptanz eines Systems bzw. einer Technik sich nicht nur anhand ökonomischer und technischer Aspekte bemisst, also nicht lediglich auf Machbarkeit, Funktionalität und Wirksamkeit reduziert wird. Auch dürfen Technik und ihre Nutzung niemals nur dem Selbstzweck dienen. Stattdessen muss der Antizipation durch die Nutzer Relevanz beigemessen werden, denn in der Regel greift Technik in die Lebenswelt dieser ein. Ziel der Technikanwendung sollte es deshalb sein, die menschlichen Handlungsspielräume zu erweitern und sie im Sinne des Individuums sowie der Gesellschaft zu nutzen (Hennen 2002; VDI 2000; Groß 2013; Bittner 2011; Ropohl 2009; Groß/ Schmidt 2018). Ausgehend von diesen Vorüberlegungen wurde 2017 die Akzeptanz der telemedizinischen Arztvisite von Schmerzpatienten, d.h. Patienten, die an einem sog. Chronischen Schmerzsyndrom leiden, am Universitätsklinikum der RWTH Aachen durch die Klinik für Anästhesiologie, die Schmerzambulanz, den Akutschmerzdienst und das Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin untersucht. Das „Chronische Schmerzsyndrom“ wird als eigenständige chronische Erkrankung eingeordnet. Die Prävalenz wird für Deutschland mit 10 bis 30% angegeben und steigt mit zunehmendem Alter stark an. Über 90% der 75-jährigen Patienten beklagen, an Schmerzen zu leiden. Abhängig vom jeweiligen Bundesland wird ein Großteil der Patienten von ihrem Hausarzt schmerztherapeutisch mitversorgt, wobei diese zumeist keine Zusatzqualifikation in der Schmerztherapie besitzen. Nur etwa 2 bis 8% der chronischen Schmerzpatienten befinden sich bei speziell qualifizierten Schmerztherapeuten in Behandlung. Bezüglich dieser Versorgungslage beklagen die betroffenen Patienten oftmals eine unzureichende medikamentöse Schmerzbehandlung bzw. dass eine Schmerzlinderung lediglich durch Schonhaltung zu erfahren sei. Darüber hinaus sind lange Wartezeiten bis
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zur Erstkonsultation eines spezialisierten Schmerztherapeuten festzustellen: 34% der Patienten warten zwischen einem und sechs Monaten auf einen entsprechenden Termin. Insbesondere in dünn besiedelnden Gebieten haben die Patienten außerdem Anfahrtszeiten von über einer Stunde (Wolff et al. 2011; Breivik et al. 2006; Häuser et al. 2014; Gunzelmann/Schumacher/Brähler 2002; Chrubasik et al. 1998; Basler et al. 2003; Basler et al. 2004; Schmerzliga 2011; Deutscher Bundestag 2013). Die Versorgungssituation bei chronischen Schmerzpatienten ist somit zum gegenwärtigen Zeitpunkt als insgesamt unbefriedigend und unzureichend zu beschreiben. Diesem Problem könnte u.a. durch den Einsatz von Telemedizin Abhilfe geschaffen werden. Ziel der Studie war es, neben der Funktionalität und des Outcomes des telemedizinischen Systems, insbesondere die Akzeptanz der Patienten und ethische Implikationen des Einsatzes von Telemedizin zu ermitteln. Übergreifende Fragestellung war, ob eine Televisite mittels audiovisueller Übertragung im Rahmen angeforderter Schmerzkonsile durch die Schmerzambulanz und im akut postoperativen Bereich durch den Akutschmerzdienst durchführbar ist und welche Akzeptanz diese Durchführung durch die Patienten erfährt. Definiert wurde „Akzeptanz“ im Rahmen der Untersuchung als die Bereitschaft eines Anwenders, in einer konkreten Situation eine konkrete Technik bzw. ein technisches System zu nutzen oder – speziell bezogen auf die Perspektive der Patienten, die nicht als aktive Nutzer verstanden werden können – auf sich anwenden zu lassen. Für die Durchführung der telemedizinischen Konsile wurde das „Remote Presence Robotic System“ (RP-Lite) der Firma „InTouch Technologies“ aus Santa Barbara (Kalifornien, USA) genutzt, das zu Versuchs- und Testzwecken zur Verfügung gestellt wurde. Das System findet in den USA in telemedizinischen Kontexten bereits Anwendung. Das RP-Lite besteht aus einem Fahrgestell, auf dem ein schwenkbarer Bildschirm angebracht ist, ausgestattet mit Lautsprechern, Mikrofon und hochauflösender Kamera. Die Verbindung des Systems wird über W-Lan hergestellt, darüber hinaus ist auch ein Telefon integriert. Das RP-Lite ist akkubetrieben und dadurch mobil.
VORGEHEN UND METHODIK Der Untersuchungszeitraum erstreckte sich über fünf Monate (Januar bis Mai 2017), innerhalb dessen insgesamt 100 Patienten befragt werden sollten. In die Studie eingeschlossen wurden Patienten, für die eine schmerztherapeutische Konsultation durch die Schmerzambulanz angefordert wurde sowie Patienten in der postoperativen Versorgung durch den Akutschmerzdienst. Ausgeschlossen
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wurden Palliativ- und Tumorpatienten, Nichteinwilligungsfähige sowie Patienten mit Sprach- oder Verständigungsproblemen. Diejenigen Patienten, die der Teilnahme zur standardisierten, schriftlichen und anonymen Befragung über die telemedizinische Arztvisite zugestimmt haben, wurden in drei Gruppen eingeteilt. Patienten der Schmerzambulanz wurden in zwei Gruppen randomisiert: Die erste Gruppe erhielt eine konventionelle Visite und die zweite Gruppe eine telemedizinische Visite. Bei den Patienten in Gruppe drei handelte es sich um Patienten in der postoperativen Versorgung, die eine telemedizinische Visite durch den Akutschmerzdienst erhielten. Alle Patienten der drei Gruppen wurden durch denselben Arzt behandelt. Die Datenerhebung fand durch den behandelnden Arzt mit Unterstützung zweier Hilfskräfte und einer Doktorandin statt, die für die Erhebung und den Umgang mit Schmerzpatienten speziell geschult worden waren. Alle in der Studie eingeschlossenen Patienten hatten zuvor bereits einmal persönlich Kontakt zum behandelnden Arzt. Der Ablauf der telemedizinischen Konsultation lief immer nach dem gleichen Muster ab: Das RP-Lite System wurde durch die Hilfskräfte in das Patientenzimmer gefahren, dort für den Einsatz vorbereitet und anschließend der Arzt über den Bildschirm zugeschaltet. Nach Beendigung der Telekonsultation bzw. nach dem Gespräch erfolgte die Übergabe des Fragebogens an den Patienten. Die Inhalte der Fragebögen für die konventionelle Visite und für die Televisite (zwei verschiedene Versionen des Fragebogens) wurden jeweils entsprechend angepasst, um bei den drei Patientengruppen eingesetzt zu werden (Fragebogenkonstruktion: Oktober bis Dezember 2016, inkl. Pretests). Die Fragebogenkonstruktion orientierte sich am aktualisierten Akzeptanzmodell nach Davis (Venkatesh/Davis 2000). Hierbei wurde das Modell entsprechend der zu untersuchenden „passiven Nutzer“ abgewandelt. Darüber hinaus wurden weitere klinische und medizinethische Aspekte berücksichtigt. Die beiden Versionen des Fragebogens – für die Befragung zur konventionellen Visite und zur Televisite – umfassten jeweils Basisfragen zur Einschätzung hinsichtlich von Technikanwendung und -einsatz (14 Items), zur Einschätzung der Telemedizin (11 Items), zu ihrer Person (10 Items) und zu ihrem Gesundheitszustand (18 Items). In der Fragebogen-Version für die Televisite folgte anschließend eine Fragenbatterie zur absolvierten Televisite (16 Items). Darüber hinaus hatten die Befragten im Fragebogen abschließend die Möglichkeit, offene Rückmeldungen zu geben.
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Die Auswertung der Fragebögen erfolgte am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin mittels der Statistik- und Analysesoftware IBM SPSS Statistics 24.2
ERGEBNISSE Insgesamt konnten 84 ausgefüllte Fragebögen registriert bzw. in die Studie eingeschlossen werden: 12 Bögen aus der ersten Gruppe (chronische Schmerzpatienten mit konventionelle Visite) und 12 aus der zweiten Gruppe (chronische Schmerzpatienten mit Televisite) und insgesamt 60 in der dritten Gruppe (postoperative Schmerzpatienten mit Televisite). Das Durchschnittsalter der drei Gruppen liegt bei 57 Jahren. Die Mehrzahl der Befragten ist bzw. war verheiratet und hat mindestens ein Kind. Bei etwa der Hälfte der befragten Patienten wohnt der Nachwuchs noch im Haushalt. Ca. ein Drittel der Befragten befindet sich im Ruhestand. Die soziale Schichtung ist insgesamt recht heterogen. Beide Geschlechter sind etwa gleichhäufig vertreten. Herkunftsland ist mehrheitlich Deutschland, einzelne Personen stammen aus dem europäischen Ausland. Keiner der Befragten hatte zuvor bereits an einer Telekonsultation teilgenommen. Insgesamt konnte bei den Umfrageteilnehmern (N=84) sowohl eine hohe generelle Technikzustimmung als auch eine häufige Techniknutzung ermittelt werden. Auch die Einschätzung der Telemedizin als zukunftsweisende Technik wurde mehrheitlich positiv bewertet. 60 Befragte (76%) waren der Meinung, dass der Schutz persönlicher Daten durch den Einsatz von Telemedizin nicht gefährdet wird. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass die Befragten Telemedizin als nicht schädlich für Patienten einschätzen (n=74; 94%), sondern ihr Einsatz im Gegenteil sogar den Kontakt zum Arzt erleichtert (n=81; 98%). 62 Befragte (74%) hegten aber die Befürchtung, dass der Einsatz von Telemedizin zu neuen Problemen in der Patientenversorgung führt. Konkrete Situationen bzw. Szenarien diesbezüglich wurden in einem offenen Kommentarfeld angegeben (n=26); die Rückmeldungen reichten von bereits öffentlich diskutierten Herausforderungen der digitalen Gesundheitsversorgung wie Datenschutz oder Patientensicherheit bis hin zu gravierenden Zukunftsängsten, wie etwa der Abschaffung von Hausärzten.
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Der Fragebogen ist noch nicht veröffentlicht und wird aktuell in Aachen verschiedenen Studien zur Telemedizin eingesetzt.
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In den beiden Patientengruppen, die eine telemedizinische Visite erhielten (n=72), gaben 55 Patienten (76%) an, dass ihnen der persönliche Kontakt zum Arzt nicht gefehlt habe. Die Mehrheit der Befragten fühlte sich während der Televisite nicht gehemmt im Gespräch mit dem Arzt (n=62; 87%) und hatte kein unbehagliches Gefühl (n=63; 88%). Darüber hinaus wurde das RP-Lite-Gerät nicht als störend empfunden (n=61; 85%) und es gab auch keine Befürchtungen bezügliches des Datenschutzes während der Durchführung der Visite (n=61; 87%). 60 Befragte (83%) gaben an, dass ihnen zukünftig sowohl die konventionelle Visite durch einen anwesenden Arzt als auch die telemedizinische Variante durch einen zugeschalteten Telearzt recht ist. Insgesamt zwölf Personen (17%) bevorzugen hingegen das persönliche Gespräch mit dem Arzt.
DISKUSSION Im Folgenden werden diejenigen Aspekte ausführlicher dargelegt und verortet, die im Zusammenhang mit der Nutzung neuer Technologien in der Medizin bzw. in der Medizinethik diskutiert werden und die in der Befragung thematisiert wurden. Dazu zählen (1) die Arzt-Patienten-Beziehung und -Kommunikation, (2) die Autonomie und Privatheit des Patienten, (3) die Patientensicherheit, (4) Datenschutz und -sicherheit sowie (5) die Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit (Groß/Schmidt 2018; Marckmann 2016; Manzeschke et al. 2013: 16f.; Weber 2015). (1) Arzt-Patienten-Beziehung und -Kommunikation Die Arzt-Patienten-Beziehung unterliegt als immanenter Bestandteil der Medizin jeweils kulturellen, individuellen und situationsabhängigen Veränderungen. Sie ist in der Regel durch eine strukturelle Asymmetrie gekennzeichnet: Einem hilfsbedürftigen, medizinischen Laien steht ein medizinischer Experte – also ein Arzt – gegenüber, der die Möglichkeiten der Hilfeleistung besitzt. Der Arzt hat somit die Deutungs-, Steuerungs- und Expertenmacht inne (Jörlemann 2000: 24f; Groß/Schäfer 2011: 109; Engels/Wiesing 2011: 397). Eine zwischen Arzt und Patient geschaltete Technik wie die Telemedizin kann auf verschiedene Weisen auf diese Symmetrie sowie auf die Beziehung im Ganzen Einfluss nehmen. Durch eine zielgerichtete Kommunikation und Gesprächsführung sowie abhängig vom Grad des aufgebauten Vertrauens kann die Asymmetrie in der Be-
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ziehung reduziert werden (Jörlemann 2000: 25f; Groß/Schäfer 2011: 110). Der Kommunikation zwischen Arzt und Patient kommt also eine zentrale Bedeutung in ihrer Beziehung zu. Im Praxisalltag stellt diese Art der „Beziehungspflege“ aufgrund kurzer Gesprächskontakte und unterschiedlicher Erwartungen auf beiden Seiten eine Herausforderung dar (Groß/Schäfer 2011: 111; Geisler 2004). Entsprechend stellt sich die Frage nach den Auswirkungen auf diese Beziehung bei der Kommunikation mittels Telemedizin. Die Mehrheit der Befragten gab an, dass ihr der persönliche Kontakt zum Arzt nicht gefehlt hat (n=55; 76%). Diese Einschätzung kann teilweise darauf zurückgeführt werden, dass die Befragten vor der Televisite bereits einen persönlichen Erstkontakt zum Arzt hatten (Aufklärungs- und Anamnesegespräch). Ziel der Studie und des Einsatzes der Telemedizin war es, zu untersuchen, ob einige der notwendigen Kontakte zwischen Arzt und Patient, wie die stationäre Visite, mittels eines telemedizinischen Systems stattfinden können, nicht aber das persönliche Arzt-Patienten-Gespräch vollständig zu ersetzen. Insbesondere das Aufklärungs- und Anamnesegespräch hat als Erstkontakt zwischen Arzt und Patient grundlegende Bedeutung für die Beziehung (Groß/Schäfer 2011: 110). Entsprechend kann angenommen werden, dass der persönliche Erstkontakt zwischen Arzt und Patient in der Folge keinen limitierenden Einfluss auf die „Kontaktpflege“ bei zwischengeschalteter Technik hat, sofern beim Erstkontakt eine fundierte Vertrauensbasis gelegt wurde. Ein weiterer Einflussfaktor auf die Arzt-Patienten-Beziehung stellt das Umfeld dar, in welchem die beiden Beziehungspartner miteinander agieren. Vergleichbar mit der konventionellen Visite befand sich der Patient während der Televisite in einem ungewohnten Umfeld – der klinischen Station. Hinzu kommt die ungewohnte Kommunikationssituation, mit dem Arzt über einen Bildschirm in Verbindung zu treten. Der Patient kann hierbei nicht auf den ersten Blick prüfen bzw. erkennen, wo sich der Gesprächspartner befindet und wer eventuell noch dort ist (während unserer Studie befand sich der Telearzt – auch aus Datenschutzgründen – stets alleine in seinem Büro). Auch dies wirkt sich auf die ArztPatienten-Beziehung bzw. die Kommunikation aus. Auf der anderen Seite befindet sich der Arzt, ebenso wie bei einer Präsenzvisite, in dem ihm gewohnten Arbeitsumfeld und hatte bereits Erfahrung in der Anwendung von Telemedizin. Ein Ausgleich hinsichtlich dieser Asymmetrie des Umfeldes würde geschaffen werden, wenn die Televisite beispielsweise vom Wohnort des Patienten aus, also einer ihm gewohnten Umgebung, stattfinden würde (Groß/Schäfer 2011: 115f.). Darüber hinaus haben Untersuchungen zum Kommunikationsverhalten ergeben, dass häufig ein verändertes Verhalten der Kommunikationspartner festzustellen ist, wenn technische Mittel zwischengeschaltet sind bzw. es sich nicht
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mehr um ein Face-to-Face-Gespräch handelt. Zwischengeschaltete Technik wird in dieser Sphäre häufig als „Störfaktor“ wahrgenommen. Dieser wird im medizinischen Kontext in gewisser Weise gesteigert. Der Arzt hat gemeinhin zwei Möglichkeiten, um Informationen über den Patienten zu gewinnen, nämlich das Gespräch sowie die körperliche Untersuchung (Peters 2008: 48). Letztere entfällt im Rahmen der Nutzung von Telemedizin. Die Untersuchungsmethoden des Arztes, die sonst geprägt sind von mündlicher Kommunikation, Sehen, Fühlen und Tasten, müssen im Rahmen der Telemedizin auf das Erfragen und Sehen sowie die nonverbale Kommunikation reduziert werden. Dies führt zu weiteren Herausforderungen in der gemeinsamen Kommunikation (Currell et al. 2000; Brockes/Schmidt-Weitmann/Battegay 2015; Jörlemann 2000: 109). Unterschiedliche Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass der mit Technik einhergehende fehlende physische Kontakt zu Kritik führt (Allen/Hayes 1995; Callahan/Hilty/Nesbitt 1998; Mair et al. 2000) – auch in der vorliegenden Studie kritisierten die Befragten diesen Aspekt, jedoch mit Fokus auf die Patientensicherheit (siehe hierzu Punkt (3) Patientensicherheit). Durch die eingesetzte Technik kann auch die nonverbale Kommunikation (Gesten, Tonfall, Gesichtsausdruck usw.), die dem Arzt ebenfalls als Informationsquelle hinsichtlich des Gesundheitszustandes des Patienten dient (Wiemann/Giles 1992: 215; Groß/Schäfer 2011: 111 u. 115), beeinträchtigt werden, beispielsweise aufgrund der Qualität der eingesetzten Technik (Verbindungsrate, Bildschirmauflösung, Ton). Beim RP-Lite handelt es sich um ein speziell für die Patientenvisite entwickeltes System mit einer qualitativ hochwertigen technischen Ausstattung, wodurch auch die nonverbale Kommunikation gut übermittelt werden kann. Dies kann aber ein Problem darstellen in Szenarien, in denen herkömmliche Computer und Webcams eingesetzt werden, die keine ausreichende technische Kapazität besitzen, beispielsweise bei Televisiten von der Wohnung des Patienten aus. Die verbale Kommunikation stellt somit eine essenzielle Anforderung dar, die sich gleichermaßen an den Arzt und den Patienten richtet (Groß/Schäfer 2011: 115). Oftmals wird von Patienten jedoch über Hemmungen oder Schwierigkeiten berichtet, sich in Gesprächen dem Arzt gegenüber zu öffnen oder wahrheitsgemäß zu antworten, wenn es um persönliche oder intime Anliegen geht, insbesondere, wenn das Gespräch nicht Face-to-Face stattfindet. Sie berichten in verschiedenen Studien von einem Gefühl der Befangenheit (Allen/Hayes 1995; Callahan/Hilty/Nesbitt 1998; Gustke et al. 2000; Mair et al. 2000; Jörlemann 2000: 108). Das konnte in der vorliegenden Umfrage nicht bestätig werden: 62 Befragte (87%) gaben an, sich im Gespräch mit dem Arzt über Telemedizin nicht gehemmt zu fühlen. Darüber hinaus gaben 68 Personen (94%) an, dass die
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Televisite bei ihnen nicht zu Unbehagen geführt habe. Dennoch wird von einigen Umfrageteilnehmern in der offenen Kommentarmöglichkeit auf die „komische“ Situation hingewiesen: „Fand mich gut aufgehoben. War etwas komisch aber kann man sich dran gewöhnen.“ Tatsächlich lässt sich feststellen, dass Gewohnheit und Regelmäßigkeit sowie Aufklärung und Wissen um die jeweilige Technik zu einer Akzeptanzsteigerung führen können (Schäfer/Keppler 2013: 42f.). In der vorliegenden Studie wurde die Televisite mittels des RP-Lite als Videochat durchgeführt, innerhalb dessen Arzt und Patient miteinander kommuniziert haben. Dabei handelt es sich um ein Verfahren, das viele Internet- und Smartphone-Nutzer kennen bzw. nahezu alltäglich nutzen – es handelt sich also nicht um ein genuin neues Verfahren. Dass Screen-to-Screen-Kommunikation defizitär sei und zu sozialer Isolierung führe, ist ein mittlerweile widerlegtes Vorurteil. Eine Beziehung zueinander wird dadurch nicht ersetzt, sondern im Gegenteil um eine zusätzliche Kommunikationsmöglichkeit ergänzt (Höflich 1998; Rössler 2003; Herrmann 1998; Currell et al. 2000; Brockes/Schmidt-Weitmann/Battegay 2015). Darüber hinaus nutzen bereits viele Patienten technische Kommunikationslösungen, wie das Telefon oder die E-Mail, um (Rück-)Fragen mit Ihrem vorher schon persönlich konsultierten Haus- oder Facharzt zu besprechen (Obst 2016: 83 u. 90; Denz 2015). In einer repräsentativen Umfrage von 2015 gaben 44% der Befragten (N=1.600) an, dass sie Routineuntersuchungen bei Haus- und Fachärzten gerne über eine Videosprechstunde vornehmen würden (Jörg 2018: 66). Insgesamt scheint die Bereitschaft der Nutzer bzw. Patienten zur Anwendung von Technik in der Medizin gegeben, wenn sie sich davon einen Vorteil oder eine Verbesserung der Versorgung versprechen (Eichenberg/Hübner 2019). Eine wie auch immer geartete „Entfremdung“ zwischen Arzt und Patient findet nach Einschätzung von Ärzten dabei nicht statt (Obst 2016: 86). Insbesondere durch die Televisite kann aber ein Gefühl von Anonymität und Fremdheit und möglicherweise sogar „Massenabfertigung“ aufkommen. Rückmeldungen in der vorliegenden Studie in den offenen Kommentaren geben Hinweise darauf: So ist die Rede von „menschlicher Entfremdung“, „Anonymisierung des Patienten“ oder sogar einer Entwicklung, an deren Ende „persönliche Kontakte (...) komplett wegfallen“ und „nur noch eine Maschine mit dem Patienten kommuniziert“. Auch das Gefühl, „nicht optimal betreut“ zu werden wird angesprochen. Diese Gefühle oder Befürchtungen der Patienten sind durchaus ernst zu nehmen. Sie lassen sich beheben durch entsprechende Kommunikation mit dem Patienten, die geprägt sein sollte von Vertrauensstärkung und Wissens- sowie Informationsvermittlung.
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(2) Autonomie und Privatheit des Patienten Telemedizin wird von Ärzten einerseits als Bereicherung für das Arzt-PatientenVerhältnis und als förderlich für das shared decision-making wahrgenommen, andererseits gibt es aber sowohl ärztliche als auch Patientenstimmen, die Technik in dieser Situation grundsätzlich als Hemmnis empfinden. Insbesondere bezüglich des shared-decision-making gehen die Meinungen hinsichtlich der Implikationen von Telemedizin auseinander (Obst 2016: 81f.). Shared decisionmaking bezeichnet ein Modell der Arzt-Patienten-Beziehung, bei dem die Entscheidungsfindung bezüglich der Therapie durch Arzt und Patient nach gegenseitigem Informationsaustausch gemeinsam und einvernehmlich getroffen wird mit beiderseitiger Bereitschaft, die gewählte Therapieoption auch aktiv umzusetzen. Dieses Modell bietet demnach die Möglichkeit, die Asymmetrie der ArztPatienten-Beziehung zu minimieren und beide zu Partnern im Rahmen der Entscheidungsfindung zu machen. Insgesamt fördert das shared decision-making die Patientenautonomie, da es dem Patienten selbstständiges und selbstbestimmtes Entscheiden und Handeln ermöglicht (Scheibler/Pfaff 2003; Beauchamp/ Childress 2009: 99-148; Simon/Nauck 2013; Engels/Wiesing 2011: 401). Herrscht bezüglich der Einschätzung der Auswirkungen von Telemedizin auf das shared-decision-making keine Einigkeit, ist dies beim Patienten-Empowerment anders. Zur Patientenautonomie und zum shared decision-making gehört auch der aufgeklärte Patient, der ein Interesse daran hat, sich mit seiner Gesundheit und eventueller Krankheit auseinanderzusetzen, die Situation zu verstehen und entsprechend zu handeln sowie an der Entscheidungsfindung mitzuwirken. Befragte Ärzte sind sich in ihrer Einschätzung darüber einig, dass die zusätzliche Nutzung von Telemedizin das Patienten-Empowerment fördert, jedoch nicht bei älteren Patienten ab ca. 65 Jahren (Obst 2016: 84-86). Dies betrifft auch den Aspekt der Gerechtigkeit (siehe hierzu Punkt (5) Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit). Wie bereits unter Punkt (1) zur Arzt-Patienten-Beziehung und -Kommunikation angeführt, ergeben sich in der veränderten Situation der Televisite aufgrund des fehlenden körperlichen Kontakts erweiterte Anforderungen an die gemeinsame Kommunikation: Der Patient muss seine Beschwerden besser und genauer beschreiben, der Arzt aber auch besser zuhören und ggf. entsprechende Rückfragen stellen. Dadurch wird der Patient stärker in die Kommunikation bzw. den medizinischen Prozess eingebunden, was zu einer Stärkung seiner Position führt (Jörlemann 2000: 109). Da die Konsultation bzw. Kontrolluntersuchungen auf telemedizinischem Wege lediglich als Ergänzung zum persönlichen ArztPatienten-Gespräch stattgefunden haben und dieses nicht gänzlich ersetzt haben,
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sind diese Aspekte nicht direkt abgefragt worden. Vielmehr haben wir auf die Privatheit abgezielt, da sich die Umfrageteilnehmer während der Televisite in den Räumen des Klinikums befanden. Privatheit verstanden als die Kontrolle des Individuums über den Zugang zur eigenen, privaten Sphäre, der nicht nur den geografischen Ort meint, sondern auch die Handlungsfreiheit sowie die Kontrolle über Informationen (Rössler 2001: 139; Linke 2015: 181; Weber 2015: 252255; Volkmann 2003). Diese Privatheit des Patienten ist essenziell, um autonome Entscheidungen treffen zu können (Manzeschke et al. 2013: 16f.; Volkmann 2003). Im Rahmen des Einsatzes von Telemedizin ist eine Instanz – nämlich das technische System – zwischen Arzt und Patient geschaltet, was sich durchaus auf das Gefühl der Privatheit auswirken kann. Allerdings gaben 68 Personen (94%) an, dass die Televisite bei Ihnen nicht zu Unbehagen geführt habe und 69 (96%), dass sie das Gerät selbst nicht gestört habe. Darüber hinaus benötigte der Einsatz des RP-Lite in der konkreten Situation im Klinikum zusätzliche personelle Unterstützung in Form von Hilfskräften, die das Gerät in das Patientenzimmer geschoben, es anschließend entsprechend eingerichtet und bei Bedarf unterstützend zur Seite gestanden haben. Diese haben lediglich das Gerät bedient, waren ansonsten aber – bis auf ggf. notwendige Interventionen zwischendurch – unbeteiligt, während der eigentliche Gesprächspartner des Patienten, der Arzt, nicht persönlich vor Ort war. Der Patient hat sich daher nicht nur in einer für ihn fremden Umgebung befunden, sondern es war auch während des Gesprächs mit dem Arzt eine Person im Raum bzw. in Hörweite, die keine medizinische Funktion ausübte, wie dies zum Beispiel bei Pflegekräften oder Medizinstudierenden der Fall ist, die üblicherweise bei einer Visite anwesend sind. Dies greift selbstverständlich in die Privatheit des Patienten ein und kann Einfluss auf die Kommunikation zwischen Arzt und Patient nehmen. Im Falle einer Televisite in der Hausarztpraxis oder vom Wohnsitz des Patienten aus wird das Setting aber wiederum ein anderes sein und wahrscheinlich als sehr viel privateres und gewohnteres Umfeld bewertet werden. (3) Patientensicherheit Beim Einsatz von Telemedizin entfällt die physische Untersuchung des Patienten durch den Arzt. Im Rahmen der vorliegenden Studie gaben 78 Befragte (94%) an, dass ihrer Einschätzung nach der Einsatz von Telemedizin den Patienten nicht schade, gleichzeitig befanden sich darunter aber auch Einwände, die auf Fehlbehandlung bzw. Behandlungsfehler aufgrund der fehlenden körperlichen Untersuchung verwiesen. In den Kommentaren wurde neben dem Schlagwort „Fehldiagnose“ konkret bemängelt, dass keine körperliche Untersuchung statt-
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findet und deshalb keine Diagnose gestellt werden könne. Darüber hinaus wurde angermerkt, dass es zur „Unterversorgung“ kommen kann und Symptome nicht genau genug festgestellt werden können. Tatsächlich haben diese Befürchtungen der Befragten einen realen Kern und es besteht – abhängig von der jeweiligen Situation – ein gewisses Risiko. Im Rahmen der Televisite in der vorliegenden Studie konnten diese Befürchtungen weitestgehend ausgeklammert werden, da es sich weder um eine Diagnosestellung handelte noch um einen Erstkontakt über Telemedizin und die Patienten sich in einem medizinischen Setting befanden. (4) Datenschutz und -sicherheit Patientendaten gehören zu den sensibelsten Daten überhaupt (Riepe/Schwanenflügel 2013: 54). Die Sicherstellung des Datenschutzes stellt deshalb einerseits die Basis in Bezug auf das Vertrauen und auch des Schutzes der Privatheit des Patienten dar, andererseits ist sie juristisch vorgeschrieben. Im Rahmen des vorliegenden Studiensettings (Televisite innerhalb des Klinikums) bestand die Verbindung stets über das interne Netzwerk, was ein Maximum an Datenschutz gewähren sollte. Anders sieht dies aus, wenn eigene bzw. öffentliche Netzwerke genutzt werden oder private Geräte zum Einsatz kommen, die eventuell nicht die entsprechende Sicherheit bieten können. Hier ist für den Zweck der Telemedizin die Nutzung spezieller sicherer Software anzumahnen und ggf. Transparenz hinsichtlich der Datenerhebung und Datenspeicherung zu gewährleisten. Auch die befragten Patienten der vorliegenden Studie schrieben dem Datenschutz einen hohen Stellenwert zu. 60 Teilnehmer (76%) befürchten nicht, dass die Nutzung von Telemedizin im Allgemeinen den Schutz von Patientendaten gefährdet und 61 (87%) fürchteten während der Televisite nicht um ihre Daten. Gleichzeitig äußerten einige der Befragten (n=12) in den offenen Kommentaren Befürchtungen hinsichtlich der Datensicherheit und Hackerangriffen. Es ist daher anzunehmen, dass hier in erster Linie das Studiensetting der Televisite, das sie als Patienten miterlebt haben, als positiv hinsichtlich des Datenschutzes bewertet wurde. Die Rückmeldungen in den offenen Kommentaren beziehen sich aber wohlmöglich eher auf telemedizinische Szenarien außerhalb dieses Settings. Darüber hinaus sind verschiedene Ebenen von Datenschutz angesprochen: Neben der Befürchtung von Datenklau und Hackerangriffen gibt es Bemerkungen hinsichtlich der Weiterleitung von Daten, des Missbrauchs von Daten, der Sicherheit der Verbindung und auch der Datenspeicherung generell. Im Allgemeinen werden bei einer Televisite nicht mehr Daten des Patienten gespeichert als in einem herkömmlichen Face-to-Face-Gespräch, die dann als
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Patientendaten denselben Richtlinien unterworfen sind, auch wenn bezüglich der Aufzeichnung des Gesprächs ein gewisses Missbrauchspotential besteht (Leupold/Glossner/Peintinger 2016). (5) Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit Die Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit – im Fragebogen nicht explizit thematisiert – ist von den Befragten selbst aufgeworfen worden. In den offenen Kommentarfeldern finden sich fünf diesbezügliche Äußerungen, alle bezogen auf „ältere Patienten“, die „überfordert sein“, „Vorbehalte“ oder „Schwierigkeiten haben“ könnten. Ethisch geboten ist eine gerechte und diskriminierungsfreie Verteilung der vorhandenen Ressourcen und Möglichkeiten des Gesundheitswesens (Groß/Schmidt 2018; Manzeschke et al. 2013: 23; Riepe/Schwanenflügel 2013). Telemedizin ist diesbezüglich zwiespältig zu betrachten: einerseits kann sie beispielsweise dazu beitragen, Personen aus Regionen mit geringer Ärztedichte und Facharztmangel einen besseren Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen. Andererseits besteht jedoch die Gefahr, dass bestimmte Gruppen aufgrund fehlender Technikaffinität, fehlender infrastruktureller oder finanzieller Möglichkeiten (wie einer entsprechenden Internetverbindung) benachteiligt werden. Deshalb ist es notwendig, auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten einzugehen und Telemedizin lediglich als ein unterstützendes und frei wählbares Mittel in der Patientenversorgung einzusetzen. Mit zunehmendem Netzausbau und der kommenden Generation der „Digital Immigrants“ (der vor den 1970er Jahren Geborenen) wird sich dieses Problem jedoch zunehmend relativieren (Obst 2016: 84f.).
FAZIT Bei den untersuchten Schmerzpatienten besteht eine hohe Akzeptanz hinsichtlich des Einsatzes der Televisite, insbesondere als unterstützendes, zusätzliches Instrument in der Patientenversorgung. Besonders in weniger dicht besiedelten Gebieten bzw. Regionen mit fehlenden Fachärzten kann Telemedizin für die Schmerzpatienten und deren Angehörige eine Erleichterung sein, zum Beispiel um den Aufwand für einzelne Termine, Kontroll- oder Nachsorgeuntersuchungen zu reduzieren. Darüber hinaus kann der Einsatz von Telemedizin auch den Arzt zeitlich entlasten, beispielsweise durch das Einsparen von Hausbesuchen.
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Trotz dieser Vorteile gibt es bestimmte Befürchtungen und Zukunftsängste der Patienten, die es in einer ersten Face-to-Face-Kontaktaufnahme auch zu adressieren bzw. zu berücksichtigen gilt. Das in der vorliegenden Studie genutzte RP-Lite System und vergleichbare mobile Geräte sind für den telemedizinischen Einsatz zwar geeignet, jedoch funktionieren für den hier untersuchten Fall auch stationäre (kostengünstigere) Systeme, sofern die technische Qualität gegeben ist. Telemedizin kann so beispielsweise peripheren Kliniken oder sogar Hausärzten den Kontakt zu Schmerztherapeuten in größeren Zentren erleichtern und dadurch auch multidisziplinäre Behandlungen ermöglichen. Dabei gilt es wie bei jedem Einsatz von Technik und jedem sozialen Kontakt auch im Falle der Nutzung von Telemedizin, grundlegende gesellschaftliche und ethische Maßstäbe einzuhalten.
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„Warum stechen, wenn man scannen kann?“ Zum Einsatz sensorbasierter Glukosemesssysteme in der Typ 1 Diabetestherapie Bianca Jansky
EINLEITUNG Die Geschichte der Diabetestherapie zeigt, wie der Einsatz neuer Medikamente, Technologien und Behandlungstechniken wiederholt auch das Alltagserleben der Betroffenen1 und deren krankheitsspezifische Wissensvorräte verändert. Derzeit kann der Einfluss von Technisierungen auf den Alltag von Personen mit Typ 1 Diabetes (T1D) anhand der zunehmenden Ersetzung von blutbasierten Blutzuckermessgeräten durch sensorbasierte Glukosemesssysteme nachvollzogen werden. Bei dieser Messmethode wird nicht mehr der Zuckergehalt des Blutes gemessen, sondern die interstitielle Glukosekonzentration, indem ein Sensor in das subkutane Fettgewebe eingeführt wird und den Glukosewert im Zellzwischenraum misst (Wiedemann 2016: 302; Gehr 2019: 55). Die Sensoren können dabei über einen längeren Zeitraum am/im Körper bleiben. In Deutschland sind diese Messsysteme seit 2016 im Hilfsmittelkatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen enthalten (Ärzteblatt 2019). Mit diesen digitalen sensorbasierten Glukosemesssystemen wird ein ständiges ‚In-den-Finger-Stechen‘ für die Messung von Glukosewerten, durch ein ‚Scannen‘ des auf/unter der Haut angebrachten 1
Da es sich in diesem Beitrag um die Erfahrungen von Personen mit einer chronischen Erkrankung handelt, werde ich den Begriff ‚Patient*in‘ nur mit Bedacht nutzen, und stattdessen ‚Betroffene‘oder ‚Person mit T1D‘ nutzen. Diese Bezeichnungen weisen auf die erkenntnistheoretische und normative Position von Menschen mit T1D hin, krankheitsbezogene Erfahrungen zu machen und die Folgen dieser zu tragen (Schicktanz 2015: 250).
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Sensors ersetzt. Dieser Sensor ist dabei in der Lage fast in Echtzeit Glukosewerte für Nutzer*innen zu liefern. Diese Neuerung in der T1D Therapie wird im Kontext einer „technischen Heilung“ (Heinemann 2017: 226) der chronischen Erkrankung diskutiert. Im Gegensatz zu Akuterkrankungen ist T1D nicht heilbar und durch Dauerhaftigkeit charakterisiert. Betroffenen sind dabei hauptsächlich selbstverantwortlich für ihre Behandlung (Hinder/Greenhalgh 2012:2; Funnell/Anderson 2004; Piras/Miele 2019:121). Das bedeutet, dass Personen mit T1D jeden Tag die Aufgaben des ausgefallenen Organs mit pharmazeutischen und technischen Hilfsmitteln ‚simulieren‘ müssen (Wiedemann 2019: 123). Hierfür müssen Personen mit T1D mehrmals täglich ihren (Blut-)Glukosespiegel messen und entsprechend dieser Messungen Insulin verabreichen (Mol 2000; Mol/Law 2004; Mol 2009). Sie sind in der Praxis selbst verantwortlich, Daten über sich zu erheben, zu erfassen und zu interpretieren (Danesi et al. 2020). Diese hohe Verantwortung in der eigenen Gesundheitsversorgung wird in der soziologischen Auseinandersetzung mit chronischen Erkrankungen auch als eine Art von ‚Arbeit‘ verstanden, die nicht dem medizinisch Geschulten vorbehalten ist, sondern von den Betroffenen selbst ausgeführt werden muss (Glaser/Strauss 1968; Strauss et al. 1985; Corbin/Strauss 1988, 1985). Abbott, der Hersteller eines in Europa am meisten genutzten Systems (Mathieu-Fritz/Guillot 2017), wirbt mit dem Slogan: „Warum stechen, wenn man scannen kann?“ (Abbott Diabetes Care 2019a)2. Dieser als Frage formulierte Werbespruch birgt das Versprechen in sich, mehr Freiheiten von „den Unannehmlichkeiten der routinehaften Blutzuckermessung“ (Abbott Diabetes Care 2019c) zu bieten und einige Dimensionen der Arbeit im T1D Selbstmanagement an die neue Technologie abgeben zu können. Dabei verändert diese technische Neuerung die Alltagspraxis von Personen mit T1D auf verschiedenen Ebenen. Zunächst wird eine unangenehme Praktik durch eine einfachere Handlung ersetzt. Die Konsequenzen für die Nutzer*innen gehen jedoch weit darüber hinaus. In diesem Beitrag soll es darum gehen, empirisch die Perspektiven von Betroffenen dieser Veränderung nachzuvollziehen. Es kann dabei illustriert werden, wie die Einführung einer Technologie den täglichen Umgang der Betroffenen mit ihrer Erkrankung verändert, sie vor neue Herausforderungen stellt und dabei neue Dimensionen von krankheitsbezogener Arbeit entstehen.
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Diesem Werbeversprechen folgend führen viele Betroffene gar keine Blutzuckermessungen mehr durch, was jedoch als gefährlich eingestuft werden kann, und auch nicht den formulierten Zulassungen des Freestyle Libres entspricht. Gelegentliche Kontrollmessungen sind auch hier weiterhin erforderlich (Abbott Diabetes Care 2019b).
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Bevor die Veränderungen der Alltagserfahrungen von Personen mit T1D durch die Nutzung sensorbasierter Messsysteme empirisch rekonstruiert werden, wird zunächst ein Überblick über (digitale) Praktiken der Selbstvermessung in der T1D Therapie gegeben, sowie die Technologie im Zentrum der Analyse erläutert.
„THINK LIKE A PANCREAS“ – PRAKTIKEN DER SELBSTVERMESSUNG IN DER T1D THERAPIE „The patient is his own nurse, doctor’s assistant and chemist. To acquire the requisite knowledge for this triple vocation requires diligent study, but the prize often is worthwhile for it is nothing less than life itself.“ (Joslin 1929)
T1D zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass das subjektive Krankheitsempfinden bei Betroffenen nur dann einsetzt, wenn deren Glukosespiegel sehr hoch oder sehr niedrig ist. Das bedeutet, dass es außer in Fällen von Unterund/oder Überzuckerungen wenige klinische Symptome gibt, die sich äußerlich manifestieren, weshalb oft auch von einer ‚Absenz von Symptomen‘ gesprochen wird (Hess 2018:84). Zur Kontrolle und des ‚Sichtbarmachens‘ der Stoffwechselvorgänge werden Messgeräte eingesetzt. Mit der zunehmenden Verkleinerung dieser Messgeräte geht dabei zunehmend eine Verantwortungszuweisung auf die Betroffenen einher (vgl. Danesi et al. 2020; Kingod 2018; Danholt 2012; Hinder und Greenhalgh, 2012; Mol/Law 2004; Mol 2000). Selbstbeobachtung, Überwachung von Symptomen und Selbstmanagement sind damit konstante Aufgaben der Betroffenen (Schaeffer/Haslbeck 2016:244; Bruni/Rizzi 2013:29). Sie werden dazu angehalten, selbstständig mehrfach über den Tag verteilt ihre Blutzuckerwerte zu messen und falls notwendig mit Insulin oder Kohlenhydraten zu korrigieren. Plotnick und Henderson (1998:78) bezeichnen diese Praktik als „think like a pancreas“. Diese beschriebene Selbstkontrolle der Betroffenen ist grundsätzlich keine neue Praxis. In der Vergangenheit basierten diese Praktiken jedoch auf der (händischen) Führung von Tagebüchern und Blutzuckerprotokollen (Danesi et al. 2020). Bereits 1929 forderte der US-amerikanische Diabetologe Elliot P. Joslin, dass sich Personen mit T1D die notwendigen Kenntnisse für eine selbstständige Überwachung und Behandlung der eigenen Erkrankung aneignen sollen. Glich das Messen des Blutzuckers Anfang des vorherigen Jahrhunderts noch einem chemischen Versuchsaufbau, indem mittels eines Viertelliter Blutes des Betroffenen ein Blutzuckerwert ermittelt wurde – ein Verfahren, das das Mi-
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schen des Blutes mit verschiedenen Chemikalien und einen anschließenden Farbvergleich beinhaltete – wurden in den letzten 100 Jahren zunehmend in der Handhabung einfachere Methoden entwickelt (Liggins 2020: 42). Diese Entwicklung bedeutete für die Betroffenen, dass sie ihren Glukosegehalt im Blut mittels eines Schnelltests zuhause selbst vornehmen können. Hierfür müssen nur noch einige Tropfen Blut auf einen Teststreifen getropft und in ein Lesegerät eingeführt werden. Auch wenn sich die Menge des benötigten Blutes drastisch verkleinert hat, war zunächst auch ein ‚In-den-Finger-Stechen‘ unumgänglich. Bei sensorbasierten Messsystemen fällt nun das ‚In-den-Finger-Stechen‘ weg und die Nutzer*innen bekommen auch ohne aktives Zutun einen Überblick über ihre Glukosewerte. Im deutschsprachigen Diskurs dabei zwischen zwei sensorbasierten Glukosemesssystemen unterschieden: ‚Continuous Glucose Monitoring Systeme‘ (CGM) und ,Flash Glucose Monitoring Systeme‘ (FGM) 3. CGM4 senden die generierten Daten kontinuierlich an eine Empfänger*in (beispielsweise das Smartphone). Nutzer*innen müssen hier nicht mehr aktiv messen, um einen Überblick über ihre Glukosewerte zu erhalten (Henrichs 2013:3). Bei Unterzuckerung ertönt ein Alarm. Die Geräte müssen täglich durch blutbasierte Messgeräte kalibriert werden. Auch FGMs5 messen kontinuierliche Glukosewerte in einer 5-minütigen Frequenz, jedoch werden die Werte nur angezeigt, wenn die Anwender*in den Sensor mit dem Lesegerät oder Smartphone aktiv über eine NFC-Schnittstelle6 erfasst („scannt“). FGM-Messgeräte sind werkseitig kalibriert und müssen während des 14tägigen Tragens nicht vom Anwender mit Blutzuckermesswerten kalibriert wer-
3
In den USA wird beispielsweise nicht zwischen CGM und FGM Systemen unterschieden. Hier bewirbt Abbott der Hersteller des FGM Systems Freestyle Libre, dieses als ein CGM (Abbott Diabetes Care 2019d).
4
Die Verwendung von Akronymen wird auch als ein Teil der Technisierung medizinischer Praktiken diskutiert (vgl. hierzu Henrichs 2013:3)
5
Während CGM-Geräte von unterschiedlichen Hersteller*innen, wie dem USamerikanischen Unternehmen DexCom oder dem irischen Unternehmen Medtronic angeboten werden, gibt es das FGM-System Freestyle Libre nur von dem USamerikanischen Hersteller Abbott.
6
NFC-Schnittstellen (Near Field Communication) sind RFID-Technologien (Radio Frequency Identification), die dem kontaktlosen Datenaustausch aus unmittelbarer Entfernung dienen (Adamowsky 2015:120).
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den, wie das bei den meisten „klassischen“ CGM-Systemen noch erforderlich ist.7 Abbildung 1: Sensorplatzierung am Oberarm einer Teilnehmerin
Quelle: Bianca Jansky
Abbildung 2: Das Lesegerät8
Quelle: Freestyle Libre
Der Sensor des Systems wird 14 Tage auf der Rückseite des Oberarms getragen (siehe Abb. 1) und ist nicht wiederverwendbar. Die generierten Werte werden auf dem Lesegerät (siehe Abb. 2) in Form von Kurvendiagrammen visualisiert (wobei die X-Achse 24 Stunden eines Tages und die Y-Achse die Glukosewerte in Millimol pro Liter oder Milligramm pro Deziliter abbilden). Trendpfeile zeigen zudem an, ob sich der Wert im Vergleich zum vorherigen Wert erhöht oder reduziert hat. Durch die Fülle an Werten können Trends und Statistiken aufgezeigt werden. Zudem können die Daten mit einer Software am PC ausgelesen 7
Für die nachfolgende empirische Analyse wird sich auf FGM-Systeme bezogen. Zum Zeitpunkt der Studie war das FreeStyle Libre System ein besonders häufig genutztes System in Deutschland, da es kostengünstig ist und von seinen Anwender*innen aufgrund der Werkskalibrierung wenig Aufmerksamkeit verlangt (Mathieu-Fritz/Guillot 2017).
8
http://www.freestylelibre.de (letzter Zugriff: 20.12.2017)
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und verschiedenen statistischen Verfahren unterzogen werden (Bailey et al. 2015:788). Thurm und Gehr (2017) vergleichen das Verhältnis von blutbasierter und sensorbasierter Blutzuckermessung mit dem von Bild und Film (Thurm/ Gehr 2017:273). Während man bei der Messung mit Blut nur einen punktuellen Wert angezeigt bekommt und es deshalb keine detaillierten Auskünfte über den Blutzuckerverlauf gibt, zeigen sensorbasierte Messsysteme kontinuierlich Werte an, sodass nicht eine Momentaufnahme generiert wird, sondern ‚bewegteʻ Daten. Aus Werten werden Daten (Wiedeman 2016). Kitchin (2014) nennt das Zusammenspiel der verschiedenen sozialen Akteur*innen, die zur Herstellung solcher Daten beitragen, ‚Datenassemblagen‘. Diese stellen dabei ein komplexes soziotechnisches System bestehend aus einer Vielzahl von Akteur*innen dar (Kitchin 2014: ). Im Kontext der Selbstvermessung können Datenassemblagen aus einem System von Gedanken, Wissensformen, menschlichen Nutzer*innen, Praktiken, Geräten und Software und anderen Akteur*innen bestehen. Manche dieser Datenassemblagen werden zum eigenen Zweck genutzt, die meisten sind jedoch – einmal digitalisiert – außer Reichweite derer, die sie generiert haben und gehören damit kommerziellen Entitäten oder staatlichen Organisationen (Lupton 2016). Damit entsteht eine zunehmende asymmetrische Beziehung von denjenigen, die Daten produzieren und jenen, die diese in großen Mengen verarbeiten und nutzen (Ruckenstein/Schüll 2017: 262, boyd/Crawford 2012: 666f; Nissenbaum/Patterson 2016: 98). In ihrer Rolle als ‚Datenquelleʻ führen Individuen unbezahlte und unsichtbare digitale Arbeit aus und verlieren gleichzeitig die Kontrolle über die von ihnen geschaffenen Daten (Ruckenstein/Schüll 2017: 263). Liegen die körperbezogenen Daten einmal in digitaler Form vor, verschwimmen die Praktiken, die als persönlich und privat begonnen haben, unauflöslich mit dem Netzwerk der digitalen Wissensgesellschaft. Die Kontrolle über die generierten Daten über den eigenen Körper geht dabei zunehmend verloren (Nissenbaum/Patterson 2016: 82). In der Gesundheitsversorgung werden digitalisierte Technologien, wie sensorbasierte Glukosemessgeräte, oft als Möglichkeit verhandelt, Probleme im Gesundheitswesen zu lösen und gleichzeitig Patient*innen zu befähigen, selbstständiger in ihrer Behandlung zu sein (Winthereik/Langstrup 2015: 195). Darauf verweist beispielsweise Oudshroon (2011) in ihrer Beschreibung der Veränderung in der Patient*innenversorgung im Rahmen der Diagnose von Herzrhythmusstörungen. Hier wird profunde und oft unsichtbare Arbeit an die Betroffenen delegiert. Sie müssen eine Technologie einsetzen, ihre Körperprozesse überwachen und Subjektivitäten im Zusammenhang mit körperlichen (In-)Kompetenzen durchführen (Oudshroon 2011: 146).
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In der Praxis werden medizinische Messgeräte zudem oft als wertneutrale Technologien im klinischen Kontext konzeptualisiert auf/in sonst unveränderten Körpern. Der Gebrauch neuer Technologien transformiert immer auch den Körper und das Selbst der Nutzenden (Danesi et al. 2020; Lynch/Farrington 2018: 45). Mol (2000) verweist in Bezug auf Blutzuckermessgeräte darauf, dass diese Agency haben und mehr ‚tunʻ als passiv Tatsachen zu registrieren (Mol 2000:9). Sie zeigt auf, dass Blutzuckermessgeräte nicht nur dazu aktivieren, Blutzuckerwerte im ‚Normalbereichʻ zu erreichen, sondern das auch die Vorstellung, was überhaupt als ‚normalʻ gilt, durch das Messgerät verändert wird (Mol 2000: 19). Weiter illustriert sie, dass die erzeugten Daten bei Betroffenen deren subjektive Empfindungen untergraben können (Mol 2000: 15). Praktiken der Selbstvermessung des Körpers im Kontext von T1D sind keine neuen Phänomene, jedoch entstehen durch die Digitalisierung und Vernetzung der Messgeräte, sowie deren Verbundenheit mit dem eigenen Körper neue Zugänge zum Körper der Nutzer*innen. Dies führt zu detaillierten Generierungen und Weiterverarbeitungen von Daten über den Körper und seiner Erkrankung. Dabei bewirken sensorbasierte Messsysteme nicht unbedingt zu weniger Arbeit für die Betroffenen, sondern oft nur zu einer Verlagerung dieser, wie sich im Weiteren anhand des empirischen Materials nachvollziehen lässt.
METHODISCHES VORGEHEN Die empirische Studie, die diesem Beitrag zu Grunde liegt, ist Teil eines größeren interdisziplinären Projekts zu ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten von mobilen Gesundheitstechnologien.9 Methodologisch orientiert sich die vorliegende Arbeit an dem Paradigma der Situationsanalyse nach Adele Clarke (2005, 2015), die eine Erweiterung der Grounded Theory Methodology (GTM) darstellt und deren Verankerung in der jeweiligen Situation fordert. Für mein Forschungsinteresse ermöglicht dieser methodologische Rahmen sowohl die Rekonstruktion der Perspektiven der Nutzer*innen digitaler Messsysteme, wie auch die Rolle der Technologie selbst, die strukturellen Rahmenbedingungen sowie relevante Diskurse mit einzubeziehen.
9
Webseite des Forschungsprojektes META: www.meta.med.uni-muenchen.de, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.
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Neben 12 problemzentrierten Interviews 10 wurden relevant erscheinende Dokumente identifiziert und ausgewertet. Die Generierung des Datenmaterials erfolgte angelehnt an die Strategie des theoretischen Samplings, wie es innerhalb der GTM vorgeschlagen wird (Charmaz 2000). Zunächst verschaffte ich mir einen ersten Überblick über die verschiedenen menschlichen und nichtmenschlichen Akteur*innen in der untersuchten Situation, indem ich Artikel aus der medialen Berichterstattung zu digitalen sensorbasierten Glukosemesssystemen gesichtet habe. Die Analyse einiger dieser Artikel gab mir einen ersten Überblick darüber, wer überhaupt in den öffentlichen Diskursen um das sensorbasierte Glukosemessen Sprecher*innenpositionen einnimmt und wer nicht. Gleichzeitig erhob ich 2017 sechs erste Interviews mit Nutzer*innen, die als mein Initial Sample (Charmaz 2000) verstanden werden können. 2018 erhob ich aufbauend auf diesen Interviews erneut sechs Interviews mit Nutzer*innen, und fokussierte thematisch stärker auf die Analyseergebnisse der ersten Interviews. Methodisch orientierte ich mich dabei an der problemzentrierten Interviewführung nach Andreas Witzel (1985). Die Fragen sind hierbei dialogisch und auf ein Problem (Thema) ausgerichtet formuliert (Witzel 1985:36). Während die Dokumentenanalyse dazu dient, einen möglichst allgemeinen Einblick in die Verhandlung der neuen Messtechnologie zu ermöglichen, wird durch die Interviews ein fokussierter Zugang auf die Erfahrungen der Nutzer*innen selbst gewährt.
AMBIVALENTE FREIHEIT Zunächst sind die Erzählungen über die Erfahrungen mit dem sensorbasierten Glukosemesssystem von der Schilderung positiver Erlebnisse geprägt. Der Sensor wird von den Teilnehmer*innen als „Revolution“11 und „Erleichterung“ beschrieben, das blutbasierte Messen dagegen als „eklig“ und als ein „Kampf mit [sich] selbst“. Die Dimensionen der Messvereinfachung, die der Sensor mit sich bringt, sind zum einen ein schneller und unauffälliger Messvorgang mit weniger Messutensilien. Zum anderen ist es durch die sensorbasierte Messung
10 Im Sinne einer theoretischen Sampling Strategie wurden auch zwei Interviews mit Nutzenden von sensorbasierten Glukosemesssystemen einbezogen, die von insulinpflichtigen T2D betroffen sind. Diese dienten in der Analyse als Kontrastfälle. Es wurde außerdem ein Interview mit der Mutter eines Kindes mit T1D geführt. 11 Alle direkten Zitate aus dem Datenmaterial werden mit doppelten Anführungszeichen gekennzeichnet, auf die Angabe der von mir vergebenen IDs wird zur besseren Lesbarkeit verzichtet.
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nicht mehr notwendig alltägliche Handlungen dafür zu unterbrechen. Gleichzeitig bringt die neue Messmethode auch neue Schwierigkeiten und Veränderungen für die Nutzenden mit sich, sodass die neue „Freiheit" (Abbott Diabetes Care 2019c) teilweise als ambivalent von den Nutzer*innen erlebt wird. Im Folgenden werden vier Aspekte näher beleuchtet, indem diese ambivalent erlebte Freiheit empirisch nachvollzogen werden kann.
UN/SICHERHEIT Neben der Freiheit sich nicht mehr ständig für das Messen der Blutzuckerwerte in den Finger stechen zu müssen, bietet das Tragen des Sensors zunächst eine neu gefühlte Sicherheit. Eine der größten Gefahren für Personen mit T1D ist es nachts in eine Unterzuckerung zu geraten.Dies kann bei blutbasierten Messmethoden nicht nachvollzogen werden und muss deshalb abgeschätzt werden. Verena12 beschreibt dies wie folgt: „Ich war immer der festen Überzeugung, dass ich Unterzuckerungen wahrnehme. Ja, das war auch sicher am Beginn so, nur wenn du mal länger als zehn Jahre krank bist, dann kann sich das wirklich verändern. Und ich habe eigentlich immer gesagt, ich habe keine Hypos13 in der Nacht. Jetzt mit dem Ding merk ich halt schon, dass ich teilweise sehr sehr tief bin, aber gar nicht wach werde ja und das gar nicht mitbekommen. Ich fühl mich schon ein bisschen sicherer.“
Anders als bei blutbasierten Messsystemen kann bei der Messung über den Senson auch überwacht werden, wie sich der Blutzcker währnd des Schlafes verhält Mit dem Sensor, der kontinuierlich Werte speichert, können Nutzer*innen so einen Überblick über ihre Werte während des Schlafes erhalten, was bei einigen zu einem größeren Sicherheitsgefühl führt. Das Sicherheitsgefühl der Träger* innen wird durch die kontinuierliche Aufzeichnung der Werte, unabhängig von der Messhäufigkeit der Nutzer*innen und durch die grafische Visualisierung des Verlaufs der Werte hergestellt. So erhalten die Nutzer*innen – auch rückwirkend – Aufschluss über ihren Metabolismus in Momenten, in denen nicht aktiv gemessen wird. Verena merkt mehrmals an, dass es jetzt „viel leichter zu überwachen [...] [sei] was [...] in der Nacht passiert“. Dadurch erscheint es ihr
12 Alle Namen der zitierten Teilnehmer*innen in diesem Beitrag sind Pseudonyme. 13 Mit diesem Wortem Begriff wird umgangssprachlich eine „Hypoglykämie“ bezeichnet.
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auch „nicht mehr schlimm, wenn ich mal in der Früh messe und dann erst wieder um zwei Uhr Nachmittag, weil ich genau sehe, ok dazwischen ist das und das passiert, wegen dieser Kurven eben und das- ich möchts nie nie wieder hergeben“. Durch die kontinuierliche Aufzeichnung der Werte, die unabhängig von der aktiven Messung stattfinden kann, erleben die Nutzenden ein Gefühl von Sicherheit und zudem die Unabhängigkeit auch einmal vergessen zu können ihren Glukosewert zu messen. Die neu gewonnene Sicherheit bringt jedoch auch mit sich, dass auf der anderen Seite eine Abwesenheit des Sensors die Nutzer*innen verunsichert: „Also, wenn ich nachts mal keinen Sensor dran hab, weil er halt mal abgegangen ist, dann fühl ich mich total unsicher. Also das verunsichert, weil ich dann denk: Ah ich weiß jetzt nicht, habe ich jetzt heut Nacht einen super hohen Wert gehabt oder war ich niedrig. Ich weiß es nicht und man gewöhnt sich da so dran, dass man da ständig sieht: alles ok oder nicht ok.“
Durch die kontinuierliche Aufzeichnung der Werte, die unabhängig von der aktiven Messung stattfinden kann, erleben die Nutzenden ein Gefühl von Sicherheit und zudem die Unabhängigkeit auch einmal vergessen zu können ihre Glukosewerte zu messen. Nicole beschreibt ihre Verunsicherung als einen Wissensverlust: Sie weiß ohne den Sensor nicht mehr, wie ihre Werte zwischen der aktiven punktuellen Messung ausgesehen haben. Sie spricht von einer Gewöhnung an das ständige Überprüfen der Werte, ohne aktives Zutun ihrerseits. Zusammenfassend kann nachvollzogen werden, dass durch die erlebte Sicherheit auch neue Sorgen bei den Nutzenden entstehen können: Von einigen Teilnehmer*innen wird im Zusammenhang des neugewonnenen Sicherheitsgefühls die Sorge vor dem Zurückfallen in ‚Unwissenheit‘ bei einem Ausfallen des Sensors problematisiert.
„GERADE LINIEN ZIEHEN“ – NEUE IDEALE Zahlen spielen in der T1D Therapie eine große Rolle: vom Glukosewert bis hin zum HbA1c Wert14. Diese Zahlen werden ab dem Tag der Diagnose zu einem wichtigen Bestandteil des Lebens der Betroffenen (Liggins 2020: 17). Um bei blutbasiertem Messen einen Überblick über die Verläufe der Blutzuckerwerte zu erhalten, muss Tagebuch geführt werden. Nutzende erhalten damit punktuell
14 Der HbA1c Wert ist ein Parameter zur Messung der langfristigen Glukoseeinstellung.
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Informationen darüber wie ihr Blutzuckerwert zur Zeit der aktiven Messung aussah. Mit der sensorbasierten Messung werden die Glukosewerte dagegen nicht punktuell nur für die jeweilige aktive Messung angezeigt, sondern den Nutzer*innen werden Informationen über den Gukosespielgel ihres Körpers auch in Momenten zugänglich, in denen sie nicht aktiv messen. Zudem entsteht auch ein neues ‚Bild‘ der eigenen Erkrankung, in Form von Kurven und Linien auf dem Display des Lesegerätes (siehe Abb. 2). Graphischen Repräsentationen der körperlichen Stoffwechselvorgänge werden erst durch die Nutzung des Sensors relevant, denn erst mit dessen kontinuierlicher Datengenerierung erhalten dessen Nutzer*innen die Möglichkeit in Form von Kurven und Linien über ihren Körper zu denken. Diese Visualisierungen werden dabei neben den bisher hauptsächlich relevanten numerischen Repräsentationen der Stoffwechselvorgänge zu einem wichtigen Teil des Lebens der Nutzer*innen. Mit diesem Erkenntnisgewinn über den eigenen Körper geht auch einher, dass neue Ideale entstehen, an denen sich die Nutzer*innen orientieren und die für diese zur Referenzkategorien werden, Linda beschreibt dies wie folgt: „Also ich habe immer Kurven. Da geht es, wenn ich was esse hoch und wenn ich dann wieder spritze, dann geht‘s wieder ein bisschen runter, es sind eher so Kurven und es gibt Leute, die ziehen ganz gerade Linien und das ist deren Hauptziel. Also das ist für die wirklich deren Lebensziel.“
Der Sensor spielt also eine erhebliche Rolle im Selbstverständnis der Träger*innen, erst durch dessen Nutzung wird das Idealbild von „geraden Linien“ erzeugt und dadurch zu einer Norm, die es zu erreichen gilt. Es ist nun nicht mehr nur Ziel einen bestimmten HbA1c Wert zu erreichen, sondern „gerade Linien“, die Abweichungen im Diabetesmanagement sofort sichtbar machen. Dass diese Norm auch bei Menschen, die nicht von Diabetes betroffen sind, physiologisch kaum möglich ist und dass die Zielsetzung, „gerade Linien“ zu produzieren, möglicherweise gesundheitsschädlich sein könnte, spielt dabei eine untergeordnete Rolle für einige Nutzer*innen. Auch eine gesunde Bauchspeicheldrüse könnte gar keine geraden Linien produzieren. Es geht nicht mehr nur darum eine gesunde Bauchspeicheldrüse zu simulieren, sondern diese sogar hinsichtlich eines erst über die kontinuierliche Verfügbarkeit der neuen digitalen Daten ermöglichten, vermeintlichen Ideals von „geraden Linien“ zu übertreffen. Zudem können auch Nutzer*innen, wie Linda, die dem Bestreben nach „geraden Linien“ kritisch gegenüber eingestellt sind, sich nicht entziehen, auch in diesen Visualisierungen zu denken.
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„ES WÄRE BESCHEUERT, SICH FÜR MEINE BLUTZUCKERKURVEN ZU INTERESSIEREN.“ DIE BEDEUTUNG VON PRIVATHEIT IM KONTEXT DES SENSORBASIERTEN GLUKOSEMESSENS Wenn nun aus dem physischen Tagebucheintrag über den Blutzuckerspiegel digitale Daten werden, die von einem pharmazeutischen Unternehmen gehandhabt werden, stellt sich zunehmend die Frage nach der Speicherung und dem Schutz. Aus dem Datenmaterial lassen sich die Konfliktlinien um den Diskurs über die Speicherung von personenbezogenen Daten auf Servern in den USA herausarbeiten. Ist das Lesegerät einmal mit einem Computer mit Internetanschluss verbunden, werden mit der Internetverbindung auch die Daten an einen Server in den USA übertragen und dort gespeichert. Weder das Unternehmen noch Krankenkassen wiesen auf diese Praxis hin. Auf der deutschen Internetseite des Herstellers gibt es in der Rubrik ‚Häufiggestellte-Fragen‘ mittlerweile eine Anleitung, zur Unterbindung des Datentransfers: „Wenn Nutzer nicht möchten, dass Daten von ihnen erhoben werden, haben sie die Möglichkeit, jedes Mal die Internetverbindung zu trennen, bevor das Freestyle Libre Lesegerät mit dem Computer verbunden wird. Die Software unternimmt keinen weiteren Versuch eines Datentransfers, wenn die Internetverbindung wiederhergestellt wird. Auf diese Weise werden keinerlei Daten übertragen.“ (Abbott Diabetes Care 2019e)
Nutzer*innen müssen hier erst einmal wissen, dass der Datentransfer geschieht, um handeln zu können. Es wird von aktiven und informierten Nutzer*innen ausgegangen: Hierbei handelt es sich um die letzte beantwortete Frage auf der FAQ-Seite unter dem Stichpunkt „Fragen zur Software“. Das bedeutet Nutzer*innen müssen, um diese Antwort erhalten zu können, bereits wissen, dass die Datenübermittlung mit der Verbindung des Lesegerätes und dem PC (mit installierter Software) stattfindet. Hier wird ein individualisierender Modus der Verantwortung von Seiten des Unternehmens erkennbar: Es ist die Aufgabe der Nutzer*innen sich über mögliche Konsequenzen der Softwarenutzung zu informieren und selbstständig bei einer Softwarenutzung die Internetverbindung unterbrechen, falls die Nutzer*innen nicht mit dem Datentransfer einverstanden sind. In den geführten Interviews wird den durch den Sensor erzeugten Daten jedoch wenig Schützbedürftigkeit zugeschrieben. Danach gefragt, ob sie sich
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schon einmal über den Datenschutz im Zusammenhang mit der Sensornutzung Gedanken gemacht hat, antwortet Larissa beispielsweise folgendes: „Der gläserne Mensch, [...]. Jeder Mensch, der was über mich wissen will, der erfährt das auch. Das ist heutzutage einfach so, es wäre bescheuert sich für meine Blutzuckerkurve zu interessieren. Ja der ist herzlich eingeladen sich das anzuschauen. Im Zeitalter, in dem wir bedenkenlos in unseren Laptop unsere Kontonummer eingeben und allsolche Sachen also ich mein also nee das ist heutzutage halt einfach so und jeder Hacker findet einfach alles raus was er wissen will. […] Das ist so diese Daten das, ist ja jetzt nicht grade so was wie ich find die nicht intim ja.“
Larissa bezieht sich in ihrer Antwort zunächst auf den Diskurs um den „gläsernen Menschen“, als Metapher für eine unausweichliche Überwachung aller. Sie argumentiert weiter, dass ihr ihre „Blutzuckerkurve“ nicht intim und damit unwichtig für andere erscheint. Als Referenzkategorie für intime und schützenswerte Daten dienen ihr dagegen Bankdaten oder die Aufzeichnungen einer Psycholog*in. Werden Daten wie im Falle der Aufzeichnungen aus einer Therapiesitzung mit Gefühlen oder eigenen Gedanken verbunden, wird ihnen Intimität zugeschrieben. Zahlen und Visualisierungen auf dem Lesegerät des Sensors werden dagegen als unwichtig verstanden. Die Datenspeicherung durch den Hersteller wird damit entproblematisiert, weil die Daten nicht als intim verstanden werden. Die Teilnehmer*innen haben sich bewusst dafür entschieden, dass die Daten für sie unwichtig sind. Es wird dabei nicht reflektiert, dass pharmazeutische Firmen die Daten, die von Nutzenden für private Zwecke generiert wurden, monetarisieren können da diese für Versicherungen, die Kosten einsparen wollen, möglicherweise einen hohen Wert haben könnten (Nissenbaum/ Patterson 2016: 98).
„WIE KANN ICH VERHINDERN, DASS ICH NICHT IN BERÜHRUNG MIT DIESEM KLEBER KOMME“ – DO-IT-YOURSELF-LÖSUNGSSTRATEGIEN Eines der größten Probleme in der Nutzung des Sensors stellt die Reaktion der Haut bei längerer Nutzung dar. Hier erfahren die Nutzer*innen durch das Tragen des Sensors einen Juckreiz, der es ihnen teilweise unmöglich macht, den Sensor weiterhin zu verwenden, dies wird auch durch rote Flecken auf der Haut sichtbar. Die Hautreaktion stellt die Nutzer*innen vor ein Problem: Das Tragen des Sensors ist nicht mehr möglich und mit nichteinschätzbaren Gesundheitsrisiken
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und Folgen verbunden. Um nicht auf die Nutzung verzichten zu müssen, entwickeln die Betroffenen Do-it-yourself-Lösungsstrategien (DIY). Diese sind nicht unbedingt mit Ärzt*innen oder Diabetesberater*innen abgesprochen, sondern sind viel mehr individualisierte Lösungen, „individualized solutions“ (Kingod 2018: 12). So erzählen die Teilnehmer*innen, die von der Hautirritation betroffen sind, von den unterschiedlichsten Herangehensweisen zur Vermeidung dieser. Meist wird versucht eine Barriere zwischen Haut und Sensor zu erzeugen. Nicole beispielsweise erzählt davon, wie die anfängliche Freude über den Sensor durch die Reaktion ihrer Haut schnell nachgelassen hat: „[…] du kannst dich nicht sensibilisieren dagegen oder so was das ist vorbei und dann haben halt eh die Leute, weil sie halt nicht drauf verzichten wollten, ich genauso wenig, angefangen experimentell vorzugehen und zu schauen, wie kann ich verhindern, dass ich nicht in Berührung mit diesem Kleber komm und da gibt’s die verrücktesten Sachen und ich mach’s so, ich mach unten drunter, ich habe so ein Pflaster des ich vertrage da ist kein wie heißt des kein Polyacryl-irgendwas drinnen. Des kleb ich drunter, dann mach ich den Sensor drauf und dann noch mal eins oben drüber dann hält der dann kann ich wechseln, wenn’s nicht mehr schön aussieht oder so und dann bin ich halt einfach sicher, dass ichs mir beim Sport beim Duschen was auch immer nicht abreiße und seitdem funktioniert‘s, also krieg ich keinen Ausschlag mehr“
Sie bezieht sich in ihrer Argumentation darauf wie andere Nutzer*innen „experimentell“ vorgegangen sind, um den Sensor weiterhin nutzen zu können. Die zentrale Frage ist dabei, wie vermieden werden kann, dass der Sensor in direkte Berührung mit der Haut kommt. Dabei erzählt sie von den „verrücktesten Sachen“, die sie bei anderen beobachten konnte. Sie selbst nutzt unter dem Sensor ein Pflaster, das keine Hautirritation bei ihr verursacht. Durch diese selbstgebastelte Lösung „funktioniert‘s“ und die Hautreizungen können vermieden werden. Die DIY Lösungen werden meist mit anderen über soziale Netzwerke geteilt. Hier werden verschiedene Methoden für das Ersetzen des Klebestoffs diskutiert und miteinander ausgetauscht. Dabei geht es vordergründig darum, den Sensor nutzbar zu machen – medizinische, gesundheitliche oder hygienische Aspekte sind dagegen nicht zentral. Es werden also verschiedene Strategien und Methoden herangezogen, die ein kontinuierliches Tragen des Sensors gewährleisten und eine Unterbrechung der Messung vermeiden sollen. Durch den Austausch in den Gruppen scheint die Hemmschwelle für diese selbstständigen Modifizierungen geringer, in den Interviews wird häufig Bezug genommen, wie andere vorgehen. Der Verweis, dass andere die „verrücktesten Sachen“ machen, legitimiert auch die eigene Praxis, die somit als weniger „verrückt“ beziehungsweise als
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nötige Handlung argumentiert wird, um nicht auf das Tragen des Sensors verzichten zu müssen.
DISKUSSION Die Kontrolle der Blutzuckerwerte ist ein wesentlicher Bestandteil des selbstverantwortlichen T1D Managements. Wie in diesem Beitrag nachvollzogen werden konnte, unterläuft die Praxis der Selbstvermessung einer zunehmenden Digitalisierung, die auch die Krankheitserfahrungen der Betroffenen verändert. Anhand der empirischen Beispiele in diesem Beitrag kann nachvollzogen werden, dass die Einführung dieser neuen Technologie in die „Infrastructure of Care“ (Langstrup 2013; Danholt/Langstrup 2012) auch die Lebenswirklichkeit der Nutzenden auf verschieden Ebenen verändert. Durch die Vereinfachung des Glukosemessens wird die für Betroffene unerlässliche Praktik nicht mehr negativ konnotiert, sondern durch die Nutzung eines Sensors zu einer positiveren Erfahrung. Jedoch entstehen auch neue Konfliktlinien und die krankheitsbedingte Arbeit von Personen mit T1D wird nicht unbedingt weniger, sondern verschiebt sich oft nur auf andere Bereiche. So kann zunächst eine Gleichzeitigkeit von Sicherheit und Unsicherheit durch die Nutzung des Sensors nachvollzogen werden: Die Nutzung des Sensors wird von den meisten Teilnehmenden durch ein Gefühl von Sicherheit beschrieben. Durch die technisch vermittelten Visualisierungen auf dem Display des Lesegerätes werden Körperfunktionen, die bisher nicht so einfach zugänglich waren, für die Betroffenen sichtbar gemacht und in Form von Grafiken und Statistiken präsentiert (Lupton 2013: 398). Gleichzeitig reflektieren die Teilnehmer*innen jedoch auch, eine verstärkte Unsicherheit entsteht, wenn der Sensor nicht mehr nutzbar ist und sie keinen kontinuierlichen Überblick über ihre Glukoseverläufe haben können. Etwas was vor der Nutzung des Sensors Teil des Alltags mit T1D war. Zudem kann nachgezeichnet werden, dass die kontinuierliche Verbindung von Körper und Messgerät zwar dazu führt, jederzeit Daten über die eigene Erkrankung zu erhalten und so auch über Momente in denen nicht aktiv gemessen wurde, jedoch bringt diese neue Form von Daten neue Ideale auf, an denen sich orientiert wird. Schon Mol (2000) hat durch die Betrachtung blutbasierter Messgeräte für den Heimgebrauch das transformative Potential dieser aufzeigt. Die Messgeräte bestimmen neue Idealwerte, an denen sich die Nutzer*innen orientieren. Bei der sensorbasierten Messung geht es nun nicht mehr ausschließlich darum, bei der dreimal täglichen Blutzuckermessung einen Idealwert zu erreichen, sondern darum, über eine Visualisierung in Form „ganz gerade[r]
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Linien“ eine permanente Idealwertentwicklung zu erzielen. Diese „geraden Linien“ sind dabei keine prädiskursiven Eigenschaften des Körpers, sondern viel mehr werden diese erst durch den Akt des Messens hervorgebracht. Zudem entstehen durch die kontinuierliche Erfassung bewegter Daten und des Tragens eines vernetzen Sensors auch neue Fragen in Bezug auf Datenschutz und der Schützenswertigkeit von Glukosedaten, mit denen sich die Betroffenen vor der Nutzung nicht auseinandersetzen mussten. Die erhobenen Glukosedaten, die als persönliche und private Vermessung der eigenen körperlichen Funktionen begonnen haben, liegen nun in digitaler Form vor, und sind damit meist, wie es Nissenbaum und Patterson (2016) sowie Lupton (2016) beschreiben, außerhalb der Reichweite derer, die sie generiert haben. Nutzer*innen sensorbasierter Glukosemesssysteme führen hier genau diese unsichtbare digitale Arbeit für pharmazeutische Konzerne aus, die Nissenbaum und Patterson (2016: 98) beschreiben, denn für die Unternehmen sind die erzeugten Daten von besonderer Relevanz, auch wenn ihnen die Nutzenden selbst wenig Wichtigkeit zuschreiben. Damit wird, um auf das Konzept von Arbeit bei chronischen Erkrankten von Strauss und Corbin (1985, 1988) zurückzugreifen, deutlich, dass Personen mit T1D mit der gewonnenen Freiheit durch das Nutzen des Sensors auch neue Formen der Arbeit ausüben müssen und diese oft nur weniger sichtbar sind, ähnlich wie es Oudshroon (2011) beschreibt. Dies wird auch besonders deutlich, bei der Betrachtung der Do-it-yourself Lösungsfindung für das Problem der Hautirritation unter dem Sensor. Hier arbeiten die Nutzenden meist ohne den Rat von medizinisch Geschulten an Lösungsstrategien und orientieren sich an anderen Nutzenden und deren Strategien.
FAZIT Praktiken der Selbstvermessung des Körpers in der T1D Therapie stellen kein neues Phänomen dar, durch die Digitalisierung und den Einsatz von sensorbasierten Glukosemesssystemen verändert sich diese zentrale Selbstvermessungspraktik jedoch doch enorm und somit auch die Krankheitserfahrungen der Nutzenden. Durch die kontinuierliche Generierung von Daten über den eigenen Körper entstehen neue Zugänge zum Körper der Nutzer*innen. Neue Technologien in der T1D Versorgung greifen in bereits bestehende Versorgungsinfrastrukturen ein (Danesi et al. 2020) und der Gebrauch dieser transformiert auch den Körper und das Selbst der Nutzenden (Lynch/Farrington 2018:45). Ziel dieses Beitrags war es, vertiefte Einblicke in die Selbstversorgungspraxis von Betroffenen, deren praktisches Wissen, sowie den Formen von Arbeit (Cor-
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bin/Strauss 1985, 1988), die erforderlich sind, um sensorbasierte Glukosemesssysteme in ihren Alltag zu integrieren und die hier bereits bestehenden Versorgungsstrukturen zu geben. Dabei kann nachgezeichnet werden, dass die gelebten Erfahrungen der Nutzenden viel nuancierter sind, als nur der Austausch einer Messtechnologie und –handlung durch eine andere. Nutzende stehen vor neuen Herausforderungen, müssen bestehendes Wissen über ihre Erkrankung neu sortieren und sich Problemen wie Datenschutz, widmen. Es ist deshalb besonders wichtig, Veränderungsprozesse der Technisierung in medizinischen Kontexten immer auch vor dem Hintergrund ihres Einflusses auf die Lebenswelten der Erkrankten zu betrachten. Es sind deren Alltagspraktiken, leibliche Erfahrungen und Wissensvorräte, die mit jeder technischen Neuerung beeinflusst und neu ausgehandelt werden.
DANKSAGUNG Mein Dank gilt allen Teilnehmer*innen, die sich nicht nur die Zeit genommen haben mit mir zu sprechen, sondern mir auch das Vertrauen geschenkt haben teilweise sehr intime und private Erfahrungen mit mir zu teilen. Zudem möchte ich mich bei Bernhard Gehr und Ulrike Thurm für ihre zahlreichen Kommentare zu den technischen und medizinischen Details der sensorbasierten Glukosemessung bedanken.
FINANZIELLE FÖRDERUNG Die Studie ist Teil des Projektes META „mHealth: ethische, rechtliche und soziale Aspekte“ gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (FKZ 01GP1791).
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Healthy Smart Home Verortung des Wohnraums in der digitalen Gesundheitsversorgung Birgit Saalfeld, Urs-Vito Albrecht
EINLEITUNG Ursprünglich war das Telefon ein Apparat, mit dem die menschliche Stimme über Distanzen übermittelt werden konnte. Heutzutage bieten die „Smartphones“ weitaus mehr Möglichkeiten durch die Erweiterung mit Computertechnologie. Die Verbindung von Mobilität mit den Eigenschaften eines Computers und Sensorik führt zu einer enormen Vielfalt an Anwendungsmöglichkeiten. „Smart“ ist allerdings längst kein Alleinstellungsmerkmal von Mobiltelefonen mehr. Im Gegenteil: Der Formfaktor ist austauschbar und zunehmend werden auch Alltagsgegenstände in unserer häuslichen Umgebung „smarter“. Vom Herd über den Kühlschrank bis zum Bilderrahmen und der Steckdose werden Wohnungen mit dieser Technologie ausgestattet, vernetzt und automatisiert, sodass vom „Smart Home“ gesprochen wird. Mit dieser „smarten“ Umgebung eröffnen sich neben der allgemeinen Unterstützung des Lebensstils auch neue Möglichkeiten für die Gesundheitsversorgung. Informations- und Kommunikationstechnologie wird bereits gemeinsam mit angeschlossener Sensorik bei sämtlichen häuslichen (und außerhäuslichen) Digitallösungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie eingesetzt. Die Hoffnung, die sich mit der Implementierung verbindet, ist unter anderem das Bedürfnis der Patient*innen, länger in der gewohnten Umgebung zu verbleiben, statt in ein Krankenhaus zu kommen oder in eine Pflegeeinrichtung zu übersiedeln. Krankheiten oder Risikofaktoren können idealerweise in der smarten Umgebung am „Point of care“ frühzeitig erkannt und mit geringem Aufwand adressiert werden.
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Der vorliegende Beitrag erörtert in Grundzügen die Möglichkeiten und Grenzen von Sensorik in der „smarten“ Häuslichkeit, stellt damit einhergehende potenzielle, neue Lebensweisen und Versorgungsformen vor und diskutiert deren Implikationen. Nach einer Einführung in die Thematik wird die Technologie und ihre Anwendung in der Lebenswirklichkeit und mit Gesundheitsbezug vorgestellt. Anschließend folgt eine kurze Betrachtung von Daten als Schlüsselmerkmal der „smarten“ Technologie. Danach werden Implikationen der Technologie für einzelne Aspekte, wie die Realisierung, den Datenschutz und die Gesundheitsversorgung erörtert und im letzten Abschnitt der Beitrag zusammengefasst.
HOME COMPUTING Die Digitalisierung der privaten häuslichen Umgebung steht sicherlich eng in Zusammenhang mit dem Konzept des „Home Computers“ (Höltgen 2019). In den 80er Jahren wurden in Deutschland Mikrocomputer für den Gebrauch zu Hause mit großem Erfolg der breiten Masse angeboten. Zuvor waren Computer nur Fachleuten in Großrechneranlagen der Industrie oder der Wissenschaft zugänglich. Durch technischen Fortschritt, die damit einhergehende Reduktion der Bauteilgrößen und das Sinken der Preise wuchs das Interesse von Bastler*innen und der Computer eroberte neben kleineren Firmen auch private Lebensbereiche. Bastler*innen und Hobbyisten bauten Computer zunächst aus Bausätzen selbst auf und bald waren fertige Systeme erschwinglich, die meistens über das heimische Fernsehgerät betrieben wurden. Im Vordergrund der Nutzung standen Rechenoperationen auf der Konsole als Vorboten der heute gern genutzten Tabellenkalkulationsprogramme. Genauso kamen erste Wortprozessoren zum Verfassen von Schriftstücken und frühe Datenbanksysteme auf. Interessierte Programmierer*innen konnten Erweiterungen für die Programme selbst entwickeln. Dieses stellte aufgrund der nutzerfreundlicher werdenden Programmiersprachen und -Dialekte zunehmend geringere Hürden dar. Es ist davon auszugehen, dass schon früh an der Anbindung der Computertechnik an das Lebensumfeld von Bastler*innen zur Übernahme von automatisierbaren Aufgaben gearbeitet wurde. Sofern das elektrotechnische Know-how vorhanden war, bauten sie sich selbst die nötigen Schaltungen zur (automatisierten) Messung, Steuerung, Dokumentation und Ergebnispräsentation und banden sie per Schnittstelle ein. Vielfach waren in Bastlerhaushalten schon selbst entwickelte Schaltungen und Mechaniken aus der pre-Home Computer Ära vorhanden, die für eine Rollladen- oder Lichtsteuerung sorgten und nun an den Computer angebunden werden konnten. Durch diese Technologie entfiel die Notwen-
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digkeit zur harten Verdrahtung der Programm- und Steuerungslogik. Die sich schnell entwickelnde Transistor-, Mikroprozessor- und Speichertechnologie führte zu einem Boom in der Branche, was zu immer kleineren, immer leistungsfähigeren und günstigeren Computern führte. Kabel zur Vernetzung der Komponenten waren von jeher wartungsarm und effizient in der Datenübertragung, brachten aber zusätzliche Komplexität und Einschränkungen mit sich. Offen verlegte Kabel schränkten die Mobilität des Menschen enorm ein – entweder war das „Kabel zu kurz“, um sich mit den Gerätschaften an die gewünschten Orte zu bewegen oder sie waren Stolperfallen und oftmals zudem ein ästhetisches Problem. Richtigen Aufschwung erfuhr die Technologie daher durch die Verbesserung der „Kommunikationsfähigkeiten“ durch drahtlose Anbindungsmöglichkeiten. Ziel war die möglichst kabelfreie Anbindung an das weltweite Internet, genauso, wie an das „Heimnetzwerk“. Jetzt war die Anbindung von datenerfassender Sensorik und steuernder Aktorik ohne Kabel realisierbar. Kabellose Vernetzung ermöglichte somit die flexible, leicht installierbare Technisierung, ohne Zerstörung der räumlichen Umgebung.
ELEKTRONISCHE HELFER IM HAUS Bereits heute werden smarte Technologien in diversen Haushalten eingesetzt und in Musterwohnungen erprobt (Siegel/Dorner 2017; Schrom/Schwartze/ Diekmann 2017). An zahlreichen Stellen in und um die Wohnung herum können Bauteile die kleinen und großen Aufgaben des Alltags erfassen, beeinflussen oder übernehmen. Verbaut sind Sensoren zum Messen von Umgebungsparametern und Aktoren zur Verrichtung von Arbeit. In den folgenden Abschnitten wird plastisch illustriert, wie Komfort, Unterhaltung, Sicherheit, Effizienz und Gesundheit durch Smart Home-Technologie hergestellt werden (sollen). Komfort Der technikgestützte Komfort beginnt bereits vor bzw. beim Betreten der Wohnung. Statt den richtigen Schlüssel in der Tasche zu suchen, sind der Chip oder ein Fingerabdrucksensor an der Haustür bequeme Alternativen. Nach erfolgter Authentifizierung können die Bewohner*innen eintreten. Sollte einmal ein Schlüssel-Chip verloren gehen, ist er schnell deaktiviert, was die Sicherheit verbessern und bei der Einsparung von Kosten hilft. Bei Betreten der Wohnung kann der Person und Tageszeit angepasst Musik aus den Lautsprechern ertönen (Kang/Seo 2019) oder es können Benachrichti-
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gungen angezeigt oder vorgelesen werden. Das Licht wird ebenso den momentanen individuellen Bedürfnissen angepasst und stimmungsvoll arrangiert. Wenn gewünscht, kann der am Abend übliche Einkauf in überfüllten Supermärkten der Vergangenheit angehören: Vom Sofa oder schon unterwegs lässt sich der Inhalt des Kühlschranks abfragen und zur Neige gehende Produkte können nachbestellt bzw. die Einkaufsliste angepasst werden. Die Lieferung erfolgt dann idealerweise zu einem festgelegten Zeitpunkt und muss nur noch verstaut werden. Fragen zum Wetter, allgemeinen Informationen oder anstehenden Terminen beantwortet der Sprachassistent. Dieser kommt oft als Lautsprecher im gewünschten Design in den Haushalt und hat über seinen Internetzugang Zugriff auf die lokal vorhandenen bzw. über das Netz abrufbaren Informationen: Das können allgemeine Daten ebenso wie aktuelle Messdaten der im Haus integrierten Sensorik oder die in der Cloud vorhandenen persönlichen Daten und Informationen sein. Das Schicken einer diktierten Kurznachricht an einen Kontakt aus dem Telefonbuch ist mit Sprachassistent oder sogar „vollautomatisch“ – bei bestimmten Ereignissen – genauso leicht steuerbar wie das Einschalten bzw. Steuern von Haushaltsgeräten zu definierten Zeitpunkten. Mit einem frisch gebrühten Kaffee, initiiert von der Hausautomatisierung nach Klingeln des Weckers, beginnt der Tag gut. Unterhaltung Eng mit dem Aspekt „Komfort“ verknüpft ist der Bereich „Unterhaltung“. Der Zugriff auf die Vielfalt an Unterhaltungsmöglichkeiten ist von nahezu überall möglich, wo ein Internetzugriff in passender Bandbreite verfügbar ist. Das gilt natürlich auch in der Wohnung. Ebenso wie das Smartphone von unterwegs können auch die im Smart-Home integrierten Abspielgeräte auf Podcasts, Streaming-Dienste und Co. zugreifen und gewährleisten ein nahezu nahtloses Medienerlebnis. Nach Unterbrechung der Wiedergabe an einem Gerät startet das nächste Gerät an der Unterbrechungsstelle. Das Anpassen der Wiedergabe an die jeweils erkannte Umgebungssituation, z.B. Laustärkenregulierung, ist möglich. Dazu zählt auch die Auswahl der zum Laufrhythmus passenden Musik beim Joggen (Lee/Kimmerly 2016), was wiederum von ebenfalls eingebundenen Fitness-Trackern oder den Sensoren des Smartphones erkannt wird. Über das GPS-Signal des Mobiltelefons oder der Smartwatch ist die zurückgelegte Laufstrecke nachvollziehbar und mit Zeitangaben versehen. Im Fitness-Tracker integrierte Pulsmesser und Schrittzähler erfassen weiter Trainingsparameter. So kann eine Einschätzung der aktuellen Laufparameter im Vergleich zu früheren Läufen vorgenommen oder akustisch oder durch Vibration gewarnt werden, wenn Laufgeschwindigkeit oder Puls eine Überforderung der Läufer*in vermu-
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ten lassen. Zur Motivation lassen sich Trainingserfolge direkt in den sozialen Netzwerken teilen und anerkennende Kommentare der Freund*innen erreichen das eigene Smartphone bald darauf. Per App ist schnell ersichtlich, wer sich in der Nähe befindet und ganz spontan ist ein Treffen auf einen Kaffee oder der gemeinsame Stadtbummel möglich. Zu Hause kann die Medienwiedergabe oder das Erkennen sonstiger Freizeitaktivitäten und Umgebungsparameter auch zur Steuerung der Beleuchtung genutzt werden: Wird ein Spielfilm abgespielt, ist eine andere Beleuchtung wünschenswert als bei wolkenverhangenem Himmel über Tag oder dem Lesen eines Buches am Abend. Die Steuerung erfolgt einfach mittels Smart Home: Zum Spielfilm wird per Ambilight die Farbe und Helligkeit der Umgebungsbeleuchtung dem aktuell gezeigten Bild angepasst. Dies verbessert das Medienerlebnis. Abends können hingegen die Helligkeit und der Anteil blauen Lichts für die Raumbeleuchtung automatisiert deutlich reduziert werden, um Schlafstörungen vorzubeugen (Cupkova et al. 2019). Unterhaltung und Komfort können somit auch Einfluss auf gesundheitliche Aspekte nehmen. Sicherheit Die teils bereits für Komfort und Unterhaltung skizzierten Möglichkeiten können auch sicherheitsbezogen sinnvoll sein. Auf nahezu jedem Endgerät lassen sich Messdaten aus dem Haus und daraus ableitbare Statusmeldungen, Hinweise, Handlungsanweisungen und Sonstiges in Bild-, Ton- und Textform mittels Automatisierung empfangen, sofern das Gerät dafür konfiguriert und die passende Wiedergabemöglichkeit vorhanden und umgesetzt ist. Nötigenfalls kann auf Ereignisse auch vom jeweiligen Endgerät oder Sprachassistenten reagiert und steuernd eingegriffen werden. Dieses enorme Maß an Flexibilität ist ein Schlüsselkonzept für die Umsetzung der umfangreichen Sicherungsmöglichkeiten. Während der Abwesenheit der Bewohner*in simuliert eine Anwesenheitssimulation mittels Licht, Jalousien-Bewegung oder Geräuschen aus Lautsprechern die Anwesenheit und soll so Einbrecher abschrecken (Ohland 2018). Fenster und Türen sind mit Kontaktsensoren versehen und melden, wenn der direkte Kontakt zwischen Flügel und Rahmen durch Öffnen des Elements verloren geht. Die Bewohner*innen erhalten eine Benachrichtigung über die Aktivitäten und können sich Live-Videos von Überwachungskameras ansehen oder über Bewegungsmelder die Bewegungen von Eindringlingen im Haus verfolgen. Falls nicht schon automatisiert geschehen, kann die Bewohner*in dann die Sirene manuell starten und eine Meldung an die Polizei geben. Neben der Vermeidung von Einbruch und Diebstahl bietet eine Automatisierung viel Potential für die Sicherheit der Bewohner*innen in der Häuslichkeit. Bleibt die Haustür einmal
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unbeabsichtigt geöffnet, kann der Zustand durch Meldung zügig abgeändert werden. Über die Videosprechstelle an der Tür ist der visuelle und auditive Erstkontakt zur Besucher*in möglich und erst anschließend erfolgt die Entscheidung über den Einlass. Falls Kinder in der Wohnung leben, kann es sinnvoll sein, die Stromversorgung von Geräten wie Wasserkocher, Herd oder Waschmaschine nur gezielt zuzulassen. Die Gefahr einer Fehlbedienung durch Kinder ist dadurch und durch eine zusätzliche Authentifizierung, z.B. mittels Eingabe einer PIN, reduziert. Die Küche ist mit viel Funktionalität im Haushalt ein Ort, dem besonders Aufmerksamkeit zu schenken ist. Es besteht die Gefahr, das Essen auf dem Herd oder im Backofen bei der Zubereitung zu vergessen, während einer anderen Aktivität nachgegangen wird. Dann verringert die automatische Abschaltung der Geräte bei langer Inaktivität in der Küche oder die Abschaltung aufgrund der Meldung eines Rauchmelders das Brandpotenzial und ist mitunter lebensrettend. Beim nächtlichen Toilettengang hilft ein über Bewegungsmelder automatisch eingeschaltetes, gedimmtes Licht im Flur und im Bad, alles Wichtige zu erkennen und verringert somit das Risiko des Stolperns und Fallens. Effizienz Nicht erst seit der Klimawandel immer stärker ins allgemeine Bewusstsein rückt ist das Energiesparen in der Häuslichkeit ein Thema. Es beginnt unter anderem mit dem automatisierten Ausschalten der Heizung sobald ein Fenster geöffnet wird. Noch komfortabler ist eine automatisierte, energieeffiziente Raumsteuerung. Diese reguliert zimmerabhängig die Temperatur auf das Wunschniveau. Zu hohe Luftfeuchtigkeit, verbrauchte, muffige Luft oder gar Schimmel sind dank CO2-Meldern, Luftfeuchtemessung und Lüftungssteuerung kein Thema mehr (Ohland 2018). Darüber hinaus unterstützen Beschattungssteuerung und Tageslichtlenksystem beim effizienten Nutzen der Sonnenenergie bei gleichzeitiger Schaffung von angenehmen Wohnverhältnissen. Über Präsenzmelder in den Räumen ist es möglich, den Energieverbrauch an die Bedürfnisse der Bewohner*innen und deren Anwesenheiten anzupassen. Der Energieverbrauch zum Heizen, der Wasserverbrauch gemessen von Durchflusssensoren an den Armaturen und der Stromverbrauch werden erfasst, ausgewertet und darauf basierend die Haussteuerung automatisiert abgestimmt. Abwesenheiten, z.B. erkannt aufgrund von fehlenden Bewegungen im Hause innerhalb eines bestimmten Zeitraums oder durch Abwesenheitsnotiz im Kalender können hierzu einbezogen werden. Auf Wunsch werden die von der Sensorik erfassten Daten in verschiedenen Detailgraden visualisiert dargestellt, z.B. als Trendkurven. So lässt sich der Energieverbrauch gut im Überblick behalten. Ein Eingreifen der Bewoh-
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ner*innen ist im Idealfall nicht erforderlich. Die Mess- und Regelungstechnik kann auch gesellschaftlich relevante Effekte haben: Künftig könnten durch die Steuerung des Ladezeitpunkts von Elektroautos über eine Wohngegend hinweg Leistungsspitzen im Netz vermieden werden, was die Infrastruktur schont und langfristig auch die Kosten der Verbraucher*innen reduzieren kann. Gesundheit Mit der Eroberung sämtlicher Lebensbereiche durch smarte Technologien liegt es nahe, die Technologie (auch) für Gesundheitsbelange zu nutzen. Das Potenzial hierfür wird im Achten Altersbericht der Bundesregierung wie folgt beschrieben: „In Medizin und Pflege erhofft man sich von technischen und digitalen Anwendungen Entlastung und Unterstützung des Fachpersonals sowie möglicherweise auch ein Potenzial für Kostensenkungen.“ (Deutsches Zentrum für Altersfragen 2019) Insgesamt lassen sich gesundheitsbezogene Fragestellungen im Smart Home sowohl mittels speziell dafür entwickelter Sensorik klären als auch indirekt über Sensoren, die eigentlich für allgemeine Mess- und Steuerungsprozesse entwickelt wurden. Ein Beispiel spezifisch angepasster Gesundheitssensorik sind smarte Toiletten in der Wohnung, die regelmäßig oder kontrolliert im Krankheitsfall eine Variante zum Screening in der Arztpraxis darstellen können. Smarte Toiletten können bei Bedarf den Urin auf Glukosegehalt (Yamamoto et al. 2018), Leukozytenzahl, Blutanteil, Proteinwert, Ketonwert, Nitritwert, Urinbilinogenwert, Bilirubinwert, pH-Wert und spezifisches Gewicht analysieren. Auch das Wiegen übernimmt die Toilette, erfasst dabei die Körpertemperatur und mit zusätzlichem Armband ist parallel die Überwachung des Blutdrucks möglich. Diese Daten können, passende Infrastruktur und den entsprechenden Wunsch vorausgesetzt, auch direkt an die behandelnde Ärzt*in weitergegeben oder in der elektronischen Gesundheitsakte gespeichert werden. Nicht primär für die Ärzt*in, sondern für die eigene Überwachung gibt es darüber hinaus eine Vielzahl von gesundheitsbezogenen Apps und Sensoren am Markt. Ob es darum geht, Kalorien oder Schritte zu zählen, das Trinkverhalten zu dokumentieren oder Fitness-Programme auszuführen – die Selbstvermessung im Sinne von „Quantified-Self“ ist leichter umzusetzen als je zuvor (Lupton 2016). Auch die soziale Teilhabe am Leben anderer ist dank Unterstützung durch Technologie umfassend möglich. Mit Chat-Funktionalität, Bild- und Videotelefonie rücken räumliche Distanzen in den Hintergrund. Diese Dienste nutzen auch zunehmend medizinische Einrichtungen und ersparen der Patient*in die Reise. Per Tele-Besuch lässt sich vieles bequem und ressourcenschonend klären. Kommt es zur Medikamenteneinnahme,
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zeigen Displays und Smartphone per Push-Benachrichtigung zur rechten Zeit die Erinnerungen zur Einnahme an (Ali et al. 2018). Außerdem verringern sie das Risiko der Fehleinnahme indem sie entweder ein Bild des einzunehmenden Medikaments zum Vergleich anzeigen oder noch besser die korrekte Form, Farbe und Größe der abfotografierten Tablette per App bestätigen. Über die Analyse der mit dem Smartphone gesendeten Texte oder der Stimmlage beim Sprechen lassen sich Rückschlüsse auf den Stimmungszustand der Nutzer ziehen (Faurholt-Jepsen et al. 2016). Abhängig vom Verhalten und einem eventuellen Krankheitsbild sind aufmunternde, stimulierende oder das Craving unterbrechende Maßnahmen durch die Hausautomatisierung möglich. Bei Schwerhörigkeit von Bewohner*innen ist die Klingel mit dem Licht koppelbar, um das Klingelsignal zusätzlich durch Lichtblitze wahrzunehmen. Tonsignale sendet ein Fernseher per Bluetooth direkt an ein Hörgerät, sodass gut und weniger gut hörende bei für alle angenehmer Lautstärke dem Programm folgen können. Blinde und sehbehinderte Menschen profitieren von der Möglichkeit, sich Texte in beliebigen Geschwindigkeiten vorlesen zu lassen. Da der Sprachassistent Kommunikation mit vielen Geräten ermöglicht, sind auch Geräte bedienbar, die mit Touch-Display für sehende Menschen konzipiert sind. Der Sprachassistent kann auch auf Hilferufe reagieren. Mobilitätseingeschränkte, allein lebende Personen können über einen Hausnotrufknopf am Handgelenk oder um den Hals getragen einen Hilferuf auslösen. Verwandte, Nachbar*innen oder ein medizinischer Dienst können bei gedrücktem Knopf per Videozugriff und Gespräch den Kontakt herstellen. Binnen kurzer Zeit ist abzuschätzen, ob es sich um einen Fehlalarm, einen Notfall oder etwas dazwischen handelt. Dementsprechend sind die notwendigen Schritte einzuleiten. Neben der Feststellung etwaiger Stürze kann das Verhalten im Alltag ein Indikator für den Gesundheitszustand von Bewohner*innen sein. Die Anwesenheit von Personen in der Wohnung ist unter anderem über Präsenzmelder in den Räumen bekannt. Da Menschen regelmäßig Nahrung aufnehmen oder die Toilette aufsuchen müssen ist mit einem grundlegenden Maß an Raumwechseln und Nutzung von Objekten wie der Toilette oder der Besteckschublade zu rechnen. Das Öffnen und Schließen der Schublade ist mittels Erschütterungssensoren zu erfassen. Bei Unregelmäßigkeiten im alltäglichen Verhalten kann ein Hinweis an Vertraute frühzeitig das auffällige Verhalten kommunizieren und schweren Folgen zuvorkommen. Ein langer Aufenthalt auf dem Flur kann je nach Person entweder ein Hinweis auf ein langes Telefonat mit dem im Flur befindlichen Apparat sein – was praktisch aber durch die Auswertung der Telefoniedaten ausgeschlossen werden könnte – oder ein Hinweis auf ein potenzielles Sturzereignis, welches eine zeitnahe Hilfeleistung erfordert. Die Signale und Gewohnheiten kön-
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nen bewohnerabhängig sehr unterschiedlich sein und sich bei mehreren Bewohner*innen auch überlagern. Eine Differenzierung kann schwierig werden. Soweit möglich müssen Regeln zur Interpretation der in der Wohnung aufgenommenen Daten aber für die Zielpersonen individualisiert werden.
VOM ROHDATUM ZUR AUSWERTUNG Bei allen dargelegten Prozessen spielen Daten eine zentrale Rolle. Ihre Erhebung über die Sensorik und das Ergebnis ihrer Verarbeitung, zum Beispiel in der Aktivierung eines Aktors oder das Senden einer Meldung wurde in den vorherigen Abschnitten ausführlich beschrieben. Die folgenden Zeilen widmen sich kurz und technisch der Speicherung, Verarbeitung und Auswertung der Daten, um sich dem Datenbegriff zu nähern. Erfassung und Speicherung von Daten Die verschiedenen Sensoren erfassen Umgebungsparameter und speichern sie als Daten verschiedenen Typs (Zustände, Zahlenwerte, Zeichenketten, Tonspuren, …). Je nachdem, welcher Sensor-Hersteller bzw. welches Programm die Daten erfasst und aufbereitet liegen die Daten in verschiedenen Formaten vor. Prinzipiell erfolgt die Unterscheidung in zwei Kategorien. Im besten Fall, d.h. der ersten Variante, erfolgt die Speicherung mit einem offenen Standard. Dieser lässt die Weiternutzung der Daten durch alle dafür angepassten Programme zu. Bei der zweiten Variante, dem proprietären Format, ist eine Weiterverarbeitung der Daten an den Hersteller und die von ihm angebotene Software gebunden. Teilweise sind Exporte in offene Formate möglich, die aber nicht selten mit einem Informationsverlust einhergehen. Unabhängig von der vorliegenden Art der Speicherung können die Daten einerseits lokal, z.B. auf einem Mini-Computer ohne Anbindung ans Internet vorgehalten werden. Der Zugriff ist dann nur lokal möglich und die privaten Daten sind vor fremden Zugriffen geschützt. Dem gegenüber steht die Speicherung der Messwerte in der Cloud, d.h. auf Servern, die üblicherweise außerhalb der direkten Kontrolle der Nutzer*innen liegen und von beliebigen Endgeräten aus über das Internet erreichbar sind. Abhängig von der Lokalisation der Server ist in diesem Fall unter anderem das erreichbare Datenschutzniveau zu hinterfragen. Daten in der „Cloud“ zu speichern ist nicht zuletzt auch Vertrauenssache. Werden dem Stand der Technik entsprechende Verfahren verwendet (inkl. Verschlüsselung bei Übertragung und Speicherung) und ist somit eine schnelle
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Reaktion auf etwaige Sicherheitsereignisse erkennbar, ist schon viel gewonnen. Zum Schutz vor Fremdzugriffen ist ein rollenbasiertes Zugriffskonzept mit Benutzerkonten notwendig. Als Teil der Datensicherheit (im Sinne von Schutz der Daten vor Verlust) muss darüber hinaus mit Maßnahmen wie der Vervielfältigung bzw. Datensicherung gearbeitet werden. Bei physischem Ausfall eines Systems sind die Daten dann bei Bedarf aus anderer Quelle rekonstruierbar. Dies ist bei der Speicherung „im Internet“, also auf den Servern von Cloud-Anbietern, oft leicht realisierbar, da die Server mit den Sicherungskopien mitunter weltweit verteilt stehen. Bei einer lokalen Speicherung, d.h. nur in der jeweiligen Wohnung, kann es schneller zu totalem Datenverlust kommen, wenn beispielsweise das speichernde Gerät bei einem Kurzschluss Schaden nimmt. Verarbeitung von Daten Das Sammeln und die Auswertung von Daten erfolgen basierend auf der Fragestellung bezüglich einer Person mit dem Ziel, die gestellte Frage zu beantworten. Eine solche Frage könnte lauten: „Wie oft hat Frau M. am gestrigen Tag die Toilette aufgesucht?“ Für den Fall, dass Frau M. am gestrigen Tag allein in der Wohnung war und diese nicht verlassen hat ist die Antwort direkt aus der Anzahl der Toilettenspülungen zu ermitteln. Hat sie die Wohnung verlassen, Besuch gehabt oder es nutzen mehrere Personen die gleiche Toilette kann die alleinige Auswertung der Zahl der Spülungen ohne Berücksichtigung des Kontexts bzw. besonderer Umstände zu unpassenden Rückschlüssen führen. Es könnte etwa angenommen werden, dass ein gesundheitliches Problem vorliegt, weil die Spülung zu oft oder zu selten betätigt wurde und daraus abgeleitet werden, dass ein Eingreifen erforderlich ist, obwohl Frau M. gesund und aktiv ist. Dieses simple Beispiel zeigt, wie basierend auf real gemessenen Daten gekoppelt mit nicht gültigen Annahmen leicht falsche Schlüsse gezogen werden können. Informationen über den Kontext der Datenerhebung sind daher als zusätzliche, sogenannte „Metadaten“ im Verarbeitungskontext relevant und müssen mit erfasst und ausgewertet werden. Die eigentliche Verarbeitung der Daten erfolgt mittels Algorithmen. Algorithmen sind Vorschriften, die festlegen, in welcher Reihenfolge der Computer welche Aktionen durchzuführen hat, damit letztlich die gesuchte Lösung erzeugt wird (Nebel 2012). Auswertung und Nutzen von Daten Daten können heutzutage als eine Währung angesehen werden. Sobald sie – ob strukturiert oder nicht – erfasst sind, können sie im Hinblick auf mehr als nur
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eine Fragestellung ausgewertet werden. Dies schließt Auswertungen mit für den Menschen positiver Intention ebenso ein wie einen möglichen Missbrauch der Daten, der den Interessen der Datenspender*innen widerspricht. Technisch können Sicherungsmechanismen wie die Mehrfaktor-Authentifizierung angewandt werden (Baruah/Dhal 2018), um die Daten vor Zugriffen durch Fremde zu schützen bzw. Identitätsdiebstahl und damit erlangten widerrechtlichen Zugriff zu vermeiden. Ebenso kann eine Beschränkung des Zugriffs auf Teilbereiche der erfassten Daten – gerade wenn dieser durch Dritte erfolgen soll – sinnvoll sein. Eine absolute Sicherheit vor Missbrauch ist aber unmöglich. Ein Fremdzugriff oder eine Auswertung, die nicht im Interesse der Datenspender*innen liegt (zu Überwachung, etwaigen Werbezwecken usw.) kann so zwar erschwert, aber ebenso wenig verhindert werden wie eine Fremdsteuerung von Aktorik in der Häuslichkeit. Der Wert für Dritte liegt in diesem Fall im Missbrauch von Daten.
IMPLIKATIONEN In den vorherigen Abschnitten wurde illustriert, wie das „Smart-Home“ als Bestandteil des privaten Alltags verschiedene Aufgaben übernehmen und mit ihren Ausprägungen zunehmend Teil neuer diagnostischer und therapeutischer Werkzeuge sein kann. Die Grundlage dessen bildet das Speichern, Verarbeiten und Auswerten von Daten. In diesem Abschnitt sollen die Implikationen auf das Individuum und die Gesellschaft thematisiert werden, die aus der Daten(um)nutzung hervorgehen. Neben der Realisierbarkeit, der Akzeptanz und dem Datenschutz werden auch die Veränderungen in der Gesundheitsversorgung und therapeutischen Verhältnis kurz adressiert. All dies in dem Wissen, das allenfalls Denkanstöße gegeben werden können und eine ausführliche Diskussion an andere Stelle geführt werden muss und soll. Implikationen für die Gesundheitsversorgung Mit dem Einsatz von smarter Technologie in der Wohnung verbindet sich die große Hoffnung, dass (ältere) Patienten eine maßgeschneiderte Versorgung erhalten, um möglichst lange in der Häuslichkeit verbleiben zu können, statt in eine institutionelle Einrichtung verbracht werden zu müssen. Ziel ist der Erhalt von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, fernab der Rund-um-die-UhrBetreuung, aber unter ganztägiger, unauffälliger Überwachung, um bedarfs- und bedürfnisgerecht im Patient*innensinne reagieren zu können. Welche Ergänzungen zweckmäßig und hilfreich sind und wie die Datenaufbereitung und -prä-
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sentation für medizinisches Fachpersonal effektiv und effizient erfolgen kann ist momentan Forschungsschwerpunkt. Die Methoden zur Auswertung der Daten für die Diagnosestellung und Therapie sind kein Neuland. Welche Schlussfolgerungen die Daten zulassen und welche Auswirkungen dies für die Gesundheitsversorgung hat lässt sich erst mit der Zeit und vielen ausprobierten Varianten ermitteln. Eine andere Folge der neuen „Gesundheitsdaten“ könnte ein verändertes Beitragssystem sein. Falls anhand der aufgezeichneten Daten dann festgestellt werden kann, dass die Bewohner*innen sich gut um ihre Gesundheit kümmern, indem sie z.B. ausreichend lange schlafen und sich gesund ernähren, werden die Kosten für Gesundheitsleistungen übernommen. Falls nicht, wird die Bewohner*in selbst zur Kasse gebeten, wie es schon beim Zahnersatz mit Bonusheft Realität ist. Mit jeder gestellten Suchanfrage, mit jeder Aktivität in der Wohnung und außerhalb, mit jedem Einkauf und jedem Gespräch werden Daten generiert, die von den Algorithmen der verschiedenen Akteure zur Auswertung herangezogen werden können, sofern sie Zugriff darauf haben. Voll automatisiert kann somit ein digitales Abbild unseres Daseins erweitert und vervollständigt werden. So wie die mit sozialen Netzwerken geteilten Informationen und das Verhalten darin als „neue Vitalparameter“ (vgl. Young 2018) bezeichnet werden, können auch die Aktivität in der Wohnung und weitere Erkenntnisse aus den Wohnungsdaten als neue Vitalparameter gelten. Die Auswirkungen dieser Daten auf uns und die im Wandel befindliche Gesundheitsversorgung können wir heute nur erahnen. Daher ist es wichtig, die potenziellen Folgen der Daten zu antizipieren und verantwortungsvoll mit den Gesundheitsdaten und den Auswertungen umzugehen. Gerade das Ableiten klinisch relevanter Aussagen aus den erhobenen Daten stellt sich als Herausforderung dar. Wie im Beispiel mit der Toilettenspülung angedeutet, können Daten unter anderem aus Nichtberücksichtigung des Kontexts, falscher Kalibrierung oder Manipulation fehlerbehaftet sein und zu falschen Schlussfolgerungen führen. Neben dem Ausbleiben von Maßnahmen sind auch unerwünschte oder schadhafte Effekte möglich. Akzeptanz und Realisierbarkeit Alle vorgestellten Methoden und Szenarien sind theoretisch umsetzbar. Bei der Alltagstauglichkeit scheitern allerdings viele Umsetzungen an der Komplexität des Menschen und seines Verhaltens. Menschen streben danach selbstbestimmt zu leben. Mitunter kann die Akzeptanz von sensorbasierten Gesundheitssystemen durch eine unterstellte oder wahrgenommen unerwünschte Kontrolle auf den Lebensstil zu paradoxen Handlungen führen. Denkbar sind Personen, welche
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die Schrittzähler abends gegen Entlohnung „Gassi führen“, um die benötigte Schrittzahl zu erreichen, ohne Bewegung des Besitzers. In Bezug auf das Potenzial der Wohnung als neuen Gesundheitsstandort ergibt sich ein Potenzial zur Zweckentfremdung durch Manipulation. Berridge (Berridge 2017) berichtet beispielsweise von der Tatsache, das Smart Home nach einem Sturz auszutricksen, um dem Aufenthalt in einer Notaufnahme und der ärztlichen Untersuchung zu entkommen. Eine Bewohnerin habe sich nach ihrem Sturz zum Telefon geschleppt und den Nachbarn um Hilfe gebeten. Während die auf die Hilfe wartet täuscht sie Aktivität vor, um einer automatisierten Rettungskette und der ungewollten Krankenhauseinweisung zu entkommen, die vielleicht sinnvoll gewesen wäre. Anders herum ist ein vorgetäuschter Sturz denkbar, um soziale Interaktion mit dem medizinischen Personal zu erhalten, um der Vereinsamung zu entkommen. Abgesehen von der menschlichen Manipulation bestehen durch die technischen Grenzen des Systems Gefahren für den Menschen bei der Realisierung. Ein unschönes aber mögliches Szenario im Kontext der Notsituation ist die Auslösung von Fehlalarmen oder das Nicht-Erkennen realer Notsituationen aufgrund fehlerhafter Algorithmen. Beim Einsatz von Assistenzsystemen ist daher zu berücksichtigen, dass sie perfekt Algorithmen abarbeiten können, die oft, aber nicht immer, zielführend sind. Sobald solche technischen Assistenzsysteme notwendig sind, um das Leben so selbstbestimmt und selbstständig wie möglich weiterführen zu können steigt die Akzeptanz zur Annahme derselben mit ihrer Notwendigkeit (Offermann-van Heek et al. 2019). Das zunehmende Bestreben nach Sicherheit und Komfort erfolgt auf Kosten der stückweisen Aufgabe der Privatheit. Die Realisierbarkeit der automatisierten Datensammlung und -auswertung hängt von der Finanzierbarkeit ab. Der Trend geht dahin, dass bei immer mehr Neubauten und Modernisierungen verschiedenste Steuerungstechniken eingebaut werden, um Energie und damit Kosten zu sparen. Der Gesundheitssektor kann in diesem Aspekt Nutznießer sein. Mit einem geringen Mehraufwand sind ein großer Mehrwert und Nutzen für die Bewohner möglich. Im Bereich der ambienten Sensorik geht der Wandel erst langsam voran und wird entweder durch Wohnbaugesellschaften (Schwartze et al. 2016) oder von privaten Interessenten getrieben. Dies ist unter anderem darin begründet, dass bauliche Veränderungen an der Wohnung vorgenommen werden müssen und dies vor allem Mietern nur in begrenztem Maße erlaubt ist. Sicherlich könnten Phantasien dahingehend entwickelt werden, dass ein Mietanteil für die verbaute Sensorik und integrierten Dienste auch über ermittelte Datenprofile der Bewohner abgegolten werden. Das Modell funktioniert bereits erfolgreich bei Apps und Co., die hierdurch (ver-
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meintlich) kostenlos oder sehr kostengünstig zu beziehen sind. Diese Finanzierungsmodelle sind allerdings zu hinterfragen, da sie einem Missbrauch Tür und Tor öffnen, wie im nächsten Abschnitt ausführlicher erläutert wird. Datenschutz Daten stehen im Zentrum jeder Digitalisierungsbemühung. Gesundheitsdaten sind seit jeher besonders schützenswürdig, da ihr Missbrauch zu schwerwiegenden Folgen für die Geschädigten führen kann. Dieser Umstand ist bekannt und wird mit der Schweigeverpflichtung für Angehörige der Gesundheitsfachberufe berücksichtigt, deren Brechung empfindlich strafbewehrt ist (siehe u.a. §203 StGB). Neben der Stigmatisierung öffnet die Kenntnis über die Gesundheit einer anderen Person Unbefugten eine Vielzahl von Manipulationsmöglichkeiten. Bewerbungschancen für Stellen, Abschlüsse von Versicherungen, die Aufnahme von Krediten, die Vermietung von Wohnungen, familiäre, partnerschaftliche und freundschaftliche Beziehungen – sämtliche Lebensbereiche können durch einen (Gesundheits-)Datenmissbrauch empfindlich kompromittiert werden. Im Falle von genetischer Information kann dies sogar auch (entfernte) Familienangehörige aktueller und zukünftiger Generationen betreffen. Werden diese Daten noch um persönliche Informationen aus dem Lebensumfeld angereichert, wird das Gesundheitsprofil um dynamische Information erweitert. Verhalten lässt sich ableiten und im sozialen, wie gesundheitlichen Kontext bewerten. Diese Profilerstellung kann in den Händen Unbefugter den Schaden noch vergrößern. Das Informationsportfolio kann im harmlosen Fall zum Senden von personalisierter Werbung genutzt werden, aber genauso gut auch zur direkten Manipulation und Steuerung in Richtung eines systemerwünschten (Gesundheits-)Verhaltens. Es stellt sich als enorme Herausforderung dar, unter diesen Kautelen die Freiwilligkeit und Souveränität des Individuums zu gewährleisten – insbesondere unter den Aspekten der Ressourcenknappheit und des Kostendrucks. Das Querschnittsthema Datenschutz ist bei der Gestaltung gerade von digitalen Versorgungsprozessen von besonderer Bedeutung. Bei der Datenverarbeitung und -auswertung herrschen in Deutschland rechtlich strikte Maßnahmen, die die Person und ihre Daten schützen. Insbesondere die Verarbeitung von Gesundheitsdaten ist entsprechend der einschlägigen Gesetzgebung verboten und unterliegt dem „Verarbeitungsverbot mit Ausnahmevorbehalt“ (siehe u.a. Art. 9 Abs. 1 und 2 DSGVO). Die in der Wohnung erhobenen Daten werden primär nicht als Gesundheitsdaten gesehen. Dennoch bleibt das Sammeln und Verarbeiten dieser Daten zustimmungspflichtig. Darüber hinaus gesteht Artikel 13 des deutschen Grundgesetzes das Grundrecht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung
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zu. Diese ist auch zu wahren, wenn Sensoren Daten in der Wohnung aufzeichnen. In anderen Ländern herrschen mitunter weniger strikte Regularien und sobald Daten auf Servern in Drittländern gespeichert werden, gelten die dortigen Regelungen. Da der Markt für diese Technologien grenzüberschreitend ist, sind auch jegliche datenschutzrechtlichen Regelungen denkbar, die nicht dem deutschen, respektive europäischen Datenschutzniveau entsprechen. Patienten/Klienten – Versorger-Kommunikation Mit dem Ziel, die Diagnostik, Therapie und Pflege von den Institutionen „Arztpraxis“, „Krankenhaus“und „Pflegeheim“ in die Wohnung zu verlagern, sind Veränderungen in der Kommunikation zwischen Patient*innen/Klient*innen und Versorgenden unumgänglich. Die bestehenden Prozesse werden sich ändern und neue entstehen. Hierdurch sind Auswirkungen auf die Beziehungsgefüge zwischen Patient*innen und Versorgenden zu erwarten. Durch automatisierte- und Ferndiagnostik werden Kontaktzeiten reduziert und auf das Notwendige beschränkt. Wie so oft stellt sich aber die Frage, was das Notwendige darstellt. Vom Aspekt der Effizienz mag der Blick auf die Daten reichen, um objektive Abschätzungen zu treffen (auch algorithmisch), doch kann das Bedürfnis auch ein ganz anderes sein. Nähe und direkte menschliche Interaktion sind wichtige Bestandteile des therapeutischen wie pflegerischen Verhältnisses und der psychisch-sozialen Gesundheit. Es ist anzunehmen, dass Smart Home-Konzepte zur Effizienzsteigerung in Diagnostik, Therapie und Pflege führen werden, was zeitliche Ressourcen schont. Diese werden aber sicherlich nicht dazu verwendet werden sich eingehender (sozial) mit derselben Patient*in auseinanderzusetzen, sondern andere Patient*innen zu versorgen, sofern nicht genügend Spezialist*innen zur Verfügung stehen. Es ist daher denkbar, dass die Menschen zwar länger in ihrer Wohnung bleiben und diese seltener verlassen müssen, was im Umkehrschluss auch zur (Selbst-)Isolation führen kann. Sporadische persönliche Kontakte zu Fachkräften werden damit zu zufälligen Ereignissen. Aber jeder im menschlichen Umgang Erfahrene weiß, dass gerade im persönlichen Kontakt unausgesprochene, da vorher unbewusste oder tabuisierte Themen adressiert werden können. Abgesehen davon ist die Wirksamkeit einer Maßnahme direkt von einer vertrauensvollen, respektvollen und wertschätzenden Beziehung abhängig. Diese lässt sich schwerlich über unpersönliche, kurze Kontakte aufbauen. Es gilt daher Smart Home-Konzepte zu entwickeln, die diese Bedürfnisse ebenfalls abdecken, um die Wohnung nicht zur bloßen Überwachungs- und Verwaltungseinheit zu machen.
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ZUSAMMENFASSUNG Die Digitalisierung im Gesundheitssektor stellt neue und mächtige Werkzeuge zur gesundheitlichen Versorgung durch die Sammlung, Verarbeitung und Auswertung von altbekannten und neuen Gesundheitsdaten zur Verfügung. In diesem Beitrag steht die Digitalisierung der Häuslichkeit als Exempel für sämtliche Digitalisierungsbemühungen, welche das Potenzial für weitreichende und nachhaltige Änderungen der jetzigen Form der Gesundheitsversorgung besitzen. Die Wohnung als Zentrum des familiären und freizeitlichen Lebens wird folgerichtig in ein ganzheitliches Konzept der Gesundheitsversorgung eingeschlossen. Als neuer „diagnostischer und therapeutischer Raum“ (Haux 2010) bietet die Wohnung insbesondere Potenzial über die direkte Behandlung der „Krankheit“ in einer klassischen Versorgungseinrichtung hinaus. Sie ergänzt das bisherige Portfolio an Gesundheitsdaten um Daten, die nicht primär einen Gesundheitsbezug besitzen, von denen aber Informationen mit Gesundheitsbezug abgeleitet werden können. Die Wohnung stellt gleichzeitig einen besonders geschützten Ort dar, der nicht nur das Individuum sondern auch die mit ihm lebenden Familienmitglieder, Freunde, Bekannte und sogar Fremde, die sich in der Wohnung oder der Reichweite der Sensorik befinden, mit einschließt. Die Daten sind privat bzw. gesundheitsbezogen und somit besonders schützenswert. Allein aus dieser Konstellation lässt sich eine Vielzahl an Interessenkonflikten herleiten, die sich aus dem Gesundheitsinteresse des Einzelnen im Kontext mit den Grundbedürfnissen von Privatheit und dem Schutz der Anderen ergeben. Mit der Digitalisierung des Wohnraums werden Stück für Stück neue Schnittstellen zu sämtlichen Akteuren des Gesundheitswesens, wie Mediziner*innen, Pflegediensten und Krankenkassen geschaffen. Sie erlaubt gleichzeitig die Anbindung an wirtschaftliche (gesundheitsnahe) Dienstleister. Dieses Netzwerk ist komplex und gleichzeitig dynamisch. Es überbrückt nicht nur Sektorengrenzen zwischen ambulanter und klinischer Versorgung, sondern weicht auch die Grenzen zwischen Gesundheitsangeboten des primären- und sekundären Gesundheitsmarkts auf. In diesem Konstrukt kann immer weniger scharf zwischen gesundheitlichen, medizinischen, Wellness-, Komfort- oder Sicherheitslösungen unterschieden werden. Vielmehr werden sämtliche Lösungen zu Gesundheitsanwendungen mit Gesundheitsbezug versehen und (um-)deklariert. Der ganzheitliche Gesundheitsbegriff, wie ihn die WHO formuliert, bietet hierfür eine nachvollziehbare Grundlage. Diese beschreibt „Gesundheit“ nicht als bloße Abwesenheit von Krankheit sondern bezieht das seelische und körperliche Wohlbefinden als Aspekte der Gesundheit mit ein (WHO 1948).
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Durch die Erweiterung der Gesundheitsinformation aus der Lebenswirklichkeit der Menschen mittels Sensorik kann ein objektiv gemessenes und daher vielleicht umfassenderes Bild über das Verhalten und den Zustand eines Menschen abgeleitet werden. Dieses soll idealerweise der individualisierten Gesundheitsbehandlung Rechnung tragen. Der steigende Technisierungsgrad kann allerdings genauso eine Reduktion der Interaktion zwischen Patient*in und medizinischem Fachpersonal zur Folge haben, da standardisierte, algorithmisierte Erhebungen und Auswertungen das persönliche Gespräch und die Interaktion mit medizinischem- oder anderem Gesundheitspersonal auf ein Mindestmaß reduzieren können. Gerade die Kommunikation und Interaktion stellen indes wesentliche Komponenten zur Erhaltung der sozialen und psychischen Gesundheit dar und dienen dem ganzheitlichen Blick auf den Menschen. Der Medizin wird bereits heute vielfach schon vorgeworfen, dass sie eher nüchtern und datengetrieben sowie symptomorientiert zu diagnostizieren und zu behandeln versucht, statt einen ganzheitlichen Blick auf die Patient*innen zu haben. Inwiefern die neuen „smarten“ Möglichkeiten einer Datenflut zur Vervollständigung des ganzheitlichen Mosaiks „Patient*in“ beiträgt oder zu einer Reduktion des Menschen zu seinem digitalen Abbild führt, ist eine Entscheidung, an der Personen und Institutionen, gleich ob Patient*in, Ärzt*in, Politik oder Wirtschaft, beteiligt ist. Die Gestaltung der Digitalisierung ist eine gesellschaftliche Aufgabe.
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Evaluation der „Entscheidungshilfe Prostatakrebs“ Chancen & Perspektiven eines Online-Tools für shared decision-making in der Versorgungsforschung Philipp Karschuck, Johannes Huber
EINLEITUNG Multimediale Entscheidungshilfen sind eine Antwort auf das steigende Bedürfnis der Patienten nach leitliniengerechten Informationen und partizipativer Entscheidungsfindung (Charles et al. 1997, Chewning et al. 2012: 10, Huber et al. 2011: 692, Müller-Engelmann et al. 2011: 240). Konzepte für Patienten, die eine gemeinsame Therapieentscheidung zwischen Arzt und Patient vorsahen, kamen erstmals in den frühen 1970er Jahren auf (Veatch 1972). Diese Konzepte postulieren einerseits eine „informierte Zustimmung (Informed Consent)“ des Patienten in die vom Arzt vorgeschlagene Behandlungsmaßnahme. Anderseits versuchen sie die Patientenautonomie und die Transparenz der Arzt-Patient-Beziehung zu stärken (Beauchamp/Childress 2001: 57ff, Krones/Richter 2008: 819f). Für das sogenannte shared decision-making (partizipative Entscheidungsfindung) gibt es weder eine einheitliche Definition (Makoul/Clayman 2006, Moumjid et al. 2007) noch ausreichend Evidenz zu Effekten und Wirksamkeit (Kasper et al. 2011, Scholl et al. 2011, Shay/Lafata 2015). Allerdings lässt sich das Grundkonzept auch allein aus ethischen Überlegungen heraus vertreten. Das Konzept stellt die Arzt-Patienten-Beziehung vor besondere Herausforderungen und baut auf einem veränderten Rollenverständnis auf (Emanuel/Emanuel 1992, Krones/Richter 2008: 823). Anders als bei paternalistischen Ansätzen geht es beim shared-decision-making primär um gemeinsame Entscheidungsfindungsprozesse (Krones/Richter 2008: S. 818). Diese umfassen die Information des
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Patienten, Abwägungen und auch die Entscheidung selbst. Im Mittelpunkt steht der Patient. Dabei fließen sowohl evidenzbasierte als auch partizipative Elemente, wie etwa Wertevorstellungen und Präferenzen, in die Entscheidungsfindung ein (Krause 2019: 133). Der Patient wird als rationaler Akteur aufgefasst, der aufgrund seiner Informationsbasis die Entscheidung über seine Therapie trifft; dies können Entscheidungshilfen unterstützen (Krones/Richter 2008: 822). Optimalerweise berücksichtigen diese Entscheidungshilfen persönliche Präferenzen und Werteurteile, stärken das Verhältnis zwischen Arzt und Patient und fördern die Selbstbestimmung der Patienten (Madden/Kleinlugtenbelt 2017). Seit 1999 werden Entscheidungshilfen in einem regelmäßig aktualisierten CochraneReview evaluiert. Entsprechend dieses Reviews steigern sie die Informiertheit der Patienten, helfen bei der bewussten Wahrnehmung individueller Werturteile und senken die Unsicherheit bei der Entscheidung (Madden/Kleinlugtenbelt 2017: 1298, Stacey et al. 2014: 3). Entscheidungshilfen gelten als zeitgemäße Variante der Informationsvermittlung und wurden zuerst im angelsächsischen Raum entwickelt. Für Patienten, die sich nach Diagnose eines nichtmetastasierten Prostatakarzinoms über ihre Therapieoptionen informieren wollten, existierten bis zur Implementierung der Entscheidungshilfe Prostatakrebs im Jahr 2016 ausschließlich englischsprachige personalisierte Entscheidungshilfen (Groeben et al. 2014: 858f). Im Vergleich zu konventionellen, gedruckten Aufklärungsbroschüren bieten interaktive Angebote ein höheres Maß an Personalisierbarkeit. Die Patienten sind informierter, haben realistischere Erwartungen hinsichtlich möglicher Therapieeffekte, geben weniger Entscheidungskonflikte an und sind aktiver in den Entscheidungsprozess einbezogen (Krones/Richter 2008: 824). Einer Vielzahl an virtuellen Gesundheitsangeboten steht jedoch ein Mangel an hochwertigen evidenzbasierten Informationsquellen gegenüber. Entscheidungshilfen können Patienten bei der Wahl der richtigen Therapie helfen, denn die Patienten übernehmen zunehmend Verantwortung für ihre Gesundheit und nutzen die Informationsvielfalt (Jenkins et al. 2001: 49ff, Stiggelbout et al. 2015). Dabei spielt vor allem das Internet eine wichtige Rolle (Atkinson et al. 2009, Mchugh et al. 2011). So hat die Nutzung von onlinegestützten Diskussionsforen signifikante Auswirkungen auf die Therapieentscheidung bei Patienten mit Prostatakrebs (Huber et al. 2019a: 392). Aus diesem Grund sollten moderne Varianten qualitativ hochwertiger Patienteninformation einen festen Platz im Arzt-PatientenVerhältnis erhalten. Die ärztliche Aufklärungspflicht und Beratungskompetenz sollen damit unterstützt und zeitlich entlastet, aber keinesfalls ersetzt werden. Entscheidungshilfen eignen sich besonders für eine zielgruppenspezifische Beratung, z.B. beim Prostatakarzinom. Diese Erkrankung ist in Deutschland mit
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etwa 60.000 Neubetroffenen pro Jahr die häufigste Tumorerkrankung des Mannes (Wirth et al. 2019: 24). Zur Behandlung gibt es verschiedene Methoden, beispielsweise Operation, Bestrahlung, die Gabe von Hormonen oder auch ein zunächst zuwartendes Vorgehen. Bei der Wahl der richtigen Behandlungsstrategie spielen auch persönliche Präferenzen und Erwartungen eine große Rolle. Von 60.000 Betroffenen sterben etwa 12.000 Patienten pro Jahr an aggressiven und schnellen Verlaufsformen des Prostatakarzinoms (Wirth et al. 2019: 24). Nicht alle Betroffene, die im Laufe des Lebens ein Prostatakarzinom entwickeln, müssen mit tumorbedingten Einschränkungen rechnen. Etwa 95% der Neuerkrankungen werden in einem nicht-metastasierten Stadium diagnostiziert (Huber et al. 2019a: 393). In diesem Fall ist die Prognose häufig sehr gut und die langfristige Zufriedenheit mit der Therapieentscheidung von wesentlicher Bedeutung (Schroeck et al. 2008: 785). Gleichwohl ist die individuell angepasste Therapieentscheidung – wozu auch der Behandlungsverzicht zählt (Stacey et al. 2014) – aufgrund der verschiedenen Behandlungsoptionen komplex (Huber et al. 2019a: 393). Für Patienten mit einem lokal begrenzten Prostatakarzinom und niedrigem onkologischen Risiko kann die aktive Überwachung oder „active surveillance“ eine gute Therapieoption darstellen (Klotz 2018, Wirth et al. 2019: 92ff.). Bei dieser Variante wird der Patient engmaschig kontrolliert und nur dann eine Therapie eingeleitet, wenn es zu einem Voranschreiten der Erkrankung kommt oder der Patient dies wünscht (Wirth et al. 2019: 96). Solch defensive Strategien sind jedoch sehr beratungs- und betreuungsintensiv und eine große Herausforderung für den betreuenden Arzt. Der Patient wird zwar engmaschig überwacht und weiß von seiner Erkrankung, es werden jedoch außer regelmäßigen Kontrollen keine aktiven Behandlungsmaßnahmen vorgenommen. Damit stellt das Konzept der aktiven Überwachung besondere Anforderungen an die Betroffenen, die es z.B. mit einer Stärkung der Patientenautonomie und gezieltem Patient-Empowerment zu unterstützen gilt.
ENTSCHEIDUNGSHILFE PROSTATAKREBS Seit 2016 ist die Entscheidungshilfe Prostatakrebs online und konnte sich mit über 9.000 Nutzern und 60 neuen Patienten pro Woche gut in der deutschen Urologie etablieren (Groeben et al. 2016a: 788 ff, Groeben et al. 2016b, Huber et al. 2019b). Etwa 6% der neu diagnostizierten Prostatakrebspatienten haben dieses Angebot genutzt. Durch die Entscheidungshilfe soll die Entscheidung für den Betroffenen vor der Behandlung erleichtert werden, indem er seine klinischen Werte in einen Online-Fragebogen einträgt, um dann anhand der angebotenen
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Informationen die Vor- und Nachteile der einzelnen Therapieoptionen zu prüfen und gemeinsam mit seinem behandelnden Arzt eine Wahl zu treffen (Weißbach/Boedefeld 2019: 44). Abbildung 1: Entscheidungshilfe Prostatakrebs – Einbindung in den ArztPatienten-Kontakt
Quelle: Eigene Darstellung & Entscheidungshilfe Prostatakrebs der PatientenAkademie der Deutschen Gesellschaft für Urologie
In der browsergestützten Benutzeroberfläche kann der Patient die möglichen Nebenwirkungen sowie die Vor- und Nachteile der einzelnen Therapieoptionen mit Hilfe von Likert-Skalen bewerten. Die Patienteninformationen leiten sich aus validierten Fragebögen und Leitlinien ab, z.B. der aktuellen S3-Leitlinie zum Prostatakarzinom und der Leitlinie der European Association of Urology (Mottet et al. 2018, Wirth et al. 2019). Zur Einschätzung des onkologischen Risikos werden acht verschiedene klinische Daten durch den Arzt erfasst und auf der Patientenzugangskarte eingetragen: Hierzu zählen der Monat der Erstdiagnose, der initiale PSA-Wert (Prostata-spezifisches Antigen), das klinische TNMStadium (Klassifikation von Tumorerkrankungen), der Gleason-Score, der Anteil an positiven Prostatastanzbiopsien sowie der maximale Tumoranteil in den positiven Zylindern. Zudem werden weitere wichtige Parameter auf Basis des ICHOM-Standardsets (Ichom - International Consortium for Health Outcomes and Measurement 2015, Martin et al. 2015) erfasst. Zur Erfassung der Komorbiditäten dient der Lee-Index (Cruz et al. 2013, Lee et al. 2006); eine mögliche obstruktive Miktionsstörung wird mit Hilfe des IPSS-Scores (International Prostate Symptom Score) objektiviert (Barry et al. 1992). Um die psychologische
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Belastung während der Entscheidungsfindung zu erfassen, werden die Ultrakurzform des Gesundheitsfragebogens PHQ-4 für Patienten (Kroenke et al. 2009) und zusätzlich das „Distress Thermometer“ benutzt (Mehnert et al. 2006). Unter Berücksichtigung dieser Eingaben lässt sich letztlich ein personalisiertes Informationsangebot generieren, welches präzise auf die Situation des Nutzers abgestimmt wird. Zum Abschluss kann der Nutzer eine Zusammenfassung ausdrucken und zum nächsten Arztgespräch mitnehmen. Die Entscheidungshilfe ist optisch bewusst einfach und puristisch gehalten, um eine gute Bedienbarkeit auch für ältere oder wenig technikaffine Nutzer zu gewährleisten. Gleichzeitig erhält der eigentliche Inhalt möglichst viel Raum. Das Angebot soll Patienten und ihren Angehörigen helfen, sich zusätzlich zum Arztgespräch umfassend und in Ruhe zuhause zu informieren. Abbildung 2: Übersicht der Inhalte der Entscheidungshilfe Prostatakrebs
Quelle: Entscheidungshilfe Prostatakrebs der PatientenAkademie der Deutschen Gesellschaft für Urologie
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Die Entscheidungshilfe ist kostenlos für Patienten unter www.entscheidungshilfe-protatakrebs.de zugänglich und wurde gemeinsam von den urologischen Fachgesellschaften „Deutsche Gesellschaft für Urologie e.V.“ (DGU) und „Berufsverband der Deutschen Urologen e.V.“ (BvDU) entwickelt. Unterstützung erhält das Projekt zudem vom „Bundesverband Prostatakrebs Selbsthilfe e.V.“. Das Projekt konnte dank der Unterstützung der Takeda Pharma Vertrieb GmbH & Co. KG realisiert werden. Das interaktive Online-Angebot erläutert in 17 Videos mit einer Gesamtspieldauer von ca. einer Stunde nahezu denselben Informationsgehalt wie in der papierbasierten Patientenleitlinie Prostatakrebs aus dem Leitlinienprogramm Onkologie. Zusätzliche kurze Texte und Grafiken erlauben es dem Patienten, relevante Informationen zu seiner Erkrankung und möglichen Therapieformen zu sammeln und seinen Wissensstand zu vertiefen. Dabei wird weder eine automatisierte Therapieentscheidung getroffen noch eine Empfehlung ausgesprochen. Die definitive Wahl der Behandlung wird erst nach ausführlicher Aufklärung und Darstellung der Therapieoptionen im Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient gemeinsam getroffen (Huber/Karschuck 2019: 18).
EVALUATION DER ENTSCHEIDUNGSHILFE PROSTATAKREBS Erste Evaluationsergebnisse zur Nutzung der Entscheidungshilfe Prostatakrebs liegen für den Zeitraum Juni 2016 bis Oktober 2018 vor, in dem 6130 Patienten das Angebot in Anspruch genommen haben (Huber et al. 2019b, Huber/Karschuck 2019: 19). Die hohen Nutzerzahlen und eine gleichmäßige Verbreitung im gesamten Bundesgebiet sind erste Anzeichen für einen möglichen Mehrwert dieser modernen Variante der Patienteninformation gegenüber herkömmlichen Ratgebern (Carl et al. 2018). Zur Evaluation der Entscheidungshilfe Prostatakrebs wurden zum einen die bereits erwähnten validierten Patientenfragebögen ausgewertet. Zum anderen wurden bei den Patienten, neben soziodemographischen Angaben, auch die Akzeptanz der Entscheidungshilfe und das krankheitsbezogene Wissen erfragt (Sepucha 2010, Tariman et al. 2011). Um eine umfassendere und mehrdimensionale Evaluation der „Entscheidungshilfe Prostatakrebs“ vornehmen zu können, wurde neben der Patientenperspektive auch die Arztsicht erfasst. Für die Ärzte wurde ein Fragebogen entwickelt, welcher im Rahmen fünf verschiedener Kongresse sowie über einen Postverteiler unter Urologen ausgehändigt wurde. Dieser Fragebogen beinhaltete soziodemographische Angaben, wie etwa das Geschlecht, Praxisform und -Standort, sowie
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die Dauer der Niederlassung. Neben 18 Auswahlfragen gab es am Ende noch die Möglichkeit im Freitext eigene Anregungen und Verbesserungsvorschläge einzubringen. Die geschlossenen Fragen bestanden aus Einfach- und Mehrfachauswahlfragen, Bewertungen im Schulnoten-System und aus einer 5-Punkt LikertSkala zur Schätzung des Zeitbedarfs. In Zeitraum der ersten Evaluation füllten 60% (n=3649 Nutzer) den OnlineFragebogen vollständig aus. 32% der Nutzer waren über 70 Jahre alt und das mittlere Alter lag bei 65,7 ± 7,6 Jahre (Spannweite 43–89 Jahre). 57% waren mit der Entscheidungshilfe Prostatakrebs „sehr zufrieden“ und 33% „zufrieden“. Damit ergibt sich auf Patientenseite eine Gesamtzufriedenheit von 90%. Abbildung 3: Nutzerzahlen Entscheidungshilfe Prostatakrebs pro Monat, Stand: Juni 2020
Quelle: ASD Concepts GmbH & Co. KG
Gemeinsam mit ihrem Partner nutzten 58% das Angebot, 34% informierten sich allein. Die meisten Nutzer (66%) wollten die Therapieentscheidung zusammen
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mit ihrem Urologen treffen. Insgesamt ergab sich eine sehr positive Gesamtbewertung des Angebots durch die Patienten. Die Ergebnisse belegen die einfache Bedienbarkeit und einen wichtigen sozialen Aspekt der Entscheidungshilfe. Ein Vorteil gegenüber den herkömmlichen Printmedien ist die multimediale Gestaltung. Auch die große Bedeutung der Ergänzung des Arzt-Patienten-Gespräches wird aus den Rückmeldungen deutlich, denn nur 1% der Nutzer gab an, die Therapieentscheidung alleine treffen zu wollen. Das bedeutet, dass für viele der Patienten der Austausch mit dem betreuenden Arzt essentiell für die Entscheidungsfindung ist. Die Entscheidungshilfe kann so die Arzt-Patienten-Kommunikation unterstützen und Zeit für individuelle Beratung schaffen. Auch der sukzessive Kulturwandel hin zu einer stärkeren Partizipation kommt den Patienten zugute. Zur Auswertung der ärztlichen Nutzung lagen 194 Fragbögen von Urologinnen und Urologen vor (Huber et al. 2019b). Die Rücklaufquote lag bei 25%. Beim Vergleich von Nicht-Nutzern und Nutzern nahmen Urologinnen (20/89 =22% vs. 9/102=9%) und Ärzte aus dem niedergelassenen Bereich (87/89=98% vs. 81/97=84%) die Entscheidungshilfe häufiger in Anspruch. Vorteile sahen die Nutzer für die Vorbereitung des Patienten (85%), die Patientenzufriedenheit (76%), die Einbeziehung der Angehörigen (63%) und die Dokumentation (45%). Die Nicht-Nutzer verwendeten seltener Printmedien (48/102=47% vs. 56/90 =62%) oder andere Entscheidungshilfen (21/105=20% vs. 66/90=73%) für das Beratungsgespräch ihrer Patienten mit neu diagnostiziertem lokalisierten Prostatakarzinom. Entsprechend ist auch der Anteil der Kollegen höher, die überhaupt keine Gesprächsunterstützung anbieten (29,1% vs. 4,4%). Aus der Gruppe der Nicht-Nutzer waren 62% prinzipiell offen für eine Nutzung des Angebots. 9% lehnten den Ansatz prinzipiell ab. Die häufigsten Gründe für die fehlende Nutzung lauteten: „möchte andere Informationsmaterialien nutzen“ (20%), „habe noch nicht daran gedacht“ (39%) und „keine Zeit“ (22%). Von den Nutzern würden 92% die Entscheidungshilfe an ihre Kollegen weiterempfehlen. Während 49% subjektiv Zeit einsparten, berichteten 31% der Urologen über einen unveränderten Zeitbedarf für den Entscheidungsprozess. 20% gaben einen höheren Zeitbedarf an. Wie schon bei den Patienten war auch die Resonanz bei den Urologen positiv. Mit 97% (Schulnoten 1 und 2) lag die Gesamtzufriedenheit der ärztlichen Nutzer sogar noch höher. Damit fiel diese Bewertung deutlich positiver aus, als in einer amerikanischen Vergleichsstudie (Wang et al. 2015). Die Evaluation zeigt aber auch deutlich, dass die Entscheidungshilfe nicht für jeden Arzt und jeden Patienten gleichermaßen geeignet ist. 53% der befragten Urologen nutzten das Angebot nicht oder nicht mehr. Außerdem trafen die Ärzte unter
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ihren Patienten eine gewisse Vorselektion, und ermöglichten das Angebot etwa nur Personen mit hohen IT-Kenntnissen weiter.
EVENT-PCA-EVALUATIONSSTUDIE Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Debatte über Bedarfsgerechtigkeit, den Kosten, der Qualität und der strukturellen Rahmenbedingungen von Versorgungsleistungen sind großangelegte Evaluationsstudien von entscheidender Bedeutung (Raspe/Wissing 2010, Schütte 2011: 1021). Heute konzentriert sich die Versorgungsforschung auf klinische und ethische Belange aus Patientensicht (z.B. Selbstbestimmung, Entscheidungskompetenzen etc.), während die Schwerpunkte lange Zeit eher auf gesundheitsökonomischen Interessen beruhte (Weißbach/Boedefeld 2019: 41). In Projekten, wie der Evaluationsstudie der Entscheidungshilfe Prostatakrebs EvEnt-PCA (Innovationsausschuss 2019, UniklinikumDresden 2019), werden innovative Konzepte oder Hypothesen zur Wirksamkeit von gesundheitsrelevanten Produkten und Dienstleistungen überprüft (Pfaff et al. 2004: 2). Dies geschieht auch im Hinblick auf die Effizienz und Wirkung in der ambulanten und klinischen Patientenversorgung (Kirch et al. 2012: 82, Schütte 2011: 1023). Solche interventionellen Studien ermöglichen einen Vergleich mit etablierten Standards (Weißbach/Boedefeld 2019: 43). In vielen Fächern wie auch in der Urologie besteht für die Versorgungsforschung noch Nachholbedarf (Huber/Karschuck 2019: 19, Weißbach/Boedefeld 2019: 45). Mit der Förderung des Gemeinsamen Bundesausschusses wird seit April 2018 die Entscheidungshilfe Prostatakrebs mit dem aktuellen Goldstandard, der gedruckten Patientenleitlinie Prostatakrebs aus dem Leitlinienprogramm Onkologie, verglichen (Huber/Karschuck 2019: 17f.). Die aus dem Leitlinienprogramm Onkologie abgeleiteten Patientenratgeber können dabei als der aktuell etablierte Standard gelten. Sie geben den gegenwärtigen Erkenntnisstand wieder und bieten den Patienten bei der Entscheidungsfindung sinnvolle und nützliche Orientierung für angemessene Behandlungen spezifischer Krankheitssituationen (Schütte 2011: 1022). In der prospektiven, randomisierten Evaluationsstudie „EvEnt-PCA“ wird der Nutzen der Entscheidungshilfe bundesweit in urologischen Arztpraxen und Kliniken untersucht und abschließend mit Level I-Evidenz eruiert. Studienfrage ist, ob online-basierte Informationsangebote einen Mehrwert gegenüber klassischen, papierbasierten Angeboten haben und als Vorbild für die flächendeckende Etablierung solcher Angebote im deutschen Gesundheitswesen und damit zu veränderten Former von Funktionalität beitragen können. Dabei soll konkret die
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Hypothese geprüft werden, ob die Entscheidungshilfe zu einem stärker leitliniengerechten Einsatz von zuwartendem Vorgehen führt. Ziel des Projektes ist damit die Erhebung empirischer Evaluationsdaten aus Patienten- und Arztsicht sowie perspektivisch die Etablierung von Online-Entscheidungshilfen als Regelangebot bei der Patientenaufklärung. Damit könnte langfristig die Versorgungssituation und Patientenorientierung verbessert werden. In die bundesweite, multizentrische Studie sollen insgesamt 1.200 Patienten in urologischen Arztpraxen und Kliniken eingeschlossen werden. Berücksichtigt werden Patienten im Alter von 18-80 Jahren mit histologisch gesichertem Adenokarzinom der Prostata, das nicht metastasiert ist. Im Studienverlauf werden nach der Erstdiagnose durch den betreuenden Arzt jeweils 600 Patienten zufällig zur Nutzung der Online-Entscheidungshilfe zugewiesen (Interventionsgruppe) oder sie erhalten die Print-Broschüre (Kontrollgruppe). In der Kontrollgruppe entsprechen die Studienteilnehmer, die Messzeitpunkte und die Endpunkte denjenigen der Interventionsgruppe. Teilnehmer der Kontrollgruppe erhalten allerdings die „Patientenleitlinie Prostatakrebs“ in Papierform ausgehändigt und dokumentieren papierbasiert. Endpunkte der Studie sind die Therapieentscheidung, Wissen, Akzeptanz, die Arzt-Patienten-Kommunikation, Angst und Depressivität, ein Bedauern der Behandlungsentscheidung und die Lebensqualität. Ein Vorteil des Studiendesigns liegt in einem recht moderaten Selektionsbias, da der Patient als einzige Voraussetzungen über einen Internetzugang sowie eine Email-Adresse verfügen muss. Zudem lassen sich auf Basis der aus Patientensicht erhoben Endpunkte (patient reported outcomes) weitere Auswertungen zur Versorgungsqualität in Deutschland durchführen. Die Studie stieß auf großes Interesse bei urologischen Kliniken und Praxen im gesamten Bundesgebiet und so konnten seit Studienbeginn bereits 673 Patienten in 99 aktiven Studienzentren eingeschlossen werden. Im April 2020 waren 56% der benötigten Patienten rekrutiert. Bei einer Zwischenauswertung im Januar 2020 lagen von N=497 Patienten Daten des vierwöchigen Follow-up vor; davon waren 243 in die Interventions(I) und 254 in die Kontrollgruppe (K) randomisiert (Karschuck et al. 2020). Zum Gruppenvergleich dienten der Chi2- und der T-Test. Nach Nutzung der Entscheidungshilfe Prostatakrebs wurden der eigene Gesundheitszustand (I 5,4 vs. K 5,2; p=0,08) und die eigene Lebensqualität (I 5,3 vs. K 5,1; p=0,1) tendenziell besser bewertet. Numerisch bessere Werte für die Interventionsgruppe fanden sich auch beim Distress (I 4,2 vs. K 4,5; p=0,3), bei der Zufriedenheit mit der Intervention (I 26 vs. K 25,4; p=0,1) und bei der Bewertung der ärztlichen Betreuung (I 20,5 vs. K 20,4; p=0,9) – eine statistische Signifikanz fand sich bei den aktuellen Fallzahlen nicht. Die aktuellen Tendenzen erscheinen vielverspre-
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chend für eine verbesserte Entscheidungsfindung. Um den Einfluss auf die Behandlungsentscheidung zu beurteilen sind jedoch ein längeres Follow-up und eine höhere Fallzahl nötig. Das Projekt Entscheidungshilfe Prostatakrebs eröffnet mit mittel- bis langfristigen Entwicklungsmöglichkeiten viele Perspektiven, die Auswirkungen auf die Versorgungssituation haben können. Hierzu gehören die Stärkung der partizipativen Entscheidungsfindung d.h. ein Anreiz zum „Kulturwandel“, die Verbesserung der Kommunikation zwischen Patient und Partner sowie der ArztPatienten-Interaktion. Die Entscheidungshilfe erfährt besondere Wertschätzung durch die Patienten, was der Bindung von Patient und Arzt zuträglich sein kann. Durch den Einsatz digitaler Angebote der Patienteninformation sind auch Einsparungen von Ressourcen möglich, da 49% der ärztlichen Nutzer über eine Zeitersparnis berichten. Erleichtert wird zudem die Dokumentation der Patientendaten und der Beratungsleistung. Auch volkswirtschaftliche Konsequenzen sind denkbar, da Kosten für das Gesundheitswesen durch Stärkung von Elementen des shared-decision-making gesenkt werden könnten (Lee et al. 2013: S. 7). Diese Tatsache ist bereits Bestandteil eines internationalen Diskurs (Katz/ Hawley 2013, Walsh et al. 2014); für Deutschland stehen belastbare Ergebnisse über Einsparpotentiale durch den leitliniengerechten Einsatz von aktiver Überwachung und zuwartendem Beobachten jedoch noch aus. Ein langfristiges Verwertungspotenzial lässt sich in folgenden Bereichen erwarten: Durch die Evaluation der Entscheidungshilfe Prostatakrebs ist der Nachweis einer Verbesserung der Versorgungsqualität möglich. Durch die Senkung invasiver Therapiemaßnahmen lassen sich unerwünschte Wirkungen auf die Lebensqualität der Patienten reduzieren. Die Regelversorgung kann zukünftig durch ähnliche Entscheidungshilfen für andere Erkrankungsbilder profitieren. Es ist ferner möglich, dass sich das Projektdesign als innovatives Modell zur Erhebung von Versorgungsdaten bewährt. Die Analyse dieser Versorgungsdaten könnte auch zu regulierenden Maßnahmen im Gesundheitswesen führen. Für die Etablierung von Entscheidungshilfen und die kombinierte Erfassung von Versorgungsdaten ist eine Übertragbarkeit in andere Fachbereiche und Sektoren der Patientenversorgung gegeben. Denn das System der Entscheidungshilfe ist so gestaltet, dass es in weiteren Projektphasen inhaltlich und funktional erweiterbar ist, z.B. für andere Sprachgruppen. Für besondere Umstände, wie etwa einen unzureichenden Zugang zu modernen Medien, müssten jedoch andere Lösungen gefunden werden.
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RESÜMEE Beim Prostatakarzinom nutzen in Deutschland zu wenige Patienten ein zuwartendes Vorgehen. Die interaktive Entscheidungshilfe Prostatakrebs soll den leitliniengerechten Einsatz defensiver Strategien verbessern. Die Entscheidungshilfe ist mit steigenden Nutzerzahlen gut in der deutschen Urologie etabliert und erhält eine sehr positive Gesamtbewertung. Dabei bietet sie eine genuine Wissensbereitstellung und gibt keine Therapieempfehlung. Durch die Vorinformationen wird die Entscheidungsfindung von Arzt und Patienten unterstützt und das Beratungsniveau möglicherweise verbessert. Primärer Ansprechpartner ist und bleibt der Arzt. Auch für ältere und wenig internetaffine Patienten ist die Nutzung problemlos möglich. Patienten nutzen die Entscheidungshilfe mehrheitlich zusammen mit dem Partner, was ein entscheidender Vorteil multimedialer Angebote gegenüber den herkömmlichen Patientenratgebern ist. Mit der Entscheidungshilfe Prostatakrebs werden validierte, leitliniengerechte OnlineInformationen angeboten. Für Urologen zeigt sich eine deutliche Entlastung und sie sehen Vorteile in der Patientenvorbereitung, der Zufriedenheit, dem Einbezug der Angehörigen und der Dokumentation. Aus dem Projekt ergeben sich folgende langfristige Ziele: Erstens die flächendeckende Etablierung von Entscheidungshilfen im deutschen Gesundheitswesen. Zweitens eine grundlegende Verbesserung der medizinischen Versorgungssituation durch die Stärkung der partizipativen Entscheidungsfindung und Ausbau der personen- und patientenzentrierten Medizin im klinischen Alltag. Mit dem Querschnittsthema Versorgungsforschung (Raspe/Wissing 2010) ergeben sich drittens neue Perspektiven für medizinethische Kontroversen und weitere urologische Forschungsprojekte. Unsere Evaluationsstudie kann außerdem dazu beitragen, die Forschungslücke in Bezug auf die Wirksamkeit des shared decision-making ein Stück weit zu schließen. Mit den erhobenen Versorgungsdaten lassen sich schließlich langfristig regulierende Maßnahmen im Gesundheitswesen begründen. Damit kann ein Beitrag geleistet werden, die Patientenrolle in den Mittelpunkt zu rücken, die Überversorgung zu reduzieren und gleichzeitig den Arzt-Patienten-Kontakt zu stärken.
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Wer entscheidet? Medizintechnologie in der Altenpflege und die Perspektive von Pflegeschüler*innen Julia Inthorn
DER EINSATZ DIGITALER TECHNOLOGIEN IN DER PFLEGE HOCHALTRIGER UND DEMENTER MENSCHEN Der Einsatz moderner Technologien im Bereich der Pflege hochaltriger und dementer Menschen wird immer mehr zur Normalität. Digitale Unterstützung von Dokumentation und Materialmanagement, aber auch Systeme, die Anreize zum Trinken setzen, Flüssigkeitsaufnahme dokumentieren, per GPS den aktuellen Aufenthaltsort übermitteln, oder auch Beziehungsroboter wie die Robbe „Paro“, sind in der stationären wie ambulanten Altenpflege zunehmend im Einsatz. Neben Systemen, die der Erleichterung bei Prozessen, die primär das Pflegepersonal betreffen dienen und mit denen Pflegebedürftige nicht unmittelbar in Kontakt kommen, erweitert sich zunehmend das Spektrum von Technologien, die Pflegebedürftige direkt oder gemeinsam mit einer Pflegkraft nutzen. Das Anwendungsspektrum ist dabei vielfältig und die Entwicklung hat eine hohe Dynamik. Parallel zur technologischen Entwicklung robotischer und selbstlernender Systeme hat auch die begleitende Debatte eine hohe Dynamik. Der Einsatz der verschiedenen Systeme wirft vielfältige ethische und soziale Fragen auf. Die damit verbundenen Veränderungen in der Sorge um pflegebedürftige Personen erfordern einen Dialog der beteiligten Gruppen und eine Auseinandersetzung sowohl innerhalb der Pflege als auch in der Gesellschaft. Pflegende haben in dieser Debatte eine besondere Rolle. Zum einen sind sie von Veränderungen in der Pflege durch Digitalisierung direkt betroffen. Zum anderen können sie als Fürsprecher*innen von Bewohner*innen in Altenpflegeeinrichtungen, die unter
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anderem auf Grund von Demenz nich tmehr für ihre eigene Position eintreten können, diese Perspektive in die Diskussion einbringen. Ziel des Beitrags ist es, die spezifische Perspektive von Pflegeschüler*innen auf Digitalisierung herauszuarbeiten und den Beitrag von Pflegeschüler*innen zu Fragen der Partizipation und Einwilligung beim Einsatz von neuen Medizintechnologien in der Altenpflege zu untersuchen. Die hier vorgestellten Ergebnisse sind im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Diskusprojekts „Moderne Medizintechnik im Altenheim“ entstanden.
DER EINSATZ VON DIGITALER TECHNOLOGIE IM PFLEGEPROZESS: AUSGEWÄHLTE BEISPIELE Die Möglichkeiten technischer Unterstützung im Alltag wachsen ständig. Elektronische Sturzmatten, die Alarm geben, wenn eine pflegebedürftige Person das Bett verlässt, in die Matratze integrierte, automatisierte Dekubitusprophylaxe, robotische Systeme, die Essen anreichen oder Betten, die Personen eigenständig mobilisieren, sind bereits Realität. Die Systeme adressieren sehr unterschiedliche Aufgabenbereiche von Pflege und werfen daher auch unterschiedliche ethische Fragen auf. Die ausgewählten Technologiebereiche für diesen Beitrag sind Beziehungsroboter, Telemonitoring von Vitaldaten und GPS-Tracking. Beziehungsroboter Personen mit einer Demenzerkrankung nehmen, vor allem mit zunehmender Dauer der Erkrankung, weniger Kontakt zu ihrer Umwelt auf. Eine pflegerische Aufgabe ist daher die Aktivierung der Personen, um ihnen das Erleben von zwischenmenschlicher Interaktion zu ermöglichen. Die einer Babysattelrobbe nachempfundene Einheit Paro wurde entwickelt, um diese Aktivierung zu unterstützen. Äußerlich ähnelt Paro einem Plüschtier. Mit Hilfe von Sensorik reagiert Paro auf Stimme, Berührung und Lagerung mit Bewegung und Lauten (zur Funktionalität von Paro vgl. auch den Beitrag von Bauer, Lange in diesem Band) und vermittelt den Eindruck von Wohlbefinden und Kontakt. Demenziell erkrankte Menschen können den Unterschied zwischen der technisch realisierten Interaktion mit Paro und einem lebendigen Tier nicht wahrnehmen. Der Einsatz von Beziehungsrobotern ist insbesondere bei Paro bereits gut untersucht. Die Studien zeigen, dass durch den gezielten Einsatz der Robbe die gewünschte Aktivierung gut unterstützt wird (vgl. exemplarisch Bemelmans et al. 2015).
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Telemonitoring von Vitaldaten Die automatisierte Erfassung und das Monitoring von Vitaldaten werden im Alltag der Altenpflege noch wenig genutzt. Bislang sind Monitoringsysteme vor allem als sog. Fitness-Apps oder bei chronisch Kranken im Einsatz (vgl. hierzu auch in diesem Band: Jansky zur Auseinandersetzung mit Monitoring bei Personen mit Diabetes und Lindinger, Schmietow zur Nutzung gesundheitsbezogener Apps). Weitere Systeme sind bereits in der Erprobung, Ziel ist die schnelle Erkennung gesundheitlicher Probleme und darauf aufbauende gezielte Behandlungsmöglichkeiten, die langfristig die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit im Alter erhöhen sollen (Mort et al. 2013, Manzeschke et al. 2013). Möglich sind beispielsweise die Messung von Werten aus dem Urin über entsprechend eingebaute Einheiten in der Toilette, Messung von Puls oder Bewegung oder auch Erhebung von Daten wie Blutzucker, die über ein Implantat generiert werden. Bewegungsmonitoring durch GPS-Tracking Warnsysteme wie Sturzmatten oder Systeme zur Kontrolle, wer ein Haus verlässt, sind bereits lange im Kontext der Altenpflege im Einsatz und kaum mehr Gegenstand ethischer Kontroversen. Vergleichsweise neu hingegen ist die Möglichkeit, mit Hilfe von GPS-Trackern den Aufenthaltsort einer Person zu bestimmen. Der Sender, der in einen Alltagsgegenstand wie eine Uhr oder Socke integriert sein kann, ermöglicht es, die Bewegungen einer Person nachzuvollziehen oder zu prüfen, wo sie gerade ist. Konzipiert wurde dies neben vielen anderen Einsatzmöglichkeiten für den Einsatz bei Menschen mit Demenz, die häufig eine sogenannte Hinlauftendenz haben, sich viel bewegen wollen, aber oft nicht räumlich orientiert genug sind, um wieder zurück zu finden. Die Pflegeperson oder ein Angehöriger können die Person dann notfalls auffinden und nach Hause zurückbegleiten. Ein solches System kann das Gefühl von Sicherheit und die erlebte Freiheit hinsichtlich der Mobilität erhöhen und so zu einem gesteigerten Wohlbefinden beitragen (Landau, Werner 2012).
HINTERGRUND: DAS PROJEKT „MODERNE MEDIZINTECHNIK IM ALTENHEIM“ Das Diskusprojekt, in dessen Rahmen die vorliegende Analyse durchgeführt wurde, hatte das Ziel, einen Beitrag zur frühzeitigen diskursiv-kritischen Beglei-
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tung des Einsatzes von digitalen Technologien bei hochaltrigen und dementen Personen zu leisten. Im Sinne der Förderziele des BMBF sollten insbesondere junge Menschen an der Debatte beteiligt und eine breite Auseinandersetzung mit Chancen und Risiken des Technologieeinsatzes unterstützt werden. Im Rahmen des Projekts geschah dies durch einen interdisziplinären Ansatz, in dem Methoden der ethischen Reflexion mit medienpädagogischen Ansätzen zur Partizipation durch Medien verbunden wurden (vgl. zum Projekt auch Drechsel, Inthorn 2020). Hierzu wurden die drei oben skizzierten Beispiele des Einsatzes neuer Technologien in der Altenpflege exemplarisch ausgewählt: Beziehungsroboter, insbesondere am Beispiel der Robbe Paro, Telemonitoring von Vitaldaten und Bewegungsmonitoring. Schüler*innen der Altenpflege nahmen an einwöchigen Workshops teil. Im ersten Teil des Workshops wurden die Pflegeschüler*innen dazu angeregt, sich mit den ethischen Aspekten der Technologien auseinanderzusetzen. Durch die Bereitstellung von Medien als Informations- und Produktionswerkzeuge wurden sie darin unterstützt, an gesellschaftlichen Diskursen teilzuhaben. Sie wurden darin begleitet, in kleinen Arbeitsgruppen ihre Position zu einem der drei ausgewählten Technologiebereiche in einem Video, Audiobeitrag oder auf einem Plakat darzustellen. Die Themenwahl und inhaltliche Ausgestaltung war dabei ganz den einzelnen Arbeitsgruppen überlassen. Im Rahmen der Workshops entstanden 21 Kampagnenprodukte (8 Audios, 11 Videos, 2 Plakate). In ihnen haben die Pflegeschüler*innen die zuvor diskutierten ethischen Argumente und Fragestellungen aufbereitet und für sie wesentliche Aspekte in den öffentlichen Diskurs eingespeist.
METHODE Die von den Schüler*innen der Altenpflege erstellten Medienprodukte bilden die Grundlage der empirisch-ethischen Analyse in diesem Beitrag. Die 21 Produkte wurden qualitativ-inhaltsanalytisch (Mayring 2004) ausgewertet und hinsichtlich der eingenommenen Position und darin vorgetragenen ethisch-normativen Argumente systematisiert. Die Analyse wurde technisch mit Hilfe von AtlasTI umgesetzt. Neben den vorgetragenen normativen Aussagen und Appellen wurden auch die besondere Akzentuierung und Kontextualisierung im Rahmen der ausgewählten Erzählstrategie in den Produkten untersucht. Die Aussagen werden dabei nicht als unmittelbare Äußerungen der eigenen Position der Schüler*innen verstanden, sondern als Resultat eines Gruppen- und Gestaltungsprozesses, in dem neben den eigenen ethischen Überlegungen der beteiligten Schüler*innen auch die Einschätzung der gesellschaftlichen Debatte, die Möglichkeiten und
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Begrenzungen der Medienproduktion und diskursive und kreative Prozesse ineinandergreifen. So fand etwa in allen Gruppen ein Abwägungsprozess statt, ob sich die Gruppe pro, kontra oder abwägend-neutral zur gewählten Fragestellung positionieren will. Gruppen, die beispielsweise eine einheitlich kritische Position hatten, entschieden sich für eine verschiedene Positionen abwägende Darstellung, etwa weil das ihrer Vorstellung gelingender gesellschaftlicher Auseinandersetzung eher entsprach. Die Ergebnisse der Analyse werden den Ergebnissen eines Reviews der Argumentationen und zentralen Themenfelder in der ethischen Fachdebatte gegenübergestellt. Ziel des breit angelegten Reviews von Argumenten (Merzt et al. 2014) war die Darstellung zentraler Spannungsfelder der Debatte zu den drei ausgewählten Technologien (Beziehungsroboter, Telemonitoring von Vitaldaten und GPS-Tracking), das Identifizieren von Chancen und Risiken und die Analyse übergeordneter Themen und Fragestellungen (zur Methodik und detaillierten Ergebnissen des Reviews vgl. ausführlich Hangel, Inthorn 2020). Durch den Vergleich zwischen den vorgetragenen Argumenten in den Medienprodukten und in der Fachdebatte sollen die Gemeinsamkeiten der beiden Debatten und der angebrachten Kriterien der Abwägung herausgearbeitet und die besondere Perspektive der Pflegeschüler*innen auf die ethischen Fragen in den ausgewählten Technologienbereichen verdeutlicht werden.
ERGEBNISSE In den Medienprodukten wurde anhand konkreter Technologien die von der Gruppe ausgewählte Fragestellung bearbeitet. Acht der Beiträge befassen sich mit Bewegungsmonitoring, neun mit Beziehungsrobotern und vier mit anderen Technologien. Zu Monitoring von Vitaldaten wurde kein Beitrag gestaltet. Die Beiträge sind für unterschiedliche Zielgruppen konzipiert. Während der Großteil grundsätzlich alle Mitglieder der Gesellschaft anspricht, wenden sich einige auch explizit an Pflegende. Die Beiträge sind sehr vielfältig in ihrer inhaltlichen Ausrichtung. Einige Beiträge benennen Pro- und Kontra-Argumente, wägen sie ab und fordern auch die Betrachter*innen bzw. Hörer*innen zur Abwägung auf. „Ihr habt jetzt die Vorteile und Nachteile von uns gehört. Uns ist es wichtiger, was ihr darüber sagt. Gebt eure Meinung!“ (Video D20 4:24) Andere Beiträge positionieren sich eindeutig: „Orientierungslos und belogen – Realität im Altenheim“ (Audio D6 2:17). Eine weitere Gruppe stellt die Perspektive verschiedener beteiligter Gruppen, wie pflegebedürftige Personen, Angehörige und Pflegende, einander gegen-
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über und verdeutlicht die gewählte Problematik an Hand der unterschiedlichen Interessen in diesen Gruppen (D12). Auseinandersetzung mit Paro Zu Paro werden eine Vielzahl von Argumenten vorgetragen und abgewogen. Dabei wird der Einsatz von Paro mit alternativen Formen zur Aktivierung demenziell erkrankter Personen etwa mit Hilfe lebender Tiere oder Kuscheltiere verglichen (Poster D2). Wesentlich ist dabei zunächst der Mehrwert für die Bewohner*innen und damit deren Wohl. In den Beiträgen wird deutlich gemacht, dass die Aktivierung demenzkranker Menschen eine Herausforderung im Pflegealltag sein kann, bei der ein robotisches System wie Paro als hilfreich betrachtet wird: „Paro schafft es, die Menschen zu berühren / und öffnet der Geselligkeit die Türen.“ (Audio D5 1:28) Die Beiträge thematisieren auch den unterschiedlichen Aufwand für die Pflegekraft, der bei Paro deutlich niedriger angesiedelt wird als bei lebenden Tieren. Zudem wird der Aspekt der Täuschung adressiert. In vielen Beiträgen finden sich Verweise auf den Pflegealltag und die dort erlebten Limitationen, insbesondere durch Zeitmangel und Personalknappheit. Eindrücklich ist ein Spielfilm-Beitrag, in dem eine pflegebedürftige Person an einem Frühstückstisch zu sehen ist, die immer wieder nach einer Pflegeperson ruft, aber kontinuierlich von den vorbeilaufenden Pflegekräften vertröstet wird. Die pflegebedürftige Person wird dabei zunehmend agitiert. Erst als sie (allein) mit Paro am Tisch sitzt, entspannt sie sich wieder. (Video D15 0:05) Die dargestellte Pflegesituation entspricht nicht dem vorgesehenen Einsatz zur Aktivierung und Nutzung von Paro in Gegenwart einer Pflegeperson. Dennoch wird Paro im gesamten Beitrag positiv bewertet. Der Verweis auf realistische Nutzungsszenarien findet sich auch in kritischeren Äußerungen: „Doch wenn Paro ist nicht mehr in der Hand / dann schaut man wieder an die leere Wand.“ (Audio D5 1:34) Das Verhältnis von Technik und Pflege Da Paro explizit die Ebene der Beziehung adressiert, ist damit ein Kernbereich pflegerischen Handelns betroffen. Daher wird in verschiedenen Beiträgen zu Paro auch explizit das Verhältnis von Mensch zu Technik zum Thema gemacht. Darüber hinaus gibt es Beiträge, die am Beispiel eines fiktiven Pflegeroboters dieser Frage nachgehen. Grundtenor in den Aussagen ist dabei, dass Technik ergänzend und unterstützend eingesetzt werden soll, aber Pflegekräfte nicht
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ersetzen kann und darf. Dabei wird vielfach darauf verwiesen, dass die „Menschlichkeit“ in der Pflege nicht darunter leiden dürfe. „Und von wem möchtest du gepflegt werden? [Geräusch eines Roboters, der von der Stromversorgung getrennt wird] Pflege ist menschlich“ (Audio D7, 1:00). Es gibt nur wenige Hinweise darauf, was unter Menschlichkeit verstanden werden soll. Die Orientierung am Wohl der Bewohner*innen wird in einem Beitrag als Hinweis genannt. Die Bedürfnisse einer Person ernst zu nehmen könne nicht von einem Roboter übernommen werden. In anderen Beiträgen wird Täuschung durch oder für den Einsatz der Technik als „nicht menschlich“ eingeordnet. Sich wechselseitig ernst zu nehmen wird dem als Wert gegenübergestellt. Auseinandersetzung mit GPS-Tracking Die zentrale Abwägung zu GPS-Tracking lässt sich mit den Schlagworten aus dem Titel eines Beitrags (D12) charakterisieren: Freiheit versus Sicherheit. Sowohl Freiheit als auch Sicherheit werden dabei als Begriffe weiter präzisiert. Bei Freiheit wird die Freiheit, sich ohne Begrenzung bewegen zu können, von Freiheit im Sinne selbstbestimmter Entscheidungen, für die Verantwortung übernommen wird, unterschieden. Durch GPS-Tracking wird vor allem ersteres unterstützt. Dem gegenüber steht die Überwachung als Preis. „The Nurse is watching you“ (Video D12 2:40) und „Big Altenheim is watching you“ (D3) greifen dies als Slogans auf. Durch das GPS-Tracking erhalten demente Menschen die Sicherheit, jederzeit aufgefunden werden zu können. „Du kannst nicht verloren gehen“ (Audio D4 1:48) ist der Titel eines Beitrags. Die Möglichkeit, den Standort zu bestimmen, kann dabei nicht nur genutzt werden, um jemanden nach Hause zu begleiten, sondern zu einer vollständigen Überwachung führen. Die gewonnene Sicherheit wird ebenfalls zum Thema gemacht. Die Sicherheit, nicht verloren zu gehen, in jedem Fall gefunden werden zu können wird als sehr großer Zugewinn für alle beteiligten Personen gewertet. Demente Menschen profitieren davon, weil sie gefunden werden können und ggf. andere Maßnahmen, die zu einer Beschränkung von Freiheiten führen, vermieden werden können. Angehörige müssen weniger Sorge haben und auch das Pflegepersonal wird entlastet. Ein Beitrag fasst diesen Zugewinn für alle Beteiligten unter dem Slogan „Wir fördern Vertrauen“ (Video D 19 1:29) zusammen. Das GPS-Tracking bietet dabei keinen Rundum-Schutz. Gefährdungen im Straßenverkehr oder durch unbedachte Handlungen der demenziell Erkrankten bleiben als Risiko bestehen.
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Entscheidungen strukturieren Sowohl GPS-Tracking als auch Paro sind für Menschen mit Demenz in einem fortgeschrittenen Stadium konzipiert. Daher zeigen sich Herausforderungen bei Entscheidungen über den jeweiligen Einsatz. Bei fortgeschrittener Erkrankung können Betroffene in der Regel keine informierte Zustimmung im klassischen Sinn erteilen. Dennoch können sie ihren Willen äußern. In den Beiträgen werden die Komplexität solcher Entscheidungssituationen und die Rolle der Angehörigen darin zum Thema gemacht (D19). Die Asymmetrie in der Entscheidung wird dabei verdeutlicht. „Was würden Sie sagen, wenn Ihre Kinder immer wüssten, wo Sie sind, und Sie selber wissen es nicht?“ (Video D6 0:11) Auch die Beiträge zu GPS-Tracking fragen nach den Rahmenbedingungen von Pflege und wie sich Pflege weiterentwickelt. „The Nurse is watching you – ist das noch Pflege?“ (Video D12 2:40) Zudem wird auch auf die Notwendigkeit von Fortbildungen hingewiesen und für ein neues Selbstverständnis von Pflege geworben (Video D 11 0:34, Video D 13 1:16). Die Zukunftsszenarien werden als Ganzes diskutiert und die Entwicklung neuer Pflegesettings als Aufgabe professioneller Pflege formuliert. Dabei wird auch Partizipation zum Thema gemacht. Ein Beitrag fordert „Bei Pflegefragen – Pflege fragen“ und macht darauf aufmerksam, das Pflegende nicht nur selbst betroffen, sondern auch die Expert*innen für Fragen im Kontext der Altenpflege sind.
VERGLEICH MIT DEN ZENTRALEN ARGUMENTEN DER ETHISCHEN FACHDEBATTE In den Medienbeiträgen finden sich alle wesentlichen Diskussionspunkte und Argumente der Abwägung von Chancen und Risiken, die auch in der ethischen Fachdebatte vorgebracht werden. Die Darstellung ist schon auf Grund der Form weniger auf begriffliche Differenzierungen ausgerichtet als Texte, dafür stärker kontextualisiert. In Bezug auf Paro ist das in beiden Debatten zentral diskutierte Pro-Argument die positiven Auswirkungen von Paro auf das Wohl der Bewohner*innen. Hierzu findet sich in der Fachdebatte eine Vielzahl empirischer Untersuchungen (vgl. Birks et al. 2016). Dem werden in der Fachdiskussion ebenfalls kritische Aspekte wie Beziehungsqualität im Vergleich zum Menschen oder einem lebendigen Tier und die Frage der Täuschung als Würdeverletzung gegenübergestellt. Auch in der Fachdebatte wird thematisiert, ob der Einsatz eines Roboters insbesondere im ambulaten Setting zu einem Rückgang persönlicher Interaktion führen kann (Sorell/Draper 2014). Während in der Fachdebatte
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dabei immer vom sachgerechten Gebrauch von Paro ausgegangen wird, ist in den Medienbeiträgen das Setting ein von Hektik und Zeitmangel geprägter Arbeitsalltag als Kontext gewählt. Damit verändern sich die dargestellten Abwägungen und Fragen nach den Bedingungen an einen menschenwürdigen Umgang mit demenzkranken Menschen. Das in den analysierten Medienbeiträgen zentrale Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit prägt auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit GPSTracking in der Fachdebatte. Daneben ist in der Fachdebatte das Thema Datenschutz zentral, was in den Medienbeiträgen eine untergeordnete Rolle spielt. Dem gegenüber befassen sich die Medienbeiträge mit der Struktur der Überwachung, die durch Verfahren des Bewegungsmonitorings entstehen können. Sie spielen dabei auf Intuitionen an, dass man im Alltag nicht will, dass bestimmte Personenkreise immer Bescheid wissen, wo man sich aufhält. Auffällig ist, dass keiner der Beiträge sich mit Möglichkeiten, Chancen und Risiken des Monitoring von Vitaldaten befasst, die in der Literatur breite Aufmerksamkeit erfahren. Dies kann damit zusammenhängen, dass hier weniger genuin pflegerische Fragen relevant sind und die Schüler*innen nicht an eigene Erfahrungen im Umgang damit anknüpfen können. Gleichzeitig finden sich in den beiden Debattensträngen gemeinsame übergeordnete Themen. Es wird nach dem spezifisch Menschlichen in der Pflege gefragt, was mit verschiedenen Begriffen wie Menschenwürde, Beziehungsqualität, Echtheit oder wechselseitigen Anerkennungsprozessen verbunden wird. Die Herausforderungen im Umgang mit neuen Technologien in der Pflege berühren in besonderer Weise das gesellschaftlich getragene Verständis von Fürsorge und Mitmenschlichkeit. An Hand der Diskussion von einzelnen Technologien wird diesen Fragen nachgegangen und die Veränderungen der Pflegesettings in der Interaktion mit Technik reflektiert.
FAZIT Die Beiträge verdeutlichen, dass die Förderung der Partizipation, insbesondere von Pflegenden selbst, die Debatte erweitert und bereichert. Pflegende nehmen daran als Expert*innen und gleichzeitig von der Entwicklung Betroffene teil, die realistische Einschätzungen der Veränderungen im pflegerischen Alltag durch neue Technologien in die Debatte einspeisen können. Auffällig ist, dass in vielen Produkten eine abwägende und fragende Position eingenommen wird. Die Betrachter*innen sollen angeregt werden, sich selbst eine Meinung zu bilden.
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Die Analyse zeigt die Relevanz der Perspektiven verschiedener Akteur*innen im Diskurs, die – auch wenn formal ähnliche Argumente wie Sicherheit und Fürsorge im Zentrum stehen – durch den jeweils spezifischen Blickwinkel zu einer veränderten Form der Abwägung führen. In den Medienprodukten findet, ähnlich wie in der Fachdebatte, neben den Argumenten zu den spezifischen Chancen und Risiken verschiedener Technologien auch eine Auseinandersetzungen mit Robotik in der Pflege allgemein statt. Damit wird in spezifischer Weise diskutiert, was den Kern von Pflege ausmacht, der auch im Zuge weiterer Veränderungen in der Pflege nicht verloren gehen darf. Die Diskussion der Chancen einer Technologie erfolgt dabei vor dem Hintergrund weiterer Herausforderungen in der Pflege wie Ökonomisierungdruck, Zeitmangel und Personalmangel.
LITERATUR Bemelmans Roger, Gelderblom Gert J, Jonker Pieter, de Witte Luc (2015) . Effectiveness of Robot Paro in Intramural Psychogeriatric Care: A Multicenter Quasi-Experimental Study. J Am Med Dir Assoc. 2015;16(11):946-950. doi:10.1016/j.jamda.2015.05.007 Birks, Melanie/Bodak, Marie/Barlas, Joanna/Harwood, June/Pether Mary (2016): Robotic Seals as Therapeutic Tools in an Aged Care Facility: A Qualitative Study, in: Journal of Aging Research. Volume 2016. Drechsel, Tina/Inthorn, Julia (2020): Moderne Medizintechnik im Altenheim? Mediengestützte Diskurse über ein selbstbstimmtes Leben und geteilte Verantwortung im hone Alter, in: Tina Drechsel/ Julia Inthorn (Hg.) Wie viel Technik ist menschlich? Medienpädagogische und ethische Auseinandersetzung mit Digitalisierung in der Pflegeausbildung, München: kopaed. Hangel, Nora/Inthorn Julia (2020): Ethische Fragen der Digitalisierung in der Pflege: Ein Überblick über zentrale Argumente, in: Tina Drechsel/Julia Inthorn (Hg.): Wie viel Technik ist menschlich? Medienpädagogische und ethische Auseinandersetzung mit Digitalisierung in der Pflegeausbildung, München: kopaed, S. 41-53. Landau, Ruth/Werner, Shirli (2012): Ethical aspects of using GPS for tracking people with dementia: recommendations for practice, in: International Psychogeriatrics, 24(3). S. 358-366. Manzeschke, Arne/Weber, Karsten/Rother, E./ Fangerau, Heiner (2013): Ergebnisse der Studie »Ethische Fragen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme«, Berlin (VDI/VDE) 2013.
Wer entscheidet? Medizintechnologie in der Altenpflege | 199
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‚Meine‘ Daten – ‚Meine‘ Verantwortung? Gesundheitsbezogene Apps und neue Dimensionen der Selbstbestimmung Bettina Schmietow, Georg Lindinger
EINLEITUNG Digitale Technologien durchziehen mittlerweile in mannigfaltigen Prozessen nahezu alle Lebensbereiche. Wearables, Sensoren und Tracker erstellen eine Vielzahl an Daten und Datensorten, welche auch in unterschiedlichster Weise im Gesundheitswesen und darüber hinaus verwendet und interpretiert werden. Die Möglichkeit, gesundheitsbezogene Daten kontinuierlich und gleichzeitig flexibel zu erheben und in interpretierter Form für den Nutzer verfügbar zu machen, kann zwar beispielsweise die Patientenautonomie stärken, birgt aber auch Risiken hinsichtlich des Datenschutzes, der Datensicherheit und der Transparenz des Zugriffs, sowie im Hinblick auf Validität und Kontextualisierung ihrer Ergebnisse. Das Nutzen- und Schadenspotential der erhobenen Daten muss in einem neuen digitalisierten Kontext verschiedener Akteure und Interaktionen abgewogen werden. Um eine adäquate wissenschaftliche Erfassung dieser Veränderungen und hierzu verantwortungsvolle ethisch-normative Einschätzungen treffen zu können, ist es notwendig, eine möglichst vielschichtige Analyse zu erreichen, welche unseres Erachtens ausschließlich auf Grundlage einer interdisziplinären Zusammenarbeit mit Hilfe unterschiedlicher Perspektiven und Methodiken möglich ist. Im Kontext des vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Projektes ‚Medizin 4.0 – Das ethische Fundament der Digitalisierung im Gesundheitswesen‘ (MEDETHIK 4.0), einer Kooperation der Universität Bayreuth mit der LMU München, analysien wir daher digitale Technologien im Gesundheitswesen in einem empirisch gestützten ethisch-normativen Forschungsdesign. Dabei
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fokussieren wir zwei spezifische Bereiche – gesundheitsbezogene Apps sowie telemedizinische Anwendungen unter besonderer Berücksichtigung von Telemonitoring. Im Fokus stehen Auswirkungen unter anderem auf die Arzt-PatientBeziehung, das Verhältnis zwischen Eigenverantwortung und Solidarität sowie die Autonomie des Individuums. Unser Beitrag möchte sich dabei einem spezifischen Aspekt dieser Forschung zuwenden. Anhand beispielhaft beleuchteter Auswirkungen mobiler Apps betrachten wir mögliche Verantwortungsverschiebungen und die daraus resultierenden Konsequenzen für Patient*innen und andere Nutzer*innen von Apps sowie deren Beziehungen zu den Stakeholdern des Gesundheitswesens. Die Grundlage hierzu bietet eine noch nicht veröffentlichte qualitative empirische (Interview-) Studie, welche verschiedene Aspekte der Einschätzungen der beteiligten Stakeholder zu den Auswirkungen der Technologie beleuchtet und diese im Hinblick auf ethisch relevante Bezüge und Zusammenhänge analysiert. Ausgehend von Vorarbeiten zur Bewertung von E-Health-Anwendungen allgemein (vgl. insbesondere Marckmann, G [2016]) planen wir auf diese Weise sukzessiv eine Bewertungsmatrix zu erstellen. Diese Matrix kombiniert als Ausgangspunkt Bewertungskriterien aus den Bereichen der Medizin- und Technikethik, denen entsprechende ethische Prinzipien zugrunde liegen. Abbildung 1: Bewertungskriterien für eHealth nach Marckmann
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Marckmann 2016
Der Fokus liegt auf der Frage, wie dieser kohärentistisch begründete Ansatz im Lichte neuerer Erkenntnisse über die Anwendungsmöglichkeiten von gesundheitsbezogenen Apps und im Hinblick auf alternative bzw. ergänzende ethische
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Ansätze weiterentwickelt werden kann. Das daraus resultierende Bewertungsverfahren wird insbesondere auch hinsichtlich der praktischen Anwendungsmöglichkeiten reflektiert. Im Zentrum der Überlegungen dieses Beitrags stehen die ethischen Fragen der (Eigen-)Verantwortung und Selbstbestimmung bzw. Autonomie im Bereich der Anwendung und Implementierung gesundheitsbezogener Apps. Durch die Analyse der verschiedenen Perspektiven der Beteiligten können ethische Spannungsfelder identifiziert und der weiterführenden ethischen Analyse zugeführt werden. Im Folgenden werden zu Beginn das Forschungsdesign und die empirische Ausarbeitung der Studie dargestellt. Dies geht einher mit einer kurzen Skizzierung der Methodik und der interdisziplinären Anbindung im Forschungsverlauf. Im Anschluss werden schlaglichtartig aus den Daten analysierte relevante Veränderungen im Gesundheitswesen anhand der Skizzierung einzelner Beispiele reflektiert. In einem weiteren Abschnitt wird der ethische Diskurs zur Einführung der neuen Technologien knapp umrissen, um mit einer kurzen Reflexion auf die dadurch aufgeworfenen Fragen einer Rollen- und Normverschiebung bezüglich einer Veränderung der Verantwortungszuschreibung und der Autonomie zu schließen.
FORSCHUNGSPROJEKT MEDIZIN 4.0 Die eingangs erwähnte vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Studie „Medizin 4.0 – Das ethische Fundament der Digitalisierung im Gesundheitswesen“ stützt sich in seiner Ausgangskonzeption auf zwei grundlegende Säulen der Erarbeitung, um eine adäquate Struktur und einen ausreichenden Datenkorpus für die vielfältigen Schritte zur Erarbeitung einer weitreichenden ethischen Analyse zu schaffen. Das Forschungsdesign sieht einen parallelen und zusätzlich iterativen Forschungsprozess vor und ermöglicht eine gegenseitig stützende und aufbauende Erarbeitung der gemeinsamen und einzelnen Forschungsziele und -schwerpunkte der beteiligten Partnerinstitute. Eine Übersicht über das Forschungsdesign bietet folgende Grafik.
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Abbildung 2: Forschungsdesign Projekt „Medizin 4.0“
Quelle: eigene Darstellung. EGT = Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, LMU München; IMG = Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften, Universität Bayreuth.
Das Forschungsdesign sieht für den empirischen Teil verschiedene qualitative Erhebungen zu den jeweiligen Forschungsgegenständen vor. Hierzu werden eine ethnografische Vorerhebung und eine Interviewstudie mit Stakeholdern (aus den Bereichen der Ärzteschaft bzw. Medizin, Krankenversicherungen und (Technologie-)Unternehmen) kombiniert. Einerseits ermöglichen die so gewonnenen Daten eine zielgerichtete und valide Fragebogenkonstruktion für die angeschlossenen quantitativen Umfragen und zusätzlich bieten sie in diesem Forschungsdesign bereits die Möglichkeit, sowohl inhaltliche als auch strukturelle Erkenntnisse in die ethischen Analysen einfließen zu lassen. In weiteren und parallelen Schritten werden quantitative Erhebungen durchgeführt. Hierfür wurden Fragebögen konzipiert, mit denen Onlinebefragungen durchgeführt wurden. Diese Variabilität und Kombination ermöglicht eine hohe methodische Absicherung der Validität auch bei methodisch sensiblen Bereichen und erhöht die Möglichkeiten der Generierung einer größeren Grundgesamtheit für die Stichproben und Quotierungen. Da sich dieser Beitrag explizit auf den qualitativen Teil der empirischen Erhebungen bezieht, wird auch bei der Beschreibung der Methodik der Fokus auf diesen ersten Teil gelegt.
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Die qualitativ ausgerichtete Erhebung gliedert sich in zwei Perioden. Zunächst wird eine ausführliche Sondierung des Feldes unter Hinzunahme verschiedener Vorerhebungen durchgeführt. Dazu werden über 12 Monate im Laufe einer strukturierten, wenngleich begrenzten Ethnografie Zugänge gelegt und Grenzen der Datenerhebung bestimmt. Im Zuge dessen werden Netzwerktreffen und Tagungen mit spezifischem Bezug zum Themenbereich der Digitalisierung mit Teilnehmer*innen der jeweiligen Stakeholder besucht. Die Analyse der strukturierten ‚field notes‘ und Gesprächsprotokolle der Ethnografie dienen der prozessual erfolgenden Sensibilisierung der Forscher*innen und einer Spezifizierung der jeweiligen Begriffsverwendung im Feld. Kernpunkt der ausführlichen Voruntersuchung bildet die Möglichkeit, geeignete Auswahlkriterien für das Sampling zu erörtern und Interviewpartner*innen zu identifizieren, um diese für die Interviewstudie zu gewinnen. Dabei erfolgt die Auswahl dieses theoretisch sensiblen Samplings nach heterogenen Merkmalen. Zunächst gliedert es sich in eine nach Stakeholdern aufgeteilte Struktur. Neben allgemeinen, aber für die Auswertungen wichtigen sozialstatistischen Merkmalen wie Geschlecht, Alter und Bildungstand werden für die jeweiligen Gruppen nochmals spezifische Merkmale zur Differenzierung aus den Vorerhebungen resultierend einzeln festgelegt. Hierzu werden drei verschiedene Bereiche von Stakeholdern identifiziert. Es werden zentrale Führungskräfte und Geschäftsführer*innen wirtschaftlicher Unternehmen befragt, deren spezifisch ausgewiesener Tätigkeitsbereich sowie Sichtbarkeit technischer und wirtschaftlicher Expertise innerhalb der Entwicklung und des Verkaufs von gesundheitsbezogenen Apps liegt. Zudem sollte das Unternehmen in seiner Position und grundlegenden Ausrichtung im Markt des digitalen Gesundheitsbereichs firmiert sein. Bei der Zusammenstellung der jeweiligen Unternehmen wurde versucht eine breite Streuung zu erzeugen, um das Marktsegment adäquat abzubilden. Es sind Unternehmen der Entwicklung des Verkaufs von gesundheitsbezogenen Apps eingeschlossen, ebenso wie hybride Formen und Unternehmen der Datenwirtschaft. Darüber hinaus werden Mediziner*innen identifiziert, welche die Leitung oder leitende Mitarbeit im Kontext der App-Entwicklung oder -implementierung besitzen. Weiteres Kriterium bildet eine zentrale Leitungsfunktion und ihre Position als Entscheidungsträger*in innerhalb der Ärzteschaft. Als drittes wurden zentrale Vertreter*innen der gesetzlichen als auch der privaten Krankenkassen sowie weiterer Multiplikatoren aus der Versicherungswirtschaft mit spezifischem Gesundheitsbezug eingeschlossen. Um die Perspektiven aus der Gesundheitsversicherungswirtschaft adäquat abzubilden, werden die Befragten hinsichtlich ihres Einflusses und Position als strategische Entscheider*innen in den jeweiligen Institutionen aus-
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gewählt. Die langjährige Erfahrung der Eingliederungen von Innovationen und Veränderungen im Gesundheitswesen im Zuge der Digitalisierung ist ein weiteres Kriterium. Darüber hinaus werden Vertreter*innen ausgewählt, deren spezialisierter Tätigkeitsbereich in der Bearbeitung und/ oder Entscheidungsfindung bezüglich der neuen Mobiltechnologien (insb. Apps) liegt. Insgesamt wurden 12 Interviewpartner*innen eingeschlossen und ein Audiomaterial von knapp 1000 Minuten erhoben. Die Fragerichtungen wurden auf Grundlage der Vorerhebungen gestellt. Sie sind in drei Bereiche gegliedert und folgen einer sequentiell narrativen Struktur, um die Möglichkeit eigens induzierter Ausführungen der Befragten innerhalb des jeweiligen Themas sowie Verbindungen zu anderen aus ihrer Sicht relevanten Bereichen zu ermöglichen. Die Fragerichtungen beziehen sich auf die Entwicklungen der gesundheitsbezogenen Apps und deren Einsatz in und außerhalb des deutschen Gesundheitswesens, die Einsatzmöglichkeiten und Veränderungen im Zuge der Telemonitoring-Technologie sowie weitere Fragen zu allgemeinen Veränderungen bezüglich digitaler Technologien und im speziellen von Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen. Die Auswertungen der Interviews sind bereits fortgeschritten, jedoch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Ausführungen noch nicht abgeschlossen und beziehen sich dementsprechend auf vorläufige Zwischenergebnisse. Die Interviews wurden gemäß der inhaltsanalytischen Methode nach Mayring (vgl. Mayring 2015) unter Zuhilfenahme des sozialwissenschaftlichen Auswertungsprogramms MAXQDA (MAXQDA 2019) ausgewertet. Für diesen Artikel werden nun schlaglichtartig Beispiele aus dem Analyseprozess (‚work in progress‘) ausgewählt und präsentiert. Ihre Relevanz wurde in vielen Austauschprozessen mit den ethischen Analysen zum Fachdiskurs der Medizin- und Technikethik (siehe Abschnitt ethische Analyse) verknüpft, analysiert und eingeflochten.
ZWISCHENERGEBNISSE AUS DEN EMPIRISCHEN ERHEBUNGEN Die folgenden Beispiele stammen aus Zwischenergebnissen, die in einer Kombination aus Häufigkeits-, Intensitäts- und Kontingenzanalysen herausgearbeitet wurden. Im Anschluss wurden die einzelnen Elemente generalisiert und haben bereits mehrere Selektions- und Anbindungsprozesse zu den oben genannten Forschungsfragen durchlaufen. Die drei Beispiele beziehen sich auf die Kategorienbezeichnungen ‚Bring your own device‘, ‚Zäsur des Arztstandes, ‚Prosument*innen‘. Alle einzelnen Aspekte wurden in mehrschichtigen Analyseschrit-
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ten im Hinblick auf die Frage nach Selbstbestimmung und Autonomie erarbeitet und reflektiert. ‚Bring your own Device (BYOD) – Individuelle Verfügbarkeit digitaler Hochtechnologie‘ Die Frage nach den erweiterten Möglichkeiten durch Mobiltechnologien selbsttätig oder auch selbstständig (Gesundheits-)Daten zu erheben führt zu einer veränderten Wahrnehmung der Bereitstellung von Daten mit Gesundheitsbezug. Die Sensortechnologie vermittelt dabei ein Gefühl der Validität und Sicherheit. In den eigenlogisch stimmigen Interpretationen der Interviewteilnehmer*innen wird Stakeholder übergreifend deutlich, dass die definitorische Trennung zwischen Laien und Expert*innen ebenso wie die damit verbundene Barriere, welche allgemeine Zugänglichkeit auf spezialisierte oder kenntnisreiche Personen einschränkt, in Frage gestellt ist. Allgemeine Verfügbarkeit und Convenience erhalten eine übergeordnete Legitimation gegenüber einer Absicherung und Bestätigung durch Fachpersonal. Die Wahrnehmung, dass Technik und mathematische Berechnungen einen grundsätzlich ‚valideren‘ Charakter besitzen ist erkennbar. Daher werden quantifizierende Ergebnisse leichter als übertragbar und gesichert angenommen. Das scheint Ausdruck eines größeren Trends in der Gesellschaft, nämlich der Quantifizierung und Vermessung von Lebensbereichen und zunehmend auch der Selbstvermessung von Physis, Psyche und Handlungen (Selke 2014, Selke 2016). Die suggerierte Nahtlosigkeit von Ergebnissen, Berechnungsoperationen und gesundheitsspezifischen Interpretationen sowie der Möglichkeiten diese aufgrund des generalisierten Technologieverständnisses selbst einschätzen zu können stärkt das Gefühl einer gleichwertigen Aushandlung der Interpretationsspielräume. In den verschiedenen untersuchten Ausdrücken zur Einschätzung einer so genannten Demokratisierung der Medizin sind eine Verbindung der in der eigenlogisch stimmigen Wahrnehmung der Technik inhärenten Validität und das Verständnis einer Weiterentwicklung medizinischer Technologie tragend für eine suggerierte Stärkung der Laienposition und des ‚Expert*innenʻwissens über die eigene Gesundheit. Viele Expert*innen der Gesundheits- und Versicherungswirtschaft sehen in diesen Veränderungen der Eigenwahrnehmung der Bürger*innen zu den Einschätzungsmöglichkeiten der eigenen Gesundheit eine zukünftige Entwicklung, welche in fünf bis zehn Jahren weiterführend auch die Ärzt*in-Patient*in-Beziehung tiefgreifend umgestalten wird. Gerade die Möglichkeit das eigene Smartphone beispielsweise an ein gut funktionierendes Dauer-EKG anzuschließen, von einem Interviewpartner als „Bring your own device -
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BYOD“ bezeichnet, steht symptomatisch dafür, dass die „hochspezialisierte Telemedizin“ in die einfachen Bereiche des täglichen Lebens wandern kann. Damit verbunden ist die eigene Entscheidung, ob es überhaupt von einem Arzt/ einer Ärztin verschrieben lassen werden muss „oder [ob] […] ich mir das selbst [kaufe], um es auszuprobieren, ob ich da ein Problem habe. Das finde ich ist ein neuer Bereich, also diese Demokratisierung dieser sonst so schwer schwerzugänglichen Technik“.1 Zusammenfassend kann im Zuge der ‚BYOD‘-Einschätzung eine Verschiebung und Überlappung der Zuschreibung zwischen der Rolle als Bürger*in und Patient*in konstatiert werden. In diesem Zusammenhang ergeben sich neue und/oder erweiterte sowie vermutete Handlungsoptionen, welche verknüpft mit der oben angeführten Veränderung der Interpretation der Legitimation auch mit einer veränderten Positionsbestimmung im Gesundheitswesen einhergehen können.
‚ZÄSUR DES ÄRZT*INNEN-STANDES‘ Eine veränderte Positionsbestimmung der Bürger*innen/Patient*innen ist verbunden mit einer veränderten Begründungslage für die Einschätzung bezüglich der Rolle der Ärzt*in. Die digitale Mobiltechnologie und ihre Entwicklung dienen dabei als symptomatische Indizien für eine als notwendig betrachtete Loslösung von einem nicht mehr als zeitgemäß betrachteten Arztverständnisses. Das Arztmonopol auf die Deutung von Gesundheit und Krankheit wird diskursiv zunehmend als variabel betrachtet und die Freiheit der Wahl der Expert*innen und die Vorgaben aus digital berechneten Modellen führen zu einer Einführung eines anders interpretierten Freiheitsbegriffs bezüglich der Notwendigkeit und Bestimmungsfähigkeit wer oder was Gesundheit bzw. Krankheit bestimmen soll. Die Ärzt*in als generalistisch ausgebildete Spezialist*in für Gesundheitsfragen wird zunehmend als verengte Zuschreibung wahrgenommen. Die Rolle der Ärzt*in wird, dabei wiederum Stakeholder-übergreifend, in Verteiler*in, Spezialist*in und Berater*in unterschieden. Die Möglichkeit der Fernbehandlung mit telemedizinischen Technologien, wozu wir sowohl Telemonitoring-Programme wie auch Videotelefonie zählen, verstärkt diese Rollenzuschreibung auch durch ihre räumliche Trennung von Diagnose und Therapie. Subsumierend kann konstatiert werden, dass die der Mobiltechnologie inhärente Logik einer Grenzüberwindung sich auch in den jeweiligen Interpretationen der Behandlungsmög-
1
Interviewpartner*in 1: Z. 75 ff.
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lichkeiten wiederspiegelt. Dies geht bis hin zu einer Änderung der Vorstellung wie ein/e Patient*in definiert ist. Einen kurzen Einblick gibt folgende Aussage aus dem Datenmaterial: „[…] wenn Ihre Behandlungsoptionen dann sozusagen jedem auch zur Verfügung stehen. Und diese Daten zunehmend an Bedeutung gewinnen und das was wir früher als Person bezeichnet haben im Rückgang ist, wir kriegen eine andere Definition des Patienten. Weg von einer Personenzentriertheit, hin zu einem Datenmodell. Was dann natürlich massivste Konsequenzen hat auch für die Idee des Patienten und die Arzt/Patienten Beziehung, die nicht mehr auf den persönlichen Kontakt, den Händedruck oder auch das Sehen alleine [2s] was wir gerade auch auflösen. Das ändert die Arzt-Patienten- Beziehung ganz grundlegend und deswegen geht es nicht nur über die Überwindung von Strecken geographischen Distanzen, sondern wir müssen heute erkennen, dass diese Definition, das Humane des Patienten seine Souveränität und Autonomie massiv berühren wird.2“
‚Prosument*innen‘ Stark verwoben mit den zuvor angeführten Kategorien der differenzierten Unterscheidung zwischen den Rollen von Bürger*innen und Patient*innen und den damit verbundenen Interpretationen der Legitimation von Einschätzungen bei der Konstruktion ‚gesund/ krank‘ ist auch die ökonomisch geprägte Vorstellung einer Zuschreibung als Konsument*in der Gesundheitsversorgung. Hierbei werden die Unterscheidungsmetaphern ‚schwarz/weiß‘, ‚zukunftsweisend/ überholt‘ eingeführt. In der vergleichenden Überlappung der Interviews über StakeholderGrenzen hinweg (bei den Ärzt*innen mit Einschränkungen) wird diese Gegenüberstellung häufig als Bild verwendet, um das paternalistische Ärzt*innenbild als negative Vergangenheit darzustellen. Die Zukunft der Arzt/Patient Beziehung wird hingegen als Austausch und Beratung auf Augenhöhe, konstitutiv ermöglicht durch die digitale Technologie, skizziert. Die Patient*in tritt in dieser Ansicht somit nicht mehr als ausschließliche Informations- und Wissensempfänger*in auf, sondern verfestigt sich in einer Vorstellung einer gleichwertigen dialogisch agierenden Partner*in. Die Bürger*in mit Gesundheitsinformationen aus den neuen Technologien hat also auch eine mit einer höheren Verantwortung einhergehende Rolle, die Teil einer allgemeinen Entwicklung zur selbstbestimmten Entscheider*in als Konsument*in des Angebots der Ärzt*innen oder anderer Spezialist*innen ist. Es stehen sich also die Unterschiede einer Autonomie der Kund*innen und der Autonomie der Patient*innen gegenüber (siehe auch Abschnitt Analyse Ethischer Implikationen). 2
Interviewpartner*in 9: Z. 111.
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Beispielhaft hierfür steht der Vergleich eines Interviewpartners mit den Entwicklungen der Musikindustrie im Zuge der Digitalisierung. Die Musikindustrie habe sich im Laufe der letzten zehn Jahre weg von einer Institution der Bereitstellung von Musik als Produkt der Künstler*innen zu einem Plattformanbieter für Vermittlung von Musikkonsument*innen und Musikproduzent*innen entwickelt und habe dabei erkannt, dass das größte Potential in der Verquickung der Rollen von Produzent*in und Konsument*in liege. Jede/r teilt seine/ ihre Daten, seine/ ihre produzierte Musik oder Musikzusammenstellungen mit anderen, und wird somit sowohl zur Produzent*in wie auch zur Konsument*in, eine so genannte Prosument*in. Eine solche Position ermöglicht dem/der Bürger*in „selber solche Informationen [zu] produzieren, sie werden auch ihre Gesundheitssituation viel stärker selber einschätzen. Und wir gehen von Informationsempfänger, du bist krank, so in einen Dialog […].“3 Hinter den Möglichkeiten seine/ ihre Daten zu kennen und den auftretenden Möglichkeiten, auch gesundheitsrelevante Informationen oder Zustände selbst zu messen, stehe damit auch eine Verschiebung der Patient*in hin zu einer Produzent*in eigener Gesundheitsdaten. Die Bürger*in wird zu einer Prosument*in der jeweilig eigenen Gesundheit sowie auch eine Interpretator*in der Ergebnisse der Zusammenführung der relevanten gesundheitsbezogenen Daten. Für diese Entwicklung bedarf es, auch mehrheitlich im Ausdruck der befragten Stakeholder, einer gesellschaftlichen Antwort und eines umfassenden ethischen Diskurses, wie mit dieser Vorstellung einer Gesundheit als Aushandlung umgegangen werden soll. Im Zuge der Analysen der verschiedenen großteilig induktiv gewonnen Kategorien zeigt sich, dass einige der sich als zentral herauskristallisierenden Fragen der Stakeholder bezüglich des Umgangs mit den Entwicklungen und Auswirkungen der Mobiltechnologie im Gesundheitswesen sich häufig an der Verhältnismäßigkeit zwischen einem durch die Mobiltechnologie induzierten Gewinn an Autonomie und dem gleichzeitig auftretenden Phänomen einer Irrtumshäufigkeit bemessen lassen. Dabei sind sowohl die Fragen nach einer erhöhten Barrierefreiheit des Zugangs und der niederschwelligen Nutzbarkeit einfach anmutender Ressourcen medizinischen oder zumindest gesundheitsbezogenen Wissens zentraler Bestandteil einer gewissen Selbstermächtigung der Bürger* innen, Patient*innen und Prosument*innen in ihren jeweiligen Rollenzuschreibungen. Dies erscheint sowohl auf individueller, institutioneller und zum Teil auch auf systemischer Ebene mit einem Lernprozess sowie mit gesteigerter Fehlerhäufigkeit verknüpft.
3
Interviewpartner*in 1: Z. 138 f.
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ANALYSE ETHISCHER IMPLIKATIONEN Das ethische Teilprojekt von ‘Medizin 4.0‘ verfolgt zwei wesentliche Ziele: zum einen die Entwicklung eines substanziellen Ansatzes zur ethisch reflektierten Gestaltung der Entwicklung und Anwendung digitaler Technologien im Gesundheitswesen (eHealth) (im Sinne von „Technikbewertung“, vgl. Marckmann 2016), sowie die Konkretisierung und Anwendung des Ansatzes für zwei konkrete eHealth-Bereiche: gesundheitsbezogene Apps und Telemedizin/Telemonitoring. In diesen Ausführungen fokussieren wir uns auf die mobilen AppTechnologien. In der allgemeinen und ethisch orientierten Diskussion um Digitalisierung und ehealth werden bestimmte Charakteristika der breiten Anwendung neuer Technologien besonders deutlich. Alle Anwendungen beruhen auf eigenständiger, kontinuierlicher, minimal-invasiver und vernetzter oder vernetzbarer Datenerfassung. Dabei wird vor allem auf eine Selbstüberwachung des eigenen Körpers zum besseren Selbst-Management insbesondere von chronischen Erkrankungen oder zur Förderung eines gesunderen Lebensstils abgehoben. Dies erfolgt unter Annahme einer Stärkung individueller gesundheitsrelevanter Kompetenz sowie einer steigenden Selbstermächtigung (empowerment) bis hin zu einer allgemeinen Demokratisierung und auch De-Professionalisierung der Medizin bzw. des Gesundheitssystems. Mit diesen angenommenen Entwicklungstendenzen werden mehr oder weniger direkt die auch medizin-bzw. bioethisch zentralen Themen vor allem individueller Autonomie bzw. von Selbstbestimmung und gesundheitlicher Verantwortung anvisiert. Dabei entsteht ein zwiespältiges Bild, in dem sich auf der einen Seite die Vorteile des Selbstmanagements, der Personalisierung und der zunehmenden Unabhängigkeit von der klassischen Gesundheitsversorgung zeigen, und auf der anderen die Risiken einer neuen Abhängigkeit von kaum kontrollierbaren Technologien mit verschwimmenden Grenzen der individuellen, professionellen und sozialen Verantwortlichkeit für Therapieerfolg und den allgemeinen Gesundheitszustand sichtbar werden. Es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob insgesamt von einem Zugewinn an Autonomie bzw. individueller Selbstbestimmung – meist positiv bewertet – oder doch eher einer Verwässerung oder gar Auflösung des medizinethischen Autonomieprinzips auszugehen ist. Im Folgenden wird daher zunächst die Rolle dieses Prinzips in der Medizinethik überblicksartig erläutert, bevor verschiedene diskursive und ethische relevante Verschiebungen im bisherigen Diskurs über digitale bzw. mobile Gesundheitstechnologien erörtert werden.
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Der häufigste Bezugspunkt und damit eine Art Standard für das Konzept der Patient*innenautonomie ist die Handlungsautonomie in einem kontextspezifischem bzw. situationsbezogenen Sinn nach Beauchamp/Childress (2009), die mitunter von einem stärker inhaltlich und normativ charakterisierten Vermögen zur Autonomie abgegrenzt wird (vgl. Bobbert/Werner 2014). Im Fokus steht seit langem, und immer wieder kritisiert, die formale Umsetzung des Respekts der Patientenautonomie mithilfe des Konstruktes der informierten Zustimmung (informed consent) nach professioneller Aufklärung, insbesondere zu Behandlung aber auch zu Forschungsteilnahme bzw. Spende von Daten- oder biologischem Material. Diese unterliegt bestimmten Bedingungen und soll insbesondere entscheidungskompetenten Personen zu einer auf Verständnis beruhenden und von externem Einfluss freien, d.h. freiwilligen, Entscheidung verhelfen bzw. diese überhaupt erst gegenüber Ärzt*innen, Forschenden und anderen relevanten Professionen zu etablieren helfen. Dieser schematischen, praxisorientierten Charakterisierung der Konzeptualisierung und Implementierung von Patientenautonomie steht eine ausdifferenzierte philosophisch-ethische Debatte über Begriff und normativen Gehalt der Autonomie gegenüber, wie beispielsweise die Konzepte relationaler, postkantianischer oder feministischer Autonomie (vgl. Bobbert/Werner 2014). Diese Vielfalt und auch das eventuelle Primat einer bestimmten Konzeption auf Grundlage normativer Argumentation wird aber für die medizinische und lebenswissenschaftliche Praxis nicht selten als Überforderung betrachtet, weshalb eine Art konsensualer Minimalbegriff prozessualer Autonomie wie oben beschrieben häufig zum Tragen kommt. In Bezug auf den Verantwortungsbegriff ist bisweilen eine vereinfachte Schematisierung im Sinne von „Wahlfreiheit“ oder „Entscheidungsfreiheit“ Referenzpunkt der Medizinethik, wenngleich Verantwortung immer auch in Bezug auf eine zu gestaltende Beziehung von Ärzt*in und Patient*in (und zunehmend anderen Beteiligten im Gesundheitswesen bzw. Einflussnehmenden) und damit auch relational bzw. in einem dynamischen sozialen Kontext zu denken ist. Je nach Modell der Ärzt*in-Patient*in-Beziehung trägt dann die Ärzt*in allein, die Patient*in allein, oder tragen beide Parteien die Verantwortung für medizinisch relevante Entscheidungen (vgl. Krones/Richter 2008). Vor diesem Hintergrund soll noch einmal der neuartige Kontext digitalisierter Gesundheitsanwendungen umrissen werden. Im Mittelpunkt stehen Echtzeitmonitoring, Flexibilität und Ubiquität. Die Interaktion mit der App bzw. dem Gerät wird stärker ausdifferenziert, und findet je nach Anwendung (indirekt) mit Fachpersonal, aber auch mit Laien und ‚global‘ (auf Patientenplattformen- bzw. netzwerken) statt (vgl. Househ et al. 2018). Dabei lassen sich grob Anwendungskontexte unterscheiden wie etwa der Bereich Lifestyle, ein ‚proto-
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klinischer‘ Bereich (z.B. Telemonitoring oder Selbstmanagement mit ärztlicher Unterstützung und/oder Interventionsmöglichkeit), sowie klinische Anwendungen selbst (vgl. Paglialonga/Lugo/Santoro 2018). Diese Bereiche sind jedoch nicht immer trennscharf, sondern können kontextabhängig genutzt werden, und werfen dann unter Umständen andere ethische Fragen auf, wenn beispielsweise eine lebensstilverbessernde App zur psychischen Gesundheit Zusatzangebote für Therapieunterstützung bzw. Diagnoseunterstützung oder zur (unter Umständen intransparenten) Weitergabe von Forschungsdaten enthält (vgl. Stähler/Evers 2019). Die unabhängige und flexible Nutzung setzt jedoch quasi immer ein ausreichendes Maß an Selbstbestimmungsfähigkeit bzw. Autonomie voraus und kann bei entsprechend gegebenen Voraussetzungen diese auch stärken. Gleichzeitig sind diese Voraussetzungen oft keineswegs trivial, ist doch zu routinierter Technologieverwendung meist eine Personalisierung bzw. Patient*innen- oder Nutzer*innenzentriertheit und Training bzw. Kompetenzerwerb erforderlich (vgl. Peiris/Miranda/Mohr 2018). Die medizinethische Patient*innenautonomie wird in diesem Kontext zunehmend und mal mehr, mal weniger direkt als autonome Rolle der Technologienutzer*in- oder -konsument*in umgedeutet, wobei sehr unterschiedliche Normen, Rechte und Pflichten und deren abstrakte Idealisierungen zum Ausdruck gebracht werden. Die Rolle der Patient*in ist dabei durch eine unfreiwillige Bedürftigkeit oder sogar Ausgeliefertsein und Machtlosigkeit gekennzeichnet. Eine notwendige Behandlung bzw. Abhilfe ist jedoch oft erschwert durch Verunsicherung und begrenztes Wissen der Hilfesuchenden. In einer Situation der Bedürftigkeit und Dringlichkeit werden (vorwiegend finanzielle) Kosten, finanzielle vorwiegend, aber auch Ressourcenaufwendung beispielsweise durch langwierige Therapiestunden und Recherchen, nicht selten vernachlässigt bis ignoriert, um Leidensdruck zu lindern. Der idealtypische Konsument hingegen agiert auf der Basis von Freiwilligkeit, ist relativ gut informiert oder zumindest in der Lage, sich gut zu informieren; er hat eine Wahl und kann so versuchen, eine für seine Situation vorteilhafte Transaktion bzw. einen vorteilhaften Warentausch zu erreichen. Die Patient*in ist andererseits auf eine Beziehung zur Ärzt*in bzw. anderen Professionen im Gesundheitswesen angewiesen, die sich idealtypisch durch gegenseitiges Vertrauen, Zusammenarbeit und Mitgefühl auszeichnet (Goldstein/Bowers 2015; Kreitmair/Cho/Magnus 2017; Schmietow/Marckmann 2019). Darüber hinaus kommen den Patient*innen spezielle Privilegien bzw. Rechte zu, wie jenes auf die Behandlung im Notfall, die Information über Behandlungsalternativen, oder den Schutz durch die ärztliche Schweigepflicht. Auch für Konsument*innen bzw. Verbraucher*innen existieren Schutzrechte, jedoch ist
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insbesondere die Transparenz kommerzieller Angebote nach Maßgabe des Anbieters gestaltet (vgl. Goldstein/Bowers 2015). Verbraucher*innen sind demnach gleichsam ‚ideal-autonom‘ und damit auch stärker selbstverantwortlich als Patient*innen. Die Patient*in befindet sich in dieser bewusst schematischen Darstellung in einer relativ machtlosen, abhängigen Position, gleichzeitig stehen durch spezielle Privilegien sein Wohlergehen und die Achtung ihrer Autonomie bzw. prinzipiellen Autonomiefähigkeit gewissermaßen bedingungslos im Vordergrund. Dem entspricht ferner der spezielle Schutzstatus von Gesundheitsdaten und der Gesundheitsversorgung überhaupt (auch wenn die Rekontextualisierung und Wiederverwendung mithilfe von Big Data-Sammlungen und -Anwendungen eine solche statusbasierte Schutzstellung in Frage zu stellen scheint (vgl. Deutscher Ethikrat 2017). Durch die angenommene Rollenverschiebung mithilfe des verbreiteten Einsatzes von Apps und anderen digitalen Gesundheitstechnologien steht nun zunehmend die stärker idealautonome Nutzer*in, die sich selbst mittels Technologie ermächtigt, im Zentrum der ethischen und politischen Diskussion. Das betrifft v.a. die Anwendungen der Selbstüberwachung – und -vermessung (selftracking) und des Selbstmanagement, welche wie auch im Bereich der personalisierten Medizin durch Datafizierung (datafication) und aktive Teilnahme der Nutzer*innen gekennzeichnet sind (Ruckenstein/Schüll 2017). Unterstützt durch nutzerfreundliche Plattformen und Schnittstellenliegt der Fokus auf Selbst(vor)sorge bzw. Gesunderhaltung und Prävention (vgl. Moerenhout/Devisch/ Cornelis 2018). Dies wird bisweilen als die Ermöglichung einer basisdemokratischen Medizin gewertet, die Patient*innen bzw. Nutzer*innen endlich in eine Zeit der proaktiven Medizin führt, in der sie entscheidungsmächtig und gestalterisch tätig sind (vgl. Hood/Flores 2012; Topol 2015; Maturo/Moretti 2018). Aber auch in Bezug auf derartige Hoffnungen und Prognosen ist noch unklar, ob es sich nicht eher um normativ aufgeladene begriffliche Verschiebungen und Entgrenzungen handelt als um den Beginn eines echten Paradigmenwechsels. Indizien dafür ergeben sich aus dem Voraussetzungsreichtum technologisierter Medizin. Empowerment u.a. durch self-tracking-Apps richtet sich demnach an die falschen Zielgruppen bzw. setzt voraus, was mittels der Technologie erreicht werden soll, also digitale Kompetenz und Gesundheitskompetenz, Selbstkontrolle, Gestaltungswillen etc. (vgl. EGE 2015; Rubeis/Schochow/ Steger 2018). Zudem wird angeführt, dass die Delegierung von gesundheitsrelevanten Einschätzungen und Entscheidungen an Technologie die individuelle Autonomie auch stören oder untergraben kann, indem automatisiert statt stärker kontextbezogen und situativ Daten erhoben und ausgewertet werden (vgl. Lupton 2014; Schüll 2016).
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Auf der sozialen, überindividuellen Ebene werden in Bezug auf self tracking v.a. die Elemente der (Selbst-)Überwachung, Kontrolle und Disziplinierung anhand vorgegebener Routinen kritisiert, die dem Anspruch der Personalisierung zuwiderlaufen können, und letztlich in Selbstbestimmung und Privatheit eingreifen. Zentrale Kritikpunkte sind eine Pathologisierung des Alltags und Medikalisierung des Lebensumfeldes (vgl. Lupton 2014). Das persönliche Engagement der Patient*innen und Nutzer*innen sowie die Verantwortungsverschiebung von Expert*innen zu Bürger*innen (siehe auch Abschnitt Empirische Zwischenergebnisse) würde damit nicht der Stärkung der Autonomie aller dienen, sondern fungierte vorwiegend als politische Maßnahme zur Kostenreduktion in der öffentlichen Gesundheitsversorgung (vgl. Lupton 2014; EGE 2015; Rubeis/ Schochow/Steger 2018). Insgesamt ergibt sich ein Bild vielfältiger, kontextbezogener Aspekte von Autonomie und (Selbst-)Verantwortung, die über die medizinethisch vorherrschenden formalen Kriterien autonomer Entscheidungs- bzw. Zustimmungsfähigkeit weit hinausgehen können. Ethische Ambivalenz scheint den digitalen und speziell mobilen Gesundheitstechnologien inhärent. Sie haben ein großes Potential zur Stärkung von gesundheitsrelevanter Selbstbestimmung, das aber nur bei entsprechend vorgebildeten Nutzer*innen zum Tragen kommt bzw. durch die starke Fokussierung auf dekontextualisierte, begrenzt evidenzbasierte Datensammlung dasselbe wieder untergraben kann (vgl. Peiris/Miranda/Mohr 2018; Schmietow/Marckmann 2019). Diese Tendenzen der Normverschiebung in Bezug auf Patientenautonomie vs. Konsumentenautonomie und Eigenverantwortung vs. Solidarität im Gesundheitswesen können weitreichende praktische Konsequenzen haben, und sollten auch in existierenden Bewertungschemata zu e-health bzw. digitaler Gesundheitstechnologie mitbedacht und gegebenenfalls explizit integriert werden (vgl. Albrecht/Fangerau 2015; Marckmann 2016).
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216 | Bettina Schmietow, Georg Lindinger
Deutscher Ethikrat (2017): Big Data und Gesundheit – Datensouveränität als informationelle Freiheitsgestaltung. Stellungnahme vom 30. November 2017, siehe https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-big-data-und-gesundheit.pdf. European Group on Ethics in Science and New Technologies to the European Commission (EGE) (2015): The ethical implications of new health technologies and citizen participation. Opinion No. 29 vom 13. Oktober 2015, siehe http://ec.europa.eu/research/ege/pdf/opinion-29_ege.pdf. Goldstein, Melissa M./Bowers Daniel G. (2015): The patient as consumer: empowerment or commodification? Journal of Law, Medicine & Ethics 43(1), S. 162-165. Hood, Leroy/Flores, Mauricio (2012): A personal view on systems medicine and the emergence of proactive P4 medicine: predictive, preventive, personalized and participatory. New Biotechnology 29(6), S. 613-624. Househ, Mowafa et al. (2018): Balancing between privacy and patient needs for health information in the age of participatory health and social media: a scoping review. Yearbook of Medical Informatics 27(01), S. 29-36. Kreitmair, Karola V./Cho, Mildred K/Magnus, David C. (2017): Consent and engagement, security, and authentic living using wearable and mobile health technology. Nature Biotechnology 35(7), S. 617-620. Krones, Tanja/Richter, Gerd (2008). Ärztliche Verantwortung: das Arzt-PatientVerhältnis. Bundesgesundheitsblatt 51, S. 818-826. Lupton, Deborah (2014): Apps as artefacts: towards a critical perspective on mobile health and medical apps. Societies 4(4), S. 606-622. Marckmann, Georg (2016): Ethische Aspekte von eHealth, in: eHealth in Deutschland. Anforderungen und Potenziale innovativer Versorgungsstrukturen, Hrsg. Fischer F und Krämer A, Springer: Berlin, S. 83-99. Maturo, Antonio/Moretti, Veronica (2018): Digital health and the gamification of life: How apps can promote a positive medicalization. Bingley: Emerald Publishing. MAXQDA Webseite, Verbi GmbH: https://www.maxqda.de/ vom 07. 12.2019. Mayring, Philipp (2015): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 12. Auflage, Weinheim: Beltz Verlag. Moerenhout, Tania/Devisch, Ignaas/Cornelis, Gustaaf C. (2018): E-health beyond technology: analyzing the paradigm shift that lies beneath. Medicine, Health Care, and Philosophy 21(1), S. 31-41.
‚Meine‘ Daten – ‚Meine‘ Verantwortung? | 217
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Eine Robbe für Oma Die zukünftige Dauerausstellung Robotik im Deutschen Museum Nicolas Lange, Ludwig Bauer
EINLEITUNG Wer kennt nicht den weltberühmten Satz „I’ll be back“, mit dem sich Arnold Schwarzenegger als T-800 im Blockbuster „Terminator“ des Regisseurs James Cameron aus dem Jahr 1984 von einem Polizisten verabschiedet, bevor er kurz darauf seine Drohung wahrmacht und mit einem Streifenwagen durch die Wand einer Polizeistation fährt? Der T-800 sowie sein „gutes“ Pendant, RoboCop, aus dem gleichnamigen Science-Fiction Film von 1987 stehen stellvertretend für durch Roboter geschürte Ängste und geweckte Erwartungen. Auch das heute omnipräsente Wort „Roboter“ entstammt einem künstlerischen Kontext: Den vom tschechischen Künstler Josef Čapek geschaffenen Begriff etablierte sein Bruder Karel mit seinem 1920 uraufgeführten und heute weltberühmten Theaterstück „Rossum’s Universal Robots“.1 Der Neologismus „Robot“ stammt aus dem Tschechischen und lässt sich im Deutschen am besten mit „Fronarbeit“, also dem Austausch von körperlicher Arbeit gegen den Schutz durch einen Herren, übersetzen (Schraft 2003: 219). Anfang des 20. Jahrhunderts machten weitere künstliche Wesen auf sich aufmerksam. Dazu zählt beispielsweise auch der Prager Golem – eine Figur aus der jüdischen Mythologie. Der Legende nach schuf Rabbi Löw im 16. Jahrhundert ein Wesen aus Lehm und erweckte es mit Hilfe von Magie zum Leben. Unter anderem unterstützte der Golem seinen Schöpfer im Haushalt beim Fegen, Wasserholen und Holzhacken. Eindrucksvoll 1
Bei den „Robotern“ in Čapeks Theaterstück handelt es sich nach heutigem Verständnis nicht um Roboter, sondern um Androiden.
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auf die Leinwand brachte Paul Wegener die Geschichte des Golems in drei Stummfilmen zwischen 1915 und 1920, nachdem Gustav Meyrink mit seinem Roman „Der Golem“ einen förmlichen Boom um die mythologische Figur ausgelöst hatte (Dittmann 2006: 128).2 Auch Maria in Fritz Langs monumentalem Stummfilm „Metropolis“ aus dem Jahr 1927 gehört zu den Klassikern aus dieser Epoche. Aus literarischer Sicht dürfte vor allem der künstliche Mensch aus Mary Shelleys Roman „Frankenstein“ aus dem Jahr 1818 bekannt sein, welches der gleichnamige Protagonist an der Universität Ingolstadt schuf. Die Idee vom künstlichen Helfer ist jedoch viel älter als der Begriff oder die aufgeführten künstlerischen Auseinandersetzungen. Der griechische Dichter Apollonios von Rhodos schrieb in seinem Epos „Argonautica“ über Talos, einen Riesen aus Bronze. Dieser wurde vom Schmiedegott Hephaistos geschaffen und König Minos geschenkt, um Kreta zu beschützen. Drei Mal am Tag soll der antike „Wachroboter“ die Insel umrundet und feindliche Angreifer mit Felsbrocken beworfen haben (Mayor, 2018: 7). Talos ist dabei nur ein Beispiel von vielen aus der griechischen Mythologie.3 Abseits von diesen Erzählungen – vielleicht sogar davon inspiriert – entwickelten Erfinder, wie zum Beispiel Ktesibios von Alexandria und Philon von Byzanz, bereits Ende des 3. Jh. v. Chr. automatische Maschinen, die ihrer Zeit weit voraus waren (Bauer 2019, Le Ker 2009). Eine der wohl ältesten Überlieferungen eines mechanischen Androiden stammt aus dem asiatischen Raum: In den Lehren des chinesischen Philosophen Liä Dsi (ca. 400 v. Chr.) wird ein Mechaniker Names Ning Schi erwähnt, der am Hof des König Mu (ca. 976 – 922 v. Chr.) seinen Begleiter Kunststücke vorführen und singen lässt. „Der König hielt ihn für einen richtigen Menschen. […] Der König untersuchte ihn, da sah er, daß im Innern alles künstlich gemacht war“ (Wilhelm, 1921: 59, 60). Heutzutage begegnen uns Roboter in Spielfilmen, TV-Serien, Karten- und Videospielen in schier endloser Zahl – man denke nur an R2-D2 und C-3PO aus der „Star Wars“-Saga, Bender aus „Futurama“ oder „Mega Man“ aus der gleichnamigen Videospielreihe. Und auch der bereits erwähnte Golem tritt unter anderem in Form von Blitzcrank im Onlinespiel „League of Legends“, als Iron Golem im Open-World-Spiel „Minecraft“ oder in diversen Ausformun-
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Bei den genannten Stummfilmen handelt es sich um „Der Golem“ (1915), „Der Golem und die Tänzerin“ (1917) und „Der Golem, wie er in die Welt kam“ (1920).
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Der Sage nach soll Hephaistos noch weitere künstliche Wesen erschaffen haben: So zum Beispiel einen metallenen Adler (Strafe des Prometheus), zwei feuerspeiende, bronzene Stiere (Khalkotauroi), singende Mägde aus Gold und zwanzig Dreifüße, die sich von selbst zu dem Rat der Götter begeben haben sollen.
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gen im populären Kartenspiel „Magic: The Gathering“ in Erscheinung. 4 Künstlerische Auseinandersetzungen prägen bis heute nicht unwesentlich unserer Vorstellungen von Robotern (Dittmann 2016: 38).
VON DER LEINWAND IN DIE REALITÄT Roboter sind jedoch keineswegs ausschließlich auf Kinoleinwänden, in Theatern und Videospielen anzutreffen. In physischer Form haben sie als Industrieroboter seit den 1960er Jahren in Fabriken einen Platz gefunden. Die Automobilbranche steht wie kaum eine zweite für den Siegeszug der Industrieroboter. Egal ob Schweißen, Sortieren oder Lackieren, Roboter übernehmen diese Arbeiten präzise, schnell und kostengünstig. Waren klassische Industrieroboter aus Sicherheitsgründen stets durch Gitter oder ähnliche Vorrichtungen vom Menschen getrennt, interagieren Roboter in jüngere Zeit immer öfter unmittelbar mit uns. Dies geschieht nicht nur in Form von Cobots, also kollaborativen Industrierobotern, die in der Produktion Hand in Hand – oder in diesem Fall eher Hand in Greifer – mit dem Menschen eingesetzt werden. Sogenannte Serviceroboter finden immer häufiger den Weg heraus aus den Fabriken und hinein in unsere private Lebenswelt und versprechen dabei, die aus Kunst und Medien bekannte Vorstellung von künstlichen Helfern Realität werden zu lassen. Bekannt dürften vor allem die in immer mehr Haushalten anzutreffenden Staubsaugerroboter sein. Der Trend, verschiedenste Tätigkeiten in den eigenen vier Wänden von Robotern verrichten zu lassen, hat inzwischen einige Kuriositäten, wie den Grillbot5, einen Roboter zur Reinigung von Grillrosten, oder Mousr, einen Roboter zur Unterhaltung von Hauskatzen, hervorgebracht. 6 Auch im Bereich der Pflege und Medizin werden Roboter entwickelt, die in Zukunft voraussichtlich vermehrt unmittelbar mit uns in Kontakt treten werden. Obwohl sich hier noch viele Projekte im Prototypenstatus befinden, halten gleichwohl erste Exemplare Einzug in den Alltag der Patient*innen. Der Einsatz
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Beispielhaft wären hier aufzuführen: „Stone Golem“, „Altar Golem“, Lodestone Golem“, „Meteor Golem“, „Tangle Golem“, „Oxidda Golem“, Icehide Golem“, „Thran Golem“, „Saberclaw Golem“, oder „Enathu Golem“. Die Anzahl der Golems ist scheinbar endlos.
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Weitere Informationen zum Grillbot finden Sie auf der Homepage des Herstellers (https://grillbots.com/ letzter Abruf: 12.12.2019).
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Weitere Informationen zum Mousr finden Sie auf der Homepage des Herstellers (https://petronics.io/ letzter Abruf: 12.12.2019).
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in solch einem sensiblen Anwendungsgebiet wird dabei durchaus kontrovers diskutiert. So deckt die Bewertung – ähnlich wie bei T-800 und RoboCop aus der fiktionalen Auseinandersetzung bekannt – eine große Bandbreite ab. Befürworter sehen das Potential der Entlastung des Pflegepersonals durch den Einsatz von Robotern. Steigende Lebenserwartungen und eine alternde BabyboomGeneration der 1950er und 1960er Jahre wird voraussichtlich mehr Pflegebedürftige hervorbringen und die Gesellschaft vor eine große Herausforderung stellen (Statistisches Bundesamt 2019: 41). So wird ein Anstieg der Pflegebedürftigen von 2,5 Mio im Jahr 2017 über 3,4 Mio im Jahr 2030 bis auf 4,5 Mio im Jahr 2060 prognostiziert (Grunow 2017: 130). Gleichzeitig nimmt laut der Bundesagentur für Arbeit der Fachkräfte- und Spezialistenmangel in der Gesundheits-, Kranken- und vor allem in der Altenpflege weiterhin zu (Bundesagentur für Arbeit 2019: 14-15). Eine Möglichkeit, diesen Mangel zu kompensieren, ließe sich in einem zunehmenden Einsatz von Robotern finden. Kritische Stimmen werden vor allem in Bezug auf ethische Aspekte eines Einsatzes von Robotern in Pflege und Medizin laut. Die Relevanz der Thematik wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass der Deutsche Ethikrat seine Jahrestagung im Jahr 2019 zum Thema „Pflege – Roboter – Ethik. Ethische Herausforderungen der Technisierung der Pflege“ abhielt (Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates 2019: 1-8). Eine Möglichkeit, sich diesem Spannungsfeld zu nähern bietet das Deutsche Museum in München mit der neuen Dauerausstellung Robotik, welche im Rahmen der „Zukunftsinitiative“ ab 2021 eröffnet werden wird. 7
DIE NEUE DAUERAUSSTELLUNG ROBOTIK IM DEUTSCHEN MUSEUM: KONZEPTIONELLE ÜBERLEGUNGEN Der Bauingenieur Oskar von Miller gründete das Deutsche Museum 1903 mit dem Ziel, der Bevölkerung Naturwissenschaft und Technik näherzubringen. (Heckl 2014: XII-XIII). Die 2015 begonnenen grundlegenden Sanierungsarbeiten, ermöglichen die Konzeption und Eröffnung zahlreicher überarbeiteter oder
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Bei der „Zukunftsinitiative“ – von den MitarbeiterInnen liebevoll „Zukini“ getauft – handelt es sich um den Modernisierungsprozess des Deutschen Museums, der 2025, pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum des Ausstellungsgebäudes, seinen Abschluss finden soll. Mehr Informationen erhalten Sie auf der Homepage der Zukunftsinitiative (https://aufzu.deutsches-museum.de/ letzter Abruf: 12.12.2019).
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vollkommen neuer Ausstellungen. Darunter auch die Dauerausstellung Robotik (Deutsches Museum 2019: 1-2). Eine erste Ausstellung zu diesem Thema wurde von November 2009 bis Juni 2011 unter dem Titel „Schaufenster Robotik“ präsentiert. Dabei handelte es sich weniger um eine klassische Ausstellung als mehr um ein Schaudepot, bei dem die Besucher*innen die Möglichkeit hatten, einen Blick – wie durch ein Schaufenster eines Kaufhauses – in die Robotiksammlung des Deutschen Museums zu werfen. Auch wenn die Sammlung des Hauses klassische Industrieroboter beinhaltet, lag der Themenschwerpunkt bereits bei dieser ersten Ausstellung auf Servicerobotern. Dabei handelt es sich nach dem Verständnis des kuratorischen Teams um Roboter, die im Gegensatz zu klassischen Industrierobotern nicht von Menschen räumlich getrennt sind, sondern sich in deren unmittelbaren Umfeld aufhalten und mit ihnen interagieren. Da die Präsentation auf positive Resonanz seitens der Besucher*innen stieß, wurde 2011 der Beschluss gefasst, eine Dauerausstellung zum Thema Robotik im Deutschen Museum zu realisieren. Auch der Fokus dieser neuen Dauerausstellung wird sich – trotz der Verwendung des breiteren Terminus Robotik – wieder auf das Thema der Servicerobotik richten. Um auf ihr sich ständig wandelndes Umfeld reagieren zu können, verfügen Serviceroboter über Sensoren und sind somit nicht starr programmiert. Bis auf einzelne Ausnahmen trifft dies auch auf die ausgewählten Exponate der Ausstellung zu. Ein weiteres Kriterium liegt in ihrer „Körperlichkeit“, das heißt reine Software, wie zum Beispiel Chatbots, die sich im weitesten Sinne auch dem Themenkomplex Robotik zuordnen ließen, finden in der Ausstellung keine Berücksichtigung. Vor allem aus diesem Grund wird auch Künstliche Intelligenz (KI) nicht explizit in der Ausstellung Robotik adressiert. Beispielsweise hätte der Einsatz von KI in der Radiologie thematisiert werden können, da die bildgebende Diagnostik von den Fortschritten in der Bilderkennung durch künstliche neuronale Netze profitiert (Heverhagen et al. 2019: 56-58). Der geplante Katalog zur Ausstellung wird die Korrelation von Robotik und KI hingegen dezidiert aufgreifen. Auch die neue Zweigstelle des Deutschen Museums in Nürnberg wird sich ausgiebig mit KI beschäftigen (vgl. Müller/Saverimuthu in diesem Band). Obwohl Industrieroboter nicht im Zentrum der Ausstellung Robotik stehen, finden sie im Rahmen einer Themeninsel dennoch Berücksichtigung, da diese im Erwartungshorizont der Besucher*innen liegen. Im Mittelpunkt dieser Themeninsel stehen die bereits oben erwähnten Cobots, die aufgrund ihrer Sensoren mit Menschen interagieren und deshalb als Serviceroboter für die Industrie und Produktion angesehen werden können. Aufgrund des vielfältigen Einsatzes von robotischen Systemen in der Arbeitswelt, sind klassische Industrieroboter sowie
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Cobots auch für andere Ausstellungkontexte relevant. Generell weist die Robotik eine große Schnittmenge zu anderen Ausstellungen des Hauses auf, sodass der Fokus verhältnismäßig eng gewählt werden muss. Eine losgelöste Ausstellung würde den Ausschnitt der präsentierten Exponate vermutlich deutlich weiter fassen.
GEPLANTER AUFBAU DER AUSSTELLUNG Die Dauerausstellung Robotik wird räumlich im westlichen Verbindungsbau zwischen dem Zentrum Neue Technologien und der Dauerausstellung Modelleisenbahn verortet sein. Der Entwurf sieht für den relativ hohen Raum mit einer Grundfläche von ca. 220 m² ein schwarzes Raster auf weißem Grund vor. Das futuristisch anmutende Design repräsentiert das digitale Prinzip als Grundlage der Computertechnik und somit auch der Robotik und soll den Eindruck eines virtuellen Raumes erzeugen. Die Ausstellung besteht aus insgesamt neun Themeninseln, die sich an den vier Wänden des Ausstellungsraumes verteilen. Dies sind die Grundlagenbereiche „Roboter in der Forschung“, Laufen und Greifen“, „Historie“ und „Roboter in Kunst und Medien“ sowie die Einsatzgebiete „Roboter in Pflege und Medizin“, „Serviceroboter im Haushalt“, „Edutainment“, „Roboter in der Industrie und Produktion“ und „Roboter in extremen Umgebungen“. Die Themeninseln bestehen jeweils aus einer Ikone – dabei handelt es sich um ein Leitexponat, das bereits aus der Ferne auf den Bereich hinweist – einer Standvitrine sowie einer Podestfläche. Vergegenwärtigt man sich die Schnelllebigkeit des Forschungsfeldes Robotik, scheint eine möglichst große Flexibilität hilfreich, erst recht bei einer prognostizierten Laufzeit von Dauerausstellungen im Deutschen Museum von zehn bis fünfzehn Jahren. Deshalb sind Vitrinen und Podestflächen so angelegt, dass Exponate im Rahmen von festgelegten Konventionen nahezu beliebig und ohne großen Aufwand ausgetauscht werden können.
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Abbildung 1: Rendering des ersten Entwurfs der neuen Dauerausstellung Robotik aus Sicht des Zentrums Neue Technologien
Quelle: Die Werft, München
Neben den Themeninseln wird es im Zentrum des Raumes einen interaktiven Bereich geben – die sogenannte „Highlight-Arena“. Auf dieser werden verschiedene Roboter in Aktion gezeigt. Teilweise können die Besucher diese auch selbst testen. So lässt sich beispielsweise der humanoide Roboter Nao mit Hilfe von Gesten steuern. Interaktiv wird es ebenfalls im „Demolabor“, wo die Besucher*innen an Hands-on-Stationen wichtige Funktionen eines Roboters kennenlernen können. So lässt sich beispielsweise ein Roboter sowohl automatisiert als auch selbst programmiert über eine sich verändernde Spielfläche steuern. Die Besucher*innen sollen so auf spielerische Art und Weise die Unterschiede zwischen einem starr programmierten Roboter – analog zum Industrieroboter – und einem auf seine Umwelt reagierenden Roboter – analog zum Serviceroboter – erfahren. Sowohl „Highlight-Arena“ als auch „Demolabor“ befinden sich exponiert in der Mitte des Ausstellungsraumes.
DIE ROBOTIKSAMMLUNG DES DEUTSCHEN MUSEUMS Die Robotik ist eine verhältnismäßig junge Disziplin. Demensprechend blicken Exponate auf keine lange Geschichte zurück. Ausnahmen bilden solche, die sich
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als Vorgeschichte der Robotik betrachten lassen, wie beispielsweise der „Predigende Mönch“, ein Automat aus den 1560er Jahren. Aufgrund des geringen Alters der Disziplin besitzt die Robotik im Gegensatz zu anderen Sammlungsgebieten im Deutschen Museum, wie der Chemie, Physik, oder Mathematik, welche seit über einhundert Jahren Bestand haben, eine kurze Tradition im Haus. Genau genommen stellt sie bis heute keines der 61 Fachgebiete dar. Vielmehr handelt es sich bei der Robotik um eine Untergruppe des Fachgebietes Automatisierungstechnik. Zwar gab es bereits vereinzelte Roboter in der Sammlung, ein dezidiertes Vorgehen mit dem Ziel der Sammlungserweiterung wurde jedoch erst ab 2005 durch Dr. Frank Dittmann, dem Kurator für Energie, Starkstrom und Automation, unternommen. Dieser begann, Konvolute aus verschiedenen Forschungseinrichtungen für die Sammlung des Hauses zu gewinnen. Dementsprechend stellen im Forschungskontext entstandene Roboter einen wichtigen Teil der Sammlung dar. Hierbei ist zu beachten, dass es sich bei diesen Robotern um Prototypen und nicht um marktreife Produkte handelt. Auch die in der Robotikforschung durchaus übliche „Kannibalisierung“ von Robotern für neuere Entwicklungen erschwert den Aufbau einer Sammlung: So werden teure Bauteile, wie etwa Sensoren, wiederverwendet. Das hat zur Folge, dass sich mitunter nur ausgeschlachtete Roboter oder Teile eines Roboters für die Sammlung und Ausstellungen gewinnen lassen. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Prototypen nicht auf eine Langlebigkeit sowie einen Dauerbetrieb ausgelegt sind, was Schwierigkeiten bei der Ausstellung und vor allem beim Erhalt einer Sammlung hervorruft.8 Laut ICOM, dem International Council of Museums, und dem Deutschen Museumsbund besteht eine der Kernaufgaben eines jeden Museums im Bewahren (Deutscher Museumsbund 2006: 6). Auch bei den ausgestellten Exponaten muss somit sichergestellt werden, dass diese durch einen Betrieb keinen Schaden nehmen. Soll eine Vielzahl an Robotern dauerhaft und zuverlässig vorgeführt werden, ist ein Team an Techniker*innen notwendig, welches sich fortwährend um Instandhaltung und Wartungsarbeiten kümmert. Dies ist im Rahmen einer temporär begrenzten Sonderausstellung einfacher zu realisieren als in einer Dauerausstellung. Neben den Prototypen aus dem Forschungskontext bilden marktreife Produkte das zweite Standbein der Robotiksammlung im Deutschen Museum. Aber auch diese Produkte halten einem Dauerbetrieb im Museum in der Regel nicht stand. Aus diesem Grund werden in der Ausstellung Robotik vor allem Roboter als Stillexponate präsentiert. Um den Besucher*innen trotzdem ein Bild davon zu vermitteln, wie sich die unterschiedlichen Roboter verhalten und mit Menschen interagieren, befinden sich Bildschirme sowohl an
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Das Deutsche Museum hat an 355 Tagen im Jahr von 9 bis 17 Uhr geöffnet.
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den Vitrinen als auch auf den Podestflächen. Auf diesen werden in Endlosschleife Videoaufnahmen der ausgestellten Roboter präsentieren.
DER AUSSTELLUNGSBEREICH PFLEGE UND MEDIZIN Bei der Ikone des Themenbereichs Pflege und Medizin handelt es sich um HelpMate9. Dieser war der erste kommerzielle Serviceroboter und kam in den 1990er Jahren auf den Markt. Er wurde konzipiert, um Botendienste in Krankenhäusern zu verrichten. So sollte der Roboter zum Beispiel durch das Ausliefern von Essen an Patient*innen das Pflegepersonal unterstützen und entlasten – und das an 24 Stunden am Tag und 7 Tagen in der Woche (Evans 1994: 1695). Bei einem Eigengewicht von 160 kg war es HelpMate möglich, Lasten von bis zu 50 kg zu transportieren. Bei seinen Botendiensten bewegte sich der Roboter mit einer Geschwindigkeit von circa 2,5 km/h fort (Schraft/Volz 1996: 88). Entwickelt wurde er von TRC (Transition Research Corporation), ein Unternehmen, das Joseph Engelberger im Jahr 1984 gründete. Mit HelpMate schuf Engelberger nicht nur den ersten Serviceroboter. Bereits 1956 gründete er zusammen mit George Devol das Unternehmen Unimation – die Kurzform von Universal Automation – welches den ersten freiprogrammierbaren Industrieroboter Unimate entwickelte. Somit gilt Engelberger als Pionier sowohl der Industrie- als auch der Servicerobotik (Dittmann 2005: 143) In der Standvitrine des Themenbereichs befinden sich die Beinprothese CLeg10 der Firma Otto Bock sowie die myoelektrische Handexoprothese Fluidhand11, entwickelt am Forschungszentrum Karlsruhe, mit denen der Zusammenhang von Prothetik und Robotik adressiert wird. Des Weiteren befindet sich in der Vitrine die Endoskopiekapsel Pillcam von Medtronic, mit welcher das Thema Nanobots vermittelt wird. Mithilfe des Massageroboters WheeMe V1-212 wird die Frage aufgeworfen, inwiefern Roboter Tätigkeiten, die eigentlich Menschen vorbehalten sind, übernehmen können. Bei Massagen handelt es sich um hochsensitive Tätigkeiten, bei denen neben einem reinen Druckempfinden weitere Informationen aufgenommen und verarbeitet werden, wie beispielsweise
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Inventarnummer L2012-11.
10 Inventarnummer 2005-243 und 2005-293. 11 Inventarnummer 2008-663. 12 Inventarnummer 2014-1791.
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Wärme.13 Alle Exponate stehen repräsentativ für verschiedene Teilgebiete oder Fragestellungen des Gesamtkomplexes. Neben den Standvitrinen mit Ihren Ikonen weisen die verschiedenen Themeninseln erhöhte Podestflächen auf, auf denen Exponate freistehend präsentiert werden. Dadurch sind die einzelnen Themengebiete nicht strikt voneinander getrennt, sondern überlappen und ergänzen sich. So lässt sich der Roboter Armar-II14 aus dem Karlsruher Institut für Technologie sowohl der Themeninsel „Serviceroboter im Haushalt“ als auch der Themeninsel „Roboter in Pflege und Medizin“ zuordnen. Bei Armar-II handelt es sich um eine humanoide mobile Forschungsplattform aus dem Jahre 2002. Der Roboter unterstützt beispielsweise Anwender*innen in der Küche, beim Ein- oder Ausräumen, der Vorbereitung einer Mahlzeit oder beim Abwasch (Dillmann et all 2004: 144). Dadurch wäre es möglich, das Personal in Pflegeeinrichtungen oder die Pflege zu Hause zu entlasten. Die präsentierten Roboter sollen den in der breiten Öffentlichkeit durch die Science-Fiction geprägten Vorstellungen über Robotik entgegenwirken und ein realistisches Bild des gegenwärtigen Stands der Technik in diesem Bereich geben. Bei den meisten multifunktionalen Robotern wie Armar-II handelt es sich um Prototypen, die Gegenstand der Forschung waren bzw. sind. Die in den Medien zu beobachtende Euphorie über den gegenwärtigen Stand solcher Maschinen trägt dabei wenig zu einem realistischen Bild der Sachlage bei (Kehl 2018: 153). Wann solche Roboter als marktreife Produkte in der Pflege zuverlässig und großflächig eingesetzt werden können, ist gegenwärtig nicht abzuschätzen.
„SOZIALE MASCHINEN“ FÜR ALT UND JUNG Neben dieser technischen Ebene weist das Anwendungsgebiet der Pflege und Medizin auch und vor allem eine soziale bzw. ethische Dimension auf. Es stellt sich die Frage, inwiefern der Einsatz in diesem Anwendungsfeld generell aber vor allem bei Alten, Kranken und Kindern zulässig ist. Besonders deutlich wird
13 Der Roboter ist im Deutschen Museum Digital zu finden: Inventarnummer 2014-1791 (https://digital.deutsches-museum.de/item/2014-1791/ letzter Abruf: 12.12.2019). 14 Der Roboter ist im Deutschen Museum Digital zu finden: Inventarnummer 2012-1584 (https://digital.deutsches-museum.de/item/2012-1584/ letzter Abruf: 12.12.2019).
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dies am Beispiel des Roboters Paro15, welcher in der Standvitrine präsentiert wird. Paro sieht auf den ersten Blick aus, wie ein gewöhnliches Stofftier und ist einer Baby-Sattelrobbe nachempfunden. Das runde Gesicht und die Kulleraugen entsprechen dem Kindchenschema – der Roboter wirkt zweifelsfrei süß und niedlich. Trotz dieser niedlichen Erscheinung hat Paro einen ernsten Hintergrund: Es handelt sich um einen Assistenzroboter für die Therapie demenzkranker Menschen. Paro wurde von Takanori Shibata am National Institute of Advanced Industrial Science and Technology (AIST) in Japan entwickelt und wird überwiegend in Pflegeeinrichtungen eingesetzt. Die Robbe verfügt über Tast-, Licht-, Geräusch-, Temperatur- und Lagesensoren (PARO Robots, 2014: 22). Mithilfe dieser Sensoren reagiert und interagiert der Roboter mit den Patient*innen, bewegt dabei Kopf, Gesicht, Augen sowie Flossen und gibt einer Babyrobbe nachempfundene Laute von sich (Sharkey / Wood 2014: 1). Laut Entwickler soll Paro einen aus der tiergestützten Therapie bekannten aktivierenden und fördernden Effekt auf Menschen haben, die an Demenz erkrankt sind. Im Gegensatz zu echten Tieren weist Paro einige Vorzüge auf: So kann die Robbe hart zugreifende Patient*innen nicht beißen, löst aufgrund ihres antiseptischen Fells keine allergischen Reaktionen aus, verursacht keinen Schmutz etwa durch Exkremente und benötigt keine Nahrung. Patient*innen die Probleme haben, für sich selbst zu sorgen, soll Paro eine pflegeleichte Alternative zu echten Tieren bieten (Calo et al. 2011: 21). Paro besitzt die Gestalt einer Sattelrobbe – und nicht etwa die eines Hundes oder einer Katze – da sicherlich die Großzahl der Patient*innen bisher noch keinen Kontakt mit einer echten Sattelrobbe hatte. Dadurch ließen sich negative Assoziationen mit dem „Tier“ nahezu ausschließen (Birks et al 2016: 5).
15 Der Roboter ist im Deutschen Museum Digital zu finden: Inventarnummer 2014-240 (https://digital.deutsches-museum.de/item/2014-240/ letzter Abruf: 12.12.2019).
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Abbildung 2: Roboter PARO zur Therapie demenzkranker Menschen
Quelle: Deutsches Museum/Konrad Rainer
Trotz der Möglichkeiten, die ein Einsatz von solchen „social robots“ im Allgemeinen und im Speziellen Paro im Bereich der Therapie und Pflege demenzkranker Menschen versprechen, werden auch vielfach kritische Stimmen laut. In den letzten Jahren sind zahlreiche Studien entstanden, die sich mit dem Einsatz des Roboters auseinandersetzen. In einer 2019 veröffentlichten Metastudie wurden insgesamt 29 Publikationen zu Paro untersucht, die seit dem Jahr 2000 angefertigt wurden (Hung et al. 2019: 1-10). Dabei haben die Autoren herausgearbeitet, dass Paro einerseits negative Emotionen verringern, soziales Engagement verbessern und eine positive Stimmung sowie die Qualität der Pflegeerfahrung fördern kann (Hung et al 2019: 3-6). Trotz der beobachteten positiven Effekte bleibt Paro eine kontrovers diskutierte Roboteranwendung. So wurden neben diesen positiven Effekten auch negative Auswirkungen durch den Einsatz von Paro beobachtet. Hierbei werden vor allem Argumente wie eine Bevormundung, Entmenschlichung oder Täuschung der Patient*innen angeführt, welche Auswirkungen in Bezug auf die Würde der betroffenen kranken Menschen haben könnten (Hung et al. 2019: 6-7). Ein weiteres gegen die Nutzung von Paro vorgebrachtes Argument besteht darin, dass Paro entgegen seiner vorgesehenen Verwendung Isolation verursachen oder fördern könnte, sollte er menschlichen Kontakt nicht ergänzen, sondern ersetzen. So berichtet der Sohn einer Patientin, dass es ihm durch Paro leichter falle, seine in einem Pflegeheim wohnende Mut-
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ter nach einem Besuch wieder zu verlassen (Turkle 2011: 124-125). Es lässt sich konstatieren, dass ein Einsatz von Robotern wie Paro sowohl Befürworter als auch Gegner findet und deshalb auch kontrovers diskutiert wird. Die vorgestellten Roboter der Themeninsel „Roboter in Pflege und Medizin“ werden aus den bereits aufgeführten Gründen als Stillexponate präsentiert. Zur Tradition des Deutschen Museums gehört es jedoch, Technik nicht nur in Form von Stillexponaten zu präsentieren, sondern darüber hinaus auch in Aktion zu zeigen. Dieser Ansatz geht im Deutschen Museum bereits auf den Museumsgründer Oskar von Miller zurück. Durch die Betätigung von Druckknöpfen oder Kurbeln an Experimenten oder Demonstrationen sollte Technik auf spielerische Art und Weise erfahr- und erlebbar gemacht werden (Füßl 2005: 311). Dies geschieht zum einen innerhalb der verschiedenen Themeninseln. So wird beispielsweise ein in den Werkstätten des Deutschen Museums angefertigter Nachbau eines mittelalterlichen Flötenspielers aus dem arabischen Raum im Bereich „Historie“ präsentiert, der mithilfe von Druckluft und einer Stiftwalze eine Melodie abspielen kann.16 Auch auf der Podestfläche des Themenbereichs Pflege und Medizin wird ein Exponat in Aktion gezeigt werden. Dabei handelt es sich um den Schlafroboter Somnox. Der erdnussförmige Roboter simuliert mit Geräuschen und „Atembewegungen“ eine schlafende Person und soll so nachts für Entspannung sorgen. Es wurde zunächst auch in Erwägung gezogen, dass die Besucher*innen den Roboter selbst berühren können. Angesichts hygienischer Bedenken bei einer Anzahl von knapp 1.000.000 Besucher*innen (Deutsches Museum 2019: 118) wurde diese Idee wieder verworfen. Es ist jedoch angedacht, den Besucher*innen im Rahmen von Veranstaltungen und Führungen die Möglichkeit zu geben, Somnox anzufassen und auszuprobieren. Dabei wird die Hülle des Roboters aus hygienischen Gründen regelmäßig gewechselt. Weiterhin werden Roboter auf der bereits erwähnten „Highlight-Arena“ in Aktion gezeigt. Nicht nur werden dort verschiedene Exponate in Betrieb genommen oder vorgeführt, vielmehr wird es den Besucher*innen möglich sein, mit Robotern im regulären Museumsbetrieb zu interagieren. „Hands-on“ oder interaktive Stationen erfreuen sich seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert immer größerer Beliebtheit (Caulton 1998: 1).
16 Der Einsatz von Druckluft ist selbstverständlich nicht historisch korrekt. Aufgrund der zu erwartenden Belastung und einer notwendigen Langlebigkeit der Demonstration wurde sich dennoch für diese Variante entschieden. Außerdem steht im Kontext der Dauerausstellung zur Robotik die Steuerung mit einer Stiftwalze und nicht die Erzeugung von Druckluft im Zentrum.
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Abbildung 3: QTrobot zur Therapie autistischer Kinder
Quelle: Deutsches Museum/Hans-Joachim Becker
In der „Highlight-Arena“ befindet sich auch der QTrobot, ein ca. 65 cm großer humanoider Roboter. Entwickelt und gebaut wurde dieser von LuxAI. Das junge Unternehmen ist eine Ausgründung der Universität Luxemburg mit dem Ziel, die neuesten Fortschritte in den Bereichen KI und Robotik beim Bau von Sozialrobotern zur Unterstützung von Menschen zu nutzen. QTrobot wird speziell zur Therapie von Kindern, die an einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS)17 leiden, eingesetzt. Die Idee, moderne Technik in der Therapie von Menschen mit einer ASS einzusetzen, ist nicht neu: Bereits 1995 gab es Studien, die belegten, dass Kinder mit einer ASS für technische Gegenstände zugänglicher sind, als für menschliche Therapeut*innen (Shamsuddin 2014: 10). Seit 2003 gewinnt der Einsatz von Robotern in diesem Bereich schließlich immer stärker an Bedeutung. Häufig werden handelsübliche Roboter, wie Softbanks NAO, benutzt, die mit speziellen Softwarepaketen für eine therapeutische Verwendung ausgestattet
17 Früher wurde oft zwischen verschiedenen Autismusformen unterschieden (z.B. frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus und Asperger-Syndrom). Das DSM-5 und der ICD-11 (erschienen 2018) hingegen enthalten keine Subtypen mehr und sprechen nur noch von einer allgemeinen Autismus-Spektrum-Störung (ASS; englisch autism spectrum disorder, kurz ASD).
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wurden.18 Doch vor allem die Tatsache, dass die Hardware nicht explizit für einen Einsatz in der Therapie autistischer Kinder angefertigt wurde, stößt dabei auf Kritik (Richardson et al. 2018: 30, 35). Gleichzeitig befinden sich die meisten auf eine Anwendung in der Therapie von ASS Patient*innen zugeschnittenen Roboter noch in der Entwicklungs- und Testphase. Nur wenige werden bereits wie QTrobot serienmäßig gebaut und in Therapieeinrichtungen angewendet. QT ist ein proaktiver, sozialer Roboter, der die Bildungseffizienz der Kinder steigern soll: Laut Entwickler haben Kinder mit einer ASS häufig Schwierigkeiten damit, komplexe Gesichtsausdrücke und Emotionen ihrer Mitmenschen richtig zu deuten und daher auch Probleme, mit ihnen sozial zu interagieren. Dies kann sie schnell überfordern und Symptome, wie Beklemmungszustände und Aggressionen, begünstigen, die typisch für Personen mit einer ASS sind. Im Gegensatz zu Menschen verhalten sich Roboter wesentlich vorhersehbarer, was wiederum eine beruhigende Wirkung auf Kinder mit ASS haben kann. Wissenschaftliche Untersuchungen der Universität Luxemburg zur Verwendung des QTrobot zeigten, dass der Roboter die Aufmerksamkeit und Interaktionsaktivitäten der Kinder steigert. Gleichzeitig wiesen die Kinder weniger repetitive und stereotype Verhaltensmuster auf. Lediglich bei Imitationsspielen ließ sich kein signifikanter Unterschied bei der Interaktion zwischen Patient*in und Roboter sowie Patient*in und Mensch feststellen (Costa et al. 2018; Costa et al. 2017). Derzeit wird der Roboter in verschiedenen Autismuszentren in Luxemburg, Frankreich, Belgien und Deutschland getestet (Waltz 2018). Über eine App können mithilfe der leicht bedienbaren Drag-and-Drop-Programmierung ganze Therapiesitzungen auf einem mobilen Gerät (Tablet) vorbereitet werden. Zusätzlich können aber auch Spiele, die zu der festen Standardprogrammierung des Roboters gehören, während einer Sitzung mit dem QTrobot genutzt werden Ähnlich wie der Einsatz von Robotern in der Pflege alter und demenzkranker Menschen, wird auch ihre Verwendung in der Therapie von ASS äußerst kontrovers diskutiert: Befürworter*innen betonen vor allem, dass dadurch neue Methoden angewandt werden können, die speziell auf die Bedürfnisse von Kindern mit ASS zugeschnitten sind (David et al. 2014). Die hohen Kosten von Robotern und spezieller Software werden jedoch oft kritisch gesehen, da viele Therapieeinrichtungen nicht über die notwendigen Mittel verfügen. Gleichzeitig verweisen Kritiker*innen – vor allem aus dem Bereichen der Ethik und der Anthropologie – auf günstigere Therapiemethoden, etwa den Einsatz von Handpuppen, und werfen die Frage auf, ob das für die Forschung an Robotern verwendete Geld nicht 18 Zum Beispiel wird von RobotLAB ein Autismuspaket für den Roboter NAO angeboten (https://www.robotlab.com/store/robotlab-nao-autism-pack letzter Abruf: 09.01. 2020).
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besser in die Entwicklung anderer Behandlungsmethoden investiert oder die Mittel direkt den Therapieeinrichtungen zur Verfügung gestellt werden sollte. Abbildung 4: Humanoider Roboter NAO
Quelle: Deutsches Museum/Hans-Joachim Becker
Des Weiteren wird davor gewarnt, dass ein langfristiger Einsatz eines Therapieroboters auch negative Folgen haben könnte: So wird befürchtet, dass nicht – wie gewünscht – die soziale Interaktion mit den Mitmenschen gefördert wird, sondern vielmehr der intensive Umgang mit einem technischen Artefakt zu einer Isolation beitragen könnte. Außerdem sei das Spektrum an autistischen Erkrankungen, so Kritiker*innen, wesentlich breiter, komplexer und ausdifferenzierter als aktuelle Forschungsmodelle aus der Biomedizin und der Psychologie annehmen. Folglich wäre eine robotergestützte Therapie auch nicht für alle Patient*innen mit ASS gleichermaßen anwendbar oder erfolgversprechend (Kobie 2018; Richardson 2016). Generell stellen sich beim Einsatz von „social robots“ in Therapie und Pflege einige ethische Fragen: Wie autonom sollte ein Therapieroboter sein? Wie viel Kontrolle sollte bei den behandelten Pflegekräften und Therapeut*innen liegen? Kann man Patient*innen bedenkenlos einem Roboter anvertrauen? Wie sollte die Interaktion mit dem Roboter verlaufen? Welches Verhalten wird durch den Roboter gefördert, welches unterbunden? Auch datenschutzrechtliche Belange, etwa hinsichtlich der von einem Therapie-Roboter gesammelten Daten und ihrer Zugänglichkeit warten bislang auf eine umfassende Klärung. Darüber hinaus
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fehlen bislang noch Studien zu den möglichen Langzeitauswirkungen einer robotergestützten Therapie. Vielleicht ist eine stärkere Einbindung von Betroffenen und Angehörigen in Forschung, Entwicklung und Anwendung von „social robots“ eine Möglichkeit, gemeinsam Antworten auf diese Fragen zu finden (DREAM, 2014; Kobie 2018; Richarson et al. 2018).
DIE DAUERAUSSTELLUNG ROBOTIK ALS DENKANSTOSS Es muss noch einmal betont werden, dass das Thema Robotik im Rahmen einer Museumsausstellung selbstverständlich nicht in seiner völligen Bandbreite erörtert werden kann, vor allem in einem ethisch so komplexen und umstrittenen Anwendungsgebiet wie der Pflege und Medizin. Vielmehr war es dem kuratorischen Team ein Anliegen, eine Orientierung zu geben. Es soll ein realistisches Bild des gegenwärtigen Stands der Technik vermittelt werden. Gleichzeitig will das Team mit der Ausstellung auch einen Anstoß geben, den Einsatz von Robotern generell und vor allem in diesem Anwendungsgebiet zu reflektieren und sich mit der Thematik abseits der rein technischen Dimension auseinanderzusetzen. Das Anwendungsgebiet der Pflege und Medizin und die genannten Roboter Paro und QTrobot eignen sich in besonderem Maße, da vor allem kranke Kinder und ältere Menschen und somit die schwächsten Glieder der Gesellschaft betroffen sind. Die beiden Roboter sind gewissermaßen Brenngläser einer generellen Diskussion darüber, an welchen Stellen wir Roboter in unseren Alltag integrieren wollen. Fragen über die Zulässigkeit eines Einsatzes von Robotern in verschiedenen Bereichen dürfen nicht auf die Zukunft verschoben werden, sondern müssen bereits heute adressiert werden. Dass Roboter in Zukunft einen zunehmenden Stellenwert in unserer Gesellschaft einnehmen werden, lässt sich mit großer Sicherheit vermuten. Eine entscheidende Frage wird dabei sein: Wie gehen wir damit um? Diese Frage hat eine gesamtgesellschaftliche Relevanz. Deshalb ist dem Ausstellungsteam daran gelegen Roboter und Robotik weder zu glorifizieren noch zu dämonisieren. Vielmehr sollen verschiede Aspekte und Standpunkte aufgezeigt werden anhand derer die Besucher*innen sich selbst eine Meinung bilden können. So sollen sie ermutigt werden, sich auf privater Ebene damit auseinanderzusetzen. Inwieweit sich dieses Ziel des kuratorischen Teams erfüllt, wird sich ab 2021 zeigen, wenn die neue Dauerausstellung Robotik im Deutschen Museum ihre Pforten für Groß und Klein öffnen wird.
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„Das Zukunftsmuseum“ – „Science or Fiction?“ Zur Darstellung von Zukunftsvisionen im Deutschen Museum Nürnberg anhand der Themen „Personalisierte Medizin“ und „Robotik“/„Künstliche Intelligenz“ Florian Müller, Melanie Saverimuthu
EINLEITUNG Das Deutsche Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik, mit seinen Zweigstellen in München und Bonn, in dessen Mittelpunkt die Vermittlung von Technikgeschichte und aktuellen Technologien steht, erweitert künftig sein Themenportfolio um den Aspekt der „Zukunftstechnologien“, die in Verbindung mit ethischen und gesellschaftlichen Fragestellungen präsentiert werden sollen. Dazu entsteht im Herzen der Nürnberger Altstadt eine weitere Zweigstelle, das Deutsche Museum Nürnberg – „Das Zukunftsmuseum“. Seit Jahrhunderten versucht die Menschheit die Zukunft vorauszusagen, sei es durch den Blick in die Glaskugel oder neuerdings durch Foresight-Analysen, Technikfolgenabschätzung oder Computersimulationen. Auch wenn die Methoden wissenschaftlicher geworden sind, bleibt die Zukunft auch heute noch ungewiss – dennoch ist eines klargeworden, die eine Zukunft gibt es nicht.
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Abbildung 1: Das „Zukunftsmuseum“
Quelle: © Staab Architekten Berlin
Aus diesem Grund spricht die Wissenschaft heute auch von Zukünften, einer Vielzahl möglicher Entwicklungen in der Zukunft, die eventuell stattfinden können. Da weder Entwicklung noch Zeitpunkt für das Kommende eindeutig bestimmt werden können, verzichtet „Das Zukunftsmuseum“ bewusst auf die Verwendung von klar definierten Zeithorizonten und schafft so Raum zur Darstellung von Zukunft als undefiniertem, gestaltbarem Möglichkeitsraum. Um das Thema Zukunft, ein für ein Museum schwieriges und auch teilweise widersprüchliches Thema, für das Medium Ausstellung greifbar zu machen, wurde als Grundlage für die Konzeption der Ausstellung eine in die Zukunft gerichtete Frage formuliert - „Science or Fiction?“. Durch diese Fragestellung wird nicht nur die Auswahl der zu präsentierenden Exponate vielfältiger, da neben Prototypen aus den Forschungslaboren auch Visionen aus der Science-Fiction ihren Platz finden, sondern sie ist auch Ausgangspunkt für die räumliche Gestaltung der Ausstellung. Durch diese Gestaltung kommt es, im wahrsten Sinne des Wortes, zu einer Gegenüberstellung von Wissenschaft und Fiktion – auf der „Science“- Seite befinden sich aktuelle Innovationen und Prototypen aus den unterschiedlichsten Technikbereichen. Zeitgleich werden hier auch ihre Funktionsweisen sowie technische und naturwissenschaftliche Grundlagen durch eigens hierfür entwickelte Demonstrationen vermittelt. Die Wissenschaftlichkeit wird zudem durch eine kühle, laborähnliche Atmosphäre untermalt, in welcher die Exponate in einem klar definierten Raster situiert sind. Der „Science“-Bereich ist somit der Teil der Ausstellung, der klassische museale Aspekte mit ScienceCenter Elementen kombiniert.
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Die „Fiction“-Seite steht der „Science“-Seite direkt gegenüber und bildet das emotionale Komplementär. Hier löst sich das Raster auf, der Raum wird dunkler und undefinierbarer. Unterschiedliche, vergangene und aktuelle Zukunftsvisionen, Utopien und Dystopien sowie Hoffnungen und Ängste werden hier präsentiert. Sie öffnen den Blick für mögliche zukünftige Konsequenzen, die aus dem Einsatz der auf der „Science“-Seite präsentierten Technologien resultieren könnten. Popkulturelle Elemente (Science-Fiction Filme und Bücher sowie Kunst) stehen im „Fiction“-Bereich im Mittelpunkt und vermitteln durch visuelle, akustische, haptische und olfaktorische Eindrücke die emotionale Seite der „Zukunftstechnologien“. Abbildung 2: Räumliche Gestaltung „Science or Fiction?“
Quelle: © Visualisierung ATELIER BRÜCKNER
Durch diese Gegenüberstellung entsteht ein einzigartiges Spannungsfeld mit provokanten Fragen und herausfordernden interaktiven Stationen, welche die Besucher*innen zum Nachdenken anregen sollen. Zeitgleich bietet das Spannungsfeld zwischen Science und Fiction die Möglichkeit, Stellung zu beziehen, eigene Standpunkte zu entwickeln oder zu überdenken sowie gemeinsam zu diskutieren. Ziel der Ausstellung und des „Zukunftsmuseums“ ist es, ein Forum für einen offenen Bürger*innendialog zu gesellschaftsrelevanten Zukunftsfragen in Bezug auf technologische Entwicklungen zu schaffen und damit Technologieentwicklung in den gesellschaftlichen Diskurs einzubetten. Dabei stehen Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften gleichberechtigt nebeneinander. Die Darstellung von Zukunft als „gestaltbarer Möglichkeitsraum“, die Bedeutung und Grenzen von Wissenschaft, Forschung und Entwicklung für diesen Prozess sowie die
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Notwendigkeit, im Zuge neuer technologischer Entwicklungen neue gesellschaftliche Konsense zu finden, sind zentrale Botschaften der Ausstellung. In fünf Themenbereichen werden die „Zukunftstechnologien“ – Technologien, die mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Einfluss auf das Leben von Morgen haben werden – in einen Kontext gesetzt. Die fünf Themenbereiche spannen, beginnend mit „Arbeit & Alltag“ und „Körper & Geist“ über „Urbanes Leben“ und „System Erde“ bis hin zu „Raum & Zeit“, einen Bogen vom persönlichen Umfeld des Besuchers über das erweiterte Lebensumfeld bis hin zur großmaßstäblichen Perspektive. Jeder dieser Themenbereiche fasst in sich wieder drei bis vier Unterthemen, wie: Personalisierte Medizin, Künstliche Intelligenz, Architektur, Geoengineering oder der Mars. Im Folgenden werden Personalisierte Medizin und Robotik/Künstliche Intelligenz auf ihre Darstellung innerhalb des Mediums Ausstellung im „Zukunftsmuseum“ genauer beleuchtet.
WENN DIE TECHNIK IN DEN KÖRPER KOMMT! DIE VISION DER PERSONALISIERTEN MEDIZIN Was wäre, wenn man noch vor ihrem Ausbruch über eine Krankheit Bescheid wüsste und man dadurch frühzeitig Maßnahmen ergreifen könnte, um dem Ausbruch der Krankheit vorzubeugen oder ihn einzudämmen? Was wäre, wenn man so viele Informationen über jede einzelne Krankheit hätte, dass man alles über diese weiß und somit eine ganz individuell angepasste Behandlung ansetzen könnte, ganz ohne lästige oder gefährliche Nebenwirkungen? Mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Jahr 2003 ist man der oben genannten Vision einen großen Schritt nähergekommen – der Vision von der Personalisierten Medizin, auch Individualisierte Medizin, Präzisionsmedizin, Genomische Medizin und Stratifizierende Medizin genannt. (Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina / acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften / Union der deutschen Akademien der Wissenschaften 2014: 8). Ganz gleich unter welchem Namen man dieser Vision der Medizin begegnet, sie „zielt darauf ab, durch gezielte Prävention, systematische Diagnostik und den Einsatz maßgeschneiderter, auf die Bedürfnisse einzelner Patienten oder Patientengruppen ausgerichteter Therapieverfahren die Wirksamkeit und Qualität der Behandlung zu verbessern. Dabei sollen unerwünschte Nebenwirkungen reduziert und langfristig die Kosteneffektivität der Versorgung gesteigert werden. Ärzte haben ihre Behandlungsweisen schon immer auf den einzelnen Patienten ausgerichtet. Die Individualisierte Medizin stellt hier eine Weiterentwicklung dar. Vorrangig molekulare Techniken zur gezielten Bestimmung biologischer
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Messgrößen, sogenannte Biomarker, werden zunehmend in den Behandlungsprozess einbezogen. Dadurch sollen individuelle biologische Eigenschaften des Patienten präzise quantifiziert und objektiviert werden.“ (Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina et al.: 8). Um ein dafür notwendiges vollständige Bild des Patienten zu erhalten und so die Visionen um die Personalisierte Medizin, Prädiktion, Prävention, Diagnostik und Therapie, wahr werden zu lassen, bedarf es im Wesentlichen noch mehr Daten, über die biologischen und medizinischen Daten hinaus. Denn auch die physiologische Konstitution eines Patienten spielt für die Entwicklung geeigneter, individualisierter Medikamente und Therapien eine wesentliche Rolle. (Die forschenden Pharma-Unternehmen 2020: 5). So ist es beispielsweise wichtig zu wissen, wann und ob sich ein*e Patient*in in guter körperlicher Verfassung befindet. Ebenso sind Umweltbedingungen und Lebensstil für die Behandlung wichtig – lebt der*die Patient*in beispielsweise an einer viel befahrenen Straße oder im Grünen, isst er*sie Junk-Food und raucht oder ernährt er*sie sich vegan? All diese Informationen sind neben der genetischen Disposition zur Verwirklichung der Personalisierten Medizin wichtig. Dabei stellt sich nur die Frage, wie man neben der Entschlüsselung der genetischen Informationen an all die anderen Informationen gelangt? Und wie können diese gespeichert und abgerufen werden? Bezüglich der Frage nach der Erfassung der Daten haben Industrie und Forschung schon vor einer Weile Ideen entwickelt und auf den Markt gebracht. Neben Apps für das Smartphone ermöglicht die Integration von Sensoren in alle möglichen Textilien oder Geräte, wie Kopfhörer oder Gürtel, die unkomplizierte, fast beiläufige Erfassung von Daten zu Körperfunktion, Lebensstil und Umwelteinflüssen. Um eine halbwegs vollständige Erfassung von Daten, wie sie für die Personalisierte Medizin benötigt wird, zu erreichen, müssen aktuell allerdings meist noch eine Vielzahl von Geräten verwendet werden. Denn die meisten Geräte, die sich aktuell auf dem Markt befinden, erfassen nur einen Wert. Gleichwohl birgt die Verwendung unterschiedlichster Geräte das Problem nicht aufeinander abgestimmter Messungen, die erst durch eine Standardisierung der Messwerte erreicht werden könnte. Es kann also festgehalten werden, dass sich bereits viele Geräte auf dem Markt und in der Entwicklung befinden, die das Erfassen von Daten bezüglich der körperlichen Verfassung, Umwelteinflüsse und Lebensstil ermöglichen. Sie sind aber noch nicht so weit entwickelt, dass sie einfach zu handhaben und gemeinsam einsetzbar wären, geschweige denn, dass sie genügend Informationen liefern um die Vision der Personalisierten Medizin wahr werden zu lassen. Das Problem des Speicherns und Abrufens der Daten könnte seit 2015 durch die Einführung der Elektronische Gesundheitskarte in Deutschland gelöst sein. Allerdings steht dieser der Datenschutz im Wege und die Angst vor dem Miss-
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brauch der dort gespeicherten persönlichen und hochsensiblen Daten. Aus diesem Grund findet die Elektronischen Gesundheitskarten heute eher als eine Art Schlüssel statt als Speichermedium Verwendung. Für die Realisierung der Vision der Personalisierten Medizin bedarf es einer Optimierung der Elektronische Gesundheitskarte hin zu einem sicheren Speichermedium, welches es ermöglicht die auf unterschiedlichste Weise erfassten Daten zu sichern und für autorisierte Personen einseh- und analysierbar zu machen. Mit dem Mehr an Daten und einem erleichterten Zugriff stünde einer 3D-Visualisierung des Patienten, anhand seiner Daten, nichts im Wege. Es wäre bereits heute möglich, mit dem Vorteil sich ein besseres Bild über den Patienten und sein*ihr Befinden zu machen sowie eine bessere Planung von medizinischen Eingriffen und Behandlungsmethoden. Aber selbst wenn diese technischen Fragen irgendwann beantwortet sein sollten, bleiben vor allem Fragen auf der ethisch-moralischen Ebene bisher ungeklärt: Dazu gehört zum einen der langfristige Umgang mit den hochsensiblen Daten. (Deutscher Ethikrat 2017: 142-145). Denn selbst wenn sie anonymisiert sind, kann anhand der Vielzahl an Daten auf die dazu gehörige Person geschlossen werden, was diese Daten attraktiv für einen Missbrauch macht. Ebenso besteht die Möglichkeit, dass sich die Zahl der Fehlinterpretationen parallel zu der steigenden Zahl an Daten erhöht. Die Frage wie innerhalb der Gesellschaft mit den Informationen, die auf einmal über jeden Menschen zur Verfügung stehen, umgegangen wird, ist bisher weder zufriedenstellend noch final geklärt. „[Denn] zwischen den Anforderungen des traditionellen Datenschutzrechts und den Wirkungsbedingungen von Big Data besteht […] eine erhebliche Diskrepanz.“ (Deutscher Ethikrat 2017: 145). Gleichermaßen stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage wie sich diese Entwicklung auf das Recht auf Nicht-Wissen und damit verbunden, dem Recht sich nicht entsprechend zu verhalten auswirken wird? Beispielsweise wenn man nicht wissen möchte, dass man unheilbar krank ist und somit einen der Krankheit angepassten Lebensstil führt. Und wie gehen wir als Gesellschaft mit der Möglichkeit einer technologischen Fehlentwicklung um, wenn die Personalisierte Medizin nicht das hält, was sie als Vision verspricht und beispielweise eine Art „Gesundheitsdiktatur“ zur Folge hat oder zwanghaftes Messen fördert, ohne einen Mehrwert dadurch zu generieren? Diese Fragen sind aktuell noch nicht beantwortet und können auch nur Gesamtgesellschaftlich beantwortet werden, weswegen es einer Aufklärung der breiten Bevölkerung bezüglich des Themas bedarf, um so gemeinsam einen Weg in die Zukunft zu finden.
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DARSTELLUNG IM MUSEALEN KONTEXT Um die oben genannten Aspekte rund um die Vision der Personalisierten Medizin mit ihren Hoffnungen und Ängsten über das Medium Ausstellung darzustellen, wurde ein Konzept der Gegenüberstellung von Wissenschaft und Fiktion entwickelt. Im Themenbereich „Körper & Geist“ angesiedelt, werden im Unterthema „Personalisierte Medizin“ auf der „Science“-Seite Exponate aus Forschung und Industrie gezeigt, die sich mit dem Erfassen von Daten rund um den Menschen beschäftigen. Abbildung 3: Blick in den Themenbereich „Körper & Geist“, Unterthema „Personalisierte Medizin“
Quelle: © Visualisierung ATELIER BRÜCKNER
Darunter befinden sich Datenerfassungsgeräte die eher auf den Lebensstil ausgerichtet sind, wie Kopfhörer mit Pulsmesser oder Socken mit Sensoren. welche gelaufene Schritte über eine bestimmte Distanz und den dabei verbrauchten Kalorien erfassen. Aber auch Innovationen mit einem direkten therapeutischen Bezug werden präsentiert, beispielsweise eine Tattoo-Tinte die den Blutzuckerspiegel misst und sich verfärbt, wenn es kritisch wird, eine Kamera in der Größe einer Tablette, zum Schlucken, für die Überwachung des Darms sowie eine Gerätgruppe, bestehend aus Waage und Blutdruckmessgerät, deren Innovation in der Vergleichbarkeit der Daten, bei unterschiedlichen Messgeräten, liegt. Alle diese Geräte werden innerhalb der kühlen, laborähnlichen Atmosphäre, an gläsernen Menschen, präsentiert und verweisen damit auf den aktuellen und zukunftsweisenden wissenschaftlichen Forschungsstand. Diesen technischen Visionen gegenüber, auf der „Fiction“-Seite, finden sich Utopien und Dystopien aus der Science-Fiction wieder: Szenen aus „Star Trek“, rund um den „Medical Tricorder“ und der sekundenschnellen Diagnose und Behandlung von Krankhei-
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ten oder aber aus „Gattaca“ und der Frage ob irgendwann die Gene über Leben und Tod oder zumindest die Stellung innerhalb der Gesellschaft bestimmen? Zwischen diesen beiden Seiten, „Science“ und „Fiction“ entwickelt sich das Spannungsfeld in welchem die Besucher*innen erleben können, wie es sein könnte, wenn die Personalisierte Medizin tatsächlich bei der Diagnose zum Einsatz käme und 3D-Visualisierungen von Patienten die Behandlung für alle Beteiligten erleichtert. Aber ebenso erfahren die Besucher*innen auf einer Metaebene, was geschehen kann, wenn die hochsensiblen Daten missbraucht werden und zur Steuerung der Gesellschaft in einer „Gesundheitsdiktatur“ eingesetzt werden. Dabei wird deutlich, dass Segen und Unheil nah beieinanderliegen und es eines Regelwerkes bedarf, das den Missbrauch der „Zukunftstechnologien“ verhindert und zeitgleich Chancen für deren Einsatz erschließt. Dazu bietet „das Zukunftsmuseum“ einen eigens dafür geschaffenen und zentral im Museum gelegenen Raum, das Forum. Hier können die Besucher*innen gemeinsam über die Chancen und Gefahren von „Zukunftstechnologien“ diskutieren, mit dem Ziel einen Konsens innerhalb der Besucher*innengruppe zu erreichen. Durch die vorangegangene Diskussion erleben die Besucher*innen Perspektivwechsel und können ihre Meinung und Standpunkte überdenken oder verfestigen. Darüber hinaus ermöglichen die Diskussion und die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen, die freie Entwicklung von neuen Ideen im Umgang mit „Zukunftstechnologien“. Innerhalb des geschützten Raums des „Zukunftsmuseums“ können sowohl ethische und gesellschaftliche Fragen diskutiert als auch Utopien über die Frage – „Wie wollen wir in Zukunft leben?“ – entwickelt werden.
ROBOTIK UND KI IM DEUTSCHEN MUSEUM NÜRNBERG Die Themen Robotik und Künstliche Intelligenz bilden den Schwerpunkt des Ausstellungsbereichs „Arbeit & Alltag“ im Deutschen Museum Nürnberg. Hier werden allgemeine Aspekte der Digitalisierung verhandelt, mit besonderem Blick auf die Frage, welchen Einfluss die Digitalisierung auf unser zukünftiges Leben haben kann. Dabei bietet es sich aus didaktischer Sicht an, in der Ausstellung einen Blick auf die Themen Medizin und Pflege zu werfen, da jede*r Besucher*in einen direkten persönlichen Bezug hierzu hat, unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialer Herkunft und Bildungsstand. Mit Hilfe dieses Blicks auf Medizin und Pflege ist es dann möglich darüberhinausgehende Fragestellungen, die im Kontext von Robotik und Künstlicher Intelligenz auftauchen, zu verhandeln und für die Besucher*innen erfahrbar zu machen.
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Konkret soll die Behandlung dieser Themen in drei Kontexten erfolgen, die weiterführend erläutert werden: 1. Robotik in der Pflege; 2. Robotik im OP; 3. Künstliche Intelligenz in der medizinischen Diagnostik.
ROBOTIK IN DER PFLEGE In den letzten Jahren wird verstärkt über den Einsatz von Robotik in der Pflege nachgedacht und diskutiert. Einer der Hauptgründe dafür ist ein steigender Altersdurchschnitt in der Bevölkerung und ein damit einhergehender Mangel an Pflegekräften. Genau diesem Mangel, so die Hoffnung der Befürworter*innen, soll mit den Robotern entgegengewirkt werden: Sie sollen das Pflegepersonal bei ihrer Arbeit unterstützen und die Betreuung der Pflegebedürftigen somit verbessern.1 Kritiker*innen sehen in dieser Entwicklung eine Entmenschlichung der Pflege auf uns zukommen, die letztlich dazu führen könnte, dass Pflegebedürftige an Maschinen abgeschoben werden. Außerdem stellt sich die Frage, ob wir Technologien wie die Robotik, die an vielen Stellen noch nicht hinlänglich erprobt und in jahrelangem Einsatz verbessert wurden, gerade an den Kranken und Schwachen unserer Gesellschaft testen sollten. Daneben ist diese Problematik ein Paradebeispiel für die Frage, ob wir gravierende Probleme, wie etwa den Pflegekräftemangel, tatsächlich technologisch lösen möchten. Denkbar wäre hier auch eine Lösung, die etwa eine bessere Bezahlung und Behandlung von Pflegekräften implementiert. An diesem kurzen Problemabriss 2, der an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden soll, wird deutlich, dass der Kontext Pflegerobotik sehr komplex ist und auf verschiedenen Ebenen diskutiert wird. Nichtsdestotrotz wird dieser Diskurs nicht allein im wissenschaftlichen Kontext geführt. Vielmehr ist er immer wieder Teil der Berichterstattung der allgemeinen Medien, etwa im Kontext der konkreten Einführung oder Erprobung von Robotiksystemen in Pflegeheimen oder ähnlichen Einrichtungen. Dabei wird häufig auch die Diskussion nach den Vor- und Nachteilen aufgemacht und in unterschiedlicher Tiefe besprochen. Das liegt mit Sicherheit auch daran, dass dieses Thema ein sehr persönliches ist, das die meisten Menschen direkt anspricht, weil sie selbst Angehörige haben, die gepflegt werden und/oder weil sie sich bewusst sind, dass
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Inwieweit die als „Pflegeroboter“ bezeichneten Geräte auf dem heutigen technologischen Stand diesen Ansprüchen überhaupt gerecht werden können, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden.
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Das Thema wird ausgiebig von Ethiker*innen diskutiert. Einen näheren Überblick dazu kann man etwa hier erhalten: Gräb-Schmidt/Stritzelberger 2018.
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sie selbst eines Tages pflegebedürftig sein könnten. Genau diese persönliche Betroffenheit macht das Thema Pflegerobotik auch im Ausstellungskontext so interessant. Denn dieses Thema spricht die Besucher*innen nicht nur auf intellektueller, sondern vor allem auch auf emotionaler Ebene an: Die Vorstellung eines Tages von einer Maschine umsorgt zu werden, oder die Liebsten von einer solchen umsorgt zu sehen, dürfte die Aufmerksamkeit vieler Besucher*innen wecken. Um dies zusätzlich zu verstärken bietet es sich an einen dieser Roboter in der Ausstellung interaktiv zugänglich zu machen. Denn wenn die Besucher*innen mit einem Exponat direkt interagieren können, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich mit diesem beschäftigen. Im Kontext der Pflegerobotik bietet sich dafür zum Beispiel der Roboter „Lio“ der Schweizer Firma „F&P Robotics AG“ an. Mit ihm könnten die Besucher*innen über Sprache interagieren und die Bewegungen des Roboters in Aktion erleben. Abbildung 4: Roboter Lio
Quelle: © F&P Robotics AG
Über diese Installation in der Ausstellung können die Besucher*innen natürlich nicht die mit der Pflegerobotik verbundenen ethische und gesellschaftliche Debatte in ihrer vollen Komplexität erfassen. Aber sie können auf eine übergeordnete Frage aufmerksam gemacht werden, die im Kontext mit Robotik gesellschaftlich ausdiskutiert werden muss: In welchen Bereichen möchten wir den Einsatz von Robotik? Um diese übergeordnete Frage zu verdeutlichen bietet sich
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ein Thema wie die Pflegerobotik besonders an, weil es zum einen persönlich und zum anderen bereits in der öffentlichen Diskussion angekommen ist. Dieser Blickwinkel kann in der Ausstellung noch verstärkt werden, indem man zum Beispiel eine zusätzliche Medienstation zu diesem Thema installiert. Diese könnte auf zwei Wegen die Frage nach gewünschten Einsatzgebieten von Robotik stellen: Entweder man gibt den Besucher*innen hier verschiedenen mögliche Einsatzgebiete3 vor und fragt dann ab, ob dort Roboter eingesetzt werden sollen. Oder man listet diese Einsatzgebiete auf und befragt die Besucher*innen in welchem Einsatzgebiet sie konkret einen Roboter einsetzten möchten. Beide Herangehensweisen haben den Vorteil, dass die Besucher*innen mit verschiedensten Szenarien für den Einsatz von Robotik konfrontiert werden und somit eine Entscheidung für sich treffen können. Der erste Ansatz hat den Nachteil, dass er im Grunde ein Fragebogen ist, den die Besucher*innen komplett ausfüllen müssten, was deren Aufmerksamkeit vermutlich nicht lange Aufrecht erhalten kann. Der zweite Ansatz hat den Nachteil, dass die Besucher*innen die Frage sehr schnell beantworten können, ohne, dass sie sich zuvor tatsächlich alle möglichen Einsatzgebiete bewusstgemacht haben müssen. Beide Ansätze dürfen dabei nicht als reine Textstation fungieren. Vielmehr muss versucht werden die Besucher*innen über weitere Interaktion4 und ein spannendes Narrativ5 für die Station zu interessieren.
ROBOTIK IM OP Seit dem Jahr 2000 werden mit dem Da Vinci Operationssystem der Firma Intuitive Surgical roboter-assistierte Chirurgie-Systeme, gemeinhin auch als „OPRoboter“ bezeichnet, eingesetzt. Mit diesen Systemen ist unter anderem die Hoffnung verbunden Operationen schneller und sicherer durchführen zu können. Ob dieses Versprechen eingehalten werden kann, soll an dieser Stelle keine Rolle spielen.6 Für die Ausstellung zum Thema Robotik ist ein anderer Aspekt
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Die Einsatzgebiete sollten dabei bezüglich der erwarteten Akzeptanz weit gefächert sein und somit von Rasenmähen und Fensterputzen bis zur Betreuung von Babys/ Kleinkindern und dem Sex mit Robotern reichen.
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Denkbar wäre hier zum Beispiel eine Gestensteuerung. Ein mögliches Narrativ für Variante zwei könnte etwa die konkrete Frage sein welche Arbeit man ab jetzt nie wieder tun möchte und stattdessen jetzt offiziell an einen Roboter abgibt und somit in ein „Archiv der abgelegten Arbeiten“ transferiert.
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Zu diesem Thema gibt es mittlerweile mehrere Studien, etwa Alemzadeh et al. 2016.
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interessant: die Vorteile, die das System für die Bediener*innen, also die Operateur*innen, bringt. Diese steuern die Arme des „Roboters“ in sitzender Position von einem Steuerpult aus, das mit einem Monitor ausgerüstet ist. Abbildung 5: Avatera-System
Quelle: © avateramedical GmbH
Über den Monitor können sie die Arbeit der an den Armen angebrachten chirurgischen Instrumente genau beobachten, auch in starker Vergrößerung. Das hat den Vorteil, dass man eine bessere Sicht auf den Körper der Patient*innen und vor allem auf die Stelle des Eingriffs erhalten kann. Außerdem ermöglichen den Ärzt*innen die von ihnen gesteuerten Arme durch zusätzliche Gelenke unter Umständen einen Eingriff in einem Winkel, den sie sonst nicht erreichen könnten. Zusätzlich ist die sitzende Haltung ergonomischer für die Bediener*innen als die häufig gebückte Haltung über dem Patienten bei einer traditionellen Operation. Mit dem „OP-Roboter“ soll in der Ausstellung somit das Thema MenschRoboter-Kollaboration verdeutlicht werden: Es soll gezeigt werden, dass in einigen Bereichen eine Zusammenarbeit mit robotischen Systemen vorteilhaft ist. Damit wird dem viel diskutierten Aspekt, dass Roboter in unsere Arbeitswelt integriert werden, Rechnung getragen. Es soll verdeutlicht werden, dass diese Roboter nicht zwangsläufig eine Bedrohung für Arbeitsplätze sind, also nicht zwangsläufig menschliche Arbeitskräfte ersetzen. In vielen Bereichen werden die robotischen Systemen mit dem Menschen zusammenarbeiten. Um dies in der Ausstellung zu verdeutlichen wird ein Spektrum von Mensch-Roboter-
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Kollaboration aufgemacht: Auf der einen Seite stehen Roboter, die man „anlernt“ und die dann meist eigenständig eine sich stetig wiederholende Aufgabe ausführen, häufig in Zusammenarbeit mit einem Menschen. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen robotische Systeme, die von einem Menschen direkt gesteuert werden.7 Diese Systeme arbeiten nicht automatisiert, weil man sie in Bereichen einsetzt, in denen der Mensch die Kontrolle nicht an die Maschine abgeben möchte. Ein Beispiel hierfür ist eben solch ein „OP-Roboter“. Im Kontext eines chirurgischen Eingriffs sollen die Vorteile eines robotischen Systems genutzt werden, die Kontrolle über die Operation soll aber unbedingt beim Arzt bleiben. Die Gründe dafür sind sicherlich vielfältig, sie berühren aber unseres Erachtens vor allem zwei Aspekte, die im Kontext der Robotik für die Besucher*innen der Ausstellung interessant sind: 1. Unser Selbstverständnis als arbeitende Menschen und die Sinnstiftung dieser Arbeit. Denn wenn eine Maschine eine komplizierte Operation ohne Probleme übernehmen kann, dann wird die langwierige chirurgische Ausbildung bedeutungslos. Dazu wird die für viele Ärzt*innen sicherlich sehr sinnstiftende Aufgabe Menschenleben zu retten auf eine Maschine übertragen. 2. In diesem Kontext werden ständig Entscheidungen gefällt, die über die Gesundheit und das Überleben von Menschen bestimmen. Hier ist man nicht bereit diese Entscheidung den Maschinen, den dahinterliegenden Algorithmen, zu überlassen. Um die Besucher*innen der Ausstellung mit diesen Themen in Kontakt zu bringen, sollen sie selbst in die Lage versetzt werden ein solches System in einer simulierten Umgebung zu steuern.8 Da diese chirurgischen Systeme sehr viel Platz in Anspruch nehmen, kann die Interaktion in der Ausstellung selbst nicht direkt über ein solches System gewährleistet werden. Deshalb wird stellvertretend ein anderes Robotik-System in der Ausstellung gezeigt, das die oben erwähnten Aspekte in einem anderen Kontext verdeutlicht: ein Fernhantierungsgerät, das unter anderem zum Entschärfen von Bomben genutzt wird. In Zusammenarbeit mit der Firma Telrob wird ein solches Gerät in der Ausstellung für die Besucher*innen bedienbar gemacht. Sie sollen den Arm des 7
Diese Unterscheidung entspricht den Kooperationstypen „Koexistenz“ und „Bewegungsvorgabe“. Diese Unterscheidung findet sich in Müller et al. 2019: 6f.
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Damit wird auch gleich ein weiterer wichtiger Aspekt der Ausstellung von robotischen Systemen erreicht: Die Roboter werden in Aktion gezeigt. Denn wenn diese nur still in einer Vitrine stehen, dann sind es letztlich nur Designobjekte, die eigentliche Funktionalität geht aber verloren. Und diese Funktionalität ist eng mit der Software eines solchen Systems verbunden. Damit betrifft das Ausstellen von Robotern die wichtige Frage, die in Zukunft vor allem technische Museen umtreiben wird, wie man Software gut ausstellen kann.
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Systems selbst steuern können und damit eine Bombenentschärfung simulieren, indem Sie den Arm in einer bestimmten Zeit an eine bestimmte Position (eine „Bombe“) navigieren. Zusätzlich kann noch ein Teil des chirurgischen Systems, vorstellbar ist hier ein einzelner Arm in einer Vitrine ausgestellt werden, um den Kontext zur Chirurgie aufzumachen, der den meisten Besucher*innen aus eigener Erfahrung näher sein sollte als das Entschärfen einer Bombe. Abbildung 6: Telemax PLUS
Quelle: © Telerob Gesellschaft für Fernhantierungstechnik mbH
Um das Spektrum der Mensch-Roboter-Kollaboration wie oben besprochen zu verdeutlichen soll noch ein zweiter Roboter in Aktion gezeigt werden: Der Leichtbauroboter iiwa der Firma KUKA. Dieser ist so gestaltet, dass er über eine einfache Bewegung des Arms für bestimmte Aufgaben angelernt werden kann. Zusätzlich sind diese Roboter dafür ausgelegt, dass sie keinen Menschen verletzen können und bei Kontakt sofort stoppen. Diese Aspekte sollen den Besuchern, wiederum interaktiv, verdeutlicht werden: Der Roboter soll das Spiel „heißer Draht“ spielen. Hierbei handelt es sich um ein Geschicklichkeitsspiel: Die Spieler*innen müssen eine Drahtöse, die an einem Stab befestigt ist, über einen gebogenen Draht führen, ohne, dass die Öse den Draht berührt. Im Museum können die Besucher*innen selbst diesen Draht stecken. Dann können Sie entweder den Roboterarm, an dem die Öse befestigt ist, selbst über den Draht führen und dem Roboter die Bewegung damit direkt beibringen, oder sie können ihm zuschauen, wie er den Draht selbstständig abfährt und die Bewegung dabei durch Wiederholung erlernt.
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KÜNSTLICHE INTELLIGENZ IN DER MEDIZINISCHEN DIAGNOSTIK In der medizinischen Diagnostik werden bereits KI-Systeme eingesetzt.9 Diese werden vor allem angewendet, wenn es um die Verarbeitung einer großen Menge von Daten geht, etwa bei der Analyse von Langzeit-EKGs. Sie sollen Mediziner bei der korrekten Diagnose unterstützen. Damit erfüllen diese Systeme eine ähnliche Funktion wie die oben beschriebenen Roboter: Sie unterstützen Expert*innen bei ihrer Arbeit, treffen aber keine eigenständigen Entscheidungen, sondern weisen auf mögliche Irregularitäten der von ihnen ausgewerteten Daten und somit Ansätze zur Diagnose hin. Doch es gibt noch eine zweite Entwicklung, die in der Ausstellung dargestellt werden soll: Die Nutzung von KISystemen durch die Patient*innen selbst. So hat etwa die Firma Ada Health GmbH eine Software entwickelt, die jede*r als App aus sein Smartphone laden kann. Nach Eingabe von Alter und Geschlecht kann man hier ein Symptom einer vermuteten Erkrankung eingeben. Anschließend fragt das System nach weiteren Symptomen und wird am Ende datenbasierte Wahrscheinlichkeiten für verschiedenen Erkrankungen (und Informationen zu diesen) angeben. Dieses System soll dabei helfen abzuschätzen wie schnell man eine*n Ärzt*in aufsuchen sollte. 10 Dieses Beispiel kann in der Ausstellung zwei Aspekte11 zum Umgang mit Künstlicher Intelligenz verdeutlichen: 1. Die Digitalisierung tangiert nicht nur die Arbeitsplätze von niedrigqualifizierten Arbeiter*innen. Wie im Kontext der Mensch-Roboter-Kollaboration bereits erwähnt, ist die Angst vor dem Wegfall von Arbeitsplätzen durch den Einsatz von Robotik/Künstlicher Intelligenz weit verbreitet. Meist denkt man hier an sich stets wiederholende Arbeiten aus der Industrie, die keine hohe Qualifizierung der Arbeiter*innen erfordern. Doch wie der Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei der medizinischen Diagnostik zeigt, können auch hochqualifizier-
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Bahl et al. 2018 berichtet etwa davon, dass der Einsatz von KI-Systemen die Anzahl unnötiger Operationen bei Brustkrebs durch statistische Analysen verringern konnte. Ein weiterer wichtiger Einsatzbereich ist die Auswertung von Bildern für die medizinische Diagnose.
10 Des Weiteren soll es Menschen in Regionen mit ungenügender medizinischer Infrastruktur Zugang zu medizinischem Wissen verschaffen. 11 Zusätzlich zu den genannten beiden Aspekten wird implizit auch noch die Frage nach Datenschutz im Bereich der sehr persönlichen Gesundheitsdaten tangiert.
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te Arbeiten teilweise automatisiert werden.12 Neben der Unterstützung bei der Erstellung von Diagnosen, ist ein weiteres Beispiel der Einsatz von KI-Systeme in der Medizin im Kontext bildgebender Verfahren. Der Fachbereich Radiomics beschäftigt sich mit der Auswertung von Bildern mit lernenden und statistischen Verfahren und kann somit zum Beispiel bei der Diagnose von Krebs helfen. (Vial et al. 2018). 2. Die Grenze zwischen Lai*in und Expert*in verschwimmt. Traditionell ist das Verhältnis zwischen Ärzt*in und Patient*in klar: Die Patient*innen kommen mit einem medizinischen Problem, die Ärzt*innen versuchen dieses zu lösen, indem sie eine Diagnose erstellen und eine Behandlung empfehlen oder durchführen. Wenn die Patient*innen aber jetzt selbst schon eine Quasi-Diagnose erstellen können und mit dieser zu Mediziner*innen gehen, dann könnte sich das Wissensverhältnis zugunsten der Patient*innen verändern, weil sie jetzt plötzlich ein Mittel zur Verfügung gestellt bekommen die Diagnose zu überprüfen.13 Ihnen wird hier also Expert*innenwissen, das normalerweise verschlossen bleibt, zugänglich gemacht. Um diese Aspekte zu verdeutlichen könnte man die App auf einer Medienstation zur Verfügung stellen. Dann können die Besucher*innen diese ausprobieren und für sich die Frage stellen, für wie nützlich sie ein solches System halten und ob und unter welchen Bedingungen sie dieses einsetzen möchten. 14 Zusätzlich zur Darstellung in der Ausstellung sollen die oben genannten Themen in Bildungsprogrammen weiter vertieft werden. Das soll einerseits über Führungen passieren und anderseits über Sonderveranstaltungen wie Vorträgen von Expert*innen. Damit können auch die nicht in der Ausstellung darstellbaren Aspekte der Thematiken beleuchtet werden. Eine weitere Möglichkeit dafür ist die Vertiefung in Sonderausstellungen.
12 Ein weiteres Beispiel hierfür, dass allerdings weiter entfernt von der Lebenswirklichkeit der meisten Besucher ist, ist der Einsatz von KI-Systemen im juristischen Bereich. 13 Natürlich stellt sich hier noch die Frage, ob die KI-Systeme überhaupt zuverlässig genug arbeiten können, um eine solche Überprüfung tatsächlich qualifiziert zu ermöglichen. Immerhin ist es nicht einfach das implizite Erfahrungswissen von lange praktizierenden Mediziner*innen abzubilden. 14 Auch hier – und im gesamten Kontext „Künstliche Intelligenz“ - stellt sich wieder ganz konkret die Frage, wie man Software gut ausstellen kann. Eine mögliche Antwort wäre dann: Die Software den Besucher*innen an einer Medienstation komplett zugänglich machen.
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LITERATUR Alemzadeh, H. et al (2016) Adverse Events in Robotic Surgery: A Retrospective Study of 14 Years of FDA Data, in: PLoS ONE 11(4): e0151470. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0151470, letzter Zugriff: 06.04.2020. Bahl et al. (2018): High-Risk Breast Lesions: A Machine Learning Model to Predict Pathologic Upgrade and Reduce Unnecessary Surgical Excision, in: Radiology 286, Nr. 3, 810-818. Gräb-Schmidt, Elisabeth/Stritzelberger, Christian P. (2018): Ethische Herausforderungen durch autonome Systeme und Robotik im Bereich der Pflege, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 64, Heft 4, 357-372. Deutscher Ethikrat (2017): Big Data und Gesundheit – Datensouveränität als informationelle Freiheitsgestaltung, Berlin. Die forschenden Pharma-Unternehmen (2020): vfa-Positionspapier. Personalisierte Medizin, Berlin. Müller, Rainer et al. (2019): Handbuch Mensch-Roboter-Kollaboration, München. Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg) (2014): Individualisierte Medizin - Voraussetzungen und Konsequenzen, Halle (Saale). Vial, Alanna et al. (2018): The role of deep learning and radiomic feature extraction in cancer-specific predictive modelling: a review, in: Translational Cancer Research 7, Nr. 3, 803–816.
Autorinnen und Autoren
PD Dr. Urs-Vito Albrecht, MPH, Forschungsschwerpunkt: mHealth. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik der TU Braunschweig und der Medizinischen Hochschule Hannover, Stellvertretender Vorsitzender und geschäftsführender Arzt der Ethikkommission der Medizinischen Hochschule Hannover, Betriebsärztlicher Dienst der Medizinischen Hochschule Hannover. Ludwig Bauer, Physiker (M.Sc.), Forschungsschwerpunkte: Objektgeschichte, Geschichte der Robotik, Geschichte der Optik, Geschichte der Fotografie; Wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Ausstellungsprojekten Foto&Film und Optik des Deutschen Museums München, zuvor wissenschaftlicher Volontär im Ausstellungsprojekt Robotik des Deutschen Museums München. Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Michael Czaplik, Facharzt für Anästhesiologie, Forschungsschwerpunkte: Telemedizin, Kontaktlose Monitoringverfahren, Interoperabilität und Entscheidungsunterstützungssysteme, Leiter der Sektion Medizintechnik an der Klinik für Anästhesiologie der RWTH Aachen. Dr. phil. Bernd Gausemeier, Wissenschafts- und Medizinhistoriker, Forschungsschwerpunkte: Geschichte der biomedizinischen Forschung im 20. Jahrhundert, Geschichte medizinischer Institutionen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin der Medizinischen Hochschule Hannover. Prof. Dr. med. Dr. phil. Johannes Huber, Klinisches und wissenschaftliches Haupttätigkeitsfeld: Urologische Onkologie mit besonderem Schwerpunkt auf Patientenorientierung und Versorgungsforschung. Leitender Oberarzt und Stellvertretender Klinikdirektor der Klinik und Poliklinik für Urologie, Universitäts-
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klinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, EvEntPCA-Studienleiter. Dr. phil. Julia Inthorn, Medizinethikerin, Diplom-Mathematikerin, Forschungsschwerpunkte: Ethische Fragen der Digitalisierung in Medizin und Pflege, Empirische Ethik, Gesundheit und Gerechtigkeit, Direktorin des Zentrums für Gesundheitsethik der Evang.-Luth. Landeskirche Hannovers. Bianca Jansky, M.A. Soziologin, Forschungsschwerpunkte: Qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung, Science and Technology Studies, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der LMU München, Teil des BMBF geförderten Projekts: META - mHealth: Ethische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte. Dr. phil. Philipp Karschuck, Forschungsschwerpunkt: Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin (Digitalisierung, Patientenorientierung sowie Komplementärmedizin). Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik und Poliklinik für Urologie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, EvEnt-PCA-Studienkoordinator. Prof. Dr. phil. László Kovács, Philosoph, Forschungsschwerpunkte: Ethische Aspekte der Biotechnologien, der Medizintechnik, Technikethik, Ethik der Künstlichen Intelligenz; Professur für Ethik und Politikwissenschaft an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Augsburg, Assoziierter Wissenschaftler im Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen. Dr. med. Pascal Kowark, Facharzt für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Spezielle Schmerztherapie. Forschungsschwerpunkt: Telemedizin in der Schmerztherapie, Leiter der Schmerzambulanz der Klinik für Anästhesiologie der RWTH Aachen. Nicolas Lange, M.A. Geschichte, Technikhistoriker, Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Robotik, Objektgeschichte, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Ausstellungsprojekt Robotik des Deutschen Museums, München. Georg Lindinger, M.A., Religions- und Sozialwissenschaftler, Forschungsschwerpunkte: Anthropologie der Digitalisierung, Ethik im Gesundheitswesen, Digital Health, Qualitative Sozialforschung, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
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Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth, Lehrbeauftragter an der Fakultät Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Bayreuth. Florian Müller, M. A., Wissenschaftshistoriker. Forschungsschwerpunkt: Geschichte der Künstlichen Intelligenz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsinstitut für Wissenschafts- und Technikgeschichte des Deutschen Museums, München. Birgit Saalfeld, M.Sc. Informatik, Forschungsschwerpunkt: Assistierende Gesundheitstechnologien, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik der TU Braunschweig und der Medizinischen Hochschule Hannover. Dipl. Soz. Melanie Saverimuthu, Technik-Soziologin, Kunst- und Musikwissenschaftlerin. Schwerpunkte: Ausstellungskonzeption, Technikfolgenabschätzung und Zukunftsforschung Kuratorische Leitung Projekt Deutsches Museum Nürnberg. Dr. rer. medic. Mathias Schmidt, M.A., Medizinethiker und -historiker, Forschungsschwerpunkte: u.a. Technikakzeptanz und ethische Implikationen neuer Medizintechnik, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen. Dr. Bettina Schmietow, Forschungsinteressen: Ethik und Regulierung der digitalisierten Medizin und genetischer Technologien, Ethik von Partizipation und Innovation, Methoden interdisziplinärer Bioethik, interdisziplinärer Hintergrund vorwiegend in Philosophie und Biomedizin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der LMU München. PD Dr. phil. Rudolf Seising, Diplom-Mathematiker, Wissenschaftshistoriker und -philosoph. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Informatik, Geschichte der Künstlichen Intelligenz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsinstitut für Wissenschafts- und Technikgeschichte des Deutschen Museums, München Privatdozent in der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der LMU München.
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Saskia Wilhelmy, M.A., Medizinethikerin und -historikerin Forschungsschwerpunkte: u.a. Technikakzeptanz und -einstellung in medizinischer Diagnostik/ Therapie, Empirische Medizinethik, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen.
Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)
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Naika Foroutan
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Soziologie Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.)
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Detlef Pollack
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Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
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