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German Pages 994 [964] Year 2022
Mario Staller Swen Koerner Hrsg.
Handbuch polizeiliches Einsatztraining Professionelles Konfliktmanagement – Theorie, Trainingskonzepte und Praxiserfahrungen
Handbuch polizeiliches Einsatztraining
Mario Staller Swen Koerner Hrsg.
Handbuch polizeiliches Einsatztraining Professionelles Konfliktmanagement – Theorie, Trainingskonzepte und Praxiserfahrungen
Hrsg. Mario Staller Fachbereich Polizei Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW Aachen, Deutschland
Swen Koerner Trainingspädagogik und Martial Arts Deutsche Sporthochschule Köln Köln, Deutschland
ISBN 978-3-658-34157-2 ISBN 978-3-658-34158-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichenund Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat/Planung: Rolf-Guenther Hobbeling Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Editorial: Ein Handbuch mit prakademischer Perspektive
„ You will give people an ideal to strive towards, they will race behind you they will stumble, they will fall, but in time they will join you, in time you will help them accomplish wonders.“ (Jor-El über Superman)
Polizeiliches Einsatzverhalten ist von essenzieller Bedeutung: für die betroffenen Bürger*innen, für die handelnden Polizist*innen, für die Beziehung zwischen Polizei und der Zivilgesellschaft sowie für unser gesellschaftliches Zusammenleben. Aktuelle Ereignisse und Diskussionen führen uns einmal mehr die Interaktionseffekte polizeilichen Einsatzverhaltens und die damit verbundene gesamtgesellschaftliche Bedeutung vor Augen. Unterschiedliche Bewertungen und Deutungen polizeilichen Einsatzverhaltens zeigen die mit dem polizeilichen Einsatzverhalten verbundenen Unsicherheiten. Wie viel autoritäres Auftreten im Einsatz ist notwendig, wie viel ist zu viel? Wann und unter welchen Umständen sollen wir auf Kooperation setzen, wann auf Zwang? Was gefährdet meine Eigensicherung, was nicht? Welche Techniken im Einsatz funktionieren, welche nicht? Aufrüsten oder abrüsten? Diese Unsicherheiten zeigen sich auch im Training, welches Polizist*innen in Deutschland auf Einsätze vorbereitet: das polizeiliche Einsatztraining. Auch hier wird um Inhalte und Schwerpunktsetzungen gerungen. Hinzu kommt auch die Unsicherheit, wie welche Dinge am Ende zu lehren und zu trainieren sind, sodass diese im Einsatz anwendbar sind, also letztlich die Frage nach der trainingspädagogischen Gestaltung des Trainings. Neben Einsatzverhalten und Trainingsprozess wirken sich diese Unsicherheiten auch auf die Struktur und Organisation des Einsatztrainings aus. Wie sollte es aufgebaut sein? Welche Ressourcen brauchen wir dafür? Welches Personal sollte wie aus- und fortgebildet werden? Welche Fähigkeiten brauchen professionelle Einsatztrainer*innen? Die Unsicherheiten der handelnden Personen, die wir im Handbauch basierend auf den genannten Unsicherheitsdimensionen als Einsatzkräfte, Einsatztrainer*innen und Entscheider*innen bezeichnen, nehmen wir ernst. Gleichzeitig bedienen wir uns des Mittels, welches als „candle in the dark“ (Sagan 1997) Licht in diese Unsicherheiten bringen kann: der Wissenschaft. Damit wollen wir allen in der Praxis des Einsatztrainings beteiligten Personen eine Wissensressource für eine evidenz-basierte Praxis (Körner und Staller 2020) an die Hand V
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geben. Damit wollen wir eine Brücke von der Wissenschaft zur Praxis schlagen. Aber Achtung: Finalisiertes Wissen wird es hier nicht geben. Vielmehr wollen wir Praktiker*innen Wissensbestände an die Hand geben, die reflektierte Entscheidungen ermöglichen und bei der eigenen persönlichen Weiterentwicklung als Einsatztrainer*in hilfreich sein können: ein Brückenschlag von der Wissenschaft in die Praxis. Auf der anderen Seite möchten wir Wissenschaftler*innen mit diesem Werk für die Komplexität des Einsatztrainings begeistern, einen Überblick über Diskurse des Einsatztrainings geben und ebenfalls andere Perspektiven aufzeigen. Damit beabsichtigen wir, das Einsatztraining aus dem Schattendasein der wissenschaftlichen Betrachtung herauszuholen: ein Brückenschlag von der Praxis in die Wissenschaft. Wir hoffen, dass damit deutlich wird, dass wir Perspektiven zueinanderbringen wollen. Entsprechend verstehen wir das Handbuch als ein Werk, welches • über das Einsatztraining geschrieben wurde, • für das Einsatztraining geschrieben wurde und • mit dem Einsatztraining geschrieben wurde. Diese Perspektiven drücken sich auch in der Makro- und Mikrostruktur des Handbuches aus. Wissenschaftler*innen schreiben über das Einsatztraining und hatten die Aufgabe, den Blick für das Einsatztraining nicht zu verlieren. Praktiker*innen (mit) hatten die Aufgabe, zu reflektieren und damit einen Blick über das Einsatztraining einzunehmen – alles aber mit der Intention, das Einsatztraining in seiner Praxis zu optimieren – und damit für das Einsatztraining zu schreiben. Die Verbindung der Perspektiven ist ein rekurrierendes Thema in unserem Handbuch – und gleichzeitig auch – so empfinden wir – der Qualitätsanspruch, dem wir nachkommen wollten. Dies zeigt sich im Entstehungsprozess, bei den beteiligten Autor*innen sowie in der Struktur des Handbuches.
Der Entstehungsprozess des Handbuches Die Ankündigung für das Handbuch und die Call for Papers starteten wir Ende 2019. Die Abstracts wurden bis zum März 2020 eingereicht und von uns in Bezug auf ihre mögliche Passung für das Handbuch begutachtet. Im Anschluss hatten die Autor*innen bis Ende 2020 Zeit, die Beiträge zu erstellen, bevor im ersten Quartal 2021 ein doppelt-blindes und offenes Peer-Review-Verfahren durchgeführt wurde. Doppelt-blind, da weder Autor*innen noch Reviewer*innen im Prozess die Namen der anderen Partei(en) bekannt gegeben wurden. Offen, da alle Autor*innen und Reviewer*innen neben den zugewiesenen Beiträgen auch andere Beiträge begutachten konnten. Auch die Voten und Entscheidungen zu den einzelnen Beiträgen waren für alle beteiligten Parteien offen einsehbar. Den Beiträgen haben wir im Review-Prozess je eine/n Wissenschaftler*in und eine/n Polizeipraktiker*in
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zugewiesen. So ergaben sich auch im Verfahren Anmerkungen und Korrekturen aus zwei Perspektiven. Unser Zeitplan war dabei strikt: Gutachten der Reviewer*innen bis Ende Januar 2021, Überarbeitung der Beiträge durch die Autor*innen bis Ende Februar 2021. Die Reviewer*innen baten wir nach erfolgter Revision, die Beiträge Anfang März final zu begutachten und ihr Einverständnis in Bezug auf die kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Anmerkungen zu geben. Das Einverständnis der Reviewer*innen bezieht sich auf eine begründete Auseinandersetzung mit den Kritikpunkten – nicht darauf, dass eine inhaltliche Position oder sprachliche Gestaltung geteilt wird. Entsprechend bezieht sich die Nennung als Reviewer*in im Beitrag auf die Anerkennung an der Teilhabe dieses Prozesses – nicht auf das Einverständnis auf eine Position des/r Autor*in. Mit der ausdrücklichen Nennung des/r Reviewer*innen im Beitrag (in alphabetischer Reihenfolge) gehen wir einen weiteren Schritt in Richtung Transparenz und Offenheit des Erstellungsprozesses des Handbuches – ein Schritt, der ausdrücklich von der „Open Science“-Bewegung begrüßt wird (Ross-Hellauer 2017; Ross-Hellauer et al. 2017). Auch wir können rückblickend sagen, dass der Prozess ein Erfolg war. Auch hoffen wir, dass wir durch das transparente Verfahren Berührungsängste zwischen Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen abbauen konnten. Die Zahlen für das Handbuch im Überblick: • • • • •
Eingegangene Abstracts: 80 Angenommen zur Beitragseinreichung: 60 Eingegangene Manuskripte: 55 Angenommen unter der Auflage einer Revision: 53 (abgelehnt: 2) Final akzeptierte Beiträge: 52 (1 Beitrag wurde im finalen Votum abgelehnt; 3 Beiträge wurden nach Bekanntgabe der geforderten Revisionen zurückgezogen; 2 Beiträge wurden nach Bekanntgabe der finalen Voten zurückgezogen; 2 Beiträge wurden aufgrund Empfehlungen der Reviewer*innen in 2 bzw. 3 Einzelbeiträge aufgeteilt) Damit ergeben sich 50 begutachtete Beiträge sowie ein Editorial und ein Ausblick.
Wer ist dabei? Wir freuen uns sehr, dass wir mit dem vorliegenden Werk das Who-ist-Who der deutschsprachigen (Polizei)Forschung mit Blick auf Konfliktbewältigung und das entsprechende Training dafür gewinnen konnten. Auch freuen wir uns in besonderem Maße über die Polizeipraktiker*innen, die ihre Praxen reflektiert und ihre Erkenntnisse eingebracht haben. Das vorliegende Handbuch unterscheidet sich in Inhaltsbereichen auch von Büchern, welche auf dem populärwissenschaftlichen Markt zum Thema Einsatztraining und polizeiliches Konfliktmanagement erhältlich sind. Während auf der einen Seite die Corona- Pandemie eine Beitragserstellung erschwerte, erreichten andere Beiträge nicht den uns selbst gegebenen Standard und den der Reviewer*innen.
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Wir haben mit dem vorliegenden Handbuch den Anspruch, eine umfassende Ressource für Praktiker*innen, Wissenschaftler*innen, Entscheider*innen und Einsatzkräfte zu schaffen. Das Ganze verstehen wir als Prozess. An dieser Stelle wollen wir auch offenlegen, dass der vorgenommene Prozess auch Irritationen hervorrief. So wurde teilweise auf inhaltliche Kritiken der Reviewer*innen nicht inhaltlich reagiert oder diese als persönlicher Affront gewertet. Zweifelsohne haben die hier zueinandergebrachten Perspektiven Konfliktpotenzial – gerade wenn auf denselben Gegenstand geschaut wird. Doch genau hier sehen wir das Entwicklungspotenzial unserer eigenen Sichtweise auf die Dinge – aber auch für das Einsatztraining und den Diskurs dazu. Die entstandenen Reibungen geben auch uns wieder Material zu Reflexion – und ein weiteres Argument, den Review-Prozess für die nächste Auflage noch transparenter zu gestalten. Wir hoffen und wünschen uns, dass niemand der angenommenen – aber auch abgelehnten Autor*innen die Entscheidungen persönlich nimmt, sondern auf die inhaltlichen Aspekte fokussiert, die die Reviewer*innen angesprochen haben, um die Qualität der Beiträge in diesem Handbuch sicherzustellen. Ihnen gehört daher ein besonderer Dank dafür, dass sie diesen Prozess auf sich genommen haben und ihre Ressourcen in die Begutachtung der eingereichten Beiträge investiert haben. Wir danken in diesem Zusammenhang Andrea Reinartz, Anne Dörner, Benedikt Heusler, Benjamin Zaiser, Buc Consten, Christian Pill, Christof Römer, Clemens Lorei, Buc Consten, Deborah Ryszka, Detlef Oertel, Eric Haupt, Henning Staar, Hinner Schütze, Hubert VItt, Jan Beek, Jürgen Biedermann, Laura Gießing, Linus Wittmann, Markus Thiel, Markus Thielgen, Michael Alex, Michael Hauck, Michael Jasch, Nils Neuwald, Oliver Bertram, Patrick Schreier, Peter Schröder-Bäck, Rado Mollenhauer, Robert Hintereker, Rüdiger Koch, Sandra Adiarte, Sascha Kische, Stefan Hollenberg, Stefan Schade, Susanne vom Hau, Thomas Feltes, Thomas Meuser, Torsten Porsch, Uwe Füllgrabe, Valentina Heil und Wolfgang Moos.
Die Struktur des Handbuches Das Handbuch unterteilt sich in zwei große Teile, entsprechend den Zugängen zum Gegenstand des Einsatztrainings: auf der einen Seite die Wissenschaft (Teil A), auf der anderen Seite die gelebte Praxis des Einsatztrainings (Teil B). Um beide Perspektiven miteinander in Verbindung zu bringen, hatten unsere Autor*innen die Aufgabe, sich jeweils auf die andere Perspektive zu beziehen: Wissenschaftler*innen mussten ihre Ausführungen mit kondensierten, handlungspraktischen Empfehlungen für Entscheider*innen, Einsatzkräfte und Einsatztrainer*innen beenden. Praktiker*innen des Einsatztrainings hatten die Aufgabe, ihre Praxis am wissenschaftlichen Wissensbestand zu reflektieren. Für beide Seiten war dieser Prozess nicht einfach – da eben auch ungewohnt. Umso mehr freut es uns, dass sowohl Wissenschaftler*innen als auch Praktiker*innen sich darauf eingelassen haben und so ihre Perspektiven miteinander in Verbindung gebracht haben. In der
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ermischung beider Perspektiven schaffen wir eine dritte Sichtweise: die prakademische V Perspektive. Während als Prakademiker*innen Menschen beschrieben werden, die sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis im entsprechenden Tätigkeitsfeld tätig sind (Huey und Mitchell 2016; Posner 2009), erweitern wir diese Beschreibung auf das Kollektiv unserer Autor*innen und damit auf das Handbuch per se. Mit einem prakademischen Blick bringt das vorliegende Handbuch wissenschaftliche Erkenntnisse mit den Anforderungen und Restriktionen der Praxis in Verbindung. Aufbauend darauf erhoffen wir uns mit dem vorliegenden Handbuch auch eine Katalysatorfunktion für das Einsatztraining sowie für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Aus einem prakademischen Blick werden in Bezug auf das Einsatztraining Aspekte deutlich, die einer priorisierten Bearbeitung – sowohl wissenschaftlich als auch praktisch – bedürfen. Neue Probleme, Fragen, Bearbeitungsmöglichkeiten werden sich auftun – und vieles davon wird zu einer Optimierung des Einsatztrainings der Zukunft beitragen. Entsprechend wollen wir mit dem vorliegenden Handbuch einen Prozess anstoßen. Das vorliegende Handbuch ist ein erster Start. In regelmäßigen Neuauflagen beabsichtigen wir, Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen – und vielleicht mehr und mehr Prakademiker*innen für unser Werk zu begeistern und zu einer Optimierung des polizeilichen Einsatztrainings beizutragen. Nun zum konkreten Aufbau des Handbuches: Die ersten vier Teile des Handbuches bilden den Schwerpunkt der wissenschaftlichen Betrachtung: Grundsätzliche Aspekte des Einsatztrainings (Teil I) übergeordnete, organisatorische – also kontextuelle – Aspekte (Teil II); Aspekte des Einsatzes (Teil III) und Aspekte des Trainings für den Einsatz (Teil IV). Im Anschluss folgt die Reflexion der bestehenden Praxis: in Bezug auf den Einsatz (Teil V) und das Training (Teil VI). Die verschiedenen Zugangsperspektiven werden in jedem Beitrag auch in der Ausgangsperspektive widergespiegelt: als handlungspraktische Ableitungen für Entscheider*innen, für Einsatzkräfte und für Einsatztrainer*innen. Mit dieser Verwebung von Zugangs- und Ausgangsperspektiven wollen wir unseren Leser*innen verschiedene Zugänge zu den Beiträgen ermöglichen. Zum anderen drückt sich darin auch die Komplexität des Themenfeldes aus, welches es eben besonders in der Interaktion der Perspektiven mitei nander zu begreifen, auszugestalten und auch zu optimieren gilt. Wir wünschen nun viel Freude bei der Lektüre des Handbuches.
Literatur Huey, L., & Mitchell, R. J. (2016). Unearthing hidden keys: Why pracademics are an invaluable (if underutilized) resource in policing research. Policing, 10(3), 300–307. https://doi.org/10.1093/police/paw029. Körner, S., & Staller, M. S. (2020). Training für den Einsatz I: Plädoyer für ein evidenzbasiertes polizeiliches Einsatztraining. Die Polizei, 111(5), 165–173.
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Posner, P. L. (2009). The pracademic: An agenda for re-engaging practitioners and academics. Public Budgeting & Finance, 29(1), 12–26. https://doi.org/10.1111/j.15405850.2009.00921.x. Ross-Hellauer, T. (2017). What is open peer review? A systematic review. F1000Research, 6, 588. https://doi.org/10.12688/f1000research.11369.2. Ross-Hellauer, T., Deppe, A., & Schmidt, B. (2017). Survey on open peer review: Attitudes and experience amongst editors, authors and reviewers. PLoS One, 12(12), e0189311. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0189311. Sagan, C. (1997). The demon-haunted world: Science as a candle in the dark. Ballantine Books.
Aachen, Deutschland Köln, Deutschland März 2021
Mario Staller Swen Koerner
Inhaltsverzeichnis
Teil I Grundsätzliches ie Verantwortung des Einsatztrainings: Die Welt besser machen. . . . . . . . . . . . . 3 D Mario Staller und Swen Koerner 1 Verantwortungsbereich 1: Training für den Einsatz������������������������������������������������ 5 2 Verantwortungsbereich 2: Bilder der Gesellschaft und der Polizei ������������������������ 6 3 Verantwortungsbereich 3: Sprache�������������������������������������������������������������������������� 10 4 Verantwortungsbereich 4: Wissensmanagement������������������������������������������������������ 11 5 Verantwortungsbereich 5: Reflexivität�������������������������������������������������������������������� 12 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 15 raining für den Einsatz: Der Umfang des Einsatztrainings���������������������������������� 21 T Mario Staller und Swen Koerner 1 Der Bezugspunkt des Einsatztrainings: Der Einsatz������������������������������������������������ 23 2 Das Ziel des Einsatztrainings: Die Entwicklung von adaptiven Expert*innen�������� 28 3 Die Struktur und Inhalte des Einsatztrainings �������������������������������������������������������� 31 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 34 Teil II Prakademische Perspektive – Kontext er/die reflektierte Praktiker*in: Reflektieren als Polizist*in und D Einsatztrainer*in . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Mario Staller, Swen Koerner und Benjamin Zaiser 1 Die zeitliche Komponente der Reflexion: Davor, währenddessen und danach�������� 43 2 Verschiedene Reflexionsebenen – verschiedene Effekte ���������������������������������������� 44 3 Das Aufdecken der handlungsleitenden Annahmen������������������������������������������������ 48 4 Lehren einer reflektierenden Einstellung ���������������������������������������������������������������� 52 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 56
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issen als Ressource �������������������������������������������������������������������������������������������������� 61 W Swen Koerner und Mario Staller 1 Leistung im Kontext und strukturelles Wissensdefizit�������������������������������������������� 62 2 Wissensbedarf���������������������������������������������������������������������������������������������������������� 64 3 Daten – Information – Wissen �������������������������������������������������������������������������������� 69 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 74 ie Struktur polizeilicher Leistung: Von den polizeilichen Meisterlehren D zum evidenzbasierten Polizeitraining. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Stefan Schade 1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 78 2 Der empirische Forschungsprozess�������������������������������������������������������������������������� 80 3 Von der polizeilichen Meisterlehre zum evidenzbasierten Polizeitraining�������������� 82 4 Rahmenmodell für Polizeieinsatz und Einsatztraining�������������������������������������������� 85 5 Diskussion���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 90 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 93 ampfkunst-Mythen im Einsatztraining. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 K Sixt Wetzler 1 Kampfkunst-Mythen als Legitimierungsstrategie���������������������������������������������������� 104 2 Kampfkunst-Mythen in heutigen Kampfsystemen�������������������������������������������������� 107 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 118 as nicht passt, wird passend gemacht? Der Person-Environment-Fit und W Rolle der Personalauswahl im Polizeitraining. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Stefan Schade, Markus M. Thielgen, Christian Beck und Thomas Wimmer 1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 122 2 Personalpsychologische Grundlagen ���������������������������������������������������������������������� 123 3 Das Modell des Person-Environment-Fits �������������������������������������������������������������� 130 4 Diskussion���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 135 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 136 daptive Managementstrukturen in der Polizei: Eine systemische A Betrachtung durch fünf methodische Lernkompetenzen���������������������������������������� 141 Jan-Philipp Küppers 1 Einleitung: Die Polizei im Anpassungsdruck gesellschaftlicher Transformationsprozesse ���������������������������������������������������������������������������������������� 142 2 Die fünf Disziplinen einer Lernenden Organisation nach Peter M. Senge�������������� 144 3 Die fünf Disziplinen in polizeilichen Handlungspraxen������������������������������������������ 149 4 Die Polizei in prekärer Lage, oder: von Abwehrmechanismen, Ausweichmanövern und Lernhemmnissen�������������������������������������������������������������� 155 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 163
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Teil III Prakademische Perspektive – Einsatz ertrauen in die Polizei im 21. Jahrhundert: Fairness in Interaktionen als V Grundlage �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 169 Silvia Staubli 1 Vertrauen in modernen, komplexen Gesellschaften������������������������������������������������ 171 2 Vertrauen als Prädiktor für Legitimität�������������������������������������������������������������������� 172 3 Erklärungsansätze���������������������������������������������������������������������������������������������������� 173 4 Polizeivertrauen in Europa: Ein Überblick�������������������������������������������������������������� 176 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 181 utorität auf dem Prüfstand – wie Modernisierungserscheinungen die A Polizei herausfordern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Susanne vom Hau 1 Die Polizei im Spannungsfeld gesellschaftlicher Modernisierungserscheinungen zwischen Autoritätsverlust und Gewalt���������������� 187 2 Ist Autorität noch zeitgemäß?���������������������������������������������������������������������������������� 192 3 Sozialverträgliche Polizeiautorität zwischen Anspruch und Wirklichkeit�������������� 194 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 201 uardian oder Warrior? Überlegungen zu polizeilichen Grundeinstellungen . . . . . 203 G Mario Staller, Swen Koerner und Valentina Heil 1 Einstellungen zum Einsatzverhalten und zum Umgang mit Konflikten������������������ 204 2 Individuelle Orientierung vs. Orientierungen in der Organisationskultur �������������� 208 3 Brauchen wir (auch) Krieger*innen?���������������������������������������������������������������������� 214 4 Sichtbarkeit, Beobachtung und Diagnostik�������������������������������������������������������������� 215 5 Einsatztraining: Setting der Vermittlung – Setting der Reflexion���������������������������� 216 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 218 rofessionelles Einsatzverhalten: Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell . . . . . . 223 P Mario Staller, Swen Koerner und Benjamin Zaiser 1 Das Modellieren effektiven Einsatzverhaltens�������������������������������������������������������� 224 2 Das Deeskalierende Einsatzmodell�������������������������������������������������������������������������� 225 3 Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell/Das Professionelle Einsatzmodell ���������� 230 4 Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell (GeredE)�������������������������������������������������� 233 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 239 Einsatzverhalten planen und reflektieren: Eine mögliche Struktur . . . . . . . . . . . . 243 Mario Staller, Benjamin Zaiser und Swen Koerner 1 Einsatzziele�������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 246 2 Maßnahmen�������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 248 3 Einsatzverhalten������������������������������������������������������������������������������������������������������ 248 4 Kontext�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 250
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5 Bürger*innenverhalten �������������������������������������������������������������������������������������������� 251 6 Gesundheit/Sicherheit���������������������������������������������������������������������������������������������� 252 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 254 Kommunikation in der Anwendung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Benjamin Zaiser, Mario Staller und Swen Koerner 1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 258 2 Konflikt�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 259 3 Einstellung und Selbstverständnis �������������������������������������������������������������������������� 263 4 Anwendung im Einsatz�������������������������������������������������������������������������������������������� 266 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 274 olizeiliche Kommunikationsfähigkeit und deeskalative P Handlungskompetenz – Grundlagen und Potenzial des Einsatztrainings. . . . . . . . 279 Benjamin Zaiser, Mario Staller und Swen Koerner 1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 280 2 Das Bestimmungspotenzial der polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalativen Handlungskompetenz ���������������������������������������������������������������� 282 3 Status quo���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 284 4 Defizite in der Einsatztrainingsgestaltung �������������������������������������������������������������� 286 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 292 ontakt-Kompetenz im polizeilichen Dienstalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 K Heidi Mescher und Sandra Winheller 1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 298 2 Auf dem Weg zur handlungssicheren Gelassenheit – Transfer und Empfehlungen für die polizeiliche Aus- und Fortbildungspraxis���������������������������� 304 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 310 insatzkompetenz – Ein Modell zur Bewältigung kritischer Einsatzsituationen. . . . 313 E Hans Peter Schmalzl 1 Die Ausgangsüberlegung: Einsatzhandeln ist Risikohandeln in kritischen Situationen �������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 314 2 Entwicklung eines Modells der Einsatzkompetenz ������������������������������������������������ 316 3 Einsatztrainings als Königsweg zum Erwerb von Einsatzkompetenz: Ein empirischer Beleg���������������������������������������������������������������������������������������������������� 322 4 Weitere empirische Ansätze zur Einsatzkompetenz und zu Einsatzkompetenz-Trainings������������������������������������������������������������������������������������ 324 5 Folgen für die polizeiliche Praxis���������������������������������������������������������������������������� 325 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 328
Inhaltsverzeichnis
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spekte des polizeilichen Schusswaffengebrauchs zur realistischen A Gestaltung des Einsatz- und Schießtrainings. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Clemens Lorei 1 Einführung �������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 332 2 Studie „Schießen auf flüchtende Personen“������������������������������������������������������������ 335 3 Studie „Schnell schießen oder genau treffen“���������������������������������������������������������� 339 4 Studie „Schießen auf Täter mit Schutzwesten“ ������������������������������������������������������ 343 5 Vor- und Nachteile unterschiedlicher Waffenhaltungen������������������������������������������ 346 6 Studie „Umstände und Folgen von Warnschüssen“������������������������������������������������ 351 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 355 aktische Blickführung und Aufmerksamkeitsausrichtung in polizeilichen T Hochstresssituationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Benedikt Heusler 1 Visuelle Wahrnehmung und Aufmerksamkeit �������������������������������������������������������� 361 2 Polizeitaktische Aspekte������������������������������������������������������������������������������������������ 364 3 Aus- und Fortbildung���������������������������������������������������������������������������������������������� 367 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 373 entale Stärke von Polizeibeamten*innen im Einsatz und im Polizeitraining. . . . . 379 M Valentina Heil und Michelle Bechold 1 Einleitung: Mentale Anforderungen im Einsatz������������������������������������������������������ 380 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 388 ie äußere Erscheinung von Polizistinnen und Polizisten im Polizeieinsatz – D auch im Einsatztraining?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Markus M. Thielgen, Stefan Schade und Christine Telser 1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 392 2 Das Erscheinungsbild als Teil des nonverbalen Verhaltens ������������������������������������ 393 3 Das Erscheinungsbild von Polizeibediensteten������������������������������������������������������� 395 4 Die Wirkung des Erscheinungsbildes von Polizeibediensteten ������������������������������ 396 5 Die Wirkung einzelner Merkmale des Erscheinungsbildes ������������������������������������ 401 6 Diskussion���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 405 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 406 enschen mit psychischen Erkrankungen in Polizeieinsätzen – M Besonderheiten und deren Bedeutung für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Linus Wittmann 1 Verhaltensauffälligkeiten und psychische Erkrankungen���������������������������������������� 414 2 Besonderheiten�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 415 3 Subjektives Erleben der Beteiligten������������������������������������������������������������������������ 417 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 424
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er polizeiliche Umgang mit aggressiven Verhaltensweisen bei Menschen D mit psychischen Störungen – Handlungskonzepte, Spannungsfelder und Notwendigkeiten der zukünftigen Beforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Jürgen Biedermann und Karoline Ellrich 1 Hintergrund und Relevanz der Thematik für die Polizei ���������������������������������������� 432 2 Das Seminarkonzept „Krank und/oder gefährlich? – Polizeilicher Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen“������������������������������������������������������ 433 3 Vergleich des grundlegenden Einsatzmodells mit anderen Handlungsempfehlungen ���������������������������������������������������������������������������������������� 441 4 Allgemeine Voraussetzungen für spezifische Einsatzmodelle im Bereich psychischer Störungen und deren didaktische Vermittlung ������������������������������������ 444 5 Zukünftige Forschungsansätze�������������������������������������������������������������������������������� 444 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 448 olizeilicher Schusswaffengebrauch und psychisch erkrankte Angreifer. . . . . . . . 451 P Michael Jasch 1 Das Problem: Zu viele vermeidbare Tote���������������������������������������������������������������� 452 2 Die Rechtslage �������������������������������������������������������������������������������������������������������� 455 3 Der Umgang mit psychisch Erkrankten������������������������������������������������������������������ 460 4 Der Taser als neue Option���������������������������������������������������������������������������������������� 464 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 467 ie Gefährlichkeit von Begegnungen der Polizei mit psychisch auffälligen D Personen im Einsatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Hans Peter Schmalzl 1 Allgemeine Anmerkungen zur Gefährlichkeit von psychisch auffälligen Personen������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 470 2 Allgemeine und spezifische Risiken im Umgang mit psychisch Auffälligen���������� 473 3 Empfehlungen für das polizeiliches Einsatztraining: Basiskompetenzen im konkreten Kontakt mit einer psychisch auffälligen Person�������������������������������������� 474 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 480 echtswidrige polizeiliche Gewaltanwendung: Interaktionen, Risikofaktoren R und Auslöser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Laila Abdul-Rahman und Tobias Singelnstein 1 Einführung �������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 484 2 Forschungsstand: Risikofaktoren unverhältnismäßiger polizeilicher Gewalt���������� 485 3 Auslöser der Gewalt aus Sicht betroffener Bürger*innen���������������������������������������� 490 4 Fazit�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 495 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 499
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ewalt gegen die Polizei – ein Überblick zur Verbreitung, zu G Einflussfaktoren und Implikationen für die Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Karoline Ellrich und Dirk Baier 1 Häufigkeit und Entwicklung polizeilicher Gewalterfahrungen�������������������������������� 504 2 Einflussfaktoren von Gewaltopfererfahrungen�������������������������������������������������������� 507 3 Vor- und Nachbereitung von Gewalterleben������������������������������������������������������������ 513 4 Folgerungen mit Blick auf die wissenschaftliche Forschung���������������������������������� 514 5 Fazit�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 515 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 519 wangsanwendung durch die Polizei – Der unmittelbare Zwang aus der Z Perspektive des Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Nils Neuwald 1 Der Staat, der Bürger und die Gewalt���������������������������������������������������������������������� 524 2 Durchsetzung polizeilicher Maßnahmen mittels unmittelbaren Zwangs���������������� 526 3 Zulässigkeit des präventiven Zwanges�������������������������������������������������������������������� 527 4 Zulässigkeit des repressiven Zwanges �������������������������������������������������������������������� 528 5 Arten des unmittelbaren Zwanges �������������������������������������������������������������������������� 529 6 Folgen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Zwangsanwendung ������������������������������ 534 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 537 olizeilicher Schusswaffeneinsatz und Notwehrrecht (§§ 32, 33 StGB) . . . . . . . . . 539 P Hinner Schütze und Sascha Kische 1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 540 2 Ausgangsfall������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 544 3 Weitere Fallkonstellationen und deren strafrechtliche Bewertung�������������������������� 548 4 Der Komplexität „hoch drei“: Scheinangriff, Putativnotwehr, Überschreitung – was gilt?�������������������������������������������������������������������������������������� 552 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 555 Teil IV Prakademische Perspektive – Training as Einsatztrainer*innen tun: Professionelles Coaching. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 W Mario Staller und Swen Koerner 1 Wissensdimension 1: Verstehen des „Wer“�������������������������������������������������������������� 562 2 Wissensdomäne 2: Verstehen des „Was“ ���������������������������������������������������������������� 564 3 Wissensdimension 3: Verstehen des „Wie“�������������������������������������������������������������� 565 4 Wissensdimension 4: Verstehen des „Kontextes“���������������������������������������������������� 567 5 Wissensdimension 5: Verstehen des „Selbst“���������������������������������������������������������� 567 6 Wissensdimension 6: Verstehen des „Prozesses“���������������������������������������������������� 568 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 572
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insatztraining systematisch planen und reflektieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 E Mario Staller und Swen Koerner 1 Der Forschungsstand zum Planen und Reflektieren im Einsatztraining������������������ 578 2 Die Planungs- und Reflexionsstruktur Einsatztraining (PR-ET) ���������������������������� 580 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 588 I mpulse zur Gestaltung des Einsatztrainings I – Der Constraints-led Approach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Swen Koerner und Mario Staller 1 Vermittlungskompetenz als trainingspädagogische Anforderung���������������������������� 592 2 Constraints-led Approach���������������������������������������������������������������������������������������� 594 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 606 I mpulse zur Gestaltung des Einsatztrainings II – Das Trainer*innen-Mischpult. . . . . 609 Swen Koerner und Mario Staller 1 Das Mischpult im Überblick������������������������������������������������������������������������������������ 611 2 Ausgangspunkt: Konfliktpraxis�������������������������������������������������������������������������������� 612 3 Simulator und Player������������������������������������������������������������������������������������������������ 613 4 Interaktion und Aufgabe������������������������������������������������������������������������������������������ 614 5 Situative Faktoren���������������������������������������������������������������������������������������������������� 616 6 Umweltfaktoren ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 617 7 Individuelle Faktoren ���������������������������������������������������������������������������������������������� 617 8 Intensität und Geschwindigkeit�������������������������������������������������������������������������������� 618 9 Output���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 619 10 Flow, Instruktion, Feedback und Pause-Taste���������������������������������������������������������� 620 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 624 berlegungen zur Anwendbarkeit der Cognitive Load Theory auf die Ü Gestaltung polizeilicher Einsatztrainings: Braucht es eine kognitive Wende im Polizeitraining? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 Stefan Schade und Markus M. Thielgen 1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 628 2 Gedächtnispsychologische Grundlagen ������������������������������������������������������������������ 630 3 Cognitive Load Theory�������������������������������������������������������������������������������������������� 637 4 CLT im Polizeitraining�������������������������������������������������������������������������������������������� 640 5 Diskussion���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 642 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 645 bung oder Ernst? Von Stressinduktion im Polizeitraining zu Ü Stressbewältigung im Einsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 Laura Giessing und Marie Ottilie Frenkel 1 Training unter Stress aus Sicht der ökologischen Dynamiken�������������������������������� 655 2 Aus der Übung wird Ernst: Stressinduktionsmöglichkeiten im Einsatztraining �������� 657 3 Herausforderungen im Training unter Stress ���������������������������������������������������������� 664 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 670
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irtuelle Realität als vielversprechende Ergänzung im polizeilichen V Einsatztraining – Chancen, Grenzen und Implementationsmöglichkeiten. . . . . . . 677 Laura Giessing und Marie Ottilie Frenkel 1 Trainingsziele in VR������������������������������������������������������������������������������������������������ 680 2 Lernen in VR������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 681 3 Die Rolle des/der Einsatztrainer*in ������������������������������������������������������������������������ 683 4 Ethische und legale Voraussetzung für die Nutzung von VR���������������������������������� 685 5 Wissenschaft und Forschung in VR ������������������������������������������������������������������������ 686 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 689 thische Reflexion für das Einsatztraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693 E Peter Schröder-Bäck 1 Einführung �������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 694 2 Gewissen und ethische Reflexion���������������������������������������������������������������������������� 698 3 Grundlegende ethische Kriterien ���������������������������������������������������������������������������� 699 4 Ethische Reflexion und Urteilsbildung�������������������������������������������������������������������� 706 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 710 prach- und Gewaltkompetenz im Einsatztraining. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 S Jan Beek, André Kecke und Marcel Müller 1 Methoden ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 715 2 Herausforderung Mehrsprachigkeit – das Register Gewalt ������������������������������������ 716 3 Herausforderung Mehrsprachigkeit – das Register Sprache������������������������������������ 721 4 Die Register Gewalt und Sprache im Einsatztraining – Umschalten in beide Richtungen �������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 723 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 730 Zur Vorbereitung auf Gewalt im Einsatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733 Clemens Lorei 1 Einführung �������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 734 2 Ziele der Vorbereitung auf Gewalt �������������������������������������������������������������������������� 735 3 Polizei & Gewalt������������������������������������������������������������������������������������������������������ 736 4 Gewaltbereitschaft �������������������������������������������������������������������������������������������������� 738 5 Vorbereitung auf den Einsatz von Gewalt���������������������������������������������������������������� 741 6 Handlungsfähigkeit vorbereiten������������������������������������������������������������������������������ 744 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 749 ie Verzahnung von Recht und Einsatzlehre im Kontext der polizeilichen D Aufgabenerfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755 Markus Thiel 1 Zusammenhänge zwischen Einsatzlehre und Recht – Beispiele ���������������������������� 758 2 Disziplinspezifische Rationalitäten und Begrifflichkeiten – Unterschiede und Gemeinsamkeiten���������������������������������������������������������������������������������������������� 765 3 Vorschläge für eine „Verzahnung“ von Recht und Einsatzlehre������������������������������ 766 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 769
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Teil V Reflektierte Praxis – Einsatz ewalt gegen den Zoll: Kommunikation als zentrales Einsatzmittel in der G Konfliktbearbeitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 Torsten Porsch und Christian Pill 1 Gewalt gegen Einsatzkräfte������������������������������������������������������������������������������������� 774 2 Gewalt gegen den Zoll �������������������������������������������������������������������������������������������� 776 3 Training in der Ausbildung�������������������������������������������������������������������������������������� 778 4 Training in der Fortbildung�������������������������������������������������������������������������������������� 782 5 Das Zolltraining ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 786 6 Nachsorge���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 788 7 Ausblick ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 788 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 790 ie Einsatz-Kompetenz Strategie: Eine Verhaltensanweisung für D Polizeikräfte im Einsatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791 Wolfgang Moos 1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 792 2 Die EIKO-Strategie�������������������������������������������������������������������������������������������������� 797 3 Reflexion und Weiterentwicklung der EIKO-Strategie�������������������������������������������� 804 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 806 Teil VI Reflektierte Praxis – Training ersuch einer Ist-Soll-Analyse am Beispiel eines integrativen Schießtrainings V für polizeiliche Spezialeinheiten aus der „ecological dynamics“-Perspektive. . . . . 811 Christian Beck, Theobald Trapp und Stefan Schade 1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 812 2 Ein typischer SEK-Einsatz – Was wird den Einsatzkräften abverlangt? ���������������� 814 3 Der „ecological dynamics“-Ansatz für Polizeitraining�������������������������������������������� 816 4 Aufbau und Ablauf des integrativen Schießtrainings im Ist-Zustand���������������������� 817 5 Repräsentativität als Soll-Zustand im Polizeitraining���������������������������������������������� 820 6 Diskussion���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 822 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 823 er polizeiliche Schusswaffengebrauch als Hochstressereignis – Potenziale D im Schieß-/Nichtschießtraining am Beispiel der Polizei Nordrhein-Westfalen. . . . 825 Maximilian Haendschke 1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 826 2 Schieß- bzw. Nichtschießtraining im ET NRW ������������������������������������������������������ 827 3 Zu den situativen und langfristigen Auswirkungen von Stress im Kontext polizeilicher Schusswaffengebräuche���������������������������������������������������������������������� 836
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4 Stressresistenz durch Training �������������������������������������������������������������������������������� 838 5 Optimierungspotenziale ������������������������������������������������������������������������������������������ 840 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 841 ie Implementierung nonlinearer Pädagogik in das Einsatztraining – D Beschreibung einer Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 845 Patrick Schreier und Rado Mollenhauer 1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 846 2 Definitionen und lerntheoretische Annahmen der Autoren�������������������������������������� 848 3 Vergleich linearer und nonlinearer Trainingsformen ���������������������������������������������� 853 4 Beobachtungen�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 863 5 Ableitungen und Handlungsempfehlungen�������������������������������������������������������������� 866 6 Übungsbeispiele ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 868 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 870 mgang mit psychisch auffälligen Personen – Reflexion der U Trainingskonzeption und Handlungsroutinen innerhalb des Einsatztrainings der Polizei NRW. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 Maximilian Haendschke 1 Zur Aktualität der Thematik im täglichen Dienst���������������������������������������������������� 874 2 Rahmenbedingungen des ET NRW für den Umgang mit psychisch auffälligen Personen������������������������������������������������������������������������������������������������ 875 3 Zur Phänomenologie psychisch auffälliger Personen im polizeilichen Einsatzkontext���������������������������������������������������������������������������������������������������������� 881 4 Handlungsansätze und Potenzialanalyse������������������������������������������������������������������ 886 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 888 raktische Erfahrungen zum angewandten Stressmanagement für P Einsatzkräfte am Beispiel der GSG 9. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 891 Lothar Linz und Kai Winter 1 Einführung �������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 892 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 898 raining: Angriffe mit scharfkantigen Gegenständen gegen Polizeibeamt*innen. . . 899 T Anne Dörner und Enrico Boden 1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 900 2 Übersicht der Aus- und Fortbildungsinhalte������������������������������������������������������������ 901 3 Trainingseinstieg������������������������������������������������������������������������������������������������������ 901 4 Angriffe mit scharfkantigen Gegenständen aus „hoher“ Distanz���������������������������� 902 5 Angriffe mit scharfkantigen Gegenständen im Nahbereich������������������������������������ 908 6 Weitere Trainingsansätze ���������������������������������������������������������������������������������������� 911
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„ Im Vollbesitz der geistigen Kräfte“: Ein Trainingsprogramm für innere Stabilität von Einsatzkräften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 913 Eckhard Zihn 1 „Internaltraining“: Gestalt und Inhalt���������������������������������������������������������������������� 914 2 Internaltraining: Wissenschaftliche Grundlagen und Maßgaben ���������������������������� 918 3 „Internaltraining“: Perspektiven und Ableitungen�������������������������������������������������� 922 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 926 „ Aus der Praxis für die Praxis?“ – Potenziale des Trainings sozialer Kompetenz zur Vorbereitung auf die Bewältigung polizeilicher Einsätze. . . . . . . 929 Henning Staar, Ines Zeitner und Jürgen Zeitner 1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 930 2 TSK und Kompetenzentwicklung für den Polizeiberuf������������������������������������������ 931 3 Methodik������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 938 4 Darstellung der Ergebnisse�������������������������������������������������������������������������������������� 939 5 Diskussion der Ergebnisse �������������������������������������������������������������������������������������� 943 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 945 Eigensicherung, reflektiert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 947 Swen Koerner und Mario Staller 1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 948 2 Eigensicherung�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 948 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 956 Ausblick: Ein Handbuch mit Anschlussperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 959
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Laila Abdul-Rahman, Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl für Kriminologie Prof. Dr. Dirk Baier, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Departement Soziale Arbeit, Institut für Delinquenz und Kriminalprävention Michelle Bechold, Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung, Mühlheim Christian Beck, PHK Zentrale Ausbildungsstelle der Spezialeinheiten Polizei Rheinland- Pfalz, Abteilung Spezialeinheiten Polizeipräsidium Einsatz, Logistik, Technik Dr. Jan Beek, Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), Institut für Ethnologie und Afrikastudien Prof. Dr. Jürgen Biedermann, Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg Enrico Boden, Fachhochschule der Polizei Sachsen, Fortbildungszentrum Anne Dörner, Fachhochschule der Polizei Sachsen, Fortbildungszentrum Prof. Dr. Karoline Ellrich, Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg PD Dr. Marie Ottilie Frenkel, Universität Heidelberg, Institut für Sport und Sportwissenschaft Laura Giessing, Universität Heidelberg, Institut für Sport und Sportwissenschaft Maximilian Haendschke Dr. Susanne vom Hau, Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz, Fachgebiet VIII – Sozialwissenschaften und Fremdsprachen
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Valentina Heil, Institut für Professionelles Konfliktmanagement Benedikt Heusler, Deutsche Hochschule der Polizei, Verkehrswissenschaft und Verkehrspsychologie Prof. Dr. Michael Jasch, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Fachbereich Polizei André Kecke, Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung, Fachbereich Polizei Prof. Dr. Sascha Kische, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein- Westfalen, Fachbereich Polizei Univ.-Prof. Dr. Dr. Swen Koerner, Deutsche Sporthochschule, Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research Jan-Philipp Küppers, Universität Stuttgart, Fakultät 10, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Institut für Sozialwissenschaften (SOWI) Lothar Linz, Coaching Competence Cooperation Rheinland Prof. Dr. Clemens Lorei, Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung, Fachbereich Polizei Prof. Dr. Heidi Mescher, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein- Westfalen, Abteilung Köln Rado Mollenhauer, Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung, Mühlheim Wolfgang Moos, Zuger Polizei, Chef Kommandoabteilung Marcel Müller, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Ethnologie und Afrikastudien Nils Neuwald, Bundespolizeiaus- und -fortbildungszentrum Neustrelitz, Fachgruppe Recht und Verwaltung Christian Pill, Hochschule des Bundes, Fachbereich Finanzen Prof. Dr. Torsten Porsch, Hochschule des Bundes, Fachbereich Finanzen Dr. Stefan Schade, PsyR, Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz, Abteilung 1 – Studium
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Dr. Hans Peter Schmalzl, Zentraler Psychologischer Dienst der Bayer. Polizei, Polizeipräsidium München Patrick Schreier, Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung, Mühlheim Prof. Dr. Peter Schröder-Bäck, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen Prof. Dr. Hinner Schütze, Hochschule für Polizei Baden-Württemberg, Fakultät III Rechtswissenschaften Prof. Dr. Tobias Singelnstein, Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl für Kriminologie Prof. Dr. Henning Staar, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein- Westfalen, Abt. Duisburg Prof. Dr. mult. Mario Staller, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Fachbereich Polizei Dr. Silvia Staubli, Universität Bern, Institut für Strafrecht und Kriminologie Christine Telser, PsyD’in, Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz, Abteilung 1 – Studium Univ.-Prof. Dr. Markus Thiel, Deutsche Hochschule der Polizei, FG III.4 – Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Polizeirecht Dr. Markus Matthias Thielgen, Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz, Abteilung 1 – Studium Theobald Trapp, PHK Zentrale Ausbildungsstelle der Spezialeinheiten Polizei Rheinland-Pfalz, Abteilung Spezialeinheiten Polizeipräsidium Einsatz, Logistik, Technik Dr. Sixt Wetzler, Deutsches Klingenmuseum Solingen Thomas Wimmer, PD, Abteilung Spezialeinheiten Polizei Rheinland-Pfalz sowie Abteilung Spezialeinheiten Polizeipräsidium Einsatz, Logistik, Technik Dr. Sandra Winheller, Universität Bielefeld Kai Winter
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Dr. Linus Wittmann, Europa-Universität Flensburg, Abteilung Gesundheitspsychologie und -bildung/Institut für Gesundheits-, Ernährungs- und Sportwissenschaften Benjamin Zaiser, University of Liverpool, Tactial Decision Making Research Group Ines Zeitner, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen Eckhard Zihn, Bundespolizei, Bundespolizeidirektion D11
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3
Umfangsebenen des polizeilichen Einsatztrainings anhand der Interaktionsachse Bürger*in – Polizist*in (eigene Darstellung)�������������������� 25 Verschiedene Umgebungen im Einsatztraining���������������������������������������������� 26 Der Umfangsbereich eines Kompetenz-orientieren und eines Expertise-orientierten Einsatztrainings���������������������������������������������������������� 30
Abb. 1
Reflexionsebenen bezogen auf die möglichen Handlungsoptionen eine/r reflektierten Praktiker*in���������������������������������������������������������������������� 45
Abb. 1
Daten – Informationen – Wissen (Körner und Staller 2020)�������������������������� 70
Abb. 1
Der empirische Forschungsprozess: Die Theoriebildung und überprüfung stellen das Kernstück empirischen Arbeitens dar (adaptiert nach Wirtz und Schulz 2012) �������������������������������������������������������� 81 Zwei Wege des Polizeitrainings: Anforderungsanalyse und Leistungsstrukturmodelle bilden die inhaltliche Grundlage des evidenz-basierten Polizeitrainings. Polizeiliche Meisterlehren bilden die Grundlage für intuitives Polizeitraining (Bennell et al. 2020; Engel et al. 2020; Sherman 1998, 2013)�������������������������������������������������������� 84 Transaktionales Rahmenmodell zur Struktur polizeilicher Leistung im Polizeieinsatz und -training (modifiziert nach dem Modell der verallgemeinerten Struktur sportlicher Leistung von Gundlach 1980; vgl. auch Hottenrott und Neumann 2016; Hottenrott und Hoos 2013; Hohmann und Brack 1983; Schnabel et al. 2014). Die aktuellen (mentalen) Prozesse umfassen Aufmerksamkeit und Wahrnehmung, Lernen und Gedächtnis einschließlich Arbeitsgedächtnis, Denken, Urteilen und Entscheiden sowie Emotion und Motivation (vgl. hierzu das Integrative Modell des psychischen Systems nach Nolting und Paulus 2018; Heckhausen und Heckhausen 2018; Nitsch 2004)���������������������������������������������������������������������������������������������������� 86
Abb. 2
Abb. 3
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Abb. 1 Abb. 2
Abb. 3
Abbildungsverzeichnis
Ziele in drei Stadien der beruflichen Sozialisation in der Polizei. (Quelle: Eigene Darstellung)������������������������������������������������������������������������ 127 Ein zentraler Baustein des kompetenzorientierten und einsatzrepräsentativen Eignungs- und Auswahlverfahrens der Spezialeinheiten der Polizei Rheinland-Pfalz. (Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������� 129 Das „press-competence“-Modell von Lawton und Nahemow (1973)���������� 134
Abb. 1
Zentrale Lernfähigkeit von Teams (Senge 2011). Übersetzt d. d. Autor; Original unter: https://www.solonline.org/organizational- learning/. Zugegriffen am 16.11.2020���������������������������������������������������������� 145
Abb. 1 Abb. 2
Polizeivertrauen in Europa 2018 (Mittelwerte der Skala 0–10) ������������������ 177 Polizeivertrauen, Vertrauen in Polizeiarbeit und prozedurale Gerechtigkeit in Europa 2010 (Mittelwerte)������������������������������������������������ 178
Abb. 1
Das Autoritätsdreieck nach Kurp und Hoefs (2019, S. 532), eigene Darstellung���������������������������������������������������������������������������������������������������� 195
Abb. 1
Kriegerische Insignien auf den Bucheinbänden populärer Polizeiliteratur������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 211 Thin blue line-Patches, welche online erworben werden können���������������� 212 Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell (GeredE) – Version 1.0 (Staller et al. 2021b)������������������������������������������������������������������������������������� 234
Abb. 2 Abb. 1 Abb. 1
Die Planungs- und Reflexionsstruktur zum Einsatzverhalten (PR-EV) ������ 245
Abb. 1
Das Behavioral Influence Stairway Model nach Vecchi und Kollegen 2019, übersetzt und angepasst durch uns ���������������������������������������������� 263
Abb. 1
Das Missverhältnis der Trainingsinhalte������������������������������������������������������ 288
Abb. 1 Abb. 2
Dimensionen der Kontakt-Kompetenz. (Quelle: Eigene Darstellung) �������� 302 Kontakt-Kompetenz im Trainings-Transfer-Modell. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Baldwin und Ford (1988)) ���������������������������� 306
Abb. 1
Das Brunswik’sche Linsenmodell der Personenwahrnehmung und Eindrucksbildung. (Quelle: Lieven und Tomczak 2012). Die Genauigkeit der Personenbeurteilung hängt zum einen davon ab, inwiefern beobachtbares Verhalten tatsächlich die Persönlichkeit des/der Beurteilten repräsentiert, d. h. wie valide der Ausdruck ist. Zum anderen wird sie dadurch bestimmt, inwiefern der/die Urteiler*in seine Wahrnehmungen zur Urteilsbildung nutzt. Dabei tauschen Sender und Empfänger fortwährend Signale aus�������������������������� 393 Linke Seite: Das Erscheinungsbild von Polizeibediensteten. Es umfasst neben dienstlichen Merkmalen auch veränderbare individuelle sowie nicht veränderbare individuelle Charakteristiken. (Quelle:
Abb. 2
Abbildungsverzeichnis
Abb. 3
XXIX
Foto aus Thielgen et al. 2020). Rechte Seite: Modell zur Wirkung des Erscheinungsbildes im Polizeidienst. Ausgangspunkt ist das objektiv beobachtbare, individuelle Erscheinungsbild von Polizeibediensteten (Patterson 2019). Zum einen kann das Erscheinungsbild beim Gegenüber eine Reihe psychologischer Effekte auslösen. Zum anderen hat es eine unmittelbare Bedeutung für die Eigensicherung. Beide Ebenen – die psychologische und die eigensicherungsbezogene – können letztlich das situative Einsatzergebnis bzw. situative Einsatzrisiko bestimmen (Quelle: Eberz et al. 2019) ���������������������������������� 395 Schematische Darstellung zum Einfluss von erstem Eindruck und Beziehungsgestaltung auf die Interaktion zwischen Polizist*innen und Bürger*innen. Zu Beginn einer Interaktion dominiert die Wirkung des ersten Eindrucks. Erst mit zunehmender Dauer der Interaktion gewinnt die Beziehungsgestaltung an Bedeutung. Hinzu kommt, dass Kontakte mit der Polizei eher negative Anlässe haben und mit Stress (zumindest auf Bürger*innenseite) verbunden sind. (Quelle: Eigene Darstellung)������������������������������������������������������������������������ 397
Abb. 1
Das grundlegende Einsatzmodell innerhalb des Seminarkonzepts, welches auf einer Differenzierung verschiedener Bedingungen für aggressive Verhaltensweisen beruht („innere Handlungslogik“). (Quelle: adaptiert nach Biedermann 2020)�������������������������������������������������� 434
Abb. 1
Abrufbar unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/706648/ umfrage/durch-polizisten-getoetete-menschen-in-deutschland/ (Stand: 21.07.2020)�������������������������������������������������������������������������������������� 541 Abrufbar unter http://www.schusswaffeneinsatz.de/download/ statistiken.pdf (Stand: 11.12.2020) �������������������������������������������������������������� 542 Online-Beitrag abrufbar unter https://www.express.de/nrw/bochum/ notwehr%2D%2Dpolizist-erschiesst-rentner%2D%2D-und-wirdwegen-totschlags-angeklagt-37776132?cb=1609331608823���������������������� 552 Online-Beitrag abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/politik/ stade-polizei-erschossen-gefluechteter-1.4945265 �������������������������������������� 554
Abb. 2 Abb. 3
Abb. 4 Abb. 1
Das Professionelle Coaching-Modell (Staller 2021)������������������������������������ 563
Abb. 1
Die Planungs- und Reflexionsstruktur Einsatztraining (PR-ET)������������������ 581
Abb. 1 Abb. 2
Vereinfachtes Modell professionellen Coachings. (Staller 2020)���������������� 593 Constraints und repräsentative Trainingsumgebung. (Koerner und Staller 2020)�������������������������������������������������������������������������������������������������� 598
Abb. 1 Abb. 2
Das Trainingsmischpult�������������������������������������������������������������������������������� 612 Beispiel Aufgaben-Skript Simulator*in�������������������������������������������������������� 615
XXX
Abb. 1
Abb. 2 Abb. 3
Abb. 4
Abb. 5
Abbildungsverzeichnis
Das Mehrspeichermodell der Informationsverarbeitung von Atkinson und Shiffrin (1968). (Quelle: modifiziert nach Atkinson und Shiffrin 1968)������������������������������������������������������������������������������������������������ 633 Das Mehrspeichermodell von Baddeley (2012) und das Embedded-Process-Modell von Cowan (2005). (Quelle: aus Ozimič 2020)���������� 635 Oben: Die drei Arten des Cognitive Load im Rahmen der Cognitive Load Theory. Die mentale Belastung beim Lernen sollte die Arbeitsgedächtniskapazität nicht überschreiten. Andernfalls kommt es zum mentalen Overload, wenn Cognitive Load die Arbeitsgedächtniskapazität übersteigt (oben). Lernen kann hier verlangsamt, fehlerhaft oder gar nicht stattfinden. Lässt die mentale Belastung beim Lernen freie Verarbeitungskapazität im Arbeitsgedächtnis, kann die Aufgabe ohne Problem bearbeitet werden (Mitte). Freie Arbeitsgedächtniskapazität kann als Germane Load für die Bearbeitung der Aufgabe genutzt werden (unten). (Quelle: Eigene Darstellung, modifiziert nach. Orru und Longo 2019; Moreno und Park 2010)������ 638 Der Modellrahmen der Cognitive Load Theory mit dem zentralen Konstrukt Cognitive Load, welcher durch die physische Lernumgebung (E), die Lernaufgabe (T) und die/den Lernende/n selbst (L) sowie alle möglichen Interaktionen resultiert. (Quelle: aus Choi et al. 2014; vgl. auch Paas und van Merriënboer 1994)�������������������������������� 639 Das 4C/ID-Modell für Trainingsprogramme (übersetzt und adaptiert nach: Sweller et al. 2019; van Merriënboer und Kirschner 2018a; van Merriënboer 2019): Die im Polizeitraining anzuvisierende Automatisierung von Handlungsabläufen erlaubt auch noch unter Stress und Lebensgefahr einen hinreichend funktionalen Abruf aus dem Langzeitgedächtnis.�������������������������������������������������������������������������������������� 641
Abb. 1
Entwicklung ausgewählter Delikte der Gewaltkriminalität (BKA, Juni 2020, S. 167) ���������������������������������������������������������������������������������������� 739
Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3
Darstellung der EIKO-Strategie (Eigene Darstellung) �������������������������������� 799 Schema der Kooperativen Konfliktlösung. (Berkel 2020, S. 120)���������������� 802 Phasen der Gewalteskalation nach Breakwell in Verknüpfung mit der 3D-Strategie (eigene Darstellung)���������������������������������������������������������� 802 Checkliste EIKO-Strategie (Eigene Darstellung) ���������������������������������������� 804
Abb. 4 Abb. 1
Repräsentativität und Handlungsspielraum: Durch Erhöhung der Repräsentativität des Lerndesigns steigt der Anpassungsdruck an die gestiegenen Umweltanforderungen (und damit das Stressniveau). Die Handlungsmöglichkeiten (insbesondere von Noviz*innen) werden hierdurch eingeschränkt. Effizientes Training sorgt dafür, dass bei erhöhter Repräsentativität der Trainingsumgebung der
Abbildungsverzeichnis
Abb. 2
Abb. 3
XXXI
individuelle Handlungsspielraum zur Bewältigung der Umweltanforderungen vergrößert wird (= rot schraffierter Bereich). (Quelle: Eigene Darstellung angelehnt und modifiziert nach Araújo et al. 2009)������ 817 Blick in die in Indoor-Schießstätte (oben). Trainierende Einsatzkraft des SEK mit Kurzwaffe im Anschlag in der „alten“ (unten links) und in der „neuen“ Übungsanordnung (unten rechts). In der letzteren Version hat der Schütze die Aufgabe, bewaffnete Täter zu identifizieren und bis zur finalen Wirkung zu bekämpfen. Hier ist also zunächst Wahrnehmen der Personen und deren mögliche Bewaffnung erforderlich. Anschließend muss die Entscheidung, zu schießen oder nicht zu schießen, getroffen werden, bevor das Schießen letztlich motorisch ausgeführt wird. Zusätzlich kann der Auftrag sein, sich Informationen der gezeigten Personen oder von fiktiven Nachfolgeaufträgen zu merken. Das Training findet stets in vollständiger Einsatzausrüstung statt, bestehend aus ballistischem Schutzhelm mit Hörsprechgarnitur (Funk) und Schutzbrille, Plattenträger, Einsatzgürtel einschließlich Ersatzmagazinen und zusätzlichen Utensilien sowie Einsatzstiefel und -bekleidung. (Quelle: Foto Christian Beck®) �������������������������������������������������������������������� 818 Der Lerneffizienz-Repräsentativitäts-Gradient für polizeiliches Einsatztraining: Gemäß dem „ecological dynamics“-Ansatz ist die Lernumgebung repräsentativ für den Einsatz zu gestalten. Werden reale Einsatzbedingungen im Training nicht (genügend) abgebildet, sind der Trainingstransfer und damit der Lernerfolg eher gering (aktueller Ist-Zustand). Bei hoher Repräsentativität des Lerndesigns kann Lernen effizient gelingen (zukünftiger Soll-Zustand). Der Lerneffizienz-Repräsentativitäts-Gradient soll den Einsatztrainer*innen eine Orientierungshilfe für die Trainingsgestaltung gemäß dem „ecological dynamics“-Ansatz liefern. (Quelle: Eigene Darstellung)���������� 821
Abb. 1
Skizze segmentierter Handlungsschritte������������������������������������������������������ 829
Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4
Handlungsoptionen bei Angriffen mit scharfkantigen Gegenständen���������� 901 Hormoneller Stresshaushalt im polizeilichen Kontext��������������������������������� 907 Hormoneller Stresshaushalt im Training������������������������������������������������������ 908 Zeitstrahl mit Bezug zum OODA-Loop des amerikanischen Militärstrategen John Boyd�������������������������������������������������������������������������� 909
Abb. 1
Kern- und Oberflächenkompetenzen (Staar et al. 2019, S. 100, nach Spencer und Spencer 1993, S. 11)���������������������������������������������������������������� 932 Haus der Handlungskompetenz (nach Weißer 2008)������������������������������������ 933 Zielhierarchie des Studiengangs B.A. PVD seit 2012���������������������������������� 935
Abb. 2 Abb. 3
XXXII
Abb. 4
Abbildungsverzeichnis
Abb. 7
Vereinfachte Darstellung der Theorie-, Trainings- und Praxisphasen im BA-Studiengang der Polizei NRW und zeitlich zugeordnete Lehrveranstaltungen des TSK und der BRR (die Trainingshasen und teils die Praxisphasen im 3. Studienjahr werden aus Kapazitätsgründen in zeitlich versetzten Halbgruppen durchgeführt; der exakte Studienverlaufsplan kann auf der Homepage der HSPV NRW heruntergeladen werden.)������������������������������������������������������������������������������ 936 Stellenwert des TSK im Studium anhand verschiedener Aspekte (1 = sehr gering; 5 = sehr hoch)�������������������������������������������������������������������� 940 Beurteilung der Wichtigkeit von Inhalten und Methoden im TSK (1 = gar nicht wichtig; 5 = sehr wichtig)������������������������������������������������������ 941 Zeitliche Aspekte des TSK (1 = gar nicht wichtig; 5 = sehr wichtig)���������� 943
Abb. 1
Eigensicherung kontextabhängig������������������������������������������������������������������ 951
Abb. 5 Abb. 6
Tabellenverzeichnis
Tab. 1
Polizeiliches Anforderungsprofil nach Nettelstroth, Martens und Binder (2019, S. 23)������������������������������������������������������������������������������������ 125
Tab. 1
Sieben Lernhemmnisse und ihre Erklärungen im Kontext polizeilicher Handlungspraxen�������������������������������������������������������������������������������� 156
Tab. 1
Leitlinien für Polizeiautorität���������������������������������������������������������������������� 196
Tab. 1
Übersicht Kompetenzdimensionen und Möglichkeiten der Kompetenzerweiterung������������������������������������������������������������������������������������������ 303
Tab. 1
Statistik zu Fällen von polizeilichem Schusswaffengebrauch im Jahr 2017–2019. (Quelle: Mitteilungen der Innenministerkonferenz) ������ 333 Schießergebnisse für die vier unterschiedlichen Bedingungen (Gruppenmittelwerte und -standardabweichungen der vier einzelnen Schüsse sowie der Summe der Serie)�������������������������������������������������� 341
Tab. 2
Tab. 1
Anzahl Opfer gewordener Polizeivollzugsbeamt*innen nach Jahr. (Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik)������������������������������������������������������ 505
Tab. 1
Beispiel für das Constrainen von situativer Aufmerksamkeit von Polizist*innen im Einsatztraining als Ressource für den Umgang mit Überraschung. (Koerner und Staller 2020)������������������������������������������ 601
Tab. 1
Zentrale Konzepte im Zusammenhang mit der CLT im Überblick (adaptiert nach: Khalil et al. 2005) ������������������������������������������������������������ 636
Tab. 1
Überblick über polizeiliche Einsatzzenarien in der Stressforschung��������� 659
Tab. 1
Feinziele und Themen der Trainings in der Ausbildung g. D.�������������������� 780
Tab. 1
Mögliche Aufgaben MMA-Bingo�������������������������������������������������������������� 856
XXXIII
Teil I Grundsätzliches
Die Verantwortung des Einsatztrainings: Die Welt besser machen Mario Staller und Swen Koerner
Inhaltsverzeichnis 1 V erantwortungsbereich 1: Training für den Einsatz 2 Verantwortungsbereich 2: Bilder der Gesellschaft und der Polizei 2.1 Gefährlichkeit des Polizeiberufs 2.2 Stereotypen 2.3 Diversität 2.4 Storytelling 3 Verantwortungsbereich 3: Sprache 4 Verantwortungsbereich 4: Wissensmanagement 5 Verantwortungsbereich 5: Reflexivität Literatur
5 6 6 8 9 9 10 11 12 15
Reviewer*innen: Anne Dörner, Thomas Feltes, Christof Römer M. Staller (*) Fachbereich Polizei, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Koerner Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research, Deutsche Sporthochschule, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_1
3
4
M. Staller und S. Koerner Zusammenfassung
Das polizeiliche Einsatztraining hat eine große Verantwortung. Junge Polizist*innen werden im Rahmen ihrer Erstsozialisation ausgebildet; in der Praxis tätige Polizist*innen werden weiter in einsatz- und konfliktrelevanten Bereichen geschult und weiterentwickelt. Neben diesen Inhalten werden innerhalb des Lehr-Lern-Settings auch Werte, Einstellungen und Sichtweisen auf polizeiliche Einsatz- und Konfliktsituationen vermittelt. Der vorliegende Beitrag zeigt hierbei die Verantwortung des Einsatztrainings auf, zu einer sozialen und gerechten Gesellschaft beizutragen. Anhand der Verantwortungsbereiche in Bezug auf (a) die Ausrichtung am Einsatz, (b) die vermittelten Gesellschaftsbilder und Bilder der Polizei, (c) die verwendete Sprache, (d) das Wissensmanagement sowie (e) die Reflexivität skizzieren wir Potenzial für ein Einsatztraining, das sich der eigenen Verantwortung bewusst ist.
Die Polizei steht in der Kritik (Howe und Ostermeier 2019; Hunold und Ruch 2020; Loick 2018). Zahlreiche Vorfälle, die sich 2020 zugetragen haben oder ans Licht gekommen sind, haben das Vertrauen der Bevölkerung in die Arbeit der Polizei sinken lassen. Während verschiedene Ansätze zur Verbesserung der gesellschaftlichen Gesamtsituation diskutiert werden, wollen wir uns mit diesem Beitrag auf das Einsatztraining selbst beziehen und dabei die Rolle verfolgen, die es möglicherweise zu einer Verbesserung der Situation spielen könnte. Das Bildungspotenzial des Einsatztrainings und die Vorbildfunktion von Einsatztrainer*innen sind klar dokumentiert (Branch 2020; Christie et al. 1996; Doreian und Conti 2017; Staller et al. 2021b), wenngleich das Einsatztraining als Forschungsgegenstand erst jüngst in den Fokus polizeiwissenschaftlicher Forschung geraten ist und bisher – gerade in Deutschland – eher weniger als sozialisierender Prozess wahrgenommen wurde. Während regelmäßig Fragestellungen der Trainingsoptimierung im Mittelpunkt stehen, erwarten wir von reflektierten Praktiker*innen, dass sie selbst einen Schritt hinter das eigene Handeln zurücktreten und beispielsweise die Grundlage für bestimmte Selektionsentscheidungen selbst reflektieren. Für uns als Forscher*innen gilt das ebenfalls, auch wir müssen reflektieren, auf was wir uns fokussieren und warum – und auf was eben nicht. Auch von Einsatztrainer*innen erwarten wir selbiges: das reflexive Hinterfragen der eigenen Auswahlentscheidung für oder gegen Inhalte oder Trainingsmethoden. Gleiches gilt aber auch für unbeabsichtigt mitschwingende Werte oder Einstellungen, welche möglicherweise als Bestandteile eines verdeckten Lehrplans im Rahmen des Trainings stille Wirkung entfalten (Staller et al. 2019b). Wir legen im Folgenden einige Aspekte dar, die uns im Rahmen einer reflexiven Gestaltung des Einsatztrainings und zur Gestaltung einer modernen, bürgerorientieren Polizei wichtig erscheinen und für die es Anhaltspunkte gibt, dass hier blinde Flecken inner-
Die Verantwortung des Einsatztrainings: Die Welt besser machen
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halb des Einsatztrainings bestehen. Reflexiv deswegen, weil es weniger um den Inhalt, sondern um die begründete Auswahl des Inhaltes und die Kommunikation des Inhaltes an die Lerner*innen geht. Wir weisen hier zusammengefasst einige Aspekte aus, über die sich Einsatztrainer*innen und Entscheider*innen über Belange des Einsatztrainings zwingend bewusst sein sollten. Teilweise werden diese Aspekte in entsprechenden Kapiteln des vorliegenden Handbuches thematisiert, teilweise ist noch weitere Forschung nötig. Wir haben die einzelnen Aspekte als „Verantwortungsbereiche“ gekennzeichnet. Die Auswahl erfolgte unsererseits basierend auf unserer „gefühlten“ Verantwortung, die wir als Forscher auf dem Gebiet des polizeilichen Einsatztrainings selbst sehen. Diese gründen wir normativ-ethisch auf der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und dem langfristigen Ziel einer fairen, gerechten und nachhaltigen Gesellschaft für alle Menschen. Basierend auf Evidenzen, welche Handlungsbedarf im Training und in der Sozialisation von Polizist*innen sehen, sollen mit den nachfolgenden Reflexionen Aspekte in den Fokus gerückt werden, die auf möglicherweise blinde Flecken in der Praxis des Einsatztrainings verweisen und somit Raum für deren Beseitigung geben. Mit der Sichtbarmachung möglicher blinder Flecken übergeben wir damit die Verantwortung zu deren Beseitigung auch an das Einsatztraining und die dort tätigen Personen: Einsatztrainer*innen und Entscheider*innen.
1
Verantwortungsbereich 1: Training für den Einsatz
Einsatztraining ist Training für den Einsatz (Körner und Staller 2020a; Staller und Körner 2020). Damit einher geht eine doppelte Verantwortung: zum einen die Verantwortung auf den Einsatz vorzubereiten, und zum anderen effektiv in dieser Vorbereitung darauf zu sein. Mit Blick auf die Zielerfüllung besteht in beiden Fällen teilweise Grund zur Skepsis (Jager et al. 2013; Körner et al. 2019a; Staller et al. 2019a). Problematiken scheinen in Bezug auf die engere trainingspädagogische Gestaltung, aber auch mit Blick auf die vermittelten und gelehrten Inhalte zu existieren (für einen Überblick siehe Körner und Staller 2020a; Staller und Körner 2019b, 2020). So scheint ein Überhang an Trainingsinhalten – zumindest für Anwärter*innen im Studium – in Bezug auf zwangsorientierte Konfliktlösung zu existieren (Staller und Koerner 2021), welche unreflektiert angenommen wird, aber immer wieder zu Irritationen im Vergleich zu den Praxiserfahrungen steht (Körner et al. 2019a, b). Auch auf trainingspädagogischer Ebene scheinen pädagogische Konzepte vorzuherrschen, welche zum einen in Bezug auf die Effektivität im konkreten Kontext überdenkenswert sind (Cushion 2020; Staller et al. 2021d) und zum anderen implizit Einstellungen transportieren, welche eher kriegerische Werte transportieren (Chappell und Lanza-Kaduce 2010; Li et al. 2020). Es liegt in der Verantwortung der am Einsatztraining beteiligten Personen, sich dieser Problematiken bewusst zu werden und das Einsatztraining an der Einsatzpraxis auszurichten. Dies bezieht sich auf trainingspädagogische Fragen, die Organisation und Struktur sowie auf inhaltliche Fragen. Gerade in Bezug auf den Inhalt stellen sich hier wichtige Fragen mit Blick auf die Konfliktlösung: Welche In-
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M. Staller und S. Koerner
halte erscheinen in welchem Umfang für welchen Nutzer*innenkreis sinnvoll? Wie kann Kooperation zwischen Bürger*innen und Polizei in der Interaktion gefördert werden? Wie kann das gesellschaftliche Vertrauen als wichtige Ressource in der Interaktion verdient werden? Welche sozialen Skripte als Produktionsregeln für Konfliktsituationen werden vermittelt? Welche ethisch-normativen Überzeugungen werden dabei explizit und implizit (mit-)vermittelt? Diese inhaltlichen Fragen gehen damit über die kurzfristige Einsatzbewältigung hi naus. Vielmehr ist das polizeiliche Einsatzverhalten in einem größeren Rahmen zu betrachten, ein Aspekt, der auch in einer Novellierung des polizeilichen Einsatzmodells so zum Tragen kommt (Staller et al. 2021e). Das Einsatztraining hat die Verantwortung, auf den Einsatz vorzubereiten – auf Einsätze, die die Gesellschaft positiv beeinflussen. Es geht also auch darum, in physischen Konfliktsituationen menschlich und auf Augenhöhe zu handeln. Als Beispiel soll hier die Veröffentlichung einer Auseinandersetzung eines Polizisten mit einem alkoholisierten Menschen auf Twitter dienen. Der Polizist spricht vom Bürger als „Kontrahent“ und wünscht ihm trotz Beleidigungen und physischer Gewaltanwendung „Viel Liebe und Alles Gute für die Zukunft“ (Dobrowolski 2020). Der Tweet wurde nach fünf Tagen bereits 1.435-mal retweetet, wurde 21.252-mal als „Gefällt mir“ markiert (Stand: 11.12.2020, 14:50) und erzeugte gesamtgesellschaftlich positive Resonanz (Twitterperlen 2020).
2
erantwortungsbereich 2: Bilder der Gesellschaft und V der Polizei
Das Einsatztraining transportiert über die vermittelten Inhalte, über das Verhalten des/r Trainer*in, über Literatur etc. Bilder der Gesellschaft und der Polizei, welche ihrerseits im Verhalten von Polizeibeamt*innen Wirkung entfalten (Branch 2020). Sich dieser Bilder bewusst zu sein und deren Inhalt und Wirkung kritisch zu reflektieren, ist von essenzieller Bedeutung für die Beziehung zwischen Polizei und Zivilgesellschaft.
2.1
Gefährlichkeit des Polizeiberufs
Ein rekurrierend transportiertes Bild ist dabei das Narrativ von der Gefährlichkeit des Polizeiberufs. Das Narrativ, dass der Polizeiberuf sehr gefährlich sei, hält sich innerhalb der Polizei und wird dort kontinuierlich weitergegeben. Das Narrativ wird dann als Fakt bewertet (Branch 2020; Demarée 2017; Gibbs 2019; Kurtz und Upton 2017a; Lynch 2017; Marenin 2016; Woods 2019). Neben verschiedenen Akteuren (Polizeigewerkschaften, Politiker*innen, Entscheider*innen, Medien etc.) wird das Narrativ auch von Einsatztrainer*innen regelmäßig weiterverbreitet (Branch 2020): entweder direkt („Don’t let them kill you on some dirty roadway“ (Lynch 2017)) oder indirekt durch das überproportionale Trainieren von hochgradig gefährlichen Situationen, mit welchem der Be-
Die Verantwortung des Einsatztrainings: Die Welt besser machen
7
darf für das Einsatztraining bei den Lerner*innen geschaffen werden soll (Staller et al. 2019b, 2021c). Auch Verbände und Trainingsorganisationen wie beispielsweise Polizeitrainer in Deutschland e.V. haben an der Erhaltung und dem weiteren Ausbau dieses Narrativs einen Anteil. So zeigt das Cover des jährlich erscheinenden Magazins des Vereins seit seiner Gründung 1996 überwiegend Bilder, die explizit auf die Gefährlichkeit des Polizeiberufs hinweisen sollen. Auch die einmal jährlich stattfindende Polizeitrainerfachkonferenz, an der regelmäßig mehrere Hundert Einsatztrainer*innen aus dem deutschsprachigen Raum teilnehmen, sind hier keine Ausnahme. Thematisch nimmt die Gefährlichkeit des Polizeiberufs einen prominenten Raum ein; die polizeiliche Zwangsanwendung steht im Mittelpunkt (Polizeitrainer in Deutschland 2019). Daten aus Studien zur Wissensgenerierung von Einsatztrainer*innen zeigen, dass gerade der Austausch auf derartigen Symposien mit Kollegen*innen einen besonderen Wert hat (Staller et al. 2021a). Das Narrativ verfestigt sich dadurch weiter. Populärwissenschaftliche Literatur zur Einsatzbewältigung bedient das Narrativ ebenfalls, international (Asken und Grossman 2010; Grossman 1996; Grossman und Christensen 2007; Jetmore 2005; Schaffer 2013; Siddle 1995; Voncannon 2000) wie national (Füllgrabe 2002, 2014; Grandel 2015; Schmidt 2017): Der polizeiliche „Krieger“ stellt sich der Gefahr, die „[…] ein ständiger Begleiter des Polizeibeamten, jeden Tag […]“ ist (Grandel 2015, S. 59). Die hier zu vernehmende Kriegermentalität ist für eine demokratisch orientierte Polizeiarbeit problematisch (Körner und Staller 2020c; Stoughton 2015). Demokratische Formen der Polizeiarbeit konzentrieren sich auf die Schaffung von Legitimität durch Verfahrensgerechtigkeit, die in einer fairen und respektvollen Behandlung wurzelt, sowie auf gemeinschaftsorientierte Polizeiprogramme, die auf die Gesellschaft als Ganzes ausgerichtet und partizipativ sind (Trinkner et al. 2016). Die Kriegermentalität hingegen fördert ein Selbstbild von Polizist*innen als Soldaten an der Front in einem nicht enden wollenden Kampf zur Bewahrung von Ordnung und Zivilisation gegen die Kräfte des Chaos und der Kriminalität. Der Aufbau von Vertrauen zwischen Polizei und Bürger*innen fällt hier hinter Herangehensweisen zurück, welche als misstrauisch und auf Konfrontation angelegt beschrieben werden können (Stoughton 2016). Das Narrativ der ständigen Gefahr verstärkt diese Kriegermentalität (Branch 2020; Stoughton 2015). Dabei sprechen die Zahlen eine andere Sprache: Im historischen Längsschnitt sowie im Vergleich zu anderen Berufen ist der Polizeiberuf sicherer denn je (Gibbs 2019; Staller und Körner 2019b). Zwar ist der Umgang mit Gewalt dem Polizeiberuf immanent, doch begründet ein regelmäßiges Auseinandersetzen mit Konfliktsituationen nicht die Gefährlichkeit eines Berufes. Empirische Daten geben keinen Hinweis darauf, dass unvorhergesehene und ohne Einflussmöglichkeit auftretende Gewalthandlungen gegenüber Polizist*innen zur Normalität des Polizeiberufs gehören. Im Gegensatz dazu normalisiert sich durch kommunikative Wiederholung einer kontinuierlichen Gefährdung die Vorstellung einer allgegenwärtigen Gefahr der Polizeiarbeit. Die Schlussfolgerung ist auch in Hinsicht auf ihre Folgen problematisch (Branch 2020): „Exposing recruits to the production and normalisation
8
M. Staller und S. Koerner
of precarity of policing in the academy setting is a mechanism through which the intimate entanglement between policing and danger continues to be cemented and has lasting implications for police practice and behaviour“ (S. 13). Eine subjektiv erhöht wahrgenommene Gefährlichkeit des Berufes führt zu höherem Gewalterleben im Dienst (Baier 2020), subjektiv wahrgenommene Antipathie der Gesellschaft gegenüber der eigenen polizeilichen Berufsgruppe zu mehr Zwang und einer Abkapselung von der Zivilgesellschaft (Boivin et al. 2018; Marier und Moule 2019). Die Wahrscheinlichkeit zur Ausübung von Polizeigewalt steigt dadurch (Marenin 2016). Aus aggressionspsychologischer Sicht ergeben sich noch weitere Problematiken: Ambigue Verhaltensweisen von Bürger*innen werden als Anzeichen einer bevorstehenden Gefahr wahrgenommen (Kahn et al. 2017; Staller und Körner 2019a). Die Wahrscheinlichkeit zur Ausübung von aggressiven Handlungen steigt dadurch, da sich Polizist*innen durch das missinterpretierte Verhalten bedroht fühlen. Wenn die eigene subjektive Welt als gefährlicher Ort wahrgenommen wird, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, selbst aggressive Handlungen vorzunehmen (Huesmann 2018). Der Transport eines empirisch fragwürdigen Narrativs ist demnach mit beachtenswerten Kosten verbunden: einer Steigerung aggressiven Verhaltens durch Polizist*innen. Aber auch die Wissenschaft – darunter wir selbst – muss sich an dieser Stelle reflektieren, wenn sie dieses Narrativ transportiert (z. B. (Bochenek und Staller 2014; Boe et al. 2020; Füllgrabe 2016)). Der wissenschaftliche Diskurs in begutachteten Fachjournalen ermöglicht und gebietet an dieser Stelle entsprechende Kommentare (Körner und Staller 2020c). Ein Aspekt der Qualitätssicherung, der im Bereich des Einsatztrainings so nicht existiert. Es veröffentlicht, wer etwas veröffentlichen will und die entsprechenden Zugänge zu Verleger*innen hat. Entsprechend gehen wir mit diesem Handbuch einen anderen Weg. Die einzelnen Beiträge werden begutachtet, um so eine gewisse Qualität der Beiträge sicherzustellen. Dies gilt für die Einordnung in den gesamtwissenschaftlichen Diskurs, aber auch für eine mögliche Verzerrung in eine ethisch-normativ problematische Richtung.
2.2
Stereotypen
Innerhalb der polizeilichen Aus- und Fortbildung und der dafür verwendeten Literatur werden teilweise Stereotype transportiert, welche als hoch problematisch anzusehen sind. Dies betrifft stereotypische Bilder zur (angenommenen) Herkunft von Menschen (z. B. (Heubrock et al. 2011, 2012)), verwandtschaftliche Verbindungen zu Familien (z. B. (Dienstbühl 2019)) oder zum mentalen Gesundheitszustand von Menschen (Staller, unveröffentlichte Daten aus Hausarbeiten im Rahmen des polizeilichen Hochschulstudiums). Die negativen Auswirkungen stereotypischer und stigmatisierender Bilder auf das gesamtgesellschaftliche Zusammenleben sowie gleichberechtigter Teilhabe sind profund (Boettner und Schweitzer 2020; Feltes und Rauls 2020). Die negativen Auswirkungen zeigen sich auf in der Polizei-Bürger*innen-Interaktion: erhöhte stereotypbasierte Kon
Die Verantwortung des Einsatztrainings: Die Welt besser machen
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trollen (Kahn und Martin 2020) sowie mehr Zwangshandeln (Kahn et al. 2017). Auch antiquierte Genderstereotype werden regelmäßig innerhalb der Polizei (Behr 2008; Hunold 2019) und innerhalb des Einsatztrainings (Cooper 2009; Cushion 2020; Körner et al. 2019a; Staller et al. 2019b) transportiert: die Frau als nicht geeignetes Individuum zur Konfliktlösung im Einsatz. Auch hier spricht die Empirie eine andere Sprache (Jaeckle et al. 2019; Nickel 2015).
2.3
Diversität
Die Polizei tut sich mit Diversität noch schwer (Genkova 2019). Doch was im Großen für die Polizeiorganisation gilt, erscheint auch für das Einsatztraining beachtenswert. Daten aus Erhebungen zum biografischen Hintergrund von Einsatztrainer*innen (Körner et al. 2019c) legen das Bild eines prototypischen Einsatztrainers nahe: weiß, männlich, ohne Migrationshintergrund, erfahren in der Anwendung physischer Mittel durch Kampfsport, Verwendung in polizeilichen Spezialeinheiten oder geübt im Umgang mit Schusswaffen durch privates Engagement. Während diese Eigenschaften für uns selbst auch zutreffen, im Einzelfall nicht problematisch sind und zudem wichtige fachliche Expertisen ausweisen, geht auf einer strukturellen Ebene damit die Gefahr eines verzerrten Welt- und Berufsbildes einher. Wer etwa (wie wir selbst) vor allem zu kämpfen gelernt hat, muss seine sozialisatorisch eingeschriebenen Handlungspräferenzen in Bezug auf andere Sichtweisen und Perspektiven der polizeilichen Einsatzbewältigung überprüfen. Geschieht dies nicht und wird dies auch nicht auf behördlicher Ebene etwa durch Rekrutierungskriterien und Fortbildungen eingefordert, steigt die Wahrscheinlichkeit des Transportes von homogenen Welt-, Gesellschafts- und Konfliktbewältigungsbildern.
2.4
Storytelling
Der Transport von Narrativen und stereotypischen Welt- und Gesellschaftsbildern erfolgt auf unterschiedlichsten Wegen: durch Literatur, durch die Auswahl von Trainingsinhalten, durch den Umgang mit Lerner*innen. Ein besonders hervorstechender – weil auch gut erforschter Aspekt – ist das Storytelling, das Geschichtenerzählen innerhalb des Polizeisystems (Hulst 2013; Smith et al. 2014). Das Erzählen von Geschichten trägt maßgeblich dazu bei, das Bild der Gesellschaft, das Wesen der Polizeiarbeit von Polizist*innen, Stereotype, Hierarchien und Dominanzstrukturen zu bilden, zu festigen und zu verstärken (Branch 2020; Hulst 2013, 2017; Kurtz und Upton 2017b; Rantatalo und Karp 2018; Woods 2019). Polizeiliche Lehrkräfte nutzen das Geschichtenerzählen in besonderem Maße (Branch 2020; Lynch 2017). Welche Geschichten wie erzählt, welche Bilder reproduziert werden, ist damit ebenfalls eine Verantwortung des Einsatztrainings? Rekurrente, das Bild der Realität verzerrende und bereits erforschte Themen beinhalten
10
M. Staller und S. Koerner
• die Gefährlichkeit des polizeilichen Tätigwerdens (Branch 2020; Lynch 2017; Woods 2019) – obwohl die Realität anders aussieht (Gibbs 2019), • die Notwendigkeit einer militaristischen Einstellung, um mit der narrativ transportierten Annahme der täglichen Gefährdung umzugehen (Kurtz und Upton 2017a; Lynch 2017) – obwohl andere Einstellungen ethisch-normativ gebotener und zielführender erscheinen (Mummolo 2018; Stoughton 2015, 2016), • Genderstereotype, die männliche Dominanz innerhalb des Polizeiberufs verfestigen, indem männliche Polizisten als Helden und weibliche Polizisten als hilfebedürftige Opfer (gerade in Konfliktsituationen) konstruiert werden (Kurtz und Upton 2017b) – obwohl Studien zur Konfliktlösekompetenz hier anderes nahelegen (Jaeckle et al. 2019; Nickel 2015), • den Polizeiberuf als kontinuierlich spannenden, herausfordernden und aufregenden Beruf, in dem viel passiert (Branch 2020) – obwohl häufig nichts zu tun ist und Langeweile dominiert (Phillips 2016). Zusammengefasst muss das Einsatztraining sich hier der eigenen Wirkung bewusst sein. Welche Weltbilder werden transportiert? Welche Stereotype reproduziert? Welche Geschichten erzählt? Welche nicht? Kritische Reflexion ist eine Grundvoraussetzung professionellen Handelns.
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Verantwortungsbereich 3: Sprache
Die Sprache prägt unser subjektives Verständnis der Realität (Felder 2009). Damit kommt ihrem bewussten Nutzen – gerade in Bildungskontexten wie dem Einsatztraining – eine enorme Bedeutung zu. Was im Einsatztraining gesagt wird, was in Handreichungen und in entsprechender Literatur wie geschrieben steht, hat Einfluss auf die Sichtweise der/s Rezipienten. Entsprechend hat das Einsatztraining auch hier eine Verantwortung. Die ist gerade vor dem Hintergrund wichtig, dass Polizist*innen sich abwertend über bestimmte Menschengruppen äußern (Kyprianides et al. 2021; Radburn et al. 2020; Voigt et al. 2017). Das Einsatztraining hat gerade in seiner sozialisierenden Wirkung Vorbildfunktion: das Nutzen einer konsequent vorurteilsfreien und inklusiven Sprache. Dies betrifft • Die Abbildung aller Geschlechter (z. B. „Liebe Damen, Herren und Diverse“, „Hey zusammen“ etc.), • das Nutzen einer personenzentrierten Sprache (z. B. „Menschen ohne Obdach“), • das Nutzen einer entstigmatisierenden Sprache (z. B. „Mensch in der Krise“, „Mensch mit einem Alkoholproblem“ etc.), • die Präzisierung von Menschen durch tätigkeitsorientierte Zuschreibungen (z. B. „ein Mensch, der gerade nackt in den Brunnen steigt“) • und die Vermeidung von gruppenorientierten Zuschreibungen (z. B. in Bezug auf Geschlecht, Herkunft, Familienzugehörigkeit, mentalen Gesundheitszustand, Drogenproblematik etc.).
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Studien belegen, dass im Laufe der polizeilichen Sozialisation vermehrt eine Abkapselung von der Zivilgesellschaft erfolgt und eine „wir gegen die“-Mentalität entsteht (Boivin et al. 2018). Der Fokus auf die Generierung und Erhaltung einer sozialen Identität als Polizei auf der einen Seite (wir) im Verglich zu den „Anderen“ auf der anderen Seite (die) scheint hierbei besonders problematisch, da hierdurch zwei soziale Identitäten verfestigt werden, die eigentlich zu einer gehören: die Gesellschaft (Radburn et al. 2020). Narrative wie beispielsweise der Gefährlichkeit oder der Einzigartigkeit des Polizeiberufs tragen ihren Teil dazu bei, die getrennten sozialen Identitäten zu manifestieren (Branch 2020). Gerade mit Blick auf gerechtes polizeiliches Verhalten zeigen Konzepte wie die Theorie der prozeduralen Gerechtigkeit, dass sich dadurch Polizei-Bürger*innen-Interaktionen verbessern lassen (Antrobus et al. 2019; Wood et al. 2020). Die Grundlage hierfür ist ein gemeinsames Verständnis als eine soziale Gruppe: unsere Gesellschaft (Radburn et al. 2020). Vor diesem Hintergrund müssen auch polizeiliche Begrifflichkeiten infrage gestellt werden. Das – begrifflich häufig genutzte – „polizeiliche Gegenüber“ (Behr 2020) impliziert eine Gegenposition: Der Begriff prägt das Konzept des Gegners. Und Polizist*innen müssen Gegner „dominieren“ (Dienstbühl 2019, S. 14). Entsprechend macht es einen gewaltigen Unterschied, ob Adressat*innen einer polizeilichen Maßnahme als Bürger*innen oder als Gegenüber gesehen werden (Zaiser und Staller 2015). Das eine (Bürger*innen) stellt eine soziale Identität in den Mittelpunkt, schließlich ist der/die Polizist*in selbst Bürger*in, und ermöglicht damit eher Zugang zu kooperativer Konfliktlösung, das andere (Gegenüber) stellt das andere und damit eine andere als die eigene soziale Identität in den Mittelpunkt. Kooperative Konfliktlösung wird dadurch erschwert (Zaiser und Staller 2015), die Abgrenzung der Polizei wahrscheinlicher (Boivin et al. 2018). Entsprechend erachten wir es als geboten, Interaktionspartner*innen polizeilichen Handelns als Bürger*in oder eben ganz kommunikationstheoretisch, also Adressat*in einer Maßnahme oder Empfänger*in, zu benennen.
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Verantwortungsbereich 4: Wissensmanagement
Eine weitere Verantwortung des Einsatztrainings liegt im Bereich des Umgangs mit Wissen (Körner und Staller 2020b, 2021). Dies betrifft die (a) Wissensgenerierung, (b) das Nutzen vorhandener Wissensbestände sowie (c) die Verteilung der Wissensstrukturen. Was vergleichsweise abstrakt klingt, betrifft auf polizeipraktischer Ebene mehrere Aspekte. In Bezug auf die Wissensgenerierung: • Welche Studien werden angestoßen und durchgeführt, welche nicht? Im Kontext begrenzter Ressourcen muss das Einsatztraining priorisieren und sich der dargestellten Verantwortung stellen. • Wie wird aus Einsatz- und Trainingserfahrungen systematisch Wissen generiert, welches dem System Einsatztraining zur Verfügung steht? Wie wird die Generierung dieser Wissensbestände im Sinne der dargestellten Verantwortungsbereiche reflektiert?
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Die Problematiken der Narrative und des Storytellings zeigen überdeutlich, dass systematische Wissensstrukturen hinter Anekdoten zurückfallen. In Bezug auf das Nutzen vorhandener Wissensbestände innerhalb der Polizei: • Wie und nach welchen Kriterien erfolgt die Selektion von am Einsatztraining beteiligten Personen? Wer wird Einsatztrainer*in? Wer wird hierfür ausgewählt? Wer wird Führungskraft im Einsatztraining? Verfügen die ausgewählten Personen über die notwendigen Fähigkeiten und Eigenschaften (siehe hier dargestellte Verantwortungsbereiche), um Polizei nachhaltig positiv zu beeinflussen? Bezogen auf die Verteilung der Wissensstrukturen mit Blick auf die Aus-, Fort- und Weiterbildung von am Einsatztraining beteiligten Personen: • Welche Literatur wird gelesen, welche nicht? Welche Quellen für Wissen werden genutzt, welche nicht? Welche Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen werden genutzt, welche nicht? Was sind die Relevanzkriterien hierfür? Wie werden Einsatztrainer*innen auf ihre Tätigkeit vorbereitet? Welche Rolle spielen hierbei die hier dargestellten Verantwortungsbereiche? Welche Rolle spielen politische Bildung, Trainingspädagogik und Reflexivität? Wie wird sichergestellt, dass die relevanten Aus-, Fort- und Weiterbildungen besucht werden?
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Verantwortungsbereich 5: Reflexivität
Ein abschließender Verantwortungsbereich liegt im Erkennen der eigenen Verantwortungsbereiche und in der damit einhergehenden Bewusstwerdung unterschiedlichster handlungsleitender Annahmen (Brookfield 2017). Die im Einsatztraining handelnden Personen müssen sich ihrer Entscheidungen bewusst sein und diese im Lichte der anderen Verantwortungsbereiche reflektieren. Dies bedeutet, sich bewusst über verschiedene Fragestellungen zu sein: • Warum werden welche Fähigkeiten unterrichtet? Was ist der Begründungszusammenhang? Woher kommen die Begründungen? Nach welchen trainingspädagogischen Ideen wird unterrichtet? Was sind die Gründe dafür? Was sind die Gründe für die trainingsorganisatorische Gestaltung des Einsatztrainings? (Verantwortungsbereich 1) • Welche gesellschaftlichen Bilder werden vermittelt und woher kommen diese? Was wird gegen problematische Welt- und Gesellschaftsbilder unternommen, welche Strategien implementiert? (Verantwortungsbereich 2) • Wo werden problematische Sprachcodes reproduziert, wo nicht korrigiert und wo nicht überarbeitet? (Verantwortungsbereich 3)
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• Woher kommen die Entscheidungsgrundlagen für die Auswahl von Personal im Einsatztraining, für Aus-, Fort- und Weiterbildungen, für Studien? Wie werden Änderungen in problematischen Bereichen angestoßen? (Verantwortungsbereich 4) • Wie wird Reflexivität im Kontext des Einsatztrainings begünstigt? Wo wird das nicht getan oder gar konterkariert? (Verantwortungsbereich 5) Mit der Reflexivität hinsichtlich der Verantwortungsbereiche wird deutlich, dass das Einsatztraining in einem größeren Zusammenhang zu betrachten ist. Das setzt hoch reflexives und professionelles Personal voraus, wenn die Verantwortung ernst genommen wird. Mit dem vorliegenden Werk wollen wir die Reflexivität des Einsatztrainings unterstützen. Entsprechend enden sämtliche Kapitel im (a) wissenschaftlichen Teil mit handlungspraktischen Ableitungen für die Praxis. Unterteilt nach Entscheider*innen, Einsatzkräften und Einsatztrainer*innen legen die Autor*innen dar, was der Mehrwert der dargestellten Wissensbestände für die Praxis ist. Unter Umständen werden damit auch blinde Flecken in der Praxis des Einsatztrainings aufgezeigt. Die Verantwortung der Reflexivität ernst genommen, gebietet es an dieser Stelle, die eigene Handlungspraxis (als Entscheider*in, als Einsatzkraft, als Einsatztrainer*in) kritisch zu hinterfragen. Die hier dargestellten Verantwortungsbereiche sowie die im Handbuch aufgeführten Wissensbestände sollten in der Praxis des Einsatztrainings mitgedacht werden. Das isolierte „Herauspicken“ einzelner Wissensbestände, welche passend erscheinen, ist selbst reflexionswürdig. Der/die reflektierende Praktiker*in bedient sich vollumfänglich an dem zu Verfügung stehenden Wissen und Evidenzen (Körner und Staller 2020a). Der (b) praktisch-reflexive Teil nimmt diese Reflexion beispielhaft an verschiedensten Konzepten des polizeilichen Einsatztrainings vor. Die prakademischen Autor*innen der Beträge setzen sich kritisch reflexiv mit in der Praxis bestehenden Konzepten auseinander, weisen auf Problematiken und bisher übersehende blinde Flecken hin und diskutieren mögliche weitere Schritte. Sie zeigen, wie Best-Practice-Tätigkeiten von reflektierten Praktiker*innen aussehen können. Fazit Einsatztrainer*innen sind Vorbilder, für Bürger*innen allgemein und für junge Polizist*innen im Besonderen (Staller et al. 2021b); Einsatztraining hat einen großen Einfluss auf die Sozialisation von Polizist*innen (Branch 2020). Dem Einsatztraining kommt damit eine wichtige Verantwortung hinsichtlich Veränderungen innerhalb der Polizei zu. Im vorliegenden Beitrag haben wir mehrere Verantwortungsbereiche skizziert, deren reflexiver Prüfung und Gestaltung sich das Einsatztraining stellen muss. Sofern normativ gilt, dass die Polizei nicht nur das Spiegelbild der Gesellschaft ist, sondern dabei sogar noch besser zu sein hat als die Gesellschaft selbst, gilt Gleiches für das Einsatztraining und die hier tätigen Personen. Das heißt an erster Stelle, die eigene Verantwortung zu erkennen und anzunehmen.
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Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
Das Einsatztraining hat eine Verantwortung im Hinblick auf die (a) die Ausrichtung am Einsatz, (b) die vermittelten Gesellschaftsbilder und Bilder der Polizei, (c) die verwendete Sprache, (d) das Wissensmanagement sowie (e) die eigene Reflexivität. Für die Akteur*innen heißt dies (neben den im Beitrag genannten Fragestellungen): a) Entscheider*innen Entscheider*innen sind vor allem für die strukturellen Rahmenbedingungen der einzelnen Verantwortungsbereiche verantwortlich. Dies betrifft • eine kontinuierliche Analyse der Einsatzrealität und konstruktiven Ausrichtung des Trainings danach, • das Einschränken und Begrenzen der Vermittlung von problematischen Bildern der Gesellschaft und der Polizei, • das kontinuierliche Fördern und Vorleben einer inklusiven, vorurteilsfreien Sprache, • das Rekrutieren, Aus- und Fortbilden von Personal entsprechend den Einsatzrealtitäten, das Sicherstellen von Diversität im Einsatztraingsbereich sowie das Fördern und Anstoßen von Studien und Analysen, die dem Abgleich zwischen Einsatz und Training förderlich sind, • eine kontinuierliche kritische Reflexion der getroffenen Entscheidungen und der darunterliegenden Annahmen und Begründungen. b) Einsatzkräfte Für die Einsatzkräfte heißt das Wahrnehmen der skizzierten Verantwortungsbereiche: • ein Aufsuchen von Fortbidlungsmaßnahmen, welche der eigenen Einsatzrealität entsprechen, • ein Einschränken und Begrenzen des Geschichtenerzählens, welche problematische Bilder der Gesellschaft und der Polizei transportieren, sowie das Hinweisen von Kolleg*innen darauf, • das konsequente Verwenden einer inklusiven, vorurteilsfreien Sprache, • das systematische Erheben von Daten zur eigenen Einsatzrealität, um so möglichen Verzerrungseffekten vorzubeugen, • eine kontinuierliche kritische Reflexion in Bezug auf die Übernahme der eigenen Verantwortung in Bezug auf die genannten Aspekte.
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c) Einsatztrainer*innen Einsatztrainer*innen nehmen die dargestellten Verantwortungsbereiche ernst, indem sie • zu vermittelnde Inhalte an der Einsatzrealität ihrer Trainingsteilnehmer*innen ausrichten und Trainings entsprechend gestalten, • sich der (negativen) Effekte des Geschichtenerzählens bewusst sind und Begründungen von trainingspädagogischen Entscheidungen auf empirische Belege und weniger auf Anekdoten und Erzählungen basieren sowie keine stereotypischen Bilder reproduzieren, • eine konsequent inklusive und vorurteilsfreie Sprache nutzen, • sich bewusst sind, welche Wissensbereiche für die eigene professionelle Trainingspraxis weiter ausgebaut werden müssen, und • sich der Entscheidungen, darunterliegenden Glaubenssätzen und Annahmen bewusst sind und diese regelmäßig reflektieren.
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Training für den Einsatz: Der Umfang des Einsatztrainings Mario Staller und Swen Koerner
Inhaltsverzeichnis 1 Der Bezugspunkt des Einsatztrainings: Der Einsatz 2 Das Ziel des Einsatztrainings: Die Entwicklung von adaptiven Expert*innen 3 Die Struktur und Inhalte des Einsatztrainings Literatur
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Zusammenfassung
Der Austausch über und die Diskussion von Elementen innerhalb der Handlungspraxen des polizeilichen Einsatztrainings bedürfen eines gemeinsamen Sprachcodes, welcher so – zumindest aktuell – noch nicht vorliegt. Das Kapitel stellt die Bedeutungsumfänge
Reviewer*innen: Robert Hintereker, Peter Schröder-Bäck Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine für die Ausrichtung des Handbuchs überarbeitete, inhaltlich und sprachlich modifizierte Version von: Staller, M. S., & Koerner, S. (2021). Polizeiliches Einsatztraining: Was es ist und was es sein sollte. Kriminalistik, 75(3), 79–85. M. Staller (*) Fachbereich Polizei, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Koerner Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research, Deutsche Sporthochschule, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_2
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für eine Diskussion und in der Praxis notwendige Begrifflichkeiten vor – und stellt diese theoriegeleitet in den Zusammenhang zueinander.
Einsatztraining ist nicht Einsatztraining ist nicht Einsatztraining. Was auf den ersten Blick kontraintuitiv klingt, offenbart bei genauerer Analyse eine tiefergehende Problematik in Bezug auf den aktuellen Wissensstand zum polizeilichen Einsatztraining: Die Unbestimmtheit des Begriffes, die unterschiedliche Benennung von Handlungspraxen in der Vorbereitung von Polizeibeamt*innen für das, „was da draußen ist“, und schließlich auch für das, was selbst bei einem gemeinsamen Verständnis eines Begriffs in der Praxis wirklich stattfindet. Gerade bei der systematischen Darstellung eines Wissensgebietes macht dies eine Klärung der Grundbegriffe und ihrer wechselseitigen Beziehungen erforderlich. Thomas Kuhn weist darauf hin, dass Unstimmigkeiten in den Grundterminologien eines Wissensgebietes auf eine frühe Phase in der Entwicklung dieses Wissenschaftsfeldes hinweisen (Kuhn 1962). Das interdisziplinäre Forschungs- und Praxisfeld des polizeilichen Einsatztrainings befindet sich in den Anfängen (Staller und Körner 2019), nimmt aber rasant an Entwicklung zu. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, dass sich zum aktuellen Zeitpunkt Unschärfen und Unstimmigkeiten in Grundbegriffen dieses Feldes zeigen. Beispielsweise zeigt eine Analyse von 21 Curricula der polizeilichen Ausbildungen (mittlerer Dienst, MD) und Studiengänge (gehobener Dienst, GD) aus 15 Ländern (Baden- Württemberg GD, Berlin GD, Brandenburg GD, Bremen GD, Hamburg GD/MD, Hessen GD, Mecklenburg-Vorpommern GD/MD, Niedersachsen GD, Nordrhein-Westfalen GD, Rheinland-Pfalz GD, Saarland GD, Sachsen GD, Sachsen-Anhalt GD/MD, Schleswig- Holstein GD, Thüringen GD) und zwei Bundesbehörden (Bundespolizei GD/MD, Bundeskriminalamt GD) die unterschiedlichen Intensionen und Extensionen der mit dem Einsatztraining assoziierten Begriffe (Homfeldt 2020; Korneffel 2020; Lieder 2020; Rotthoff 2020; Vieting 2020). Dieses zunächst national anmutende Problem setzt sich auf internationaler Ebene weiter fort: Auch hier existiert kein einheitliches Verständnis, was unter verschiedensten Trainingssettings zu fassen ist. Jüngst machten dies Todak und March für den Bereich des Deeskalationstrainings deutlich (Todak und March 2021); aber auch die Unterschiede zwischen „police training“, „police use of force training“, „officers safety training“ und anderen Begrifflichkeiten sind nicht trennscharf und führen gerade auch im wissenschaftlichen Diskurs immer wieder zu Irritationen und Verständnisschwierigkeiten im Austausch. Die unterschiedliche Codierung von Begrifflichkeiten erschwert den Meinungs- und Wissensaustausch oft erheblich. Entsprechend ist das Sprechen einer gemeinsamen Sprache eine wichtige Voraussetzung, um Forschung und Handlungspraxis zu verbinden und Ergebnisse auch in der Praxis umsetzen zu können (Ashford et al. 2020; Kleynen et al. 2013). Auf der anderen Seite ist es auch für den Austausch in der Praxis wichtig, dass dort
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tätige Forscher*innen, Entscheider*innen, Einsatzkräfte und Einsatztrainer*innen dieselbe Sprache sprechen und eine einheitliche Terminologie verwenden. Im Folgenden unternehmen wir den Versuch der Entwicklung eines gemeinsamen Vokabulars. Um eine gewisse Klarheit zu schaffen, soll der vorliegende Beitrag eine Orientierung bieten. Dazu nehmen wir eine neutrale Haltung ein. Wir haben nicht die Absicht, kritisch zu sein, methodologische Bedenken anzusprechen oder anzudeuten oder der einen Position mehr Gewicht zu verleihen als einer anderen Position. Stattdessen nehmen wir eine vermittelnde Position ein, um eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, die von einem einheitlichen konzeptionellen Rahmen für das Training von Einsatzkompetenzen getragen wird. Mit dem vorliegenden Handbuch beabsichtigen wir, einen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen der aktuelle Forschungs- und Erfahrungsstand der verschiedensten Perspektiven rund um die Vorbereitung von Polizeibeamt*innen auf Einsätze zusammengetragen werden kann. Der Austausch und die Diskussion darüber erfordern einheitliche Sprachcodes, welche sich künftig auch ändern können. Sprache ist ein lebendes Konstrukt. Außerdem werden sich künftig vielleicht Handlungspraxen entwickeln und etablieren, die wir jetzt noch gar nicht absehen können. Entsprechend werden wir dieses Kapitel des Handbuches in jeder neuen Auflage den aktuellen Erfordernissen anpassen, sodass jedem/ jeder die Möglichkeit gegeben wird, auf dieselben Sprachcodes zurückzugreifen.
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Der Bezugspunkt des Einsatztrainings: Der Einsatz
Der Begriff Einsatztraining besteht aus zwei Teilen: Einsatz und Training. Damit sind die Bezugspunkte schon im Wort immanent. Es geht um das Training für den Einsatz. Das Training als systematischer zielgerichteter Prozess mit dem Ziel, notwendige Handlungskompetenzen auszubilden (Brockmann et al. 2008), hat einen klaren Bezugspunkt: der (polizeiliche) Einsatz. In der Vorbereitung darauf existiert ein institutionelles Rahmensetting (das Einsatztraining), in welchem Lerner*innen sich das, was nötig ist, aneignen, um Einsatzsituationen professionell zu meistern. Das, was nötig wäre, um die polizeiliche Tätigkeit generell zu bearbeiten, würden wir in dieser Logik als allgemeines Polizeitraining bezeichnen: also das Training für alle Tätigkeiten, die ein/e Polizist*in durchführen sollte. In diesem Sinne wäre die gesamte polizeiliche Aus- und Fortbildung als Polizeitraining zu verstehen. Einsätze sind ein besonderer Unterfall polizeilichen Handelns, nämlich „polizeiliches Handeln im Außendienst“, um Sicherheit und Ordnung mit verschiedenen Methoden zu erhalten oder durchzusetzen. Folglich würde Einsatztraining sich dann auf den spezifischen Bereich der Einsatzbewältigung im Außendienst beziehen. Als Polizei – also beispielsweise im Vergleich zum Rettungsdienst – wäre dies dann das polizeiliche Einsatztraining. Unklarheiten ergeben sich auch im Umfang des Einsatztrainings. Was gehört dazu? Was nicht? Zum einen verwenden nicht sämtliche Landespolizeien diesen Begriff in ihren Lehrplänen (z. B. Hamburg, Saarland, Sachsen-Anhalt), zum anderen werden je nach dem
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Begriff des Einsatztrainings verschiedene Trainingssettings erfasst – und andere ausgeschlossen. Diese Unterschiede im Bedeutungsumfang des Begriffs scheinen auch historisch gewachsen: Das, was Polizist*innen für die erfolgreiche Bewältigung von Einsatzsituationen (aus der subjektiven Sicht der Organisationen) brauchen, ändert sich kontinuierlich (Staller und Körner 2019). Während in einem traditionellen Verständnis polizeilicher Arbeit das Durchsetzen von Maßnahmen im Mittelpunkt polizeilicher Arbeit stand – und damit der Zwang –, setzt eine bürgerorientierte Polizei auf Kooperation. Natürlich ist eine bürgerorientierte Polizei ebenfalls mit dem Gewaltmonopol ausgestattet und muss auch in der Lage sein, Zwang anzuwenden, doch ist die Perspektive eine umfassendere. Im Zentrum einer bürgerorientierten Polizeiarbeit steht das Gestalten von Interaktionen, um damit Vertrauen aufzubauen. Da auch Konflikt-, Gewalt- und Zwangshandeln im Kern soziale Interaktionen sind – und eben häufig in Interaktionen entstehen –, beschränkt ein zu eng gefasster Fokus auf das „Einsatztraining“ (z. B. nur die Zwangsanwendung oder nur körperliche Techniken) die Handlungsmöglichkeiten und das Aneignen von funktionalen Lösungen für das Lösen von Konflikten. Gerade im Kontext sozialer Interaktion besteht die Schwierigkeit darin, Bedingungen und Dynamikverläufe zu erkennen und zu deuten, die einer kooperativen Konfliktlösung oder direktiven mit Zwang durchgeführten Konfliktlösung bedürfen. Sofern also das Themenfeld zu eng gefasst wird (z. B. nur Konflikthandeln), können das Vorbeugen und Abbremsen von Konfliktdynamiken nicht in diesem Umfang trainiert werden. Aktuelle Forschungen zur Reduktion von Zwangshandeln innerhalb der Polizei deuten auf die positiven Effekte eines eher umfassenden Blickwinkels auf das Lösen von Konfliktsituationen hin (McLean et al. 2020; Wolfe et al. 2020; Wood et al. 2020). Neben dem Argument der Interaktionsverläufe und dem entsprechenden Konzeptualisieren von Konflikt als das Lösen einer sozialen Problemstellung in der Bürger- Polizei-Interaktion wurden auch aus trainingspädagogischer Sicht verschiedene Argumente angeführt, die sich für eine Integration von verschiedenen Handlungspraktiken (Deeskalation, Kommunikation, körperlicher Zwang, Einsatztaktik, Schusswaffengebrauch) – im Vergleich zu einer Isolation der Teilkomponenten – aussprechen (für eine ausführliche Diskussion siehe (Körner und Staller 2020a; Staller und Körner 2020). In diesem Verständnis würde Einsatztraining den professionellen Umgang mit Bürgerkontakten – also die soziale Interaktion – mitumfassen. Eine mögliche Entstehung von Konflikten und deren Bewältigung sowie Situationen, die einer direkten Lösung mit Zwangsmitteln bedürfen (z. B. direkte Angriffshandlung gegenüber einer Person beim Erscheinen am Einsatzort), sind damit mitumfasst (siehe Abb. 1). In einer ersten vorgenommenen Definition von Einsatztraining haben wir das Bewältigen von Angriffsszenarien gegenüber Polizist*innen als expliziten Inhaltsbereich des Einsatztrainings aufgeführt (Staller und Körner 2019). Insofern aber Angriffe als Teil von Konflikten gesehen wird, ist dieser Aspekt mit dem Bewältigen von Konfliktsituationen umfasst. Gleichzeitig wollen wir mit dem Fokus auf das Bewältigen von Konflikten anstatt des Bewältigens von Angriffen dem Narrativ der gefährlichen Polizeiarbeit entgegen-
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Soziale Interaktion
Kon ikt
Zwangsanwendung Polizist*in
Einsatz von Wa en / Hilfsmitteln
Unterordnung
verbaler Zwang
Kooperation
Beziehungsaufbau
Abb. 1 Umfangsebenen des polizeilichen Einsatztrainings anhand der Interaktionsachse Bürger*in – Polizist*in (eigene Darstellung)
wirken (Baier 2020; Marenin 2016; Staller und Körner 2019; White et al. 2019). Entsprechend definieren wir Einsatztraining wie folgt: cc Definition polizeiliches Einsatztraining Als (polizeiliches) Einsatztraining definieren wir Trainingsangebote, welche zielgerichtet und systematisch Fähig- und Fertigkeiten entwickeln, um (a) Bürgerkontakte, besonders (aber nicht nur) in Konfliktsituationen und (b) Einsatzsituationen professionell zu bewältigen. Ausgehend von dieser Definition ergeben sich in der Ausgestaltung des Einsatztrainings konsequenterweise Unterschiede zwischen verschiedenen Institutionen und Einheiten. Es geht um die professionelle Bewältigung von Einsatzsituationen – und diese variieren je nach gesetzlichem Auftrag, Zuständigkeit und Zuweisung innerhalb einer Behörde. Mit anderen Worten: Einsatztraining muss sich – sofern andere Einsatzlagen im Schwerpunkt bewältigt werden – zwischen verschiedenen Einheiten unterscheiden: Einsatztraining ist nicht gleich Einsatztraining.
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Hier wird nochmals deutlich, dass der Bezugspunkt des Einsatztrainings der Einsatz ist. An ihm richtet sich das Entwickeln von Kompetenzen (mehr zur Definition später) aus. Trainingssettings, die zum Inhalt haben, auf den Einsatz und die hier zu bewältigenden Aufgaben vorzubereiten, müssen entsprechend konstruktiv in Bezug auf den Einsatz angeordnet sein; es besteht also ein constructive alignment (Biggs 1996) des Trainings in Bezug auf den Einsatz. Gleiches gilt für mögliche Leistungstests, welche im Rahmen von Qualifikationsmaßnahmen oder Studienverläufen abgelegt werden müssten. Auch diese sollten sich konstruktiv in den Trainingsprozess mit Blick auf den Einsatz einordnen. Hier wird deutlich, dass sich Lerner*innen im Rahmen ihrer Kompetenzentwicklung in verschiedenen „Umgebungen“ befinden (siehe Abb. 2): in der Lernumgebung, in der Testumgebung oder in der Anwendungsumgebung. Fähigkeiten werden dabei überall entwickelt. Der Unterschied zeigt sich eher in Bezug auf die primäre Zielrichtung. Während in der Anwendungsumgebung die erfolgreiche Einsatzbewältigung im Mittelpunkt steht, fokussiert die Lernumgebung auf das Lernen (nicht: Lehren) und die Testumgebung auf die Überprüfung einer Leistung(skomponente). Eine weitere Unterscheidung scheint es in Bezug auf die Einsatzrealität zu geben. Hier existieren zum einen Einsätze, welche in den verschiedensten Ausprägungen regelmäßig stattfinden, und solche, die als extrem überraschend und selten beschrieben werden kön-
LERNUMGEBUNG
ANWENDUNGSUMGEBUNG
erlernte Fertigkeiten
Leistung im Einsatz
n lle ge ne un tio ng itu di st e In enb hm Ra
TESTUMGEBUNG Leistungstest
Abb. 2 Verschiedene Umgebungen im Einsatztraining
Transferierbarkeit direkt messbar Transferierbarkeit nicht direkt messbar
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nen: Sogenannte black swan-Ereignisse (Aven 2016; Catalano et al. 2018) wie z. B. Terrorlagen oder Amokläufe. Während regelmäßig stattfindende Einsätze auch jenseits der initialen Einsätze als kontinuierliche Lernmöglichkeiten begriffen werden können, bestehen bei black swan-Einsätzen reduzierte Erfahrungsmöglichkeiten für den/die einzelnen Polizist*in. Die Möglichkeit der Erfahrung muss hier – soweit dies für die Verwendung erforderlich ist – komplett über das Einsatztraining geschaffen werden. Die Bezüge und Verbindungen zwischen den verschiedenen Umgebungen erscheinen für ein optimales Abstimmen aufeinander von besonderer Bedeutung. Das Einsatztraining als institutionelle Rahmung eines Trainingssettings umfasst die Lern- und Testumgebungen, in denen Polizist*innen ermöglicht wird sich zu entwickeln, ohne die Konsequenzen eines Versagens im Echtfall tragen zu müssen. Im Vordergrund steht hier das Lernen – wohingegen im Einsatz die Performanz, also das Lösen der vorliegenden Problemstellung, oberste Priorität hat (Soderstrom und Bjork 2015). Dabei ergibt sich gerade im Bereich der Polizei eine wichtige Frage: Was zeichnet eine gute Leistung im Einsatz aus? Was wird hier benötigt, um professionell und sicher spezielle Probleme zu bearbeiten und damit umzugehen? Und wie kann das Ganze getestet oder überprüft werden? Die Frage, was benötigt wird für eine gute Leistung im Einsatz, kann nur beantwortet werden, wenn klar ist, was die Anforderungen der Einsatzpraxis sind. Und diese unterscheiden sich wiederum – je nach Einsatzbereich des/der Einzelnen – mitunter deutlich. Die Anforderungen eines/r Kriminalbeamt*in im Bereich der Wirtschaftskriminalität unterscheiden sich von den Einsatzanforderungen, welche an eine/n Streifenbeamt*in oder eine Einsatzkraft eines Spezialeinsatzkommandos gestellt werden. Weiterhin könnten die Anforderungen auch noch in Bezug auf Regionen (Stadtbezirke, Land etc.) und andere kontextspezifische Rahmenbedingungen gesetzt werden. Die Anforderungen der Einsatzpraxis in Bezug auf Interaktions- und Konfliktsituationen erscheinen häufig nur sehr unzureichend empirisch fundiert, was eine kon struktive Ausrichtung der Trainingsinhalte erschwert (Körner und Staller 2020a). Die Anforderungen beziehen sich (a) auf die zu bewältigenden Aufgaben und (b) auf die in der Situation vorherrschenden Merkmale, Charakteristika und Dynamiken. Während für (a) verschiedenste polizeiliche Einsatzbereiche Tätigkeitsprofile existieren, scheinen (b) Daten regelmäßig nicht als systemisches Wissen vorzuliegen (Körner und Staller 2021; Willke 1998). Dieser „blinde Fleck“ wurde bereits in verschiedenen Professionalisierungsbestrebungen deutscher Polizeiinstitutionen thematisiert (Körner et al. 2018; Körner und Staller 2020c). Festzuhalten bleibt, dass hier noch einiges an Forschungsbedarf besteht und es auf organisatorischer Ebene Strukturen bedarf, die die jeweiligen Einsatzrealitäten systematisch in den Blick nehmen und hier im Sinne eines reverse engineerings (Till et al. 2019) die Lern- und Entwicklungsprozesse von Polizist*innen danach ausrichten. Die Lern- und Entwicklungsprozesse umfassen dabei zwei Komponenten: erstens, das Entwickeln und Erhalten von Fähigkeiten, die in die Anwendungsumgebung transferierbar sind. Transferierbarkeit bezieht sich somit auf die Fähigkeit, Erfahrungen aus vergangenen Leistungsvollzügen und erfolgreichen Problemlösungen auf ähnliche und
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unterschiedliche Kontexte zu adaptieren (Collard et al. 2007). Mit anderen Worten: Das, womit sich im Training beschäftigt wird, sollte sich in einer besseren Leistung im Einsatz widerspiegeln. Zweitens, das Lernen von Fähigkeiten, um aus neuen und ständig variierenden Einsatzsituationen (Körner et al. 2019) Wissensbestände (weiter) zu entwickeln. Im Einsatztraining müssen also auch die Voraussetzungen geschaffen werden, dass eine Weiterentwicklung von Polizist*innen in der Anwendungsumgebung möglich ist (Mylopoulos et al. 2018). Damit hat das Einsatztraining eine doppelte Funktion: die unmittelbare Vorbereitung auf den möglicherweise nächsten Einsatz und das Entwickeln der Fähigkeiten, um aus weiteren eigenen (und fremden) Einsatzerfahrungen adaptive Handlungsstrategien herauszubilden und weiter zu entwickeln. Learning for the job und Voraussetzungen schaffen für learning on the job.
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as Ziel des Einsatztrainings: Die Entwicklung von D adaptiven Expert*innen
Es steht außer Frage, dass Einsatzbeamt*innen kompetent sein sollen; kompetent im Umgang mit ihnen anvertrauten Aufgaben – also der Bewältigung der Einsatzsituation und der Gestaltung der Bürger*innen-Polizist*innen-Interaktion, insbesondere im Konfliktfall. Der/die Polizist*in braucht also Einsatzkompetenzen. An diesem Punkt wollen wir uns kurz mit dem beschäftigen, was wir hier als Kompetenzen beschrieben haben. Über den Umfang dessen, was als „Kompetenz“ bezeichnet wird, lässt sich trefflich streiten (Collins et al. 2014). So beinhaltet der Begriff je nach Definition unterschiedliche Intensionen und Extensionen, welche sich kontextspezifisch auch unterscheiden. Entsprechend wurde Kompetenz als ein „unscharfes Konzept“ (fuzzy concept) bezeichnet (Klink und Boon 2003). In Bezug auf die Curricula polizeilicher Studiengänge beschreibt Kompetenz einen akzeptablen Praxisstandard, dessen Merkmale häufig anhand von beobachtbaren Verhaltensweisen bewertet werden, die als Kompetenzen gerahmt werden. Im Sinne einer breiteren, handlungspraktischen Ausrichtung bezeichnen Kompetenzen alle individuellen integrierten Fähigkeiten eines Individuums zur Bewältigung einer gegebenen Situation (Cruickshank et al. 2018): Der/die Polizist*in hat die Kompetenz, die Konfliktsituation zu lösen. Damit sind neben Handlungsfähigkeiten (z. B. das Durchführen einer Festnahme) – welche beobachtbar sind – auch Urteilungs-, Entscheidungsund Reflexionsprozesse umfasst, welche wiederum nicht unmittelbar sichtbar sind. Mit anderen Worten: Eine Handlung kann – beurteilt an der Handlungsausführung – nicht als kompetent bewertet werden, da der/die Beurteiler*in über die damit einhergehenden Denkprozesse keine Informationen hat. Gerade im Zusammenhang mit der Komplexität von Einsatzsituationen und den damit einhergehenden kontingenten Handlungsmöglichkeiten zeichnet sich professionelle Praxis eben nicht nur durch die sichtbaren (Polizist*in
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tut dieses oder jenes) – sondern auch die nicht sichtbaren Mechanismen (Polizist*in hat dieses oder jenes in der Auswahl der Handlungsentscheidung berücksichtigt und gegeneinander abgewogen) aus (Staller et al. 2021). In diesem Zusammenhang erscheint eine Expertise-Orientierung – im Vergleich zu einer Kompetenz-Orientierung – wünschenswerter. Ein (Einsatz-)Training, das darauf abzielt, Polizist*innen mit Expertise auszustatten, unterscheidet sich von einem kompetenzorientierten Training (Cruickshank et al. 2018) sowohl im (i) Trainingsprozess als auch im (ii) Trainingsergebnis. Für die Unterscheidung zwischen einer richtigen im Vergleich zu einer falschen Technik oder Taktik erscheint der Kompetenzbegriff ausreichend (z. B. „Kann diese Einsatzkraft diese Festnahmetechnik?“). Für die Mehrzahl der zwischenmenschlichen Interaktionen, insbesondere im polizeilichen Bereich, ist jedoch ein nuancierterer Ansatz, der auch die „Grautöne“ evaluiert, erforderlich (z. B. „Welche Optionen hast du in Betracht gezogen und warum hast du dich für diese Option und nicht die andere entschieden?“). Diese Grautöne finden besonders in einem Expertise-orientierten Ansatz ihr Korrelat. Expertise fokussiert auf die Fähigkeit, Werturteile zu fällen, um die optimale Mischung von Techniken zu identifizieren und einzusetzen, um komplexen und dynamischen Situationen gerecht zu werden (Collins et al. 2014). Als Training für den Einsatz hat das Einsatztraining damit die normative Verpflichtung, alle Fähigkeiten auszuprägen, die nötig sind, um Einsatzsituationen zu bewältigen. In diesem Zusammenhang erscheint gerade die Orientierung am Expertisebegriff förderlich. Als auszuprägende Eigenschaft scheint hier das Konzept der „adaptiven Expertise“ als erstrebenswerter Zustand von Einsatzkräften (Ericsson 2014; Mees et al. 2020): die Kapazität, Standardaufgaben und Routinetätigkeiten fehlerfrei durchzuführen (welches als routine expertise beschreiben wird) und dieses Wissen effizient und innovativ in neuen Situationen anzuwenden. Adaptive Expertise umfasst dabei drei Komponenten, welche es im Rahmen von Trainingsprogrammen auszubilden gilt: domänenspezifische (also für uns polizeispezifische), metakognitive und innovative Fähigkeiten (Hatano und Oura 2003; Mees et al. 2020). Damit geht ein Expertise-orientierter Fokus über einen Kompetenz-orientieren Fokus des Trainings hinaus. Das eine umfasst das andere – aber eben nicht umgekehrt. Der Unterschied im (i) Trainingsprozess lässt sich also wie folgt beschreiben: Eine Expertise-Orientierung nutzt pädagogische Konzepte, welche die adaptive Expertise fördern: Lernen, das das Verstehen betont, Polizist*innen die Möglichkeit zu geben, beim Lernen sich auszuprobieren und Entdeckungen einzubeziehen, und die Maximierung der Variation in der Vermittlung technischer und taktischer Konzepte (Mylopoulos et al. 2018). Damit werden neben der Herausbildung der für den nächsten Einsatz erforderlichen Kompetenzen auch die Voraussetzungen geschaffen, aus künftigen Erfahrungen und Herausforderungen (eben auch ohne die Unterstützung von Einsatztrainer*innen) Verständnis für sinnvolle Handlungsstrategien zu generieren und sich an die stets verändernde Einsatzrealität anzupassen.
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Ein Kompetenz-orientiertes Einsatztraining fokussiert das unmittelbare Ergebnis, welches dann in der Testsituation gezeigt wird. Metakognitive und innovative Fähigkeiten werden hier nicht in besonderem Maße ausgeprägt. Es besteht die Gefahr, dass einfach für die nächste Testsituation gelernt wird – und eben nicht für den Einsatz. Eine Orientierung erfolgt eher an richtig oder falsch im Ergebnis, im Vergleich zur besten Lösung in einem situativen Kontext (Cruickshank et al. 2018). Expertise-Orientierung bezieht ausdrücklich die darunterliegenden reflektierten abgewogenen Entscheidungen mit ein, welche die situativen Gegebenheiten und Besonderheiten der Einsatzsituation und die eigenen Handlungsmöglichkeiten durchdenken und abwägen. Ein Expertise-orientierter Fokus fördert damit in besonderem Maße das Leitbild des/der reflektierten Praktiker*in. Im (ii) Ergebnis des Trainingsprozesses heißt dies: Der/Die Polizist*in ist ein/e adaptive Problemlöser*in (Staller und Zaiser 2015). Die hierbei erworbenen metakognitiven und innovativen Fähigkeiten (z. B. Reflexion, Adaptivität, Kreativität) ermöglichen eine kontinuierliche Weiterentwicklung innerhalb der beruflichen Praxis (deliberate performance (Fadde und Klein 2010)); ein „Deckeneffekt“ nach Beendigung des Trainings wird damit unwahrscheinlicher (Collins et al. 2014; Cruickshank et al. 2018). Zusammengefasst macht dies deutlich, dass ein Einsatztraining über die Ausprägung von einzelnen technischen und taktischen Elementen hinausgeht (siehe Abb. 3). Die Struktur, die Organisation und die Durchführung des Trainings sollten sich daran ausrichten.
Werkzeuge zur Interaktionsgestaltung
KompetenzOrientierung Technisch-taktische Konzepte
Metakognition (z. B. Re
ExpertiseOrientierung
Innovation
Abb. 3 Der Umfangsbereich eines Kompetenz-orientieren und eines Expertise-orientierten Einsatztrainings
Training für den Einsatz: Der Umfang des Einsatztrainings
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Die Struktur und Inhalte des Einsatztrainings
Aus den bisherigen Überlegungen wird deutlich, dass Einsatztraining keine „one-size-fits- all“-Lösung sein kann und auch nicht sein darf. Der abzudeckende Inhaltsbereich des Einsatztrainings muss sich an den konkreten Einsatzerfordernissen der polizeilichen Einsatzkraft festmachen und sich daran auch messen lassen (Körner und Staller 2020b). Je nach Verwendungsbereich kann das heißen, dass eher auf Kooperation ausgerichtete Interaktionsoptionen im Mittelpunkt der Lernumgebung stehen, während auf der anderen Seite des Kontinuums lediglich die Zwangsanwendung unter Waffeneinsatz im Mittelpunkt steht. Die Umfangsebene des Einsatztrainings (siehe Abb. 1) richtet sich nach den konkreten Erfordernissen der Einsatzkraft. Damit rückt noch mal die Unterscheidung zwischen Zwang, Kooperation und Kommunikation in den Mittelpunkt, da sich gerade hier weitere Inhaltsbereiche mit der Vermittlung von entsprechenden Techniken und Taktiken anschließen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass Handlungsstrategien unter dem „Deckmantel“ der Kooperation gelehrt werden, obwohl diese vielmehr als Zwang zu klassifizieren wären. Gleiches gilt für Kommunikation. Das Nutzen von kommunikativen Lösungen heißt nicht, dass hier ohne Zwang gehandelt wird – oder gar ohne körperliche Gewalt. Paul Watzlawik wies auf die Universalität der Kommunikation in der zwischenmenschlichen Interaktion hin: „Man kann nicht nicht kommunizieren“ (Watzlawik et al. 2000). Systemtheoretisch betrachtet generiert jede (Nicht-)Handlung eines Interaktionspartners auf der einen Seite (z. B. Polizist*in) einen Informations- und Anschlusswert auf der anderen Seite (z. B. Bürger*in). Nichts tun, reden, körperliches Tätigwerden, Schusswaffeneinsatz; alles sind Formen von Kommunikation. Die Frage stellt sich also, welche Form der Kommunikation Kooperation und welche eine Form des Zwanges ist. Ist eine einfache Anordnung Zwang oder bedarf es des physischen Kontaktes, um eine Handlung als Zwang zu klassifizieren? Das Allgemeine Aggressionsmodell (Allen et al. 2018) gibt im Zusammenhang mit der Theorie der sozialen Interaktion (Tedeschi und Felson 1994) darauf eine klare Antwort: Eine einfache mündliche Anordnung kann als Zwangshandlung angesehen werden, weil sie die Freiheit des Einzelnen beeinträchtigt. Aufgrund des inhärenten Über-Unterordnungs-Verhältnisses und der Pflicht von Bürger*innen, Anweisungen von Polizeibeamt*innen nachzukommen, kann eine mündliche Anordnung als ein Akt des Zwanges gegenüber einer Person angesehen werden (Cojean et al. 2020). Der Unterschied zu kooperativen Konfliktlösungsstrategien zeigt sich damit auf die Referenz des Über- Unterordnungs-Verhältnisses. Kooperation wäre damit eine Kommunikation auf Augenhöhe – eine Kommunikation ohne das Nutzen des Über-/Unterordnungs-Verhältnisses zur Konfliktlösung, das Ansehen des/r Interaktionspartner*in als gleichberechtigte/r Bürger*in (Zaiser und Staller 2015). Kooperative Konfliktlösung erfordert damit das Einnehmen der anderen Perspektive und das Aufbauen von Vertrauen (Vecchi et al. 2019), also andere Strategien als Anweisungen und das Kommunizieren von weiteren möglichen Schritten, sofern der Anweisung nicht nachgekommen wird. Die Unterscheidung von
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Zwang und Kooperation ist interaktionstheoretisch damit auf einer grundsätzlicheren Ebene zu sehen (Über-/Unterordnung vs. Augenhöhe); die Form der Kommunikation ist dann Ausdruck der entsprechenden Konfliktlösungsstrategie. Inwieweit zwangsorientierte und/oder kooperationsorientierte Konfliktlösungsstrategien Schwerpunkte des Einsatztrainings sind, ist an den konkreten Einsatzanforderungen des/r Polizist*in festzumachen. Sofern der polizeiliche Einsatzbereich über die unmittelbare Zwangsanwendung (z. B. SEK) hinausgeht (siehe Abb. 1), nehmen die soziale Interaktion und die offene Konfliktbearbeitung einen größeren Bereich ein. Mit offener Konfliktbearbeitung ist hier die grundsätzliche Möglichkeit und Bereitschaft einer kooperativen Lösung gemeint. Inwieweit dies möglich und einsatztaktisch sinnvoll ist, ist dann am konkreten Einsatzfall festzumachen. Um auf diese Möglichkeiten überhaupt zurückgreifen zu können, müssen kooperative Konfliktlösungsstrategien Teil des Einsatztrainings sein. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass das Einsatztraining hier einen „blinden Fleck“ hat (Staller et al. 2019). In der Gesamtbetrachtung der Aus- und Fortbildung existieren Trainingsprogramme, die ihren Fokus auf kooperativen Konfliktlösungsstrategien haben: Deeskalationstraining, Kommunikationstraining (im Sinne von verbaler, kooperationsfördernder Kommunikation), Verhandlungsgruppentraining etc. Diese scheinen aber isoliert von der Praxis des Einsatztrainings zu sein (Staller und Körner 2020). Diese Isolation erscheint strukturell bedingt: verschiedene Trainingssettings für verschiedene Handlungsstrategien: Schusswaffeneinsatz, Einsatz körperlicher Zwangsmittel, verbale kooperativ-ausgerichtete Kommunikation. Polizeiliche Einsätze erfordern aber keine isolierten Handlungsstrategien. Sie fordern die integrierte Expertise der Einsatzkraft: die nuancierte Wahrnehmung der aktuellen Situation und die adaptive und flexible darauf abgestimmte Interaktionsstrategie (Staller et al. 2021). Integration statt Isolation. Dies heißt nicht, dass temporäre Isolation des Trainings einzelner Handlungskomponenten nicht sinnvoll sein kann, sie sollte aber nicht der Ausgangspunkt und nicht der Endpunkt des Einsatztrainings sein. Bezugspunkt ist und bleibt der Einsatz. Was dort gefordert wird, muss sich integrativ mit allen Komponenten im Einsatztraining widerspiegeln. Ein modernes polizeiliches Einsatztraining hat die Aufgabe, diese Integration im Abgleich mit den Anforderungen des Einsatzes sicherzustellen. Einsatztraining ist Training für den Einsatz. Es fordert den Einbezug und die Integration sämtlicher Wissensbestände, die sich mit Polizei-Bürger*in-Interaktion in der Praxis auseinandersetzen. Eine additive Summierung einzelner Trainingsbereiche mit Konflikt- oder Einsatzbezug lehnt es mit Blick auf den Transfer komplexer Leistung ab. Damit ist Einsatztraining ein höchst nutzergruppenspezifisches Trainingssetting – und muss auch entsprechend organisatorisch strukturiert und gestaltet werden. Fazit Ein modernes polizeiliches Einsatztraining hat die Aufgabe, diese Integration im Abgleich mit den Anforderungen des Einsatzes sicherzustellen. Einsatztraining ist Training für den
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Einsatz. Es fordert den Einbezug und die Integration sämtlicher Wissensbestände, die sich mit Polizei-Bürger*in-Interaktion und Einsatzsituationen in der Praxis auseinandersetzen. Eine additive Summierung einzelner Trainingsbereiche mit Konflikt- oder Einsatzbezug lehnt es mit Blick auf den Transfer komplexer Leistung ab. Damit ist Einsatztraining ein höchst nutzergruppenspezifisches Trainingssetting – und muss auch entsprechend organisatorisch strukturiert und gestaltet werden.
Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Einsatztraining ist Training für den Einsatz. Aufgrund der Vielzahl an Verwendungsbereichen mit unterschiedlichen Einsatzaufgaben und -schwerpunkten ist eine individuelle organisatorische und inhaltliche Struktur des Trainings in Abhängigkeit von der Nutzergruppe essenziell. Mit Blick auf die Komplexität der Einsatzbewältigung, des Konfliktmanagements und des Trainingsprozesses heißt dies: • Einsatztraining richtet sich an den konkreten Einsatzanforderungen der Nutzergruppe aus. Dies erfordert eine kontinuierliche Analyse der Einsatzsituationen und die Rückführung dieser Anforderungen in den Trainingsprozess. • Zu trainierende Handlungsstrategien im Einsatz mit Blick auf Polizei-Bürger*in- Interaktionen verstehen die Interaktion als soziale Interaktion. Dies erfordert – soweit für die Einsatzanlässe der Nutzergruppen zutreffend – eine Expertise-Entwicklung auf dem Kontinuum von Kooperativen Konfliktlösestrategien bis zum Zwang unter Waffengewalt. • Die Personalauswahl und -entwicklung im Einsatztraining sollten in Bezug auf die Einsatz- und Konflikterfahrung sowie Einsatz- und Konfliktexpertise dieses Kontinuum berücksichtigen. Der Einsatztrainingsbereich sollte diese Bandbreite an Expertisen widerspiegeln. • Auf struktureller Ebene muss eine Integration der Trainingsinhalte in Bezug auf den Einsatz sichergestellt sein. Eine temporäre Isolation einzelner Handlungsstrategien ist möglich, darf aber nicht zu selbst stabilisierendem Isolationsverhalten einzelner Bereiche beitragen. Die komplexe Einsatzbewältigung erfordert Integration, nicht Isolation. • Ziel der Trainingsmaßnahmen im Einsatztraining ist die Entwicklung von adaptiver Einsatzexpertise. Damit stehen pädagogische Konzepte im Fokus, die Lernen, Experimentieren mit Lösungsmöglichkeiten und Variation in der Vermittlung technischer und taktischer Konzepte fördern. Eine Expertise-Orientierung fokussiert nicht auf das unmittelbar sichtbare Ergebnis und bezieht Metakognition und Innovationsprozesse mit ein.
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b) Einsatzkräfte Polizeiliches Einsatzhandeln mit Bürger*innen ist soziale Interaktion mit der Möglichkeit zum Konflikt und auch zum Zwangshandeln. Durch das Betrachten polizeilicher Interaktion durch diese Linse ergeben sich umfassendere Handlungsmöglichkeiten gerade im Hinblick auf die Vermeidung von Konflikten sowie die Lösung von Konflikten auf kooperative Art und Weise – im Sinne von „auf Augenhöhe“ im Vergleich zu „Über-/Unterordnung“. Die Fokussierung der eigenen Linse (soziale Interaktion, Konflikt, Zwang) ist abhängig von dem eigenen Tätigkeitsbereich. Eine zu eng gefasste Linse schließt Handlungsmöglichkeiten aus. Einsatzkräfte können nur das anwenden, was sie durch ihre Linse auch sehen. c) Einsatztrainer*innen Ein Einsatztraining, welches (a) in der Ausrichtung Expertise-orientiert ist, (b) Konflikt als Teil sozialer Interaktion versteht und (c) die Integration der komplexen Leistung in den Vordergrund rückt, stellt hohe Anforderungen an den/die Einsatztrainer*in. • Auf pädagogischer Ebene: Das Nutzen von Trainingsansätzen, die Lernen und Reflexion in den Mittelpunkt rücken, das Experimentieren mit Lösungsmöglichkeiten fördern und variabel und variantenreich in der Vermittlung technischer und taktischer Konzepte sind. • Auf inhaltlicher Ebene des Konfliktmanagements: Das (Weiter-)Entwickeln von Konfliktlöse-Expertise auf dem Kontinuum von kooperativer Konfliktlösung auf Augenhöhe bis zum Einsatz von Waffengewalt in Abhängigkeit von den Anforderungen der Lerner*innen.
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Teil II Prakademische Perspektive – Kontext
Der/die reflektierte Praktiker*in: Reflektieren als Polizist*in und Einsatztrainer*in Mario Staller, Swen Koerner und Benjamin Zaiser
Inhaltsverzeichnis 1 Die zeitliche Komponente der Reflexion: Davor, währenddessen und danach 2 Verschiedene Reflexionsebenen – verschiedene Effekte 3 Das Aufdecken der handlungsleitenden Annahmen 4 Lehren einer reflektierenden Einstellung Literatur
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Zusammenfassung
Reflexion und Reflexivität sind wichtige Bestandteile einer professionellen Praxis im polizeilichen Tätigkeitsfeld. Der vorliegende Beitrag legt dar, dass Reflexivität über ein bloßes Nachdenken hinausgeht, und beschreibt eine Struktur der Reflexion auf drei Ebenen, welche mit jeweils anderen Kernfragen verbunden sind. Während auf niederReviewer*innen: Peter Schröder-Bäck, Wolfgang Moos M. Staller (*) Fachbereich Polizei, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Koerner Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research, Deutsche Sporthochschule, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] B. Zaiser Tactical Decision Making Research Group, University of Liverpool, Liverpool, UK © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_3
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schwelliger Reflexionsebene die Frage nach der korrekten Handlung im Mittelpunkt steht, dreht sich die Reflexion auf einer höheren Ebene um das Aufdecken der eigenen handlungsleitenden Annahmen, welche das Handeln (un)bewusst beeinflussen, und um die Möglichkeit zur Einnahme von anderen Perspektiven. Beides ist für den/die reflektierten Praktiker*in – sowohl im Konfliktmanagement als Einsatzkraft als auch im Trainingsprozess als Einsatztrainer*in – eine notwendige Voraussetzung.
Reflexion ist der Prozess, der zwischen Erfahrung und Wissen vermittelt. Reflexion steht daher im Mittelpunkt aller auf Erfahrung beruhenden Lerntheorien (Kolb 2015; Schön 1983) und ist als wesentliches Attribut einer kontinuierlichen Weiterentwicklung von Expertise sowohl für polizeiliche Einsatzkräfte (Wood und Williams 2017) als auch für Einsatztrainer*innen (Körner und Staller 2018; Staller und Zaiser 2015) unabdingbar. Entsprechend wundert es nicht, dass Reflexion als Vokabel in Lern- und Bildungsmaßnahmen im beruflichen Kontext allgemein (Atkins und Murphy 1993; Mezirow 1998; Schön 1983) sowie innerhalb der polizeilichen Trainings- und Bildungsveranstaltungen (Bergman 2017) fest verankert ist. Verschiedene Autoren weisen auf Reflexivität, als die Fähigkeit des Menschen, das eigene Denken und Handeln zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen (Forster 2014), als einen essenziellen Baustein einer professionellen Polizeiorganisation und ihres Personals hin (Bergman 2017; Charles 2000; Christopher 2015; Körner und Staller 2018; Wood und Williams 2017). Der/die „reflektierte Praktiker*in“ stellt sowohl für Einsatzkräfte (Wood und Williams 2017) als auch für Einsatztrainer*innen (Körner und Staller 2018, 2020a) das Leitbild für eine gute und professionelle Praxis dar. So weist Christopher (2015) mit dem folgenden Zitat auf die Verbindung zwischen Reflexivität und Polizeiarbeit hin: „Es ist entscheidend, dass die Angehörigen der Polizeiberufe lernen, kritisch, konzeptionell und kreativ zu denken, wenn sie mit Situationen konfrontiert werden, die einer Analyse bedürfen, und wenn sie Problemlösungen entwickeln. Sie brauchen auch die Fähigkeit, aus ihren Erfahrungen zu lernen“ (S. 328). Der Begriff der Reflexivität hat einen intuitiven Reiz, besonders wenn dieser mit dem Begriff des „Denkens“ gleichgesetzt wird (Hébert 2015; McLaughlin 1999). In diesem Zusammenhang stellte McLaughlin (1999) die provokante Frage, wer wohl – bei einer synonymen Verwendung der beiden Begriffe – der Champion der unreflektierten Praktiker*innen sein möchte. Die Konzeptualisierung von Reflexion als Nachdenken ist eine von mehreren Konzeptionen dieses Begriffes; eine konsentierte, einheitliche Definition existiert nicht (Hébert 2015). Während viele verschiedene Begriffe zur Darstellung der Reflexion als Praxis verwendet werden (z. B. „Reflexion“, „reflexive Praxis“, „reflektierte/r Praktiker*innen“, „kritische Reflexion“ etc.), unterscheiden sich die Bedeutungen der Begriffe selbst auch je nach Text. Konsens scheint lediglich insofern zu herrschen, als dass Reflexion des eigenen Handelns das Lernen (und Anpassen?) aus gemachten (oder gerade stattfindenden?) Erfahrungen beinhaltet.
Der/die reflektierte Praktiker*in: Reflektieren als Polizist*in und Einsatztrainer*in
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Vor diesem Hintergrund weist auch das Deeskalierende Einsatzmodell eine Reflexionskomponente auf (Leitfaden 371-2021): Einsatzerfahrungen sollen systematisch nachbereitet werden, um daraus zu lernen. Wie dies geschehen kann, lässt das Modell allerdings offen.1 Damit weist das Deeskalierende Einsatzmodell auf den Kern des Problems hin. Weder Einsatzkräfte, Einsatztrainer*innen noch die Polizei als Organisation verneinen die Wichtigkeit von Reflexion für die eigene Weiterentwicklung. Die Kernfrage scheint allerdings darin zu liegen, wie Reflexion gelingen kann und auf was dabei geachtet werden kann (und soll?). Reflexion per se kann unterschiedliche Auswirkungen haben: Je nachdem, wie sie verstanden und durchgeführt wird, kann der Prozess sogar keine positiven Folgen für die Entwicklung von Individuen oder die Organisation haben. Beispielsweise können sich Trainer*innen kontinuierlich beobachtet fühlen (Cushion 2016), die Organisation stabilisiert verbesserungsfähige Verhaltensweisen (Körner und Staller 2021) oder „optimiert“ um des „Optimierungswillens“ (Tosey et al. 2012). Es gilt also, auch den Reflexionsprozess zu reflektieren. Systematisch durchgeführt und angepasst an die entsprechenden Erfordernisse der Situation können Reflexionsprozesse positive Effekte bei Einsatzkräften (Wolfe et al. 2020; Wood und Williams 2017), Einsatztrainer*innen (Staller et al. 2021b; Staller und Zaiser 2015) und der Polizeiorganisation (Christopher 2015; Körner und Staller 2021) haben. Gut durchgeführte Reflexion ist ein wesentlicher Baustein einer professionellen Praxis, wie beispielsweise im Konfliktmanagement (Rothman 2014), in der sozialen Arbeit (Atkins und Murphy 1993), im Handeln als Trainer*in (Gallimore et al. 2014; Gilbert und Trudel 2001) und innerhalb der Polizei (Christopher 2015; Wood und Williams 2017). Für eine Professionalisierung des polizeilichen Konfliktmanagements und der damit verbundenen Trainingsstrukturen ist daher weniger relevant, ob reflektiert wird (und wie wir dies nennen), sondern wie und wann dies geschieht.
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ie zeitliche Komponente der Reflexion: Davor, D währenddessen und danach
Reflexion kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Relation zu der zu reflektierenden Handlung oder Situation stattfinden: Davor, währenddessen und danach. Schön (1983), der den Begriff des „reflektierten Praktikers“ prägte, unterschied die Reflexion in einer Handlungssituation (reflection-in-action) und das Reflektieren mit einem gewissen zeitlichen Abstand, nachdem eine Handlung oder Situation abgeschlossen war (reflection-on- action). Reflexion vor einer Handlung oder Situation (reflection-before-action) bezieht sich auf das Planungsstadium: Zum einen besteht hier die Möglichkeit einer Fokussierung auf gewisse Aspekte, die in der kommenden Situation reflexionswürdig (in-action und on-action) sein könnten (Edwards 2017), und zum anderen auf ein Auseinandersetzen mit Dieser Kritikpunkt wird in der Neukonzeption des Einsatzmodells im „Gewaltreduzierenden Einsatzmodell“ (Staller et al. 2021c) adressiert. 1
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eigenen möglichen Annahmen und Sichtweisen im Rahmen des Planungsprozesses (Brookfield 2013). Das Auseinandersetzen mit der eigenen Erfahrung ist je nach zur Verfügung stehender Zeit und Reflexionsebene ein eher analytischer oder eher intuitiver Prozess (Richards et al. 2012). Reflexionsebenen höherer Ordnung nehmen dabei die darunterliegende Reflexionsebene in den Blick, benötigen aber mehr Zeit. In Bezug auf die Reflexionsprozesse, die Entscheidungen zugrunde liegen, sind in Situationen, in denen nicht viel Zeit zur Verfügung steht, z. B. während eines Einsatzes oder einer Trainingssituation, intuitive Entscheidungs- und Reflexionsprozesse effizienter, während mit zeitlichem Abstand oder Vorlauf (before-action und on-action) eher analytische Prozesse im Vordergrund stehen. Das heißt nicht, dass während einer Einsatzsituation oder Trainingssituation nicht analytisch reflektiert werden kann oder sollte; vielmehr kann hier zum einen nicht die Notwendigkeit einer tieferen Reflexion bestehen und zum anderen nicht die für analytische Prozesse nötige Zeit zur Verfügung stehen.
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Verschiedene Reflexionsebenen – verschiedene Effekte
Reflexionen können auf verschiedenen Ebenen durchführt werden. Je nachdem, auf welcher Reflexionsebene etwas gelernt wird, wird als Ergebnis des Reflexionsprozessen von Lernen auf höheren Ebenen oder Lernen in den verschiedenen Schleifen (single-loop learning, double-loop learning, triple-loop learning) gesprochen (Tosey et al. 2012). Für das polizeiliche Einsatzverhalten sowie für das polizeiliche Einsatztraining deuten Untersuchungen auf Probleme in der Reflexion der eigenen Handlungspraxen hin (Cushion 2020; Staller et al. 2021b). Konkret scheint im Bereich des Einsatztrainings primär eine Reflexion anhand der Frage „Tue ich die Dinge richtig?“ stattzufinden. Im Vergleich dazu weisen die Fragekategorien „Tue ich die richtigen Dinge?“ und „Wie entscheide ich, ob ich die richtigen Dinge tue?“ eine höhere Ebene der Reflexion auf. Die Frage „Tue ich die Dinge richtig?“ setzt voraus, dass es Bewertungskategorien zur Beantwortung dieser Frage gibt. Die reflektierende Person misst ihre Handlung (oder Bewertung einer Situation etc.) an einer Schablone, welche eine Bewertung in Bezug auf richtig oder falsch ermöglicht. Diese Bewertungskategorien nennen wir im Folgenden „handlungsleitende Annahmen“ (Brookfield 2013). Auf der nächsthöheren Reflexionsebene werden diese handlungsleitenden Annahmen infrage gestellt. Der/die reflektierende Polizist*in stellt sich die Frage, ob die bisherige Bewertungskategorie die richtige ist. Die Beantwortung der Frage, ob die richtigen Dinge getan werden, setzt allerdings selbst wieder einen Bewertungsmaßstab, also Annahmen über die handlungsleitenden Annahmen voraus. Wenn diese in den Mittelpunkt der Reflexion rücken, setzt sich das reflektierende Individuum mit eigenen Annahmen auseinander, welche die eigene Perspektive, Einstellungen, Wissensbestände etc. beeinflussen, welche wiederum die handlungsleitenden Annahmen für die Handlung oder Bewertung einer Situation vor Ort, z. B. im Einsatz oder im Training, beeinflussen. Abb. 1 zeigt den Aufbau der Reflexionsebenen mit Bezug zu den möglichen Handlungsoptionen (oder Bewertungsoptionen) in einer gegebenen Situation.
Reflexionsebene 3
Reflexionsebene 2
Reflexionsebene 1
Handlung
n
1
n
n
1
1
n
n
Abb. 1 Reflexionsebenen bezogen auf die möglichen Handlungsoptionen eine/r reflektierten Praktiker*in
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Tue ich die Dinge richtig?
1
Annahmen in Bezug auf Handlungen (Perspektiven, Einstellung, Wissensbestände, Verzerrungen etc.)
Tue ich die richtigen Dinge?
1
Annahmen in Bezug auf Perspektiven, Einstellung,
Wie entscheide ich, ob ich die richtigen Dinge tue?
1
1
n
n
Der/die reflektierte Praktiker*in: Reflektieren als Polizist*in und Einsatztrainer*in 45
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M. Staller et al. Unterschiedliche Reflexionsebenen als Polizist*in und Einsatztrainer*in
Reflexionsebene 1: Tue ich die Dinge richtig? Reflexionsebene 2: Tue ich die richtigen Dinge? Reflexionsebene 3: Wie entscheide ich, ob ich die richtigen Dinge tue? ◄ Befunde im Bereich des polizeilichen Einsatzverhaltens sowie im polizeilichen Einsatztraining weisen darauf hin, dass Reflexion häufig auf niedrigeren Ebenen (Reflexionsebene 1) stattfindet und so das Bewusstsein für die der Handlung zugrunde liegenden Annahmen fehlt. Beispielsweise rückt im Einsatztraining nicht das trainingspädagogische Vorgehen in den Mittelpunkt der Reflexion (Birzer 2003; Staller et al. 2021b) oder die Grundeinstellung zum eigenen Einschreitverhalten bleibt unreflektiert (McLean et al. 2019; Stoughton 2016). Sich der zugrunde liegenden Annahmen der eigenen Handlungspraxis bewusst zu sein, ist ein notwendiger Bestandteil für höhere Lernniveaus (Argyris 2003; Tosey et al. 2012). Ein „höheres“ Lernniveau bedeutet in diesem Zusammenhang, dass neue Perspektiven mit einem sukzessive größeren Umfang einbezogen werden. Die Sicht auf die Dinge wird damit umfassender – aber eben auch komplexer. Dem Aufdecken der eigenen Annahmen kommt für das Erreichen einer höheren Reflexions- und damit auch Lernebene eine besondere Bedeutung zu (Brookfield 2013, 2017). Während auf der 1. Reflexionsebene der Gegenstand, also die eigene Handlung, im Mittelpunkt steht und die Frage nach „richtig oder falsch“ oder verschiedenen Handlungsalternativen an der bestehenden eigenen Perspektive, der eigenen Einstellung, dem eigenen Wissensbestand oder den eigenen kognitiven Verzerrungen festgemacht wird, rücken auf höheren Reflexionsebenen genau diese Annahmen (Einstellung, Wissensbestand etc.) in den Mittelpunkt der Betrachtung. Das Aufdecken und Untersuchen der Annahmen ermöglicht ein Infragestellen dieser Annahmen und eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob die eigenen Handlungen im konkreten Fall die richtigen Handlungen sind oder ob es alternative Perspektiven gibt, anhand derer die eigene Handlung neu bewertet werden kann (mit einem anderen Ergebnis in Bezug auf richtig oder falsch). Auf handlungspraktischer Ebene hat die Tiefe der Reflexion verschiedene Auswirkungen (siehe Abb. 2): der/die reflektierende Praktiker*in (a) erweitert die selbst wahrgenommenen Handlungsoptionen, (b) kann mögliche Optionen tiefergehend voneinander abgrenzen und (c) kann die Wahl einer Handlungsoption tiefergehend begründen. Mit der Erhöhung des Handlungsspielraums und möglicher Deutungsoptionen wird allerdings auch eine subjektive Unsicherheit (gerade zu Beginn des Lernprozesses) in Bezug auf die nun zu wählende Handlungsoption wahrscheinlich. Aktuelle empirische Befunde im polizeilichen Einsatzverhalten belegen den positiven Effekt einer Reflexion über die erste Ebene hinaus (Wolfe et al. 2020; Wood et al. 2020). Auf der Reflexionsebene 1 bestehen mögliche Handlungsoptionen für einen sich nicht- kooperativ verhaltenen Bürger in der Androhung von Zwang und Optionen, wie dies in der konkreten Situation ausgestaltet werden könnte. In der Wahrnehmung der handelnden Einsatzkraft will der/die Bürger*in nicht kooperieren, was die Person aber in der Wahr-
Der/die reflektierte Praktiker*in: Reflektieren als Polizist*in und Einsatztrainer*in
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nehmung der Einsatzkraft sollte. Diese zugrunde liegende (und nicht hinterfragte) Annahme führt dazu, dass mögliche Optionen unter dem Dach des Zwanges abgewogen werden. Auf der Reflexionsebene 2 würde die Einsatzkraft diese Grundannahme hinterfragen. Vielleicht liegen andere, gerade nicht sichtbare Gründe für das Verhalten des/r Bürger*in vor. Mögliche Gründe könnten beispielsweise im Verhalten der Einsatzkraft selbst (Reuter 2014) oder in anderen Aspekten liegen (siehe (Staller und Körner 2020 für einen Überblick zur Komplexität von Konfliktsituationen). Wolfe et al. (2020) konnten zeigen, dass das Reflektieren über mögliche andere Gründe für Bürgerverhalten die Ausübung von Zwang in polizeilichen Einsatzsituationen reduzierte. Gleichzeitig wies die Studie allerdings auch darauf hin, dass die Trainer*innen dabei eine Schlüsselrolle innehatten. Dies ist vor dem Hintergrund interessant, dass neue Perspektiven auf Bürgerverhalten mechanistisch eingenommen werden können, nachhaltiges Lernen aber erst dann eintritt, wenn die eigenen Annahmen reflektiert und bearbeitet werden, also eine Reflexion und Lernen auf höherer Ebene stattfinden. Reflexion einer/s Einsatztrainer*in
Eine einschleifige Reflexion eines Polizeitrainers, Oliver, der eine Take-Down-Technik für einen sich wehrenden Bürger lehrt, dreht sich beispielsweise darum, sich selbst zu fragen, wann er eingreifen soll, falls ein Lernender die Technik nicht so ausführt, wie er sie gezeigt hat. Bei einer weiteren Reflexion auf einer höheren Ebene über dasselbe Beispiel wird auch die Frage gestellt, warum unser Trainer an einer idealen Technik festhält. Oliver wird sich bewusst, dass er selbst in einer traditionellen linearen Technik unterrichtet wurde, was zu der Annahme einer idealen Technik führte. Unser Einsatztrainer wird sich nun anderer möglicher Grundannahmen (wie der nicht-linearen Pädagogik) bewusst und ist in der Lage, die zugrunde liegende Annahme mit seiner aktuellen Praxis zu verbinden, was zu einem Lernen in doppelter Schleife führt. In der aktuellen Ausbildungssitzung lässt unser Polizeiausbilder nun mehr Freiheitsgrade bei der Durchführung des Take-Downs zu, solange der Bürger zu Fall gebracht wird, denn er möchte, dass der Lernende seine individuelle Lösung für das Zu-Boden-Bringen einer Person findet. Durch das weitere Anerkennen, Infragestellen und Auspacken von Annahmen mit einem gesteigerten Bewusstsein für die Verwandtschaft und die Rolle theoretischer Konzepte findet ein höheres Maß an Reflexion und Lernen statt (dreischleifiges Lernen; triple-loop learning). Die Leitfrage lautet hier „Wie entscheide ich, was richtig ist?“, wobei auch grundsätzliche Annahmen infrage gestellt werden. In unserem Beispiel fragt sich unser Einsatztrainer Oliver – dreifach reflektierend über die Situation –, wann und warum er den einen (z. B. den nicht-linearen) oder einen anderen (z. B. den linearen) Lernansatz anwenden sollte. Ihm wird bewusst, dass sein Drang zu einem spezifischen pädagogischen Ansatz teilweise von dem angetrieben wird, was andere Trainer in seinem Milieu im Moment favorisieren. Oliver beginnt zu fragen, warum, wann und für wen er einen bestimmten pädagogischen Ansatz anwenden sollte. Wenn er über sein aktuelles Problem nachdenkt, denkt er über die Vor- und Nachteile
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M. Staller et al.
von linearen und nicht-linearen Trainingsansätzen im Kontext der spezifischen Situation nach, der er mit seinem Lernenden begegnet, und kommt zu der vorläufigen Schlussfolgerung, dass er derzeit einen eher linearen Trainingsansatz mit einem verstärkten Feedback über die Durchführung des Take-Downs anwenden wird, weil er das Gefühl hat, dass der Lernende Schwierigkeiten hat, seine Bewegungen zu koordinieren, es ihm an Kreativität mangelt und er leicht frustriert ist, wenn es ihm nicht sofort gelingt, seinen Partner auszuschalten. ◄
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Das Aufdecken der handlungsleitenden Annahmen
Dem Aufdecken der handlungsleitenden Annahmen (auf Reflexionsebene 2 und 3) kommt in der reflektierten Praxis eine wesentliche Bedeutung zu. Diese Schablonen, die dem Individuum die Bewertung einer eigenen (oder fremden) Handlung ermöglichen, basieren auf Erfahrungen und in der Struktur unseres Denkens angelegten und angeeigneten (bewusster und unbewusster) Denkmustern. Beispielsweise zeigt die psychologische Forschung zu kognitiven Verzerrungen, dass unser Denken weit weniger rational abläuft, als wir das unter Umständen annehmen (Kahneman 2011). Eine fehlende Rationalität ist dabei nicht zwingend negativ zu bewerten; es kommt vielmehr auf den Kontext an und die Frage, inwieweit ein Bewusstsein über die eigenen zugrunde liegenden Denkstrukturen und die daraus folgenden Annahmen existiert. Problematisch erscheint an dieser Stelle, dass das Erreichen einer höheren Reflexions- und Lernebene kein Automatismus zu sein scheint (Rothman 2014). Brookfield (2013) spricht in diesem Zusammenhang von der „Jagd“ auf die Annahmen, da ein Aufdecken und ein Bewusstwerden der eigenen Annahmen kein leichtes Unterfangen ist. Eine Person kann reflektieren – und dennoch die eigene Perspektive nicht erweitern (wenn Reflexion ausschließlich auf Ebene 1 erfolgt). Eine Einsatzkraft kann nachbereiten und über eine Konfliktsituation reflektieren – ohne durch das Infragestellen der eigenen Annahmen die eigene Perspektive zu erweitern und neue Handlungsoptionen zu erschließen; ein/e Einsatztrainer*in kann den Unterricht reflektieren, ohne pädagogische Grundannahmen und damit eigene Verhaltensweisen infrage zu stellen (Staller et al. 2021b); eine Polizeiorganisation kann reflektierend und lernbereit sein – aber eben nicht auf einer höheren Ebene (Christopher 2015; Körner und Staller 2021). Auf der anderen Seite besteht auch die Möglichkeit, das höhere Reflexionsund Lernebenen in Kontexten aufgesucht werden, in denen eine Reflexion auf Ebene 1 zielführender und im konkreten Kontext wichtiger ist (Tosey et al. 2012). Tosey et al. (2012) warnen in diesem Zusammenhang vor Organisationen, die stets auf der Suche nach Verbesserung und Optimierung auf höheren Lernebenen sind und dabei das Lernen auf niederschwelliger Ebene (Reflexionsebene 1) in den Hintergrund treten lassen. Ein Festhalten an der Annahme, dass höhere Reflexionsebenen besser sind, ist selbst eine zu reflektierende Grundannahme (Reflexionsebene 2). Zusammengefasst kommt es nicht da rauf an, ob oder ob nicht reflektiert wurde – sondern wie, warum (oder warum nicht) und auf welcher Ebene.
Der/die reflektierte Praktiker*in: Reflektieren als Polizist*in und Einsatztrainer*in
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Das Beispiel zeigt, dass Grundannahmen auf verschiedenen Ebenen bestehen können und unsere Bewertungen und in der Folge unser Handlungen beeinflussen. Insofern die Identifikation von möglichen Grundannahmen im Mittelpunkt der Reflexion steht, ist es hilfreich, über die „Verstecke“ dieser Annahmen Bescheid zu wissen. In diesem Zusammenhang weist Brookfield (2013) drei Annahmen aus, deren Existenz sich Praktiker*innen bewusst sein und vor denen sich in Acht nehmen sollten: paradigmatische, präskriptive und kausale Annahmen. Paradigmatische Annahmen Paradigmatische Annahmen sind von allen Annahmen am schwersten aufzudecken. Sie sind die strukturierenden Annahmen, mit denen wir die Welt in grundlegende Kategorien einordnen. Gewöhnlich erkennen wir sie nicht einmal als Annahmen an, selbst nachdem sie uns aufgezeigt worden sind. Stattdessen bestehen wir darauf, dass sie objektiv gültige Darstellungen der Realität sind, der Tatsachen, wie wir sie kennen, um wahr zu sein. Paradigmatische Annahmen werden erst nach großem Widerstand kritisch untersucht, und es bedarf einer beträchtlichen Menge an Gegenbeweisen und widerlegenden Erfahrungen, um sie zu ändern. Aber wenn sie infrage gestellt und verändert werden, sind die Folgen für das eigene Leben und die eigene Handlungspraxis fundamental. Beispiel
Wenn ein Polizist glaubt, dass Polizieren primär die Aufgabe ha,t Verbrechen zu bekämpfen, dann fokussiert er möglicherweise stark auf Repressionsmaßnahmen mit einer gewissen „Bestrafungsmentalität“. In Konflikten setzt er dann eher auf Autorität. Die Perspektive anderer Personen rückt dabei in den Hintergrund. Vielleicht fühlt er sich sogar als etwas „Besseres“. Wenn im Vergleich dazu seine paradigmatische Annahme ist, dass Polizieren eher die Aufgabe hat, dafür zu sorgen, die Gesellschaft als Ganzes (mit allen Menschen) zu schützen und allen Menschen Teilhabe zu ermöglichen, geht er möglicherweise mit einer anderen Einstellung in Konfliktsituationen. Er hat ein Verständnis für die darunterliegende Entwicklung von Konflikten (auch mit dem Gesetz) und versucht, stets Bürger*innen zu verstehen. Er sieht sich auf Augenhöhe mit dem/der Bürger*in. Das zeigt sich dann in seinem Umgang sowie in der Kommunikation mit Bürger*innen. ◄ Präskriptive Annahmen Präskriptive Annahmen sind Annahmen darüber, was unserer Meinung nach in einer bestimmten Situation geschehen sollte. Sie sind die Annahmen, die an die Oberfläche kommen, wenn wir uns damit auseinandersetzen, wie wir glauben, dass wir oder andere sich verhalten sollten. Es sind unsere Annahmen darüber, wie gute Lern- und Trainingsprozesse aussehen sollten und welche Verpflichtungen wir Bürger*innen und Polizist*innen gegenüber haben sollten. Sie sind unweigerlich in unseren paradigmatischen Annahmen verankert und erweitern diese.
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M. Staller et al. Beispiel
Wenn eine Einsatztrainerin zum Beispiel glaubt, dass Erwachsene selbstgesteuerte Lernende sind, dann geht sie davon aus, dass der beste Unterricht derjenige ist, der Polizist*innen dazu ermutigt, die Kontrolle über die Gestaltung, Durchführung und Bewertung ihres eigenen Lernens zu übernehmen. Wenn sie glaubt, dass Depressionen nur durch äußere Umstände verursacht werden, dann glaubt sie, dass sie nicht deprimiert sein sollte, wenn ihre äußeren Umstände in Ordnung sind. Sie glaubt dann auch, dass der beste Weg, auf Depressionen zu reagieren, darin besteht, sich selbst zu sagen, dass sie keinen Grund hat, depressiv zu sein. ◄ Kausalannahmen Kausalannahmen sind Annahmen darüber, wie verschiedene Teile der Welt funktionieren und unter welchen Bedingungen diese verändert werden können. Von allen Annahmen, an denen wir festhalten, sind die kausalen Annahmen am leichtesten aufzudecken. Kausalannahmen scheinen dabei die häufigsten Annahmen zu sein (Brookfield 2013). Diese werden gewöhnlich prädiktiv ausgedrückt: z. B. „Wenn ich A mache, dann wird B passieren“. Beispiel
In meinem ersten Jahr als Einsatztrainer wurde mir (MS) zum Beispiel gesagt, ich solle „streng anfangen, den Polizeistudierenden zeigen, wer der Chef ist“; dann könnte ich nachlassen. Heute sage ich beispielsweise werdenden Einsatztrainer*innen oft, dass sie „alles, was sie von den Lerner*innen wollen, vorleben sollen, bevor sie sie darum bitten“. An der Hochschule vertrete ich die Ansicht, „wir müssen den Student*innen zeigen, wie respektvolle Meinungsverschiedenheiten aussehen, bevor wir es selbst von ihnen verlangen“. Wenn ich ein strittiges Thema wie Polizeigewalt anspreche, sage ich mir immer, dass ich über meine eigenen Erfahrungen sprechen muss, bevor ich jemanden bitte, sich mit den eigenen auseinanderzusetzen. Das sind alles voraussagende kausale Annahmen; ich gehe davon aus, dass, wenn ich sie befolge, bestimmte Konsequenzen eintreten werden. ◄ Die meisten der kausalen Annahmen, die durch Reflexionsprozesse aufgedeckt werden, sind nicht in einem absoluten oder universellen Sinn immer richtig oder immer falsch. Die meisten kausalen Annahmen sind mehr oder weniger angemessen, je nach der Situation, die zu einem bestimmten Zeitpunkt besteht. Ein wichtiges Element des Reflexionsprozesses besteht also darin, unser Bestes zu tun, um die Bedingungen zu verstehen, die herrschen, wenn wir entscheiden, welche Annahmen mehr oder weniger zutreffend sind. Wir haben nur dann eine Chance, ein fundiertes Urteil über die Richtigkeit einer bestimmten Annahme zu fällen, wenn wir über möglichst vollständige Informationen über die Bedingungen verfügen, unter denen sie verwendet wird. Oftmals gehen wir davon aus, dass eine Annahme, der wir folgen, einen viel größeren Genauigkeitsbereich hat, als dies tatsächlich der Fall ist (Brookfield 2013).
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Unsere handlungsleitenden Annahmen haben auf unser Handeln einen großen Einfluss. Je nach Reflexionsgrad sind wir uns dieser Einflüsse mehr oder weniger bewusst. Wenn es also darum geht, Einsätze oder Einsatztrainings reflektiert zu planen und umzusetzen, ist ein Auseinandersetzen mit den eigenen handlungsleitenden Annahmen (Reflexionsebene 2 und 3) essenziell. Brookfield (2013) schlägt das Betrachten und Untersuchen des eigenen Verhaltens durch verschiedene „Linsen“ vor, um ein tieferes Verständnis für die darunterliegenden beeinflussenden Faktoren zu erhalten und weitere Sichtweisen und Interpretationsmöglichkeiten auf für uns als Tatsachen wahrgenommene Aspekte zu erhalten. Perspektive der Adressaten Das Einnehmen der Perspektive der Adressaten der Maßnahme (= Bürger*in) oder des Einsatztrainings (= Lerner*in) ermöglicht uns, der Auswirkungen unserer eigenen Handlungen auf den/die Adressat*in stärker bewusst zu werden (Inzunza 2014; Inzunza et al. 2019; Klein et al. 2015). Das hilft uns, unsere Annahmen zu klären, und liefert uns Anhaltspunkte, wann diese Sinn machen und wann sie geändert oder verworfen werden müssten. Eine weitverbreitete Meta-Annahme ist, dass die Bedeutungen, die wir unseren Handlungen zuschreiben, die gleichen sind, die die Bürger*innen (oder Lerner*innen) ihnen entnehmen (Brookfield 2013). Empirische Befunde zeigen, wie unterschiedlich polizeiliche Verhaltensweisen aus verschiedenen Perspektiven interpretiert werden (Rojek et al. 2012). Auch im Einsatztraining konnten wir in einer eigenen Studie feststellen, dass unser Verhalten als Trainer anders wahrgenommen wurde, als wir dies gedacht und geplant hatten (Körner et al. 2020). Weitere empirische Studien im Einsatztraining belegen, dass es unterschiedliche Perspektiven zwischen Lerner*innen und Trainer*innen auf denselben Trainingsaspekt geben kann (Körner und Staller 2020b) Rückmeldung von Kolleg*innen Rückmeldungen von Kolleg*innen sind eine weitere Quelle an Informationen über die eigene Handlungspraxis aus einer anderen Perspektive. Die Wahrnehmung von Kollegen auf das, was wir tun, und das Führen von kritischen Gesprächen mit ihnen ermöglicht uns, Aspekte der eigenen Praxis wahrzunehmen, die uns sonst verborgen bleiben. Durch die subjektiven Lesarten von Kolleg*innen und die Beschreibung ihrer Reaktionen auf Situationen, mit denen wir konfrontiert sind, erhalten wir neue Perspektiven auf unsere Praxis. Kolleg*innen können uns weitere Sichtweisen vorschlagen, die wir vielleicht übersehen haben, und Antworten auf Situationen und Problemstellungen geben, in denen wir uns ahnungslos fühlen. Diskussion und Austausch mit anderen Kolleg*innen sind auch für Einsatztrainer*innen eine subjektiv als wichtig wahrgenommene Quelle von neuen Informationen (Staller et al. 2021a). Eigene Erfahrung als Adressat*in Eigene Erfahrungen als Adressat*innen liefern wichtige Hinweise darauf, welche Art von Situationen und Interaktionen einen positiven oder negativen Effekt auf das Verhalten des
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M. Staller et al.
Adressaten haben. Eigene Erfahrungen mit polizeilichen Einsatzsituationen (als Adressat*in; nicht als Polizist*in) helfen zu verstehen, welche polizeilichen Verhaltensweisen unter welchen Umständen beispielsweise eher zu kooperierendem oder eher zu renitentem Verhalten führen. Schwierigkeiten könnten hier im Umfang der gemachten Erfahrungen als Adressat*in liegen: Je nach autobiografischem Hintergrund haben Polizist*innen einen unterschiedlich großen Fundus an erlebten Polizeikontakten. Im Bereich von Lehr-Lern- Settings sieht dies anders aus. Durch Lern- und Bildungsprozesse in der Schule, in der Ausbildung und/oder im Studium haben Einsatztrainer*innen selbst Erfahrungen als Lerner*innen gesammelt (Körner et al. 2019). Diese können hilfreiche Wissensquellen sein, um beispielsweise zu verstehen, welche Arten von Trainingssettings und Verhaltensweisen als Trainer*in Lernen behindern oder eher fördern. Wissenschaft & Forschung Theorien und wissenschaftliche Forschung können unerwartete und erhellende Interpretationen sowohl bekannter als auch neuer komplexer Situationen liefern. Dies gilt sowohl für die Bewertung von Einsätzen und Konfliktdynamiken als auch für Situationen innerhalb polizeilicher Trainingssettings. Beispielsweise können Erkenntnisse zur Selbstbestimmungstheorie neue Sichtweisen auf ein wahrgenommenes nicht-engagiertes Verhaltens eines Lerners im Einsatztraining ermöglichen. Für Einsatzkräfte können Erkenntnisse zu Interaktionsdynamiken in Gewaltgeschehen (Reuter 2014; Rojek et al. 2012) oder die Theorie der sozialen Identität neue Zugänge zur Interpretation von Spannungs- und Konfliktsituationen auf Demonstrationen geben (Stott und Radburn 2020).
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Lehren einer reflektierenden Einstellung
Nach der Darstellung der Wichtigkeit der Reflexion für professionelles Handeln, der Reflexionsebenen und Möglichkeiten, die Annahmen und das eigene Handeln zu hinterfragen, stellt sich die Frage, wie Polizist*innen und Einsatztrainer*innen dazu bewegt werden können, den/die reflektiert/en Praktiker*in als persönliches Leitbild zu verankern. Empirische Befunde im Bereich des Einsatztrainings und des polizeilichen Konfliktmanagements liegen dazu noch nicht vor; allerdings weisen Befunde aus der Lehrer*innenbildung (Brookfield 2013, 2017) und in anderen professionellen Settings (Gallimore et al. 2014; Kim 1999; Knowles et al. 2007; Legare und Armstrong 2017) auf mehrere Aspekte hin, die für eine Entwicklung eine reflektierenden Grundeinstellung wichtig zu sein scheinen. Entwicklung in Kleingruppen Das Reflektieren eigener Erfahrungen in Kleingruppen wird in unterschiedlichen Kontexten von Lerner*innen als positiv wahrgenommen (Brookfield 2017; Lees und Cooper 2019). Besonders wichtig erscheinen hier die Einbettung in einen spezifischen Reflexionsrahmen sowie die Unterstützung des Prozesses durch Experten (Lees und Cooper 2019).
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Empirische Befunde zum Training des Einsatzhandelns bestätigen diesen Befund (Wolfe et al. 2020). Für das Einsatz- und Trainer*innenhandeln ergibt sich daraus der Bedarf an entsprechenden Reflexionsmodellen (für den Einsatz und für das Training) sowie die professionelle Begleitung des Reflexionsprozesses. Vorbilder des Prozesses Befunde aus der Lehrer*innenbildung zeigen (Brookfield 2013), dass das Vorleben einer reflexiven Grundhaltung seitens derer, die diese Haltung annehmen sollen, als positiv empfunden wird. Für das polizeiliche Konfliktverhalten ergeben sich hier innerhalb der Organisation sowie in entsprechenden Lehr-Lern-Settings mannigfaltige Möglichkeiten einer positiven Modellierung. In Aus- und Fortbildungsveranstaltungen sowie Lehrveranstaltungen können Lehrkräfte, Dozent*innen, Professor*innen und auch Einsatztrainer*innen selbst eine reflexive Grundhaltung an den Tag legen. Gleiches gilt für Trainer-Trainer (sog. Coach Developer): Einsatztrainer*innen profitieren möglicherweise in ihren Aus- und Fortbildungsveranstaltungen ebenfalls davon, dass ihre Trainer*innen auch kritisch mit ihren Verhaltensweisen und den darunterliegenden Grundannahmen umgehen. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang ein Ausführen der eigenen Gedankengänge und Unsicherheiten. Schließlich kann auch die Organisation an und für sich dazu beitragen: Eine reflexive Grundhaltung auf organisationaler Ebene kann ebenfalls als Vorbild für diesen Prozess dienen. Konkrete Erfahrungen Erlebte Erfahrungen sind Fixpunkte, an denen Reflexionen vorgenommen werden können. Diese können, müssen aber nicht selbst erlebt worden sein. Hier eignen sich Fallstudien, kritische und fast-kritische Ereignisse, Simulationen und Szenarien (Wolfe et al. 2020) und eben die eigenen Erfahrungen. Irritierende Ereignisse Ereignisse, die zu Beginn nicht eingeordnet werden können, haben das Potenzial für Veränderung, für Transformation (Catalano et al. 2018). Wenn Erfahrungen nicht in mit den bisherigen Erfahrungen in Einklang gebracht werden können, eröffnen sich Möglichkeiten, die zugrunde liegenden Annahmen zu hinterfragen. Damit bieten sich Lernchancen. Irritierende Ereignisse können geplant werden, doch zeigen sie sich häufig auch unverhofft. Entwicklungsprozess Das Entwickeln einer reflexiven Grundeinstellung ist ein langsamer, dynamischer Prozess. Reflektierende Praktiker*innen sollten die Möglichkeit haben, sich in nicht-bedrohlichen Situationen in Reflexion zu üben. Entsprechend erscheint es zielführend, erst über Verhaltensweisen und Annahmen anderer Personen zu reflektieren, bevor diese sukzessive auf sich selbst bezogen werden können (Brookfield 2013).
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Fazit Reflexivität ist eine essenzielle Voraussetzung für eine professionelle Praxis innerhalb der Polizei. Über das Handeln anderer sowie das eigene Handeln kriteriengeleitet nachzudenken, die dem Handeln jeweils zugrunde liegenden Annahmen zu erkennen und sich von dort aus ggf. im Austausch mit relevanten Wissensquellen mögliche Alternativen zu erschließen, bildet den Kern einer reflektierten polizeilichen Praxis auf individueller und kollektiver Ebene. Abschließend formulieren wir für Einsatzkräfte, Trainer*innen und Entscheider*innen beispielhaft Tipps und Orientierungen für eine reflektierte polizeiliche Praxis.
Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Die Fähigkeit zur Reflexion ist eine essenzielle Ressource für polizeiliche Organisationen und Institutionen. Entsprechend erachten wir es als sinnvoll und wichtig, dass Entscheider*innen Struktururen fördern, die Reflexion auf organisationaler, aber auch auf individueller Ebene begünstigen. Im Einzelnen sind dies: • Förderung von Reflexion in der Aus- und Forbildung: Das (Er-)Lernen einer reflexiven Haltung gehört in die Aus- und Fortbildung des polizeilichen Personals auf jeder Ebene. Dies umfasst (a) das Hinterfragen der eigenen Handlungen (Reflexionsebene 1) und (b) das Hinterfragen und kritische Betrachten der handlungsleitendenen Annahmen (Reflexionsebene 2) sowie das Sichtbarmachen von Strukturen, die die Auswahl der handlungsleitenden Annahmen bedingen (Reflexionsebene 3). • Etablierung von Supervisionen und Coachings für Einsatzkräfte mit regelmäßigem Bürger*innenkontakt und Einsatztrainer*innen: Beide Personengruppen sollten die regelmäßige Möglichkeit einer professionell angeleiteten Supervision und Coachings haben, um so die handlungsleitenden Strukturen (= Annahmen) kritisch zu betrachten und – sofern nötig – zu überdenken und zu ändern. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass reflexives Verhalten per se Bestand hat. • Förderung einer Perspektivenerweiterung: Das aktive „Inkontakttreten“ mit neuen, anderen und auch gegenteiligen Perspektiven ermöglicht das Überdenken eigener handlungsleitender Annahmen. Beispielsweise wird das „Hineinschnuppern“ in ein Sozialpraktikum im Rahmen der polizeilichen Ausbildung regelmäßig als Möglichkeit einer Perspektivenerweiterung in Bezug auf den Umgang mit vulnerablen Personengruppen angeführt.
Der/die reflektierte Praktiker*in: Reflektieren als Polizist*in und Einsatztrainer*in
• Förderung von Reflexion als mehr als „nur“ Denken: Einsatzmodelle und Evaluationen sollten systematisch auf im Hinblick auf die Reflexivität von handlungsleitenden Annahmen überprüft und angepasst werden. Reflexivität geht über das reine „Nachdenken“ über einen Vorfall, eine Struktur, o. Ä. hinaus. Entsprechend sollten Modell und Evaluationsstrukturen klar darlegen, welche Reflexionsebenen bedient (1, 2 oder 3) werden. • Reflexives Verhalten lernt der Mensch am besten durch das aktive Vorleben von Vorbildern. Entsprechend liegt es an Vorgesetzten, selbst kritisch reflexiv mit den eigenen Handlungen umzugehen. Dazu gehören auch das Überdenken der eigenen Annahmen und das Anpassen und Kommunizieren dieser Überdenkensprozesse. Unsicherheit über die «richtige» Perspektive ist ein Zeichen von Stärke – nicht Schwäche.
b) Einsatzkräfte Einsatzkräfte profitieren gerade im Umgang mit Konfliktsituationen von einer erhöhten Reflexivität: • Reflexivität schärft das Bewusstsein für die eigenen Perspektiven, Umstände und Voreingenommenheiten, eine wichtige Fähigkeit für professionnelle Konfliktmanager*innen. Darüber hinaus bietet sie mehr Wahlmöglichkeiten, wie solche Voreingenommenheiten während des Interventionsprozesses bearbeitet werden können oder sogar genutzt werden können. • Reflexivität verbindet leidenschaftslose Analyse mit engagierter Selbstbeobachtung der eigenen Gefühle, Impulse und Gedanken vor, während und nach dem Einsatz. Das regelmäßige reflexive Betrachten und Bearbeiten dieser Strukturen kann die Kompetenz zur kooperativen Konfliktlösung steigern. • Reflexivität erleichtert den Dialog, indem sie eine Hier-und-Jetzt-Analyse von Gedanken und Gefühlen zwischen Bürger*innen und Polizist*innen ermöglicht und diese z. B. dazu benutzt, gegenläufige Meinungen absichtlich an die Oberfläche zu bringen und konstruktiv zu bearbeiten. • Reflexivität ermöglicht das Erkennen und Einnehmen von anderen Perspektiven – eine Grundvoraussetzung für ein kooperatives Konfliktmanagement. Das regelmäßige Nutzen eines systematischen Planungs- und Reflexionsrahmens für eine Einsatzbewältigung erachten wir als sinnvoll, um Reflexivität in Bezug auf Einsatzsituationen zu erlernen und zu leben. Beides sind Voraussetzungen für eine professionelle Praxis.
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M. Staller et al.
c) Einsatztrainer*innen Einsatztrainer*innen sind im Rahmen ihrer Sozialisation mit verschiedenen Annahmen in Kontakt gekommen, die ihnen eine Idee darüber gegeben haben, wie (a) Lernen funktioniert und (b) wie welche Inhalte am besten zu vermitteln sind. Das Sichtbarmachen dieser handlungsleitenden Annahmen ist ein erster Schritt, um zu überprüfen, ob diese Annahmen sich auf Erfahrung, Glaube, Meinung oder auf wissenschaftliche Evidenz stützen. Das regelmäßige Überprüfen der eigenen handlungsleitenden Annahmen als Einsatztrainer*innen ist eine essenzielle Voraussetzung für eine professionelle Praxis als Einsatztrainer*in. Reflexivität als Einsatztrainer*in bedeutet auch, Meinungen, Tipps, Tricks und neue Befunde kritisch zu hinterfragen und zu überprüfen und zu überlegen, ob eigene (Wunsch-)Annahmen dazu führen, dass einige Informationen eher angenommen und andere eher abgelehnt werden.
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Der/die reflektierte Praktiker*in: Reflektieren als Polizist*in und Einsatztrainer*in
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Wissen als Ressource Swen Koerner und Mario Staller
„To make your organization perform, you’ll have to build systems that support knowledge – not data“ (Manville und Foote 1996, S. 1).
Inhaltsverzeichnis 1 L eistung im Kontext und strukturelles Wissensdefizit 2 Wissensbedarf 2.1 Isolierte Perspektiven 2.2 Finalisiertes Wissen 2.3 Immunisierung
62 64 65 66 68
Reviewer*innen: Michael Jasch, Detlef Oertel Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine für die Ausrichtung des Handbuchs inhaltlich und sprachlich modifizierte Version von: Körner, S. & Staller, M. S. (2020). Wissen als Herausforderung – Polizeiliches Einsatztraining in systemischer Perspektive. In K. Liebl & E. Kühne (Hrsg.), Polizeiwissenschaft – Fiktion, Option oder Notwendigkeit (S. 193–212). Frankfurt am Main: Verlag für Polizeiwissenschaft. S. Koerner (*) Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research, Deutsche Sporthochschule, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Staller Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_4
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S. Koerner und M. Staller
62 3 Daten – Information – Wissen Literatur
69 74
Zusammenfassung
Einsatztrainer*innen gründen ihre Trainingspraxis auf Wissen: auf Einsatzwissen, das, gerahmt von politischen und rechtlichen Vorgaben, Bewältigungskompetenzen für typische einsatzbezogene Anforderungen umfasst, sowie auf pädagogisches Wissen, das Kompetenzen zur Vermittlung entsprechender Einsatzkompetenzen beinhaltet. Der Beitrag argumentiert, dass Wissen die zentrale Ressource des Einsatztrainings bildet, dabei allerdings die Vorstellung eines einfachen Transfers zu problematisieren ist. Dazu wird Einsatz- und Trainingswissen aus Sicht der ökologischer Dynamiken als entscheidende Herausforderung für eine professionelle Trainingspraxis und deren Weiterentwicklung identifiziert. Für das Einsatztraining ist die moderne Wissenschaft in dieser Hinsicht ein wichtiger Ansprechpartner. Zugleich gehen mit der Bezugnahme auf Wissenschaft potenziell beachtenswerte Probleme für das Einsatztraining einher: Moderne Wissenschaft ist hoch spezialisiert. Daraus folgt mitunter ein isolierter Blickwinkel, der die komplexen Anforderungen der Leistungserbingung in Training und Einsatz unterläuft. Einsatztraining steht unter zeitlichem Druck und muss für Polizeikräfte nützlich sein: Das kann eine übereilte Rezeption und Finalisierung (pseudo-) wissenschaftlichen Wissens zur Folge haben. Die Wissenschaft hat eigene Verfahrensregeln, nach denen sie ihr Wissen generiert und bewertet. Sofern diese Regeln und das aus ihnen resultierende Wissen bestehende Vorstellungen und Strukturen der Polizei infrage stellen, besteht die Gefahr einer Immunisierung gegenüber Wissenschaft. Mit dem Plädoyer für eine „organisationale Wissensbildung“ (Nonaka 1994) wird eine konkrete Entwicklungsperspektive aufgezeigt, die im Zusammenspiel von Praktiker*innen und Entscheider*innen dem Wissensbedarf des Einsatztrainings eine systematische Grundlage bieten kann.
1
Leistung im Kontext und strukturelles Wissensdefizit
Einsatzbezogene Anforderungen von Polizist*innen unterscheiden sich situativ und je nach Verwendung. Einsatzkräfte positionieren sich taktisch, kommunizieren, wechseln dabei in die Perspektive des anderen, möglicherweise aber müssen sie auch von jetzt auf gleich körperlichen Zwang ausüben oder sogar von der Schusswaffe Gebrauch machen. Die Anforderungen sind miteinander verzahnt, können sich sprunghaft ablösen, überlagern oder wiederholen (Ellrich und Baier 2014; Jager et al. 2013). Genau das macht die Komplexität des Einsatzhandelns aus. Diese Komplexität zeigt sich nicht nur auf der Ebene der einzelnen Polizeikraft, sondern auch auf Team- und Einheitsebene. Das opti-
Wissen als Ressource
63
male und effektive Ineinandergreifen einzelner Leistungskomponenten auf jeder Ebene ist dabei eine wesentliche Voraussetzung für den Einsatzerfolg. Bei allen Unterschieden ähneln die Anforderungen an Polizist*innen mitunter denen von Leistungssportler*innen. Zu Leistungen in dynamischen und komplexen Situationen bietet der Ansatz der ökologischen Dynamiken (Arajo et al. 2017; Seifert et al. 2019) eine theoretisch-fundierte und empirisch-bestätigte Sichtweise, die auf die Leistungserbringung in polizeilichen Trainings- und Einsatzsituationen (Staller und Körner 2020; Körner und Staller 2017) übertragen werden kann. Die Kernidee der ökologischen Dynamik ist einfach: Leistung ist immer kontextbezogen, also abhängig von konkreten Umweltbedingungen, die das Handeln ermöglichen und quasi als Leitplanken der Leistungserbringung fungieren. Während z. B. in einem sportlichen Weitsprungwettkampf Rückenwind einen zentralen Kontextfaktor darstellt, der über Sieg und Niederlage entscheiden kann (Araújo und Davids 2018), spielen Luftwiderstand und Rückenwind im Kontext der Verteidigung eines/einer Polizist*in gegen einen Messerangriff keine nennenswerte Rolle. Kontextbedingungen der Leistung von Polizist*innen
Übeträgt man die Idee der Abhängigkeit von Leistung auf das Umfeld der Leistungserbringung, sind für Polizist*innen grob folgende Kontexte relevant: (1) Der konkrete Einsatzkontext. Dazu zählen die spezifische Situation, die jeweils zu bewältigende Aufgabe (z. B. Festnahme), das momentane Verhalten von Kolleg*innen und Bürger*innen (z. B. Bewegen der Hände) sowie konkrete Beschaffenheiten der Umwelt (z. B. Geräusche beim Öffnen der Tür; diffuses Licht); (2) Der konkrete Trainingskontext, in dem die im Einsatz geforderte Leistungserbringung trainiert und optimiert werden soll, und (3) die Polizei als Organisation, die als Binnenumwelt von Training Rahmenbedingungen der Leistungserbringung in Einsatz und Training bereitstellt (Rothwell et al. 2020). Einsatz, Training, Organisation – sie bilden für die Leistungserbringung und jeweils füreinander relevante – und insofern „ökologisch“ vernetzte – Umwelten. (4) Gesellschaft, in der Politik, Recht und moderne Massenmedien als externe Umwelten von Polizei und Einsatztraining das polizeiliche Handeln auf freiheitlich- demokratische (Verfassungs-)Ziele hin ausrichten, normativ rahmen und im öffentlichen Diskurs kritisch begleiten.
Sofern die Leistung von Polizist*innen an Kontextbedingungen gebunden ist, hat das Konsequenzen für das Einsatztraining. Zum einen ist das Training strikt an den zu bewältigenden Anforderungen im Einsatz auszurichten (Körner und Staller 2020). Das Maß dafür ist Repräsentativität (Pinder et al. 2011). Repräsentativ ist ein Training dann, wenn
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S. Koerner und M. Staller
Trainingsaufgaben so gestaltet werden, dass trainierende Einsatzbeamt*innen auf Informationen reagieren können, die denen der Anwendungsumgebung (der Realität) entsprechen und somit im Training die gleiche Reaktion wie in einer echten Einsatzsituation ausgeführt werden kann (Staller et al. 2017). Leistung im konkreten Kontext hat zum anderen zur Folge, dass es zu keinem einfachen Wissenstransfer aus anderen Einheiten (z. B. SEK) und Kontexten (z. B. Militär) kommen kann. Stattdessen bedarf es einer Analyse der spezifischen Einsatzanforderungen und -belastungen der jeweiligen Verwendung (Walker und Orr 2017) und damit der Generierung spezifischen Einsatzwissens bei gleichzeitiger Schaffung von spezifischem Trainingswissen. Vor diesem Hintergund ist es mehr als beachtenswert, dass abgesehen von polizeilichen Kriminalstatistiken und persönlichem Erfahrungswissen kaum systematische und repräsentative Untersuchungen zu Einsätzen von Polizist*innen in unterschiedlichen Verwendungskontexten vorliegen. Für das Einsatzhandeln von Polizist*innen in Deutschland ist ein strukturelles Wissensdefizit zu diagnostizieren. Vor allem die Entstehung und der Verlauf von Konflikten im Einsatz sowie die daraus resultierenden Belastungsanforderungen sind gegenwärtig kaum untersucht (Ellrich et al. 2011; Ellrich und Baier 2014; Jager et al. 2013). Ebenfalls erst in Ansätzen erforscht ist das Einsatztraining selbst. Wie wird trainiert? Inwiefern wird das Training für den Einsatz realen Einsatzanforderungen gerecht? Erreicht das Training seine Ziele? In Anbetracht der zentralen Funktion des Einsatztrainings, Polizist*innen effektiv auf den Einsatz vorzubereiten, ist dieses Wissensdefizit beachtenswert. Vonseiten der Wissenschaft sowie der erwartbar zuständigen Polizeiwissenschaft erfährt das Training bislang wenig Beachtung. Das strukturelle Wissensdefizit wird der zentralen Scharnierfunktion des Einsatztrainings zwischen beruflicher Praxis und Aus- bzw. Fortbildung kaum gerecht.
2
Wissensbedarf
Sowohl für Polizeikräfte als auch für Einsatztrainer*innen und den Kontext ihrer Behörden ist Wissen die entscheidende Ressource (Willke 2002b). Wissen definiert, was im Training wie zum Thema wird, und formatiert den Spielraum komplexer Leistungserbringung. Aus der Komplexität einsatz- und trainingsbezogener Anforderungen für das Einsatztraining entsteht ein fortwährender Wissensdruck. Die Orientierung an moderne Wissenschaft erklärt sich vor diesem Hintergrund. Die Vorteile des Wissenschaftsbezugs liegen auf der Hand: Wissenschaft stellt (1) neue Erkenntnisse in Aussicht, die für praktische Aspekte von Training und Einsatz eine Bedeutung haben könnten und ggf. innovative Antworten auf pressierende Fragen der Praxis liefern, etwa für die Optimierung einsatzrelevanter Leistungsgrößen und Belastungsanforderungen. Ein besonderer Vorzugswert von Wissenschaft besteht (2) darin, dass sie sich bei der Produktion von Wissen am Prinzip von „Wahrheit und Methode“ (Gadamer 1975) orientiert. Wissenschaft ist methodisch kontrollierte Produktion von Aussagen über Weltsachverhalte: Zum Beispiel ist die Wirkung einer Trainingsintervention auf die Ausdauer-
Wissen als Ressource
65
leistung von Einsatzkräften anhand der Sauerstoffaufnahmekapazität oder die Anzahl gebildeter Mitochondrien statistisch messbar – das Ergebnis ist wahr und eindeutig im Sinne der Methode. Durch ihren Wissenschaftsbezug erfüllen moderne Polizeien (3) den Anspruch an lernende Organisationen, was sich strukturell u. a. in einer akademisierten Ausbildung und der Binnendifferenzierung einer eigenen Polizeiwissenschaft niederschlägt. Die Orientierung Wissenschaft ermöglicht nicht zuletzt (4) ein impression management (Bromley 1993) als Steuerung externer Selbstbilder: Polizeiarbeit, die ihre Entscheidungen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen als Grundlage beruft, kann mit gesellschaftlichen Anerkennungs- und Reputationsgewinnen rechnen. Neben Vorteilen birgt der polizeiliche Bedarf nach wissenschaftlichem Wissen allerdings auch beachtenswerte Probleme, auf die wir im Folgenden kurz eingehen.
2.1
Isolierte Perspektiven
Die Wissenschaftsentwicklung ist gekennzeichnet durch fortschreitende Differenzierung und Spezialisierung (Stichweh 2014). War die antike Philosophie noch zuständig für alles, angefangen von der lebendigen Natur, den kleinsten Teilchen und großen Himmelskörpern über die Seele des Menschen, seine Gesundheit oder sein Erkenntnisvermögen bis hin zu Fragen der Steuerung und Regulierung von Gesellschaft, existieren dafür heutzutage hoch spezialisierte, nicht füreinander austauschbare Zuständigkeiten (Stichweh 2014). Biologie, Physik, Medizin, Soziologie, Psychologie, Politik- und Rechtswissenschaft etc. haben „übernommen“, bearbeiten jeweils ein bestimmtes Bezugsproblem (und nur dieses) und leisten damit jeweils ihren unverzichtbaren Beitrag zur gesellschaftlichen Reproduktion (Luhmann 2002). In sozioevolutionärer Perspektive ist Spezialisierung Ausdruck einer Anpassung an eine immer komplexer werdende Welt, die nicht mehr von einem Punkt aus angemessen bearbeitet werden kann (Nassehi 2001). Die in den 1960er- und 1970er-Jahren entstandene moderne Sportwissenschaft liefert ein gutes Beispiel für funktionale Differenzierung und Spezialisierung: Als Wissenschaft von, über und für den Sport ist sie selbst eine Teildisziplin neben anderen Wissenschaften wie Psychologie, Biologie etc., faktisch aber bilden unterschiedliche Subdisziplinen wie Biomechanik, Trainingswissenschaft, Sportpsychologie, Sportmedizin oder Sportpädagogik ihre Einheit, die jeweils im Kern unterschiedliche Aspekte des Sports beleuchten. Während sportliche Leistungserbringung komplex ist, ist Spezialisierung die Stärke der Sportwissenschaft (Güllich und Krüger 2021). Leistung im Sport hängt ab von physiologischen Parametern – die Sportmedizin erforscht ihre Mechanismen auf metabolischer und struktureller Ebene. Physiologie ist die energetische Grundlage für Bewegung – die Optimierung von Bewegung als physikalisches Phänomen ist Ansatzpunkt der Biomechanik. Sportperformance ist zudem Kopfsache – zuständig für mentale Aspekte ist die Sportpsychologie. Fragen der Periodisierung von Training behandelt die Trainingswissenschaft, die Pädagogik forscht zum Trainingsdesign etc. Die Stärke der Spezialisierung wird zum Problem, wenn einzelne Perspektiven nicht mehr zusammengebracht bzw. le-
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S. Koerner und M. Staller
diglich additiv aneinandergereiht werden, also für die sportliche Leistungserbringung in Wettkampf und Training eine Gesamtintegration physiologischer, psychologischer, biomechanischer und trainingspädagogischer Aspekte ausbleibt. Aus Spezialisierung wird dann Isolation. Die Gefahr isolierter Perspektiven durch Bezugnahme auf die Sportwissenschaft besteht gerade für das polizeiliche Einsatztraining. Als Training für den Einsatz bezieht sich das Einsatztraning regelmäßig auf die Expertise der Sportwissenschaft, die sich im Kern mit Fragen der Leistungsoptimierung und Trainingssteuerung befasst. Die Struktur der Sportwissenschaft gibt ebendiese Orientierung an einzelnen Teildisziplinen vor, die sich ggf. aus Gründen des Bestandserhalts und Reputationsmanagements jeweils als das Zen trum relevanter Forschung zur Leistungsoptimierung stilisieren. Je nach Bezugnahme stehen dann z. B. perzeptuell-kognitive Trainings (Psychologie) oder Einheiten an der Kraftmessplatte (Biomechanik) auf dem Programm. Mit Blick auf die für Einsatzkräfte kennzeichnende komplexe Leistungserbringung handelt es sich dabei aber jeweils um die isolierte Behandlung leistungsrelevanter Faktoren (Staller und Körner 2019). Für die Einsatzpraxis ist gerade deren Zusammenspiel entscheidend. Wann eine Einsatzkraft läuft, abstoppt, springt oder ggf. zu einem Tritt ansetzt, ist gebunden an konkrete handlungsrelevante Informationen (eine Bewegung, ein Schatten, ein Geräusch), die aktiv in der Situation wahrgenommen werden müssen. Die Gefahr der Isolation besteht zudem in methodischer Hinsicht. Isolierte Fähigkeiten werden nicht selten in isolierten Settings trainiert und untersucht: etwa die Wahrnehmung entscheidungsrelevanter Reize am Bildschirm oder die Reaktivkraft im Kraftraum. Derartige Interventionen produzieren sichtbare Erfolge: Nach einer Phase des Übens werden Entscheidungen am Bildschirm schneller getroffen, die Myofibrille ist messbar gewachsen etc. Was fehlt, ist die Einbindung von Wahrnehmung und Bewegung in den ökologischen Kontext ihrer Anwendung. Damit fehlt das Entscheidende. Forschungen zeigen, dass ein Transfer isoliert geübter Fähigkeiten in komplexe Situationen und Lagen keineswegs selbstverständlich ist (Renshaw 2019). Das Training der Wahrnehmung von Reizen am Bildschirm trainiert genau das: die Fähigkeit zur Wahrnehmung von genau diesen Reizen am Bildschirm. Schon auf der Ebene der individuellen Leistungserbringung zeigt sich, was uns die großen Schlüsselprobleme des 21. Jahrhunderts vor Augen führen: Komplexe Phänomene (wie bspw. der Klimawandel oder die SARS-CoV-2-Pandemie) sind mit isolierten Per spektiven einzelner Wissenschaften kaum zu bewältigen. Die aus Komplexitätsgründen entstandene Spezialisierung moderner Wissenschaften wird damit von ihren eigenen Wirkungen eingeholt (Beck 1986): Sie scheitert an Komplexität. Für die komplexe Leistungserbringung von Einsatzkräften ist isolierte Wissenschaft ein Problem.
2.2
Finalisiertes Wissen
Sein Wissensbedarf führt das polizeiliche Einsatztraining zur Wissenschaft, wo es spezialisiertes Wissen zu einzelnen Leistungsparametern antrifft. Neben dem Problem sachlich
Wissen als Ressource
67
isolierter Perspektiven, das vor allem durch die Struktur moderner Wissenschaft selbst erzeugt wird, hat die Beziehung zwischen Einsatztraining und wissenschaftlichem Wissen auch ein Zeitproblem: Einsatztrainer*innen benötigen Wissen, das sich schnell rezipieren und ohne große Widerstände in Einsatz und Training einbauen lässt. Im Unterschied zur Zeitstruktur der Wissenschaft, die – häufig ohne direkten Anwendungsbezug – auf die Entdeckung, Modellierung und Prüfung von Wissen ausgerichtet ist, haben Einsatzkräfte und Einsatztraining nicht ewig Zeit. Der nächste Einsatz steht vor der Tür, das nächste Training für den Einsatz ebenfalls. Der strukturell bedingte Wissensdruck kann eine Finalisierung wissenschaftlichen Wissens zur Folge haben. Finalisiertes Wissen ist runtergekürzt, sachlich und sprachlich vereinfacht, richtig und nützlich, von Unsicherheiten befreit. Tatsächlich aber existiert in der Wissenschaft kaum ein Modell oder Kon strukt, dessen Existenz oder Wirkung sich wissenschaftlich nicht zugleich belegen und widerlegen ließe. Auf Empirie folgt Gegenempirie. Wissenschaft muss das nicht nur aushalten, das exakt ist der Kern ihrer Existenz (Popper 1983). Am Beispiel der nichtlinearen Pädagogik (Körner und Staller 2017) zeigt sich das aktuell. Es liegen Forschungsergebnisse vor (Koerner und Staller 2020), die zugleich für und gegen deren Anwendung im Einsatztraining sprechen – also letztlich für einen situativ begründeten Einsatz der Vermittlungsform. Die Erwartung, dass hier eine neue Pädagogik eine alte ablöst, würde das derzeit verfügbare wissenschaftliche Wissen finalisieren. Der Wissensdruck des Einsatztrainings erklärt auch die Anfälligkeit für Moden, Slogans und pseudowissenschaftliche Mythen, die bereits mit den Merkmalen der Finalisierung ausgestattet sind (Scheffler 1971). Aktuell etwa erfahren Brain-Trainings, Neuro-Athletik und Übungen aus den Life Kinetiks eine starke Rezeption. Wissenschaftliche Evidenzen für die Wirkung sind aktuell im Einzelnen überschaubar (Bailey et al. 2018) bzw. nicht existent (Blair und Kooi 2004). Ihr Erfolg gründet somit weniger auf methodisch kontrolliertem Wissen, sondern auf kommunikativer Anschlussfähigkeit. Recht hat, wer anschlussfähig ist. Einmal ins Netzwerk der Polizei und des Einsatztrainings eingespeist, verstärkt sich der Effekt von selbst. Populäre Paradigmen sind dafür bekannt, bekannt zu sein. Die Kombination aus Einfachheit und Wissenschaftlichkeit fördert den Prozess. Der Titel der Neuro-Athletik etwa ist griffig, wirkt aber zugleich auf einfache Weise durch den Zusatz „Neuro“ einschüchternd und zustimmungspflichtig. Der Zusatz „Neuro-“ nutzt im Sinne Reichenbachs (2003) eine Schwulstvariante moderner Kitschkommunikation, die Zustimmung erzeugt. In der modernen Wissensgesellschaft ist Wissen ein Gut (Willke 2002a), das an vielen Orten erzeugt wird. Ein Wissensmonopol der Wissenschaft existiert nicht. Daten zum Wissen von Einsatztrainer*innen zeigen, dass diese ihr Wissen weniger aus formalen Aus- und Fortbildungsmaßnahmen beziehen, sondern vor allem über informelle Wege und Netzwerke. Wichtige Bezugsquellen sind dabei vor allem das Internet sowie der Austausch mit Kolleg*innen (Staller 2020). In Kreisen des Einsatztrainings bekannt sind u. a. Werke und Personen aus dem Bereich realitätsbasierter Selbstverteidigungssysteme. Die von ihnen propagierten Modelle, etwa zum Decision-Making, sind teilweise wissenschaftlich überholt, ohne jegliche Grundlage in der Wissenschaft oder bis heute nicht evaluiert (Koerner
68
S. Koerner und M. Staller
und Staller 2020). Dennoch, oder gerade deshalb, zirkulieren sie. Sie bedienen die Erwartung finalisierten Wissens. Mit der Finalisierung des Wissens verwandt ist die Immunisierung.
2.3
Immunisierung
Mit der Hinwendung zur Wissenschaft kauft sich das Einsatztraining einen Partner ein, der viel Zeit und Geld darauf verwendet, fortlaufend neues Wissen zu erzeugen, zu prüfen und zu revidieren. Das Einsatztraining als Organisationseinheit der Polizei hat andere Voraussetzungen und folgt anderen Regeln. Einsatztraining benötigt belastbares Handlungswissen. Dabei ist es organisational gerahmt durch polizeiliche Strukturen, in denen Hierarchie, Tradition und Routinen eine zentrale Rolle spielen (Mitchell und Lewis 2017). Nicht selbstverständlich bekommt hier das methodisch kontrollierte Wissen den Zuschlag. Zumindest besteht in der Administration des Einsatztrainings eine strukturelle Anfälligkeit dafür, bei wissensbasierten Entscheidungen dem Rang, der Tradition und/oder der Praktikabilität den Vorzug zu geben. Die Zumutung wissenschaftlichen Wissens liegt zum einen in der Sache und zum anderen im Verfahren. Die Zumutung in der Sache besteht darin, dass neues Wissen als methodisch kontrolliertes Wissen polizeiintern bestehende Traditionen, Praktiken und subjektive Überzeugungen herausfordert. Die Zumutung im Verfahren besteht darin, dass neues Wissen als methodisch kontrolliertes Wissen notwendigerweise eine regelmäßige Evaluation und ggf. Revision bestehender Praktiken und Wissensbestände beinhaltet. Neues Wissen kann dann entweder als Bedrohung des Bestehenden wahrgenommen werden, dessen Fortbestand gesichert und gegen Irritation verteidigt werden muss. Die Begegnung mit Wissenschaft folgt dann den Phasen einer systemischen Immunreaktion. Diese beinhaltet ein Stadium der Leugnung sowie ggf. Phasen der Abwehr und Vereinnahmung (Körner und Staller 2019a). Am Beispiel der nicht-linearen Pädagogik: Leugnung bestünde darin, sie zu ignorieren, also gar nicht erst über die Schwelle der Organisation treten zu lassen; Abwehr bestünde darin, der nicht-linearen Pädagogik die wissenschaftliche Legitimation („nicht abschließend bewiesen“) oder den Innovationsgehalt abzusprechen („machen wir schon lange so“); Vereinnahmung bestünde darin, sie aufzunehmen, aber die Bezugnahme nicht kenntlich zu machen (Körner und Staller 2019a). Die Gefahr einer Immunisierung des Einsatztrainings gegenüber wissenschaftlichem Wissen besteht. Dennoch ist eine zweite Art des Umgangs denkbar und möglich. Der normativ-abwehrenden Haltung gegenüber steht ein kognitiv-öffnender Umgang (Luhmann 1969). Dieser nimmt Irritationen zum Anlass für Lernprozesse. Sofern sich das Einsatztraining der Polizei tatsächlich als lernendes System versteht, wäre diese Haltung die Voraussetzung. Lernen setzt kognitive Offenheit auf allen Ebenen voraus, angefangen beim Leitbild der Organisation (lernende Organisation) über die Ebene der Entscheider*innen (Leitungsebene) und Multiplikator*innen (Trainer*innen) bis hin zu den Einsatzkräften (Lum et al. 2012). Bereitschaft und Fähigkeit zur kognitiven Haltung wären
Wissen als Ressource
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auf allen Ebenen der Organisationsentwicklung und Personalrekrutierung zu operationalisieren. Dies führt zum nächsten Punkt. Das Einsatztraining operiert wissensbasiert. Sein Wissensbedarf berührt Fragen des Wissensmanagements.
3
Daten – Information – Wissen
Einsatztraining basiert auf Wissen. Der fortlaufende Wissensbedarf entsteht aus dem genuinen Anwendungsbezug, den das Training besitzt. Dass sich das Einsatztraining die Wissenschaft als Wissensspezialisten zum Partner wählt, liegt auf der Hand. In der Beziehung zwischen Einsatztraining und Wissenschaft liegen Möglichkeiten, aber auch Fallstricke. Vor allem die dargestellten Rezeptionsmodi der Finalisierung und Immunisierung haben bereits deutlich gemacht, dass Wissen hier nicht einfach von A nach B geschoben wird. Ein direkter Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Polizei ist unmöglich. Basierend auf Konzepten des systemischen Wissensmanagements (Willke 2002b, 2007) lässt sich dieser Punkt deutlicher herausarbeiten. Wissen hat eine Basis. Der Rohstoff von Wissen sind Daten. Daten existieren nicht an sich, sondern setzen immer einen Beobachter und Instrumente voraus, mit denen Unterschiede in der Welt nach dem Code „dies/und nicht das“ erfasst werden. Daten sind somit Artefakte der Beobachtung, beobachtete Unterschiede. Wählt ein/e Beobachter*in aus der Menge aller beobachteten Unterschiede die für ihn relevanten Unterschiede aus (nach dem Code relevant/nicht relevant), werden aus Daten Informationen. Um Informationen aus Daten herzustellen, bedarf es demnach leitender Kriterien, die darüber entscheiden lassen, was für ein System wichtig ist und was nicht. Um Informationen herzustellen, kommt bildlich ein Fischernetz zur Anwendung, „dessen Maschen und Muster aus Relevanzen und Gewichtungen, Prioritäten und Spezifizierungen gestrickt sind“ (Willke 2007 S. 31). Mit diesem Netz im Ozean der Daten nach Informationen zu fischen bedeutet, die für ein beobachtendes System relevanten Daten zu identifizieren und an Bord zu holen. Wichtig ist, dass Informationen ebenfalls immer systemspezifisch sind. Verschiedene Beobachter*innen – und das können unterschiedliche Personen, Teams, Einheiten oder Organisationen sein – können auf die gleichen Daten gucken, aber daraus ganz unterschiedliche Informationen gewinnen (Lum et al. 2012) – ganz abhängig davon, welche „Maschen und Muster“ die Beobachtung jeweils leiten. Werden die an Bord geholten Informationen praktisch genutzt, etwa in Training, Ausund Fortbildung sowie im Curriculum verankert, wird daraus Wissen. Wissen ist die Einbettung relevanter Unterschiede in eine Handlungspraxis, die dieser bedarf, um ihren Zweck zu erfüllen, und sich dadurch verändert (siehe Abb. 1). Wissen entsteht durch den Anschluss von Informationen an einen bestehenden Praxiszusammenhang, an eine „community of practice“ (Wenger 1999). Entlang der Unterscheidung von Daten, Informationen und Wissen wird deutlich, dass es zwischen Wissenschaft und Polizei zu keinem direkten Informations- oder Wissensaustausch kommt. Forschungsergebnisse der Wissenschaft bezeichnen aus Sicht der Polizei
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S. Koerner und M. Staller
Filter Daten
Informationen
Unterschiede
relevante Unterschiede
z. B.
Berichte befreundeter Einheiten
entlichungen Internet
z. B. Einsatzanforderungen / Belastungsanforderungen je leistungsreduzierende Faktoren (performance limiter) lernreduzierende Faktoren (rate limiter)
Wissen systemisch relevante Praxis z. B. Beantwortung der Fragen der Unsicherheit im konkreten strukturellen und organisatorischen Kontext der Verankerung
Abb. 1 Daten – Informationen – Wissen (Körner und Staller 2020)
Daten, aus deren Fülle die relevanten Informationen nach eigenen, z. B. rechtlichen, politischen oder trainingspädagogischen, Relevanzkriterien herausgefiltert und in einen Handlungskontext eingebunden werden. Gleiches gilt auch für andere „Wissens“-Quellen: Kriminalstatistiken, Medienberichte, Dokumente aus dem Internet, gefilmte Einsätze auf YouTube, Social-Media-Beiträge von Taktik, Waffen- oder Selbstschutzexpert*innen, Diskussionen aus Chats, persönliche Einsatzerfahrungen, das „Wissen“ anderer Einheiten oder ausländischer Behörden – sie alle liefern aus Sicht des Einsatztrainings zunächst einmal eine Flut von Daten, die – sofern registriert – niemals transferiert, sondern gemäß interner Relevanzkriterien transformiert werden. Klar ist: Was im Training auftaucht, ist relevant und hat den Umbau von Daten zu Information zu Wissen erfolgreich durchlaufen. Die entscheidende Frage ist: Nach welchen Kriterien erfolgt die Transformation? Für das Einsatztraining sind dabei zwei Säulen der Wissenskonstruktion zu unterscheiden. Personales Wissen kommt automatisch ins Spiel, weil es letztlich Personen bzw. Funktionsrollenträger*innen wie Einsatztrainer*innen und deren Vorgesetzte sind, die den Auswahl- und Anwendungsprozess vollziehen. In welchem Maße dabei subjektive Erfahrungen, sozialisierte Überzeugungen und Bewertungsmuster von organisationalen Mustern der Beobachtung und Relevanzkriterien eines „collective mind“ (Weick und Roberts 1993) eingefangen und bei Bedarf korrigiert werden, ist die Frage des systemischen Wissensmanagements. Im systemischen Ansatz wird personales Wissen als wichtige Voraussetzung und Grundlage für die Leistungsfähigkeit von Organisationen gesehen. Personales Wissen verdient aber auch deshalb die Aufmerksamkeit von Organisationen, weil es von unterschiedlichen Personen und Personengruppen innerhalb der Organisation unterschiedlich konstruiert und mit Bedeutung versehen werden kann, wobei die Konstruktionen ggf. nicht mit übergeordneten Organisationszwecken harmonieren. Empirisch ist über das Wissen von Einsatztrainer*innen noch wenig bekannt (Staller 2020; Körner und Staller 2019b). Um die Leistungs-
Wissen als Ressource
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fähigkeit wissensbasierter Praxen zu steigern, plädiert systemisches Wissensmanagement für die Stärkung organisationalen Wissens als zweiter Säule der Wissenskonstruktion. Organisationales Wissen manifestiert sich in überindividuellen Strukturen, in Regelsystemen und Standardprozeduren, die die Auswahl und Filterung relevanter Information aus Daten und deren Einbettung in Handlungspraxen der Organisation begründen und eine systematische, von Personen unabhängige Verwaltung, Nutzung und Evaluation von Wissen ermöglichen. Organisationales Wissen greift dabei zwar personales Wissen auf und bewahrt die Organisation davor, mit dem Ausscheiden der Person auch deren Wissen zu verlieren. Im Kern jedoch bildet organisationales Wissen den Zusammenhang von Gedächtnis, Lernen und Intelligenz auf der Ebene von Organisation und geht damit „weg von der Zurechnung von Wissen auf das individuelle Bewusstsein“ (Luhmann 1990, S. 11). Beispiel
Einsatztrainer Bernd ist ambitioniert und immer auf der Suche nach neuen Ideen für sein Training. Seine Chefin Lydia möchte das Training verstärkt auf Erkenntnisse aus der Wissenschaft gründen. Die Leitungsebene gewährt dem Trainer*innen-Team eine dreitägige Fortbildung. Eingeladen werden drei Referenten: Ein Kollege aus einem Sondereinsatzkommando des Bundeslandes, ein Gewaltexperte, der aufgrund seiner Beiträge zu diversen Themen im Internet bei den Trainer*innen eine hohe Achtung genießt, sowie eine promovierte Wissenschaftlerin, die sich bereits innerhalb einer Vielzahl von Behörden einen Ruf gemacht hat. Der SEK-Mann soll neue taktische Impulse setzen, vom Selbstschutzexperten erhofft man sich einen „Blick über den eigenen Tellerrand“ und auch die Wissenschaftlerin erwartet man mit großer Spannung: Von ihrer Methode des „Gehirn-Lernens“ reden schon viele. ◄ Fehlen im oben genannten Beispiel auf Organisationsebene intern abgestimmte, Relevanz markierende Filter, die eine Auswahl und Überführung des in der Fortbildung behandelten „Taktik-/Gewalt-/und Methoden-Wissens“ (= Daten) nach einheitlichen Standards und Kriterien ermöglichen, würde z. B. das dadurch inspirierte Einsatztraining von Lydia und Bernd in der kommenden Woche weniger auf organisationalem Wissen basieren, sondern wäre aus Daten gespeist, die je nach personalen Relevanzkriterien gefiltert (Information) und in eine organisationale Handlungspraxis (Wissen) integriert worden sind. Was warum als einsatz- und trainingsrelevante Information und Wissen in die Aus- und Fortbildungspraxis des Einsatztrainings Einzug gefunden hat (oder nicht), wäre so letztlich abhängig von Einzelpersonen, ihren Erfahrungen, subjektiven Überzeugungen, Interessen und Motivationen. Das ist keine Kritik an Bernd und Lydia. Die Verantwortung für organisationales Wissen liegt zunächst auf der Ebene der Organisation selbst. Fazit Angesichts der dargestellten Anforderungen an das Einsatztraining, unterschiedlicher möglicher Modi des Umgangs mit dem eigenen Wissensbedarf sowie der Bedeutung eines
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überpersonellen Organisationswissens erscheint eine organisationale Wissensgenerierung als zentrale Herausforderung für das Einsatztraining der Polizei. Im Zusammenhang mit der Bearbeitung des strukturellen Wissensdefizits über Einsatz und Training wäre zudem eine systemische Herausforderung zu bewältigen. Ziel aus Sicht der Polizei muss es sein, aus der Vielzahl unsystematisch vorliegender Daten (z. B. persönliche Einsatzerfahrungen) jene für das Einsatztraining langfristig relevanten Informationen herauszufiltern und in ein organisationales Handlungs- und Entscheidungswissen (spezialisierte Datenbanken, Trainingsroutinen etc.) zu überführen. Aus Sicht des systemischen Wissensmanagements (Willke 2002b) ist diese Transformation – von Daten in Information, von Information in Wissen – für eine Professionalisierung des Einsatztrainings als moderne Organisationseinheit der Polizei unabdingbar: „To make your organization perform, you´ll have to build systems that support knowledge – not data“ (Manville und Foote 1996, S. 1). Für das Einsatztraining stellt Wissen die entscheidende Ressource dar, die systematisch genutzt, die den Zugang zu weiteren Ressourcen (Geld, Personal, Zeit) ermöglichen und die dabei die Grundlage für evidenzbasierte Entscheidungen (Mitchell und Lewis 2017; Staller und Körner 2020) liefern kann. Mit einer Stärkung des organisationalen Wissens würden zudem die dargestellten Probleme isolierter Perspektiven, einer Finalisierung des Wissens oder der Immunisierung gegenüber vermeintlich bedrohlichem Wissen systematisch bearbeitbar. Die Sicht der ökologischen Dynamik widerspricht dabei der Idee, organisationale Wissensgenerierung als Wissensbezug aus anderen Einheiten (z. B. SEK) und Kontexten (z. B. Militär) zu betreiben: Leistungserbringung ist kontextspezifisch, also gebunden an die je konkreten Anforderungen der Einsatzumgebung. Das Einsatztraining benötigt an die eigenen Bedürfnisse und Voraussetzungen angepasste Lösungen für eine „organizational knowledge creation“ (Nonaka 1994). Dazu gehören im Sinne einer lernenden Organisation (Argyris und Schön 2002) ebenso Verfahren zur fortlaufenden Revision bestehender Wissensbestände. Dazu erforderlich ist eine positive Fehlerkultur (Seidensticker 2019) auf allen Entscheidungs- und Handlungsebenen.
Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die Praxis
a) Entscheider*innen Wissen als Ressource zu begreifen und systemisches Organisationswissen zu ermöglichen, liegt in der Verantwortung der Organisation. Erste Schritte bestehen darin, wissenschaftliches Denken (weiter) in die konkreten Rahmenbedingungen des Einsatztrainings zu überführen und dafür Ressourcen freizustellen. Die Begründung dafür sehen wir im fortlaufenden Wissensbedarf sowie im Anspruch des Einsatztrainings, nach bestem verfügbaren Wissen Training für den Einsatz zu sein. Für die weitere Professionalisierung und Optimierung des Einsatztrainings sehen wir folgende Ansatzpunkte und Lösungsoptionen, die auf der Ebene organisationaler Entscheider*innen behandelt werden müssen:
Wissen als Ressource
1) Kurz- und mittelfristig ist der Ausbau struktureller Koppelungen mit externen Wissenschaften zu erwägen. Auf niederschwelliger Ebene könnten dabei in enger Abstimmung zwischen dem, was für das Einsatztraining wichtig ist, und den Möglichkeiten der Wissenschaft, dies zu untersuchen, passgenaue kleinere „U-Boot-Projekte“ zu Trainings- und Einsatzaspekten durchgeführt werden. Mit ihnen könnte an bestehende Verfahren und interne Wissensbestände angeknüpft werden und diese somit integrativ und von innen heraus wirken. Aus unserer Sicht wäre konkret die Realisierung der nachfolgenden Projekte vorrangig: • Systematische Erfassung von Anforderungen und Belastungsparametern im Einsatz; Entwicklung einer kriteriengeleiteten Einsatzanalysematrix sowie von Filtermethoden zur Erhebung, Analyse und Vernetzung von trainingsrelevanten Einsatzparametern (Belastungen, Anforderungen, notwendigen Fähigkeiten) aus regelmäßig stattfindenden Einsätzen. • Erhebung, Analyse und Vernetzung von vorliegendem Wissen zu Trainingsprozessen mit Blick auf trainingsrelevante Aspekte (Belastungsgestaltung, Periodisierung, Fertigkeitsentwicklung, Teilnahme, Motivation, Verletzungsprophylaxe). 2) Langfristig und im Einzelfall (etwa Spezialeinheiten) ist die Implementierung interner Organisationseinheiten zu erwägen, die unter einer systemischen interdisziplinären Agenda das Wissensmanagement für den Trainings- und Einsatzbereich begleiten. Ähnliche Bestrebungen einer integrativ-unterstützenden und interdisziplinär ausgerichteten Organisationseinheit existieren z. B. im Kontext ausländischer Behörden, etwa als interne Forschungs- und Entwicklungseinheit. b) Einsatzkräfte Einsatzkräfte sind von der Art und Weise, wie die für sie zuständigen Polizeibehörden mit der Ressource „Wissen“ umgehen, unmittelbar betroffen. Die Trainingspraxis, die ihnen zuteilwird, verkörpert das jeweilige personale Wissen ihrer Einsatztrainer*innen sowie das organisationale Wissen der Polizei. Von einem Mehr an Wissen dürften Einsatzkräfte profitieren, insbesondere dann, wenn es sich bei diesem Wissen um ein systemisch rückgekoppeltes Wissen handelt. Einsatztraining, das auf einer solchen Grundlage steht, dürfte die individuelle Kompetenzentwicklung und Teilnahmemotivation positiv unterstützen. c) Einsatztrainer*innen Die fachlichen und pädagogischen Anforderungen an den Beruf der/des Einsatztrainer*in sind hoch. Zum professionellen Handeln zählen eine Reihe von Wissensbereichen, die Einsatztrainer*innen kompetent „bespielen“ können müs-
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sen, inklusive der Fähigkeit zur Reflexion eigener Entscheidungen und Handlungen. Die Ressource „Wissen“ ist bei ihnen permanent in Gebrauch. Die Möglichkeit und Aufgabe zur Rückkoppelung personalen Trainer*innenwissens an ein systemisches Organisationswissen würde die Arbeit von Einsatztrainer*innen unterstützen, etwa in Form der Bezugnahme auf spezialisierte Datenbänke (systematisches Wissen über Einsätze) oder auf organisationale Kriterien, anhand derer sich Einsatz- und Trainingsdaten, wissenschaftliche Erkenntnisse und sonstige Datenquellen aus der „Umwelt“ systematisch filtern und in ihrer Relevanz für das Einsatztraining bewerten lassen.
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Die Struktur polizeilicher Leistung: Von den polizeilichen Meisterlehren zum evidenzbasierten Polizeitraining Stefan Schade
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 2 Der empirische Forschungsprozess 3 Von der polizeilichen Meisterlehre zum evidenzbasierten Polizeitraining 4 Rahmenmodell für Polizeieinsatz und Einsatztraining 5 Diskussion Literatur
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Zusammenfassung
Polizeitraining besitzt eine zentrale Funktion in der Aus- und Fortbildung von Polizeikräften. Es hat die Aufgabe, Einsatzkräfte optimal auf eine unvorhersehbare und mitunter gefährliche Einsatzdynamik vorzubereiten. Konkret muss das Polizeitraining dabei sicherstellen, dass Einsatzkräfte unter Lebensgefahr in diesen dynamischen Einsatzsituationen hinreichend funktional bleiben, das heißt gegebene Gefahrenmomente wahrnehmen und einschätzen sowie gemäß Verhaltnismäßigkeit entscheiden und entsprechend handeln können. Angesichts dieser Bedeutung des Polizeitrainings erscheint gegenwärtig die wissenschaftliche Fundierung und empirische Evaluation eher gering. Vielmehr liefern polizeiliche Meisterlehren eine intuitive Orientierung für die Reviewer*innen: Michael Hauck, Clemens Lorei S. Schade (*) Abteilung 1 – Studium, Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz, Hahn-Flughafen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_5
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rainingsgestaltung. Nachdem die Theoriebildung als Kernstück des empirischen ForT schungsprozesses identifiziert ist, wird die Notwendigkeit empirisch validierter Anforderungsprofile als Voraussetzung des Polizeitrainings herausgestellt. Zur inhaltlichen Gestaltung des Trainings schlagen wir sodann in Anlehnung an Leistungsstrukturmodelle der Sport- und Trainingswissenschaften ein allgemeines Modell zur Struktur polizeilicher Leistung vor. Dieser Vorschlag soll als Rahmenkonzeption für Polizeitrainings eine Diskussionsgrundlage und ein initialer Orientierungspunkt für im Feld Tätige darstellen. Hieran werden zentrale Ideen für das Polizeitraining diskutiert. Der Beitrag schließt mit Empfehlungen für die Stärkung der Wissenschaftlichkeit im Polizeitraining ab.
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Einleitung
Das vorliegende Handbuch ist von seinen Herausgebern dahin gehend konzipiert, dass sämtliche Beiträge einen Peer-Review-Prozess unter Mitwirkung von Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen aus der Polizei durchlaufen haben (siehe Kapitel 1 „Editorial: Ein Handbuch mit prakademischer Perspektive“). Alle Gutachter*innen hatten im sogenannten Doppel-blind-Verfahren die Möglichkeit, Beiträge ohne Änderungen zu akzeptieren, mit Begründung gänzlich abzulehnen oder unter der Bedingung einer Revision zuzulassen. Nach erfolgter Revision sind die Beiträge erneut final begutachtet worden. Dieser Selektionsprozess durch die Begutachtung von mehreren polizeilichen Expert*innen unterschiedlicher Provenienz strebt danach, die Qualität der Beiträge durch eine externe Evaluation zu erhöhen und damit im vorliegenden Fall zur Verbesserung des Polizeitrainings beizutragen (Chop und Eberlein-Gonska 2012; Gutknecht-Gmeiner 2008). Ein derartiges Buchprojekt ist unserer Kenntnis nach im deutschsprachigen Raum bisher einmalig und daher vorbildlich. Grundsätzlich aber scheint das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis nicht durchweg derart verschränkt. Vielmehr wird schon länger auch eine Diskrepanz zwischen den Aktivitäten in der Forschung bzw. Wissenschaft und denen in der Praxis gesehen (Baker und Benjamin 2000). In der Literatur wird hierbei von „science-practitioner-divide“ (Wissenschaft-Praxis-Lücke) gesprochen. Das Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis wird in der Psychologie bereits früh thematisiert (Albee 2000; Shapiro 2002). Auf einer Konferenz klinischer Psychologen wurde das sogenannte Boulder-Modell für die Ausbildung von klinisch-tätigen Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen konzeptioniert (Shakow 1945). Demnach sollen die klinischen Praktiker*innen so weit wissenschaftlich befähigt werden, dass sie im Rahmen ihrer praktischen Tätigkeit selbst auch wissenschaftlich arbeiten können, um so zum wissenschaftlichen Wachstum beizutragen. Gleichzeitig sollen die Erfahrungen in der beruflichen Praxis relevante Forschungsfragen und wissenschaftliche Hypothesenbildung anregen. Durch diese Verschränkung wird ein kontinuierlicher Fortschritt in der angewandten
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Psychologie angestrebt. In den Jahrzehnten nach der Veröffentlichung des Boulder-Modells wurde allerdings eine Reihe von Kritikpunkten angeführt (Albee 2000). Kritisch erscheint möglicherweise, dass die Anforderungen an Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen (siehe [Schade, Thielgen, Beck & Wimmer] in diesem Band) jeweils in eine andere Richtung zeigen. Mit dem „science-practitioner-divide“-Modell von Anderson, Herriot und Hodkinson (2001) aus der Arbeits- und Organisationspsychologie kann auch der Gegenstandsbereich trainingswissenschaftlicher Forschung innerhalb der Polizei als „popularist science“ mit hoher praktischer Relevanz, aber geringer wissenschaftlicher Präzision beschrieben werden. Idealerweise wird ein Zustand der „pragmatic science“ angestrebt, in dem Fragestellungen mit hoher praktischer Relevanz für das Polizeitraining mit wissenschaftlich anerkannten Methoden überprüft werden. Neben der Entwicklung in Richtung einer Populärwissenschaft („popularist science“) mit geringer Fundiertheit, aber hoher praktischer Bedeutung besteht andererseits auch die Gefahr der Entwicklung einer pedantischen Wissenschaft („pedantic science“) mit geringer praktischer Bedeutung, aber hoher Wissenschaftlichkeit. Im ungünstigsten Fall zeigt sich die Entwicklung einer sogenannten kind lichen Wissenschaft („puerile science“) mit geringer Wissenschaftlichkeit und ohne Praxisbezug. Gelingt der Theorie-Praxis-Transfer nicht oder nur unzureichend, sind sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht wenig Innovation und Fortschritt zu erwarten: „This divergence is likely to result in irrelevant theory and in untheorized and invalid practice“ (Anderson et al. 2001, S. 391). Vor diesem Hintergrund erscheint es wichtig, vonseiten der Wissenschaft, aber auch vonseiten der Praxis diese Diskrepanz möglichst zu überwinden (Albee 2000; Benit und Soellner, 2013; Rynes et al. 2001; Shapiro 2002). In diesem Beitrag gehen wir davon aus, dass für den Phänomenbereich des Polizeitrainings ebenfalls eine Lücke zwischen Theorie und Praxis vorzufinden ist. Darüber hinaus steht auch einschlägige Theoriebildung noch in den Anfängen (Körner und Staller 2020a, b). Der inhaltlich-theoretischen Gestaltung des Polizeitrainings wird (intern und extern) bisher vergleichsweise eher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Lernpsychologische oder pädagogisch-didaktische Richtlinien, wie Training polizeiliche Einsatzkräfte effektiv auf ihre Einsatzsituationen vorbereiten soll, fehlen in Deutschland bislang weitgehend. Bemühungen um die wissenschaftliche Fundierung des Polizeitrainings werden erst in jüngerer Zeit deutlicher (Staller und Körner 2019a, 2019b). Von einheitlichen Standards kann aber insbesondere im föderalistischen Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland noch lange nicht ausgegangen werden, wenngleich allgemeinpsychologische Lernprinzipien und kognitive Voraussetzungen der Polizist*innen bundesweit allseits gelten bzw. funktionieren und eine einheitliche theoretische Grundlage nahelegen. Vielmehr basiert, so unsere Annahme weiter, das Polizeitraining überwiegend auf polizeilichen Meisterlehren erfahrener Einsatzkräfte, vergleichbar mit den Meisterlehren in der Sportpraxis. Dieses (intuitive) Expert*innenwissen ersetzt bislang eine theoretische Fundierung und bildet vorrangig die Grundlage für die Trainingsgestaltung. Durch einen empirischen Forschungsprozess können hingegen Hypothesen über reale Phänomene aus dem Bereich des Polizeitrainings mit wissenschaftlichen Methoden überprüft und so Intuitionen durch empirisch gesichertes Wissen abgelöst werden (Atteslander 2010; Diekmann 2007; Kromrey
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et al. 2016; Schnell et al. 2018). Mit einer kurzen kursorischen Einführung in den empirischen Forschungsprozess soll zunächst die Bedeutung von Theorien für Wissenschaft und Praxis betont werden. Ausgehend von den sogenannten Meisterlehren der Sportpraxis und dem Trainingsbegriff der Sport- und Trainingswissenschaften soll in einem nächsten Schritt versucht werden, den aktuellen wissenschaftstheoretischen Stand des Polizeitrainings zu analysieren. Es wird deutlich, dass das Polizeitraining in theoretischer und empirischer Hinsicht von Beiträgen der Sport- und Trainingswissenschaften profitieren kann. Wir gehen von der Annahme aus, dass im Polizeitraining ebenfalls (polizeiliche) Meisterlehren existieren und zur Trainingsgestaltung bewusst oder unbewusst herangezogen werden. Diesbezüglich kann festgehalten werden, dass ausgehend von einer intuitiven Anforderungsanalyse die theoretische Fundierung des Polizeitrainings noch stärker verfolgt werden sollte. Die Beschreibung typischer bzw. kritischer Einsatzsituationen als intuitive Anforderungsanalyse kann einen ersten Schritt zur Beschreibung eines Anforderungsprofils für operative Einsatzkräfte der Polizei darstellen und Ausgangpunkt der Theoriebildung im Sinne von Leistungsstrukturmodellen sein. Allerdings muss festgestellt werden, dass bisher für das polizeiliche Einstiegsamt kein einheitliches und umfassendes Anforderungsprofil existiert (Thielgen 2016). Erst neuere Untersuchungen liefern diesbezüglich erste Ergebnisse (Nettelnstroth 2017; Nettelnstroth et al. 2019). Im nächsten Schritt schlagen wir, in Anlehnung an das Modell der verallgemeinerten Struktur sportlicher Leistung von Gundlach (1980), ein Rahmenmodell für das Polizeitraining vor. Leistungsstrukturmodelle dienen in den Sport- und Trainingswissenschaften als Grundlage zur inhaltlichen Gestaltung des Trainings (Büsch et al. 2016). Anhand des Modells sollen zentrale Ideen des Trainings eingeordnet und andiskutiert werden. Der Beitrag schließt mit Empfehlungen hinsichtlich der Verschränkung von Wissenschaft und Praxis in der Polizei und der Förderung wissenschaftlichen Arbeitens.
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Der empirische Forschungsprozess
Das Forschungsprogramm der empirischen Sozialwissenschaften sieht vor, Theorien oder Modelle über die Beziehungen zwischen Merkmalen oder über die Wirkfaktoren innerhalb eines Phänomenbereichs in einem mehrstufigen und standardmäßigen Arbeitsprozess mit der Realität abzugleichen. Theorien sind dabei widerspruchsfreie Systeme von Aussagen über reale Sachverhalte oder Probleme zur wissenschaftlichen Erklärung von Zusammenhängen oder Unterschieden zwischen mehreren Variablen eines Phänomenbereichs. Bei der Überprüfung der Theorien bzw. den daraus abgeleiteten Hypothesen können grundsätzlich zwei Vorgehensweisen unterschieden werden (vgl. Abb. 1). Im Falle eines nicht oder wenig beforschten Gegenstandsbereichs wird zum Erkenntnisgewinn ein induktives Verfahren gewählt. Ausgehend von einer Fragestellung werden hier zur Datenerhebung Forschungsmethoden explorativ eingesetzt und schließlich theoriegeleitet
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Die Struktur polizeilicher Leistung: Von den polizeilichen Meisterlehren zum …
Theorietransfer aus anderem Phänomenbereich
Stadium der induktiven Theorieentwicklung und -optimierung Induktive empirische Studie Theorieorientierte Interpretation Identifikation von Methoden zur Wissenserweiterung
Polizeitraining
Phänomen/ Problem/ Fragestellung
Theorie/Modell
Identifikation von Theorieentwicklungsbedarf Ableitung kritischer Hypothesen Hypothese nicht bestätigt
Evidenz für die Gültigkeit der Theorie/des Modells
Deduktive empirische Studie
Hypothese bestätigt
Stadium der deduktiven Theorieprüfung
Abb. 1 Der empirische Forschungsprozess: Die Theoriebildung und -überprüfung stellen das Kernstück empirischen Arbeitens dar (adaptiert nach Wirtz und Schulz 2012)
interpretiert. Das Ergebnis des induktiven Forschungsprozesses besteht damit in der Formulierung einer Theorie bzw. eines Modells. Bestehen bereits empirisch überprüfte Theorien oder werden diese aus anderen Phänomenbereichen übernommen, wird der Weg des deduktiven Verfahrens beschritten. Ausgangpunkte des Forschungsprozesses sind nun eine Theorie und die daraus abgeleiteten Hypothesen. Im Zuge einer Versuchsplanung (einschließlich Operationalisierung) werden zur Überprüfung der Hypothesen anerkannte wissenschaftliche Methoden ausgewählt und nach wissenschaftlichen Standards angewendet. Die erhobenen Daten werden mittels statistischer Verfahren ausgewertet und unter Einbezug methodischer Einschränkungen mit Blick auf die Gültigkeit der Hypothesen interpretiert. Gelingt es, die Hypothesen einer Theorie empirisch fortlaufend zu bestätigen, bewährt sich eine Theorie zur Erklärung eines Phänomens. Mit dem Ausmaß der bestätigten Hypothesen einer Theorie steigt schließlich der Grad ihrer Bewährtheit. Als bewährte Theorien stellen sie gesichertes empirisches Wissen zum Phänomenbereich zur Verfügung. Theorien bilden damit das Herzstück des wissenschaftlichen Forschungsprozesses (Atteslander 2010; Beller 2016; Diekmann 2007; Döring und Bortz 2015; Häder 2019; Kromrey et al. 2016; Schnell et al. 2018).
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on der polizeilichen Meisterlehre zum V evidenzbasierten Polizeitraining
Polizeieinsätze und -training vollziehen sich in einem organisationalen, psychosozialen, rechtlichen und pädagogisch-psychologischen Rahmen einer staatlichen Institution (Jager et al. 2013). Bei der Bewältigung von Einsätzen und der Ausführung von Polizeitraining profitiert die Polizei bereits von verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, wenngleich sie der Wissenschaft auch skeptisch gegenübersteht (Kalyal 2020; Lum und Koper 2017; Lum und Fyfe 2015; Mokros 2013; Ohlemacher 2013). So sind beispielsweise verschiedene Fächer, wie Psychologie, standardmäßig in der polizeilichen Aus- und Fortbildung oder sogar als Organisationseinheit (Psychologischer Dienst) vertreten. Das Polizeitraining ist allerdings bislang kein eigenständiger Untersuchungsgegenstand innerhalb der Polizei. Erste Versuche einer wissenschaftlichen Fundierung existieren aber bereits (Staller und Körner 2019a, 2019b). Um derartige Bemühungen aufzugreifen, plädieren wir in diesem Abschnitt dafür, trainingswissenschaftliche Konzepte der Sportwissenschaften hinsichtlich ihres Nutzens für das Polizeitraining zu prüfen und ggf. anzupassen. Ein begrifflicher Grundkanon der Trainingswissenschaft scheint durchaus geeignet, dem Polizeitraining einen ersten konzeptionellen Rahmen zu geben. Damit sollen der Polizeieinsatz und das Polizeitraining keinesfalls mit Wettkampf und Training im Sport gleichgesetzt werden. Allerdings fallen durchaus einige Parallelen ins Auge. Einsatzkräfte der Polizei und insbesondere der Spezialeinheiten gehen im Einsatz in der Regel, wie in einer Mannschaftssportart, in einem Team koordiniert nach taktischen bzw. strategischen Aspekten vor, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen (König und Memmert 2019). Im Unterschied zu sportlichem Handeln vollzieht sich das polizeiliche Handeln stets unter strengen rechtlichen Vorgaben und kann mit Grundrechtseingriffen verbunden sein, während die polizeiliche Gegenpartei unvorhersehbar ohne Bindung an rechtliche oder taktische Regeln handeln kann. Den situativen Bedingungen eines Polizeieinsatzes kommt zudem eine zentrale Rolle zu. Ein sportlicher Wettkampf gestaltet sich vorhersehbar regelhaft und wird durch unparteiische Schiedsrichter*innen geleitet. Regelwidriges Verhalten ist nicht zulässig und wird geahndet. Sportler*innen können sich mental auf den Abruf einer konkreten sportlichen Handlung im Wettkampf oder Spiel einstellen. Stress im Polizeieinsatz bedeutet, anders als im sportlichen Wettkampf, stets Unsicherheit und ernsthafte Lebensgefahr und hat mitunter eine veränderte Informationsverarbeitung zur Folge (Honig und Lewinski 2008). Unter dem situativen Druck des Einsatzes müssen Polizist*innen auf unkontrollierbares und gefährliches Verhalten des „Gegners“ situationsangemessen reagieren (Harman et al. 2019). Im Polizeitraining gilt es, einsatzbezogenen Stress auf moderatem Niveau so abzubilden, dass Lernen und Gedächtnis optimal funktionieren können. (Di Nota und Huhta 2019; Nieuwenhuys et al. 2015, 2017; Nieuwenhuys und Oudejans 2011; Power und Alison 2019; van den Heuvel et al. 2012; van den Heuvel et al. 2014). Der Begriff „Training“ wird in der Polizei mit sehr unterschiedlichen Formen von Lehrveranstaltungen der polizeilichen Aus- und Fortbildung verbunden und inhaltlich nicht einheitlich verwendet. Neben einer expliziten Begriffsbestimmung fehlt bislang weitgehend
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eine wissenschaftliche Fundierung für Training in der Polizei (Green und Tong 2020; Haberfeld, Clarke und Sheehan, 2012; Staller und Körner 2019b, 2019a). Einerseits braucht es hierfür über den „best-practice“-Ansatz hinausgehende Modelle über effektives Polizeitraining und andererseits eine empirische Überprüfung ihrer Vorhersagen. Nur durch eine empirische Validierung von Trainingsergebnissen am realen Einsatzgeschehen kann festgestellt werden, welche Lehr-Lern-Bedingungen positiven Einfluss auf eine erfolgreiche Einsatzbewältigung haben (Engel et al. 2020). Nach trainingswissenschaftlichem Verständnis des Trainingsbegriffs kann Polizeitraining analog definiert werden als ein komplexer Handlungsprozess der systematischen Planung, Durchführung und Evaluation von Maßnahmen (Trainingsinhalte und -methoden) zur nachhaltigen Zielerreichung im Polizeieinsatz (Ferrauti, 2020a; Güllich und Krüger, 2012; Hottenrott und Hoos 2013; Meinel und Schnabel 2018). Training im Sport zielte anfangs stark auf die Leistungsmaximierung und -optimierung im Hochleistungssport ab (Harre 1971; Nett 1964), wird heute aber um präventive, rehabilitative, sozio-kulturelle und pädagogisch-didaktische Aspekte erweitert (Ferrauti und Remmert, 2020; Hohmann et al. 2020). Ein derart ganzheitlicher und anwendungsbezogener Blick kann auch auf das Polizeitraining gerichtet werden. Das Kriterium der erfolgreichen (ganzheitlichen) Einsatzbewältigung macht das Polizeitraining nicht zum Selbstzweck, sondern stellt die Zielgröße dar, an der sich die Trainingsgestaltung auszurichten hat. Die Trainingswissenschaft als empirische Anwendungswissenschaft beschäftigt sich mit sportlichem Training und der Trainingssteuerung, mit der Leistungsfähigkeit der Sportler*innen und deren Leistungsdiagnostik sowie mit Wettkämpfen und der Wettkampfoptimierung im Sport (Ferrauti 2020b). Die Diagnostik der Leistungsfähigkeit stellt dabei die Grundlage für die Trainingsgestaltung dar, welche wiederum auf die Leistung Einfluss nimmt. Die Leistungsfähigkeit bildet die Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewältigung von Wettkämpfen, welche wiederum die Anforderungen an die Leistungsfähigkeit bestimmen. Training, Leistung und Wettkampf in Verbindung mit der Leistungsdia gnostik stehen also derart in Wechselwirkung, dass durch den Erfolg in einem Wettkampf über die Leistungsfähigkeit Trainer*innenhandeln und Trainingskonzepte validiert werden können (Ferrauti, 2020a; Güllich und Krüger, 2013; Hottenrott und Neumann 2016). Ähnlich der Feststellung beruflicher Anforderungsprofile in der Personalpsychologie (Blickle 2019; Kauffeld und Grohmann 2019; Schuler und Moser, 2019; Schuler 2014) beginnt in der Leistungsdiagnostik bzw. Trainingssteuerung das sportliche Training mit einer umfassenden Anforderungsanalyse. Gegenstand einer Anforderungsanalyse ist die Identifikation von Fähigkeiten, Kompetenzen, Eigenschaften, Wissen (KSOAs) sowie anderer Faktoren, die zur erfolgreichen Bewältigung einer Aufgabe erforderlich sind (siehe Kap. „Was nicht passt, wird passend gemacht? Der Person-Environment-Fit und Rolle der Personalauswahl im Polizeitraining“ in diesem Band). Das Ergebnis einer Anforderungsanalyse kann als empirische Grundlage für die Formulierung eines Leistungsstrukturmodells dienen (Büsch et al. 2016; Grosser et al. 2012; Olivier et al. 2016; Schnabel et al. 2014). Ein Leistungsstrukturmodell kann auch umgekehrt mit einer empirischen Anforderungsanalyse überprüft werden. Die Leistungsstruktur im Sport bezeichnet ein Beziehungsgefüge zwischen sämtlichen leistungsrelevanten Faktoren, die die Leistungsfähigkeit eines
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Sportlers/einer Sportlerin in einer Sportart maßgeblich beeinflussen (Smith 2003). Hieraus können Vorhersagen abgeleitet werden, wie Training auf diese Faktoren einwirkt und die Leistungsfähigkeit verändert. Mithilfe der Anforderungsanalyse und entsprechenden Leistungsstrukturmodellen können Trainingsziele formuliert, Trainingsinhalte geplant, Trainingsmethoden angewendet und das Trainingsergebnis kontrolliert werden. Bei Bedarf ist es so möglich, Trainingsmaßnahmen zielgerichtet zu modifizieren und den Anforderungen anzupassen (vgl. Abb. 2). Zusätzlich können kollektive Leistungsstrukturmodelle für die Trainingssteuerung berücksichtigt werden, wenn taktisches Handeln im Vordergrund steht (Büsch et al. 2016). Die verallgemeinerte Struktur sportlicher Leistung konnte bislang aufgrund der großen Komplexität des zugrunde liegenden Bedingungsgefüges einschließlich aller Interaktionen nicht umfassend charakterisiert werden (Hottenrott und Hoos 2013). Obwohl eine beliebige Auflistung von Leistungsfaktoren im Zweifel wenig Erklärungswert haben mag, so sind Leistungsstrukturmodelle dennoch als ein erster konzeptioneller Rahmen für die Trainingsgestaltung brauchbar (Hohmann et al. 2020). Die Trainingswissenschaft (Grundlagen des Trainings) einschließlich der Trainingslehre (Anwendung im Training) gehören in Deutschland zu den sportwissenschaftlichen
Polizeiliches Einsatzgeschehen
Empirische Anforderungsanalyse: KSAOs (knowledge, skills, abilities and other characteristics)
„Best-Practice-Modelle“/ „Polizeiliche Meisterlehren“/ Erfahrungswissen
Leistungsstrukturmodelle/ Kompetenzmodelle/ Anforderungsprofile
Validierung
Erfahrungsgeleitet-intuitive Anforderungsanalyse (Expertenurteil)
Polizeitraining: Planung, Gestaltung, Durchführung
Trainingsevaluation: Qualitätssicherung und Kontrolle
Abb. 2 Zwei Wege des Polizeitrainings: Anforderungsanalyse und Leistungsstrukturmodelle bilden die inhaltliche Grundlage des evidenz-basierten Polizeitrainings. Polizeiliche Meisterlehren bilden die Grundlage für intuitives Polizeitraining (Bennell et al. 2020; Engel et al. 2020; Sherman 1998, 2013)
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Teildisziplinen. Ihre Ursprünge gehen auf die sogenannten Meisterlehren in der Sportpraxis zurück. Die Trainingskonzepte von weltbesten Sportler*innen oder berühmten Trainer*innen bildeten dabei die Grundlage für das Training im Leistungssport einer bestimmten Sportart. Aus der wissenschaftlichen Systematisierung und Differenzierung dieses intuitiven Expert*innenwissens einer individuellen Trainingslehre entwickelte sich letztlich eine trainingswissenschaftliche Theorie. Die zu seiner Zeit ungewöhnlichen Trainingsmethoden des Langstreckenläufers Emil Zatopek, mehrfacher Olympiasieger, Europa- und ĈSSR-Meister, mündeten beispielsweise in eine Theorie des Intervalltrainings, die seither auch auf andere Sportarten übertragen wurde. Mittlerweile hat sich das Intervalltraining bei Dauersportleistungen in vielen Sportarten bewährt und gehört zum Trainingsstandard für Ausdauersport (Hohmann et al. 2020; Hottenrott und Seidel 2017; Hottenrott und Neumann 2016; Schnabel et al. 2014). Im Wesentlichen kann der wissenschaftstheoretische Status des Polizeitrainings in Deutschland mit den Meisterlehren der frühen Trainingslehre im geteilten Nachkriegsdeutschland verglichen werden (vgl. Abb. 2). Ein profundes, aber wenig theoretisch fundiertes bzw. systematisiertes Expert*innenwissen in der Polizei bildet nach unserem E indruck bis heute im Schwerpunkt die Grundlage für die Gestaltung von Polizeitrainings (Haberfeld, Clarke und Sheehan, 2012; Vodde, 2012). Es ist zudem davon auszugehen, dass gerade bei den Spezialeinheiten der Ordnungs- und Sicherheitsorgane polizeiliche Meisterlehren etabliert und sogar konserviert sind. Für das Polizeitraining insgesamt kann daher die Forderung formuliert werden, das Trainerhandeln und die darauf aufbauenden Trainingskonzepte zu systematisieren und theoretisch zu fundieren. Die aus den polizeitrainingswissenschaftlichen Theorien zur Trainingsgestaltung sodann abgeleiteten Vorhersagen gilt es schließlich empirisch zu überprüfen, um so die Effektivität des Trainings anhand von Polizeieinsätzen zu evaluieren (vgl. Abb. 2). Der Begriff der Meisterlehre verweist einerseits auf die Expertise der polizeilichen Fachvertreter*innen und andererseits aber auch darauf, dass es sich hierbei um individualisiertes und personalisiertes Wissen und darauf aufbauende Methodik und nicht um eine allgemeingültige Theorie des Polizeitrainings handelt.
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Rahmenmodell für Polizeieinsatz und Einsatztraining
Das nach Hottenrott und Hoos (2013) in der deutschsprachigen Trainingswissenschaft am häufigsten zitierte Modell zur Struktur sportlicher Leistung stammt von Gundlach (1980). Mit Leistungsstruktur („performance structure“) wird dabei nach Schnabel (2014, S. 45) der „innere Aufbau der sportlichen Leistung aus bestimmten Elementen und ihren Wechselbeziehungen“ verstanden. Leistungsstrukturmodelle in den Trainingswissenschaften spezifizieren also sämtliche leistungsbezogenen Faktoren und deren Interaktionen, die zu Höchstleistungen allgemein oder in einer bestimmten Sportart beitragen. Die empirische Grundlage einer allgemeinen Leistungsstruktur im Sport fehlt bislang weitgehend. Im polizeilichen Kontext wird nach unserer Kenntnis die Struktur polizeilicher Einsatzleistung bisher nicht als ein derartiges Modell der Leistungsstruktur beschrieben. In diesem Ab-
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schnitt wollen wir das Modell der verallgemeinerten Leistungsstruktur von Grundlach (1980) aus dem Bereich des Sports als Grundlage nehmen, um in einem ersten Versuch ein kursorisches Rahmenmodell zur Struktur polizeilicher Einsatzleistung zu formulieren (vgl. Abb. 3). Dieses Modell soll Einsatztrainer*innen, trainierende Polizist*innen und verantwortliche Entscheider*innen der polizeilichen Organisationen eine Orientierung geben, in welchem Spannungsfeld Polizeitraining stattfindet. Es soll ein Diskussionsbeitrag über wesentliche Einflussgrößen im Polizeitraining darstellen. Trainingsbedingungen
Einsatzhandeln
PersonSituationInteraktion
Ziel: Cognitive Load kontrollieren
Ziel: Ecological dynamics umsetzen
• (Stress)+Belastung • Waffensysteme • Schutzausrüstung • Schieß- und Trainingsstätten • Trainer (persönlich keit, erfahrung, kompetenzen) • Teamaufgabe • Ziele/Gegner • Versuchsaufbau • real/virtuell • ethische/rechtliche/ politische Aspekte
Ziel: Repräsentativität
Ziel: Trainings-Einsatz-Transfer
Ziel: optimaler Person-Job-Fit
Trainingserfolg Ziel: Leistungssteuerung
Polizist*in im Einsatztraining Leistungsvollzug
Vollzugsebene
Leistungsvoraussetzungen
Aktuelle mentale Prozesse
Handlungsregulation
Handlungskompetenz/Taktik
Sensomotorische Koordination
Bewegungsregulation
Technik/ Koordination
Energiestoffwechsel
Energiebereitstellung
Kondition
Mechanische Bewegung
Mechanische Energienutzung
Konstitution
Polizeiliche Einsatztrainer*in • Fachkompetenz (Expertise) • Methodenkompetenz (pädagogischdidaktische Qualifikation) • Sozialkompetenz
Abb. 3 Transaktionales Rahmenmodell zur Struktur polizeilicher Leistung im Polizeieinsatz und -training (modifiziert nach dem Modell der verallgemeinerten Struktur sportlicher Leistung von Gundlach 1980; vgl. auch Hottenrott und Neumann 2016; Hottenrott und Hoos 2013; Hohmann und Brack 1983; Schnabel et al. 2014). Die aktuellen (mentalen) Prozesse umfassen Aufmerksamkeit und Wahrnehmung, Lernen und Gedächtnis einschließlich Arbeitsgedächtnis, Denken, Urteilen und Entscheiden sowie Emotion und Motivation (vgl. hierzu das Integrative Modell des psychischen Systems nach Nolting und Paulus 2018; Heckhausen und Heckhausen 2018; Nitsch 2004)
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Struktur polizeilicher Einsatzleistung: Die Konzeption soll insbesondere den Einsatztrainer*innen (und verantwortlichen Einscheidungsträger*innen der polizeilichen Organisationen) verdeutlichen, dass es im Training nicht um das schematische Ausbilden isolierter Fähigkeiten bzw. Fertigkeiten oder um die Anstrengung der Trainierenden allein geht (Körner und Staller 2020; Staller und Körner 2020), sondern dass Trainingserfolg stets aus der Interaktion der trainierenden Polizist*innen als aktiv handelnde Akteure mit ihrer Lernumgebung, einschließlich der zu lösenden Aufgabe, den Lernbedingungen und den Einsatztrainer*innen zu verstehen ist (Piaget 1972; Rauthmann 2020; Vygotskij 1934/2002). Dieser handlungstheoretische Grundgedanke findet sich in dem „ecological dynamics“-Ansatz des sportlichen Trainings wieder. Nitsch (1975, S. 43) definiert (sportliches) Handeln aus handlungstheoretischer Perspektive als „nicht nur peripher-motorischer Prozeß, sondern wesentlich psychisch regulierte und Psychisches regulierende Tätigkeit“. Polizeiliches Handeln (Einsatzhandeln) kann analog definiert werden und umfasst demnach nicht nur peripher-motorische Prozesse, sondern vor allem eine psychisch regulierte und psychisch regulierende Tätigkeit unter den spezifischen Bedingungen eines Polizeieinsatzes. Hiermit ist die Gesamtheit aller aktuellen Prozesse des psychischen Systems im Einsatz adressiert (vgl. Abb. 3). Im Modell der polizeilichen Leistungsstruktur nimmt daher auch die Handlungsregulation eine priorisierte Stellung aufseiten der trainierenden Polizist*innen ein, insbesondere, weil Taktik einen entscheidenden Leistungsfaktor für polizeiliches Handeln darstellt (König und Memmert 2019). Allerdings wird das polizeiliche Handeln derart vom situativen Kontext des Einsatzes bestimmt, dass in einer konkreten Situation verschiedene Vollzugsebenen mit den dazugehörigen Leistungsfaktoren und Aspekten des Leistungsvollzugs in den Vordergrund treten können. Grundsätzlich lassen sich aber die (körperliche) Konstitution und Kondition als notwendige Bedingungen auffassen, während koordinativ-technische Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie taktisches Verständnis und Handlungskompetenz als hinreichende Bedingungen für Trainingserfolg und schließlich für erfolgreiche Einsatzbewältigung zu qualifizieren sind. Diese Leistungsvoraussetzungen stehen über die Vollzugsebenen in vielschichtigen Wechselbeziehungen zueinander. Anhand dieses Rahmenmodells sollen nun zentrale Ideen bzw. Ziele des Polizeitrainings formuliert werden. Optimaler Person-Job-Fit: Grundsätzlich ist Polizeitraining in einen organisationalen Prozess der Personalauswahl und -entwicklung eingebunden. Um die Passung zwischen den Einsatzanforderungen spezifischer Verwendungen innerhalb der Polizei und den zu ihrer erfolgreichen Bewältigung notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten zu optimieren, sollte zunächst eine aufgabenorientierte Personalauswahl stattfinden (Garbarino et al. 2012). Die Bedeutung des Personalauswahlprozess ergibt sich insofern, dass ein schlechter oder sogar fehlender Person-Job-Fit durchaus gravierende negative Konsequenzen haben kann. Beispielsweise sollte bei den Einsatzkräften das psychische System unter Stress und Lebensgefahr hinreichend funktional bleiben, um die Einsatzaufgaben bewältigen zu können. Auch für eine Verwendung als polizeiliche Einsatztrainer*innen gilt es, durch Personalauswahl und Qualifikation den Person-Job-Fit zu optimieren (siehe Kap. „Was nicht passt, wird passend gemacht? Der Person-Environment-Fit und Rolle der Personalauswahl im Polizeitraining“ in diesem Band). Für die Ausübung einer Trainer*innentätigkeit mit dem Ziel, den Lernerfolg der Trainierenden zu steigern, sind neben einer not
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wendigen Fachkompetenz (Wissen und Expertise) auch Methodenkompetenz (pädagogisch-didaktische Eignung) sowie Selbst- und Sozialkompetenz (zum Beispiel Selbstkritik, Kooperationsbereitschaft und Kommunikationsfähigkeit) erforderlich (Erpenbeck und von Rosenstiel 2003; Klafki 1972; Roth 1971; Weinert 2001). Trainingssteuerung: Im polizeilichen Einsatztraining gilt es, jene Fähigkeiten („abilities“) und Fertigkeiten („skills“) der Lernenden systematisch zu entwickeln, die eine erfolgreiche Einsatzbewältigung gewährleisten können und den Person-Job-Fit weiter optimieren. Sowohl Personalauswahl als auch Polizeitraining dienen also der Optimierung des Person-Job-Fits (siehe Kap. „Was nicht passt, wird passend gemacht? Der Person- Environment-Fit und Rolle der Personalauswahl im Polizeitraining“ in diesem Band). Die Trainingssteuerung umfasst die Einflussnahme auf den Trainingsprozess durch Planung (zum Beispiel mit der Leistungsstruktur), Ausführung (Inhalte, Didaktik, Belastung, Beanspruchung) und Auswertung von Training, Einsatz und Leistungsfähigkeit (Ferrauti, 2020a, b; Ferrauti und Remmert, 2020; Güllich und Krüger, 2013; Hohmann 2005; Hohmann, 1994; Hottenrott und Neumann 2016). Im polizeilichen Einsatztraining sind neben der Leistungsoptimierung zusätzlich vor allem gesundheitliche oder arbeitsschutzrechtliche bzw. sicherheitsrelevante Aspekte zu berücksichtigen. Training im Zusammenhang mit körperlicher Gewalt oder Waffenanwendung birgt insbesondere die Gefahr von Verletzung, wenn Lernumgebungen realen Einsatzkontexten angeglichen werden (Staller, et al. 2019; Staller et al. 2017). Das Training muss also einerseits spezifische Belastungen und Beanspruchungen direkt adressieren und andererseits beim Training polizeispezifische leistungsrelevante Faktoren einkalkulieren, zum Beispiel die eingeschränkte oder verzögerte Beweglichkeit oder Wahrnehmung im Taktiktraining mit vollständiger Einsatzausrüstung (Lewinski et al. 2015; Palmer et al. 2013; Marins et al. 2019a, b). Auch die Anwendung von Simulationswaffen oder Echtschusswaffen im Training steht mit Blick auf den Trainings-Einsatz-Transfer bei der Realisierung von Trainingsbedingungen infrage (Staller et al. 2019; Staller et al. 2017). Im Polizeitraining müssen zudem Stress und Belastung auf einem moderaten Niveau erzeugt werden, damit Lernprozesse überhaupt noch ablaufen können (Bertilsson et al. 2020; Di Nota und Huhta 2019; Nicholson und O’Hare 2014). Repräsentativität und Trainings-Einsatz-Transfer: Die Trainingsbedingungen des Polizeitrainings sind dabei so zu gestalten, dass Einsatzbedingungen möglichst realistisch abgebildet werden (Staller et al. 2017). Die wesentlichen Merkmale eines typischen Einsatzgeschehens müssen sich im Training wiederfinden (Pinder et al. 2011). Bei der Gestaltung der Lernumgebung ist demnach darauf zu achten, dass das Gelernte zumindest nicht den Einsatzanforderungen widerspricht (durch Erlernen falscher Assoziationen und Muster). Beispielsweise darf sich angesichts dynamischen Einsatzgeschehens das Schießtraining nicht allein auf das statische Bekämpfen von statischen Zielen beschränken (Alison et al. 2014; Rietjens et al. 2013). Durch ein einsatz-repräsentatives Polizeitraining soll sichergestellt werden, dass das im Training Gelernte auch im Einsatz angewendet werden kann (Woods et al. 2020). Trainingsergebnisse sind daher zur Trainingsevaluation fortlaufend an Außenkriterien des Einsatzgeschehens zu validieren (Broadbent et al. 2015; Körner und Staller, 2020; Staller und Körner, 2020). Auf diese Weise ist beispielsweise festzustellen, ob eine im Polizeitraining vermittelte deeskalierende Kommunikationsstrategie auch tat-
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sächlich zu weniger Konflikten oder Widerständen im Polizeieinsatz führt oder ob ein Schießtraining zu handlungssicherem Umgang mit verschiedenen Waffen („Taser“ Pfefferspray, Pistole) im Einsatz beiträgt (Bennell et al. 2007). Kontrolle des Cognitive Loads: Eine Grundvoraussetzung für Lernen besteht in der mentalen Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft der Lernenden in der Lernumgebung (Kleider- Offutt et al. 2016). Die Gestaltung der Interaktion zwischen Einsatztrainer*innen und Trainierenden mit Blick auf die Instruktionen sollte stets an die kognitiven Voraussetzungen des Lernenden angepasst werden, um eine kognitive Überforderung beim Lernenden zu vermeiden (Eiriksdottir und Catrambone 2011; Mugford et al. 2013; Otte et al. 2020; Plass et al. 2010; Sweller 1988, 1994; Sweller et al. 1998; Sweller et al. 2011; Sweller et al. 2019; van Merriënboer und Sweller, 2009; siehe Kap. „Überlegungen zur Anwendbarkeit der Cognitive Load Theory auf die Gestaltung polizeilicher Einsatztrainings: Braucht es eine kognitive Wende im Polizeitraining?“ in diesem Band). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass Polizeitraining im Kontext der Erwachsenbildung und des lebenslangen Lernens stattfindet. Die Trainingsgestaltung ist damit an die Bedürfnisse und Voraussetzungen Erwachsener anzupassen (McCoy 2006; Knowles et al. 2015; Reischmann 2017). Ecological Dynamics-Perspektive: Der auf Gibson (1966, 1979/2014) zurückgehende „ecological dynamics“-Ansatz (z. B. Davids et al. 2015; Davids et al. 2001a, b; Davids et al. 1994; Handford et al. 1997; Seifert und Davids, 2017) für effektives Training zum Fertigkeitserwerb im Sport mit Blick auf die zugrunde liegenden psychologischen Prozesse des Lernenden wird durch Renshaw et al. (2019, S. 132) pointiert wie folgt zusammengefasst: „[…] the ecological dynamics approach considers perceptual, cognition, and action sub-systems to be deeply intertwined in their activity, functioning as continuously integrated and highly coupled systems. Theoretically, it is not coherent and of little value to use a modularized approach and decouple processes of perception, cognition, and action to train them in isolation. Further ecological dynamics is deeply concerned with knowlegde and considers intentions and cognition to play an important role in theoretical explanations of human behaviors.“ Durch eine direkte mentale Auseinandersetzung des Lernenden mit seiner Lernumgebung könne Wissen über das Erreichen eines Ziels erworben werden, indem gelernt wird, intentionale, perzeptuell-kognitive und motorische Prozesse adaptiv auf die Handlungsmöglichkeiten („affordances“) in einer spezifischen Umgebung auszurichten (Araújo et al. 2017; Gibson 1966, 1979/2014; Renshaw et al. 2019; siehe Kap. „Versuch einer Ist-Soll-Analyse am Beispiel eines integrativen Schießtrainings für polizeiliche Spezialeinheiten aus der „ecological dynamics“-Perspektive“ in diesem Band). Um der Forderung nach der ganzheitlichen Integration perzeptuell-kognitiver, motorischer und emotionaler Prozesse nachzukommen, schlagen Tenenbaum et al. (2009) ein umfassendes Modell vor, um das Handeln unter den stressigen oder kompetitiven Bedingungen (zum Beispiel Zeitdruck, Angst) einer gegenwärtig zu lösenden Aufgabe zu erklären. Dieser Modellrahmen ist bisher noch nicht für die Besonderheiten des polizeilichen Handelns in lebensgefährlichen Einsätzen (zum Beispiel der polizeilichen Spezialeinheiten) ausgearbeitet, stellt aber unserer Auffassung nach die notwendigen theoretischen und empirischen Grundlagen für eine polizeiliche Adaptation zur Verfügung (Schack und Frank 2020; Seegelke und Schack 2016; vgl. hierzu auch Schack 2004a, b; Schack, 2007; Schack und Hackfort 2007).
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Diskussion
In diesem Beitrag gehen wir von der Annahme aus, dass die Gestaltung von Polizeitrainings sehr stark durch individualisierte und personalisierte Meisterlehren, ähnlich dem anfänglichen Hochleistungssport, geprägt ist. Um das theoretische Vakuum an dieser Stelle zu schließen, schlagen wir in Anlehnung an ein prominentes Leistungsstrukturmodell für sportliche Leistungen ein Rahmenmodell zur Struktur polizeilicher Leistung vor (siehe Abb. 3). Dieses Modell soll als konzeptioneller Rahmen für die Gestaltung von Polizeitrainings verstanden werden und versucht, zentrale Ideen zum Polizeitraining zu integrieren. Es ist als ein Diskussionbeitrag zur theoretischen Fundierung des Polizeitrainings gedacht. Deutlich wird dabei schon jetzt, dass Polizeitraining (nur) aus einem organisationalen, psychologischen und pädagogischen Spannungsfeld heraus zu verstehen ist, in dem die Interaktion zwischen Lernenden, Trainier*innen und Lernbedingungen (einschließlich Lernaufgabe) zu betrachten ist. Leistungsstrukturmodelle können dabei helfen, jene Leistungsfaktoren und deren Interaktionen zu spezifizieren, die zur erfolgreichen Einsatzbewältigung von Polizist*innen beitragen. Sie bilden dann die Grundlage für die Trainingsgestaltung und für eine empirische Validierung. In Anlehnung an Baker, Homan, Schonhoff und Kreuter (1999) sollen nachfolgend Vorschläge zur Förderung der Theorie- und Hypothesenbildung zum Phänomenbereich Polizeitraining sowie Hinweise für Einsatzkräfte, Trainer*innen und Entscheider*innen den Beitrag schließen (Olenick et al. 2018): cc
1) Anwendung verschiedener wissenschaftlicher Methoden innerhalb eines Phänomenbereichs (Fragebogen, Interviews, Experimente, Literatureviews etc.) 2) Integration und Diskussion verschiedener Perspektiven, Methoden und Befunde 3) Interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Wissenschaften (zum Beispiel Sport- und Trainingswissenschaften, Psychologie, Pädagogik) 4) Stärkere Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen innerhalb und außerhalb der Polizei 5) Etablierung von Forschungsschwerpunkten an den Hochschulen der Polizeien (beispielsweise durch Forschungkooperationen, Drittmittelprojekte, Einführung von Professuren und Promotionsrecht) 6) Schaffung neuer Anreizsysteme für Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen 7) Stärkung und Ausbau der wissenschaftlichen Hochschullehre an den Hochschulen und Akademien der Polizeien (beispielsweise durch Curricula mit Lehrveranstaltungen zur empirischen Sozialforschung, wissenschaftlichem Arbeiten und Forschungsmethoden)
Fazit Die Gestaltung des Polizeitrainings ist auf die Grundlage von empirischen Anforderungsprofilen bzw. Leistungsstrukturmodellen zu stellen, die wiederum selbst durch Validierung am realen Einsatzgeschehen zu überprüfen sind. Theorien über Phänomene im Polizeitrai-
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ning bilden sodann empirisch gesichertes Wissen über Prozesse und Wechselwirkungen im Polizeitraining. Im Sinne des effizienten und effektiven Polizeitrainings sind diese Erkenntnisse zwingend zu nutzen. Theoriebildung und empirische Überprüfung sind demnach zu fördern, um polizeiliche Meisterlehren zu überwinden.
Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Die Forderung nach evidenz-basiertem Polizeitraining und empirischer Polizeiwissenschaft sollte von verantwortlichen Entscheidungsträger*innen in Polizeiorganisationen zwingend berücksichtigt werden. Die Organisation und die Ausgestaltung von Lehrveranstaltungen in der Aus- und Fortbildung von Polizist*innen sind zentrale Aufgaben für polizeiliche Organisationen und Institutionen. Hier kann die Polizei ihr*e eigene*r Experte*in werden. Schließlich ist sie in Deutschland die einzige In stitution, die in ihrem Aufgabenspektrum unter anderem auch zur Gewaltanwendung legitimiert ist. Aus dieser Verantwortung heraus entsteht die Verpflichtung der Polizeiorganisationen, ihre Einsatzkräfte so aus- und fortzubilden, dass sie optimal auf ihre tägliche Arbeit vorbereitet sind. Der Polizeiberuf zeichnet sich dabei durch vielfältige Verwendungen aus, sodass die Aus- und Fortbildung auf die Bewältigung konkreter Aufgaben vorbereiten sollte. Hierzu sind Anforderungsprofile (bzw. Leistungsstrukturmodelle) zu erstellen, die jene Fähigkeiten, Kompetenzen oder Eigenschaften für eine erfolgreiche Aufgabenbewältigung spezifizieren. Anforderungsprofile bilden dann die Grundlage sowohl für eine kompetenzorientierte Personalauswahl als auch für die Gestaltung von Polizeitrainings. Durch eine wissenschaftliche Evaluation des Polizeitrainings kann dessen Effektivität in Bezug auf das zu Lernende festgestellt werden. Sowohl für die Entwicklung und Implementierung von Polizeitrainings nach wissenschaftlichen Standards als auch deren Evaluation sind finanzielle, fachliche und zeitliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Hierzu sind auch die Auswahl geeigneten Trainer*innenpersonals (mit Fach-, Methoden- ,Selbst- und Sozialkompetenz) und insbesondere dessen pädagogisch-psychologische bzw. kognitionspsychologische Qualifikation zu fördern. Zu einer praktischen Ausbildung (zum Beispiel im Schießen, in der Selbstverteidigung oder in Festnahmentechniken) gehört das theoretische Studium, damit ein fruchtbarer Transfer von empirisch gesichertem Wissen in die Praxis gelingen kann. Dafür bedarf es einer Führungskultur, die keinen Gegensatz zwischen Theorie und Praxis proklamiert. Stattdessen muss durch entsprechende Aus- und Fortbildung der Polizist*innen sowie durch die Rekrutierung von Wissenschaftspersonal für die Polizei dafür gesorgt werden, dass (theoretisches und empirisches) Wissen in der Polizeiarbeit verankert wird.
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b) Einsatzkräfte Einsatzkräfte sind in Ausübung ihrer Tätigkeit selbst Lernende. Diese Erfahrungen prägen nicht nur das Handeln, sondern auch die Motivation und Einstellungen. Einsatzkräfte sollten als Referenz für die Trainingsgestaltung ihre Erfahrungen im realen Einsatz zur Verfügung stellen, um einerseits empirische Anforderungsanalysen durchführen zu können und um andererseits hiernach in Zusammenarbeit mit den Einsatztrainer*innen an der Konzeption einsatzrepräsentativer und theoriegeleiteter Polizeitrainings beteiligt zu werden. Einsatzkräfte bilden hierdurch das Bindeglied zwischen realem Einsatzgeschehen und Polizeitraining. Durch konstruktives Feedback nach dem Polizeitraining, auch wenn es Mehraufwand bedeutet, helfen sie zudem, das Polizeitraining zu evaluieren und damit zu verbessern. Das Wissen und die Gewissheit, dass das eigene polizeiliche Handeln durch theoriegeleitete Forschung wissenschaftlich abgesichert ist, können zudem operative Handlungssicherheit vermitteln. c) Einsatztrainer*innen Einsatztrainer*innen finden in Theorien des Polizeitrainings eine Anleitung für die Gestaltung des Trainings. Theorien bündeln dabei empirisch überprüftes Wissen. Die Ausrichtung an empirisch bewährten Theorien stellt daher sicher, dass Polizeitraining nach gültigen wissenschaftlichen Standards abläuft. Die Trainingsgestaltung und das Handeln der Einsatztrainer*innen sollten dabei mindestens nicht empirisch bewährten Theorien widersprechen. So könnten Einsatztrainer*innen ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass der Beruf des/der Einsatztrainer*in innerhalb der Polizei nicht nur von der persönlichen Motivation oder der organisationalen Möglichkeit abhängen sollte, sondern dass sie insbesondere durch ihre Kompetenzen, Fähigkeiten und Eigenschaften zum Lernfortschritt der Trainierenden und damit zum Erfolg des Polizeitrainings maßgeblich beitragen. Eine entsprechende Qualifikation sollte daher im Interesse aller Einsatztrainer*innen liegen. Eine Qualifikation ist auch deshalb erforderlich, um entsprechendes Wissen über psychologische Prozesse und effektives Training zu erlangen. Intuitives Expert*innenwissen und die eigenen Meisterlehren kommen dann an Grenzen, wenn die Frage nach dem Nutzen oder der Effektivität aufkommt. Einsatztrainer*innen sollten daher ein Interesse daran entwickeln, ihre Meisterlehren durch empirisch validierte Theorien effektiven Polizeitrainings zu überwinden. Damit wird das Handeln der Einsatztrainer*innen selbst zum Gegenstand externer Validierung. Im Polizeitraining sollten zudem die Einsatzerfahrungen der Polizist*innen aufgegriffen werden, um das Polizeitraining stets an den realen Erfahrungen der Einsatzkräfte auszurichten. Hierdurch wird zudem die Motivation zur Teilnahme und Mitwirkung im Training gefördert. In der Polizei haben Einsatztrainer*innen außerdem in der Regel Erwachsene zu trainieren und müssen sich daher auf deren Bedürfnisse einstellen.
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Kampfkunst-Mythen im Einsatztraining Sixt Wetzler
Inhaltsverzeichnis 1 K ampfkunst-Mythen als Legitimierungsstrategie 1.1 Mythische Gründerfiguren 1.2 Zoomorphe Bewegung 1.3 Geometrische Verankerung 1.4 Genese „auf dem Schlachtfeld“ 1.5 Mischformen und Funktion 2 Kampfkunst-Mythen in heutigen Kampfsystemen 2.1 Der CQC-Experte – mythische Gründerfigur 2.2 „Natürliche Reflexe“ – Anthropologie statt zoomorpher Bewegung 2.3 Bezug auf die „Wirklichkeit“ – geometrische Verankerung und „reality based“Systeme 2.4 SWAT Teams und Navy Seals – Genese und Eignung für das Schachtfeld Literatur
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Zusammenfassung
Im Gegensatz zu wettkampforientierten Kampfkünsten, die das Ziel ihres Trainings (den zeitlich, örtlich und durch Regeln gefassten Kampf) direkt abrufen können, sieht sich polizeiliches Einsatztraining mit einem fundamentalen Problem konfrontiert: Schon aus Sicherheitsgründen können die Situationen, auf die das Training vorbereiten Reviewer*innen: Buc Consten, Oliver Bertram S. Wetzler (*) Deutsches Klingenmuseum Solingen, Solingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_6
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soll, in ihrer physischen Konsequenz nicht vollumfänglich simuliert werden. Auch die psychologische Dimension und die Komplexität „echter“ Konflikte sind nur schwierig bis gar nicht im Trainingsbetrieb darzustellen. Mit dieser Divergenz von Training und Ernstfall sehen sich nicht erst die Einsatztrainer*innen der modernen Polizeiausbildung konfrontiert. Tatsächlich begleitet sie die Kampfkunst seit Jahrhunderten, zumal zu Zeiten, da ein Hauptaugenmerk auf dem Einsatz von (Klingen-)Waffen lag. Um den Trainierenden zu vermitteln, dass ihre Übungen „richtig“ waren, d. h. eine effektive Chancenverbesserung im Falle gewalttätiger Auseinandersetzungen bewirkten, entwickelten die Kampfkünste eine Vielzahl von Narrativen, die als „Kampfkunst-Mythen“ beschrieben werden können. Durch sie sollten die Techniken und Methoden des jeweiligen Stils plausibel gemacht werden. Gewöhnlich geschah dies, indem die Praktiken jenseits der unmittelbaren, überprüfbaren Realität verankert wurden, beispielsweise im Tierreich, in den Taten vorhistorischer Gründerfiguren, in einer „heiligen“ Geometrie oder in besonders gewalttätigen Epochen der Vergangenheit. Die Analyse solcher historischer Kampfkunst-Mythen legt die Frage nahe, inwieweit auch heutige Nahkampfsysteme der oben beschriebenen Problematik „Training vs. Ernstfall“ durch vergleichbare Narrative zu begegnen suchen. Tatsächlich scheinen sich nur die Bezüge, nicht aber die grundlegenden Strukturen der mythischen Erzählungen geändert zu haben. Nach Darstellung ihrer Vertreter*innen „funktionieren“ heutige Systeme, da sie beispielsweise von militärischen Spezialkräften in kriegerischen Konflikten erprobt würden, die „natürlichen Bewegungen des Menschen“ aufgriffen oder ganz einfach „reality based“ seien. Zur zielführenden Entwicklung des polizeilichen Einsatztrainings sollten die involvierten Akteur*innen bereit und in der Lage sein, solche narrativen Muster zu erkennen und ihre eigene Befangenheit in ihnen zu hinterfragen. Der vorliegende Beitrag soll dabei Hilfestellung leisten.
Kampfkünste wurden und werden von ihren Praktizierenden mit unterschiedlichen Zielsetzungen trainiert und mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen: Ihrem Selbstverständnis nach können sie z. B. der Gesunderhaltung und Fitness dienen, einen Weg der Persönlichkeitsentwicklung darstellen, als Wettkampfsport oder Performance ausgeübt werden oder zur Vorbereitung auf potenziell gewalttätige Konflikte dienen (Wetzler 2014). Dabei soll hier der Terminus „Kampfkunst“ als Oberbegriff für alle Bewegungssysteme verstanden werden, die in mehr oder weniger direkter oder abstrakter Form die Vermittlung körperlicher Muster für den oder aus dem Kampf zum Inhalt haben. Angesichts der (historischen wie geografischen) Vielgestaltigkeit des Feldes (Kuhn und Ennigkeit 2021) und der Aufladung einzelner Systeme mit unterschiedlichen Bedeutungen scheint eine Aufteilung in z. B., „Kampfkunst – Kampfsport – Selbstverteidigungstraining“ (Channon und Jennings 2014) zwar im alltäglichen Sprachgebrauch hilfreich, zur adäquaten Be-
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schreibung des komplexen Feldes aber nicht geeignet (Wetzler 2015). Der Wortteil „Kunst“ soll dabei nicht auf einen modernen Kunstbegriff im Sinne von „gestalterischer Tätigkeit als Ausdruck menschlicher Schaffenskraft“ referieren, sondern in seiner Bedeutung „Wissen um die und Fähigkeit zur kompetenten Ausführung einer komplexen Handlung“ verstanden werden. Bezüglich des hier betrachteten Feldes wurde „Kunst“ in Europa seit dem Spätmittelalter in dieser Bedeutung benutzt, z. B. als „Kunst des Fechtens“ oder „ars dimicatoria“ (Wetzler 2014). Folglich soll auch das im vorliegenden Handbuch behandelte polizeiliche Einsatztraining unter den weiten Begriff der „Kampfkunst“ gefasst werden. Eine solche Zuteilung mag von einzelnen Akteur*innen als unpassend empfunden werden, die ihr Training gerade in Abgrenzung zu (angeblich) traditionellen Systemen verstehen. Erstens soll sie hier aber aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung genutzt werden, zweitens wird im weiteren Verlauf des Beitrags erkennbar werden, dass ein Abgleich des gedanklichen Überbaus moderner Trainingsmethoden mit demjenigen historischer Systeme auch für die Reflexion heutiger Trainingspraxis fruchtbar gemacht werden kann. In dieser vergleichenden Perspektive ist vor allem die Bedeutungsebene der Kampfkunst als Vorbereitung für potenziell gewalttätige Auseinandersetzungen relevant. Diese Ebene begleitet die Kampfkunst zwar, seitdem Letztere ins Licht historischer Quellen getreten ist. Es ist aber ein Missverständnis, die Vorbereitung auf den Ernstfall als den „wahren Kern“ der Kampfkunst zu identifizieren: Schon mit den Ringkampfdarstellungen ägyptischer Wandmalereien seit ca. 2000 v. Chr. lässt sich eine Zusammenstellung von Techniken finden, deren Einsatzkontext im „geselligen“ – oder, wie man es heute nennen würde, „sportlichen“ – Wettkampf zu suchen ist (Decker 1987). Neben diesem „sportlichen“ oder spielerischen Einsatz ist vor allem auch die performative Bedeutungsebene – also Kampfkunst zur Vorführung im Unterhaltungs- oder rituellen Kontext – weltweit gut belegt (Zarrilli 2010). Eine Diversifikation in getrennte Bewegungssysteme, die sich jeweils nur dem Training für eine einzelne der möglichen Bedeutungsebenen verschrieben haben, ist dabei zwar möglich, geschah und geschieht aber nicht zwangsläufig. Der Blick auf das Selbstverständnis heutiger Kampfkunstverbände macht dies deutlich. So spiegelt sich zum Beispiel im Karate nach der Auffassung des Deutschen Karate Verbandes e. V. „die fernöstliche Philosophie wider“, während es gleichzeitig eine „wirksame und praktikable Verteidigungsart“ ist, die sich aber ebenso als Wettkampfsport betreiben lässt (Was ist Karate? o. J.). Unabhängig von der Frage, ob und wie das Training einem solch umfassenden Ansatz gerecht werden kann, stellt sich damit aus der Perspektive des Einsatztrainings ein grundlegendes Problem: inwieweit nämlich Techniken und Bewegungsmuster, die auf die eine spezifische Bedeutungsebene – wie ein sportliches Reglement oder die Sehgewohnheiten eines Publikums – zugeschnitten sind, gewollt oder ungewollt auf die andere(n) übertragen werden. Eine mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft, die unterschiedlichen Bedingungen der diversen Anwendungskontexte in ihrer Komplexität zu betrachten und voneinander abzugrenzen, kann solchen Übertragungen Vorschub leisten. Konkret an einem Beispiel ausgedrückt: Dass eine Technik oder Trainingsmethode für den Einsatz im MMA-Wettkampf zielführend ist, mag nahelegen, sie auch ins Selbstver-
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teidigungstraining „für die Straße“ zu integrieren – obwohl dort gegebenenfalls völlig andere Rahmenbedingungen zu beachten sind.
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Kampfkunst-Mythen als Legitimierungsstrategie
Die Attraktivität, die Techniken und Trainingsmethoden aus dem (Vollkontakt-)Kampfsport auf die zivile Selbstverteidigung oder behördliches Einsatztraining zu übertragen, liegt nicht in den Techniken und Methoden selbst begründet. Sie ist wohl auch dem Wunsch geschuldet, der Ungewissheit bezüglich der praktischen Umsetzbarkeit des Trainings zu begegnen, indem dieses Training an einem empirisch kontrollierbaren Bezugspunkt – der erfolgreichen Umsetzung im Wettkampf – ausgerichtet wird. Es wird also mit folgender Begründung operiert: „(A) Das Training ist zielführend, weil es (B) auf der Erfahrung des Vollkontaktwettkampfs basiert.“ Die Struktur dieser Begründung codiert den Kern der (expliziten oder impliziten) Erzählungen, die hier als Kampfkunst-Mythen beschrieben werden sollen, wobei (B) unterschiedliche Formen annehmen kann. Sie zu erkennen ermöglicht es, das eigene Training reflektieren. Kampfkunst-Mythen vom Typ „(A) weil (B)“ sind wesentlicher Teil der Legitimierungsstrategie diverser Kampfkünste und kommen vor allem dann zum Tragen, wenn deren praktische Anwendbarkeit versichert werden soll. Der Begriff „Mythos“ wird hierbei nicht in einer der beiden Bedeutungen verwendet, die ihm die heutige Umgangssprache meist zuweist, entweder positiv konnotiert als Objekt der Faszination („Mythos Bundesliga“) oder negativ konnotiert als Lügengeschichte („der Mythos von der gesunden Milch“). Stattdessen ist er bewusst gewählt in Anknüpfung an die religionswissenschaftliche Funktionsbestimmung von Mythen durch Aleida und Jan Assmann (Assmann und Assmann 1998). Zwar sind Kampfkünste keine Religionen, aber ein Blick auf die Funktionsbestimmung der Assmanns zeigt, dass diese auch im Kontext der Kampfkunst fruchtbar gemacht werden kann. Kurzgefasst bezeichnen die Assmanns den Mythos als „fundierende, legitimierende und weltmodellierende Erzählung“, die „die vielfältigen Ordnungen des sozialen Lebens verbindlich [regelt]“ (Assmann und Assmann 1998, S. 180). Auf das Phänomen Kampfkunst bezogen, lässt sich diese Bestimmung wie folgt ausdeuten (Wetzler 2013): a) In seiner fundierenden Funktion gibt der Mythos Antwort auf die Frage, woher die Techniken und Trainingsmethoden der betreffenden Kampfkunst stammen. Historische Prozesse, Widersprüchlichkeiten und Zufälle werden dabei ausgeblendet beziehungsweise zu einem einheitlichen Narrativ homogenisiert. Der Ursprung der jeweiligen Kampfkunst wird an einen definierten, (quasi-)historischen Moment rückgebunden und ihre Gegenwart durch (fiktive) Traditionslinien mit diesem Moment verknüpft, um Authentizität zu suggerieren und Identität zu stiften. b) Jede Kampfkunst stellt eine historisch gewachsene Auswahl an Techniken, Taktiken und Trainingsmethoden aus einer weitaus größeren Zahl von Möglichkeiten dar (Lorge
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2012). In seiner legitimierenden Funktion begründet der Mythos, warum gerade die getroffene Auswahl an Techniken, Taktiken und Trainingsmethoden „richtig“ ist, das heißt zielführend und geeignet, in einer physischen Auseinandersetzung Dominanz zu garantieren. c) Als Phänomene sozialer Interaktion neigen Kampfkünste zu einem ausgeprägten Innen-Außen-Denken. In seiner weltmodellierenden Funktion gibt der Mythos Auskunft darüber, wer zur eigenen Gruppe gehört und wer Teil der (potenziell bedrohlichen) Außenwelt ist. Damit bestimmt er nicht nur, gegen wen die eigene Kampfkunst eingesetzt werden darf und wer sich als Trainierende*r eignet (z. B. Mitglieder der eigenen Familie, Gesellschaftsschicht, Institution, Religion usw.), sondern suggeriert häufig auch die Überlegenheit der eigenen Kampfkunst über andere Systeme. Für den vorliegenden Beitrag ist vor allem die legitimierende Funktion von Bedeutung. Zur besseren Verständlichkeit und als Basis für die Reflexion aktueller Trainingspraxis sollen im Folgenden vier typische Ausgestaltungen der legitimierenden Funktion von Kampfkunst-Mythen – also mögliche (B) innerhalb der zuvor beschriebenen Begründungslogik – kurz beschrieben werden. Dabei wird hier und im folgenden Abschn. 1.2 v. a. auf die Selbstdarstellungen der jeweiligen Kampfkünste, z. B. die Websites von Praktizierenden, oder auf populäre Quellen (wie Wikipedia) Bezug genommen, nicht auf wissenschaftliche Arbeiten – es geht darum, „was man erzählt“, nicht, was sich wissenschaftlich belegen lässt.
1.1
Mythische Gründerfiguren
Eine Standardkonfiguration der Kampfkunst-Mythen ist die Rückführung auf eine imaginierte, pseudohistorische oder überhöhte Gründergestalt; die wohl bekannteste Version dieses Mythos ist die (historisch nicht zu haltende) Vorstellung, das Kung Fu sei den Mönchen des Shaolin-Klosters vom indischen Mönch Bodhidharma vermittelt worden (Lorge 2012). Als angeblicher Beleg für die Effektivität einer Kampfkunst eignen sich solche Gründergestalten besonders dann, wenn sie trotz scheinbarer körperlicher Unterlegenheit unbesiegbare Kämpfer*innen sind: Die Nonne Ng Mui und Yim Wing Chun, welche als junge Frau einen gefürchteten Schläger besiegen konnte, dienen z. B. dem Wing Chun Kung Fu als mythischer Bezugspunkt: „Die Ursprünge des WingTsun gehen der Legende nach auf eine chinesische Nonne zurück, die ihrerseits den Kampfstil an ihre Schülerin vermittelte. WingTsun wurde also von Frauen entwickelt und ist deswegen optimal geeignet, um sich auch gegen größere und stärkere Gegner zu verteidigen.“ (Wing Tsun 2017); oder die blinde Prinzessin Josephina, die trotz ihrer visuellen Beeinträchtigung eine Meisterin der philippinischen Kampfkunst gewesen sein soll und als eine der Ahnherrinnen des Villabrille-Largusa Kali gilt (Villabrille-Largusa Kali 2021).
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Zoomorphe Bewegung
Als Kampfkunst-Mythen der zoomorphen Bewegung sind solche Erzählungen zu verstehen, die den Ursprung einer Kampfkunst im Tierreich suchen. Sie behaupten, dass die mehr oder weniger genau benannte mythische Gründerfigur die Inspiration für die Bewegungssystematik und Technikauswahl des jeweiligen Stils aus dem Tierreich erhalten habe: So habe Zhang Sanfeng, ein taoistischer Mönch des 12. Jahrhunderts, einen Kranich und eine Schlange beim Kampf beobachtet und aus ihrem Verhalten das Taijiquan abgeleitet (Wikipedia Zhang Sanfeng 2020); der Meister Wang Lang habe aus seiner Beobachtung einer Gottesanbeterin, die eine Zikade besiegte, das Tang Lang Kung Fu geschaffen (Wikipedia Tang Lang Quan 2020); und auch von der bereits erwähnten Ng Mui heißt es, sie hätte ihre Kunst nach den Bewegungen eines Kranichs, der gegen einen Fuchs kämpfte, geformt (Wikipedia Wing Chun 2021). Das Motiv der zoomorphen Bewegung ist dabei nicht auf den asiatischen Raum beschränkt: So beschreibt zum Beispiel ein englisches Fechtbuch des 17. Jahrhunderts, dass das „cavere“ genannte Abtauchen unter den gegnerischen Angriff von einem italienischen Fechtmeister aus der Beobachtung des Hahnenkampfs entwickelt worden sei (G. A. [anonym] 1639).
1.3
Geometrische Verankerung
Die gedankliche Verbindung von Kampfkunst und Geometrie lässt sich in Europa bis ins Spätmittelalter zurückverfolgen. In den 80er-Jahren des 15. Jahrhunderts schrieb beispielsweise der italienische Fechtmeister Philippo di Vadi, dass die Fechtkunst „aus der Geometrie geboren“ (Vadi 1482–7, fol. 4r) sei. Natürlich spielt gerade die optimale Anwendung von Winkeln auch heute eine bedeutende Rolle in der Kampfkunst, sei es in der boxerischen Schrittarbeit, beim Ansetzen eines Hebels oder der Nutzung von Hieb- und Stichwaffen und Schilden. Di Vadi und seine Nachfolger gehen aber einen Schritt weiter, wenn sie durch den Bezug zur Geometrie die Kampfkunst zur Wissenschaft erklären: „la scienzia t’asecure“, schreibt di Vadi, „die Wissenschaft wird dich beschützen“ (ebd.). Vor dem Hintergrund eines Weltbildes, demzufolge die Welt von Gott nach geometrischen Regeln geschaffen wurde, entwickelt sich ein Absolutheitsanspruch: Ihmzufolge sei eine Kampfkunst, die sich an der Geometrie ausrichte, wahr, schön und richtig, und folglich der Weg zur Unbesiegbarkeit (Greer 2005; Wetzler 2011).
1.4
Genese „auf dem Schlachtfeld“
Als kollektivierte Form der mythischen Gründerfigur können solche Erzählungen verstanden werden, die den Ursprung einer Kampfkunst bei einer gesellschaftlichen bzw. ethnischen Gruppe verorten, die mit den besonders gewalttätigen Lebensumständen einer (imaginierten) Vergangenheit zurechtkommen musste. Gewöhnlich wird dabei die
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affentechnische oder zahlenmäßige Unterlegenheit der Gruppe betont; ein Nachteil, der w durch die Erfindung des jeweiligen Kampfsystems überwunden worden sei. Bekanntes Beispiel ist die Entwicklung des Karate durch die Einwohner Okinawas, die sich damit angeblich mit leerer (jap.: kara) Hand (jap.: te) gegen die bewaffneten japanischen Okkupatoren zur Wehr setzten. Dabei ist nicht nur die Wirksamkeit waffenloser Techniken gegen trainierte Schwert- und Speerträger in Zweifel zu ziehen, sondern bereits die Existenz eines Waffentrageverbots selbst (Wittwer 2005).
1.5
Mischformen und Funktion
Die vier beschriebenen Typen von Kampfkunst-Mythen sind nicht als abgeschlossene Sammlung zu verstehen. Weitere Formen werden sich finden lassen, häufig sind auch Mischformen anzutreffen, die z. B. das Motiv der mythischen Gründerfigur mit dem der zoomorphen Bewegung vermengen (s. o., Ng Mui). Ihnen allen gemein ist die zuvor genannte legitimierende Funktion, die – sofern der Mythos von den Praktizierenden „geglaubt“ wird – die Techniken, Taktiken und Trainingsmethoden der jeweiligen Kampfkunst als „richtig“, „effektiv“ o. Ä. bestätigt und damit einer unmittelbaren Überprüfung enthebt. Prägnant hat Ashkenazi dies für das Karatetraining an einer japanischen Universität beschrieben, auch er bezeichnet entsprechende Erzählungen als „mythical“: „Behauptungen wie diese Art von Schlag ist tödlich werden im Training implizit und manchmal explizit aufgestellt, aber lassen sich aus rechtlichen und gesellschaftlichen Gründen nicht auf den Prüfstand stellen oder empirisch verifizieren. Die Aussagen werden, wenn überhaupt, durch den Verweis auf die mythischen Taten der Vorfahren beglaubigt: die Aktivitäten des Gründers und seiner Lehrer auf Okinawa“ (Ashkenazi 2002, S. 110; Übers. S. W.).1
2
Kampfkunst-Mythen in heutigen Kampfsystemen
Welche Bedeutung hat nun das Verständnis hergebrachter Kampfkunst-Mythen für die Konzeption und Durchführung des behördlichen Einsatztrainings der Gegenwart? Schließlich darf unterstellt werden, dass im polizeilichen Kontext die Technikvermittlung kaum durch den Rückgriff auf die Bewegungen einer Gottesanbeterin legitimiert werden würde. Dennoch ist die Betrachtung der Kampfkunst-Mythen sinnvoll, wenn sie zur Reflexion des eigenen Trainings anregen kann und es gegebenenfalls ermöglicht, unhinterfragt angenommene „Wahrheiten“ auf den Prüfstand zu stellen. Beispielhaft soll deshalb im „Statements such as this sort of blow will kill are implicit and sometimes explicit in the training, but they are not susceptible to examination and empirical verification for legal and social reasons. The propositions are verified, if at all, by reference to what amounts to the mythical deeds of the predecessors: the activities of the founder and his teachers in Okinawa.“ 1
108
S. Wetzler
olgenden gezeigt werden, wie die beschriebenen Mythen auch im modernen TrainingsF betrieb nachhallen beziehungsweise wie ihre narrativen Kerne in neuem Gewand auch heute noch Bestand haben.
2.1
Der CQC-Experte – mythische Gründerfigur
Die Anbindung an eine mythische Gründerfigur findet sich auch in modernen Nahkampfsystemen. Während zum Beispiel an der historischen Existenz Imrich Lichtenfelds und seiner maßgeblichen Bedeutung für die Entstehung des Krav Maga kein Zweifel sein kann (Molle 2021),2 muss hinterfragt werden, inwieweit die Wiedergabe seiner Lebensgeschichte innerhalb des Krav Maga nicht einer heroischen Überhöhung folgt. Dies beginnt bereits bei Lichtenfelds Vater: „Während seiner Dienstzeit […] erlangte er den Ruf, der Beamte zu sein, der die meisten Mörder und Gewaltverbrecher verhaftete“ (Sde-Or und Yanilov 2003, S. 223–224). Diese und die folgenden Passagen stammen aus einem Buch, an dessen Entstehung Lichtenfeld (in der hebräischen Fassung seines Namens Sde-Or) selbst mitwirkte, wobei unklar bleibt, inwieweit die Texte von ihm oder anderen Beteiligten stammen. Die Darstellung Imrich Lichtenfelds jedenfalls betont seine umfangreiche Kampferfahrung auch gegen zahlenmäßig weit überlegene Gruppen von Gegnern: „So nahm Imi zwischen 1936 und 1940 an unzähligen gewaltsamen Zusammenstößen und Straßenkämpfen mit antisemitischen Schlägern teil, sowohl allein als auch mit seiner Gruppe. Er und seine Mitstreiter waren oft mit einer wütenden Menge von Hunderten und sogar Tausenden Menschen […] konfrontiert“. (Sde-Or und Yanilov 2003, S. 225)
Dabei beschreibt der Text nicht nur Lichtenfelds Siege in sportlichen Wettkämpfen und im Straßenkampf, sondern stellt ihn überhaupt als herausragenden Menschen dar – als rundum gebildetes Bewegungstalent, als Schauspieler und Ballettdarsteller, der „donnernden Applaus vom Publikum und von den Kritikern“ erntete (Sde-Or und Yanilov 2003, S. 224), als aufopferungsvollen Retter in der Not für seine Mitpassagiere auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, als Ausbilder der israelischen Spezialeinheiten, schließlich als Menschen mit einem „feinen Sinn für Humor“ und einer „einzigartigen Persönlichkeit“ (Sde-Or und Yanilov 2003, S. 227). Die Leistungen Imrich Lichtenfelds sollen hier nicht in Abrede gestellt werden. Aber es bleibt zu fragen, inwieweit die Veröffentlichung einer solchen Beschreibung – neben dem offensichtlichen Wunsch, Lichtenfeld ein ehrenvolles Andenken zu bereiten – auch der Motivation entstammt, die Qualität des Krav Maga durch eine Gründerfigur, die „larger than life“ erscheint, zu untermauern. In der weiteren Entwicklung des Krav Maga, das heißt in der Ausdifferenzierung in unterschiedliche Spielarten und Organisationen, konnte das Muster der mythischen Die Monografie ist für 2021 angekündigt und beinhaltet eine aktuelle, kritische Geschichte des Krav Maga. Dem Autor des vorliegenden Beitrags war Einsicht in eine Vorabversion möglich. 2
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Gründerfigur dann dupliziert werden. Zum Beispiel, indem, wie im Falle von Eyal Yanilov, eine möglichst direkte Traditionslinie zu Lichtenfeld herausgestellt wird. Die Website seines Verbandes betont, dass Yanilov als engster Schüler Lichtenfelds von vielen als dessen logischer Nachfolger angesehen wurde (Why you should join KMG 2021). Dabei wäre zu fragen, durch wie viele Generationen von Trainer*innen das auf den praktischen Erfahrungen der Gründerfigur basierende System weitergegeben werden kann, bevor es in kodifizierter Form „erstarrt“. Um dem Vorwurf einer solchen „Versteinerung“ zuvorzukommen, kann die jeweils an der Spitze stehende Person durch Auflistung ihrer Verdienste als wiederum herausragende Persönlichkeit dargestellt werden. Zu dem Trainer Avi Nardia liest man zum Beispiel auf seiner Homepage eine ganze Liste von Tätigkeiten als Mitglied und/oder Ausbilder der israelischen Armee, Polizei und Terrorabwehr (Sometimes a Teacher 2018). Auflistungen dieser Art gehören zum Standardrepertoire der Selbstdarstellung vor allem von Systemen, die sich das Training „für den Ernstfall“ auf die Fahne geschrieben haben. Analog zu polizeilichen oder militärischen Erfahrungen finden sich dabei auch solche aus anderen gewaltaffinen Lebensbereichen (zum Beispiel als Türsteher*in). So schreibt zum Beispiel Lee Morrison, Gründer des Urban Combatives, auf seiner Homepage über Gang-bezogene Erfahrungen während seiner Jugend und seine Erfahrungen als Türsteher: „Meine wahre Ausbildung darin, Gewalt und ‚Raubtierverhalten‘ zu verstehen, bekam ich auf der Straße! […] Tatsächlich gewährte mir die Zeit an der Tür ein Trainingslabor. Sie beschleunigte meine Lernkurve hinsichtlich [der Frage], was in echten gewalttätigen Auseinandersetzungen funktioniert, und was nicht“. (The Founder 2020; Übers. S. W.)3
Es soll nicht zur Debatte gestellt werden, ob und in welchem Umfang der genannte Avi Nardia als behördlicher Ausbilder tätig war, oder wie viel Gewalt Lee Morrison seit seiner Jugend erlebt und ausgeübt hat. Diskussionswürdig ist allerdings, welche Aussagekraft solch ein Katalog für das Training der „Endverbraucher*innen“ hat. Die eigene, praktische Einsatzerfahrung eines/r Trainer*in mag zwar das Potenzial besitzen, sich positiv auf seine/ihre Unterrichtskonzepte auszuwirken, hierbei liegt aber kein Automatismus vor. Die Binsenweisheit, dass der beste Fußballer nicht zwangsweise auch der beste Fußballtrainer ist, gilt im übertragenen Sinne auch hier; spezifisch für das vorliegende Thema formuliert: „Dieser Unterschied zwischen praktischer Arbeit und Tätigkeit als Einsatztrainer [PUOF coach] ist bisher nicht tiefer untersucht worden. Allerdings hat die Forschung in anderen professionellen Bereichen gezeigt, dass praktische Kompetenz auf einem Feld nicht gleichbedeutend ist mit Effektivität oder Erfolg als Trainer“ (Staller und Körner 2020, S. 1; Übers. S. W.).4 Praktische Erfahrung unterliegt situativen Zufällig „[…] my real education for understanding violence and predatory behaviour happened on the street! […] What the door term provided me with was, in effect, a training laboratory that accelerated my learning curve, regarding what worked and what didn’t in live violence confrontation“. 4 „This difference between working in the field and working as a PUOF coach has not been thoroughly investigated. However, research in other professional domains has shown that practical competence in the subject matter itself does not make a coach effective or successful.“ 3
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keiten und subjektiven Eindrücken, und sie muss kritisch reflektiert und systematisch übersetzt werden, um für die Ausbildung Dritter fruchtbar zu werden.
2.2
„ Natürliche Reflexe“ – Anthropologie statt zoomorpher Bewegung
In der Selbstbeschreibung moderner Selbstverteidigungs- beziehungsweise Nahkampfsysteme scheint der Mythos der zoomorphen Bewegung keine Rolle mehr zu spielen. Sein Leitgedanke, kämpferische Bewegung außerhalb der alltäglichen Erfahrungen der Praktizierenden in der Natur zu verankern und dadurch plausibel zu machen, lässt sich aber in abgewandelter Form weiterhin finden: dort nämlich, wo mit der Nutzung „natürlicher Reflexe“ des Menschen argumentiert wird, also mit einem Rückgriff auf anthropologische Konstanten, die vorbewusst wirksam seien und durch das Training lediglich verstärkt oder gelenkt werden müssten. Eine Google-Suche nach den Begriffen „Selbstverteidigung + natürliche Reflexe“ suggeriert, dass diese Argumentation besonders im Krav Maga weitverbreitet ist, der überwiegende Teil der Treffer lässt sich dem israelischen System zuordnen. Historisch lässt sich dies wahrscheinlich auf das Wirken Moshé Feldenkrais zurückführen, der nach eigenem Bekunden in den 1920er-Jahren die Mitglieder der Hagana im Nahkampf unterrichtete und beschrieb, dass er dabei auf fotografisch festgehaltene, spontane Reaktionen seiner Schüler zurückgriff: „Ich nahm ein Messer und griff jeden von ihnen an und fotografierte sie dabei. […] Das war die Idee: Herauszufinden, was die erste Bewegung ist, die jemand ausführt. Und ich schuf ein Selbstverteidigungssystem gegen jedwede Art von Angriffen, bei dem die erste Bewegung nicht ist, was man zu tun glaubt, oder was man sich zu tun entscheidet, sondern was man tatsächlich tut, wenn man Angst hat“. (Leri 1986, S. 13; Übers. S. W.)5
Aber nicht nur das Krav Maga, auch andere Amnbieter wie das ALPHA System bewerben sich mit dem Rückgriff auf „natürliche Reflexe“: „Die Konzepte und Techniken des ALPHA stützen sich auf natürliche menschliche Reflexe und Verhaltensweisen und sind so auch in Extremsituationen unter höchstem Stress quasi vollautomatisch und binnen von Sekundenbruchteilen abrufbar“ (Alpha o. J.). Häufig wird dabei die Nutzung der sogenannten „flinch response“ genannt, also das reaktionshafte Hochreißen der Arme, um den Kopf zu schützen. Mehrere Systeme, die sich das Training „für die Realität“ auf die Fahne geschrieben haben und speziell
„I took a knife and I attacked each of them and I photographed them. […] So that was the idea, to find out what was the first movement one does. And I built a system of defense for any sort of attack where the first movement is not what you think to do, what you decide to do, but what you actually do when you are frightened.“ 5
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behördliche Zielgruppen adressieren, arbeiten mit diesem Ansatz, wie beispielsweise Tony Blauers SPEAR System: „Das SPEAR System basiert auf einer 80.000 Jahre alten, genetischen Überlebensreaktion […] Das Reptiliengehirn will, dass man überlebt. […] Das SPEAR System kombiniert den schnellsten menschlichen Reflex (die Schreckreaktion) mit der stärksten natürlichen, menschlich-kinetischen Bewegung“. (Physiology o. J.; Übers. S. W.)6
Bemerkenswert ist hierbei nicht nur der Rückgriff auf 80.000 Jahre menschliche Entwicklung,7 sondern auch die Anknüpfung an eine tierische Bewusstseinsstufe, das „Reptiliengehirn“ – die Analogie der Formulierung zu den zuvor beschriebenen Mythen der zoomorphen Bewegung ist offensichtlich. Wiederum soll damit nicht die prinzipielle Funktionalität der „flinch response“ in Abrede gestellt werden. Aber die anthropologischen Argumente, warum sie sich als herausragendes Kernkonzept eignen solle, und der Absolutheitsanspruch, mit dem sie teilweise als solches propagiert wird, bleiben kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls zu relativieren. Der wissenschaftliche Beitrag von Renden et al. (2017) ist in dieser Hinsicht aufschlussreich. Er diskutiert die „flinch response“ und beurteilt sie positiv: „Der Flinch ist eine äußerst zuverlässige, reflexhafte Reaktion, die als effektiver Schutzmechanismus funktionieren könnte“ (ebd., S. 670; Übers. S. W.).8 Dabei beziehen sich die Autoren allerdings auf Cobb und Pincus (2003). Deren Artikel wiederum thematisiert explizit das SPEAR System und wurde in der Zeitschrift Law and Order publiziert, die keine wissenschaftliche Publikation darstellt. Ohne Quellen anzugeben, treffen Cobb und Pincus Aussagen, wie: „Moderne Forschungen haben gezeigt, dass das S.P.E.A.R. System™ auf neurophysiologischen Fakten basiert“ (Cobb und Pincus 2003, [S. 1]; Übers. S. W.).9 Es bleibt unklar, um welche Art von „modernen Forschungen“ es sich handelt. Hier ist also zu hinterfragen, inwieweit (kommerzielle) Kampfkunstpraxis, Kampfkunstjournalismus und praxisorientierte Wissenschaft gemeinsame Zirkelschlüsse generieren.
„The SPEAR System is based on an 80.000 year old genetic survival response […] Your reptilian brain wants you to survive […] The SPEAR System combines the fastest human response (the startle-flinch) with the strongest natural human kinetic movement.“ 7 Die Zeitspanne von 80.000 Jahren scheint dabei zufällig gewählt, die Entwicklung des modernen homo sapiens wird gewöhnlich auf 200.000 bis 100.000 v. Chr. angesetzt (Ingman et al. 2000). 8 „The flinch is a highly reliable reflex-like response that could function as an effective protection mechanism.“ 9 „Modern research has demonstrated that the S.P.E.A.R. System™ is based on the facts of neurophysiology.“ 6
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2.3
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ezug auf die „Wirklichkeit“ – geometrische Verankerung und B „reality based“-Systeme
Die Vorstellung, Kampfkunst sei in der Geometrie begründet und müsse diese zur Maxime ihrer Bewegungslogik machen, lässt sich nicht nur in mittelalterlichen Fechtbüchern, sondern auch in der Gegenwart finden.10 Ein prägnantes Beispiel ist die Betonung des geraden Fauststoßes als wichtigste Körperwaffe, wie sie einflussreich von Bruce Lee geäußert wurde: „Die Kunst des geraden Schlages (auf einer geraden und direkten Linie) ist das Fundament wissenschaftlicher [kämpferischer] Fähigkeit. Sie ist das Ergebnis von Jahrtausenden der gründlichen Analyse und des Nachdenkens“ (zitiert nach Little 1997, S. 59; Übers. S. W.).11 Dass sich die Qualität des geraden Fauststoßes als schnellste Technik aus der Geometrie ableiten ließe – weil die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine gerade Strecke ist –, ist dabei ebenso einleuchtend wie falsch. Kürzeste Strecke und schnellste Überwindung dieser Strecke sind außerhalb des geometrischen Reißbrettes nicht in eins zu setzen. Der schnellste Weg von A nach B ist in der physikalischen Wirklichkeit abhängig von Faktoren, die nicht durch die Geometrie bestimmt sind, wie schon die Lösung des Brachistochronenproblems eindrucksvoll zeigt.12 Das gilt zumal für den menschlichen Körper mit seinen Freiheitsgraden – in Ermangelung von Teleskoparmen muss er notgedrungen den Vektor eines Fausstoßes aus den sich überlagernden Kreisen von Ellenbogen- und Schultergelenk generieren. Das heißt nicht, das eine austrainierte Gerade kein probates Mittel im Kampf sein kann. Ihre empirisch erwiesene Eignung lässt sich aber nicht aus geometrischen Grundwahrheiten ableiten: Ob für die menschliche Hand die Strecke bis zu einem Ziel am schnellsten mit einer Geraden, einem Haken, einer Hammerfaust oder einer anderen Schlagvariante zurückzulegen ist, ist keine Frage der Geometrie, sondern der Bewegungswissenschaft. Wie unter 1.1.3 geschrieben, war der Rückgriff auf die Geometrie nicht nur intellektuelle Spielerei der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fechtbuchautoren. Er basierte auf dem Wunsch, die kämpferische Praxis mit der Wirklichkeit, die als geometrisch kon struiert verstanden wurde, in Einklang zu bringen. Hieraus lässt sich eine weitere Analogie zur modernen Kampfkunstpraxis ableiten: Auch heute nehmen Nahkampfsysteme für sich in Anspruch, sich ganz auf die Wirklichkeit zu beziehen. „Reality based“ ist das Schlagwort, unter dem solche Ansätze häufig vermarktet werden – meist allerdings ohne eine Ein Vortrag zur Traditionslinie dieser Vorstellung online unter Youtube Straight Lines and Magic Circles (2016). 11 „The art of straight hitting (punching in a straight and direct line) is the foundation of scientific skill. It is the result of thousands of years of careful analysis and thought.“ 12 Das von Johann I Bernoulli (1667–1748) gelöste Brachistochronenproblem stellt die Frage, auf welcher Bahn eine Kugel am schnellsten von einem Punkt A zu einem tiefergelegenen Punkt B rollt. Intuitiv nehmen viele Menschen eine schräge Bahn, d. h. die kürzeste Strecke zwischen A und B, als Lösung an. Tatsächlich handelt es sich aber um eine mathematisch bestimmbare, zykloide Kurve. Auf ihr entwickelt die Kugel eine deutlich höhere Geschwindigkeit. 10
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genaue Beschreibung dessen, was als „reality“ zu gelten hat beziehungsweise nach welcher Systematik sich ein „reality based“-Ausbildungsprogramm von einem unterscheidet, das nicht „reality based“ wäre. Die Herausgeber des vorliegenden Bandes haben auf die Schwierigkeiten des Begriffes und die Unschärfe der auf ihm aufbauenden Argumentationen hingewiesen und als Konsequenz vorgeschlagen, ihn durch den Begriff bzw. das Konzept der „representativeness“ zu ersetzen (Staller et al. 2017). Zumindest unter den Anbieter*innen von Kursen und Trainingsprogrammen hat sich diese neue Begrifflichkeit bisher noch nicht durchgesetzt, die Wirksamkeit der „reality“ als Verkaufsargument scheint ungebrochen. Bei der näheren Betrachtung solcher Angebote sind zwei grundsätzliche Fragen zu bedenken: Erstens, auf welche Weise die „reality based“-Trainingskonzepte entwickelt, umgesetzt und getestet werden. Jim Wagner – nach eigener Aussage der Gründer von „the world’s original reality-based system“ (About Reality-Based Personal Protection 2021) – nimmt für sich in Anspruch, nur jene Techniken zu unterrichten, die „in the streets or the battlefield“ funktionieren würden (ebd.). Das technische Repertoire, das Wagner auf Videos präsentiert, scheint sich allerdings wenig von älteren Ansätzen zu unterscheiden und würde hinsichtlich seiner Praktikabilität wohl auf geteiltes Expert*innen-Echo stoßen.13 Auch bedient Wagner den Gemeinplatz „realistischer“ Systeme, über „easy-to-learn and easy-to-teach training methods“ (ebd.) zu verfügen. Der Verweis auf eine Einfachheit, mit der schnelle Erlernbarkeit und Umsetzbarkeit vor allem im Vergleich zu „traditionellen“ Systemen garantiert werden soll, darf wohl als weiteres Verkaufsargument gewertet werden. Schließlich ist fraglich, warum die Vorbereitung auf eine unvorhersehbare und prinzipiell beliebig komplexe Situation in kürzerer Zeit zu bewerkstelligen sein soll als die Ausbildung in einem geschlossenen System mit klar definierten Rahmenbedingungen wie dem sportlichen Wettkampf. Wagner zählt als mögliche „Aktionsfelder“ seines Systems auf: „Verteidigung gegen terroristische Bombenanschläge und Schusswaffenangriffe, kriminelle Messerattacken, Autoüberfälle, Drive-by-Shootings, Entführungen, sexuelle Übergriffe, Körperverletzung, bewaffneter Raubüberfall, kriminelle chemische Angriffe, Ganggewalt, Schul- und Arbeitsplatzmassaker, Kidnapping, Scharfenschützenangriffe – um nur einige zu nennen“ (ebd.; Übers. S. W.)14 Zweitens tut sich im Anspruch, ein „reality based“-System zu entwickeln, ein grundlegendes Problem auf, das die Philosophie seit mehreren Jahrtausenden beschäftigt: Was genau ist die Realität, und wie lässt sie sich von uns erkennen? Diese Fragen sind im hier besprochenen Kontext von ganz konkreter Bedeutung: Welche Arten von Angriffen werden aufgrund welcher Datenlage als Primärbedrohungen betrachtet (Stichwort „Risikoanalyse“)? Inwieweit sind mögliche persönliche Erfahrungen der Protagonist*innen eines Clips von und mit Jim Wagner lassen auf YouTube zahlreich finden, siehe z. B. Youtube Reality-Based (2018). 14 „Defense against terrorist bombings and small arms attacks, criminal style stabbings, carjackings, drive-by shootings, kidnappings, sexual assault, armed robbery, criminal chemical attacks, gang violence, school and workplace massacres, child abductions, sniper attacks – just to name a few.“ 13
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Systems subjektiv geprägt? Nach welchen Prämissen wird die sondierte, angenommene Realität in Techniken, Taktiken und Trainingsprinzipien übersetzt? Ohne eine fundierte und selbstreflektierte Untersuchung, nach welchen Mustern zwischenmenschliche Gewalt abläuft (vgl. Collins 2011), als Leitlinie der Trainingsgestaltung bleiben Begriffe wie „reality based“ letztlich Worthülsen.
2.4
WAT Teams und Navy Seals – Genese und Eignung für S das Schachtfeld
Unter 1.4 wurde der Kampfkunst-Mythos „Genese auf dem Schlachtfeld“ als kollektivierte Form der mythischen Gründerfigur angesprochen. Dies gilt auch für seine moderne Spielarten: Häufig sind nicht nur die Darstellungen der Lebensgeschichte des/r Stilgründer*in mit einem besonders gewaltaffinen Hintergrund verknüpft, wie oben beschrieben. Die Qualität des jeweiligen Systems will man auch dadurch belegen, dass es für militärische oder polizeiliche Einheiten kreiert wurde bzw. von solchen trainiert wird – also eine unterstellte Genese nicht nur auf dem, sondern auch für das Schlachtfeld. Unterstrichen wird dieser Anspruch oft durch den Gebrauch militärisch wirkender Signalwörter wie „CQC“, „Tactical“, „Combative“ usw. Beispiele für das Narrativ „Eignung für das Schlachtfeld“ hält jedes der bereits genannten Systeme Krav Maga,15 Urban Combatives, SPEAR, ALPHA System und Reality-Based Personal Protection bereit: „CKM [Commando Krav Maga] Military wurde vielen Einheiten auf der ganzen Welt unterrichtet, darunter die Israelische Armee, die U.S. Air Force, Kanadische Spezialeinheiten, Jamaikanische Spezialeinheiten und viele weitere. […] Werde der ultimative Soldat mit CKM Military!“ (CKM Military o. J.; Übers. S. W.)16 „Urban Combatives wurde allen möglichen Menschen unterrichtet, bis hinauf zu Eliteeinheiten auf der ganzen Welt“. (UC Defined 2020; Übers. S. W.)17 „Die Kernkampftaktik des ALPHA wurde bereits Mitte der 80iger Jahre für das legendäre US Navy SEAL Team 6 (Anti-Terror-Kommando) entwickelt und wird heute weltweit von zahlreichen Eliteeinheiten trainiert.“ (Alpha o. J.)
Hier Commando Krav Maga von Moni Aizik als Beispiel. In der äußerst heterogenen Welt des heutigen Krav Maga scheint es aber kaum eine Spielart zu geben, die ohne den Verweis auf die militärische Verwendung auskommt. 16 „CKM [Commando Krav Maga] Military has been taught around the world to many unites [sic] including; the Israeli Army, U.S. Air Force, Canadian Special Forces, Jamaican Special Forces, and many more […] Become the ultimate soldier with CKM Military.“ 17 „Urban Combatives has been taught to all right up to elite special forces all over the World“. 15
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„Während der letzten zwanzig Jahre wurde das SPEAR SYSTEM™ von professionellen Anwendern aus Polizei und Militär auf der ganzen Welt übernommen. Es hat sich auf der Straße und in der Schlacht bewährt“. (There are Only Three Fights o. J.)18
„Obwohl es sich [bei Jim Wagners Reality-Based Personal Protection] um ein ziviles Selbstschutzsystem handelt, nehmen Mitglieder von Polizei und Militär häufig an diesen Kursen teil“. (About Reality-Based Personal Protection 2021; Übers. S. W.)19
Solche Verweise sind in mehrerer Hinsicht problematisch: Erstens sind die Anforderungen militärischer und polizeilicher Einsätze nicht notwendig deckungsgleich; zweitens kann die Buchung eines/r Ausbilder*in diversen (z. B. institutionell-organisatorischen, ökonomischen, persönlichen) Prämissen unterliegen und muss nicht notgedrungen eine hervorragende Eignung des jeweiligen Systems widerspiegeln. Um die Qualität eines Ausbildungsprogramms abzuklopfen, wäre konsequenterweise also nicht zu fragen, welche Einheiten bereits durch ein System unterrichtet wurden, sondern ob und in wie vielen Fällen die jeweils unterrichteten Techniken oder Konzepte von Mitgliedern dieser Einheiten erfolgreich umgesetzt werden konnten. Fazit Es sei noch einmal ausdrücklich gesagt: Das Anliegen dieses Beitrags ist es in keinem Fall, irgendeinen der genannten Systemgründer oder Instruktoren zu diskreditieren. Jeder der namentlich Genannten mag über einen großen (praktischen wie theoretischen) Erfahrungsschatz verfügen und wertvolles Wissen mitteilen können. Die Narrative, mit denen dieses Wissen fundiert und die jeweilige Praxis legitimiert werden soll, sind aber kritisch zu hinterfragen. Die genannten Personen und Systeme wurden ausgewählt, weil sie über ein gewisses Maß an Prominenz verfügen. Ohne Zweifel ließen sich entsprechende Muster auch in der Selbstdarstellung vieler anderer moderner Kampfkünste finden.20 Die Struktur traditioneller Kampfkunst-Mythen wurde dargestellt, um solche neuen Mythen klarer identifizieren zu können. Denn während die alten Mythen heute absurd erscheinen mögen, überzeugen die neuen häufig auf einer intuitiven Ebene. Die Identifikation und Reflexion dieser neuen Mythen ist unabdingbar, wenn im Rahmen behördlicher Ausbildung z. B. Trainingsprogramme erstellt oder über die Beauftragung externer Instruktor*innen entschieden werden soll. Angesichts begrenzter „Over the last 20 years, the SPEAR SYSTEM™ has been integrated by law enforcement & military professionals around the world. It is street and battle proven […]“. 19 „Although this [Jim Wagners Reality-Based Personal Protection] is a civilian personal protection system, police and military personnel often attend these courses simply because much of what I teach is not even taught in many units and agencies, or in such a comprehensive manner. Not only have I had many professionals attend all my courses, but they tend to seek out my certified instructors as well.“ 20 Die vom Autor dieses Beitrags betriebene philippinische Kampfkunst Kali sei hiervon explizit nicht ausgenommen. 18
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z eitlicher und finanzieller Ressourcen in der Ausbildung soll das Training der Beamt*innen möglichst unmittelbare und nachhaltige positive Effekte erzielen. Höchstes Ziel dieser Arbeit ist schließlich nicht nur die Erfüllung polizeilicher Aufgaben, sondern vor allem die Sicherheit der Polizist*innen und Bürger*innen. Vor diesem Hintergrund ist es Pflicht aller Entscheidungsträger*innen, das polizeiliche Einsatztraining auf eine fundierte wissenschaftliche Basis zu stellen und nach aktuellen, wissenschaftlichen Erkenntnissen zu gestalten.
Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
Übergreifend gültig Bevor spezifische Hinweise für die drei involvierten Personenkreise gegeben werden, ist eine übergreifende Empfehlung auszusprechen. Sie betrifft durchweg alle, die mit der Konzeption, Vermittlung oder Aneignung der Inhalte des Einsatztrainings befasst sind: Sofern ein eigener, persönlicher Kampfkunst-Hintergrund vorliegt, ist zuerst einmal die eigene Theorie und Praxis auf mögliche mythische Muster zu überprüfen. Wie viele Aussagen der selbst betriebenen Kampfkunst wurden ohne tiefere Reflexion internalisiert? Inwiefern gefährden sie den klaren Blick auf die Notwendigkeiten des Einsatztrainings oder auf die Techniken und Methoden von anderen Instruktor*innen? Wie positioniert man sich, wenn Erfahrungen aus dem Einsatz oder wissenschaftliche Erkenntnisse der Lehrmeinung der eigenen Kampfkunst widersprechen? Das Erkennen möglicher eigener „mythischer Befangenheiten“ ist die notwendige Bedingung, die Aussagen anderer richtig verstehen, einordnen und beurteilen zu können. a) Entscheider*innen Entscheider*innen in polizeilichen Organisationen müssen • sich der Existenz der modernen Kampfkunst-Mythen, wie sie von vielen Systemen formuliert werden, bewusst sein und die Entwicklung dieses Bewusstseins auch auf anderen Dienstebenen aktiv fördern. • fähig sein, das Vorhandensein solcher Narrative (sowohl beim eigenen Personal als auch bei Drittanbieter*innen) zu erkennen, kritisch zu hinterfragen und an die involvierten Stellen zu kommunizieren. • bei einer Buchung von Drittanbieter*innen diese dazu verpflichten, die Qualität ihrer selbst und ihres angebotenen Unterrichts unabhängig von Rückgriffen auf Kampfkunst-Mythen darzustellen. • verunmöglichen, dass das Einsatztraining von Ausbilder*innen als Vehikel für die Platzierung der jeweils eigenen Kampfkunst und ihrer Narrative genutzt wird, anstatt sich an den erarbeiteten Richtlinien zu orientieren.
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• dafür Sorge tragen, dass Ausbildungsprogramme anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse und korrekt eingeordneter Erfahrungswerte entwickelt und umgesetzt werden, anstatt sich an Kampfkunst-Mythen zu orientieren. • im Rahmen einer Qualitätssicherung darauf achten, dass aus dem Training nicht selbst wieder Mythen generiert werden. Dies erfordert einen kontinuierlichen Reflexionsprozess. b) Einsatzkräfte Einsatzkräfte sind dazu angehalten, • sich den Inhalten des Einsatztrainings offen zu nähern. Eigene Vorstellungen, wie physische Konfrontationen aussehen und wie die Vorbereitung auf sie zu erfolgen hat, sind auf den Prüfstand zu stellen. • dabei aber gleichzeitig eine konstruktiv-kritische Perspektive auf das Training einzunehmen und Unklarheiten, Widersprüche und Verbesserungsvorschläge im geeigneten Rahmen und Maße zu kommunizieren. Auf diese Weise tragen sie langfristig zur Qualitätssteigerung des Trainings bei. c) Einsatztrainer*innen Den Einsatztrainer*innen kommt als Vermittler*innen der Ausbildungsinhalte zwischen Entscheider*innen und Einsatzkräften eine zentrale Bedeutung zu. Es liegt in ihrer Pflicht, • die gegebenenfalls vorhandenen persönlichen Kampfkunst-Hintergründe anhand der im Rahmen des Beitrags entwickelten Perspektiven kritisch zu hinterfragen. • sich bei der Beurteilung von Techniken, Taktiken und Trainingsmethoden eine wissenschaftliche Haltung anzueignen. • die von den Entscheider*innen vorgegebenen Ausbildungsinhalte theoretisch und praktisch in der Tiefe zu durchdringen und die Unterrichtspraxis auf sie abzustimmen. • zu garantieren, dass ihre persönliche Erfahrung zwar für die Auszubildenden fruchtbar wird, die zentral vorgegebenen Ausbildungsinhalte aber nicht durch eigene Ansätze überlagert werden. • mögliche, auf neuen Erkenntnissen beruhende Anpassungen und Nachjustierungen unmittelbar in die Unterrichtspraxis umzusetzen. • Auszubildende, die bereits über einen eigenen Kampfkunst-Hintergrund verfügen, konstruktiv „abzuholen“ und einzubinden und anhand der zuvor entwickelten Perspektiven zur Reflexion über bereits internalisierte Methoden und Lehrsätze anzuregen.
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Kampfkunst-Mythen im Einsatztraining
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Was nicht passt, wird passend gemacht? Der Person-Environment-Fit und Rolle der Personalauswahl im Polizeitraining Stefan Schade, Markus M. Thielgen, Christian Beck und Thomas Wimmer
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 2 Personalpsychologische Grundlagen 3 Das Modell des Person-Environment-Fits 4 Diskussion Literatur
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Geteilte Erstautorenschaft (Markus M. Thielgen) Reviewer*innen: Michael Hauck, Clemens Lorei
S. Schade (*) · M. M. Thielgen Abteilung 1 – Studium, Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz, Postfach 1111, 55482, Flughafen-Hahn, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] C. Beck Abteilung Spezialeinheiten Polizeipräsidium Einsatz, Logistik, Technik, Zentrale Ausbildungstelle der Spezialeinheiten Polizei Rheinland-Pfalz, 67677, Enkenbach-Alsenborn, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Wimmer Abteilung Spezialeinheiten Polizeipräsidium Einsatz, Logistik, Technik, Leitung Abteilung Spezialeinheiten Polizei Rheinland-Pfalz (Stellv. Leitung), 55129, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_7
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Zusammenfassung
Personalauswahl und Personalentwicklung spielen angesichts des demografischen Wandels, des steigenden Konkurrenzdrucks im Kampf um Nachwuchskräfte sowie des wachsenden Aufgabenspektrums eine zentrale Rolle für alle Polizeiorganisationen. Mit der Rekrutierung erfolgt der Einstieg in eine berufliche Laufbahn bei der Polizei und liefert so die personale Grundlage für Polizeistudium, Polizeitraining und späteren Polizeiberuf. Typischerweise werden Polizeibewerber*innen ausgewählt, denen ein Potenzial zu geschrieben wird, in der Zukunft polizeiliche Einsatzrealitäten erfolgreich bewältigen zu können. Im Rahmen der Personalentwicklung kommt dem Polizeistudium und -training sowie der polizeilichen Fortbildung die Aufgabe zu, das Potenzial der ausgewählten Bewerber*innen zu entwickeln, sodass eine manifeste Handlungskompetenz ausgeformt wird. Als Kompass für Personalauswahl und Personalentwicklung kann dabei der Person-Environment-Fit-Ansatz (In diesem Beitrag wird der englische Ausdruck als Fachterminus verwendet.) angesehen werden. Der Grundgedanke ist, die Passung zwischen den personalen Voraussetzungen der Kandidat*innen (Eigenschaften, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Wissen und andere Charakteristika) und den Merkmalen der (zukünftigen) beruflichen Arbeitsumwelt zu maximieren. Sodann verspricht eine hohe Passung nicht nur berufliche Leistung, sondern auch Berufszufriedenheit und Wohlbefinden – mit anderen Worten leistungsstarke, zufriedene und gesunde Organisationsmitglieder. Im vorliegenden Beitrag werden der Person-Environment-Fit-Ansatz, empirische Studien und Implikationen für das Polizeitraining dargestellt.
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Einleitung
Der demografischen Wandel und der daraus resultierende Konkurrenzdruck im Kampf um Nachwuchskräfte stellt eine Herausforderung für Polizeiorganisationen dar. Diese gestaltet sich umso anspruchsvoller, als dass das Aufgabenspektrum der Polizei in den letzten Jahren und Jahrzehnten kontinuierlich gewachsen ist. Vor diesem Hintergrund kommt der Personalauswahl eine zentrale Rolle zu, deren Ziel es ist, eine ausreichende Anzahl kompetenter Nachwuchskräfte zu rekrutieren. Ziel ist es, Polizeibewerber*innen auszuwählen, denen das Potenzial zugeschrieben wird, zukünftige Einsatzanforderungen erfolgreich zu bewältigen (Nettelnstroth 2017; Nettelnstroth et al. 2019). Anschließend ist es die Aufgabe der Personalentwicklung, im Zuge von Polizeistudium und -training die Nachwuchskräfte zu sozialisieren und ihr Potenzial zu entwickeln, sodass eine manifeste Handlungskompetenz resultiert. Im vorliegenden Beitrag stellen wir das Konzept des Person-Environment-Fits vor (Kristof-Brown und Guay 2011; Kristof-Brown et al. 2005; van Vianen 2018). Es handelt sich dabei um eines der wichtigsten Konzepte der Personalpsychologie, das in den letzten Jahrzehnten eine umfassende empirische Unterstützung erfahren hat.
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Unserer Ansicht nach stellt es den Kompass für eine erfolgreiche Personalauswahl und Personalentwicklung von Nachwuchskräften im Polizeidienst dar. Ziel sollte es sein, eine optimale Passung zwischen Einsatzkräften und Einsatzanforderungen (im Sinne eines „Einsatzkraft-Einsatz-Fits“) anzustreben. Im Folgenden werden wir zunächst Grundzüge der Personalauswahl und der Personalentwicklung überblicksartig darstellen. Anschließend stellen wir das Konzept des Person-Environment-Fits sowie seiner Facetten vor dem Hintergrund polizeilicher Personalauswahl und Sozialisation vor. Dabei werden auch die Folgen einer günstigen und ungünstigen Passung für die Polizei diskutiert. Durch zwei praktische Fallbeispiele zweier Auswahlverfahren innerhalb der Polizei soll die Rolle des Person-Environment-Fits aufgezeigt werden. Der Mehrwert dieses Beitrags soll darin begründet liegen, dass wir die Bedeutung der Personalauswahl und -entwicklung für den Polizeidienst, einschließlich des Polizeistudiums und -trainings, herausstellen und das Konzept des Person-Environment-Fits als Richtung gebenden Kompass in den Mittelpunkt rücken. Schließlich wird dadurch deutlich, dass von der Personalauswahl über das Polizeistudium und -training bis hin zur polizeilichen Einsatzbewältigung in Verbindung mit der polizeilichen Fortbildung im Polizeialltag der Person-Environment-Fit die rahmende Konzeption für sämtliche organisationale Maßnahmen der Polizei gegenüber dem eigenen Personal darstellt. Im Zen trum steht dabei stets die Frage, ob und inwieweit organisationale Eingriffe die Person-Umwelt-Passung der Mitarbeitenden zu verbessern hilft.
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Personalpsychologische Grundlagen
Fragen der Personalauswahl und -entwicklung sind Gegenstand der Arbeits-, Betriebsund Organisationspsychologie. Als Anwendungsfach der Psychologie beschäftigt sie sich mit dem Erleben und Verhalten von Menschen im Kontext von Arbeit, Organisation und Personalwirtschaft (Nerdinger et al. 2018). Der Teilbereich der Personalpsychologie befasst sich mit Fragen des Personalwesens auf verschiedenen Ebenen. Auf einer Mikroebene stehen Arbeit und Individuum im Mittelpunkt, wobei es um Aspekte der Arbeitsund Anforderungsanalyse bzw. Personalauswahl und -entwicklung geht. Die Mesoebene betrachtet die Interaktion im Team und die Rolle der Führung. Auf der Makroebene steht die gesamte Organisation im Fokus, beispielsweise im Zusammenhang mit Organisationsentwicklung oder -kultur (Schuler und Kanning 2014). Im Folgenden gehen wir auf zwei – für Polizeistudium und -training richtungsweisende – Themenfelder näher ein: Personalauswahl und Personalentwicklung. Personalauswahl Die Personalauswahl ist eine zentrale Aufgabe der organisationalen Personalwirtschaft, deren Ziel es ist, für Positionen einer Organisation eine ausreichende Anzahl an geeignetem Personal zur Aufgabenbewältigung rechtzeitig bereitzustellen (Ridder 2015; Schuler 2014). Um die Frage zu beantworten, wie Personalauswahl konkret ausgestaltet sein
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sollte, sind zunächst die besonderen Rechtsbezüge zu nennen, in denen sich die Polizei als Institution des öffentlichen Dienstes befindet. So gilt hier insbesondere die Rechtsnorm des Artikel 33 (2) GG, nach der jeder Deutsche „… nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte“ besitzt. Daraus ergibt sich, dass eine Personalauswahl nicht willkürlich, sondern nach dem Prinzip der sogenannten „Bestenauslese“ zu erfolgen hat. Demnach muss das Feld der Bewerber*innen eingeschätzt und in eine Rangfolge gebracht werden, wonach die Rangobersten die vakanten Positionen in der Organisation erhalten. Die Einschätzung von Personen muss sich dabei an allgemein anerkannten Standards orientieren. Einen solchen Maßstab stellt insbesondere die DIN-Norm 33430 „Anforderungen an berufsbezogene Eignungsbeurteilung“ dar (Diagnostik- und Testkuratorium 2018). Sie definiert den Begriff der Eignung, beschreibt die Grundlagen des Personalauswahlprozesses und gibt einen Überblick über etablierte Testverfahren sowie Anforderungen an handelnde Akteure. Die DIN-Norm 33430 ist universal auf alle Berufe anwendbar. Grundsätzlich kann Kandidat*innen eine Eignung für eine Position zugeschrieben werden, wenn ein hinreichendes Potenzial festgestellt wird, dass die Personen im Rahmen der Tätigkeit nicht nur „gute“ Leistungen zeigen werden, sondern auch berufliche Zufriedenheit erlangen und Gesundheit erhalten können. Betrachtet man den Polizeidienst, so ist ein solches Verständnis von Eignung zentral. Denn Polizeinachwuchskräfte müssen nicht nur im Hinblick auf Ausbildung bzw. Studium oder Training und späteren Beruf leistungsfähig sein. Idealerweise sollten Kandidat*innen auch die Chance haben, in ihrer Profession berufliche Zufriedenheit zu erlangen und langfristig gesund zu bleiben (Thielgen 2016; Nettelnstroth et al. 2019). Um Eignung festzustellen, bedarf es eines ganzheitlichen Personalauswahlprozesses. Er beginnt typischerweise mit der Personalplanung und umfasst die Schritte der Anforderungsanalyse, der Ausschreibung, der Testung und Auswertung, der Personalentscheidung und schließlich der Evaluation (Schuler 2014). Als Basis einer jeden Personalauswahl kann die Anforderungsanalyse angesehen werden. Unter diesem Begriff versteht man typischerweise eine Reihe von wissenschaftlich fundierten Verfahren mit dem Ziel, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Wissensmerkmale, Eigenschaften und andere Aspekte der Bewerber*innen zu identifizieren (sogenannte KSAOs, „knowledge, skills, abilities and other characteristics“), die für die erfolgreiche Tätigkeit in einer bestimmten Position von Bedeutung sind. Eine Herangehensweise ist neben der personenbezogenen-empirischen und arbeitsanalytischen die erfahrungsgeleitete-intuitive Methode (Nerdinger et al. 2019; Schuler und Kanning 2014; Schuler und Moser, 2019). Sie versucht durch Befragung von Expert*innen, die die zu besetzende Position hinreichend kennen, erfolgskritische Anforderungen abzuleiten und daraus ein Anforderungsprofil zu gewinnen. Eine häufig eingesetzte Technik ist dabei die Methode kritischer Ereignisse (Flanagan 1954). Das Ergebnis einer Anforderungsanalyse ist dabei ein Anforderungsprofil für den Beruf. Es umfasst „eine Zusammenstellung der Eignungsmerkmale sowie deren erforderlichen Ausprägungsgrade, die für die erwartete Leistung und die Zufriedenheit an einem Arbeitsplatz erforderlich sind“ (Höft und Kersting 2017, S. 28). Im Sinne der DIN (2016, S. 7) sind insbesondere
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solche Merkmale von Bedeutung, die eine zuverlässige Vorhersage über zukünftige Leistung und Zufriedenheit erlauben. Hierzu ist für jeden Beruf nachzuweisen, dass die Eignungsmerkmale zur erfolgreichen Bewältigung von Berufsanforderungen im Sinne von Leistung und Zufriedenheit beitragen. Im Hinblick auf den Polizeiberuf lässt sich feststellen, dass es für das polizeiliche Einstiegsamt in Deutschland kein allgemein anerkanntes evidenz-basiertes Anforderungsprofil gibt, ebenso für aufgabenspezifische Verwendungen innerhalb der Polizei, wie zum Beispiel Einsatztrainer*innen (Thielgen 2016). Inzwischen liefern jedoch Nettelnstroth, Martens und Binder (2019) ein erstes (unserer Kenntnis nach das erste) evidenz-basiertes Anforderungsprofil für den Polizeiberuf in Deutschland. Es basiert vor allem auf der personenbezogenen-empirischen Methode der Anforderungsanalyse (Nettelnstroth et al. 2019; vgl. Tab. 1). Stehen die Anforderungsmerkmale fest, können im Sinne einer „Anforderungs- Verfahrens-Matrix“ zielgerichtet etablierte Testverfahren der Leistungs- und Persönlichkeitsdiagnostik ausgewählt werden. Dabei werden für jede Anforderung idealerweise zwei Messinstrumente bestimmt, mit deren Hilfe eine Einschätzung erfolgen kann (Obermann 2017). Zu den typischen eignungsdiagnostischen Instrumenten zählen die Analyse von Dokumenten (z. B. Zeugnisse, Zertifikate), Testverfahren (z. B. Intelligenz- und Leistungstests), Fragebögen (z. B. Persönlichkeitsfragebögen), Arbeitsproben und Assessment- Center-Aufgaben sowie Strukturierte Interviews (Diagnostik- und Testkuratorium 2018; Schuler 2014). Schließlich ist es im Rahmen der Personalauswahl wichtig, dass die handelnden Akteure der polizeilichen Personalabteilungen mit deren professioneller Durchführung vertraut sein müssen. Sowohl standardisierte Testverfahren als auch deren fachkundige Anwendung sind wichtig, um den hohen Anforderungen von Art. 33 Abs. (2) GG sowie der DIN-Norm 33430 im Polizeidienst gerecht zu werden (Diagnostik- und Testkuratorium 2018). Ein Beispiel für ein solches Auswahlverfahren ist dargestellt im Exkurs „Verhaltenstrainer*innen der Polizei Rheinland-Pfalz“.
Tab. 1 Polizeiliches Anforderungsprofil nach Nettelstroth, Martens und Binder (2019, S. 23) Anforderungsdimension Reflektierte Einstellung
Operationalisierung • Angemessener Umgang mit Kritik, Kritikfähigkeit • Verantwortungsbewusstsein und Reflexionsfähigkeit • Identifikation mit Polizei und Dienstort Einsatzwille und Interesse • Ausgeprägter Einsatz- und Leistungswillen • Hohe Arbeitsfreude und Initiative Soziale Kompetenz und Kooperation • Teamarbeit und Kommunikationsfähigkeit • Kollegialität und Aufgeschlossenheit • Positiver Einfluss auf dienstliches Miteinander Psychische Stabilität • Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen • Emotionale Ausgeglichenheit • Funktionaler Umgang mit Belastungen (Stressresistenz) Kognitive Fähigkeit • Praxisorientiertes Fachwissen • Schnelle Auffassungsgabe
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Exkurs
Das Eignungs- und Auswahlverfahren der ‚Verhaltenstrainer*innen‘ der Polizei Rheinland-Pfalz Ein Beispiel für ein Eignungs- und Auswahlverfahren, das nach den Prinzipien der Personalauswahl entwickelt worden ist, hat die Selektion von sog. Verhaltenstrainer*innen an der Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz zum Ziel. Aufgabe der Verhaltenstrainer*innen ist unter anderem die Durchführung von verschiedenen Verhaltenstrainings im Rahmen der Aus- und Fortbildung der rheinland-pfälzischen Polizei (zum Beispiel Stress- und Konflikttrainings, Kommunikations- und Teamentwicklungstrainings, Moderationen etc.). Grundlage des Verfahrens ist ein Anforderungsprofil, das auf Basis der erfahrungsgeleiteten-intuitiven Methode mithilfe der Technik kritischer Ereignisse erstellt wurde. Nach Eingang der Bewerbungen werden zunächst relevante Dokumente gesichtet (Zeugnisse, Zertifikate, Beurteilungen). Im Rahmen eines Auswahltages erfolgt zunächst die Präsentation einer Aufgabe zu einem tätigkeitsbezogenen Thema, die einige Tage zuvor an die Bewerber*innen versandt wurde. Sodann erfolgt hierzu eine Erörterung von Fragen. Im zweiten Schritt müssen die Kandidat*innen aus einem Stapel von Karten eine Begriffskarte ziehen und dazu eine einminütige Stegreifrede halten. Im Anschluss wird eine Teamübung mit einem Rollenspielenden durchgeführt, bei der es um lehrtypische Situationen im Kontext der Aus- und Fortbildung geht, wobei konfliktbezogene Themen im Vordergrund stehen. Der Auswahltag wird abgeschlossen durch ein halbstündiges strukturiertes Interview. ◄
Personalentwicklung Sind Nachwuchskräfte ausgewählt, haben diese idealerweise das Potenzial zur erfolgreichen Bewältigung von beruflichen Anforderungen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Voraussetzung haben, zukünftig im Beruf „gute“ Leistung zu zeigen und Zufriedenheit zu erleben. Nachwuchskräfte zu sozialisieren und ihre Potenziale zu entwickeln, ist typischerweise Aufgabe der Personalentwicklung. Darunter versteht man die Ausbildung, Fortbildung und Weiterbildung des Personals, die an den Anforderungen der Organisation orientiert ist (Ryschka et al. 2010; Schuler und Kanning 2018). Im Kontext der Polizei beginnt Personalentwicklung typischerweise mit Polizeistudium und -training. Nach erfolgreichem Abschluss der Erstqualifikation findet eine kontinuierliche Weiterbildung über die berufliche Lebensspanne statt. Ein wichtiges inhaltliches Ziel der Personalentwicklung ist es, Kompetenzen zu entwickeln (Krumm et al. 2012). Unter Kompetenzen verstehen wir ein Bündel von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen sowie anderen Eigenschaften und Merkmale, das eine Person befähigt, Anforderungen im (beruflichen) Alltag erfolgreich zu bewältigen (McClelland 1973). Sie werden häufig mit dem Akronym KSAOs (knowledge, skills, abilities and other characteristics) bezeichnet. Typischerweise werden mehrere Kompetenzbereiche unterschieden, wie Fachkompetenz, Methodenkompetenz, Sozialkompetenz und Selbstkompe-
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tenz (Erpenbeck und von Rosenstiel 2003; Roth 1971; Thielgen 2016, Weinert 2001). Aus Anforderungsprofilen für den Polizeidienst geht hervor, dass ein wichtiges Ziel der Personalentwicklung die Handlungskompetenz ist (Nettelstroth et al. 2019; Thielgen 2016). Sie umfasst demnach „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2001, S. 27). Im Kontext eines Polizeieinsatzes gilt es, diese den Polizeikräften zur Verfügung stehenden Ressourcen adäquat anzuwenden. Nach Abschluss des polizeilichen Auswahlverfahrens steht eine Gruppe potenziell geeigneter Kandidat*innen für den Polizeiberuf (Abb. 1). Sie bringen jene personalen Vorausetzungen mit, um potenziell zukünftig im Polizeidienst „gute“ Leistung zu zeigen und Zufriedenheit zu erleben (Feststellung des Lernpotenzials zum Erwerb von Handlungskompetenz). Das Potenzial auszuformen, ist dann die Aufgabe von Ausbildung und Studium des Polizeidienstes (Ausformung des Lernpotenzials als Handlungskompetenz). Schließlich soll das Potenzial so weit reichen, dass es eine erfolgreiche operative Bewältigung ermöglicht (Anwendung der Handlungskompetenz). Im Rahmen der Fortbildung sowie der zunehmenden Verwendungsbreite und -tiefe beschreiten Polizist*innen schließlich ihren beruflichen Weg (Spezialisierung der Handlungskompetenz). Im Rahmen des Polizeistudiums und -trainings ist es das Ziel, diese Kompetenzbereiche systematisch zu entwickeln (Niegisch und Thielgen 2018). Validierung am Außenkriterium
Anforderungsprofil
Studienerfolg
Personalauswahl
Feststellung des Lernpotenzials zum Erwerb von Handlungskompetenz
Operative Einsatzbewältigung
Polizeistudium und -training Berufsbegleitende Fortbildung inklusive Polizeitraining Ausformung des Lernpotenzials als Handlungskompetenz
Anwendung und Spezialisierung der Handlungskompetenz
Abb. 1 Ziele in drei Stadien der beruflichen Sozialisation in der Polizei. (Quelle: Eigene Darstellung)
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Betrachtet man den Prozess der Personalentwicklung über die berufliche und organisationale Entwicklung hinweg, so werden mehrere zentrale Entwicklungsprinzipien deutlich. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass jungen Menschen eine grundlegende Lernorientierung innewohnt. Die Sozioemotionale Selektivitätstheorie (Carstensen 2006, 2009; Carstensen et al. 1999) postuliert Altersunterschiede im emotionalen Erleben, wobei ein zentraler Ausgangspunkt die Zeitperspektive von Menschen ist. Typischerweise haben junge Menschen eine offene Zeitperspektive und betrachten die Zeit seit ihrer Geburt, was sich erst im Laufe der Lebensspanne verändert. Wird die Zeitperspektive als offen wahrgenommen, streben Menschen üblicherweise nach Zielen, die der Informationsgewinnung und der Erweiterung des eigenen sozialen Netzwerkes dienen. Damit wird der Zweck erfüllt, das Lernen zu fördern und Potenziale für zukünftige Erfolge zu maximieren. Umgekehrt scheint für Ältere der Wert der Generativität an Bedeutung zu gewinnen, das heißt Wissen und Erfahrung an jüngere Generationen weiterzugeben (Grube 2009; Krumm et al. 2013a, b; Kooij et al. 2011; Thielgen et al. 2019). Ein ursprünglich aus der Entwicklungspsychologie des Alterns stammendes Konzept zu den Prinzipien einer erfolgreichen beruflichen Entwicklung ist das Modell der Selektiven Optimierung und Kompensation von Baltes und Baltes (Baltes und Baltes 1990; Baltes, 1990; Baltes et al. 2012). Es beschreibt drei Entwicklungsprozesse für die Anpassung an die Umwelt als ausschlaggebend. Eine optimale Umweltanpassung (über die gesamte Lebensspanne hinweg) und damit der Erhalt von Lebensqualität und Arbeitsfunktionalität gelingen demnach zunächst durch eine ressourcenorientierte Priorisierung und Selektion von persönlichen Handlungszielen (Selektion). Im sich anschließenden Prozess der Zielverfolgung wird der Einsatz sämtlicher Ressourcen auf das Erreichen der ausgewählten Handlungsziele konzentriert (Optimierung). Einschränkungen und Verluste von Ressourcen zur Zielverfolgung werden durch neu erworbene oder bislang nicht genutzte Ressourcen und Kompetenzen ausgeglichen (Kompensation). Auf diese Weise bleibt (möglichst lang) ein adäquates Funktionsniveau im Sinne selbstständigen Handelns erhalten. Ein Beispiel, in dem Personalauswahl und Personalentwicklung systematisch ineinandergreifen, ist das Eignungs- und Auswahlverfahren der Spezialeinheiten der rheinland- pfälzischen Polizei mit anschließender Einführungsfortbildung (siehe Exkurs). Exkurs
Das Eignungs- und Auswahlverfahren der Spezialeinheiten der Polizei Rheinland-Pfalz Zentrale Aufgabe eines Eignungs- und Auswahlverfahrens ist es, jene Kandidat*innen zu identifizieren, die optimale Voraussetzungen mitbringen, um die Anforderungen im späteren Aufgabengebiet bestmöglich zu bewältigen. Ziel ist es dabei also, den Person- Job-Fit zu maximieren. Im Zuge von Reformanstrengungen nach den Terroranschlägen von 2015 begann 2016 in Rheinland-Pfalz ein vielschichtiger Umstrukturierungsprozess innerhalb der Polizei. Im Zuge dieser Neuorganisation wurden verschiedene Fachbereiche der Spezialeinheiten unter einem organisationalen Dach zusammengeführt. Im Nachgang sind seitdem eine Reihe von Anstrengungen im Bereich der Auswahl, Ausbildung und Fortbildung von Einsatzkräften der Spezialeinheiten unternommen worden.
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Das Eignungs- und Auswahlverfahren aller Fachbereiche der Spezialeinheiten ist aktuell Gegenstand einer Neuausrichtung und wurde zunächst unter folgende Leitfrage gestellt: Kann der Kandidat/die Kandidatin (der/die potenzielle SE‘ler*in) unter körperlicher und mentaler Belastung im Einsatz bei Lebensgefahr und Hochstress (immer noch hinreichend) kognitiv funktional bleiben, taktisch richtig handeln und Gelerntes umsetzen? Angesichts der Idee des Person-Job-Fits ergeben sich für die Gestaltung des Eignungs- und Auswahlverfahrens für verschiedene Fachbereiche innerhalb der Spezialeinheiten grundlegende Konsequenzen. Die Inhalte des Verfahrens sind im Sinne einer Arbeitsprobe an den konkreten Einsatzanforderungen des jeweiligen Fachbereichs auszurichten. So besteht beispielsweise die Kernaufgabe des Mobilen Einsatzkommandos (MEK) in der verdeckten Informationsgewinnung, insbesondere durch Observationsmaßnahmen gegenüber mutmaßlichen Straftäter*innen. Das Spezialeinsatzkommando (SEK) ist hingegen hauptamtlich für die Festnahme gefährlicher, insbesondere bewaffneter Straftäter*innen zuständig. Es kommt auszugsweise bei der Bewältigung von Geiselnahmen oder direkten Zugriffs- und Interventionsmaßnahmen mit hohem Gefährdungspotenzial zum Einsatz. Dieses unterschiedliche Aufgabenspektrum führt unter dem Aspekt der optimalen Passung zwischen Anforderungen und den zu ihrer Bewältigung erforderlichen Kompetenzen dazu, dass das jeweilige Eignungs- und Auswahlverfahren die Überprüfung unterschiedlicher Kompetenzen zur Einsatzbewältigung durch die Bewerber*innen abbilden muss. Selbstredend unterscheiden sich also MEK- und SEK-Einsatzkräfte in ihren personalen Voraussetzungen. Abb. 2 zeigt einen zentralen Baustein des „neuen“ Eignungs- und Auswahlverfahrens der Spezialeinheiten der Polizei Rheinland-Pfalz. Dabei werden insbesondere folgende Gestaltungsprinzipien berücksichtigt:
Strukturierte Verhaltensbeobachtung durch mehrere multidisziplinäre Beobachter*innen
Anlernen einer („Ein-Mann“) Taktik bzw. Technik
Auftragsinstruktion für Einsatzszenario und/oder Merkaufgabe
Induktion körperlicher Belastung
Durchführung des Einsatzszenarios (Abruf des Erlernten)
Gedächtnistest oder Reflexion
Wiederholung verschiedener Einsatzszenarien unterschiedlicher steigender Schwierigkeiten
Abb. 2 Ein zentraler Baustein des kompetenzorientierten und einsatzrepräsentativen Eignungsund Auswahlverfahrens der Spezialeinheiten der Polizei Rheinland-Pfalz. (Quelle: Eigene Darstellung)
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1. Alle Tests (insbesondere die polizeiliche Einsatzszenarien) bilden im Sinne einer Arbeitsprobe bestmöglich Einsatzrealitäten und die zur Bewältigung erforderlichen Fähigkeiten und Kompetenzen ab. Sie sind also dynamisch, verlangen situativ Entscheidungen und Handlungsflexibilität von den Bewerber*innen. 2. Alle Tests prüfen stets die Kombination aus mentalen und körperlichen Fähigkeiten und Kompetenzen zur erfolgreichen Einsatzbewältigung, das heißt, insbesondere wird auf die Überprüfung isolierter körperlicher (Sport-)Leistungen verzichtet. 3. Alle Tests finden stets unter einer mentalen und körperlichen (möglichst einsatzbezogenen) Belastung statt. Dieser Grundbaustein wird über einen mehrtägigen Zeitraum mit unterschiedlichen Varianten und steigenden Schwierigkeiten wiederholt. Permanent werden die Bewerber*innen durch mehrere (geschulte) Verhaltensbeobachter*innen unterschiedlicher Fachbereiche der Spezialeinheiten beobachtet und bewertet. Ergänzt wird das Verfahren durch verschiedene Verhaltenstests (zum Beispiel Höhentest), psychologische Leistungs- und Persönlichkeitsdiagnostik und freie bzw. (halb-)strukturierte Interviews. ◄
3
Das Modell des Person-Environment-Fits
Es wurde dargestellt, dass Personalauswahl und Personalentwicklung grundlegenden Prinzipien folgen. Worauf beide Prozesse ausgerichtet werden, möchten wir im Folgenden beschreiben. Aus unserer Sicht stellt das Modell des Person-Environment-Fits (Person- Umwelt-Passung) den Kompass dar, nach dem sich Personalauswahl, Polizeistudium und -training sowie berufsbegleitende Fortbildung ausrichten sollten. Mit anderen Worten liefert dieser Ansatz eine grundlegende Orientierung für die Frage der Geeignetheit von Bewerber*innen und die Entwicklung der Nachwuchskräfte (Edwards et al. 1998; Kristof- Brown und Guay 2011; Kristof-Brown et al. 2005; van Vianen 2018). Nach dem „congruence“-Modell von Kahana (1982) suchen Menschen mit bestimmten Bedürfnissen jene Umweltbedingungen auf, von denen sie zumindest annehmen, dass hierdurch ihre Bedürfnisse bestmöglich befriedigt werden. Dieser Grundgedanke wurde auch auf den Arbeitskontext übertragen und im Person-Environment-Fit-Ansatz beschrieben, der ein zentrales Modell der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie darstellt (Kristof-Brown et al. 2005; Kristof-Brown und Guay 2011; van Vainen 2018). Unter Person-Umwelt- Passung wird im Allgemeinen die Kompatibilität zwischen Individuen und ihrer Umwelt verstanden. Im Arbeitskontext bezieht sich diese Passung auf die personalen Voraussetzungen der Mitarbeitenden (zum Beispiel Fähigkeiten, Kompetenzen, Persönlichkeitsmerkmale) und der Arbeitsumgebung mit ihren berufsbezogenen Anforderungen der Tätigkeit (zum Beispiel administrative Büroarbeit). Typischerweise werden zwei Formen der Passung unterschieden. Auf der einen Seite sprechen wir von komplementärer Passung, wenn Merkmale des Individuums und der Organisation eine hohe Kongruenz aufweisen. So könnten beispielsweise die persönlichen Wertvorstellungen einer Person mit der Organisationskultur übereinstimmen. Auf der anderen Seite sprechen wir von einer supplemen-
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tären Passung, wenn sich die Merkmale des Individuums und der Organisation sinnvoll ergänzen. Beispielsweise können sich Mitglieder eines Teams hinsichtlich ihrer Kompetenzen gewinnbringend komplementieren (Kristof-Brown und Guay 2011; Kristof-Brown et al. 2005; van Vianen 2018). Komplementäre Passung Aus Perspektive der komplementären Passung sind verschiedene Facetten zu beachten, die für den Prozess der Personalauswahl eine unterschiedliche Bedeutung haben können. Zu unterscheiden ist dabei der Person-Vocation-Fit sowie der Person-Job-Fit. Der Person- Vocation-Fit, also die Passung zwischen beruflichen Interessen und Beruf, bezieht sich auf die Kongruenz zwischen den Interessen einer Person einerseits und den Aufgaben des Berufes andererseits. Stimmen aus Sicht von Bewerber*innen die eigenen Interessen mit den antizipierten Aufgaben eines Berufes überein, wird die Wahl dieses Berufes wahrscheinlich. Ein Modell, das die Interessen einer Person und berufliche Tätigkeiten in Beziehung setzt, ist der RIASEC-Ansatz von Holland (1997). Hiernach lässt sich die Vielfalt beruflicher Aufgaben in sechs einfachen Kategorien einordnen: • • • • • •
Realistic (R): praktische und handwerkliche Tätigkeiten, Investigative (I): schulische und wissenschaftliche Aufgaben, Artistic (A): kreative und ausdrückende Aktivitäten, Social (S): lehrende und helfende Tätigkeiten, Enterprising (E): Aufgaben, die Überzeugung und Führung erfordern, Conventional (C): gut strukturierte und routinierte Tätigkeiten.
Nach diesem Modell hat jeder Beruf ein bestimmtes Profil aus diesen RIASEC- Kategorien. So zeichnet sich die Tätigkeit bei der Schutzpolizei stärker durch die Facetten S, E und C aus, während die Tätigkeit bei der Kriminalpolizei eher einen Schwerpunkt auf S, I und C zu haben scheint (Albrecht und Thielgen 2019). Folglich wäre der Polizeiberuf besonders attraktiv für Personen mit einer Affinität zu Tätigkeiten in den Bereichen S, E, C und I (vgl. Albrecht und Thielgen 2019). Haben Personen einen Beruf gewählt, so gewinnt der sogenannte Person-Job-Fit an Bedeutung. Dabei steht die Passung zwischen der Person und der aktuellen Tätigkeit im Mittelpunkt. Nach der „theory of work adjustment“ (Dawis und Lofquist 1984) liegt eine Passung dann vor, wenn Person und Position gut aufeinander abgestimmt sind. Typischerweise bekommen dabei zwei Facetten Bedeutung (Kristof-Brown und Guay 2011; Kristof- Brown et al. 2005; van Vianen 2018). Einerseits geht es um die Passung zwischen Merkmalen einer Person und den Anforderungen der Arbeit („demand-ability-fit“). Zu den Personenmerkmalen zählen typischerweise KSAOs, während zu den Arbeitsbedingungen Merkmale der Tätigkeit, Wissensmerkmale, soziale Bedingungen und Kontextfaktoren gezählt werden (Morgeson und Humphrey 2006; Stegmann et al. 2010). Zeichnet sich eine Person beispielsweise durch hervorragende kommunikative Fähigkeiten aus, so kann sie diese bei einer journalistischen Tätigkeit, die hohe Anforderungen an Kommunikation
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stellt, auch ausspielen. Betrachtet man den Polizeidienst, so können sich Kompetenzen und Arbeitscharakteristika von Personen teilweise erheblich unterscheiden, beispielsweise, wenn man die Anforderungen der Schutz- und Kriminalpolizei miteinander vergleicht (Albrecht und Thielgen 2019; Thielgen 2016). Andererseits zielt eine Anpassung darauf ab, ob eine hohe Kongruenz zwischen Bedürfnissen der Person und den Arbeitsbedingungen vorliegt („need-supply-fit“). Zu den „needs“ zählen Interessen, Bedürfnisse, Motive und Ziele einer Person. Sie können als implizite Motive unbewusst repräsentiert sein. Hierzu zählen insbesondere die „großen drei“ Motive Leistung, Anschluss und Macht (McClelland 1987; McClelland et al. 1989). Auch können sie der Person explizit bewusst sein, insbesondere dann, wenn von konkreten beruflichen Werten und Zielen gesprochen wird (McClelland 1987; McClelland et al. 1989). Zu den „supplies“ zählen Arbeitsbedingungen, die Anreize bieten, die „needs“ auch erfüllen zu können (Krumm et al. 2013a, b; Thielgen et al. 2015). Sind einer Person beispielsweise soziale Kontakte wichtig, so wäre eine Passung beispielsweise bei einer aktuellen Tätigkeit mit Publikumsverkehr gegeben. Auch für die Laufbahn im Polizeidienst spielt der Person-Job-Fit eine zunehmend wichtigere Rolle. Haben Polizeinachwuchskräfte Ausbildung bzw. Studium abgeschlossen, steht üblicherweise eine erste Tätigkeit bei der Bereitschaftspolizei oder der Schutzpolizei an. Danach bestehen Möglichkeiten zum Verbleib bei der Bereitschafspolizei bzw. der Schutzpolizei, zum Wechsel zur Kriminalpolizei oder zu den Spezialeinheiten, zur Weiterqualifizierung für den höheren Dienst, zur haupt- oder nebenamtlichen Verwendung bei Spezialkräften oder als Polizeitrainer*in. Welchen Karriereweg Nachwuchskräfte einschlagen wollen bzw. welcher zum Erfolg führt, hängt maßgeblich vom Person-Job-Fit ab (Thielgen 2016). Supplementärer Fit Der Supplementäre Fit legt den Fokus auf die Austauschbeziehungen zwischen Individuum einerseits und Umwelt andererseits. Dabei scheint das Prinzip der Gegenseitigkeit von grundlegender Bedeutung zu sein („reciprocity“). Einfach ausgedrückt unterstützen sich zwei Partner*innen mit Ressourcen und Kompetenzen, die der/die jeweils andere benötigt. Ein typisches Beispiel ist ein Team, in dem Mitglieder verschiedener Professionen zusammenarbeiten (Polizist*in, Jurist*in, Psycholog*in), indem jeder/jede seine/ihre individuellen Kompetenzen einbringt. Solche Verhältnisse sollten vor allem dann fruchtbar und erfolgsförderlich sein, wenn die handelnden Akteur*innen bzw. Personen und Umwelt Gemeinsamkeiten aufweisen. So ist Ähnlichkeit ein Motivator, der Kooperation zwischen Personen fördert (z. B. De Waal und Davis 2003; Fehr und Fischbacher 2003; Lusk et al. 1998). Im Kontext des Supplementären Fits werden drei Arten der Passung unterschieden: Person-Organization-Fit, Person-Team-Fit und Person-Supervisor-Fit. Der Person-Organization-Fit beschreibt die Passung zwischen den Merkmalen einer Person und den Bedingungen in einer Organisation. Nach dem „attraction-selection- attrition“(ASA)-Modell (Schneider 1987) finden Personen solche Organisationen attraktiv, die mit ihren Bedürfnissen, Werten bzw. ihrer Persönlichkeit übereinstimmen (Dineen et al. 2002; Kristof-Brown et al. 2005; van Vianen 2018). In diesem Sinne wird postuliert,
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dass eine Passung zwischen Person und Organisation dann besteht, wenn die persönlichen Werte mit den Bedingungen einer Organisation übereinstimmen („person-value-fit“). Zwar suggeriert dieser Ansatz, dass sich die Angehörigen einer Organisation eher ähnlich zu sein scheinen, was auch durch eine Reihe empirischer Studien bestätigt wurde (van Vianen 2018). Gleichwohl weisen große Organisationen, wie auch die Polizei, alleine aufgrund ihrer Größe und Offenheit eine hohe Vielfalt auf (Baier und Ellrich 2015). Auch können sich Werte im Laufe der Lebensspanne verändern, was insbesondere auch auf den Polizeiberuf zuzutreffen scheint (Thielgen et al. 2019). Innerhalb einer Organisation, in der Teamarbeit einen hohen Stellenwert hat, kommt der Facette des Person-Team-Fits eine große Bedeutung zu. Darunter verstehen wir die Passung zwischen der Person und ihren unmittelbaren Kolleg*innen. Dabei bestimmen Merkmale wie Geschlecht, Alter, Kompetenzen, Persönlichkeit, Ziele, Werte und Motive über Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit (Chatman und Flynn 2001; Joshi und Knight 2015; vgl. Van Vianen 2018). Ob in einem Team Diversität als Ressource betrachtet wird oder Konflikte entstehen, beeinflusst maßgeblich, ob sich eine hohe Leistung und Zufriedenheit im Team einstellt (Wegge et al. 2012, für einen Überblick). Hält man sich vor Augen, dass der Polizeiberuf Teamarbeit bedeutet, so wird deutlich, dass auch hier dem Person-Team- Fit eine entscheidende Rolle zukommt. Dies trifft nicht nur auf die Arbeit in Bereitschafts-, Schutz- und Kriminalpolizei zu, sondern auch in Arbeits- und Projektgruppen oder in Sonderkommissionen. Schließlich ist die Facette des Person-Supervisor-Fits von Bedeutung, also die Passung zwischen den Merkmalen einer Person und den Merkmalen des/der Vorgesetzten (van Vianen 2018). Dabei ist die Rolle des/der Vorgesetzten in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Auf der einen Seite stellen sie Vergütung und Karrieremöglichkeiten in Aussicht. Auf der anderen Seite sind sie Mittler organisationaler Ziele und Werte und gestalten den täglichen Arbeitskontext (Schein 2004). Betrachtet man den Polizeidienst mit seiner traditionell eher hierarchisch geprägten Organisationskultur, so spielt auch hier der Person- Supervisor-Fit eine große Rolle (Ebertz und Antoni 2016). Konsequenzen von Passung und Nicht-Passung Eine große Anzahl empirischer Studien zeigt, dass eine hohe Passung eng mit Facetten des Berufserfolgtes korreliert. So steht eine hohe Passung damit in Zusammenhang, sich für einen Job zu bewerben, gute berufliche Leistungen zu erbringen und auch in diesem Bereich verbleiben zu wollen. Die stärksten Korrelationen finden sich jedoch mit Berufseinstellungen, insbesondere der Arbeitszufriedenheit (Hoffman und Woehr 2006; Kristof- Brown und Guay 2011; Kristof-Brown et al. 2005; Verquer et al. 2003; van Vianen et al. 2016; van Vianen 2018). Warum sich eine optimale Passung förderlich auswirkt bzw. eine Nicht-Passung einer positiven beruflichen Entwicklung entgegenstehen kann, lässt sich aus mehreren psychologischen Modellen ableiten. Betrachtet man die Passung zwischen Kompetenzen und Umweltanforderungen („demand-ability-fit“), so illustriert beispielsweise das „press-competence“-Modell von Lawton und Nahemow (1973), dass erfolgreiche Anpassung dann gelingt, wenn die Kompetenzen einer Person zur Bewältigung der Umwel-
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tanforderungen ausreichen (vgl. Abb. 3). Bei hoher (individueller) Handlungskompetenz kann auf ein breites Spektrum von Umweltanforderungen adäquat reagiert werden (Abb. 3, blauer Pfeil). Bei geringen Handlungskompetenzen nimmt der Einfluss der Umwelt auf das Verhalten zu und schränkt den Handlungsspielraum ein (Abb. 3, roter Pfeil). Auch für Polizeikräfte im Training bzw. im Einsatz gilt, dass durch Erlernen von Handlungskompetenzen die Handlungsmöglichkeiten bei der Bewältigung von Umweltanforderungen steigen. Negative Konsequenzen, die sich in Form von Anpassungsproblemen, maladaptivem Verhalten und negativem Affekt äußern, können in zwei Konstellationen auftreten. Einerseits erscheint es hinderlich, wenn die Anforderungen der Umwelt die eigenen Kompetenzen deutlich übersteigen. Andererseits ist es ebenfalls kontraproduktiv, wenn bereits hohe Kompetenzen vorliegen, die Anforderungen der Umwelt jedoch gering erscheinen. Dieser Grundgedanke findet sich auch in aktuellen Konzepten der Arbeitsmotivation. So können positive motivationale Zustände wie das Flow-Erleben (Csíkszentmihályi, 1975a, b; Csíkszentmihályi, 1990; Csíkszentmihályi und Seligman 2000) oder ein hohes Arbeitsengagement (Bakker und Schaufeli 2008) nur dann entstehen, wenn auf der einen Seite Fähigkeiten und Ressourcen vorhanden sind, auf der anderen Seite die Umweltanforderungen ein Mindestmaß an herausfordernden Bedingungen aufweisen (Bakker und Demerouti 2007; Crawford et al. 2010). Betrachtet man die Passung zwischen Interessen, Bedürfnissen, Motiven und Zielen einerseits und den Arbeitsbedingungen andererseits („need-supply-fit“), so scheint auch hier ein Optimum sich günstiger auf Zufriedenheit und Wohlbefinden auszuwirken als ein „zu viel“ oder „zu wenig“ (Dörendahl et al. 2020; Thielgen et al. 2015). Individuelle Kompetenz
hoch
Negativer Affekt Maladaptives Verhalten (Anpassungsprobleme)
Positiver Affekt Adaptives Verhalten (Anpassung)
moderat Negativer Affekt Maladaptives Verhalten (Anpassungsprobleme)
gering gering
moderat Umweltanforderungen (Anpassungsdruck)
Abb. 3 Das „press-competence“-Modell von Lawton und Nahemow (1973)
hoch
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Diskussion
Fazit Personalauswahl der Polizei hat das Ziel, Nachwuchskräfte auszuwählen, die das Potenzial haben, im späteren Polizeiberuf „gute“ Leistungen zu erzielen, Zufriedenheit zu erleben und Gesundheit zu erhalten. Anschließend ist es Aufgabe der Personalentwicklung, im Rahmen von Polizeistudium und -training dieses Potenzial zu fördern, damit die Nachwuchskräfte solche Handlungskompetenzen erwerben, die sie befähigen, operative Einsatzanforderungen erfolgreich zu bewältigen. Der Kompass, an dem sich Personalauswahl und Personalentwicklung orientieren sollen, stellt der Person-Enviroment-Fit dar.
Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Entscheidungshilfe bei der Personalauswahl und der Personalentwicklung liefert der Person-Environment-Fit. Sämtliche organisationalen Eingriffe durch Verantwortliche müssen das Ziel haben, die Person-Umwelt-Passung der Polizist*innen zu maximieren, um letztlich die erfolgreiche Bewältigung von Einsatzanforderungen zu gewährleisten. b) Einsatzkräfte Erfolgreiche Einsatzbewältigung ist dann zu erwarten, wenn die Person-Umwelt- Passung im Sinne eines „Einsatzkraft-Einsatz-Fit“ maximiert wird. In diesem Fall besitzt eine polizeiliche Einsatzkraft jene Personenmerkmale, die zur Bewältigung der Einsatzanforderungen erforderlich sind (z. B. deeskalative Kommunikationstechniken). Das persönliche Kompetenzprofil ist daher mit Blick auf die erfolgreiche Einsatzbewältigung zu entwickeln und zu optimieren. c) Einsatztrainer*innen Die Frage nach der Person-Umwelt-Passung im Einsatztraining kann sich einerseits auf die künftigen Polizist*innen und ihre späteren Einsatzaufgaben beziehen. In diesem Fall erscheint die Maximierung des „Einsatzkraft-Einsatz-Fits“ von großer Bedeutung, das heißt die Förderung der einsatzbezogenen Handlungskompetenz. Andererseits können die Einsatztrainer*innen und deren Aufgaben im Hinblick auf die Trainingsgestaltung sowie das Lehren im Mittelpunkt stehen. Eine optimale Passung zwischen den Kompetenzen der lehrenden Einsatztrainer*innen und der
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Lehrtätigkeit ist eine Voraussetzung für zufriedenes und leistungsstarkes Lehrpersonal und damit für Trainingsfortschritt und -erfolg. Studiums- und Trainingserfolg sind dann zu erwarten, wenn – als besondere Form der Person-Vorgesetzten- Passung – der „Trainer-Trainee-Fit“ maximiert wird. In diesem Fall besitzt das Lehr- und Trainingspersonal der Polizei sämtliche Personenmerkmale, die es erlauben, Polizeistudierende optimal auf die künftigen Einsatztätigkeiten vorzubereiten. Eine hohe Passung zwischen Lehrpersonal und Lehrbedingungen stellt hohe Leistungsfähigkeit und Zufriedenheit des Lehrpersonals sicher. Von leistungsstarken und zufriedenen Lehrpersonen können Polizeistudierende profitieren. Daher ist die Auswahl von Einsatztrainer*nnen für die Zukunft der Polizei ein wichtiger Erfolgsfaktor.
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Adaptive Managementstrukturen in der Polizei: Eine systemische Betrachtung durch fünf methodische Lernkompetenzen Jan-Philipp Küppers
Inhaltsverzeichnis 1 E inleitung: Die Polizei im Anpassungsdruck gesellschaftlicher Transformationsprozesse 142 2 Die fünf Disziplinen einer Lernenden Organisation nach Peter M. Senge 144 2.1 Personal Mastery 146 2.2 Mentale Modelle 146 2.3 Gemeinsame Visionen 147 2.4 Team-Lernen 148 2.5 Die fünfte Disziplin – das Systemdenken 148 3 Die fünf Disziplinen in polizeilichen Handlungspraxen 149 3.1 Die Förderung von Personal Mastery 149 3.2 Die Arbeit mit mentalen Modellen 150 3.3 Die Einbettung der gemeinsamen Vision 151 3.4 Der Umgang mit Team-Lernen 152 3.5 Die fünfte Disziplin – das Systemdenken und die Systembetrachtung 153 4 Die Polizei in prekärer Lage, oder: von Abwehrmechanismen, Ausweichmanövern und Lernhemmnissen 155 Literatur 163
Reviewer*innen: Michael Jasch, Hubert Vitt J.-P. Küppers (*) Fakultät 10, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Institut für Sozialwissenschaften (SOWI), Universität Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_8
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J.-P. Küppers
Zusammenfassung
Ist die Polizei eine Lernende Organisation? Diese Frage mit „Ja“ zu beantworten, setzt eine Organisationskultur voraus, die das organisationale Lernen, Nachdenken und Reflektieren fördert. Die Polizei ist aber eine hierarchisch strukturierte Organisation mit funktionalem Führungsstil und pfadabhängigen Befehlsketten. Durch systematisch antrainierte Routinen lernen Polizist*innen, wie sie am effektivsten schießen, denken und kommunizieren. Sie sind wichtig, um gerade in konfliktträchtigen Einsätzen reibungslos zu funktionieren. Innerhalb eines realen komplexen und dynamischen Handlungsumfeldes können derartige antrainierte Einstellungen und Gewohnheitsbildungen jedoch zu nachteiligen Auswirkungen sowie Gefahrenpotenzialen führen. Ein professionelles Konfliktmanagement der Polizei muss diese umweltbedingten Veränderungen und ihre zugrunde liegenden systemischen Verknüpfungen verinnerlichen und mit entsprechendem Handwerkszeug gegensteuern. Mit den fünf Disziplinen einer lernenden Organisation kann durch die Linse der Systembetrachtung neu und realistischer auf polizeiliches Einsatzhandeln geschaut werden. Der Beitrag möchte Erkenntnisse im Systemdenken wecken und anregen, über Lernprozesse in der Organisation der Polizei tiefer nachzudenken. Diese ganz andere „systemische“ Betrachtungs- und Denkweise entspricht jedoch schlicht einer Transformation des vorherrschenden Managementsystems der Polizei.
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inleitung: Die Polizei im Anpassungsdruck E gesellschaftlicher Transformationsprozesse
Die Polizei ist eine lernende Organisation, zumindest verspricht das die offizielle Darstellung. Zur Vereidigung junger Polizeianwärter*innen heißt es: „Als lernende Organisation ist es unser Anspruch, im Rahmen einer professionellen Fehlerkultur interne Abläufe und Regelungen ständig einer strengen Prüfung zu unterziehen.“1 Das an einem Organisationswandel orientierte Managementkonzept der „Lernenden Organisation“ (LO) ist in seiner Umsetzung im Praxisbezug und Anwendungsfeld der Polizei eine große Herausforderung. Vor dem Hintergrund einer neuen unübersichtlichen Welt im Wandel (WBGU 2011) und ihrer zunehmenden Komplexität und Dynamik steht die Polizei nur wenig flexibel gegenüber. Die Globalisierung, ihre differenzierten Gesellschaftsentwicklungen und die Auswirkungen einer atemberaubenden Dynamik der Digitalisierung (WBGU 2019) markieren einen nie da gewesenen Grad an wechselseitiger Abhängigkeit. Die Polizei befindet sich darin in einem zunehmenden Anpassungsdruck, deren Zu Bayerisches Staatsministerium des Innern. Rede des Bayerischen Staatsministers des Innern, Joachim Herrmann, anlässlich des Festaktes zur Vereidigung von Widerrufsbeamten der Bayerischen Bereitschaftspolizei am 27.07.2013 in Nürnberg. 1
Adaptive Managementstrukturen in der Polizei: Eine systemische Betrachtung durch …
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sammenspiel von individueller, organisatorischer und gesellschaftlicher Ebene Hand in Hand gehen (Schneidewind 2018, S. 453 f.). Diese fragilen Wandlungsprozesse im regionalen bis globalen Maßstab haben Auswirkungen auf die Einsatzorganisation2 der Polizei (vgl. Lange et al. 2019, S. 3). Derzeit in der pandemischen Entwicklung von SARS-CoV-2 (Covid-19), ergeben sich ferner ungeahnte Schwierigkeiten und Herausforderungen an das Einsatzhandeln im realen und virtuellen Raum.3 Die zeitgerechte sowie systemische Betrachtung und Bewältigung akuter und unerwarteter Einsatzlagen unter VUCA4-Bedingungen ist für die Polizei jedoch von grundsätzlicher Bedeutung. Dynamische und komplexe Lagen „statisch“ zu halten, wie es sich manche/r Polizeiführer*in vorstellt, ist ein verhängnisvoller Trugschluss. Eine komplexe Lage „händelbar“ zu machen, ist nicht nur eine Frage der systemischen Sichtweise, sondern auch eine Frage der Organisationsgestaltung. Adaptive Managementstrukturen in der Polizei, die erprobte Denk- und Interaktionsweisen in polizeilichen Handlungspraxen reflexiv begleiten, sind dafür genauso essenziell wie die sich daraus ergebenden Anforderungen an organisationale Lernanstrengungen und strukturelle Entwicklungen. Diese Anstrengungen bieten große Chancen, zugleich bergen sie auch Gefahren, die konzertierte und integrierte Anstrengungen von Politik, Polizeiführung, Polizeikräften und zivilgesellschaftlichen Gruppen erfordern und dabei stets mit großen Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten verbunden sind. Chancen der Modernisierung, Digitalisierung und Globalisierung zu ergreifen, aber deren Fallstricke zu vermeiden, ist daher zielführend. Gesellschaftliche Transformationsprozesse und ihre zum Teil konfliktgeladenen Auswirkungen auf die Innere Sicherheit haben stets auch mit Wissen zu tun: • mit dem Wissen um die Folgen fortschreitender Fragmentierung kultureller und sozioökonomischer Modernisierungsprozesse (u. a. Bude 2014; Bauman 2005), • mit dem Wissen über die Digitalisierung in postfaktischen Zeiten der Skandalisierung und Desinformation (Renn 2019; Pörksen 2018) und neu entstandenen Kriminalitätsphänomenen wie virtuellen Gegenkulturen, gemeinsamen Identitäten, die komplexe Radikalisierungsverläufe erklären (Neumann 2016) oder aktuell verbreitete Erscheinungsformen von Cybercrime im Internet (Honekamp 2019), • mit dem Wissen über den gesellschaftlichen Umgang mit Unsicherheit (Renn et al. 2007) u. v. m.
Mit Einsatzorganisationen sind die spezifischen Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) sowie Blaulichtorganisationen gemeint, deren zentrale und konstituierende Arbeitsform der Einsatz ist und die trotz herausfordernder Einsatzbedingungen zuverlässig funktionieren müssen (Kern 2020, S. 13 ff.). 3 Dies zeigen exemplarisch die nicht gänzlich unerwarteten Proteste gegen die Ausgangssperre in den Niederlanden, die Ende Januar in nächtelange schwere Krawalle ausarteten. 4 Das englische Akronym „VUCA“ stammt ursprünglich vom US-Militär und beschreibt die wachsende Volatilität (Volatility), Unsicherheit (Uncertainty), Komplexität (Complexity) und Mehrdeutigkeit (Ambiguity) von regionalen bis globalen Problem- und Konfliktlagen. 2
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Kurzum: Es ist Wissen über sich verändernde polizeiliche Rahmenbedingungen. Neben diesem kritischen Umweltverständnis führt „erst das Wissen über die Wirkung des eigenen Handelns sowie über die eigenen Fähigkeiten zu wirklichen Veränderungen“ (Schneidewind 2018, S. 463). Vier Leit- und Arbeitsfragen für polizeiliche Führungskräfte, die hier nur erwähnt und zur weiteren Beschäftigung von Interesse wären, lassen sich gedanklich anschließen: • Womit hat es die Polizei im 21. Jahrhundert zu tun? • Was müssen Polizist*innen wissen, damit sie komplexe Probleme, ihre zum Teil versteckten Risiken und Krisensituationen wie die gegenwärtigen und zukünftigen begreifen und bewältigen können? • Ist das hoheitliche polizeiliche Alltagshandeln nicht bereits normativ und durch rechtliche Vorgaben5 „in Stein gemeißelt“? • Sind Lern- und Veränderungsprozesse auf der Managementebene in den bestehenden polizeilichen Arbeitsalltag integrierbar?
2
ie fünf Disziplinen einer Lernenden Organisation nach D Peter M. Senge
Das Konzept der „Lernenden Organisation“ wird vor allem Peter Senge zugeschrieben, welches er in seinem Buch „Die fünfte Disziplin“ (2011) – The Fifth Discipline – erklärt.6 Sein Grundgedanke geht von einer optimalen Organisationsgestaltung aus, die es Mit Die Treuepflicht, die Weisungsgebundenheit (Gehorsamspflicht) sowie die Dienstleistungspflicht gegenüber dem Dienstherrn sind feste Grundsätze des Beamtenrechts. Darin sind Polizisten nach § 35 Abs. 1 Satz 2 (BeamtStG) und § 62 Abs. 1 Satz 2 (BBG) gegenüber dienstlichen Anordnungen ihrer Vorgesetzten weisungsgebunden und folgepflichtig. Gleichwohl sie beamtenrechtlich nach § 36 Abs. 1 BeamtStG, § 63 Abs. 1 BBG für die Rechtmäßigkeit ihrer dienstlichen Handlungen die volle persönliche Verantwortung tragen. Dies kann mitunter zu einem Spannungsverhältnis führen. Die sogenannte „Remonstration“ (Widerspruchspflicht) nach § 36 Abs. 2 BeamtStG und § 63 Abs. 2 BBG ist eine Gegenvorstellung oder eine Einwendung, die ein/e Beamt*in gegen eine Weisung erhebt, die er/sie von seinem/r Vorgesetzten erhalten hat. Soweit Polizist*innen also Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit dienstlicher Anordnungen haben, haben sie diese unverzüglich auf dem Dienstweg geltend zu machen. In der Praxis des Polizeialltags wird die Widerspruchspflicht wohl nur in ganz wenigen Fällen wahrgenommen. Dies dürfte daran liegen, dass sie nicht gegen Dienstpflichten verstoßen und schon gar nicht Beförderungsnachteile erleiden möchten. Für den Hinweis u. a. auf die Vorgaben des Beamtenrechts bin ich dem Reviewer Prof. Dr. Michael Jasch dankbar. 6 Die Idee einer bewussten Initialisierung und Steuerung von Veränderungs- und Entwicklungsprozessen in Organisationen beruht auf vielfältigen Konzepten der Organisationsentwicklung. Theoretische Entwicklungslinien über das kontinuierliche organisationale Lernen verfestigten sich in den 1990-Jahren in den Schlagworten des organisationalen Lernens und der Lernenden Organisation. Stellvertretend hierfür stehen: Argyris (1997); Argyris und Schön (1978, 1999); de Geus (1988); Senge (2011), sowie für den deutschsprachigen Raum u. a. Sattelberger (1991) und Probst und Büchel (1994). 5
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arbeiter*innen ermöglicht, ihre Fähigkeiten, ihre kreativen und innovativen Tätigkeiten in einem kontinuierlichen Lernprozess zu entwickeln und zu fördern, sodass die Leistungsfähigkeit auf allen Ebenen der gesamten Organisation gleichzeitig gesteigert wird. Sozialisierte Denk- und Interaktionsweisen in einer Organisation, die unser Verhalten steuern, wirken hingegen oftmals lernhemmend (Senge 2011, S. 29). Fünf verknüpfte Kerndisziplinen, die Senge als „praxisfähiges Wissen“ versteht, kennzeichnen eine Lernende Organisation. cc Definition Lernende Organisation Lernende Organisationen sind jene Organisationen, „in denen die Menschen kontinuierlich die Fähigkeit entfalten, ihre wahren Ziele zu verwirklichen, in denen neue Denkformen gefördert und gemeinsame Hoffnungen freigesetzt werden, Organisationen also, in denen Menschen lernen, miteinander zu lernen“. (Senge 2011, S. 13) Die elementaren Lerneinheiten einer Organisation sind die Arbeitsteams (zentrale Lernfähigkeit von Teams). Insbesondere weil Führungskräfte nicht alles wissen können, ist in Abb. 1 symbolisch ein Schemel dargestellt, der nur durch alle drei Stützbeine stabil stehen kann, um eine lernende Organisation aufzubauen (ebd.). Nur im gemeinsamen Austausch aller grundlegenden Elemente – tiefer gehende Gespräche der Offenheit und Reflexion, Personal Mastery und gemeinsamer Visionen – kann der erwünschte Management-
Abb. 1 Zentrale Lernfähigkeit von Teams (Senge 2011). Übersetzt d. d. Autor; Original unter: https://www.solonline.org/organizational-learning/. Zugegriffen am 16.11.2020
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wandel stattfinden, wofür das Verständnis der systemischen Ursachen der Probleme entscheidend ist (ebd., S. 8). Sogenannte „Systemarchetypen“ sind ein mitentscheidendes Werkzeug zur Erkennung von Strukturmustern und Dynamiken in unterschiedlichen Systemen. Je mehr Archetypen man erkennt, desto effizienter können angesichts komplexer Probleme potenzielle Hebelwirkungen wahrgenommen werden, die zur langfristigen Lösung eines Problems beitragen (Senge 2011, S. 113 f.). Die fünf persönlichen und vernetzten Teil- bzw. Lerndisziplinen stehen für ein „praxisfähiges Wissen“ aus Theorien und daraus entwickelten Methoden und Werkzeugen. Diese können für Einzelpersonen, Teams und schließlich Organisationen wirkungsvolle Reflexions- und Interaktionstechniken bieten. Das Systemdenken verknüpft alle Einzeldisziplinen und ist daher von zentraler Bedeutung.
2.1
Personal Mastery
Die persönliche und reflexive Lernentwicklung – Personal Mastery – ist die mentale Grundlage der Lernenden Organisation und meint die Disziplin der Selbstführung, Persönlichkeitsentwicklung und individuelles Lernengagement. „Organisationen lernen nur, wenn die einzelnen Menschen etwas lernen. Das individuelle Lernen ist keine Garantie dafür, dass die Organisation etwas lernt, aber ohne individuelles Lernen gibt es keine lernende Organisation“ (Senge 2011, S. 154). Mitunter besteht die stärkste Hebelwirkung in der veränderten Wahrnehmung der eigenen Orientierung und des Selbstbildes zur Umwelt. Personal Mastery umfasst zwei grundlegende Verhaltensweisen: Erstens klärt und vertieft man konstant ab, was einem wirklich wichtig ist, und zweitens lernt man fortlaufend, die gegenwärtige Realität deutlicher wahrzunehmen (ebd., S. 156). Bei der Klärung zwischen klarem, überzeugtem Bild der erhofften Zukunft (Zukunftsvision) und aufschlussreichem Bild der unverfälschten gegenwärtigen Realität (Bild der gegenwärtigen Realität) entsteht häufig ein Spannungsverhältnis, das als kreative Energiequelle genutzt zum zentralen und integrativen Prinzip der Personal Mastery werden kann (ebd., S. 166). Die Beherrschung dieser kreativen Spannung, die sich nicht selten als aufschlussreiche Diskrepanz zwischen verlautbarten Worten (das, was man sagt) und praktizierten Worten (die dem Handeln zugrunde liegenden Worte) offenbart, kann letzten Endes zu einem grundlegenden Organisationswandel führen und eine mögliche gemeinsame Vision anregen.
2.2
Mentale Modelle
Mentale Modelle sind dauerhafte, in unseren Neuronennetzen tief verwurzelte Vo rannahmen, Überzeugungen, einfache Verallgemeinerungen, Denkgewohnheiten,
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e tablierte Erzählungen oder Bilder (Narrative).7 Die beispielhafte Aussage „Der Mensch ist von Natur aus böse“ bestimmt nicht nur, wie wir die Welt interpretieren, sondern beeinflusst auch, wie wir auf die Dinge schauen und folglich handeln (Senge 2011, S. 194).8 Nach Senge wird es vor allem dann problematisch, wenn unsere subtilen Denkmuster, die unserem Verhalten zugrunde liegen, im Verborgenen operieren, also unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle verlaufen. Und weil sie uns nicht bewusst waren, konnten wir sie nicht überprüfen und mögliche Handlungsalternativen bedenken (ebd., S. 196). Wenn wir systemisches Denken und Handeln als etwas begreifen, das sich an wechselnde Einflüsse aus der Umwelt oder aus der Organisation selbst anpasst, dann müssen auch unsichtbare, aber machtvolle mentale Modelle in uns diesen Wechsel mit vollziehen. Dafür müssen wir aber die inneren Bilder von der Welt aufdecken und an die Oberfläche holen, um sie einer kritisch-reflexiven Überprüfung zu unterziehen. Reflexion heißt, unsere eigenen Denkprozesse zu verlangsamen, damit wir besser erkennen, wie wir unsere mentalen Modelle herausbilden und wie sie unser Handeln beeinflussen. Das kontinuierliche Hinterfragen der eigenen, tief verwurzelten Denk- und Verhaltensweisen ist die Grundlage für die Disziplin der mentalen Modelle. Es gibt kein Patentrezept für den Umgang in schwierigen Situationen, wenn Menschen nicht das sagen, was sie denken, „aber es ist schon ungeheuer hilfreich, wenn man erkennt, dass das eigene Denken und Handeln die Situation verschlimmern können“ (ebd., S. 215).
2.3
Gemeinsame Visionen
„Es gibt keine lernende Organisation ohne eine gemeinsame Vision“ (Senge 2011, S. 229). Eine gemeinsame Vision entsteht automatisch auf Grundlage von Personal Mastery. Um die eigene Vision zu realisieren, ist man zwangsläufig auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen, die wiederum andere zur gemeinsamen Entwicklung von Visionen anregen (Senge et al. 1999, S. 268). Den Kern bildet das Bewusstsein einer gemeinsamen, in der Zukunft liegenden Bestimmung und von einem gemeinsamen tieferen Zweck, den alle Mitglieder der Organisation zusammen erreichen wollen. „Eine gemeinsame Vision ist lebenswichtig für eine lernende Organisation, weil sie den Schwerpunkt und die Energie für das Lernen liefert“ (Senge 2011, S. 226). Visionen können jedoch nicht, wie in traditionell hierarchischen Organisationen mitunter üblich, „von oben“ erklärt werden („top- down“-Vision). Dies wäre wenig ergiebig, denn einer gemeinsamen Vision verschreiben Narrative sind langfristig wirkmächtige Erzählungen, die Handlungen und Ereignisse mit Sinnzusammenhängen verknüpfen und uns helfen, die komplexer werdende Umwelt zu ordnen, zu erklären und zu beschreiben. Sie bieten Legitimationen für die eigene Weltsicht und geben Aufschluss darüber, aus welchem Blickwinkel wir sie betrachten. 8 Mentale Modelle können sich sowohl auf die permanenten, stillschweigenden Welt-„Karten“ (Maps) beziehen, die wir in unserem Langzeitgedächtnis sicher verwahren, als auch auf die kurzfristigen Wahrnehmungen, die wir Menschen als Teil unserer alltäglichen Folgerungsprozesse aufbauen (Senge et al. 1999, S. 273; Johnson-Laird 1983). 7
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sich erst dann viele Menschen, wenn sich ihre eigene Vision darin widerspiegelt. Für Führungskräfte ist dieser langwierige Prozess der Visionsentwicklung hingegen herausfordernd, weil sie diesen Prozess einer fortgesetzten Reflexion über tieferliegende institutionelle Probleme begleiten, indem sie mit ihren Mitarbeiter*innen reden, ihnen zuhören und ein kollektives Engagement aufeinander abstimmen müssen (Senge et al. 1999, S. 352 f.). Durch die verschiedenen, auch gegensätzlichen und komplementären persönlichen Visionen können Synergien auftreten, die am Ende zu einem Gesamtbild führen, das von allen Mitgliedern einer Organisation getragen wird.
2.4
Team-Lernen
Das Team-Lernen ist aus Organisationen nicht mehr wegzudenken. Team-Lernen ist eine Teamfähigkeit und dafür sind drei zentrale Bereiche innerhalb einer Organisation entscheidend: Erstens sollte ein Team in der Bearbeitung von komplexen, konfliktträchtigen Fragen lernen, neue, kollektiv gewonnene Einblicke zu verarbeiten. Zweitens sollten Teams in vollem Arbeitsvertrauen zu innovativen und koordinierten Handlungen neigen. Drittens üben lernende Teams innerhalb von Organisationen großen Einfluss auf andere Teams aus, indem sie ihr Erlerntes kontinuierlich weitergeben (Senge 2011, S. 257 f.; Duhigg 2016, S. 90 ff.). Zur Disziplin des Team-Lernens gehört, die zwei diskursiven Konversationsformen für Teams – Dialoge und Diskussionen – zu beherrschen (ebd., S. 258 ff.; Senge et al. 1999, S. 407 ff.). Dies ist jedoch keineswegs einfach, denn bereits die kommunikativen Grundregeln des Ausredenlassens und intensiven Zuhörens gehen den meisten Menschen nicht leicht von der Hand. Der reflektierte Umgang mit der „gegenwärtigen Realität“ wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu Konflikten und Abwehrroutinen führen (s. Pkt. 4). Jene gewohnheitsmäßigen Kräfte werden aus unterschiedlichen Gründen verhindern wollen, dass gelernt (Senge 2011, S. 272; vgl. Argyris und Schön 1999, S. 85 ff.) bzw. eine alternative Gewohnheit (Routine) gefunden und installiert wird (Duhigg 2016).
2.5
Die fünfte Disziplin – das Systemdenken
Das Systemdenken als integrative fünfte Disziplin bildet die konzeptionelle Grundlage aller Lerndisziplinen. Die fünfte Disziplin wird als eine Art neue Sprache verstanden, mit der effektiver über komplexe Probleme nachgedacht bzw. gesprochen werden kann und die uns ermöglicht, eine neue Denkweise zu entwickeln (Senge 2011, S. 87; Senge et al. 1999, S. 100). Diese Disziplin schafft im dynamischen Zeitalter der gegenseitigen Abhängigkeiten die Voraussetzungen für ein systemorientiertes Verständnis von Interdependenzen und Veränderungsmustern, statt nur unbewegliche, voneinander entkoppelte Dinge wahrzunehmen. Sie zielt darauf ab, „Ganzheiten“ zu erkennen, da weder Probleme von wachsender dynamischer Komplexität isoliert voneinander betrachtet werden können,
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noch durch lineare Modelle von Ursache- und Wirkungsketten klar in ihren Beziehungen beschreibbar wären. Dies trifft insbesondere auch auf systemische Risiken zu, die keine simplen lokalen begrenzten Ursachen haben (u. a. Lucas et al. 2017; Renn und Keil 2008; OECD 2003). Die Disziplin des Systemdenkens bedeutet, dass möglicherweise Auswirkungen einer Handlungsentscheidung zeitversetzt und unvorhergesehen an anderer Stelle auftreten können (Senge 2011, S. 86 ff.). Das Wesentliche am Systemdenken ist ein grundsätzliches Umdenken, das mit einem grundlegenden Wahrnehmungswandel einhergeht: die Wahrnehmung von vernetzten Wechselbeziehungen statt linearer Ursache- Wirkungs-Ketten und Veränderungsprozessen statt statischen Momentaufnahmen (ebd., S. 91). Diese Praxis basiert auf dem theoretischen Konzept der Feedbackprozesse, die aufzeigen, wie Handlungen sich wechselseitig verstärken oder kompensieren (und verzögern) können und zum grundlegenden Verständnis des Systemdenkens für langfristige Entwicklungen in sozialen Systemen beitragen (ebd., S. 92). Systemdenken dient dem Erkennen und Problemlösen von komplexen Zusammenhängen, nicht nur in Zeiten normaler, störungsfreier Prozesse, aber erst recht in Zeiten von dynamischen Umbrüchen. Wenn die Praxis des Systemdenkens institutionalisiert wird, lassen sich oft unsichtbare komplexe Feedbackprozesse und ihre problematischen organisationalen Verhaltensmuster besser verstehen, um schließlich wirksame Ansatz- bzw. Hebelpunkte für Veränderungen zu entdecken (vgl. Meadows 2010, S. 170 ff.).
3
Die fünf Disziplinen in polizeilichen Handlungspraxen
Wie können die fünf Disziplinen einer Lernenden Organisation auf Handlungspraxen der Polizei übertragen werden?
3.1
Die Förderung von Personal Mastery
Führungskräfte von Polizeidienststellen können ein Arbeitsklima fördern, in dem die Polizist*innen gefahrlos und angstfrei (ohne ihre Karrieren zu gefährden) ihre lebendigen Visionen entwickeln und erforschen können. Dafür sind hohe Anforderungen an ehrlich gemeinte Offenheit notwendig, die eine kompromisslose Suche nach der Wahrheit forciert und das Infragestellen gewohnter Abläufe oder polizeilichen Handelns (Status quo) von den Führungskräften selbst und aufrichtig einfordert (vgl. Senge 2011, S. 191). Insbesondere dann, wenn man bestimmte unangenehme Aspekte der gegenwärtigen polizeilichen Praxisrealität wie Racial Profiling9 und diskriminierende polizeiliche Handlungsroutinen, über Das intensiv diskutierte Racial Profiling beschreibt selektive rassistische polizeiliche (Kontroll-) Praktiken, die sich an äußeren Merkmalen orientieren und insbesondere auch gegenüber Personen mit Migrationshintergrund sowie People of Color (PoC) angewandt werden. Diese Praxis der Verdachtsschöpfung und Kontrolle ist unabhängig von Situationen der Gewaltanwendung und muss den 9
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mäßige Polizeigewalt oder fremdenfeindliche und rechtsextreme Einstellungen ausblendet.10 Wenn in Chatgruppen einer Dienststelle der Polizei mutmaßlich strafrechtlich relevante Inhalte und Einstellungen kursieren und gepostet werden, müssen sie umgehend benannt und verfolgt werden, um das Wirken dieser Strukturen bzw. das dahinterliegende Muster aufzudecken. Nicht nur, weil polizeiliches Handeln in der Öffentlichkeit eine gewisse Signalwirkung hat (staatliches Gewaltmonopol), sondern um strukturelle Konflikte bzw. Probleme überhaupt erst sichtbar zu machen und die daraus resultierenden Verhaltensweisen zu erkennen. Wenn anstößige Einstellungen eine Folge tiefer, grundlegender Überzeugungen sind, kann man sie nur ändern, indem man die Überzeugung ändert.11
3.2
Die Arbeit mit mentalen Modellen
Mentale Modelle als subjektive Realitätskonstruktionen bestimmen nicht nur, wie die Polizei, ob in der Stabsarbeit oder im Streifendienst, ihre Umwelt interpretiert, sondern auch, wie sie handelt. Folglich bestimmen sie mit darüber, ob und wie die Dinge in den Zusammenhang gebracht werden und letztlich welche Einflussbereiche miteinander vernetzt werden und sich gegenseitig bedingen. Wenn Einsatzkräfte der Polizei ihren mentalen Modellen von Ursachen und Wirkungen entsprechen und ihr polizeiliches Handeln örtlich und zeitlich aufeinanderfolgt, lösen sie narrative Verknüpfungen aus, die den vertrauten polizeilichen Denk- und Handlungsweisen im Alltag nahekommen oder zuPolizisten nicht zwangsläufig auch bewusst sein (u. a. Abdul-Rahman et al. 2020; Behr 2019; FRA 2017). 10 Für die deutsche Polizei sind strukturelle oder institutionelle Diskriminierungs- und Rassismusvorwürfe keineswegs neu (vgl. Abdul-Rahman et al. 2020). In aller Regel wehrt sich die politische und polizeiliche Führung nach einem immer gleichen argumentativen Abwehrmuster: 1. Strukturelle und institutionelle Rahmenbedingungen für Diskriminierung und Rassismus u. a. m. stellen die 275.000 Polizist*innen in Deutschland ohne konkrete Anhaltspunkte unter generell gehegten Verdacht (Generalverdacht) und werden daher kategorisch abgelehnt; 2. Relativierender Verweis auf die Polizei als ein Spiegelbild der Gesellschaft; 3. Folglich handelt es sich um unerfreuliche, bloße individuelle Verwerfungen (Pathologien) von „Schwarzen Schafen“ innerhalb der Polizei. Diesem kollektiven organisationalen Abwehrverhalten liegen nicht notwendigerweise auch Einstellungen der handelnden Polizist*innen zugrunde, aber sie können aus den strukturellen und institutionellen Bedingungen entstehen. 11 Zu einer vernachlässigenden Einschätzung kommt hingegen der Bundesinnenminister Horst Seehofer, wenn er aus den Zahlen des Lageberichts „Rechtsextremismus in Sicherheitsbehörden“ des Bundesamtes für Verfassungsschutz (September 2020) trotz Dunkelfeld und bereits vor der Veröffentlichung kein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern ableitet. Dadurch wird nach Einschätzung des Autors der reflexive Blick auf Zusammenhänge hinter gewachsenen Strukturen, falsch verstandener Loyalität innerhalb der Polizeiorganisationen und daraus resultierenden Verhaltensweisen und Denkstrukturen bereits im Vorfeld wissentlich verstellt. Bedingungen des Zustandekommens vorurteilsbehafteter Vorstellungen und Diskriminierungshandlungen scheinen dabei nicht von Interesse.
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mindest ihnen nicht widersprechen. Die mentale Infrastruktur der Polizei bzw. die institutionellen und organisationsspezifischen Faktoren verstellen das polizeiliche Handeln im Einsatz sowie die Risikowahrnehmung auf mögliche systemische Verknüpfungen. Auf die polizeilichen Entscheidungsträger und Führungskräfte kommt die Aufgabe zu, diese mentalen Modelle aufzudecken und zu überprüfen. Drei Bereiche, die nur zusammenwirkend ihr Potenzial entfalten, können dabei helfen: Werkzeuge, die persönliches Bewusstwerden und die Reflexionsfertigkeit fördern, Infrastrukturen, die es ermöglichen, einen regelmäßigen Umgang mit mentalen Modellen zu institutionalisieren und eine vertrauensvolle Organisationskultur und Führung, die das Offenlegen und kritische Hinterfragen unseres Denkens unterstützt (Senge 2011, S. 202 ff.). Ein adaptives Polizeimanagement sollte über das eigene „Polizei-Denken“ nachdenken, über die intern ausgeprägten Denkgewohnheiten (Duhigg 2016), welchen Einfluss die spezifische Organisationskultur12 der Polizei auf die mentale Lebenswelt der Polizist*innen hat, welche spezifischen Blindheiten sie ausbildet und was sich für dominante Handlungsmuster daraus ergeben (vgl. Kühl und Muster 2016, S. 64). Regelmäßige Lern- und Übungsräume im polizeilichen Arbeitsumfeld eingebettet, können nicht nur dabei helfen, ein gemeinsames Verständnis einer konkreten Polizeisituation zu entwickeln, sondern ebenso hilfreich sein, dass „Systemische“ an den mentalen Modellen zu erkennen und danach ihre polizeilichen Handlungen zu orientieren und veränderte Interpretation von Kontexten und Situationen zuzulassen (vgl. Renn und Keil 2008, S. 98). Insbesondere bei komplexen Lagen sind mentale Modelle, die auf Wenn-Dann-Kausalitäten beruhen, kontraproduktiv und bergen inhärente Risiko- und Gefahrenpotenziale für das polizeiliche Einsatzhandeln.
3.3
Die Einbettung der gemeinsamen Vision
„Jede Organisation hat eine Bestimmung: Einen tieferen Zweck, der den Grund ihrer Existenz zum Ausdruck bringt“ (Senge et al. 1999, S. 344). Bereits der staatliche Auftrag der Polizei liefert einen Hinweis auf diesen tieferen Zweck der Polizeiorganisation. Sie ist an den gesellschaftlichen Zweck gebunden, zuverlässig die Innere Sicherheit und Ordnung des Landes zu gewährleisten (vgl. Stierle et al. 2017, S. 359). Diese „von oben“ angeordnete Vision wird von den unterschiedlichsten Polizist*innen auf allen Organisationsstufen im Bund und in den Ländern geteilt und stellt sogleich die gemeinsame Identität dar. Wenn wir dieser Vision folgen, erwarten Polizist*innen ihren „Marschbefehl“, um ihren Auftrag auszuführen und die größere Vision von Innerer Sicherheit und Ordnung in der Öffentlichkeit zu unterstützen. Damit eine Vision auch zum wirkmächtigen Kompass
Im intraorganisationalen Zusammenhang wird auf unterschiedliche Polizeikulturen („Cop Culture“) hingewiesen: der alltagspraktischen Kultur der Polizist*innen (Street Cop Culture) und der offiziellen Polizeikultur (Leitbild der Polizei) und den daraus resultierenden unterschiedlichen Wahrnehmungsdimensionen. Siehe dazu: u. a. Behr 2008, S. 17 f. u. 239 ff. und Vera und Jablonowski 2017. 12
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des polizeilichen Handelns werden kann, „muss sie sich mit einer transformativen Haltung verbinden, mit einer ,Lust auf Veränderung‘ und mit ,Interaktionsfreudigkeit‘ verbinden“ (Schneidewind 2018, S. 465). Polizist*innen können eine persönliche und eine gemeinsame Vision für ihr unmittelbares Team auf der Dienststelle entwickeln. Dabei geht es um mehr als einen kognitiven Zukunftsausblick, sondern auch um eine fantasievolle, intuitive Ideenerzeugung (Hartmann et al. 2006, S. 42). Beispielsweise könnte eine gemeinsame „Vision einer bürgernahen und helfenden Polizei“ neue kommunikative und partizipative Ansätze auf dem Gebiet einer gesamtgesellschaftlichen Kriminalprävention bewirken, die nicht nur zu mehr Akzeptanz und Bürgerbeteiligung in polizeilichen Planungs- und Entscheidungsprozessen führt, sondern durch robustere Problemlösungen auch zu einer nachhaltigeren Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung beitragen könnte (Küppers 2020). Der Organisationszweck der Polizei steht fest, jedoch dürfte es von unschätzbarem Wert für die Führungsebene sein, ihre Beamt*innen und Angestellten nach ihren klaren Ausgestaltungsvorstellungen zu befragen und zu lernen und dabei aufmerksam zuzuhören. Ein/e Polizeiführer*in hat die Aufgabe, seine/ihre Mitarbeiter*innen nicht nur während einer anlassbezogenen Einsatzplanung „mitzunehmen“, sondern beständig ein gemeinsames Zukunftsbild zu entwickeln, für das es sich lohnt, auch in die Bresche zu springen (Stierle et al. 2017, S. 358). „Die Qualität dieses Prozesses, vor allem der Grad der Offenheit und des echten Interesses, bestimmt über die Qualität und die Effizienz der Ergebnisse“ (Senge et al. 1999, S. 345.) Nur vor diesem Hintergrund können Praktiker*innen ihre polizeilichen Entscheide und Handlungen an einer wirklich von allen geteilten gemeinsamen Vision ausrichten und aufbauen. Letztendlich geht es darum zu wissen, wo man gerade steht, hin will, um eine Idee von Ansatzpunkten der Veränderung zu haben.13
3.4
Der Umgang mit Team-Lernen
Bei der Polizei gibt es vielfältige Einsatzerfahrungen mit gruppendynamischen Prozessen. In polizeilichen Handlungspraxen arbeiten viele Gruppen von Polizist*innen, die einander brauchen, um ein Ergebnis zu erzielen: in größeren Einsatzeinheiten der Bereitschaftspolizei, in Kommunikationsteams oder Social-Media-Teams, in hoch spezialisierten Teams von Spezialeinheiten (MEKs, SEKs, GSG 9 BPol), in Führungsteams der Krisenstabsarbeit für das Managen komplexer Lagen, in Sonderkommissionen oder im allgemeinen Streifendienst. Sie sind fester Bestandteil der täglichen Praxis und werden zunehmend zur wichtigsten Lerneinheit sowie wichtiger Adressat eines polizeilichen Einsatztrainings auf allen organisationalen Ebenen der Kommunikation und Intervention. Polizeiarbeit ist gleich Teamarbeit. „Erfolgsbegründend für die Teamarbeit ist die Bildung Dazu gibt es unterschiedliche Haltungen mit abnehmender oder zunehmender Einwilligung einer Person zu einer Vision, wobei einige mit der Vision einverstanden sind und „mitmachen“, wiederum andere sich durch echtes Engagement auszeichnen (Senge 2011, S. 238 ff.). 13
Adaptive Managementstrukturen in der Polizei: Eine systemische Betrachtung durch …
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und Aufrechterhaltung gemeinsamer mentaler Modelle und eine gute Teamkommunikation“ (Thieme und Hofinger 2012, S. 289). Demnach gelingt effektive Teamarbeit nur dann, wenn Polizist*innen über ein gemeinsames Verständnis darüber verfügen, wie eine bestimmte Aufgabe unter den beteiligten Polizist*innen und Teams im Hinblick auf die polizeiliche Aufgabenerfüllung am besten koordiniert und gelöst werden kann (Manzey 2012, S. 348). Das Potenzial dieser Disziplin liegt darin, dass sich ein Team selbst neu erfinden und Fähigkeiten erlernen kann, die sich dauerhaft selbst verstärken. Das Wesen des Team-Lernens ist nicht mit dem Aufbau eines Teams gleichzusetzen. Vielmehr geht es dabei um eine Entwicklung einer gemeinsamen Ausrichtung, als Ganzes zu funktionieren, wodurch die Fähigkeiten eines Teams gefördert werden und eine Einheit gebildet werden kann. Gegenseitige Gefühle und Meinungsverschiedenheiten sind bekannt und werden gewinnbringend für den kollektiven Lernprozess im Team genutzt (Senge et al. 1999, S. 406). Strategien für das Team-Lernen wären beispielsweise Gesprächskreise für den einsatzbezogenen Erfahrungstransfer mit einer koordinierten Vielzahl von Sichtweisen und Interpretationen, die letztlich – aus systemischer Sicht – zur Erhöhung der Robustheit polizeilicher Einsatzentscheidungen beitragen. Eigene Wissenslücken zu entdecken und nicht diskutierbares Verhalten und strukturelle Probleme (bspw. ungeschickte Personalkürzungen, übermäßige Gewaltausübung im Dienst, Verdachtsfälle von rechtsextremistischen, fremdenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Chatinhalten oder andauernder erheblicher Arbeitsüberlastung u. a. m.) im institutionellen Arbeitsalltag von Polizist*innen allgemein zugänglich zu machen und zu Lernzwecken für die zukünftige Bewältigung kritischer Vorfälle systemisch zu erforschen, wären die Konsequenz. Doch wie realistisch ist der offene und diskursive Austausch im stresserfüllten Arbeitsalltag der Polizei wirklich und können überhaupt unausgesprochene Tabus und kritische Überprüfungen in den Konformitätszwängen der polizeilichen Truppe diskutiert werden? Das kommt letztlich darauf an, ob und wie eine Organisationskultur in Richtung Vertrauen und Offenheit geschaffen wird, die das Lernen fördert.
3.5
ie fünfte Disziplin – das Systemdenken und D die Systembetrachtung
Das Systemdenken in polizeilichen Planungs- und Handlungsprozessen zielt darauf ab, dass die Wechselwirkungen von Kräften erkannt und als Teil eines gemeinsamen Prozesses verstanden werden. Die wachsende Komplexität hat zweifellos ein nie da gewesenes Ausmaß angenommen, dem sich die Polizei im Anpassungsdruck gesellschaftlicher Transformationsprozesse stellen muss (vgl. Lange et al. 2019). Im polizeilichen Arbeitsumfeld häufen sich Einsatzlagen mit abstrakten und komplexen Problemen, die keine simplen, lokal begrenzten Ursachen haben.14 Diese Einsätze gilt es nicht nur, hinsichtlich der Der Klimawandel samt Wetterextremen, eskalierenden Infektionsdynamiken wie Epidemien und Pandemien oder die Digitalisierung und ihre neuen Kriminalitätsphänomene haben durch ihre 14
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ordnungsgemäßen Durchführung und Bewältigung der Lage zu verstehen, sondern vor allem auch im Sinne der nachhaltigen Robustheit zukünftiger Lagen deren systemische Chancen und Risiken vorausschauend zu erkennen. Die Einsatzherausforderung dabei ist, dass in komplexen, dynamischen – systemischen – Einsatzlagen die Ursache und Wirkung oft zeitlich und örtlich weit voneinander getrennt sind und ihre Wechselwirkungen häufig unsichtbar bleiben. Die Ereignisse beeinflussen sich gegenseitig, auch wenn die Polizeiführung dieses Wechselspiel normalerweise nicht umfassend wahrnimmt. Komplexe und dynamische Einsatzlagen lassen sich besser als Systeme15 analysieren, die man nur verstehen kann, wenn man über die Einzelteile hinausblickt und das Ganze betrachtet. Diese oftmals unübersichtlichen Handlungssituationen werden nicht verständlicher, wenn die Disziplin des Systemdenkens die Aufmerksamkeit darauf lenkt, dass das, was in Polizeieinsätzen geschieht, häufig ein Ergebnis unserer eigenen, von Wahrnehmungen gesteuerten Handlungen ist (Senge 2011, S. 261). Der G20-Gipfel in Hamburg 2017 und seine eskalierenden Beziehungsdynamiken sind hierfür ein geeignetes Beispiel: So folgten auch die selbstverstärkenden Rückkopplungsprozesse im Kontext des G20-Gipfels einem wiederkehrenden und verbreiteten Muster (Archetyp) von Aktion und Reaktion, im Zuge dessen es zu einer sukzessiven Verschärfung der wechselseitigen Konfliktaustragung und Grenzüberschreitungen gekommen ist (Küppers 2019; Ullrich et al. 2018).16 Ähnlich wie der Archetyp „Grenzen des Wachstums“ risikoreichen Systemstrukturen von „ökonomischem Wachstum“ entgegenwirken kann, sind gezielte „Deeskalationsmaßnahmen“ mögli cherweise ein eleganter Ausweg aus selbstverstärkenden Rückkopplungsschleifen in Komplexität und Aktualität eine hohe Bedeutung für die öffentliche Sicherheit. Dabei scheint jedoch die klimabedingte Sicherheitsproblematik auf nationaler Ebene in Deutschland noch ein Nischendasein zu fristen. 15 Polizeiliche Lagen als offenes und soziales System zu verstehen, geht davon aus, dass zusammenhängend organisierte Elemente bzw. Einzelteile in einem Muster oder einer Struktur so miteinander verbunden sind, dass charakteristische Verhaltensweisen entstehen, die oft als „Funktion“ oder „Zweck“ des Systems bezeichnet werden können. Der Einsatzanlass „G20-Gipfel 2017 in Hamburg“ besteht aus Systemeinzelteilen wie Polizeikräfte, Polizeiführer*innen und Führungsstab, organisiertem Protest und Gegenveranstaltungen und Staats- und Regierungschef*innen, Stadt Hamburg, u. a. m. Die Verknüpfungen sind diejenigen Beziehungen, die die Einzelteile zusammenhalten: Leitlinien des/der Polizeiführer*in, strategische und operativ-taktische Maßnahmen, Kommunikation unter den Polizist*innen und zum polizeilichen Gegenüber (Protestgruppen, Stadtbewohner*innen und Medien/Öffentlichkeit), Bewegungs- und Verhaltensmuster, die die Interaktion- und Beziehungsdynamiken (der Gewalt) bestimmen und normalerweise das Systemverhalten verändern (Verkettungen von situativen Dynamiken). Die Innere Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten ist der Zweck des ganzen Systems Polizei. Im darin eingebetteten System der anlassbezogenen besonderen Einsatzlage zum G20-Gipfel (das System im System) war die höchste Priorität (der Zweck innerhalb des Zwecks) der Schutz und die Sicherheit der Gäste und vielleicht das, was man aufgefahren hat, auch zu nutzen. Schlussendlich sind besondere polizeiliche Lagen stets mehr als die Summe seiner Einzelteile. 16 Weitere Beispiele für Eskalationen, welche Entscheidungsregeln dahinterstecken und wie ein möglicher Ausweg aus dem Eskalationssystem aussehen kann, zeigt anschaulich Donella H. Meadows (2010, S. 148 ff.).
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feindseliger Umgebung von Polizeieinsätzen, was zum Teil bereits praktiziert wird. Die archetypischen Muster sind jedoch aufgrund komplexer Situationen immer adaptiv und lageangepasst fortzuschreiben. Für die gegenwärtige polizeiliche Einsatzlehre sowie für Einsatztrainings bietet sich die Möglichkeit, eine glossatorisch angelegte Praxis des Systemdenkens für das Einsatzhandeln zu institutionalisieren und zu trainieren, wofür im Idealfall ausreichend Raum und Zeit zur Verfügung gestellt werden müssen. Eine systemische Polizeiarbeit des 21. Jahrhunderts muss sich grundlegend vom alten Denken der Polizeiarbeit des 19. und 20. Jahrhunderts abheben, um „den Wald vor lauter Bäume zu sehen“, unerwartete Ereignisse und übergreifende Risiken vorausschauend zu erkennen und auf Basis einer Gefahrenprognose neu und orientierter zu bewerten. Eine notwendige Voraussetzung für ein lernorientiertes Arbeitsumfeld der Polizei ist neben der reflexiven auch die partizipative Offenheit der Polizeiführung.
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ie Polizei in prekärer Lage, oder: von Abwehrmechanismen, D Ausweichmanövern und Lernhemmnissen
Das alles ist leichter gesagt als getan und die Idee in die Praxis umzusetzen eine ganz andere Sache. Die Polizei ist eine hierarchisch strukturierte Organisation mit funktionsorientiertem Führungsstil in bester bürokratischer Tradition. Das Managen von speziellen Organisationen wie der Polizei, die zudem häufig mit sich dynamisch ändernden Umweltbedingungen und hohem gesellschaftlichen und politischen Erwartungsdruck konfrontiert wird, bleibt schwierig. Zu einer evidenz-basierten Betrachtung adaptiver Managementstrukturen in der Polizei gehört neben den Möglichkeiten, die eine Organisationskultur für das Lernen spielen kann, die gegenwärtigen und mitunter tief verwurzelten Denkgewohnheiten und gewohnheitsmäßigen Verhaltens- und Interaktionsweisen (Grenzen) darzustellen, die erklären, wie defensive Verhaltensweisen in der Organisation entstehen (u. a. Duhigg 2016; Argyris und Schön 1978, 1999; Argyris 1990). Abwehrverhalten suggeriert uns zwar kurzfristig ein Gefühl von Kontrolle, ist aber das denkbar schlechteste Verhalten in Organisationen, weil es wahre Dynamiken einer Situation oder eines Ereignisses bzw. eines Zustands verschleiert (Argyris 1990). Polizeiliches Fehlverhalten, gleichwohl, ob es sich dabei um übermäßige Polizeibrutalität, rechtsextreme und rassistische Chatnachrichten, Racial Profiling, polizeiliche Diskriminierung und dergleichen mehr handelt, wird intern zumeist nicht grundlegend aufgearbeitet. So sieht man sich beispielsweise auf dem Feld der Inneren Sicherheit in Hessen gut aufgestellt. Man bietet wenig Angriffsfläche, verweist auf bewiesene Einzelfälle und das statistisch erfolgreiche Vorgehen gegen die rechtsextreme Szene im Land. Wieso aber ist es den höhergestellten Führungs- und Entscheidungskräften der Polizei in Hessen, trotz 30-köpfigen Ermittlerteams und dem Rücktritt des Landespolizeipräsidenten Udo Münch, bis heute nicht gelungen, die etlichen Drohbriefe und -mails („NSU 2.0“), denen illegale Abfragen der Daten aus einem Informationssystem in hessischen Polizeidienststellen
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Tab. 1 Sieben Lernhemmnisse und ihre Erklärungen im Kontext polizeilicher Handlungspraxen Lernhemmnisse Konzentration auf eigene Position – „Ich bin meine Position“
Schuldzuweisung – „Der Feind da draußen“
Erklärungen in polizeilichen Handlungspraxen Eine mangelnde Verantwortung für das sonstige Geschehen abseits des eigenen Arbeitsplatzes ist in Organisationen eine verbreitete Haltung. „Wenn Menschen in Organisationen sich nur auf ihre eigene Position konzentrieren, fühlen sie sich kaum dafür verantwortlich, zu welchen Ergebnissen das Zusammenwirken aller Positionen führt“ (Senge 2011, S. 31). Dies gilt auch für alle Hierarchieebenen innerhalb der Polizei. Bei enttäuschenden Resultaten wird es schwieriger, wirkliche Ursachen zu erkennen. Organisationen und ihre unterschiedlichen Abteilungen neigen dazu, wenn etwas schiefgeht, die Schuld überall außer bei sich selbst zu suchen. Auch der Organisation der Polizei ist diese Neigung nicht fremd. Der „äußere Feind“ ist nicht auf Schuldzuweisungen innerhalb der Organisationsstruktur der Polizei, etwa zwischen den Stabsstellen Einsatz/Lagedienst und Haushalt/Verwaltung (BfdH) einer örtlichen Direktion, beschränkt. Auf Versammlungen können einseitige und diffamierende Schuldzuweisungen zur Polarisierung des Diskurses beitragen und eine wechselseitige, eskalierende Dynamik im Freund-Feind- Schema in Gang setzen. Auf dem G20-Gipfel in Hamburg 2017 wurden so Feindbilder einer feindlichen und gewaltbereiten homogenen Masse konstruiert, wodurch Reaktionen vor allem aus Schuldzuweisungen an die „andere Seite“ legitimiert wurden (Siehe dazu: Ullrich et al. (2018). Eskalation.). Starres Abteilungsbzw. Stabsstellendenken sowie Schuldzuweisungen machen es schwierig, den Hebel zu entdecken, der „drinnen“ angesetzt werden kann, um „draußen“ im polizeilichen Einsatzhandeln Probleme zu lösen. „Drinnen“ und „draußen“ sind oftmals vernetzte Teile desselben Systems! (vgl. Senge 2011, S. 32). (Fortsetzung)
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Tab. 1 (Fortsetzung) Lernhemmnisse Proaktivität als verdeckte Reaktivität – „Angriff ist die beste Verteidigung“ oder die Illusion von der „Kontrolle“
Fixierung auf Ereignisse – Kurzfrist gegen Langfrist
Erklärungen in polizeilichen Handlungspraxen Die bindenden Leitlinien des polizeilichen Entscheidungsträgers schreiben vor, dass gewaltbereite Störer*innen frühzeitig zu identifizieren sind und gegen sie konsequent bei niedriger Einschreitschwelle vorzugehen ist. Der/Die Polizeiführer*in ist angesichts einer schwierigen und als konfliktträchtig eingeschätzten Lage in die Offensive gegangen. Für ihn bedeutet „proaktiv“ nicht „reaktiv“ zu handeln, sondern nicht so lange zu warten, bis sich der vermummte Aufzug in Gang setzt und eine angespannte Situation eskalieren könnte, bevor man anlassbezogen einschreitet (bspw. G20-Gipfel in Hamburg 2017). Vor diesem Hintergrund ist Proaktivität häufig eine verdeckte Reaktivität (Senge 2011, S. 33). Diese restriktive polizeiliche Taktik der Polizei ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Proaktivität, wie sie hier verstanden wird. Proaktiv handelnde Führungskräfte im polizeilichen Einsatzhandeln erkennen als Ergebnis ihres rationalen Denkens, was die polizeilichen Einsatzkräfte selbst zu einer problematischen Lageveränderung beitragen und nicht als Ergebnis der langjährigen emotionalen und institutionellen Befindlichkeit. In proaktiver Vorausplanung ist eine Lage zu antizipieren und in angespannten Situationen in Betracht zu ziehen, die verhindert, dass schnell und dynamisch eine kaum steuerbare konfrontative Auseinandersetzung eintreten kann. Eine Konzentration auf bestimmte Ereignisse in der Organisation der Polizei (verbesserte Präsenzquote und Einsatzreaktionszeiten, höhere Aufklärungsquote, Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die Neubesetzung an der Spitze der Polizeibehörde, die Modernisierung der polizeilichen Informationsarchitektur im Rahmen der Saarbrücker IT-Agenda im Programm „Polizei 2020“ oder die Aufdeckung von Chatgruppen mit rechtsextremistischen, fremdenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Inhalten) führt zu Ereigniserklärungen, die die Aufmerksamkeit von langfristigen Veränderungsmustern und deren erklärenden Ursachen ablenken, die möglicherweise hinter den Ereignissen stehen (Senge 2011, S. 34). So können etwa diskriminierende Einstellungen und Handlungspraxen aus den strukturellen und institutionellen Bedingungen innerhalb der Polizei entstehen. Jedoch wird in der heutigen schnelllebigen Zeit von Politik, Öffentlichkeit und Medien die Betonung von kurzfristigen Ereignissen verstärkt. Das herrschende Denken in kurz- bis mittelfristigen Zeithorizonten bzw. Ereignissen erschwert dabei das generative Lernen in Organisationen, auch weil in Zeiten digitaler Medien ein Ereignis auf das nächste folgt und zum Teil unerwartete Entwicklungen auslöst (ebd.).
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Tab. 1 (Fortsetzung) Lernhemmnisse Einseitiger Wahrnehmungsapparat – Das Gleichnis vom gekochten Frosch
Erklärungen in polizeilichen Handlungspraxen Eine unzureichende Anpassung an geradezu unbemerkt wachsende existenzielle Bedrohungen bzw. Risiken führt zum Verharren in alten Handlungsmustern, weil deren Belastungen nicht unmittelbar erlebt werden. Der evolutionsbedingte Wahrnehmungsapparat des Menschen ist – wie beim Frosch (Das Gleichnis vom „gekochten Frosch“ im Topf zeigt, wie schwierig es ist, schleichende Bedrohungen rechtzeitig zu erkennen, noch bevor sich der Schaden kumuliert: Setzt man einen Frosch in einen Topf mit kochendem Wasser, versucht er sofort herauszuklettern. Wird die Wassertemperatur hingegen allmählich erhöht, bleibt er ganz ruhig sitzen, bis er aufgrund der angestiegenen Wassertemperatur zu schlapp und unfähig ist, aus dem Topf herauszuklettern. Der Frosch stirbt, obwohl er nicht daran gehindert worden wäre, sich vor dem kochenden Wasser zu retten.) – auf plötzliche Veränderungen in seiner Umwelt eingestellt und nicht auf langsam verlaufende Bedrohungen (Senge 2011, S. 35). Beispielsweise eine schleichende, untergründige ideologische Veränderung des Klimas innerhalb der Polizeien, die jahrelang nicht aufgefallen ist. Diese schleichenden Prozesse und Veränderungen entwickeln sich langsam und unauffällig und können sich auf viele unterschiedliche Tätigkeitsfelder und Aufgabenwahrnehmungen innerhalb der Organisation der Polizei auswirken. Oder das unterschätzte Gefahrenpotenzial einer zunehmenden Radikalisierung bei Corona-Protesten gegen die politischen Beschränkungen in der pandemischen Lage. Sie sind auch deshalb so gefährlich, weil sie nicht nach klaren Ursache-Wirkungs- Beziehungen darzustellen sind. Dies erfordert eine systemische Lernbereitschaft, die dem Subtilen weit im Vorfeld einer polizeilichen Lage genauso viel Aufmerksamkeit widmet wie dem Dramatischen am Versammlungstag.
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Mythos vom agilen Managementteam
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Erklärungen in polizeilichen Handlungspraxen In der polizeilichen Berufspraxis orientieren sich die Polizist*innen an ihrem Handlungswissen, das originäres Erfahrungswissen ist, um Situationen zu bewältigen. Das zentrale Lerndilemma der Organisation der Polizei besteht darin, dass sie aus Erfahrung lernen, jedoch in komplexen Einsatzlagen häufig nicht direkt erfahren, wie sich polizeiliches Entscheidungshandeln auswirkt und welche Konsequenzen und Verfahrenslogiken dies für die polizeiliche Praxis sowie die Gesellschaft bedeutet (vgl. Abdul-Rahman et al. 2020, S. 33 ff.; vgl. Senge 2011, S. 36). Die wichtigsten und langwierigen Entscheidungen innerhalb der Polizei haben organisationsweite Konsequenzen und strahlen mitunter auf andere Organisationsbereiche aus. Zum Beispiel die Beförderung des/der „richtigen“ Abteilungs- oder Dienststellenleiter*in, der/die für lange Zeit die Strategie und das Organisationsklima seiner Dienststelle und innerhalb seiner Einflusssphäre prägen kann. Um die Problematik von Entscheidungen mit weitreichenden Wirkungen einzugrenzen und leichter zu erfassen, richten traditionelle Organisationen wie die Polizei funktionale hierarchische Strukturen ein. Dabei entstehen siloartige Abteilungen, die ihre Arbeiten nach der jeweiligen Bereichslogik nebeneinanderher verrichten. Dies erschwert, langfristige Folgen von polizeilichen Entscheidungshandlungen bei komplexen und funktionsübergreifenden Fragestellungen abzuschätzen. Führungs- und Entscheidungsteams einer Dienststelle sind ein entscheidender Erfolgsfaktor für die organisationale Lernfähigkeit der Dienststelle. Sie versuchen, komplexe, funktionsübergreifende Probleme entlang der formalen Strukturen und internen Kommunikationsstrategien im Sinne der hierarchischen Ordnung bereichsspezifisch umzusetzen bzw. zu lösen. Die Kommunikation unter Führungskräften ist in der stresserfüllten, gelebten Alltagsorganisation der Polizei womöglich abwehrend und reaktiv und kann zu einem Hemmnis der Problemlösungsfindung beitragen. Dabei wird der Anschein einer/s konsens-orientierten, proaktiven Entscheider*in zwar aufrechterhalten, jedoch wird sich ausschließlich mit Fragen zu Handlungsroutinen befasst anstatt mit der Erforschung komplexer Fragen. Oder: Wann ist in ihrer Dienststelle das letzte Mal jemand belohnt worden, weil er/sie schwierige Fragen zu derzeitigen internen Kommunikationsabläufen oder zum gegenwärtigen Klima des Vertrauens gestellt hat, anstatt Lösungen für akute Probleme im Arbeitsalltag anzubieten? Gemeinsame und bereichsübergreifende Prozesse des Fragens und Erforschens in höheren Dienstlaufbahnen werden insgeheim als bedrohlich empfunden, weil sich nicht die schmerzliche Blöße gegeben wird, unsicher und unwissend zu sein (Argyris 1990). Dies blendet neue Erkenntnisse für die polizeiliche Organisationswirklichkeit aus, weil sie als bedrohlich empfunden werden.
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vorausgingen, intern aufzuarbeiten?17 Vielleicht besteht der Grund darin, dass das Systemdenken besonders leicht Abwehrreaktionen hervorruft, „weil es die zentrale Botschaft enthält, dass unsere Realität ein Produkt unseres Handelns ist“ (Senge 2011, S. 259). Warum systemische Erkenntnisse noch keinen Eingang in die Verfahrensweisen des Planungsund Entscheidungsprozesses für den Einsatz der Polizei gefunden haben, dürfte auch mit den rigiden standardisierten Abläufen zusammenhängen, die wenig Ermessensspielraum vorsehen. Den systemischen Ansatz nicht einzunehmen verwirkt die Chance, diesen im Einsatztraining sowie im unmittelbaren Einsatzhandeln auf konfliktträchtig bewerteten Versammlungen praktisch anzuwenden. Tut man es hingegen, würde man dadurch nicht nur zur Vervollständigung des polizeilich relevanten Wissens über eine Lageeinschätzung beitragen, sondern müsste sich auch mit den eigenen polizeilichen Verfahrens- und Verhaltensweisen kritisch auseinandersetzen, wodurch polizeiliches Fehlverhalten erklärungsbedürftig wird. Jedoch sind „diese Strategien […] erfolgreiche Ausweichmanöver, die verhindern, dass man ernsthaft untersucht, wie das eigene Handeln genau die Pro bleme verursacht, die man so energisch bekämpft“ (ebd.). Wenn man sie beheben will, sollten die folgenden sieben Lernhemmnisse zunächst erkannt werden (Senge 2011, S. 29 ff.), die durch den Autor auf polizeiliche Handlungspraxen übertragen werden (Tab. 1). Fazit Jede einzelne der fünf Disziplinen liefert einen wichtigen Baustein beim Aufbau einer lernfähigen, adaptiven Polizeiorganisation. In vielen (polizeilichen) Zusammenhängen treiben Offenheit, tiefer gehende Gespräche und Reflexionen, Personal Mastery und gemeinsame Visionen den Wandel voran. Das systemische Verständnis der Ursachen und Auswirkungen von sicherheitsrelevanten Sachverhalten und Problemen ist dabei entscheidend. Ausschlaggebend ist, wie die Organisation der Polizei mit den laufenden Veränderungsprozessen umgeht, um sich auf die rasant verändernde Umwelt und für künftige systemische Bedrohungen einzustellen. Wie viele gewachsene Organisationskulturen neigt jedoch auch die Polizei zu routinemäßiger Tätigkeit in rigiden Standardprozessen. Eine mangelnde Flexibilität und Wandlungsfähigkeit erschwert die Anpassung an Umweltveränderungen sowie die Weiterentwicklung einer komplexen Organisationsstruktur. Letztlich sind es die Polizist*innen selbst, die die Transformation der Organisation der Polizei vorantreiben und dem Systemdenken zu einer breiten Akzeptanz verhelfen können. Die Hinwendung auf die Beziehungen der Polizist*innen innerhalb der Polizeiorganisation bildet dafür die erfolgreiche Grundlage für Veränderungen.
Im Zuge der Ermittlungen wurden Tausende illegale Datenabfragen bei deutschen Polizeibehörden bekannt, die bisher kaum kontrolliert und sanktioniert worden waren. https://innen.hessen.de/presse/ pressemitteilung/stand-der-ermittlungen-zu-den-nsu-20-drohschreiben. Zugegriffen am 26.02.2021. 17
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Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
Wie man lernt, polizeiliches Handeln systemisch zu betrachten, ist nicht auf eine spezielle Stabsstelle oder einen bestimmten Personenkreis begrenzt. Vielmehr muss die Systemorientierung, das Systemdenken von verantwortlichen Entscheider*innen, Einsatzkräften vor Ort und ihren erfahrenen Einsatztrainer*innen im Organisationssetting der Polizei gleichermaßen gelernt und angewandt werden. Relevant wird dies im Lagegeschehen, wenn die übergeordnete Führung nicht vor Ort ist („die Führung ist blind“) und auf die systemische Betrachtung (Lagemeldung) der Einsatzkräfte von der Lage vor Ort angewiesen ist, um darauf lageangepasste und systemische Entscheidungen treffen zu können. Das Erlernen des Systemdenkens wird exemplarisch unter a) Entscheider*innen erwähnt. Gleiches gilt etwa für die unter b) Einsatzkräften beschriebene reflexive Praxis oder das abwehrende Verhalten gegenüber Kritik unter c) Einsatztrainer*innen. a) Entscheider*innen Die verantwortlichen Entscheider*innen machen sich mit einer Vielzahl von Sichtweisen vertraut, die sie für eine robustere Einsatzplanung nutzen können. Zur Entwicklung dieser reflexiven Fähigkeiten bedarf es regelmäßiger Gelegenheiten zur Übung, was auf die institutionelle Infrastruktur der Polizei verweist. Entscheider*innen sollten geschützte Freiräume ermöglichen, um diese reflexive Praxis als essenzielle Ressource in das polizeiliche Arbeitsumfeld einzubetten. Dazu gehört: • Institutionelles Erlernen des Systemdenkens: Dadurch sind systemische Strukturen und übergreifende Muster klarer zu erkennen und besser zu verstehen, sodass diese Muster erfolgreich im Sinne der Effektivität, Resilienz und Effizienz der polizeilichen Maßnahmen verändert werden können. Wenn Entscheider*innen eine Lage nach systemischer Faktenlage beurteilen, ist das Entscheidende dabei das Verständnis der systemischen Ursachen der Probleme und welchen Einfluss die Wechselbeziehungen auf das einsatztaktische Polizeihandeln haben (könnten). • Offene und vertrauensvolle Organisationskultur schaffen, die Reflexion und Aktion verbindet: Adaptive Managementstrukturen fördern eine offene und systemische Auseinandersetzung über grundsätzliche und wichtige Fragen auf der individuellen und organisationalen Ebene der Polizei. Dadurch werden ebenfalls der Austausch und die Interaktion in höheren und niedrigeren Dienstlaufbahnen unterstützt. • Die Qualität der Beziehungen verbessern: Wenn sich die Qualität der Beziehungen verbessert, verbessert sich auch die Qualität des aktiven Denkens und letztlich die Qualität der Offenheit für Informationen des polizeilichen Handelns, was wiederum zu einer nachhaltigeren Zielerreichung beiträgt.
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• Etablierung von dialogorientierten und diskursiven Gesprächskreisen: Ein kontinuierlicher Lern- und Erfahrungsaustausch über Bereichs- und Hierarchiegrenzen hinweg ermöglicht es anderen Beamt*innen und Kolleg*innen, im Wissenstransfer die persönlichen Erfahrungen, Deutungen und Wahrnehmungen (Wissensreservoir) auszutauschen. Diesen verborgenen Erfahrungsschatz zu heben, gilt es zwischen Entscheider*innen, Einsatzkräften und Einsatztrainer*innen zu unterstützen (s. Pkt. 2.4). b) Einsatzkräfte Einsatzkräfte, die stressbeladene, belastende und riskante Situationen und Ereignisse vor Ort durchlebt haben, profitieren von einer organisationalen Reflexionsarbeit, die auch eine sprachliche Bewältigung von Konfliktsituationen ermöglicht: • Wird Reflexion mit polizeilichem Aktionshandeln gekoppelt, erscheint es nicht als bloße Zeitverschwendung. Im geschützten Rahmen beschreiben Einsatzkräfte, welche Schwierigkeiten und Konflikte sich ergaben, und erzählen nicht nur, was sie dabei gesagt haben, sondern auch, was sie dabei gedacht und nicht gesagt hatten. • Professionelle Reflexionsarbeit bietet und fördert die Möglichkeit, die subtilen und unsichtbaren Denkmuster (mentale Modelle) der Einsatzkräfte zu verdeutlichen, zu überprüfen sowie im offenen Austausch über innere Spannungsverhältnisse, Verhaltensmuster und Handlungsoptionen und das in ihnen liegende Potenzial im Einsatz zu sprechen. • Erfahrungen von bisherigen Interaktionen zwischen Polizist*innen und Protestierenden mit gefährlichen Situationen und Personen können sensibel aufgearbeitet, unterschwellige Probleme identifiziert sowie Orientierung für künftige Einsätze gestiftet werden. Situationsbezogene Konflikte können durch einen systemischen „Musterkatalog“ archetypischer Zirkulationsprozesse trainiert und im Einsatz gezielt risikovorbeugend angewendet werden. c) Einsatztrainer*innen Als Ausbilder*innen und Multiplikator*innen setzen sich Einsatztrainer*innen mit taktischen Gesichtspunkten in der Einsatzlage auseinander. Zu ihren Aufgaben gehört auch, die Polizeikräfte immer wieder aufs Neue daran zu erinnern, wie polizeiliche Handlungen die Umwelt bzw. das „polizeiliche Gegenüber“ beeinflussen. Neben dem körperlichen Leistungsniveau gehört ebenso die ständige Persönlichkeitsentwicklung zu Aufgaben. Das heißt, sie geben nicht nur ihre intensiven Kenntnisse und Erfahrungen über polizeiliches Handeln weiter, sondern auch
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eine Form des Denkens und wie sie damit klarer und unverfälschter die Praktiken und Prinzipien der Polizei in gegenwärtigen und zukünftigen Lagen wahrnehmen: • Abwehrendes Verhalten thematisieren und dadurch wirkungsvolle individuelle sowie kollektive Abwehrroutinen, die sich schädlich auf polizeiliches Handeln auswirken können, offenlegen und durchbrechen. • Sichtbarmachen von Vorurteilen, Verallgemeinerungen und Bildern, die polizeiliches Handeln destruktiv beeinflussen. • Förderung veränderter Wahrnehmungen der eigenen Orientierung und des Selbstbildes zur Lage bzw. Umwelt. Einsatztrainer*innen selbst müssen ein aufrichtiges Engagement an ehrlich gemeinter Offenheit für Informationen und Sichtweisen vorleben, damit sie im Einsatztraining auf die verschiedensten Denkgewohnheiten, individuellen und institutionellen Abwehr- und Handlungsroutinen praktisch Bezug nehmen können. Das Systemdenken müssen Einsatztrainer*innen verinnerlichen, damit sie die Rolle der Einsatzkräfte im systemischen Interaktionszusammenhang praktisch darstellen und alternative Verfahrensweisen glaubhaft vertreten und sichtbar machen können.
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Teil III Prakademische Perspektive – Einsatz
Vertrauen in die Polizei im 21. Jahrhundert: Fairness in Interaktionen als Grundlage Silvia Staubli
Inhaltsverzeichnis 1 V ertrauen in modernen, komplexen Gesellschaften 2 Vertrauen als Prädiktor für Legitimität 3 Erklärungsansätze 3.1 Vertrauen in die Leistung der Polizei 3.2 Vertrauen in die Fairness der Polizei 3.3 Sicherheitsempfinden, Viktimisierung und soziodemografische Merkmale 4 Polizeivertrauen in Europa: Ein Überblick Literatur
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Zusammenfassung
Vertrauen in die Polizei gründet auf verschiedenen Faktoren, wobei vor allem positive und negative Erfahrungen in Interaktionen zwischen der Bevölkerung und der Polizei prägend sind. Polizist*innen agieren dabei als Schlüsselpersonen, da ihr Verhalten als Gradmesser für das Vertrauen in die Polizeiorganisation als Ganzes gesehen wird. Der vorliegende Beitrag argumentiert, dass gerade in modernen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts, welche sich durch eine große Diversität und Komplexität auszeichnen, Erfahrungen mit Vertreter*innen von Organisationen wie der Polizei immer wichtiger werden, wenn es um deren Bewertung geht. Denn Vertrauen als Handlungserwartung Reviewer*innen: Rado Mollenhauer, Susanne vom Hau S. Staubli (*) Universität Fribourg, Fribourg, Schweiz E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_9
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basierend auf Wissen über Organisationen und deren Abläufe wird zunehmend schwieriger, da sich auch Organisationen wie die Polizei durch eine zunehmende Komplexität auszeichnen.
Das Thema Vertrauen in die Polizei findet seit längerer Zeit eine große Beachtung in Literatur und Forschung und tangiert verschiedene Ebenen und Erklärungsansätze. Vertrauen in Polizeiorganisationen lässt sich vom zwischenmenschlichen Vertrauen herleiten. Ein solches kommt vor allem bei Interaktionen zwischen der Bevölkerung und der Polizei zum Tragen und muss vor dem Hintergrund einer modernen und komplexen Gesellschaft betrachtet werden. Aber weshalb ist das Vertrauen in die Polizei zentral und wichtig? Vertrauen gilt als Prädiktor für Legitimität, welche einhergeht mit der Akzeptanz der Polizei als Autorität; ihre Machtausübung und ihre Befehle werden akzeptiert (Sunshine und Tyler 2003). Um Polizeivertrauen abschließend erklären zu können, eignen sich zum einen in strumentelle Ansätze zur Effizienz der Polizeiarbeit und zum anderen normative zur Verfahrensgerechtigkeit. Auch spielen Faktoren des Sicherheitsgefühls, Opfererfahrungen sowie soziodemografische Merkmale eine Rolle. Beim Vertrauen in Institutionen oder Organisationen spielen Erfahrungswerte eine wichtige Rolle. Ob und wie ein Kontakt zwischen der Bevölkerung und der Polizei abläuft, trägt wesentlich zur Vertrauensbildung bei. Solche Prozesse können zum einen mit individuellem Vertrauen erklärt werden, d. h. mit dem Vertrauen zwischen Individuen. In einer dreiteiligen Beziehung geht es darum, wie sich der Einzelne (A) entscheidet zu vertrauen, an wen (B) er sein Vertrauen richtet und unter welchen Umständen (C) er sein Vertrauen ausübt. Mit anderen Worten ausgedrückt: A vertraut B in Bezug auf C (Hardin 2006). Übertragen auf das Vertrauen in Institutionen (B) lässt sich sagen, dass es von unserer Wahrnehmung einer Institution abhängt, ob wir (A) ihr (B) vertrauen oder nicht. Darüber hinaus hängt unser Vertrauen auch von der Vertrauenswürdigkeit der Institution ab. Mehrere Faktoren können zu einer solchen Wahrnehmung beitragen. In Fällen von Rechtsinstitutionen wie Gerichten oder der Polizei, werden ihnen bestimmte Erwartungen an ihre Rollen und Pflichten zugeschrieben, basierend auf dem, was wir in der Schule, von Freunden oder durch die Berichterstattung in den Medien gelernt haben. Das Vertrauen in die Polizei kann daher als die Überzeugung der Bevölkerung gesehen werden, dass die Polizei gute Absichten gegenüber den Bürger*innen hegt und in bestimmten Situationen in bestimmter Weise handlungsfähig ist (Jackson et al. 2011). Eine weitere Informationsquelle ist die direkte Erfahrung mit institutionellen Vertretern (Giddens 1990). Polizeibeamte als Vertreter*innen der Polizei als Organisation oder Institution können daher den Vertrauensbildungsprozess beeinflussen.
Vertrauen in die Polizei im 21. Jahrhundert: Fairness in Interaktionen als Grundlage
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Vertrauen in modernen, komplexen Gesellschaften
Vertrauen gilt als Kitt, der eine moderne Gesellschaft zusammenhält (Simmel 1992). Dies umso mehr, seit Gesellschaften immer mehr an Komplexität gewinnen. Im Zuge der Modernisierung haben sich traditionelle Strukturen zugunsten individueller Freiheiten und Selbstbestimmung aufgelöst. In traditionellen Gesellschaften gaben klare Normen und Werte vor, was toleriert wurde und welches Verhalten als abweichend galt und somit Sanktionen bedurfte. Das zwischenmenschliche Vertrauen basierte auf einem geteilten Wissen über solche Normen und Werte. So wurde gewissen Menschen mehr vertraut als anderen, weil diese z. B. derselben Schicht entstammten und somit die gleichen Werte teilten. Solche Kategorisierungen sind zwar in der Moderne nicht ganz verschwunden. Eine Pluralisierung an Lebensstilen und damit einhergehend eine Fülle an Normen und Werten erschwert jedoch eine klare Einteilung der Menschen in Gruppierungen und verlangt somit nach anderen Formen der Orientierung bzw. anderen Quellen des Vertrauens. Vertrauen zielt auf Handlungsabsichten ab: Es impliziert, dass sich das Gegenüber in einer spezifischen, erwartbaren Weise verhält. Je mehr man also über das Gegenüber weiß oder zu wissen meint, desto besser kann deren Handlung eingeschätzt werden und desto größer ist das Vertrauen im Sinne von Erwartungen an die Handlung. Es wird folglich darauf vertraut, dass sich die andere Person in einer gewissen Weise verhalten wird. Hierbei spricht man von einem partikularen Vertrauen, wenn bekannten Personen wie Familienmitgliedern, Freunden oder Bekannten vertraut wird. Generalisiertes Vertrauen hingegen bezeichnet das Vertrauen in unbekannte Personen, zum Beispiel in Menschen, welchen man auf der Straße begegnet (Freitag und Traunmüller 2009). Überträgt man nun ein solches individuelles Vertrauen auf Institutionen und Organisationen, zeigen sich ähnliche Muster. Im Unterschied zum zwischenmenschlichen Vertrauen besteht jedoch das Problem, dass die Menschen meistens nur rudimentäres – oder zumindest unvollständiges – Wissen über eine Institution und deren Funktionieren haben. Auch hier zeigt sich mit der zunehmenden Komplexität von Gesellschaften eine gewisse Herausforderung. Dies betrifft auch die Polizei, deren Aufgabengebiete mit den Jahren stetig gewachsen sind. Dies führt zusammen mit einer Zentralisierung und der Privatisierung in der Sicherheitsindustrie zu einer Abnahme von klaren Vorstellungen seitens der Bevölkerung darüber, was die Polizei als Organisation ausmacht, für welche Themen sie zuständig ist und für welche eben nicht (oder nicht mehr). Wenn nun auch das Vertrauen in Institutionen an Handlungserwartungen geknüpft ist, welches auf Wissen über die Organisation basiert, scheint es wegen der zunehmenden Komplexität der Organisation schwieriger, ein Vertrauen in die Polizei aufzubauen (cf. Luhmann 2000). Als Sinnbild eines solchen Wandels gilt der Dorfpolizist. Diesen kannten nicht nur alle im Dorf persönlich, sondern die Vorstellungen über seine Rolle und Aufgaben waren klar: Er hatte für Ruhe und Ordnung zu sorgen, und bei Delikten wie einem Diebstahl oder einem Einbruch zu ermitteln. Mit dem Zusammenlegen von Polizeieinheiten verschwanden nicht nur
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immer mehr kleinere Polizeiposten, was die persönliche Beziehung zu den Menschen erschwerte (Schmoll 1990). Auch wuchsen die Aufgaben und klare Rollenvorstellungen verschwanden.
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Vertrauen als Prädiktor für Legitimität
Vertrauen in jemanden geht Hand in Hand mit der Vertrauenswürdigkeit derer, denen man vertraut und auf welche man sich erlässt. Folglich wird ein vertrauenswürdiger Akteur als fä hig und willens angesehen, die Verwundbarkeit des Vertrauen-Schenkenden nicht auszunutzen (Möllering 2006). Vertrauen bezieht sich also auf Erwartungen in zukünftigen Handlungen. Im Gegensatz dazu stehen bei Legitimität Aspekte von Moral und Gehorsamspflicht im Vordergrund. Institutionen wird Legitimität zugeschrieben, wenn ihre Regeln als richtig und verbindlich und die damit verbundenen Folgen als gerecht angesehen werden (Esser 2002). Ein weiterer Aspekt, welcher vor allem im Zusammenhang mit der Polizei zum Tragen kommt, ist die Bereitschaft zu gehorchen: Eine legitime Autorität wird akzeptiert, ihren Befehlen wird gehorcht (Sunshine und Tyler 2003; Weber 1980). Im Unterschied zu Vertrauen, welches sich auf positive Erwartungen in zukünftige Handlungen bezieht, geht es bei Legitimität also um die Anerkennung von gegenwärtigen Machtansprüchen (Bottoms und Tankebe 2012). In traditionellen und hierarchischen Gesellschaften bezog und bezieht die Polizei ihre Legitimität aus dem staatlichen Auftrag, für Recht und Ordnung zu sorgen, notfalls mit Gewalt. Dies kann nach wie vor in vielen Ländern der Welt beobachtet werden, wo der Polizei allein basierend auf einem bestehenden Machtunterschied (und der Furcht vor Repressionen) gehorcht wird. In modernen westlichen Demokratien jedoch muss die Polizei ihre Legitimität erwerben, indem sie gewisse Erwartungen seitens der Bevölkerung erfüllt. Ihre Legitimität ist in den Augen der Bevölkerung nicht mehr von vornherein gegeben, sondern muss etabliert und stets von Neuem unter Beweis gestellt werden (Beetham 2013). Dabei werden folgende zwei Eigenschaften genannt, welche die Polizei zu einer legitimen Institution machen (cf. Beetham 1991): Als Erstes wird überprüft, ob die Polizei die Macht im Rahmen der Gesetzte ausübt oder ob sie diese Macht missbraucht, was mit „Legalität“ bezeichnet wird. Die zweite Eigenschaft ist die Art und Weise, wie sie handelt, und ob das Handeln in der jeweiligen Situation als angemessen oder übertrieben eingestuft wird, z. B. im Rahmen einer Verkehrskontrolle. Darüber hinaus müssen die Regeln, welche ihr Handeln leiten, genau und verbindlich und das Ergebnis solcher Regeln fair sein (Sunshine und Tyler 2003; Hough et al. 2010). Neben diesen zwei Eigenschaften wird noch ein drittes Element erwähnt: Die Polizei wird als legitim angesehen, wenn sie als moralisch ähnlich wahrgenommen wird; wenn sie in den Augen der Bevölkerung die gleichen Werte teilt wie diese (Sunshine und Tyler 2003; Bradford 2014; Bradford et al. 2014). Sind diese Faktoren gegeben, führt die wahrgenommene Legitimität dazu, dass die Bevölkerung der Polizei – ihren Entscheidungen und Befehlen – gehorcht, und zwar auch dann, wenn diese nicht verstanden oder akzeptiert werden (Tyler 1998; Tyler und Huo 2002).
Vertrauen in die Polizei im 21. Jahrhundert: Fairness in Interaktionen als Grundlage
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Was ist Polizeivertrauen, welche Ebenen werden tangiert?
1. Organisation/Institution: • Vertrauen in die Polizei als demokratische Institution • Vertrauen in die Leistung der Polizei 2. Handlungsebene: • Vertrauen in Verfahrensgerechtigkeit: Faires, respektvolles Verhalten 3. Situative Komponente: • Form des Polizeikontaktes: Ort, Zeit, Anzahl und Merkmale der Beteiligten ◄
3
Erklärungsansätze
3.1
Vertrauen in die Leistung der Polizei
Ein erster Aspekt, welcher als Erklärung von Polizeivertrauen herangezogen werden kann, ist die wahrgenommene Leistung der Polizeiarbeit. Wird diese als gut eingeschätzt, ist das Vertrauen in die Polizei hoch und umgekehrt. Ein solcher Zusammenhang bestätigt sich über alle europäischen Länder hinweg (Staubli 2017). Grundsätzlich kann die polizeiliche Leistung anhand von zwei Modellen gemessen werden: anhand ihrer Effizienz in der Kriminalitätsbekämpfung und ihres Erfolges in der gemeindenahen Polizeiarbeit (cf. Neyroud 2008). Bei der Effizienz in der Kriminalitätsbekämpfung geht es generell darum, wie gut die Polizei in den Augen der Bevölkerung ihre Arbeit macht. Elemente des Erfolges der gemeindenahen Polizeiarbeit sind z. B. die wahrgenommene Hilfe und Unterstützung durch die Polizei in der Gemeinde, die Zufriedenheit mit der benötigten Zeit, um nach einem Notruf vor Ort einzutreffen, oder die Zufriedenheit mit der Präsenz der Polizei in den Straßen. Auch für die lokale Ebene gilt: Wird die Arbeit als zufriedenstellend wahrgenommen, wird der Polizei eher vertraut, als wenn die Menschen unzufrieden sind mit der polizeilichen Leistung (Staubli 2014).
3.2
Vertrauen in die Fairness der Polizei
Neben der wahrgenommenen Effizienz der Polizei spielt vor allem die wahrgenommene Fairness eine wichtige Rolle für das Vertrauen, welches die Bevölkerung der Polizei entgegenbringt. Der sozialpsychologische Ansatz der Verfahrensgerechtigkeit – im Engli-
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schen „procedural justice“ – stammt ursprünglich aus der Forschung zu Gerichtsprozessen. Hier wurde erkannt, dass Urteile vor allem dann akzeptiert werden, wenn diese als gerecht bewertet wurden, unabhängig davon, wie schwer das Urteil ausfiel. Darüber hi naus spielte aber nicht nur das Endergebnis (distributive Fairness), also das Urteil, eine Rolle, sondern auch die Wahrnehmung des Prozesses selber (prozedurale Fairness). Wurde dieser von den Angeklagten als gerecht beurteilt und hatten sie das Gefühl, dass sie respektvoll behandelt wurden, führte dies zu einer erhöhten Zufriedenheit und einer positiven Einstellung gegenüber den Gerichten (Tyler und Huo 2002). Später wurde dieser Ansatz in die Polizeiforschung übertragen. Hier bezieht sich die prozedurale Fairness auf das Verhalten seitens der Polizei in einer Interaktion mit der Bevölkerung und die distributive Fairness auf das Ergebnis, z. B. in Form eines Bußgelds. Diverse Studien bestätigen, dass Verfahrensgerechtigkeit eine wichtige Rolle spielt bei der Meinungsbildung über die Polizei, dem Vertrauen in diese und deren wahrgenommener Legitimität. Die Wahrnehmung der Polizei durch die Bevölkerung in einer Interaktion ist zentral: Wird das Verhalten von Polizeibeamt*innen als angemessen, neutral und fair bewertet, hat dies einen positiven Einfluss auf das Vertrauen in die Polizei. Wird das Verhalten der Polizei hingegen als respektlos, unfair und parteiisch eingestuft, wirkt sich das negativ auf das Vertrauen in die Polizei aus (Kääriäinen 2007). Es hat sich weiter gezeigt, dass sich negative Erfahrungen stärker auf das Vertrauen auswirken als positive (Frank et al. 2005; Jackson et al. 2011; Weitzer und Tuch 2005). Die Einschätzung der prozeduralen und distributiven Fairness wird in vielen Studien sogar als wichtiger eingestuft als die wahrgenommene polizeiliche Effizienz (Jackson und Bradford 2010; Sunshine und Tyler 2003; Tyler und Huo 2002). Weiter hat sich bestätigt, dass sich Verfahrensgerechtigkeit auch auf die wahrgenommene Wertschätzung auswirkt. Denn wenn Menschen sich von der Polizei fair behandelt fühlen, wird ihr Identifikationsgefühl mit der übergeordneten Gruppe, welche die Polizei repräsentiert, gestärkt, was wiederum die Legitimität der Polizei erhöht. Im Gegensatz dazu signalisiert eine unfaire Behandlung den Menschen, dass sie nicht dazugehören, was sowohl die Identifikation als auch die polizeiliche Legitimität untergräbt (Bradford et al. 2014). Die Begegnung mit einem negativen Polizeistil kann auch ein bereits bestehendes oder aufkeimendes Gefühl der Andersartigkeit und Entfremdung von der breiteren sozialen und politischen Gemeinschaft fördern (Bradford 2014). Solche Konzepte von wahrgenommener sozialer Identität wirken auch in konfliktiven Situationen, wie z. B. in der Auseinandersetzung mit gewaltbereiten Fußballfans. Die Wahrnehmung der Legitimität der Art und Weise, wie Fans kontrolliert werden, beeinflusst dabei nicht nur die Wahrnehmung der Polizei, sondern wirkt sich darüber hinaus auf die interne Dynamik der Fangruppe und die Art und Weise ihres kollektiven Handelns aus (Stott et al. 2014). Dies bedeutet für die Polizei, dass sie viel an Vertrauen in der Bevölkerung verlieren kann, wenn ihr Verhalten als unangemessen eingestuft wird, und nur wenig gewinnen bei einem positiv wahrgenommenen Verhalten. Es spielt jedoch eine Rolle, unter welchen Umständen es zu einer Interaktion zwischen der Polizei und der Bevölkerung kommt, ob zum Beispiel die Kontaktaufnahme von der Bevölkerung ausgeht oder durch die Polizei
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initiiert wird, z. B. im Rahmen einer Verkehrs- oder Personenkontrolle. Die Bevölkerung kontaktiert die Polizei, z. B. um ein Verbrechen zu melden, sei es als Opfer oder als Zeuge. Von Bedeutung ist hier der Kontext: Die Vorbedingungen eines positiven Kontaktes zwischen der Bevölkerung und der Polizei sind schwieriger in konfliktiven Situationen rund um Demonstrationen oder bei Auseinandersetzungen mit gewaltbereiten Fußballfans, während in anderen Situationen, z. B. bei Aufklärungskampagnen oder der Schulpolizei, wenig Konfliktpotenzial vorhanden ist.
3.3
Sicherheitsempfinden, Viktimisierung und soziodemografische Merkmale
Nicht nur situative Komponenten haben einen Einfluss auf den Ablauf und die Wahrnehmung von Polizeikontakten, sondern auch, mit was für Menschen es die Polizei zu tun hat. Solche Faktoren kann die Polizei zwar nicht beeinflussen, ein Bewusstsein darüber kann aber helfen, mit einem bestimmten Vorwissen in Interaktionen mit der Bevölkerung einzusteigen und diese somit besser einschätzen zu können. Zum einen hat sich gezeigt, dass das Vertrauen in Institutionen wie der Polizei in einem engen Wechselverhältnis mit sozialem Vertrauen steht. Soziales Vertrauen bezeichnet ein generelles Vertrauen in unbekannte Mitmenschen und gilt als wichtiger Grundpfeiler von Sozialkapital (Putnam 1995; Rothstein und Stolle 2002). Die Forschung bestätigt Zusammenhänge zwischen sozialem Vertrauen und Vertrauen in Institutionen wie der Polizei für diverse westliche Länder (Rothstein und Stolle 2008; Grönlund und Setälä 2012; Staubli 2016, 2017). In einer deutschen Studie konnte der Zusammenhang jedoch nicht bestätigt werden (Reuband 2012). Grundsätzlich zeigt sich, dass Personen, die ihren Mitmenschen wenig Vertrauen entgegenbringen, dieses Misstrauen auf die Polizei übertragen. Bislang konnte jedoch nicht abschließend festgestellt werden, welche Merkmale Menschen mit einem tiefen zwischenmenschlichen Vertrauen ausmachen. Es ist gut möglich, dass es sich hier um marginalisierte Gruppen, um Menschen am Rande der Gesellschaft handelt. Zum anderen werden Viktimisierungserfahrungen und das persönliche Sicherheitsempfinden als Einflussfaktoren für das Polizeivertrauen aufgeführt. Die Angst davor, Opfer einer kriminellen Handlung zu werden, geht mit einem tieferen Vertrauen in die Polizei einher (Weitzer und Tuch 2005; Kääriäinen 2007; Jackson et al. 2009; Kääriäinen und Sirén 2011). Weiter weisen Kriminalitätsopfer generell ein tieferes Vertrauen in die Polizei auf als Nicht-Opfer (Schwarzenegger 1992; Bradford 2011; Guzzi und Hirtenlehner 2015). Hier zeigt sich jedoch, dass das Verhalten der Polizei einen großen Einfluss auf das Polizeivertrauen haben kann. Es wurde festgestellt, dass insbesondere bei Sexualdelikten das Verhalten der Polizei eine wichtige Rolle spielt bezüglich eines nachhaltigen Eindruckes bei den Opfern, wenn diese an die Polizei gelangen. Zufriedenheit mit der Polizeiarbeit, das Gefühl, ernst genommen und auch angemessen informiert zu werden, führen zu einem hohen Vertrauen in die Polizei und deren Legitimität (Staubli 2017; Wolfe et al. 2015).
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Auch soziodemografische Merkmale wie Alter, Geschlecht, Bildung, ethnische Zugehörigkeit oder politische Orientierung stehen in Zusammenhang mit Polizeivertrauen. Studien haben gezeigt, dass Männer und ältere Menschen mit der Polizeiarbeit weniger zufrieden sind und ihr folglich tendenziell weniger Vertrauen entgegenbringen als Frauen und jüngere Menschen, wobei es hier Länderunterschiede gibt (Clerici und Killias 1999; Staubli 2014). Solche Zusammenhänge müssen aber mit Vorsicht betrachtet werden, da Männer und jüngere Personen generell mehr Kontakte mit der Polizei haben als Frauen, weil sie eher von der Polizei angehalten und kontrolliert werden (Bradford et al. 2009; Jackson et al. 2012). Bei der politischen Orientierung als Einflussfaktor von Polizeivertrauen hat sich gezeigt, dass Menschen, welche sich dem rechten politischen Spektrum zuschreiben, ein höheres Polizeivertrauen aufweisen als solche am linken Ende des Spektrums (Staubli 2014, 2016). Ein spezifisches Augenmerk gilt der Herkunft: Ob Nationalität oder ethnische Zugehörigkeit eine Rolle spielt, hängt stark vom Kontext ab. Studien aus den USA stellen einen negativen Zusammenhang zwischen ethnischen Minderheiten und dem Polizeivertrauen fest (Weitzer 2010). In Europa wurde ein solcher Zusammenhang mit einem tieferen Vertrauen von Minderheiten in die Polizei für Frankreich nachgewiesen (Roché 2008; Roché et al. 2018), nicht jedoch für Deutschland (Roché et al. 2018) und die Schweiz (Clerici und Killias 1999; Staubli 2014). Auch in diesem Zusammenhang gilt es, Erfahrungen mit der Polizei mitzuberücksichtigen, welche Merkmale der Herkunft überlagern können. So konnte für Großbritannien und Frankreich nachgewiesen werden, dass Minoritäten häufiger von der Polizei kontrolliert werden (Jackson et al. 2012; de Maillard et al. 2018). Auch hat eine neuere Studie gezeigt, dass die Wahrnehmung der polizeilichen Legitimität mit der Integration zusammenhängt: Migrant*innen, welche als Erwachsene einwanderten, betrachteten die Polizei häufiger als legitime Macht, während eine tiefere Legitimität der Polizei mit einer schlechteren wirtschaftlichen und politischen Integration einhergeht (Bradford et al. 2018). Welche Faktoren haben einen positiven Einfluss auf das Polizeivertrauen?
Operativ: Zufriedenheit mit Polizeikontakten; gilt besonders für Viktimisierungsopfer Situativ: Gefühl, dass die Polizei dieselben Werte vertritt wie die Bevölkerung Exogen: Generelles Vertrauen in die Mitmenschen ◄
4
Polizeivertrauen in Europa: Ein Überblick
Betrachtet man das Vertrauen in die Polizei in Europa, so zeigen sich klare Muster: Die höchsten Vertrauenswerte können für skandinavische Länder wie Finnland oder Dänemark nachgewiesen werden. Auf der anderen Seite der Skala (mit Werten von 1 bis 10) befinden sich osteuropäische Länder wie Bulgarien (Abb. 1). Daten des European Social
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Finland Denmark Norway Iceland Austria Switzerland Germany Estonia Netherlands Sweden Spain Italy United Kingdom Belgium France Hungary Lithuania Ireland Portugal Slovenia Czechia Poland Latvia Cyprus Croatia Slovakia Montenegro Serbia Bulgaria
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8.1 8.0 7.6 7.6 7.4 7.4 7.1 7.0 7.0 7.0 6.8 6.6 6.6 6.5 6.5 6.4 6.3 6.3 6.2 6.1 5.9 5.8 5.6 5.3 5.2 5.2 5.0 5.0 3.8
0.0
1.0
2.0
3.0
4.0
5.0
6.0
7.0
8.0
9.0
Abb. 1 Polizeivertrauen in Europa 2018 (Mittelwerte der Skala 0–10)
Surveys1 aus dem Jahr 2010 erlauben es zudem, über die generelle Frage nach dem Vertrauen in die Institution Polizei hinauszugehen und zu analysieren, wie das Vertrauen in die Effektivität der Polizei sowie deren prozedurale Fairness über die europäischen Länder hinweg verteilt ist (Abb. 2).
Der European Social Survey ist eine alle zwei Jahre stattfindende, länderübergreifende Erhebung mit einer Beteiligung von über 30 Ländern. Als Grundlage dient eine schriftliche Bevölkerungsbefragung. In jeder Runde wird neben den Standardfragen in einem Vertiefungsmodul ein bestimmtes Thema behandelt. Im Jahr 2010 ging es um das Vertrauen in die Justiz, in Gerichte und die Polizei. 1
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Finland Denmark
3.1
3.9
7.7
Norway
3.0
4.0
8.0
7.2
3.7
2.9
Switzerland
7.0
3.9
2.9
Sweden
7.0
3.8
2.9
Germany
6.9
3.8
2.9
Ireland
3.0
3.7
6.5
Netherlands
6.3
United Kingdom
6.2
3.7
Estonia
6.2
3.6
2.7
3.7
2.8
Belgium
6.0
France Hungary
5.1
3.3
Slovenia
5.0
3.5
Czech Republic
4.9
Slovakia
4.5 4.4
Bulgaria 2
2.7 2.6 2.6 2.6
3.1
2.7
3.5 2.4
3.4
4
2.6
3.4
3.9
0
2.6
3.3
4.5
Croatia
2.5
3.5
5.4
Lithuania
2.9
3.6
5.6
Poland
2.8
3.4
6
Vertrauen in Institution (0-10)
8
10
12
14
16
Vertrauen in Polizeiarbeit (1-5)
Vertrauen in prozedurale Fairness (1-10)
Abb. 2 Polizeivertrauen, Vertrauen in Polizeiarbeit und prozedurale Gerechtigkeit in Europa 2010 (Mittelwerte)
Vergleicht man die einzelnen Variablen miteinander – unter Berücksichtigung der zugrunde liegenden Skalen –, werden Unterschiede zwischen dem Institutionenvertrauen und dem Vertrauen in die Polizeiarbeit ersichtlich: Ein im Vergleich zum Institutionenvertrauen tieferes Vertrauen in die Arbeit der Polizei lässt sich innerhalb Westeuropas in Norwegen und den Niederlanden erkennen. Unter den osteuropäischen Ländern gilt das Gleiche für Ungarn, während Kroatien und Bulgarien im Vergleich zu ihrem Rang beim Institutionenvertrauen ein höheres Vertrauensniveau aufweisen. Estland rangiert aufgrund seines höheren Institutionenvertrauens höher als Belgien und Frankreich. Weiter zeigt sich
Vertrauen in die Polizei im 21. Jahrhundert: Fairness in Interaktionen als Grundlage
179
im Vergleich der Mittelwerte, dass ein hohes Vertrauen in die Institution Polizei nicht zwangsläufig mit einem hohen Vertrauen in die Polizeiarbeit einhergeht und umgekehrt. Weniger deutliche Unterschiede zeigen sich beim Vergleich zwischen dem Institutionenvertrauen und dem Vertrauen in die prozedurale Fairness. Insgesamt lässt sich sagen, dass die westeuropäischen Länder bei allen Vertrauens- und Einstellungselementen an der Spitze der Skala angesiedelt sind, während die osteuropäischen Länder am Ende der Skala rangieren, mit Ausnahme von Estland. Fazit Die Polizei als staatliches Gewaltmonopol hat die Aufgabe, in der Gesellschaft für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Rechtlich gesehen bezieht sie ihre Legitimität alleine durch diesen Auftrag. Um diesen zu erfüllen, ist sie jedoch auf die Unterstützung durch die Bevölkerung angewiesen. Denn erstens ist es in komplexen modernen Gesellschaften fast nicht mehr möglich, alle Winkel und Ecken zu überwachen, sei dies im „physischen“ Raum der Dörfer und Städte oder im „virtuellen“ Raum von Internet, sozialen Medien und sozialen Netzwerken. Zweitens führen plurale Normen und Werte zu ganz unterschiedlichen Ansichten und Handlungsanleitungen im täglichen Leben. Auch Institutionen und Organisationen werden immer komplexer und schwerer durchschaubar. Für die Bevölkerung bedeutet dies, dass sie wenig fundiertes Wissen über die Polizei besitzt und diese anhand von Medien- und Erfahrungsberichten, aber auch eigenen Erfahrungen bewertet. Bringt sie der Polizei als staatliche Institution grundsätzlich Vertrauen entgegen, können individuelle Erfahrungen in Interaktionen mit der Polizei prägende Erlebnisse sein, die sich negativ auf das Vertrauen auswirken. Erwartungshaltungen werden somit weniger an Organisationen und Institutionen als solche geknüpft, sondern an deren Vertreter*innen. Daraus folgt auf der einen Seite, dass das Image und die Wahrnehmung der Polizei durch ein positives Verhalten aufgebessert werden können. Auf der anderen Seite führt ein als negativ wahrgenommenes Verhalten aber auch zu Unzufriedenheit und Misstrauen gegenüber der Polizei als Institution oder Organisation. Die Polizei wiederum steht vor der Aufgabe, sich mit einer von Diversität geprägten und somit ganz unterschiedlichen Klientel auseinanderzusetzen, was zu Unsicherheiten führen kann. Hier kommt das Vertrauen ins Spiel. Die Forschung hat gezeigt, dass die Polizei als legitime Macht und Autorität wahrgenommen wird, wenn sie das Vertrauen der Menschen besitzt; ein Vertrauen darin, dass die Polizei ihre Arbeit angemessen und effizient erledigt, aber auch, dass sie sich korrekt und fair verhält. Menschen, die der Polizei grundsätzlich Vertrauen entgegenbringen, verhalten sich eher kooperativ und folgen deren Anweisungen. Dies erleichtert die Polizeiarbeit enorm und führt außerdem dazu, dass Delikte eher angezeigt werden (Tyler und Fagan 2008). Darüber hinaus steht Polizeivertrauen in engem Verhältnis mit dem Vertrauen in Nachbarschaften, was die informelle Sozialkontrolle fördert (Hecker und Starcke 2017). Und dies kommt wiederum der Polizeiarbeit und der Bekämpfung von Kriminalität entgegen.
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Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Die Polizei wird trotz der Pluralisierung ihrer Aufgaben und der stärkeren Nachfrage nach privaten Sicherheitskräften nach wie vor als eine zentrale staatliche In stitution gesehen, welche Kriminalität zu bekämpfen und die Bevölkerung zu schützen hat. Dies alleine reicht allerdings nicht mehr aus, um als legitimierte Autorität mit einem Monopol zur Gewaltausübung wahrgenommen zu werden. Mehr denn je wird die Polizei und ihre Arbeit von der Öffentlichkeit beobachtet und mögliches Fehlverhalten registriert. Dies hat mit der Verfügbarkeit von Mobiltelefonen und den sozialen Medien zu tun. Viel wichtiger ist jedoch, dass ein kritisches Denken und Hinterfragen von staatlichen Autoritäten zu einem zentralen Merkmal moderner Gesellschaften geworden sind. Es gilt deshalb, dass sich die Polizei um Legitimität und Vertrauen seitens der Bevölkerung bemühen muss. Entscheidend ist hierbei, dass die Mehrheit der Bevölkerung hauptsächlich die Polizeiarbeit auf der Straße wahrnimmt und geprägt wird durch persönliche Polizeikontakte, sei dies auf der Straße oder auf der Polizeiwache. Ein korrektes Verhalten trägt dazu bei, Vertrauen aufzubauen und zu stärken. Dabei ist es hilfreich, wenn die Werte der Polizei als in Übereinstimmung mit den Werten der Bevölkerung wahrgenommen werden. Dies kann unter anderem dadurch erreicht werden, indem die Pluralität der Bevölkerung in der Polizei gespiegelt wird, z. B. durch eine angemessene Verteilung der Geschlechterverhältnisse, aber auch durch den Einbezug von Polizist*innen mit Migrationshintergrund. Es gilt folglich, Kriterien zu entwickeln oder bestehende Kriterien zu überprüfen, welche eine solche Durchmischung bei der Rekrutierung angehender Polizist*innen garantieren. b) Einsatzkräfte Ein Hauptziel der polizeilichen Ausbildung ist die Befähigung, sich Kriminellen jeglicher Art entgegenzustellen und somit Kriminalität wirksam zu bekämpfen. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass bei einer Vielzahl von Kontakten – sei dies in Routine- oder Verkehrskontrollen oder bei Anzeigen von Delikten – die Bevölkerung im Zentrum steht. Umso wichtiger ist ein gegenseitiger respektvoller Umgang. Vor dem Hintergrund des Ansatzes der Verfahrensgerechtigkeit wird klar, dass Polizist*innen positive Voraussetzungen für jegliche Art von Interaktionen schaffen können: Ein angemessenes, respektvolles und faires Verhalten wie z. B. eine freundliche Begrüßung oder eine Erklärung darüber, weshalb kontrolliert wird, hilft dabei. Auch Kontrollsituationen mit möglichem Konfliktpotenzial können so neutral gestaltet werden, was sich deeskalierend auswirken kann. Um diesen Ansatz zu ver-
Vertrauen in die Polizei im 21. Jahrhundert: Fairness in Interaktionen als Grundlage
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innerlichen, wird ein Kommunikationstraining empfohlen, bei dem die Wirkungsweise von positiver wie negativer Kommunikation aufgezeigt wird. c) Einsatztrainer*innen Das Verhalten von Polizeikräften bei Kontrollen ist nicht nur entscheidend, um das Vertrauen der kontrollierten Personen zu gewinnen, sondern trägt darüber hinaus auch zu einer nachhaltigen Prägung des Vertrauens in die Polizei bei. Ein höfliches und respektvolles Auftreten seitens der Polizei ist deshalb wichtig. Hierbei gilt es zu beachten, dass die kontrollierten Personen eine Vorgeschichte oder zumindest ein bereits bestehendes Bild über die Polizei mitbringen. Dieses kann positiv oder negativ sein, geprägt von eigenen Erfahrungen, von Erfahrungen, die Familienmitglieder oder Freunde gemacht haben, oder durch Medienberichte. Ein negatives Verhalten seitens der Polizei kann negative Bilder verstärken oder positive zerstören. Gerade bei Hilfe suchenden Personen wie Kriminalitätsopfern hat sich gezeigt, dass die Zufriedenheit mit einem Polizeikontakt maßgeblich zu einem hohen Vertrauen in die Polizei beiträgt. Ein solches Vertrauen ist in der heutigen Zeit mit komplexen Gesellschaften essenziell; wo früher eine Kontrolle der öffentlichen Räume zur Kriminalitätsreduktion oder -verhinderung beigetragen hat, ist heute eine nahtlose Überwachung aller öffentlichen (und privaten) Räume – trotz modernster Technologien – kaum mehr möglich. Die Polizei ist mehr denn je auf die Kooperation der Bevölkerung angewiesen. Menschen, die der Polizei vertrauen und diese als legitim betrachten, kooperieren eher mit der Polizei als Personen, die der Polizei misstrauisch begegnen. Es wird deshalb zum einen empfohlen, den Polizeikräften Wissen über die Pluralität der Gesellschaft mitzugeben, um in Situationen adäquat handeln zu können. Zum anderen muss ein Bewusstsein geschaffen werden, dass die Wahrnehmung der Polizei in Interaktionen entscheidend ist für die Vertrauensbildung seitens der Bevölkerung. Respektvolles und faires Verhalten sollten hierbei als Grundlage dienen.
Literatur Beetham, D. (1991). The legitimation of power. London: Macmillan. Beetham, D. (2013). Revisiting legitimacy, twenty years on. In J. Tankebe & A. Liebling (Hrsg.), Legitimacy and criminal justice: An international exploration. Oxford: Oxford University Press. Bottoms, E. A., & Tankebe, J. (2012). Beyond procedural justice: A dialogic approach to legitimacy in criminal justice. Journal of Criminal Law and Criminology, 102(1), 119–170. Bradford, B. (2011). Convergence, not divergence? Trends and trajectories in public contact and confidence in the police. British Journal of Criminology, 51(1), 179–200. Bradford, B. (2014). Policing and social identity: Procedural justice, inclusion and cooperation between police and public. Policing and Society, 24(1), 22–43.
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Autorität auf dem Prüfstand – wie Modernisierungserscheinungen die Polizei herausfordern Susanne vom Hau
Inhaltsverzeichnis 1 D ie Polizei im Spannungsfeld gesellschaftlicher Modernisierungserscheinungen zwischen Autoritätsverlust und Gewalt 187 1.1 Verteidigung individueller Autonomie 188 1.2 Anspruch auf Gleichbehandlung 190 1.3 Kampf um Anerkennung 191 2 Ist Autorität noch zeitgemäß? 192 3 Sozialverträgliche Polizeiautorität zwischen Anspruch und Wirklichkeit 194 Literatur 201
Zusammenfassung
Gesellschaftliche Veränderungen belasten heute spürbar das Verhältnis zwischen Polizei und Bürger. Unter den Lebensbedingungen der Individualisierung haben sich neue Einstellungen und Verhaltensdispositionen herausgebildet, die das Konfliktpotenzial im Polizeidienst deutlich erhöhen. Es sind vor allem drei wesentliche Einstellungsveränderungen, die heute den Selbst- und Weltbezug des spätmodernen Menschen bestimmen und ein zunehmend aggressives Sozialverhalten bewirken: die Forderung von nahezu uneingeschränkter Selbstbestimmtheit, die Ablehnung von Über- und Unterordnungsverhältnissen Reviewer*innen: Thomas Veltes, Hubert Vitt S. vom Hau (*) Fachgebiet VIII – Sozialwissenschaften und Fremdsprachen, Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz, Hahn-Flughafen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_10
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infolge geringer Machtdistanz und das kämpferische Streben nach Anerkennung und Wertschätzung. Infolge dieser Veränderungen nimmt die Akzeptanz polizeilicher Autorität ab. Die Polizei steht vor der Aufgabe, adäquate Deeskalationstrategien zu entwickeln, um auf diese gesellschaftlichen Herausforderungen reagieren zu können. Statt den Autoritätsanspruch ganz aufzugeben, sollte Autorität als soziale Beziehungsform zwischen Polizei und Bürger durch Kommunikations- und Verhaltensanpassungen einer Modernisierung unterzogen werden.
Autorität gilt in der modernen Gesellschaft als antiquiert. Autorität einzufordern sei heute ein Tabu und gelte als gefährlich, so stellt der Soziologe Richard Sennett (2012, S. 14) fest. Als „Ziel von Wünschen ist sie undenkbar geworden. Die moderne Vorstellung von Autorität gleicht dem Sexualtabu des 19. Jahrhunderts“ (Sennett 2012, S. 14). Diese mit den Erfahrungen im Nationalsozialismus einhergehende veränderte Einstellung zur Autorität macht sich spätestens seit der 68er-Bewegung in nahezu allen sozialen Lebensbereichen bemerkbar und erschwert heute insbesondere den Streifendienst der Polizei. Der allgemeine Trend zu respektlosem Verhalten gegenüber der Polizei, der oft gepaart mit hoher Gewaltbereitschaft ihrer Klientel einhergeht, wird für die sich häufenden Eskalationen im Streifendienst verantwortlich gemacht und in Medienberichten vor allem als Autoritätsverlust der Polizei gedeutet.1 Trotz der allgemein verbreiteten Ablehnung von Autorität bleibe aber doch – so erklärt Sennett weiter – das Bedürfnis nach Autorität elementar (vgl. Sennett 2012, S. 19). Mit ihr verbinde sich eine Vorstellung von Stärke, die einerseits Orientierung, Geborgenheit und Stabilität verspreche, andererseits aber auch die Furcht vor Missbrauch einflöße, wenn sie destruktiv eingesetzt wird. In dieser Ambivalenz sind auch die allgemein mit dem Berufsbild Polizei verbundenen Autoritätsansprüche und deren fehlende Akzeptanz seitens des Bürgers zu betrachten. Einerseits herrscht die Auffassung, dass Autorität zur Erfüllung der polizeilichen Aufgaben notwendig sei: Um gegen Kriminalität erfolgreich zu sein, müsse mit Autorität vorgegangen werden, so antworteten im Jahr 2010 über 75 % der vom Institut für Demoskopie Allensbach Befragten.2 Andererseits können solche a utoritätsbejahenden Um nur einige Beispiele zu nennen: In Nordrhein-Westfalen wurde die Kampagne „NRW zeigt Respekt“ ins Leben gerufen. „Polizei in der Krise – Autoritätsverlust Überlastung und Gewalt“ lautet ein Beitrag im SWR2 von Jana Lange. Mit dem Aufruf „Respekt jetzt. Mehr Respekt und Wertschätzung für die Polizei“ macht die neue Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz auf Autoritätsprobleme der Polizei aufmerksam. Der Vize-Chef der GdP in NRW, Michael Maatz, erklärte jüngst gegenüber der DPA: „Die Gesellschaft wandelt sich, Respekt geht verloren. Darauf müssen wir uns als Polizei einstellen“ (Maatz 2019). 2 Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach von 2010 ist die überwiegende Mehrheit der 1845 Befragten der Meinung, bei der Bekämpfung des Drogenhandels (85 %), im Umgang 1
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Umfrageergebnisse aber auch nicht als Zeichen dafür gewertet werden, dass die Krise der Autorität und der mit ihr einhergehende Autoritätsverlust der Polizei nun überwunden ist. In den Begegnungen der Polizei mit dem Bürger kommt zunehmend mehr Ablehnung polizeilicher Autorität statt Akzeptanz zum Ausdruck. Wenn es richtig ist, dass in der Gesellschaft tatsächlich noch das Bedürfnis nach Autorität verbreitet ist, dann ist dieses Bedürfnis offenbar mit dem Wunsch nach einer anderen oder besseren Autorität verknüpft. Und in der Tat sind heute nicht nur Pädagogen, sondern auch Führungskräfte von Unternehmen und Organisationen auf der Suche nach einer „Neuen Autorität“, die in den ehemaligen Wirkungsstätten von Autoritäten, allen voran im Elternhaus, in der Schule und in Unternehmen die Funktionen der alten Autorität übernehmen soll.3 Ein Überblick über die gesellschaftlichen Ursachen dieser Entwicklung soll Aufschluss darüber geben, ob das Festhalten an Autorität bzw. ihre Wiederbelebung oder Neukonzeption auch für die Organisation Polizei und insbesondere als Deeskalationsstrategie im Streifendienst Erfolg versprechend sein kann. Zunächst sollen aber die wichtigsten relevanten Einstellungs- und Verhaltensänderungen infolge des sozialen Wandels in ihrer Konfliktträchtigkeit für die polizeiliche Arbeit aufgezeigt werden, um dann vor diesem Problemhorizont die Tragweite sogenannter alter und neuer Autorität zu beleuchten.
1
ie Polizei im Spannungsfeld gesellschaftlicher D Modernisierungserscheinungen zwischen Autoritätsverlust und Gewalt
Individualisierung, Fragmentierung und Singularisierung sind moderne Begriffe, mit denen gesellschaftliche Veränderungsprozesse gegenwärtig bezeichnet werden. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie den Fokus auf soziale Auflösungsprozesse und ihre Desintegrationserscheinungen richten. Bei der Suche nach Erklärungen sind Zeiträume zu berücksichtigen, die weit ins vergangene Jahrhundert zurückreichen und von dem Soziologen Ulrich Beck mit einer Gewinn- und einer Verlustseite beschrieben werden. Bindung und Zugehörigkeit in der alten Ständegesellschaft wurden gegen die individuelle Freiheit in der Moderne eingetauscht. Seit der Herauslösung aus traditionalen Lebensformen und Orientierungsmustern sind mittlerweile die Schattenseiten der Individualisierung spürbar geworden. Sie werden erst in der spätmodernen Welt als ein Verlust an traditionalen Sicherheiten „im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen“ (Beck 1986, S. 206) virulent. Sinnverlust, Werteverfall, Auflösung von Rollenmustern und Desintegration überschatten die gewonnenen Freiheiten. Diese Hypotheken belasten das freigesetzte Individuum in seinem Bemühen, sich selbst Orientierung zu geben. Denn die Freiheitschancen sind „riskante Freiheiten“ (Ulrich Beck). Lebenswege sind nicht mehr mit Straftätern (78 %) und bei der Verfolgung von Verkehrssündern (72 %) u. a. müsse mit mehr Autorität vorgegangen werden. Vgl. dazu Petersen (2011, S. 55). 3 Vgl. z. B. Omar und von Schlippe (2010); Baumann-Habersack (2017); Körner et al. (2019).
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ausgeschildert. Sie folgen nicht mehr gewohnten Pfaden. Die „Bastel- und Drahtseilbiografien“ (Ulrich Beck) sind gleichsam Feldversuche, die gelingen oder misslingen können. Die selbst gewählten Lebensentwürfe können an der Berufs- oder an der Partnerwahl scheitern, an enttäuschten Karrierehoffnungen, an einem unerfüllten Kinderwunsch oder an Konjunkturlagen, die den subjektiven Glücksvorstellungen im Weg stehen. „Nachdenken, Überlegen, Planen, Abstimmen, Aushandeln, Festlegen, Widerrufen (…): Das sind die Imperative der ‚riskanten Freiheiten‘, unter die das Leben mit Fortschreiten der Moderne gerät“ (Beck und Beck-Gernsheim 1994, S. 18). Diese hier nur skizzierten risikoreichen Veränderungen werden von den Individuen unterschiedlich verarbeitet. Mit der Freisetzung ist eine soziale Wirklichkeit entstanden, die Einheitlichkeit durch Vielfalt ersetzt hat. In einer von Diversity geprägten Gesellschaft kann das Selbstverständnis des Einzelnen nicht mehr aus der Erfahrung von Gemeinsamkeit mit anderen, sondern durch Abgrenzung und Verschiedenheit erwachsen. Statt Ähnlichkeit gelten heute Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit als erstrebenswert. Nicht nur die Lebensgestaltung, auch die darin zum Ausdruck kommenden Werthaltungen spiegeln das Streben nach individueller Selbstverwirklichung und -entfaltung wider. Im sozialen Umgang und auch im Verhalten des Bürgers gegenüber der Polizei darf nicht mehr vorausgesetzt werden, dass noch allgemeine Werte und Wertungen von allen geteilt werden und als allgemein verbindlich gelten. Schon die Vorstellungen darüber, was als normal bzw. als durchschnittlich zu gelten hat, unterscheiden sich, sodass Einheitlichkeit auch bei der Frage, welche Abweichungen vom Standard zu sanktionieren sind, nicht mehr zu erzielen ist. Das Leben verläuft nicht mehr in Alltagsroutinen und Selbstverständlichkeiten. Wenn das Aufeinandertreffen von Menschen aber ungeregelt abläuft, fehlt die für die Verständigung notwendige Verhaltenssicherheit. Die Akteure können ihre jeweiligen Erwartungen nicht mehr aufeinander abstimmen. Gegenseitiges Unverständnis ist die Folge. Im Bemühen, die eigenen Sichtweisen zu verteidigen, nimmt das Konfliktpotenzial im Alltag zu. Der Austausch von Meinungen geschieht inzwischen nicht mehr konsensorientiert und vielfach ohne Einhaltung einfacher Kommunikationsregeln. Neben diesen allgemeinen Tendenzen sollen im Folgenden drei Einstellungs- und Verhaltensdispositionen hervorgehoben werden, die gegenwärtig schon im Streifendienst der Polizei auffällig sind und künftig die Polizeiarbeit vor neue Herausforderungen stellen werden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden die drei Modernisierungserscheinungen in der Betrachtung künstlich getrennt, obwohl sie sich in ihrer Entstehung und Wirkung gegenseitig bedingen und verstärken.
1.1
Verteidigung individueller Autonomie
Für die Nachkriegsgenerationen ist Freiheit etwas Selbstverständliches. Sie leben in dem Bewusstsein, es gebe ein angeborenes Recht auf Autonomie und Selbstverwirklichung (vgl. Strenger 2017, S. 24). Die Wahlfreiheit in Ausbildung und Beruf, in der Partnerwahl, dem Lebensstil, den Freizeitangeboten ist nahezu unüberschaubar. Und es scheint nur vom Ein-
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zelnen abzuhängen, dass, was möglich ist, auch wirklich werden zu lassen. Inzwischen hat sich aber gezeigt, dass dieses Freiheitsversprechen, das zum Inbegriff der gesellschaftlichen Individualisierung geworden ist, nur bedingt in Erfüllung geht. Zwar darf jeder nach eigenen Vorstellungen für sich selbst entscheiden, wie er sein Leben gestalten möchte, in der Lebenspraxis drohen jedoch neue institutionelle Anforderungen und Zwänge, welche die individuellen Handlungsoptionen erheblich einschränken. Zwischen dem subjektiven Bewusstsein und den objektiven Lebenslagen (vgl. Beck 1986, S. 206), also zwischen Anspruch und Wirklichkeit, machen sich die Ambivalenzen und Widersprüche der Individualisierung bemerkbar. Die Chancen auf Selbstverwirklichung sind vom Arbeits- und Konsummarkt, von Bildungseinrichtungen, sozial-rechtlichen Reglungen usw. abhängig. Die Erkenntnis, dass Freiheit auch in der individualisierten Gesellschaft nicht grenzenlos ist, ist nicht neu, als erklärungsbedürftig erscheint allerdings, warum Freiheitsbeschneidungen früher duldsam und klaglos hingenommen wurden, während sie heute als Zumutung empfunden und abgewehrt werden. Ein Grund dafür könnte sein, dass Zwänge oder Freiheitseinschränkungen heute als ein Unrecht erlebt werden. Das würde erklären, warum sie immer häufiger zum Protest und sogar zu gewaltsamer Gegenwehr veranlassen.
Berechtigungsmentalität Die Reaktionen auf Zwänge und Schranken der Selbstentfaltung sind vielfältig. In der westlichen Welt scheint aber Einigkeit darüber zu bestehen, dass es Aufgabe der Gesellschaft oder des Staates ist, die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu gewährleisten, erklärt der Schweizer Psychologe Carlo Strenger (2017, S. 24). Die Meinung, dass die freiheitliche Ordnung etwas sei, das ‚die Gesellschaft‘ den Menschen im Westen schuldig sei, entspricht – so Strenger weiter (2017, S. 25, 44) – einer heute weitverbreiteten „Berechtigungsmentalität“. Damit verbunden seien einerseits die Auffassung, dass alle Probleme und Schwierigkeiten „von irgendeiner Instanz“ beseitigt werden können, und andererseits der berechtigte Wunsch, „sich selbst zu verwirklichen sowie glücklich und erfolgreich zu sein“ (Strenger 2017, S. 25 f.). Da sich dieser Anspruch aber nur für eine Minderheit erfüllen lasse, wird er zu einer „Quelle des Unglücks“ (Strenger 2017, S. 26) und provoziert offenbar zum Kampf um die eigene Autonomie. Zur Berechtigungsmentalität, die egoistische Werte bevorzugt, gehört außerdem die Überzeugung, dass jeder auf sich gestellt ist und ‚sehen muss, wo er bleibt‘. achsende Gewaltbereitschaft zur Verteidigung der Selbstbestimmtheit W Menschen sind heute offenbar weniger bereit, Einschränkungen der persönlichen Autonomie als allgemeine und unabänderliche, gleichsam schicksalhafte Bedingungen hinzunehmen, denen menschliches Leben unterworfen ist. Einbußen der Selbstständigkeit werden seltener als Verhängnis, sondern häufiger als willentliche Bedrohung der Selbstbestimmtheit gedeutet. Eine solche liegt vor, wenn „ein anderer Mensch jemandem seinen Willen aufnötigt und dazu zwingt, das zu tun, was er verlangt“ (vgl. Gerhardt 1999, S. 80). Nach der Logik der Berechtigungsmentalität scheint in solchen Fällen erlaubt, die Autonomie gegen den Willen des anderen und z. B. auch gegen den Willen der Polizei notfalls mit Gewalt zu verteidigen.
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Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach von 2019 gaben 81 % der 30–59-jährigen Befragten an, dass die Aggressivität in der Gesellschaft steigt. Mit rücksichtlosem und aggressivem Verhalten sahen sich die Befragten im Straßenverkehr, auf öffentlichen Plätzen, in öffentlichen Verkehrsmitteln und auch im Internet konfrontiert (Institut für Demoskopie Allensbach 2019).4 Es ist offenbar eine Spätfolge des Individualisierungsprozesses, dass in der Verteidigung des Rechts auf Selbstbestimmung die Aggressivität zunimmt (vgl. vom Hau 2019). Der verloren gegangene Gemeinsinn hat außerdem eine Distanz zwischen den Individuen geschaffen, die von Rücksichtnahme aufeinander zu entbinden scheint. Mit seiner Alleinstellung hat sich das Individuum von den anderen abgewandt und richtet nun seine Aufmerksamkeit und Sorge ausschließlich auf sich selbst. Und ebenso selbstbezogen begegnen ihm in der ‚Ego-Gesellschaft‘ auch seine Mitmenschen. Im Kampf um Selbstbehauptung treten sie als Konkurrenten gegeneinander an. Bei Begegnungen werden dann schon geringfügige Interessenkollisionen als Beeinträchtigung der Selbstentfaltung oder Bedrohung des Selbstwertes überinterpretiert. In dieser Hab-Acht-Stellung wächst die Bereitschaft, mit allen Mitteln die eigene Autonomie zu verteidigen. Sobald sich der Einzelne durch fremde Interessen eingeengt fühlt, kommt es zu Überreaktionen, die sich über Beleidigungen, Demütigungen bis hin zu Gewaltausbrüchen hochschaukeln können. Die mit der Wahrung von Sicherheit und Ordnung beauftragten Institutionen, die für den geregelten Umgang zwischen Menschen sorgen sollen, trifft die Ellenbogenmentalität und die mit ihr verbundene aggressive Grundstimmung oft mit unverminderter Wucht. Das gilt für Rettungs- und Sicherheitskräfte, aber besonders für die Polizei, die zu erheblichen Grundrechtseingriffen befugt ist. Aus Sicht von Beschuldigten stellt der, z. B. bei Durchsuchung und Fesselung notwendige, Körperkontakt eine Ausnahmesituation dar, wobei der vorübergehende Verlust der Autonomie von den ego-zentrierten Individuen nicht wie früher als eine zu erduldende und von einem Wertekonsens geschützte gesellschaftliche Kondition hingenommen, sondern als das unzulässige Aufnötigen eines fremden Willens erlebt wird. Aus der subjektiven Sicht des Beschuldigten berechtigen ihn Freiheitseinschränkungen grundsätzlich zur Selbstverteidigung. Diese „reaktive Gewalt“ (Fromm 1979, S. 20) erwächst nicht aus dem Willen zu zerstören, sondern dient dann der Selbstbehauptung.
1.2
Anspruch auf Gleichbehandlung
Ähnliche Verhaltenstendenzen sind auch bei der Verteidigung des Grundrechts auf Gleichbehandlung zu beobachten. Und schon bei subjektiv empfundenen Verletzungen dieses Rechts kommt es zu ähnlich unangemessenen Reaktionen. Ungleichbehandlung wird mit Geringschätzung, aber auch mit Freiheitseinschränkung assoziiert. Inzwischen hat sich der Wahlspruch der Aufklärung, dass alle Menschen gleich sind, verselbstständigt und eine neue Kraft entfaltet, die sich gegen Ungleichheitsformen in vielen sozialen Bereichen Vgl Köcher 2019. (Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach).
4
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wendet. Auch die in der Gesellschaft bestehenden Machtverhältnisse haben sich verändert. In den westlich geprägten Gesellschaften zeichnen sie sich heute durch eine „geringe Machtdistanz“ (Hofstede 2010) aus. Das heißt: Ungleichheiten, die aus bestehenden Machtkonstellationen resultieren, werden nur dann akzeptiert, wenn sich Mächtige und weniger Mächtige als quasi Gleichwertige behandeln. Hierarchien werden abgelehnt. Nicht Über- bzw. Unterordnung, sondern Partnerschaftlichkeit gilt in der Spätmoderne als vorbildliche Sozialform in Unternehmen, Institutionen und im privaten Umgang. Wer als privilegiert oder überlegen auftritt, erntet Spott, Kritik oder Gegenwehr. Interaktionen sollen symmetrisch, d. h. unabhängig von sozialen Statusunterschieden, von Bildungsabschlüssen, von Geschlecht oder Alter, von Herkunft und Religion u. a. gleichberechtigt ablaufen. Jeder geäußerte Wille ist demnach grundsätzlich mit der Erwartung verbunden, sich behaupten und durchsetzen zu können. Im Zuge dieser Entwicklung bringen staatlich legitimierte Anordnungsbefugnisse und insbesondere Grundrechtseingriffe die Polizei in eine missliche Lage. In ihrer exponierten Sonderstellung in der Gesellschaft gelingt es ihr nämlich nur bedingt, sich den Bedürfnissen des Bürgers anzupassen. Ihre kapitale Aufgabe, das Gewaltmonopol des Staates zu exekutieren, führt häufig zu asymmetrischen Verhältnissen zwischen Polizei und ihrem Gegenüber. Bei polizeilichen Anordnungen, die der Bürger zu befolgen hat, oder bei Grundrechtseingriffen offenbart sich schnell der konfliktträchtige Gegensatz zwischen polizeilichen Befugnissen und dem Gleichheitsanspruch des Bürgers. Dagegen können offenbar auch moderne Leitbilder der Polizei wenig ausrichten. Mit dem Ansatz einer ‚bürgernahen Polizei‘, die das polizeiliche Gegenüber als Partner behandeln soll (vgl. Feltes 2014, S. 242), folgt die Polizei dem gesamtgesellschaftlichen Trend der geringen Machtdistanz und versucht, ihre Arbeitsweise insgesamt zu modernisieren. In den aktuell steigenden Fallzahlen von Widerständen gegen die Polizei dokumentiert sich aber das Scheitern solcher Ansätze oder zumindest die Notwendigkeit für weitergehende Veränderungen.
1.3
Kampf um Anerkennung
Menschen sind von der Anerkennung anderer abhängig, denn sie ist eine Grundvoraussetzung menschlichen Selbstbewusstseins. Diesen Zusammenhang zwischen menschlicher Selbstachtung und dem intersubjektiven Austausch mit anderen Menschen hat George H. Mead sozialpsychologisch begründet. Es genügt hier, den Grundgedanken seiner anthropologischen Erkenntnis kurz wiederzugeben: Nur im Kreis von Interaktionspartnern (Bezugspersonen) wird sich das Subjekt (Kind) seiner selbst bewusst. Auf diesem Weg entwickeln Menschen eine Ich-Identität, müssen sich dieser Identität aber stets wieder neu vergewissern. Dazu betrachten sie sich mit den Augen ihres Gegenübers und nehmen so das Bild von sich wahr, das ihr Gegenüber von ihnen hat (vgl. Mead 1980; Honneth 2014, S. 119). In dem Maße, in dem Menschen die Perspektive des Gegenübers einnehmen, werden sie von den anderen anerkannt. Selbstachtung, als das Bewusstsein vom eigenen Wert, meint dann „die positive Einstellung gegenüber sich selbst, die ein Individuum dann ein-
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zunehmen vermag, wenn es von den Mitgliedern seines Gemeinwesens als eine bestimmte Art von Person anerkannt wird“ (Honneth 2014, S. 127). Die Botschaft an den anderen, der „als Spiegel des Selbst gebraucht wird“, formuliert der Psychologe Martin Altmeyer (2019, S. 37) eindrücklich in direkter Rede: „Schau mich an, höre mir zu, beachte mich, bewundere mich, liebe mich, erkenne mich an! Oder: Wenn du meine Erwartungen enttäuscht, greife ich dich an! Oder aber: Mit einer Welt, die mich nicht sieht, will ich nichts mehr zu tun haben. Ich ziehe mich zurück oder zerstöre sie!“ Wie hier zum Ausdruck kommt, ist offenbar der identitätsstiftende Austausch mit der sozialen Umwelt störanfälliger geworden und kann soziale Pathologien hervorrufen. Die Muster und Regeln, nach denen Anerkennung zugewiesen wird, haben sich verändert. In der individualisierten Welt wird es zunehmend schwieriger, Anerkennung zu erlangen. Gemeinschaften sind mit dem Fortschreiten der Individualisierung in Auflösung begriffen, sodass Menschen auf der Suche nach Anerkennung zunehmend mehr auf sich selbst gestellt sind und für ihre je besondere Identität Anerkennung einfordern müssen (vgl. Voswinkel und Lindemann 2013, S. 9). Auch der Verlust eines Wertekonsenses hat für die Erfahrung von Wertschätzung weitreichende Folgen: Die Verteilung von Anerkennung erfolgt heute nicht mehr kalkulierbar anhand bekannter Regeln. Vielmehr komme es – so Honneth (2014, S. 32 f.) – zu „Verwilderungen des sozialen Konflikts“. Der Kampf um Anerkennung habe sich eher in das Innere der Subjekte verlagert, „sei es in Form von gestiegenen Versagensängsten, sei es in Form von kalter ohnmächtiger Wut“, erklärt Honneth (2014, S. 35). Eine weitreichende Folge ist außerdem, dass sich auch für unkonventionelles oder sogar delinquentes Verhalten heute prinzipiell Achtungserfolge erzielen lassen. Besonders sensibel werden Anzeichen von Geringschätzung und Missachtung im Kontakt mit der zur Gewalt lizenzierten Polizei wahrgenommen, die zudem dazu befugt ist, dem Bürger in einem Über- und Unterordnungsverhältnis Anweisungen zu geben und Vorschriften zu machen. Wenn Bürger im Kontakt zur Polizei ihren Selbstwert und ihre Chancen auf Selbstverwirklichung durch Missachtung gefährdet sehen, wird Gewalt zur Ultima Ratio.
2
Ist Autorität noch zeitgemäß?
Seit der Aufarbeitung von obrigkeitsstaatlichen Autoritätsstrukturen, wie sie im Nationalsozialismus verbreitet waren, stehen Autoritätsverhältnisse unter dem Generalverdacht, Untertanenmentalität zu befördern. Autorität gilt in der Gegenwart als unzeitgemäß, sodass fraglich erscheint, ob sich mit dem Begriff heute überhaupt noch soziale Beziehungen in der Gesellschaft adäquat beschreiben lassen. Was ist unter ‚Autorität‘ zu verstehen? Es handelt sich um einen relationalen Begriff. Das heißt, eine Autoritätsbeziehung besteht dann, wenn von einer Person Autorität beansprucht und dieser Anspruch von mindestens einer anderen Person anerkannt wird. Wenn man sich an der begriffstheoretischen Bedeutung orientiert, dann sollte, was als ‚Autorität‘ etikettiert wird, zweierlei Besonderheiten aufweisen, die kurz erläutert werden:
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• Die Anerkennung der Autorität erfolgt freiwillig und • Beanspruchender und Anerkennender stehen in einem Über- und Unterordnungsverhältnis zueinander. Die Freiwilligkeit wird von der Philosophin Hannah Arendt (2013, S. 159) als ein „Zwang besonderer Art“ bezeichnet: „Autorität schließt gerade den Gebrauch jeglichen Zwangs aus, und wo Gewalt gebraucht wird, um Gehorsam zu erzwingen, hat Autorität immer schon versagt“. Das Autoritätsverhältnis eignet sich aber andererseits auch nicht als Basis für aufwendige Überzeugungsarbeit, denn Überzeugen durch Argumente – so Arendt (vgl. 2013, S. 159) – setzt Gleichheit voraus, Argumentieren setzt aber Autorität außer Kraft. Die Mittel der Autorität sind also weder Waffen noch Worte, sondern etwas dazwischen Liegendes. Das hierarchische Über- und Unterordnungsverhältnis, das einer Autoritätsbeziehung immer zugrunde liegt, bedarf in einer demokratisch verfassten Gesellschaft der besonderen Legitimation und benötigt sowohl die Zustimmung der Autorität als auch die der Autoritätsanerkennenden. Bei Autoritätsbeziehungen handelt es sich also weder um egalitäre Beziehungen, die zwischen Gleichen bestehen, noch um Herrschaftsund Machtverhältnisse, die Gehorsam erzwingen. Die Asymmetrie in der Beziehung zwischen Polizei und ihrer Klientel wird allerdings nicht erst durch den Autoritätsanspruch der Polizei, sondern schon durch ihre besonderen Aufgaben und Befugnisse hergestellt. Auf den ersten Blick scheint sich Autorität für die Polizei in besonderem Maße zu empfehlen. Eine vom Bürger anerkannte Polizeiautorität würde Gewalt im Einsatz entbehrlich machen. Eskalationen, die Zwangsmaßnahmen erforderlich machen, könnten vermieden werden. Schon die Präsenz der Polizei würde ausreichen, damit ihre Anordnungen befolgt werden. Autorität ließe sich als Konfliktlösungsstrategie und darüber hinaus zur Konfliktprävention einsetzen. Ist es aber realistisch, davon auszugehen, dass sich Autorität überhaupt noch als Kommunikationsform zur Konfliktvermeidung im Polizeieinsatz durchsetzen lässt? Wenn Polizeieinsätze zu eskalieren drohen, weil das polizeiliche Gegenüber entweder einen Autonomieverlust befürchtet, sich unterlegen fühlt oder Missachtung empfindet, dann ist die Autoritätserwartung, die Klientel müsse der Polizei freiwillig Folge leisten und sich ihr unterordnen, nicht nur unrealistisch, sondern geradezu paradox. Das hieße ja, der potenziell Widerständige würde aus freien Stücken aufgeben, was er für unbedingt verteidigungswürdig hält: die persönliche Autonomie, den Anspruch auf Gleichstellung und auf Anerkennung.
Zusammenfassend kann man festhalten
In hoch individualisierten Gesellschaften ist den oben beschriebenen Verhaltensdispositionen eine autoritätsverweigernde Grundtendenz gemeinsam. Freiwillige Autoritätsanerkennung und Unterordnung sind offensichtlich weder mit dem Recht auf Selbstbestimmung noch mit dem Recht auf Gleichbehandlung vereinbar. Andererseits bietet Autorität im Polizeidienst die Chance zu einer Konfliktvermeidung ohne Zwangsmaßnahmen. Es schließt sich daher die Frage an, wie sich diese beiden Befunde miteinander vereinbaren lassen, ob sich also ein modifiziertes, an die moderne Gesellschaft angepasstes Autoritätskonzept für die Polizei finden lässt und wie es aussehen könnte.
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ozialverträgliche Polizeiautorität zwischen Anspruch S und Wirklichkeit
Autorität erscheint einerseits als Auslaufmodell, andererseits wird aber aktuell in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften wieder um ein neues Verständnis von Autorität gerungen.5 Ausdruck eines solchen wiedererwachten Interesses sind neuere Versuche, eine andere oder bessere Autorität für die Pädagogik, aber auch für Organisation und Führung zu konzipieren. In Bildungseinrichtungen und in Unternehmen soll „abseits von Druck, Unterordnung oder Gleichgültigkeit“ (Baumann-Habersack 2017a, S. VII) an die Funktionen der alten Autorität angeknüpft werden. Fraglich erscheint allerdings, ob man bei diesen Ansätzen zu „neuer“ oder „horizontaler Autorität“ überhaupt noch von Autorität sprechen kann ob man also in den Konzeptionen zumindest noch die beiden begriffsbestimmenden Merkmale der freiwilligen Anerkennung und der Akzeptanz von Über- und Unterordnung wiederfindet. Es soll im Folgenden darauf verzichtet werden, vorliegende Neuentwürfe zur Autorität umfänglich darzustellen. Aus den Theoremen soll nur herausgelöst werden, was aus Sicht der Organisation Polizei als praktikabel erscheint und auch künftig als Polizeiautorität bezeichnet werden kann. In der Autoritätsbeziehung kam bislang nur der Bürger zur Geltung, dem tendenziell eine mangelnde Autoritätsanerkennung als Folge von veränderten Verhaltensdispositionen in der individualisierten Gesellschaft bescheinigt wurde. Für eine Neubelebung der Autoritätsbeziehung ist es nun notwendig, auf der anderen Seite die autoritätsbeanspruchende Polizei in den Blick zu nehmen, für die sich Autorität als mögliche Deeskalationsstrategie empfiehlt. Zu klären ist grundsätzlich auch, ob und wie sich überhaupt ein Autoritätsanspruch in das Rollenverständnis der Polizei integrieren lässt? Autorität als Bestandteil der sozialen Rolle Polizei soll anhand von drei Einstellungen zur Autorität thematisiert werden, die in der Nachkriegszeit zeitlich aufeinander gefolgt sind.6 Die Haltungen zur Autorität werden von dem Autoren- und Beraterpaar Kurp und Hoefs in einem Autoritätsdreieck dargestellt, das zur Reflexion der eigenen Autoritätseinstellung dienen soll (s. Abb. 1). Die bis ca. 1970 vorherrschende autoritäre Haltung (A1) steht der antiautoritären Haltung (A2) infolge der 68er-Bewegung gegenüber. Eine dritte, seit den 1990er-Jahren verbreitete Haltung (A3) basiert auf einer kritischen Distanz zur antiautoritären Erziehung. Sie ist als Synthese beider Extreme zu verstehen, bedarf aber der Anpassung an die individualisierte Gesellschaft, um sich als eine moderne Variante für die Gegenwart zu empfehlen.
„Neue Autorität – Das Handbuch“ von 2019 ist ein umfängliches Werk, das hier zu erwähnen ist (vgl. Körner/Lemme u. a.). 6 Die drei Haltungen zur Autorität beschreiben Omar und von Schlippe in ihrer Neukonzeption einer modernen Autorität („Stärke statt Macht“ von 2010). Die weiteren Ausführungen folgen aber dieser Unterscheidung, wie sie von Kurp und Hoefs (vgl. 2019, S. 526–538) weiterentwickelt und angewendet wurde. 5
Autorität auf dem Prüfstand – wie Modernisierungserscheinungen die Polizei … Abb. 1 Das Autoritätsdreieck nach Kurp und Hoefs (2019, S. 532), eigene Darstellung
A1 herkömmlich, traditionell, vertikal patriarchal, autoritär
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A2 antiautoritär, verweigert, abwesend, zurückhaltend, Laisser-faire, horizontal, selbstreflektiert, systemisch
Autoritätsdreieck
A3 „neu“, geteilt, kollektiv horizontal, selbstreflektiert systemisch
Aus polizeilicher Sicht könnten Widerstände verhindert und der Autoritätsverlust der Polizei abgebremst werden, wenn es gelingt, Polizeiautorität den Verhaltensdispositionen des Gegenübers anzupassen, sodass sich die Haltung A3 zunächst als eine veränderte Auffassung von Polizeiautorität (PA3) innerhalb der Polizei durchsetzt und dadurch auch die autoritätskritische Haltung des polizeilichen Gegenübers in Richtung Autoritätsanerkennung beeinflusst. Dazu bietet sich an, innerhalb des Autoritätsdreiecks die Neukonzeptionen auf die Besonderheiten der Organisation Polizei zuzuschneiden. In dem hier gewählten Kontext soll statt von „neuer“ von „sozialverträglicher Autorität“ gesprochen werden. Zu erwähnen ist noch, dass Autoritätseinstellungen immer von subjektiven Faktoren wie Intentionen, Wahrnehmungen und Bewertungen beeinflusst werden, aber auch von der Haltung, die sich in der Organisationskultur zeigt. Veränderungen der Autoritätshaltung müssen also in beiden Dimensionen, auf der Mikro- wie auch auf der Mesoebene, wirksam werden. An die gesuchte Autoritätseinstellung sind verschiedene Anforderungen geknüpft, die erstmals von Omer und von Schlippe (2010) formuliert wurden. Der modulare Aufbau ihrer Konzeption basiert auf sieben Leitlinien, die im Folgenden für die polizeilichen Belange teilweise umformuliert und um die gesellschaftliche Dimension erweitert werden.7 Wie sich allerdings zeigen wird, sind einige der pädagogischen Empfehlungen nur bedingt auf die Polizei anwendbar.
Die von Matthias Weber vorgeschlagene Anwendung der sieben Prinzipien von Omer und von Schlippe auf die Organisation Polizei wurde bei der folgenden Darstellung berücksichtigt (vgl. Weber 2020, S. 50–61). 7
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196 Tab. 1 Leitlinien für Polizeiautorität
traditionelle Leitlinien Polizeiautorität (PA1) Präsenz Distanz, asymmetrische (wachsame Sorge) Kommunikation, Kontrollverhalten
Deeskalation u. Selbstkontrolle
Vergeltungsreaktionen bei Missachtung der Autorität
Unterstützung u. Netzwerke
Selbstbehauptung, Hierarchie
Einhaltgebietende Gewaltanwendung bei und reaktive Missachtung der Maßnahmen Autorität Beziehung
Transparenz u. Öffentlichkeit
„Reflexion“a
Über- und Unterordnungsverhältnis, Diktat von Beziehungsregeln, Befehl und Gehorsam, patriarchisch Führung, Willkür, blindes Vertrauen wird vorausgesetzt ‚Unfehlbarkeit‘
Haltungen polizeikritische Einstellungen in der Spätmoderne geringe Machtdistanz, Streben nach Aufmerksamkeit und Wertschätzung Verteidigung der Selbstbestimmung, provokative Konfrontation Selbstzentrierung und Konkurrenz statt Gemeinsinn erhöhte Aggressivität, Kontrollverlust Beziehung als Partnerschaft, Ungebundenheit
Anspruch auf diskursives Kommunizieren auf Augenhöhe Kritik wird als Missachtung gedeutet
sozialverträgliche Polizeiautorität (PA3) Sicheres zugewandtes Auftreten, Kommunikationsbereitschaft, Wahrung der Verhältnismäßigkeit Emotionskontrolle, ‚Prinzip des Aufschubs‘
Teamorientierung, Kooperation Position beziehen statt Zwangsmaßnahmen, Deeskalation durch Kommunikation, Antizipation Empathie, kommunikative Kompetenz, Bürgernähe (‚community policing‘)
Transparenz polizeilicher Maßnahmen und Abläufe
Fehlerkultur, Bewertung von Entscheidungen und Abwägen von Alternativen
„Reflexion“ soll im polizeilichen Kontext – wie Matthias Weber vorgeschlagen hat – die von Omer und von Schlippe verwendete Formulierung „Wiedergutmachung“ ersetzen (Weber 2020, S. 55).
a
In der folgenden tabellarischen Darstellung (vgl. Tab. 1) soll sichtbar werden, wie sich die sozialverträgliche Polizeiautorität (PA3) von der traditionellen Polizeiautorität (PA1) abgrenzt und ebenso wie sie auf die autoritätskritische Haltung des polizeilichen Gegenübers (A2) reagieren und einwirken kann.
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Ableitungen/Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
Sämtliche Leitlinien gelten grundsätzlich sowohl für Einsatzkräfte als auch für Entscheider*innen und Einsatztrainer*innen. 1. Präsenz Mit der Empfehlung, Präsenz zu zeigen, ist nicht einfach die Anwesenheit der Polizei auf der Straße gemeint, sondern eine – in dem alten Begriff des ‚Schutzmanns‘ anklingende – besonders zugewandte und wachsame Gegenwärtigkeit der Polizei. Ein selbstsicheres Auftreten ist dabei ebenso wichtig wie ein angemessenes Reagieren. Die Polizei kann sich hierbei die von vielen Bürgern als defizitär empfundene soziale Anerkennung zunutze machen, indem sie im Kontakt mit dem Bürger Aufmerksamkeit und Kommunikationsbereitschaft signalisiert. Präsenz als Leitlinie verlangt eine körperlich zugewandte Haltung und auch eine emotionale Zugewandtheit, die das Interesse bekundet, dem Darstellungswunsch des Gegenübers ausreichend Raum zu bieten und geduldig zuzuhören. In der Kommunikation sollten – sofern die Situation das zulässt – symmetrische Bedingungen geschaffen werden. Obwohl für Autorität ein Über- und Unterordnungsverhältnis charakteristisch ist, kann eine dem Schein nach auf Augenhöhe stattfindende Begegnung vom polizeilichen Gegenüber als ein Verzicht auf Machtdemonstration gedeutet werden und somit deeskalierend wirken. 2. Deeskalation und Selbstkontrolle Zu vermeiden sind vor allem „Dominanz-, Vergeltungs- und Distanzstreben“ (Omer und Streit 2019. S. 134). Zur Deeskalation empfiehlt sich das „Prinzip der verzögerten Reaktion“ (Omer und Streit 2019, S. 62). In Konfliktsituationen benötigen Polizeibeamte*innen die emotionale Selbstkontrolle, um Provokationen souverän zu begegnen und die „Kontrolle über den Einsatz nicht an den Provokateur“ abzugeben (Weber 2020, S. 53). Der Aufschub kann eine emotional aufgeladene Überreaktion verhindern. Auch das polizeiliche Gegenüber erhält damit Gelegenheit, das eigene Verhalten zu korrigieren. ‚Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist‘, lautet der Rat von Omer und Streit (2019, S. 62). Was sich zur Beruhigung emotional aufgeladener Bürger empfiehlt, eignet sich allerdings nicht für Situationen, in denen auf eine unmittelbare Bedrohung zu reagieren ist. 3. Unterstützung und Netzwerke Kollegiale Zusammenarbeit im Team und Unterstützung durch Kooperation und Netzwerkarbeit mit anderen Instanzen stärkt nicht nur die Effizienz der Polizeiarbeit, sondern auch die Polizeiautorität. Wenn Delinquenten*innen nicht von oben gemaßregelt werden, sondern von unterschiedlicher Seite dieselbe Botschaft erhalten, entsteht für sie der soziale Druck, sich der Autorität freiwillig
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unterzuordnen. Auch ein ‚Wir-Gefühl‘ der Polizei, kann – sofern es sich der Klientel vermittelt – die Autorität der Polizei als Kollektiv stärken. 4. Einhalt gebieten und reaktive Maßnahmen Eine von Omer und von Schlippe vorgeschlagene ‚Widerstandshandlung‘ bezieht sich nicht – wie aus polizeilicher Sicht zu vermuten ist – auf den Widerstand eines delinquenten Gegenübers, sondern soll von der Autoritätsperson ausgehen. Im Konfliktfall kann eine gewaltfreie Lösung dadurch erreicht werden – so der Ansatz aus der Pädagogik –, dass die Autorität zunächst einmal nicht direkt in das Verhalten des Gegenübers eingreift, sondern nur deutlich Position dazu bezieht. Mit Entschiedenheit, Beharrlichkeit und ohne Gewalt soll eine Einhalt gebietende Haltung bezogen werden. Die Polizei vermittelt dem Gegenüber damit unmissverständlich, dass bestimmte Verhaltensweisen nicht akzeptabel sind. Statt die Konfliktpartei unmittelbar zum Nachgeben zu zwingen und dadurch zu demütigen, eröffnet dieses Vorgehen die Chance, gewaltfreie Lösungen auszuhandeln. Reaktive Maßnahmen zur Gefahrenabwehr und zur Eigensicherung kommen hingegen erst zum Einsatz, wenn die Einhalt gebietenden Maßnahmen versagen. Die Polizei sollte aber stets vermitteln, dazu rät auch Weber (2020, S. 56), „dass es zu ihrem Beruf gehört, körperlichen Zwang anzuwenden“. 5. Beziehung Der von Omer und von Schlippe hervorgehobene Beziehungsaspekt lässt sich nur ansatzweise auf die Polizei übertragen. Für die Autoritätsbeziehung zwischen Polizei und Bürger ist aber eine situationsübergreifende und wertschätzende Grundeinstellung der Polizei von Bedeutung. Eine respektvolle Haltung der Polizei und die Bereitschaft, dem Bürger auf Augenhöhe zu begegnen, stärken die Akzeptanz ihrer Autorität und dienen somit der Konfliktvermeidung. Im Kampf um Anerkennung bewirken umgekehrt Gesten der Überlegenheit und der Geringschätzung eine ablehnende Einstellung gegenüber der Polizei. Denn prinzipiell gilt: Respekt verschafft Respekt. Zur Stärkung ihrer Autorität sollte die Polizei daher vermeiden, ihr eigenes Verhalten nur als reaktives, durch die Polizeiklientel verursachtes Verhalten aufzufassen, Stattdessen sollte sie ihr Verhalten als ein aktives, situationsbeeinflussendes Handeln wahrnehmen und bewusst einsetzen (vgl. vom Hau 2017, zur Stelle S. 4 f.) In der Reaktion auf Devianz sollte abweichendes Verhalten beanstandet werden, ohne dieses mit der gesamten Persönlichkeit des Handelnden zu identifizieren und dadurch das Gegenüber vollständig zu negieren. Widerstand wird besonders dann provoziert, wenn der Eindruck entsteht, als Person attackiert und erniedrigt zu werden. Sich trotz der überwiegend negativen Erfahrungen im Polizeidienst eine menschenfreundliche und wertschätzende Grundhaltung zu bewahren, ist eine der großen Herausforderungen für die sozialverträgliche Polizeiautorität.
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6. Transparenz und Öffentlichkeit Die Akzeptanz der Polizeiautorität hängt wesentlich davon ab, wie polizeiliche Maßnahmen kommuniziert werden. Die selbstbestimmten Bürger erwarten, dass sie angemessen über die Legitimation polizeilicher Maßnahmen und über die genauen Abläufe informiert werden. Besonders diskurs- und kritikfreudige Bürger versuchen, die Polizei in langatmige Diskurse zu verstricken. Hier empfiehlt sich ein Mittelweg, indem zwar dem Kommunikationsbedürfnis des Gegenübers auf Augenhöhe entsprochen, ein nicht enden wollender Austausch von Argumenten aber konsequent abgebrochen wird. Die zum Meinungsaustausch gehörende Kompromissbereitschaft kann als Schwäche ausgelegt werden und die Polizeiautorität untergraben. Je ausgeprägter das Freiheitsbedürfnis des Bürgers ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass Grundrechtseingriffe extreme Reaktionen hervorrufen. Durch größtmögliche Transparenz des polizeilichen Handelns und das In-Aussicht-Stellen zeitnaher Rückgewinnung der eingebüßten Autonomie können Eskalationen verhindert werden. 7. Reflexion Als Autorität zu erscheinen, setzt voraus, dass man nichts dem Zufall überlässt. Denn jeder Konflikt – sagt Verhaeghe (2016, S. 152) – „legt den Grundstein für den nächsten“. Deshalb muss es darum gehen, den Zusammenhang zwischen Autoritätsanspruch und Gewalteskalationen im Polizeidienst, bevor er im Einsatz relevant wird, gedanklich zu durchdringen. Dazu sollten mögliche subjektive, soziale und organisatorische Wirkungszusammenhänge reflektiert werden. Individuelle Ebene Zunächst geht es darum, dass sich Polizeibeamte*innen über die eigene Haltung zur Polizeiautorität bewusst werden und diese gegebenenfalls korrigieren. Dazu bieten sich das Autoritätsdreieck von Kurp und Hoefs (2019, S. 526 ff.) sowie die Anleitung zur Selbstreflexion von Baumann-Habersack (2017b) an. Erst dann kann klar werden, welche konkreten Verhaltensweisen die präferierte Autoritätseinstellung stärken können. Reflektiert werden sollten außerdem Besonderheiten der eigenen Persönlichkeit in ihren kommunikativen Wirkungen, Möglichkeiten und Grenzen der eigenen emotionalen Intelligenz und der Konfliktkompetenz (vgl. Baumann-Habersack 2017a, S. 118 ff.). Soziale Ebene Eine klare Autoritätshaltung ermöglicht dann, konkreter darüber nachzudenken, welche Schwierigkeiten sich demjenigen in den Weg stellen, der einen Autoritätsanspruch erhebt und durchsetzen möchte. Im Fokus steht hierbei die Sozialverträglichkeit der Autoritätshaltung. Denn die gesellschaftlichen Bedingungen entscheiden letztlich über adäquate Verhaltensmuster, um die Autorität
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zur Geltung zu bringen. Die Aneignung von soziologischem Wissen hilft deshalb, sich auf aktuelle Verhaltensdispositionen des Bürgers einzustellen. (Autonomieanspruch, Anerkennungsdefizit, geringe Machtdistanz). Organisationsebene Auch Führungskräfte sollten ihre Haltung zur Autorität reflektieren und an die Haltung der sozialverträglichen Polizeiautorität anpassen. Dazu bedarf es möglicherweise auch der Änderungen in der Organisations- und Führungsstruktur (vgl. dazu Baumann-Habersack 2017a, S. 145 ff.).
Fazit Zielgruppenorientierte Empfehlungen zu den o. a. sieben Säulen der Autoritätsbehauptung a) Entscheider*innen Die Transparenz von polizeiinternen Entscheidungsprozessen und dienstlichen Anordnungen sollte als intern autoritätsförderndes Kriterium betrachtet werden. Das Vorleben einer Leitlinie ‚bürgernahe Polizei‘ ohne Preisgabe der – zuvor definierten sozialverträglichen und zur Aufgabenerfüllung unverzichtbaren – Polizeiautorität sollte Bestandteil einer zeitgemäßen Führungskultur sein. Die diesbezügliche Kontrolle der Einsatzdurchführung nachgeordneter Mitarbeiter und notwendige Korrekturhinweise sollten wichtige Kriterien der ständigen Dienst- u. Fachaufsicht sein. Dabei ist in der internen Kommunikation auf die Bedeutung der Polizeiautorität sowohl für die Einsatzprämisse Eigensicherung als auch für die immer zu beachtende Verhältnismäßigkeit polizeilicher Grundrechtseingriffe hinzuweisen. b) Einsatzkräfte Die Anerkennung der polizeilichen Autorität durch das Gegenüber sollte als wesentliches Instrument zur Konfliktvermeidung bzw. zur Deeskalation bereits entstandener Konflikte und damit als Arbeitserleichterung bzw. Bestandteil der Eigensicherung begriffen werden.
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Einsatzkräfte benötigen deshalb das oben dargestellte Grundwissen über die tendenziell autoritäts- u. polizeikritische Haltung vieler Bürger*innen. Um das Einsatzziel (gesetzeskonformer Zustand bzw. Gefahrenbeseitigung) zu erreichen, ist – unter Beachtung der Eigensicherung (Eigeninteresse) wie auch der Verhältnismäßigkeit (Verfassungsgrundsatz) – eine grundsätzlich zugewandte, niemals herablassende oder das Gegenüber generell abwertende, dennoch in der Sache verbindliche und unmissverständliche Kommunikation erforderlich. c) Einsatztrainer*innen In dem oben dargestellten Spannungsfeld zwischen dem legitimem polizeilichen Autoritätsanspruch und potenzieller Autoritätsverweigerung des Gegenübers kommen Konfliktsituationen zum Tragen, die Gegenstand des Einsatzstrainings sind. Daher sollten Einsatztrainer*innen diesbezüglich über den gleichen Kenntnisstand wie Einsatzkräfte verfügen. Von den empfohlenen Kommunikationsformen sind positive Effekte für die stets zu beachtenden Leitlinien ‚Eigensicherung‘ und ‚Verhältnismäßigkeit polizeilicher Maßnahmen‘ zu erwarten. Es empfiehlt sich daher, im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Training optimaler Techniken zur Durchführung von Eingriffs- u. Zwangsmaßnahmen bis hin zum Schusswaffengebrauch der maßnahmenbegleitenden Kommunikation mit dem Gegenüber (vornehmliches Ziel: Deeskalation) besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
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Guardian oder Warrior? Überlegungen zu polizeilichen Grundeinstellungen Mario Staller, Swen Koerner und Valentina Heil
Inhaltsverzeichnis 1 E instellungen zum Einsatzverhalten und zum Umgang mit Konflikten 1.1 Warrior Mindset: Polizist*innen als Krieger*innen 1.2 Guardian Mindset: Polizist*innen als Beschützer*innen 2 Individuelle Orientierung vs. Orientierungen in der Organisationskultur 2.1 Militarisierung 2.2 Kriegerische Insignien 2.3 Thin blue line und das Gefahren-Narrativ 3 Brauchen wir (auch) Krieger*innen? 4 Sichtbarkeit, Beobachtung und Diagnostik 5 Einsatztraining: Setting der Vermittlung – Setting der Reflexion Literatur
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Reviewer*innen: Consten Buc, Stefan Schade M. Staller (*) Fachbereich Polizei, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Koerner Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research, Deutsche Sporthochschule, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] V. Heil Institut für Professionelles Konfliktmanagement, Langen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_11
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M. Staller et al.
Zusammenfassung
Die polizeiliche Grundeinstellung stellt die Weichen für das Handeln von Polizist*innen. Im polizeiwissenschaftlichen und -praktischen Diskurs stehen dabei gegenwärtig besonders zwei Grundeinstellungen im Fokus: das kriegerische „Warrior Mindset“ und das beschützerische „Guardian Mindset“. Der Beitrag kontrastiert die jeweiligen Sinnkomplexe beider Grundeinstellungen und stellt diese in den Kontext polizeilicher Organisationskultur. Am Beispiel des Warrior Mindsets zeigen wir, wie die Polizeikultur über vielfältige Artefakte (Sprache, Narrative, Insignien, Symbole etc.) Einstellungen als geteilte Werte erzeugt, deren Wirken im Handeln von Polizist*innen sie kaum kontrollieren kann. Wir plädieren für einen analytischen Gebrauch der Unterscheidung als Ansatzpunkt für eine Reflexion tragender Grundeinstellungen, die auf allen Ebenen polizeilicher Arbeit erfolgen sollte. In normativer Hinsicht identifizieren wir im Guardian Mindset exakt jene Einstellung, die dem polizeilichen Fernziel einer Reduktion von Gewalt in der Gesellschaft optimal Rechnung trägt, ohne dabei die Gewaltoption zu negieren.
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instellungen zum Einsatzverhalten und zum Umgang E mit Konflikten
Polizeiliches Konfliktmanagement zeigt sich im Verhalten. Das konkrete Verhalten in einer spezifischen Situation ist – neben den situativen Umständen der Situation und verschiedenen kontextuellen Faktoren – geprägt von der Bereitschaft des handelnden Individuums, auf Informationen in Abhängigkeit von den eigenen Überzeugungen und Werten wertend zu reagieren. Diese erlernte Neigung wird als Einstellungen bezeichnet; daraus folgende Wertungen bestimmter Objekte, Verhaltensweisen oder Situationen drücken sich im Denken, in Emotionen und im Verhalten aus (Ajzen 2001). Damit haben Einstellungen einen nicht unerheblichen Einfluss auf Konfliktbewältigung einer/s Polizist*in vor Ort. Das heißt nicht, dass Einstellungen und Verhalten immer kongruent sein müssen, jedoch scheint zukünftiges Verhalten besser vorhersagbar zu sein, wenn die angenommene Einstellung auf direkter Erfahrung basiert (Ajzen 2001; Ajzen und Fishbein 2000). Für das polizeiliche Einsatz- und Konflikthandeln bildet die Auseinandersetzung mit den dem eigenen Handeln zugrunde liegenden Einstellungen und den diese Einstellungen ermöglichenden Erfahrungen einen wesentlichen Baustein einer reflexiven Praxis. An möglichen Erfahrungsquellen kommen hier insbesondere die Alltagserfahrung im Dienst sowie Erfahrungen in Organisationskultur der Polizei in Betracht (Behr 2020). Während gerade mit Blick auf die organisations-kulturelle Ebene das Spannungsfeld zwischen Polizeikultur, als „eine Kultur der Rechtsgebundenheit, insbesondere der rechtlichen Prozeduralität (Verfahrensförmigkeit)“ (Behr 2020, S. 193), und der alltagsorientieren
Guardian oder Warrior? Überlegungen zu polizeilichen Grundeinstellungen
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Polizistenkultur Cop Culture, als „eine Kultur der sog. handarbeitenden Polizist*innen, das heißt derjenigen, die noch tatsächlich Hand an den Menschen legen“ (Behr 2020, S. 194), umfassend Beachtung und Betrachtung findet (Behr 2002, 2006; Loftus 2009; Myhill und Bradford 2013; Paesen et al. 2019; Schweer et al. 2008; Terrill et al. 2003; White 2006), fokussiert der vorliegende Beitrag primär auf das handelnde Individuum und dessen Einstellung zur polizeilichen Einsatz- und Konfliktbewältigung. Die beiden Extreme auf einem Kontinuum an Einstellungen werden in der deutschsprachigen Polizeiwissenschaft als „Schutzmann“ oder „Schutzfrau“ (Behr 2019) und „Krieger-Männlichkeit“ (Behr 2020) oder „Polizeikrieger“ (Behr 2019) diskutiert. Auf internationaler Ebene wird das Kontinuum zwischen einem „Guardian Mindset“ und einen „Warrior Mindset“ gespannt (Carlson 2019; Koslicki 2020; McLean et al. 2021). Wir verstehen die beiden Positionen – Warrior und Guardian – als Einstellungen zur polizeilichen Einsatz- und Konfliktbewältigung, mit ihren entsprechenden Folgen und Auswirkungen auf das Denken, Fühlen und Handeln. Die Begriffe Mindset und Orientierung verwenden wir synonym. Als Grundeinstellungen bezeichnen wir die beiden Orientierungen deshalb, weil sie – als Metaphern (Thibodeau et al. 2017) – für das polizeiliche Einsatz- und Konflikthandeln grundsätzliche Weichen für das polizeiliche Interaktionsverhalten stellen. Die Unterschiede beider Orientierungen wurden von Stoughton exzellent in zwei Beiträgen zusammengefasst, in denen er zum einen auf das Warrior-Problem in der Polizeiarbeit in den Vereinigten Staaten hinweist (Stoughton 2015) – ähnlich wie Behr die Pro blematik der Krieger-Mentalität in Deutschland mehrfach fokussiert (Behr, 2014, 2018, 2020) – und zum anderen beide Konzepte in den Kontext prinzipienbasierter Polizeiarbeit rückt (Stoughton 2016). Dabei wird deutlich, dass die Idealisierung des Krieger-Konzepts zwar mit den besten Absichten übernommen wurde, aber zu einer Organisationskultur, zu individuellen Einstellungen (Warrior Mindset) und damit in der Folge zu Handlungen führte, die weit hinter den Prinzipien zurückbleiben, die das Warrior Mindset vorgibt zu verehren (Stoughton 2016). Eine Warrior-Einstellung fördert viele der Probleme, mit denen sich Polizist*innen heute konfrontiert sehen, indem sie unnötige Konflikte begünstigt, den Beamt*innen erlaubt, Fehlverhalten und ungesetzliches Verhalten zu rationalisieren, und diese vor Kritik schützt. Das wiederum trägt zu einer kontradiktorischen Herangehensweise an die Polizeiarbeit bei, die der Beziehung zwischen Polizei und Bürger*innen abträglich ist, eine effektive Strafverfolgung verhindert, Beamt*innen und Zivilist*innen unnötig gefährdet und sinnvolle Reformen behindert (Stoughton 2016).
1.1
Warrior Mindset: Polizist*innen als Krieger*innen
Unter einem Warrior Mindset wird in einem engen Sinne die Einstellung bezeichnet, die Polizist*innen – aber auch Soldat*innen – angesichts eines lebensbedrohlichen Kampfes annehmen sollten. In diesem Zusammenhang bezieht sich eine kriegerische Einstellung
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auf die Entschlossenheit, eine schlechte Situation zu überleben, egal wie groß die Chancen oder Schwierigkeiten sind, und nicht aufzugeben, selbst wenn es mental und körperlich einfacher wäre, dies zu tun (Stoughton 2015). So eng definiert, ist das Warrior-Mindset- Konzept schwer normativ zu kritisieren. In der Folge erweiterte die Huldigung des/r Krieger*in diese unumstrittene Definition bis zur Unkenntlichkeit: das umfassende Warrior Mindset. Wie die restriktive Version ist auch die breite Definition durch die unbestreitbare Bedeutung der Sicherheit von Polizist*innen motiviert. Stoughton (2016) ordnet dem umfassenderen Warrior-Konzept die Attribute Ehre, Pflichterfüllung, (schnelle) Konfliktlösung und die Bereitschaft zur Anwendung legitimierter Gewalt zu. Während diese per se ebenfalls nicht normativ kritikwürdig erscheinen, schwingt hier aber noch eine andere Note mit. der/die Polizist*in als heroische/r Krieger*in gegen das Übel in der Welt. Die letzte Verteidigungslinie, The thin blue line (Wall 2020). Aber während die restriktive Version des Warrior Mindsets eine Haltung darstellt, die Polizist*innen in den physisch gefährlichsten Situationen an den Tag legen sollten, beinhaltet die breite Definition eine grundsätzliche Herangehensweise an die polizeiliche Arbeit. Polizist*innen lernen, wie sie jeden Aspekt ihrer Arbeit angehen sollten. Entsprechend wird jungen Polizist*innen ein Weltbild angetragen, das die Welt als inhärent gefährlich beschreibt. Einsatztrainer*innen weisen darauf hin, dass es das Wichtigste ist, „am Ende des Tages gesund nach Hause zu kommen“, und dass „jeder Einsatz tödlich sein kann“. Unter dieser kriegerischen Weltanschauung sind Polizist*innen in intermittierende und unvorhersehbare Kämpfe mit unbekannten, aber höchst tödlichen Feinden verwickelt. Das Lernergebnis ist Angst. Stoughton (2015) führt dazu aus: „That [fear] isn’t the word used in law enforcement circles, of course. Vigilant, attentive, cautious, alert, or observant are the terms that appear most often in police publications. But make no mistake, officers don’t learn to be vigilant, attentive, cautious, alert, and observant just because it’s fun. They do so because they are afraid. Fear is ubiquitous in law enforcement“ (S. 227). Hypervigilanz offeriert dem/r Krieger*in die höchsten Chancen auf ein Überleben. Entsprechend lernen Polizist*innen, jede Person, mit der sie zu tun haben, als potenzielle Bedrohung zu behandeln und jede Situation als eine bevorstehende Begegnung mit tödlicher Gewalt (Stoughton 2015). Ausgestattet mit einer solchen Einstellung, zeigen sich die Auswirkungen in Interaktionen mit Bürger*innen. Ein umfassendes Warrior Mindset kreiert (a) eine erhebliche, wenn auch unsichtbare Barriere für echte bürgernahe Polizeiarbeit, (b) erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Konflikteskalation hin zu Überwältigungshandeln und (c) beeinträchtigt damit künftige Polizei-Bürger*innen-Interaktionen (Behr 2020; Stoughton 2015). Im Ergebnis schützt sie damit weder Polizist*innen noch Bürger*innen – ein Ergebnis, das sich so auch empirisch zeigt (Mummolo 2018). Eine kriegerische Einstellung priorisiert die Verbrechensbekämpfung als Hauptaufgabe der Polizei. Polizist*innen als Krieger*innen entwickeln ein Selbstbild als Polizisten*in an der vordersten Front, als letzte Linie der Verteidigung gegen das Verbrechen (Wall 2020). Dieses Bild ist durch ein stereotyp-maskulines und aggressives Auftreten domi-
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niert. In extremen Fällen könnte ein/e Polizeibeamte*in sich dem/der Bürger*in stark überlegen fühlen und die polizeiliche Arbeit abseits der Verbrechensbekämpfung als belanglos empfinden (Carlson 2019; McLean et al. 2019).
1.2
Guardian Mindset: Polizist*innen als Beschützer*innen
Das Guardian Mindset – also die Einstellung, sich als Polizist*in Einsatz- und Konfliktsituationen als Beschützer*in zu verstehen – ist intuitiv ähnlich flüchtig im konkreten Umfang wie der Begriff des Warrior Mindsets und bedarf einer Präzisierung. Sowohl Krieger*innen als auch Beschützer*innen versuchen, die Gesellschaft, der sie dienen und deren Teil sie sind, zu schützen. Der Unterschied zeigt sich in der Fundierung in demokratischen Idealen und die darauffolgende Sichtweise auf die Zielerreichung (Rahr und Rice 2015). Ein Guardian Mindset macht sich das demokratische Ideal zu eigen, dass die Legitimität einer jeden Regierungsbehörde – und das moralische Recht, die Zwangsgewalt des Staates durchzusetzen – von der Zustimmung der Regierten abhängt. Auf diese Weise macht sich eine am Guardian Mindset orientierte Polizeiarbeit das Peel’sche Prinzip1 zu eigen, dass die Polizei die Gesellschaft ist und die Gesellschaft die Polizei (Loader 2016). Ein Guardian Mindset ist getragen von der Überzeugung, dass eine gute Polizeiarbeit mehr erfordert als nur eine gesetzeskonforme Polizeiarbeit; sie erfordert eine faire, inklusive und auf Vertrauen bauende Polizeiarbeit. Entsprechend stellt eine Guardian- Orientierung (a) eine Kooperation auf Augenhöhe – im Vergleich zum Befolgen von Anweisungen –, (b) eine dialogische Kommunikation – im Vergleich zu einseitigen Befehlen – und (c) Arbeiten an der wahrgenommenen Legitimität der Bürger*innen – im Vergleich zum Berufen auf die qua Amt vorliegende Autorität in den Mittelpunkt. Damit verfolgt das Guardian Mindset eine etwas andere – nämlich langfristigere – Strategie zur Zielerreichung des Schutzes der Gesellschaft als das Warrior Mindset. Vereinfacht ausgedrückt priorisiert ein Guardian Mindset den Dienst an der Gesellschaft vor der Verbrechensbekämpfung. Kurzfristige Begegnungen werden als Möglichkeit aufgefasst, langfristige Beziehungen zu schaffen. Infolgedessen weist ein Guardian Mindset Polizist*innen an, dass Interaktionen mit Bürger*innen nicht nur rechtlich gerechtfertigt, sondern auch ermutigend, fair, respektvoll und rücksichtsvoll sein müssen (Stoughton 2015). „The guardian mindset emphasizes communication over commands, cooperation over compliance, and legitimacy over authority. And in the use-of-force context, the Guardian emphasizes patience and restraint over control, stability over action“ (Stoughton 2015, S. 231). Die beschützende Einstellung priorisiert eine bürger*innenorientierte Polizeiarbeit mit dem Ziel, Vertrauen aufzubauen und tragfähige, langfristige Beziehungen mit Bürger*innen zu formen und zu gestalten (Stoughton 2015, 2016). Polizisten*innen mit Sir Robert Peel gilt als Begründer der modernen ethischen Polizeiarbeit: Polizist ist ein Bürger in Uniform. 1
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einer ausgeprägten beschützenden Mentalität schätzen eine gute Beziehung mit der Bevölkerung ohne Anwendung von Zwang; sie setzen auf Kooperation auf Augenhöhe und Dialog. Sie verstehen sich als Polizist*innen, die bedürfnisorientiert mit Bürger*innen zusammenarbeiten und diese vor Schaden und unnötigem Leiden schützen. Während Stoughton (2016) dem Warrior-Konzept die Attribute Ehre, Pflichterfüllung, (schnelle) Konfliktlösung und die Bereitschaft zur Anwendung legitimierter Gewalt zuordnet, ergänzt er das Guardian Mindset in seiner Konzeptualisierung um fünf essenzielle Aspekte demokratisch legitimierter Polizeiarbeit: unbedingter Anerkennung der Menschenwürde und der Perspektive anderer Menschen, Aufbringen von Geduld, Streben nach Inklusivität und Reflexivität in Bezug auf das eigene Verhalten2 (Stoughton 2016). Das Guardian Mindset spiegelt damit wesentliche Elemente polizeilicher Einsatz- und Konfliktpraxis wider, wie sie im Gewaltreduzierenden Einsatzmodell formuliert wurde (Staller et al. 2021). Während wir den ergänzenden Attributen des Guardian Mindsets (Menschenwürde, Perspektive, Geduld, Inklusivität, Reflexion) bedingungslos zustimmen, argumentieren wir gegen eine Inklusion von Ehre und Pflichterfüllung. Diese heroischen Attribute scheinen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit von (exzessivem) Gewalthandeln assoziiert (Pomerantz et al. 2021), ein Aspekt, der mit den Werten des Guardian Mindsets nicht vereinbar scheint. Die Bereitschaft zu einer – unter spezifischen Umständen – schnellen Konfliktlösung sowie die grundsätzliche Bereitschaft zum Gewalthandeln tragen wir als ergänzendes Attribut einer Guardian-Orientierung mit, diese wird aber getragen vom langfristigen Ziel einer Reduktion von Gewalt in der Gesellschaft (Staller et al. 2021); ein Aspekt, der in Stoughtons Konzeptualisierung so explizit nicht vorliegt.
2
I ndividuelle Orientierung vs. Orientierungen in der Organisationskultur
Während die Einstellung als Krieger*in oder Beschützer*in sich zunächst als individuelle Einstellungen – und damit als Wertemaßstab für die unterschiedlichsten Informationen – darstellen lassen, zeigt sich bereits in der Konzeptionalisierung von Stoughton (2015, 2016) die tiefe Verwobenheit mit der Organisationskultur der Polizei. Gerade deshalb erscheint es auch nicht verwunderlich, dass im deutschsprachigen Raum die Konzepte „Krieger*in“ und „Beschützer*in“ in Diskussionen zur Organisationkultur Erwähnung finden (Behr 2006, 2014, 2018, 2019, 2020; Dübbers 2017; Vera und Jablonowski 2017). Vera und Jablonowski (2017) weisen darauf hin, dass Organisationskulturen schwer greifbare Konzepte darstellen, da diese sich auf mehreren Ebenen – teilweise auch unterschiedlich – zeigen (Vera und Jablonowski 2017). Aus einem analytischen Gesichtspunkt schlägt Schein eine Betrachtung der Organisationskultur auf drei Ebenen vor (Schein 2009): die geteilten Grundannahmen, die geteilten Werte sowie die Artefakte. Die ge Stoughton (2016) beschreibt dies als „Introspektion“.
2
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teilten Grundannahmen bilden den Kern der Organisationkultur – und sind im Vergleich zu den an der Oberfläche sichtbaren Artefakten eher unsichtbar. Die Grundannahmen bestimmen, wie eine Organisation sich selbst und ihre Umwelt sieht. Sie beziehen sich auf abstrakte Aspekte wie beispielsweise das in der Organisation vorherrschende Menschenbild, Einstellungen zur Wahrheit oder im polizeilichen Kontext eben die Grundeinstellungen zum polizeilichen Tätigwerden. Diese werden von den Organisationsmitgliedern mit der Zeit im Rahmen eines Sozialisationsprozesses übernommen und als Selbstverständlichkeiten betrachtet. Mitgliedern der Organisation sind sie oftmals nicht bewusst und für Außenstehende oft nicht sichtbar. Diese Grundannahmen schlagen sich nieder in den geteilten organisationalen Werten, die bestimmen, was die Organisationsmitglieder als gut, wichtig und richtig einschätzen. Diese werden häufig offen beispielsweise als Leitbilder oder informelle Regeln kommuniziert. Teilweise sind sie den Beteiligten aber auch nicht bewusst. Die geteilten Werte bilden damit die Schnittstelle zwischen dem einzelnen Organisationsmitglied – also der/m Polizist*in – und der Gesamtorganisation. Werden die organisationalen Werte von den Mitarbeitern akzeptiert, richten diese ihr Verhalten daran aus. Sichtbare Artefakte und Symbole sind dann Reflexionen dieser geteilten organisationalen Werte. Diese haben die Aufgabe, die wenig greifbaren und teilweise unbewussten Werte gegenüber den Organisationsmitgliedern – also anderen Polizist*innen oder Kolleg*innen in einer Einheit – und der Umwelt – den Nicht-Polizist*innen oder Nicht-Angehörigen einer speziellen Einheit – zu verkörpern und an neue Mitglieder weiterzugeben. Zu den Artefakten gehören Legenden, Anekdoten, Rituale, Organisationslogos, Kleidungsstil sowie sprachliche Besonderheiten. Sichtbare Artefakte stellen in diesem Zusammenhang kein direktes Abbild der Organisationskultur dar. Erst Interpretationen vor dem Hintergrund der unsichtbaren Werte und Grundannahmen erlauben Rückschlusse auf die Organisationskultur (Vera und Jablonowski 2017). Die Verwobenheit vom dem, was nach außen sichtbar ist (Artefakte), den geteilten – bewussten und unbewussten – Werten sowie den Grundannahmen der Organisation in Kombination mit dem Sozialisationscharakter beruflicher polizeilicher Praxis (Branch 2020; Charman 2017) zeigt, dass Reflexivität in Bezug auf das, was angenommen, reproduziert oder dem aktiv begegnet wird, für das einzelne Individuum ein wichtiger Aspekt in Richtung einer professionellen Praxis ist. Mit Blick auf die individuelle und or ganisationale Ausrichtung in Richtung Warrior oder Guardian erscheinen uns die nachfolgenden Aspekte reflexionswürdig.
2.1
Militarisierung
Eine kriegerische Orientierung polizeilicher Arbeit zeigt sich in einer Militarisierung der Polizei als Institution (Simckes et al. 2019). In ihrer Konzeptionalisierung von Militarisierung verweisen Simckes et al. (2019) auf die (1) Einstellung und Kultur (officer culture/ mindset) als einen von fünf Bereichen, in denen sich eine Militarisierung zeigt und damit auch analysieren lässt. Die weiteren miteinander verbundenen Analysebereiche sind:
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M. Staller et al.
(2) Ausrüstung und Technologie (gear/technology), (3) Vorgaben in Bezug auf die Interaktion mit Bürger*innen (protocols/procedures for community interaction), (4) militärische Taktiken (military tactics) und (5) Training und Anforderungen (training and requirements). Militarisierungsbestrebungen in Deutschland zeigen sich in den vergangenen Jahren im Zuge eines wahrgenommenen Anstiegs von Angriffen gegenüber Polizist*innen und Terroranschlägen in allen Bereichen (Behr 2018; Kirsch 2017; Naplava 2020): Der Bedarf und die Anschaffung potenterer Ausrüstung (z. B. schwere Schutzausstattung, Sturmgewehre, Taser) (2), der Ruf nach robusterem Umgang in der Interaktion mit Bürger*innen (3), das Training militärischer Taktiken wie Lebensbedrohliche Einsatzlagen (4, 5), das in den Hintergrundrücken deeskalativer Trainingskonzepte aufgrund einer Verschiebung von Ausbildungsinhalten hin zu militärischen Taktiken (5) sowie der Wunsch von Einsatztrainer*innen, primär bei Spezialeinheiten zu hospitieren (5). Aufgrund der Verwobenheit der einzelnen Bereiche lassen sich diese Bestrebungen auch als Artefakte einer Organisationskultur werten. Dass die individuelle Orientierung von Polizist*innen davon unberührt bleibt, ist unwahrscheinlich. Theoretische Auseinandersetzungen mit Militarisierungsbestrebungen in Deutschland weisen ausdrücklich auf die damit verbundenen Problematiken hin und sehen darin keine Option, mit Bürger*innen der Gesellschaft auf Augenhöhe zu agieren (Naplava 2020). Auch empirische Befunde zur Militarisierung sprechen eine deutliche Sprache: Aktuelle Studien aus den Vereinigten Staaten zeigen, dass eine Militarisierung polizeilicher Institutionen weder die Sicherheit von Polizist*innen noch von Bürger*innen erhöht (Mummolo 2018, 2021). Negative Auswirkungen zeigen sich allerdings in Bezug auf den Ruf der Polizei (Mummolo 2018). Auch zeigen aktuelle Evidenzen, dass rassistisch geprägte Vorurteile die Wahrscheinlichkeit einer polizeilichen Militarisierung erhöhen (Jimenez 2020). Gerade im Kontext aktueller Debatten zum strukturellen Rassismus in Deutschland (Akkaya 2020) und polizeilicher Militarisierungsbestrebungen (Behr 2018; Kirsch 2017) erscheinen diese Daten als ein wichtiger Anstoß zur Reflexion.
2.2
Kriegerische Insignien
Als Artefakte einer möglicherweise kriegerischen individuellen Einstellung oder einer Organisationskultur können kriegerische Insignien wie das Schwert oder der Schild oder entsprechend in Szene gesetzte Waffen oder Ausrüstungsgegenstände betrachtet werden (Blaskovits et al. 2021). Dies offeriert Möglichkeiten der Beobachtung und Interpretation, wie erste Studien zeigen (Koslicki 2020). In Deutschland liegen systematische Analysen zur Verbreitung von kriegerischen Insignien noch nicht vor. Anekdotenhaft – und im Rahmen unserer Forschungsprojekte – beobachten wir regelmäßig das Vorliegen entsprechender Artefakte. Als Beispiele seien hier genannt der mit Stolz präsentierte Spartanerhelm bei einer polizeilichen Spezialeinheit, der „Punisher“-Patch auf der Schutzweste eines Kommissaranwärters oder das private Tragen und Nutzen taktischer Bekleidung, Taschen und Rucksäcke.
Guardian oder Warrior? Überlegungen zu polizeilichen Grundeinstellungen
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Kriegerische Insignien und Begrifflichkeiten sind auch in der – vor allen englischsprachigen – populärwissenschaftlichen Polizeiliteratur zur polizeilichen Einsatz- und Konfliktbewältigung zu finden (Asken und Grossman 2010; Grossman und Christensen 2007; Jetmore 2005; Schaffer 2013; Siddle 1995; Voncannon 2000): Das Schwert, der Schild (als Dienstmarke) und die explizite Nennung des Warrior-Begriffs (siehe Abb. 1). Gerade die Werke von Grossman, Asken und Siddle (Asken und Grossman 2010; Grossman 1996; Grossman und Christensen 2007; Siddle 1995) sind in Einsatztrainer*innen-Kreisen nicht unbekannt. In der deutschsprachigen Literatur finden sich bildliche Darstellungen kriegerischer Insignien weniger; hier wird – genauso wie in der dargestellten englischsprachigen Literatur – auf die kontinuierlich bestehende Gefahr des Polizeiberufs referenziert (Füllgrabe 2021; Grandel 2015; Schmidt 2017). Dieses Narrativ der immerwährenden Gefahr ist eng verbunden mit der Idee der Polizei als thin blue line – als letzte Linie der Verteidigung gegenüber den überall bestehenden Gefahren.
Abb. 1 Kriegerische Insignien auf den Bucheinbänden populärer Polizeiliteratur
212
2.3
M. Staller et al.
Thin blue line und das Gefahren-Narrativ
Im Umfeld der Polizei sind thin blue line-Artefakte regelmäßig anzutreffen (Champion 2017; Kurtz und Colburn 2019; Wall 2020). Diese zeigen sich beispielsweise in Social- Media-Gruppen, in genutzten Hashtags (z. B. #thinblueline, #thinbluelinegermany) sowie auf Kleidung, Patches, Kaffeetassen, Internet-Memes, Paracords oder Plakaten. Abb. 2 zeigt eine Auswahl an Rubber-Patches, welche online erworben werden können. In der Phrase thin blue line verdichtet sich die Idee, dass ein lebenswertes Leben ohne die Polizei nicht möglich wäre (Wall 2020). Die Polizei ist die letzte Verteidigungslinie der Zivilisation. Die thin blue line verleiht Polizist*innen einen heiligen, mystischen Charakter, welcher auch in der Pop-Kultur reproduziert – und beispielsweise in der Eröffnungsszene von End of Watch (Ayer 2012) durch den von Jake Gyllenhall dargestellten Protagonisten auf den Punkt gebracht wird: „The thin blue line, protecting the prey from the
Abb. 2 Thin blue line-Patches, welche online erworben werden können
Guardian oder Warrior? Überlegungen zu polizeilichen Grundeinstellungen
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predators, the good from the bad. We are the police“. Die Idee der thin blue line kann dabei bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurückverfolgt werden (Wall 2020); sie ist keine neue Erscheinung. Ebenso wenig wie die kritische Auseinandersetzung mit ihr (Kersten 1998). Kersten beschreibt bereits 1998 treffend die Problematik dieser Idee mit Bezug zu den daraus resultierenden Einstellungen von Polizist*innen. Er weist damit genau auf die Verwobenheit von sichtbaren Artefakten, geteilten Werten und den beabsichtigten Grundannahmen der Institution Polizei hin. Deutlich wird dabei auch die Divergenz zwischen einer beschützerischen und kriegerischen Orientierung, wie sie gewünscht ist (Grundannahme der Polizei) und sich teilweise darstellt (geteilte Werte, Artefakte): „Dabei [thin blue line] handelt es sich dieser Ideologie zufolge um die nur noch von der Bastion Polizei erkannte und aufrecht gehaltene Grenze zwischen dem untersten Standard einer gesellschaftlichen Ordnung und der Chaoswelt des Gesocks, der Spitzbuben, der Kriminellen. Eine Strategie von Härte und Nulltoleranz zerstört genau das, was Leitbild auf dem Weg in eine „anständige Gesellschaft“ sein muß: eine Polizei, ein Kriminaljustizsystem als Visitenkarte der Gesellschaft. Diese Institutionen werden Demütigung und Erniedrigung des „polizeilichen Gegenübers“ unter allen Umständen auch da zu vermeiden suchen, wo die Lebensumstände der Menschen und ihre Alltagskultur ohnehin von Erniedrigung und Demütigung geprägt sind. Die amerikanische Forschung zeigt, daß in der Kultur polizeilicher Dienstgruppen aus Mut und Entschlossenheit bei der Strafverfolgung negative Tugenden resultieren können. Auch motivierte und zunächst regeltreu agierende Beamte bilden Risikoverhalten und Übergriffsroutinen aus. Daraus können Wertorientierungen entstehen, die in ihrem Gebots- und Verbotscharakter denen von street-gangs zum Verwechseln ähnlich werden: bedingungslose Treue zum Kumpel, überbetonte Wachsamkeit und Mißtrauen, Territorialität und gleichmachende Clan-Ideologie.“ (Kersten 1998, S. 37)
Die Strategie der Härte der thin blue line-Idee scheint kongruent zu einer Warrior- Orientierung zu sein. Entsprechend erscheint eine symbolische Verbindung von Totenkopfsymbol des Comiccharakters des Punishers – als Archetyp eines Kriegers – und der thin blue line (siehe Abb. 2) nur sinnlogisch. Als symbolischer Ausdruck der thin blue line lässt sich in der populärwissenschaftlichen Literatur – und hier besonders bei Grossman (Grossman 1996; Grossman und Christensen 2007) – der „Schäferhund“ identifizieren (Wall 2020). Dieser wird in Anbetracht der angenommenen kontinuierlichen Gefahr der Schafsherde durch den Wolf als ein Superpredator – als das Biest innerhalb der Polizei – konzeptionalisiert. Während also jede/r Bürger*in ein mögliches Biest sein könnte – ist es Polizist*innen erlaubt, ein Biest zu sein (Wall 2020). Eine Sichtweise, die mit einer Guardian-Einstellung – gerade in Bezug auf ein bedingungsloses Bekenntnis zur Menschenwürde – nicht vereinbar erscheint. Diese Konzeptionalisierung des/r Polizist*in als „nobles Biest“ steht in einem engen Zusammenhang mit dem häufig reproduzierten Gefahrennarrativ innerhalb der Polizei (Branch 2020), welches auch in deutschen polizeipraktischen Texten seinen Niederschlag findet (Grandel 2015; Schmidt 2017): „Die Gefahr ist ein ständiger Begleiter des Polizeibeamten, jeden Tag!“ (Grandel 2015, S. 59). Eine reflexionswürdige Annahme mit dem kritischen Potenzial, Einstellungen hin zu einer Warrior-Orientierung zu beeinflussen.
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3
M. Staller et al.
Brauchen wir (auch) Krieger*innen?
Angesichts der Dichotomie der beiden Einstellungskonzepte – Warrior vs. Guardian – stellt sich nicht zuletzt aufgrund der möglicherweise zu bewältigenden Terrorlagen die Frage, inwieweit Polizist*innen in Deutschland ein Warrior Mindset brauchen. Diese Frage wurde auch in der internationalen Diskussion – mit Verweis auf die hier dargestellte populärwissenschaftliche Literatur aufgeworfen – und mit „Ja“ beantwortet (Boe et al. 2020). Ähnlich wie hier dargestellt argumentierten wir dagegen (Körner und Staller 2020): Normativ-ethische, aggressionspsychologische und soziologische Überlegungen sowie empirische Daten weisen auf die Nachteile einer entsprechenden Orientierung hin. Die beiden beschriebenen Grundeinstellungen rahmen und formen die Einstellungen in Bezug auf das Polizieren im Allgemeinen sowie das polizeiliche Einschreit- und Konfliktverhalten im Speziellen, da diese je nach Einsatz- und Verwendungsbereich variieren können. Auf einer normativen Ebene im Sinne einer demokratisch orientierten Polizeiarbeit zeigt sich das Guardian Mindset als Grundeinstellung polizeilichen Arbeitens als alternativlos. Im Übrigen schließt das Guardian Mindset „harte“ Attribute wie die situative Anwendung von Gewalt, die Bereitschaft zu kämpfen und die Fähigkeit durchzuhalten keineswegs aus. Gerade im Hinblick auf den Schutz und die Sicherheit von Bürger*innen und Polizist*innen hat eine vom Guardian Mindset getragene Einstellung positive Effekte auf die Polizeiarbeit: Die Gründe dafür sind: • Das Vermeiden konfrontativer Lösungen erhöht die Sicherheit von Bürger*innen und Polizist*innen (Mummolo 2018). Besonders erwähnenswert ist hier die Studie von Ellrich et al. (2011), die einen Zusammenhang zwischen einem erhöhten Training von Gewalthandeln und einer erhöhten Viktimisierung der am Training teilnehmenden Polizist*innen zeigt (Ellrich et al. 2011), sowie eine aktuelle Studie aus den Vereinigten Staaten, die einen Zusammenhang zwischen der Teilnahme an konfrontativ geprägten Trainingssettings und einer höheren Anzahl an Situationen tödlicher polizeilicher Zwangsanwendung zeigt im Vergleich zu Trainingssettings, welche einen Schwerpunkt auf die Vermeidung von aggressivem Vorgehen in Konfliktsituationen in den Mittelpunkt stellen (Li et al. 2020). • Bürger*innen, die der Polizei vertrauen, sind eher bereit zu kooperieren und weniger geneigt, sich den Beamt*innen zu widersetzen, was das Risiko für die Beamt*innen und die Notwendigkeit von Überwältigungshandeln verringert (Stoughton 2016). • Ein Polizieren unter der Einstellung des Guardian Mindsets erhöht das soziale Kapital der Polizeibehörde in der Gesellschaft, was das Misstrauen gegenüber polizeilichen Handlungen verringert (Burke 2020; Wood et al. 2020). • Ein Polizieren unter demokratischen Idealen ermöglicht für Polizist*innen eine höhere Anzahl an Erlebnissen positiver Interaktionen mit Bürger*innen (Burke 2020). Dies wiederum ermöglicht das Begegnen negativer polizeilicher Stereotype und damit der
Guardian oder Warrior? Überlegungen zu polizeilichen Grundeinstellungen
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Bestärkung des eigenen Selbstbildes. Auch führt eine Guardian-orientierte Polizeiarbeit zu einem erhöhten Wohlbefinden aufseiten von Polizist*innen (Burke 2020).
4
Sichtbarkeit, Beobachtung und Diagnostik
Einstellungen – sowie die darunterliegenden Werte und Überzeugungen – sind nur bedingt beobachtbar – und reflexiv betrachtet, immer abhängig von der eingenommenen Beobachtungsperspektive und dem genutzten Instrument (Körner 2009). Auf individueller und organisationaler Eben ist das, was sichtbar ist, nicht gleichbedeutend mit dem, was darunterliegt. Gerade die Unterscheiddung von impliziten und expliziten Einstellungen zeigt, dass der individuelle und organisationale Bewusstseinsgrad von Einstellungen variieren können. Auch zeigt die Einstellungs- und Verhaltensforschung, dass Einstellung und das Verhalten nicht immer kongruent sein müssen (Ajzen und Fishbein 2000). Das macht die Interpretation nicht einfacher. Vom Verhalten kann nicht direkt auf die darunterliegende Einstellung und Werteorientierung geschlossen werden. Ähnlich wie in der analytischen Betrachtung der Organisationskultur (Schein 2009), sind die sichtbaren Artefakte einer Interpretation zugänglich. Die psychologische Forschung hat die Einstellungs-Dichotomie Warrior vs. Guardian in jüngster Zeit ebenfalls für sich entdeckt (Clifton et al. 2021; McLean et al. 2019, 2021; Stephan et al. 2019). Über die Konstruktion und das anschließende Nutzen entsprechender Fragebögen wurde versucht, die beiden Konstrukte zu erfassen, zu diskriminieren und Handlungstendenzen in der polizeilichen Praxis abzuleiten. Basierend auf der a ngewandten Methodologie zeigt sich, dass beide Konstrukte unterscheidbar sind (McLean et al. 2019), sich in unterschiedlichen Tendenzen in Bezug auf die Bewertung polizeirelevanter Sachverhalte zeigen (McLean et al. 2019) und dass beide Einstellungsorientierungen in Polizist*innen vorliegen können (Clifton et al. 2021; McLean et al. 2019; Stephan et al. 2019). In Bezug auf die Bewertung polizeirelevanter Sachverhalte zeigte sich in der Studie von McLean et al. (2019), dass einerseits höhere Werte beim Guardian-Konstrukt mit einer stärkeren Überzeugung der Priorität von Kommunikation in der Interaktion mit Bürger*innen und einer negativen Einstellung zum Fehlverhalten in Bezug auf Gewalteinsatz verbunden waren. Andererseits waren höhere Werte auf dem Warrior-Konstrukt mit schwächeren Überzeugungen in Bezug auf verbale Kommunikation als Priorität in Interaktionen und positiveren Einstellungen gegenüber Fehlverhalten im Kontext von Gewalthandlungen verbunden. Nur das Krieger-Konstrukt zeigte einen Zusammenhang mit der Priorität von Kontrolle und Autorität, sodass eine Krieger-Mentalität mit einer höheren Priorisierung von physischer Kontrolle verbunden war. Eine aktuelle Studie von Clifton et al. (2021) weist darauf hin, dass insbesondere Polizist*innen, die eine aggressive Durchsetzung des Gesetzes befürworten, eher eine Guardian-Orientierung unterstüzen. Die Autor*innen fanden jedoch Hinweise darauf, dass hispanische und Latino/a-Streifenbeamte diesen hybriden Stil der Polizeiarbeit stärker unterstützen als weiße Beamt*innen.
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M. Staller et al.
Auf organisationskultureller Ebene zeigen erste Studien Interesse für eine Analyse von Warrior- und Guardian-spezifischen Artefakten in Werbevideos der Polizei (Koslicki 2020). Gerade die systematische Analyse von Artefakten in unterschiedlichen polizeilichen Kontexten könnte hier weitere Deutungsmöglichkeiten eröffnen.
5
insatztraining: Setting der Vermittlung – Setting E der Reflexion
Die polizeiliche Grundeinstellung in Bezug auf die Warrior – Guardian-Orientierung hat aufgrund der Relevanz für die Einsatz- und Konfliktgestaltung zwei zentrale Bezugspunkte zum polizeilichen Einsatztraining. Zum einen ist das Einsatztraining auf expliziter und impliziter Ebene ein Trainingssetting der Vermittlung entsprechender Einstellungen. Auf impliziter Ebene besteht in vielfacher Hinsicht Einfluss auf die Entwicklung von Werten und Einstellungen von Polizist*innen: durch eine entsprechende curriculare Ausrichtung, genutzte Insignien, Rhetorik und kulturell dargestellte und genutzte Artefakte. Unter dem Stichwort des verdeckten Lehrplans wurden hier bereits erste Analysen durchgeführt (Staller et al. 2019). Auf expliziter Ebene besteht die Möglichkeit einer metaphern-orientierten Werte- und Einstellungsvermittlung über das Guardian- und Warrior-Konzept (Thibodeau et al. 2017). In einer Studie von Thibodeau et al. (2017) konnte nachgewiesen werden, dass die Verwendung dieser Metaphern zur Erklärung der polizeilichen Arbeit kausal die Einstellung gegenüber der polizeilichen Arbeit in einer metaphern-kongruenten Weise beeinflusste (d. h., die Exposition gegenüber der Guardian-Metapher führte zu einer positiveren Einstellung). Ein Ergebnis, das nicht durch einfaches lexikalisches Priming erklärt werden konnte. Die Studie ergänzt bestehende Arbeiten, die Metaphern als einen reflexiven Mechanismus zur Repräsentation abstrakter Konzepte identifiziert haben, und weist damit auf die Vermittlungsfunktion in Bezug auf Einstellungen und Überzeugungen über Metaphern hin. Fazit Warrior oder Guardian? Wie sich Polizist*innen in der Polizei-Bürger*innen-Interaktion verhalten, lässt sich nicht zuletzt auf Sinnkomplexe beziehen, die im aktuellen Polizeidiskurs als gegensätzliche Mindsets einer Guardian- oder Warrior-Einstellung diskutiert werden. Zum einen legen Forschungen nahe, dass Einstellungen wie diese das Konflikthandeln von Polizist*innen beeinflussen – zumal wenn diese als geteilte Werte in der Organisationskultur über Insignien, Narrative und Symbole zur Darstellung gebracht und damit reproduziert werden. Zum anderen ermöglicht die Unterscheidung von Guardian- und Warrior Mindsets Ansatzpunkte für die Analyse und Folgenreflexion vorherrschender Orientierungen. Normativ sprechen wir dem Guardian Mindset die Rolle einer Leitorientierung für Polizist*innen, Trainer*innen und Polizeiorganisationen zu: Der beschützerische Sinnkomplex entspricht dem Fernziel der Polizei, langfristig zu einer Reduktion von Gewalt in der Gesellschaft beizutragen.
Guardian oder Warrior? Überlegungen zu polizeilichen Grundeinstellungen
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Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Entscheider*innen tragen Verantwortung für die Organisationskultur und die Konstruktion der darin geteilten Werte. Entscheider*innen wissen, dass kultivierte Werte die Einstellung und diese wiederum das Handeln von Polizist*innen beeinflussen. Deshalb zählt es zu ihrer Aufgabe, die in der Polizeikultur protegierten Mindsets offen und konstruktiv zu reflektieren, kritisch zu begleiten und ggf. strukturelle Veränderungen anzustoßen. Zusätzlich sollten sie über gezielte Schulungen zum Themenkomplex die Reflexion der Einstellung von Polizeibeamten*innen in der Aus- und Fortbildung fördern. Nicht zuletzt dadurch kann extremen Ausprägungen und einem möglichen negativen Impact auf das polizeiliche Handeln entgegengewirkt werden. b) Einsatzkräfte Einsatzkräfte profitieren von einer hohen Reflexivität in Bezug auf die eigene handlungsleitende Einstellung. Zu den leitenden Fragen zählen unter anderem die folgenden: • Welche Aspekte der kriegerischen Einstellung sind in der eigenen Einstellung fundiert? • Welche Aspekte der beschützenden Einstellung? • Welche Mentalität dominiert das eigene polizeiliche Handeln und das meiner Kollegen*innen? • An welchen Stellen zeigt sich die Einstellung im eigenen Auftreten oder im Auftreten von Kolleg*innen, Trainer*innen etc. (z. B. in Form von Insignien) und Handeln? • Mit welcher polizeilichen Grundeinstellung möchte ich langfristig arbeiten? Und warum? c) Einsatztrainer*innen Einsatztrainer*innen haben einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Grundeinstellung von Polizisten*innen. Zudem haben gerade sie die Möglichkeit, zugrunde liegende Einstellungen an konkreten Handlungsvollzügen von Polizist*innen in Trainingssituationen zu thematisieren. Die Reflexion kann in zwei Schritten erfolgen:
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M. Staller et al.
1. Reflexion der eigenen Einstellung • Welche Aspekte der kriegerischen Einstellung finden sich in der eigenen Einstellung wieder? • Welche Aspekte der beschützenden Einstellung? • An welchen Stellen zeigt sich die Einstellung im eigenen Auftreten (z. B. in Form von Insignien) und Handeln? • Was sind die (Hinter-)Gründe und Promotoren für die Ausprägung der eigenen Einstellung? • Welche Einstellung dominiert das eigene polizeiliche Handeln und das meiner Kollegen*innen? 2. Reflexion des Einflusses der eigenen Einstellung auf das Einsatztraining: • Welche Mentalität beeinflusst die Gestaltung des Einsatztrainings? • Welche Grundeinstellung unterrichte ich und woran zeigt sich das im Training (Narrative, Insignien etc.)? • Wie stehe ich normativ zur beschützenden und kriegerischen Einstellung? • Welche Einstellung akzeptiere ich bei den Polizisten*innen und welche lehne ich ab? • Ist die Einstellung unter den Einsatztrainer*innen ähnlich? Wenn ja, warum? • Wie beeinflusst die Grundeinstellung des Trainerteams das Einsatztraining?
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Professionelles Einsatzverhalten: Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell Mario Staller, Swen Koerner und Benjamin Zaiser
Inhaltsverzeichnis 1 D as Modellieren effektiven Einsatzverhaltens 2 Das Deeskalierende Einsatzmodell 2.1 Kritik 1: Fehlende systematische Update-Struktur 2.2 Kritik 2: Fehlende Ergebnisorientierung von Deeskalation 2.3 Kritik 3: Komplexität der Entscheidungssituation und Abwägungsprozesse 2.4 Kritik 4: Reflexion 2.5 Bedarf nach einem alternativen Einsatzmodell 3 Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell/Das Professionelle Einsatzmodell 3.1 Zielrichtung & konstruktive Anordnung 3.2 Umgang mit Komplexität 4 Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell (GeredE) 4.1 Wissensdomäne „Wer“ 4.2 Wissensdomäne „Was“ 4.3 Wissensdomäne „Wie“
224 225 226 227 228 229 230 230 231 232 233 233 235 235
Reviewer*innen: Jan Beek, Eric Haupt M. Staller (*) Fachbereich Polizei, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Koerner Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research, Deutsche Sporthochschule, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] B. Zaiser Tactical Decision Making Research Group, University of Liverpool, Liverpool, UK © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_12
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M. Staller et al.
224 4.4 Wissensdomäne „Kontext“ 4.5 Wissensdomäne „Selbst“ 4.6 Wissensdomäne „Einsatzpraxis“ Literatur
235 236 236 239
Zusammenfassung
Polizeiliches Einsatzhandeln ist dynamisch und vor allem komplex. Einsatzmodelle beschreiben, was im Einsatz passiert, und helfen dabei, die Einsatzpraxis vor Ort zu optimieren. Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell (GeredE) stellt eines dieser Einsatzmodelle dar. Als handlungsstrukturierender- und -leitender Nachfolger des Deeskalierenden Einsatzmodells (Staller et al. 2021b) eröffnet das GeredE Polizist*innen eine Navigationsstruktur innerhalb der Einsatzkomplexität. Dabei liefert es keine Wenn- Dann-Struktur für die unendlichen Fälle möglicher Einsatzsituationen, sondern ermöglicht die Planung und Reflexion von spezifischem Einsatzhandeln anhand von sechs Dimensionen, welche miteinander eng verknüpft sind und sich wechselseitig bedingen.
1
Das Modellieren effektiven Einsatzverhaltens
Effektives Einsatzverhalten ist schwer zu definieren. Wie in anderen subjektiv geprägten Tätigkeitsbereichen, beispielsweise im Coaching, liegt dies vor allem an der Variabilität des Einsatzergebnisses und dessen Interpretation. Grund hierfür sind die Nicht-Linearität zwischen Einsatzverhalten und Einsatzergebnis sowie die Subjektivität in der Beurteilung von Einsatzergebnis und -verhalten. Wann ein Einsatz als erfolgreich und effektiv gilt, ist abhängig vom Standpunkt des Betrachters, wie die öffentlichen Diskussionen über aufsehenerregende Polizeieinsätze, wie zum Beispiel der Polizeieinsatz um Stuttgart 21, Hamburg G20, Demonstrationen zu den Corona-Beschränkungsmaßnahmen oder aber einzelne Bürger*innen-Polizei-Interaktionen, welche gefilmt und in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Ist ein Einsatz effektiv, wenn alle Polizist*innen sicher nach Hause kommen? Wenn kein/e Bürger*in verletzt wurde? Wenn keine Gewalt angewandt wurde oder nur im Ausnahmefall? Wenn die Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung hochgehalten wurden? Wenn die Situation unter Kontrolle war? Wenn alle Perspektiven gehört wurden? Wenn der vorgegebene Auftrag (z. B. Festnahme) ausgeführt wurde? Die Bewertung guten Einsatzverhaltens an der Erfüllung vorgegebener Einsatzziele alleine ist nicht zielführend. Ziele können unabhängig vom dargelegten Einsatzverhalten erreicht werden. Andererseits können sich Einsatzkräfte vorbildlich verhalten haben, ohne das Einsatzziel erreicht zu haben. Eine ergebnisorientierte Bewertung berücksichtigt weder Glück oder Zufall noch den zum Zeitpunkt des Einsatzes den Einsatzkräften bekannten Informationsumfang. Ein weiteres Problem liegt in der Situationsabhängigkeit erfolgreichen Einsatzverhaltens: Was in einem polizeilichen Kontext die Interaktion mit
Professionelles Einsatzverhalten: Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell
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Bürger*innen erfolgreich gestaltet, vermag in einer anderen Situation den Einsatzerfolg zu gefährden oder gar auszuschließen. So liefert beispielsweise ein deeskalierender Ansatz durch aktives Zuhören nur so lange lagelösenden Zeitgewinn, wie eine PIK (Person in Krise) durch Eigengefährdung oder Gefährdung Dritter kein sofortiges Eingreifen durch die Anwendung unmittelbaren Zwangs verlangt. In der nationalen und internationalen Polizeiliteratur werden verschiedene Modelle des polizeilichen Einsatzverhaltens angeführt, welche sich in Modelle über das polizeiliche Einsatzverhalten oder für das polizeiliche Einsatzverhalten unterteilen lassen. Modelle über das polizeiliche Einsatzverhalten beschreiben, was im Einsatz passiert. Sie basieren auf der beobachteten Praxis und sind nicht immer theoretisch vor dem Hintergrund einschlägiger Literatur reflektiert worden. Modelle für das polizeiliche Einsatzverhalten hingegen wurden theoretisch entwickelt, um die Einsatzpraxis vor Ort zu optimieren, ohne jedoch zwangsläufig in der Praxis getestet und evaluiert worden zu sein. Das in diesem Kapitel dargestellte Modell zum polizeilichen Einsatzverhalten schließt die Lücke zwischen Theorie und Praxis, indem es sowohl polizeiliches Einsatzgeschehen beschreibt (über-Modell) als auch den aktuellen Stand der Literatur als evidenzbasierten Referenzpunkt für polizeiliches Einsatzverhalten (für-Modell) wiedergibt. Als Gewaltreduzierendes Einsatzmodell (GeredE) (Staller et al. 2021b) erhebt es den Anspruch einer Ablösung des bisher dominierenden Deeskalierenden Einsatzmodells (Bernt und Kuhleber 1991), welches aktuell noch innerhalb der Polizei fest verankert ist. Eine jüngst durchgeführte kritische Analyse des Deeskalierenden Einsatzmodells offenbarte verschiedene Schwächen, welche sich in vier Hauptkritiken zusammenfassen lassen. In Anbetracht der Kritiken und vor dem Hintergrund von Professionalisierungsbestrebungen im polizeilichen Einsatzhandeln (Körner et al. 2018) wurde jüngst dafür plädiert, nicht weiter an diesem Modell festzuhalten (Staller et al. 2021b). Im Folgenden legen wir die vier geäußerten Hauptkritikpunkte des Deeskalierenden Modells dar und stellen im Anschluss eine jüngst vorgestellte Alternative vor, die die geäußerten Kritiken ernst nimmt und konstruktiv wendet (Staller et al. 2021b).
2
Das Deeskalierende Einsatzmodell
Das Deeskalierende Einsatzmodell (Bernt und Kuhleber 1991) ist seit 30 Jahren fester Bestandteil der polizeilichen Aus- und Fortbildungspraxis. Eingeführt von Bernt und Kuhleber im Jahr 1991, dient es als Basis des polizeilichen Einsatzhandelns und als Rahmen gebendes Modell des Leitfadens 371 Eigensicherung (Leitfaden 371 2002). Es strukturiert das polizeiliche Handeln in drei zirkulär angeordnete Phasen: die Vorbereitungsphase, die Aktionsphase und die Nachbereitungsphase. Die Vorbereitungsphase umfasst die Komponenten (a) der Informationsgewinnung und -weitergabe, (b) die Einstimmung auf den Einsatz und (c) das Element der Absprache/Führung. Die Aktionsphase kann in (a) Annäherung zum Einsatzort und (b) offensive und defensive taktische Handlungsalternativen unterteilt werden. Die Nachbereitung umfasst die (a) Dokumentation des Einsatzes, die
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M. Staller et al.
(b) Aufbereitung der Informationen und die (c) Vorsatzfassung. Im Zentrum steht dabei das Lernen der während des Einsatzes gemachten Erfahrungen und der daraus gewonnenen Einsichten. Auf einer handlungsleitenden Ebene gibt das Modell Handlungsalternativen vor und weist dabei auf die „Eignung jeder einzelnen Handlungsalternative“ (S. 226) sowie die „richtige Auswahl und professionelle Durchführung der jeweils günstigsten Alternative“ (S. 226) hin. Diese Handlungsalternativen werden in den „Stufen der Deeskalation“ (S. 228) beschrieben und weisen offensive Alternativen von der anlassbezogenen Kommunikation bis hin zum Einsatz von Waffen aus. Auf der defensiven Seite sind Sicherungsstellung, Distanzveränderung, Deckung und Rückzug stufenförmig angeordnet.
2.1
Kritik 1: Fehlende systematische Update-Struktur
Bernt und Kuhleber (1991) weisen ausdrücklich auf eine mögliche Selbstkorrektur des Deeskalierenden Einsatzmodells hin. Neuere Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis „könnten zur Veränderung einzelner Grundlagen führen“ (S. 224). In Bezug auf die polizeiliche Einsatzbewältigung wurde die Evidenzbasis seit Entwurf des Modells kontinuierlich unter Einbezug benachbarter wissenschaftlicher Disziplinen erweitert. In Anbetracht dieser Wissensbestände erscheint eine lineare Weiterentwicklung des Deeskalierenden Einsatzmodells im Sinne einer Addition neuer Wissensbestände nur bedingt zielführend. Der Grund hierfür ist, dass die Komplexität des Einsatzhandelns (siehe Kritikpunkt 3) den Einbezug von weiteren Einflussfaktoren, Theorien und Konzepten fordert, welche in der Gesamtschau im Rahmen von Abwägungs- und Entscheidungsprozessen im Einzelfall die vorgenommene Handlung begründen und Möglichkeiten zur Reflexion des eigenen Einsatzhandelns liefern. Der so gut wie nicht vorhandene Diskurs innerhalb der vergangenen 30 Jahre zur Modellierung polizeilichen Einsatzverhaltens zeigt, dass die angedachte Selbstkorrektur des Deeskalierenden Einsatzmodells keine Wirkung entfaltete. Dabei legt das Modell genau dieses Vorgehen in seiner Binnenstruktur selbst dar: systematische Nachbereitung im Nachgang der Anwendung des Modells unter Einbezug neuerer Informationen. Dies erfordert zum einen ein kontinuierliches Auswerten und Beschäftigung mit relevanten Wissenschaftsgebieten, um neuere Ergebnisse mit dem Modell in Verbindung zu bringen, aber auch das aktive Gestalten eines Erkenntnisgewinns über beispielsweise die Wirkungsweise des Modells im Einsatz oder den praktischen Nutzen des Modells für Polizist*innen im Einsatz. Gerade im Kontext der neuralgischen gesellschaftlichen Schnittstelle von Bürger*innen-Polizei-Interaktion erscheinen fast 30 Jahre ohne systematische Evaluation als deutlich zu lange. Wir setzen hier an. Unter Einbezug neuer Wissensbestände und einer analytischen Reflexion des Modells kommen wir dem Bedarf nach Überarbeitung des Modells nach und weisen im Modell selbst den Bedarf an regelmäßigen systematischen Updates aus.
Professionelles Einsatzverhalten: Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell
2.2
227
Kritik 2: Fehlende Ergebnisorientierung von Deeskalation
Die tragende Idee der Deeskalation des Modells klingt im Sinne eines demokratischen, sozialen Rechtsstaatsverständnisses zunächst als zustimmungswürdig. Bernt und Kuhleber (1991) definieren Deeskalation selbst nur implizit über eine Abgrenzung zur Eskalation: „Eskalation sind Prozesse zirkulärer Interkationen, bei denen sich alle Beteiligten in Richtung wachsender Abweichung stimulieren. Jeder Schritt der einen Seite erfährt positives Feedback durch die andere. Es ereignen sich Reiz-Reaktions-Sequenzen, mit denen der Konflikt „in sich verstärkende Turbulenzen trudelt“ (S. 221). Wenn also Eskalation das spiralförmige, gegenseitige Verstärken von Abweichungen ist, besteht das Gegenteil darin, diese Reiz-Reaktions-Sequenzen zu durchbrechen und durch das eigene Verhalten die Spannungen innerhalb des Konfliktes zu reduzieren. Diese Definition wird auch an anderer Stelle geteilt (Oliva et al. 2010) – erscheint aber gerade im polizeilichen Kontext nicht konsentiert zu sein (siehe (Engel et al. 2019). So fassen Bernt und Kuhleber (1991) unter Deeskalation auch den Einsatz von Waffen: „Es existieren jedoch auch Einsatzanlässe, bei deren Beginn eine derartige Brisanz und Gefährlichkeit vorhanden ist, daß unter den gegebenen Umständen die Anwendung von Eingriffstechniken, von Hilfsmitteln oder sogar der Einsatz von Waffen die einzig verbleibende sachgerechte ‚Deeskalationsmöglichkeit‘ darstellt“ (S. 228). Aktuelle Untersuchungen zur Wahrnehmung von Deeskalation durch Polizeibeamt*innen (Todak und White 2019) weisen ebenfalls auf eine Sichtweise hin, Zwangsmaßnahmen unter bestimmten Umständen unter den Terminus Deeskalation zu subsumieren. Konsens scheint insofern zu herrschen, dass Deeskalation, soweit Zwangsmaßnahmen ausgeschlossen sind, dass das Eingehen auf die Perspektive des/r Bürger*in gerade in Bezug auf das polizeiliche Handeln ein zentrales Element darstellt (Todak und James 2018; Todak und White 2019). Doch auch hier offenbaren sich Grauschattierungen: So können Polizist*innen zu- und anhören, um (a) Einsicht in die Welt und Sichtweise des/ der Bürger*in zu gewinnen und Verständnis zu entwickeln oder um (b) ungewollte Reaktionen zu minimieren und um proaktiv normative Fügsamkeit zu produzieren (Radburn et al. 2020). Das eine beinhaltet nicht notwendigerweise das andere. Die reine instrumentelle Anwendung von Deeskalationspraktiken erscheint ohne die entsprechende darunterliegende Grundeinstellung und Sichtweise auf Bürger*innen fragwürdig (Zaiser und Staller 2015). Es kommt also nicht darauf an, ob deeskaliert wird (das setzen wir in einem demokratisch, sozial-rechtsstaatlichen Verständnis voraus), sondern wie. Die primär instrumentelle Anwendung von Deeskalationswerkzeugen scheint dem Deeskalierenden Einsatzmodell inhärent. So werden Kommunikationsstrategien im Rahmen der offensiven Handlungsalternativen genannt; das Eingehen auf die Perspektive des/ der Bürger*in allerdings nicht. Vielmehr steht die eigene Perspektive, das Erreichen der eigenen Ziele im Mittelpunkt: Die Kommunikation dient u. a. dazu, „den Adressaten durch das Gespräch zu binden“ (S. 229), Informationen zu gewinnen und die eigene Absicht darzulegen.
228
M. Staller et al.
Auch, dass Bürger*innen „den Einsatz der Schlagwaffe schnell als unangemessen“ (S. 230) empfinden, klingt zwischen den Zeilen nicht nach einer von gegenseitigem Verständnis und Akzeptanz getragenen Haltung. Es klingt hier ein subtiles Unverständnis für die Sichtweise von Bürger*innen an. Das Vorziehen der eigenen Sichtweise als Polizist*in wird auch an anderer Stelle auf impliziter Ebene offenbar. So soll das Deeskalierende Einsatzmodell das Sicherheitsgefühl der Beamt*innen erhöhen – das Sicherheitsgefühl der Bürger*innen wird nicht erwähnt. Es besteht die Gefahr, dass aufgrund der Unklarheiten in Bezug auf den Terminus der Deeskalation und deren Auslegungsmöglichkeiten in der konkreten polizeilichen Handlungspraxis die Gleichberechtigung der Sichtweisen und Perspektiven von Bürger*innen und Polizei zu einer Pseudogleichberechtigung umgedeutet wird. Damit wird die Deeskalation als Leitziel ihres Potenzials beraubt. Lösungsmöglichkeiten ergeben sich aus unserer Sicht in der Fokussierung auf das langfristige Ergebnis von Polizei-Bürger*innen-Interaktionen. Deeskalation beschreibt einen Prozess und nicht das Ergebnis des Prozesses. Da das Ziel (das Ergebnis) nicht explizit formuliert wurde, existiert auch keine Reflexionsebene, anhand derer abgeglichen werden kann, ob eine vorgenommene Handlung zielführend war. Wir plädieren an dieser Stelle für das Postulat eines Ergebnis-Ziels der Polizei-Bürger*innen-Interaktion, anhand dessen sich Prozessmaßnahmen unterordnen lassen und welche getragen wird von einer demokratischen, sozial- und rechtsstaatlichen Einstellung des/der handelnden Polizist*in.
2.3
ritik 3: Komplexität der Entscheidungssituation K und Abwägungsprozesse
Das Deeskalierende Einsatzmodell weist ausdrücklich auf die Dynamik und Komplexität von Einsatzverläufen hin. Eine entsprechende Konzeptionierung, welche Prinzipien des Handelns anstatt dezidierter Wenn-Dann-Beziehungen in den Mittelpunkt stellt, scheint hier durchaus funktional (Staller et al. 2020a). Eine prinzipienbasierte Handlungsstruktur könnte als bewusste Komplexitätsreduktion im Sinne Luhmanns (2009) verstanden werden, wonach Komplexität ein „Hindernis des Durchblicks auf die richtige Entscheidung“ (S. 5) darstellt. Problematisch erscheint hingegen die unbewusste Reduzierung der Komplexität des polizeilichen Einsatzhandelns innerhalb des Modells, was ein begrenztes Verständnis für die Komplexität des Einsatzhandelns derer, die das Modell nutzen, zur Folge haben könnte (Luhmann 2009). Die unbewusste und damit problematische Reduzierung der Komplexität zeigt sich darin, dass das Deeskalierende Einsatzmodell an mehreren Stellen voneinander isolierte und in sich geschlossene Wirkungsmechanismen in den Mittelpunkt rückt. Damit thematisiert das Modell keine Interaktionseffekte jenseits der jeweiligen isolierten Betrachtungen. Einflussgrößen, die auf sachlicher, zeitlicher und sozialer Ebene interagieren, finden keine Erwähnung. So wird Interaktionseffekten über die zeitliche Dimension kaum Rechnung getragen. Die polizeiliche Zielerreichung des spezifischen Einsatzes steht im Mittelpunkt. Die möglichen Auswirkungen auf die langfristige Bürger*innen-Polizei-Beziehung sowie die Effekte
Professionelles Einsatzverhalten: Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell
229
auf die langfristigen Ziele polizeilichen Handelns werden nicht thematisiert. So kann beispielsweise kurzfristig (im Einsatz) Autorität gewonnen werden, was aber zu einem nachhaltigen Vertrauensverlust vonseiten des/der Bürger*in gegenüber der Polizei führen kann (Giles 2002, 2009; Giles et al. 2007; Tyler und Huo 2002; Wolfe und Piquero 2011). In Bezug auf die sachliche Dimension wird die Interaktion in möglichen Konfliktsituationen auf Wenn-Dann-Beziehungen reduziert (Staller und Körner 2020). Gewalt ist selten einfach da (Kron 2019), vielmehr entsteht sie – auch im polizeilichen Kontext (Alpert 2004; Reuter 2014; Rojek et al. 2012) – in der Interaktion zwischen den beteiligten Individuen. In Bezug auf die soziale Dimension reduziert das Deeskalierende Einsatzmodell die Komplexität durch einen Fokus auf die polizeiliche Perspektive. Als Einsatzmodell für die Polizei mag dies berechtigt erscheinen, doch beinhaltet der Fokus auf lediglich eine Sichtweise die Gefahr eines Ausblendens der Sichtweisen weiterer beteiligter Parteien. Dies kann die Konfliktlösung in bestimmten Situationen erschweren. So stellt das Deeskalierende Einsatzmodell die Situationsbeherrschung, und damit die Kontrolle durch die Polizei, in den Mittelpunkt. Allerdings werden die Interaktionseffekte mit dem Verhalten von Bürger*innen nicht diskutiert. Inwieweit die Polizei eine Einsatzsituation kontrolliert (oder nicht), wirkt sich auf das Verhalten von Bürger*innen aus. Das Einnehmen der reinen Bürger*innenperspektive ermöglicht hier einen erweiterten Erkenntnisgewinn. So stellt sich die Frage, welche Situationen beispielsweise zu welchem Grad und warum beherrscht werden müssen. Die Anwendung unmittelbaren Zwangs, welche durch die Eskalation der Lage ein erheblich höheres Verletzungsrisiko für alle Beteiligten mit sich bringt, ist schwierig zu rechtfertigen, wenn eine Lagelösung durch deeskalierendes Containment eines unter psychischer Beeinträchtigung Leidenden Dritte nicht gefährdet.
2.4
Kritik 4: Reflexion
Das Deeskalierende Einsatzmodell weist die Nachbereitung mit dem Ziel des Lernens aus dem Einsatz explizit als Aufgabe aus. Es gibt allerdings keine prozedurale Orientierung dafür, wie dies geschehen soll. Dies ist besonders vor dem Hintergrund problematisch, dass empirische Befunde zeigen, dass strukturierte und systematische Reflexion als Modus des Erkenntnisgewinns innerhalb polizeilicher Strukturen unzureichend durchgeführt wird (Christopher 2015; Cushion 2020; Staller et al. 2021a). Dem steht die Erkenntnis gegenüber, dass eine systematische Reflexion von Einsätzen die Anwendung polizeilicher Zwangsmaßnahmen reduzieren kann (Wolfe et al. 2020). Weiterhin besteht die Gefahr, dass kognitive Verzerrungen, problematische Werte und Einstellungen sich durch unreflektierte Erfahrungen manifestieren. Abseits der Forderung, dass auf Einsätzen gelernt werden soll, gibt das Deeskalierende Einsatzmodell keine weiteren Anhaltspunkte für eine systematische Reflexion auf unterschiedlichen Ebenen (siehe Kapitel 3 in diesem Handbuch)
230
2.5
M. Staller et al.
Bedarf nach einem alternativen Einsatzmodell
Das Deeskalierende Einsatzmodell diente seit seiner Modellierung 1991 in unzähligen polizeilichen Trainings- und Bildungsveranstaltungen als Vorlage zur Strukturierung polizeilichen Einsatzverhaltens. Das Modell erfuhr jedoch – trotz Ankündigung – keine Weiterentwicklung oder empirische Überprüfung. Seinem Anspruch der Nachbereitung des eigenen Einsatzes kam es demnach selbst nicht nach. In einer analytischen Auseinandersetzung mit dem Modell wiesen wir jüngst – und wie hier kurz dargestellt – auf die Grenzen des Modells hin (Staller et al. 2021b). Als Alternative zur Modellierung professionellen Einsatzhandelns stellen wir ein neues Einsatzmodell vor.
3
as Gewaltreduzierende Einsatzmodell/Das D Professionelle Einsatzmodell
Das neue Einsatzmodell firmiert unter zwei Namen, welche synonym verwendet werden: (1) das „Professionelle Einsatzmodell“ (ProEM) beziehungsweise für das Polizieren jenseits polizeilicher Spezialeinheiten (2) das „Gewaltreduzierende Einsatzmodell“ (GeredE). Der Hintergrund für diese namentliche Zweiteilung liegt in den unterschiedlichen polizeilichen Aufgabenbereichen. Während polizeiliche Spezialeinheiten auf Konfliktlösung durch Zwang spezialisiert sind, sieht der Aufgabenbereich primär bürger*innennah- orientierter Tätigkeitsbereiche (z. B. Schutzpolizei) eine kooperative Konfliktlösung vor. Das Akronym GeredE haben wir als Modellbezeichnung für den zweiten Bereich bewusst gewählt, um damit der normativ-ethischen Ausrichtung des Modells bereits im Namen Ausdruck zu verleihen. Um etwaigen Reaktanzerscheinungen in der Akzeptanz des neuen Einsatzmodells aufgrund des Akronyms vorzubeugen, haben wir uns für die Bezeichnung „Professionelles Einsatzmodell“ als generelle Bezeichnung – nutzbar für alle polizeilichen Handlungsbereiche – entschieden. Das Adjektiv „professionell“ spiegelt dabei die Arbeit in ähnlichen Bereichen, welche von komplexen und dynamischen sozialen Pro blemstellungen geprägt ist (Collins et al. 2016; Staller et al. 2020a; Staller 2021), wider. Der Hintergrund hierfür ist, dass im Falle einer bestimmten Wissensbreite und -tiefe für den Umgang mit komplexen kognitiven Aufgaben auf ein gewisses Maß an Professionalität geschlossen werden kann (Carr 1999). Eine solche Schlussfolgerung bringt es mit sich, dass der/die Praktiker*in in der Lage sein muss, auf theoretisches und praktisches Fachwissen zurückgreifen zu können. Das GeredE/ProEM beabsichtigt, genau diese Grundlage zur Verfügung zu stellen und dem/der Anwender*in so Orientierung in der Komplexität und Dynamik der Einsatzsituation zu liefern. Weiterhin setzt das Modell auf fortgesetzte Kritik und regelmäßiges Falsifizieren. Nur dies gewährleistet fortwährende Relevanz und nachhaltigen Nutzen. Der evolutionäre Charakter des Modells wird mit Versionsnummern gekennzeichnet. Das hier dargestellte Modell trägt die Versionsnummer 1.0; ergo: ProEM v.1.0 beziehungsweise GeredE v. 1.0 (Staller et al. 2021b).
Professionelles Einsatzverhalten: Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell
231
Auf inhaltlicher Ebene basiert das GeredE auf mehreren übergeordneten Ideen, die sich in ihrer Bedeutung für polizeiliches Einsatzverhalten bewährt haben. Diese lassen sich in zwei übergeordnete Kategorien unterteilen: Zielrichtung und konstruktive Anordnung des Modells und Ansätze zum Umgang mit der Komplexität der Einsatzsituation.
3.1
Zielrichtung & konstruktive Anordnung
Das Ziel des GeredE geht über die reine Einsatzbewältigung hinaus. Auch das Nicht- Bewältigen eines Einsatzes (beispielsweise durch taktischen Rückzug oder das „Offen- lassen“ eines Konfliktes) kann unter Umständen eine effektive Konfliktlösungsstrategie sein. Dies erfordert die Betrachtung des Einsatzes in einem größeren Rahmen, der die Auswirkung auf die Wahrnehmung von Bürger*innen und die Gestaltung der Beziehung zwischen der Polizei und der Gesellschaft, von der sie selbst ein Teil ist, mit umfasst. Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung garantiert jedem Mitglied unserer Gesellschaft die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Dies erfordert die Abwesenheit von Gewalt. Um dieses Grundbedürfnis individueller und kollektiver Sicherheit gewährleisten zu können, wurde die Polizei mit dem staatlichen Gewaltmonopol ausgestattet. Dieses legitimiert seinerseits die Durchsetzung der Staatsgewalt durch die Polizei, im Ausnahmefall auch durch die Anwendung unmittelbaren Zwangs. Entsprechend liegt dieser staatlichen Gewaltanwendung durch die Polizei das längerfristige Ziel der Reduktion der Gewalt in unserer Gesellschaft zugrunde (Staller und Körner 2020). Diese normativ-ethische Ausrichtung wird durch Ideen und Konzepte ergänzt, welche diesem Grundsatz in besonderer Weise Rechnung tragen. Hierunter fallen beispielsweise die Theorie der prozeduralen Gerechtigkeit (Klein et al. 2015; Wood et al. 2020), das Konzept der neuen Autorität (Baumann-Habersack 2021; Staubli 2017a) und die Bekennung zu einem grundsätzlich beschützerischen polizeilichen Mindset (McLean et al. 2019; Rahr und Rice 2015; Stoughton 2016). In diesem Rahmen ist polizeiliches Zwangs- und Gewalthandeln im Ausnahmefall1 nicht nur erlaubt, sondern auch notwendig und als solches in unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung begründet. Entsprechend haben wir unser Modell mit dem Zweitnamen GeredE versehen, der dieser klaren Zielrichtung Ausdruck verleihen soll. Für den polizeilichen Alltagsgebrauch empfehlen wir die Verwendung des Sekundärnamens, um die Zielrichtung der längerfristigen Gewaltreduktion zu verankern und Polizist*innen entsprechend zu primen. Obwohl sich Unternehmenszweck und Zielrichtung polizeilicher Spezialeinheiten von denen
Selbstverständlich gibt es innerhalb der Polizei auch spezielle Tätigkeitsbereiche, innerhalb derer die Ausübung von Gewalt und Zwang die Regel ist (z. B. Spezialeinsatzkommando). Jedoch ist der Einsatz solcher Spezialeinheiten die Ausnahme von der Regel der polizeilichen Konfliktbewältigung. Darüber hinaus handeln auch sie nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der den von der Spezialeinheit angewendeten, unmittelbaren Zwang geeignet, erforderlich und angemessen gestaltet und damit das stets mildeste Mittel zur Zielerreichung verlangt. 1
232
M. Staller et al.
regulärer Polizeibediensteter nicht unterscheiden, soll ihre spezielle Ausrichtung auf die stets verhältnismäßige Anwendung unmittelbaren Zwanges nicht durch die hier ausgeführte Nomenklatur infrage gestellt werden. Aus diesem Grund empfehlen wir hier die Verwendung von ProEM.
3.2
Umgang mit Komplexität
Der professionelle Umgang mit Komplexität in Einsatzsituationen benötigt (a) Wissen, (b) höher entwickelte Denkstrukturen und (c) Reflexionsvermögen. Einsatzkräfte benötigen ein Minimum an konzeptuellem (prozeduralem) Wissen (Staller et al. 2020a). Solch deklaratives Wissen muss die entsprechenden, einsatzrelevanten Kontexte beinhalten, um Probleme in der Konfliktlösung identifizieren, definieren und im Rahmen eines Entscheidungsprozesses lösen zu können. Einsatzrelevante Kontexte unterscheiden sich dabei je nach spezifischem Tätigkeitsbereich innerhalb der Polizei. So unterscheiden sich die benötigten Wissensbestände beispielsweise für Polizist*innen im Streifendienst grundlegendend von denen in Spezialeinheiten oder Verhandlungsgruppen. Weiterhin benötigt effektives Entscheiden und Problemlösen höher entwickelte Denkstrukturen (Abraham und Collins 2011). Diese sind notwendig, um mehrere, oft gegenseitig widersprüchliche Ideen, von denen jede zu einer anderen Lösung führen kann, zu berücksichtigen, abzuwägen und in orchestrierte Handlungen überführen zu können. Entsprechend ermöglichen höher entwickelte Denkstrukturen nicht nur die Auswahl der besten zur Verfügung stehenden Option. Sie versetzen Polizist*innen in die Lage, sich dieser Entscheidung zu verpflichten, die Verantwortung dafür zu übernehmen und sie zu rechtfertigen. Dabei wird auch anerkannt, dass sich die Lösung wahrscheinlich im Laufe der Zeit weiterentwickeln wird. Effektives Einsatzhandeln gestaltet sich durch die Aneinanderreihung von Entscheidungen und Kompromissen, die auf unterschiedlichen zeitlichen Ebenen getroffen werden (z. B. das Handeln im Moment, die taktische Planung des Einsatzes oder die polizeiliche Gesamtstrategie). Schließlich benötigt professionelles Einsatzhandeln Reflexion (Gethner und Krüger 2008). Genauso wichtig wie der Aspekt, dass reflektiert wird, ist das Wie der Reflexion. Werden Erfahrungen an den bestehenden Wissensbeständen, Strukturen und Annahmen reflektiert oder werden diese auch selbst infrage gestellt? Wie wird vorgegangen, um aus den Erfahrungen systematisch Wissensbestände für die zukünftige Handlungspraxis zu generieren? Wie werden diese konserviert und den Bedarfsträgern zugänglich gemacht? Eine erfolgreiche Einsatznachbereitung erfordert systematische Reflexionsstrukturen, die über die Hülse eines plakativen „es wird reflektiert“ hinausgehen.
Professionelles Einsatzverhalten: Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell
4
233
Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell (GeredE)
Das GeredE umfasst sechs Elemente. Diese sind als Wissensbestände professioneller Einsatzbewältigung nach ihrer übergeordneten Wissensstruktur organisiert (prozedurales und deklaratives Wissen) und können in Abhängigkeit des zu bewältigenden Einsatzgeschehens zueinander in Beziehung gesetzt werden (siehe Abb. 1). Die einzelnen Elemente helfen Polizist*innen zu erkennen, was sie tun können („Was“), wer beteiligt sein kann („Wer“) und wie sie die Interaktion im Einsatz gestalten können („Wie“). Diese Einflussgrößen stehen in einem Verhältnis der Wechselwirkung sowohl zum Einsatzkontext („Kontext“) als auch der eigenen Person („Selbst“). Schließlich stellt die Einsatzpraxis („Praxis“) eine zirkuläre Struktur von vorbereitenden Maßnahmen, der Einsatzdurchführung und der Reflexion im Anschluss zur Verfügung, mit der Polizist*innen die eigene Einsatzpraxis nachhaltig und langfristig verbessern und die längerfristige polizeiliche Zielerreichung gewährleisten können. Mit der vom Modell illustrierten Dialektik seiner Einflussgrößen bietet das ProEM eine Struktur (a) zur systematischen Betrachtung von Einsatzverläufen sowie (b) für (Aus-)Bildungsbestrebungen und Veranstaltungen auf individueller und organisatorischer Ebene. Die einzelnen Elemente werden im Folgenden weiter ausgeführt.
4.1
Wissensdomäne „Wer“
Polizist*innen und Bürger*innen sind an polizeilichen Einsätzen unmittelbar (z. B. der/die agierende Polizist*in und der/die Adressat*in einer Maßnahme) wie auch mittelbar beteiligt (z. B. ein Polizeiführer fernab vom Einsatzgeschehen oder die Bürger*innen einer Stadt, die durch die öffentliche Berichterstattung von einer fragwürdigen polizeilichen Maßnahme erfahren haben). Der Wissensbereich „Wer“ umfasst biologische, soziologische und psychologische Theorien und Konzepte, die der Einsatzkraft helfen, Perspektiven, Sichtweisen, Wünsche und Bedürfnisse der Bürger*innen sowie situative Zustände wie Krisensituationen oder Intoxikation zu verstehen. Im Mittelpunkt stehen dabei Erklärungsansätze zu den Fragen: Wie und warum verhalten sich andere so, wie sie sich verhalten? Wie und warum kann das Verhalten beeinflusst werden? Sofern Gewalthandlungen unabdingbar sind, stellen sich sowohl Fragen zum Wie und Warum als auch dazu, wie sich andere im Konflikt verhalten und was die Gründe für das Konfliktverhalten sind. Schließlich gilt es an dieser Stelle auch zu beurteilen, ob Dritte anwesend sind und wie diese das Einsatzgeschehen mitgestalten und von den Handlungen sowohl des/der adressierten Bürger*in als auch von der Polizei beeinflusst werden. Bio-psycho-soziale Theorien und Konzepte können helfen, Verhaltensweisen von Bürger*innen einzuordnen.
Re exion
Einsatz
zur
Die Art und Weise, wie du dazu
Re exion
Verstehen von
Deine Einsatz Praxis
Planung
Abb. 1 Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell (GeredE) – Version 1.0 (Staller et al. 2021b)
die Anforderungen des Feldes, um die Inhalte der
Verwendung von Theorien und Konzepten zur
Verstehen der Inhalte
kann getan werden?
Was
Werte, Einstellungen & Verhalten, eigene Fertigkeiten
s
Dein Einsatz Ich
n Verwenden von Bio-Psycho-Sozialen Theorien & als , ihren Sichtweisen zu verstehen
ist beteiligt?
Wer
Verwendung von Theorien und Konzepten zur
Verstehen der Interaktionen
werden?
Wie
Institution/Organisation/ Verband, Gesetzgebung/Regularien, Kultur/ Traditionen te /Gesellschaft und andere Faktoren, die Ein
Verstehen des Kontextes
Dein Einsatz Kontext
234 M. Staller et al.
Professionelles Einsatzverhalten: Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell
4.2
235
Wissensdomäne „Was“
Das „Was“ bezieht sich auf die inhaltlichen Aspekte der Einsatzgestaltung. Wie und warum können Einsätze erfolgreich und nicht erfolgreich durchgeführt werden? Welche Werkzeuge stehen dafür grundsätzlich zur Verfügung (und warum funktionieren diese)? Die entsprechenden Antworten leiten sich unter anderem aus den verschiedenen Wissensbereichen zum polizeilichen Einsatzverhalten ab. Die „Was“-Dimension beinhaltet damit den Umfang möglicher Handlungsoptionen im Einsatzfall. Darunter fallen Konzepte und Theorien zur polizeilichen Einsatzbewältigung; angefangen von technischen und organisatorischen Maßnahmen über spezifische Konzepte der Einsatzlehre bis zum Umgang und zur Kommunikation mit Personen innerhalb und außerhalb der Institution.
4.3
Wissensdomäne „Wie“
Hier werden Wissensstrukturen beleuchtet, die Anleitung zur Ausgestaltung des Einsatzes, insbesondere in der Interaktion mit Bürger*innen während eines Einsatzes, geben. Während die Was-Dimension also die potenziell zur Verfügung stehenden Optionen beleuchtet, fokussiert die Wie-Dimension auf die spezifische Ausgestaltung der Interaktion mit ihren Wechselwirkungen in der konkreten Einsatzsituation. Wie können Einsätze (und Konflikte) als Interaktionen gestaltet werden? Warum verlaufen Interaktionen, wie sie verlaufen? Das Ziel ist hier der Aufbau eines breit angelegten Interaktionsrepertoires der Einsatzkraft unter situativ variablen und dynamischen Kontextbedingungen. Dieses umfasst einerseits das Wissen zur Interaktionsgestaltung, aber auch die praktische Umsetzung als „Können“. Dies umfasst beispielsweise Konzepte und Ideen zur prozeduralen Gerechtigkeit (Bradford 2014; Klein et al. 2015), zu Vertrauen, Respekt und Autorität (vom Hau 2017; Langdon 2007; Staubli 2017a, b), zum adaptiven, flexiblen und kreativen Handeln (Boulton und Cole 2016) sowie zur Interaktionsgestaltung in physischen und verbalen Konfliktsituationen (Körner und Staller 2018b; Staller et al. 2018; Staller und Körner 2020).
4.4
Wissensdomäne „Kontext“
Der „Kontext“ definiert den Rahmen des für die Einsatzkraft spezifischen Situationszusammenhangs und beinhaltet einschränkende, ermöglichende und bedingende Handlungsweisen. Dies umfasst institutionelle Vorgaben und Regularien der Polizeibehörde sowie den rechtlichen Rahmen des polizeilichen Einsatzverhaltens. Vor dem Hintergrund des internen Kontexts spielen hier Traditionen und Organisationskultur (z. B. Behr 2006) sowie Kolleg*innen, Vorgesetzte und andere Akteur*innen im konkreten Verwendungsbereich der Einsatzkraft eine Rolle. Bezogen auf den externen Kontext stehen beispielsweise Wissensstrukturen im sozialen Milieu des Einsatzhandelns sowie der g esamtgesellschaftliche Kontext im Mittel-
236
M. Staller et al.
punkt. Weiterhin fallen auch physische Rahmenbedingungen wie die zur Verfügung stehenden Führungs- und Einsatzmittel, personelle Ressourcen, Einsatzorte und -zeiten darunter. Im Kern geht es darum, genau zu erfassen, welche Bedingungen das Handeln der Einsatzkraft bewusst und unbewusst bestimmen und wie mit diesen gewinnbringend umgegangen werden kann, um kurz-, mittel- und langfristige Ziele zu erreichen.
4.5
Wissensdomäne „Selbst“
Die das „Selbst“ bzw. das „Einsatz-Ich“ erklärenden Wissensstrukturen stellen einen wichtigen Aspekt für das Verständnis des eigenen Einflusses auf die Einsatzbewältigung dar. „Wie und warum verhalte ich mich, wie ich mich verhalte?“ sind die Kernfragen für den/die Polizist*in innerhalb dieses Bereiches. Grundlegend sind hier das Sich-Bewusstmachen sowie der Umgang mit den eigenen Werten und der eigenen Einstellung und Sichtweisen, die gemeinsam handlungsleitende Annahmen und das eigene Rollenverständnis und damit die Grundeinstellung zum polizeilichen Handeln bestimmen. Weiterhin erschließen sich hier die Grenzen und Möglichkeiten des eigenen Einsatzverhaltens, welche beispielsweise durch physische Voraussetzungen oder mental-kognitive Aspekte oder Haltungen und Einstellungen bestimmt werden. Auch gilt es im Rahmen dieser Dimension, das eigene Selbstverständnis des eigenen Reflexionsprozesses sowie die eigenen normativ-ethischen Prinzipien zu erschließen.
4.6
Wissensdomäne „Einsatzpraxis“
Die Dimension der „Einsatzpraxis“ stellt die Wissensstrukturen zu erfolgreichen Einsatzbewältigung in den Mittelpunkt. Das Verhalten im Einsatz wird dabei als kontinuierlicher adaptiver Prozess konzeptualisiert, der das Ergebnis einer sich ständig fortsetzenden Sequenz von Entscheidungen ist. Diese verbinden die stets nächste Handlung durch ständige Iteration im erfolgreichen Fall mit der Erreichung kurz-, mittel- und langfristiger Ziele. Die drei Komponenten der Planung, Handlung und Reflexion finden sich dabei auf der Makroebene in der Planung, Durchführung und Reflexion des Einsatzes, aber auch auf der Mikroebene im Einsatz, wenn sekündlich Handlungsentscheidungen getroffen werden müssen. Entsprechend findet die Reflexion (und die sich anschließende Planungsphase) als „reflection-on-action“ (eher Makroebene) und als „reflection-in-action“ (eher Mikroebene) statt (Schön 1983). Wie und warum Polizist*innen sich auf Einsätze (und Konflikte) vorbereiten, bezieht sich auf vom Einsatz losgelöstes Training im Vorfeld und auf die Planung und die unmittelbare Verarbeitung des Einsatzes. Reflexion darüber, wie sich Polizist*innen auf Einsätze vorbereiten, wie sie diese durchführen und wie sie aus ihnen lernen, führt zur Verbesserung von Planung, Durchführung und Nachbereitung, nicht nur auf individueller, sondern auch auf organisationaler Ebene. Als hilfreiche Gedankenstütze können hier
Professionelles Einsatzverhalten: Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell
237
individuelle, auf den spezifischen Bedarf innerhalb eines bestimmten polizeilichen Tätigkeitsfeldes zugeschnittene Planungs- und Reflexionsmatrizen dienen. Fazit Polizeiliches Einsatzhandeln ist dynamisch und vor allem komplex (Marois et al. 2019; Staller und Körner 2020). Auf einer handlungspraktischen Ebene eröffnet das GeredE Polizist*innen eine Navigationsstruktur innerhalb dieser Komplexität. Dabei liefert es keine Wenn-Dann-Struktur für die unendlichen Fälle möglicher Einsatzsituationen, sondern ermöglicht die Planung und Reflexion von spezifischem Einsatzhandeln anhand von sechs Dimensionen, welche miteinander eng verknüpft sind und sich wechselseitig bedingen. Das GeredE öffnet und schließt zugleich. Es öffnet im Hinblick auf mögliche Handlungsalternativen und deren konkrete Ausgestaltung. Die Einsatzhandlung wird dem/der Polizist*in als mündiges Individuum überantwortet und eröffnet damit kreative, flexible und adaptive Handlungsmöglichkeiten, welche sich in pädagogischen Ansätzen des Einsatzhandelns widerspiegeln (Körner und Staller 2018a). Auf der anderen Seite schließt das GeredE. Mit einem klaren formulierten Ziel auf eine langfristige Gewaltreduktion, basierend auf einem demokratisch, sozial-rechtsstaatlichen Grundverständnis, legt das Modell den Fokus für polizeiliches Handeln fest. Auf einer strukturierenden Ebene zeigt das Modell bedingende Einflussfaktoren des polizeilichen Einsatzhandelns sowie die zirkuläre Struktur des Einsatzhandelns als Planung, Handlung und Reflexion in sich auf. Es bietet mit den dargestellten Dimensionen Orientierung für die Planung und die Reflexion von Einsatzhandlungen. Damit hat das Modell das Potenzial, das Leitbild des/der reflektierten Polizeipraktiker*in (Christopher 2015; Körner und Staller 2018a) zu unterstützen.
Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die Praxis
Das GeredE/ProEM tritt die überfällige Nachfolge des Deeskalierenden Einsatzmodells an. Damit gehen verschiedene Anpassungen und Neuausrichtungen auf den verschiedenen Ebenen polizeilicher Aufgabenwahrnehmung einher. a) Entscheider*innen Das GeredE/ProEM liefert Entscheidungsträger*innen Ansatzpunkte für die Gestaltung und Ausrichtung von Bildungsprozessen innerhalb des Polizei: • Die sechs Wissensbereiche des GeredE/ProEM bedürfen einer systematischen Entwicklung auf der Seite von Polizist*innen, um professionelles Einsatzhandeln sicherzustellen. Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für Einsatzhandeln sollten in der großen Perspektive so gestaltet werden, dass individuelle Wissensstrukturen in allen sechs Dimensionen erweitert werden. Aus- und Fortbildungsprogramme könnten sich strukturell an den sechs Dimensionen orientieren und deren Interaktivität untereinander beleuchten. • Es müssen die strukturellen Voraussetzungen geschaffen und gepflegt werden, die Polizist*innen die kontinuierliche Reflexion des eigenen Einsatzhandelns
238
M. Staller et al.
anhand der sechs Dimensionen ermöglichen. Regelmäßige Supervision und Coachings bieten sich hier an. • Das GeredE/ProEM gibt eine normativ-ethische Leitlinie aus, welche über das aktuelle Einsatzgeschehen hinausgeht: die dauerhafte Gewaltreduktion innerhalb der Gesellschaft. Das Modell „navigiert“ in diese Richtung. Eine organisationskulturelle Verinnerlichung des Ziels erscheint sinnvoll. • Die Bezeichnung des Modells – GeredE oder ProEM – sollte in Abhängigkeit des Tätigkeitsbereiches von Polizist*innen gewählt werden. Wir empfehlen ProEM als Verwendung für Spezialeinheiten; GeredE für polizeiliche Verwendungen, welche nicht primär auf Gewalthandeln spezialisiert sind. • Polizeiinterne Dienstvorschriften (z. B. Leitfaden 371 – Eigensicherung), Lehrmaterialien (z. B. Einsatzlehre) sowie Bildungsveranstaltungen müssen im Hinblick auf das Einsatzmodell angepasst werden: Das Deeskalierende Einsatzmodell ist aufgrund der geäußerten Kritiken nicht mehr haltbar. Es wird empfohlen, dieses durch das GeredE zu ersetzen. b) Einsatzkräfte • Das Modell hilft Einsatzkräften, durch die komplexen Anforderungen des Einsatzes zu navigieren; es ermöglicht zu verstehen, wo und wie einzelne Theorien und Befunde im komplexen Einsatzgeschehen miteinander interagieren und das Verhalten des/der einzelnen Polizist*in vor Ort beeinflussen. Damit hilft das Modell bei der Identifizierung von eigenem Bildungspotenzial und damit der Auswahl von Aus- und Fortbildungsveranstaltungen. • Das GerdE/ProEM verdeutlicht, dass das Einsatzverhalten vor Ort ein kontinuierlicher Entscheidungsprozess ist. Polizist*innen können das Modell nutzen, um ihr Einsatzverhalten anhand der verschiedenen Dimensionen „abzuklopfen“ und zu erkennen und zu reflektieren, welche Aspekte auf den Einsatzverlauf Einfluss nehmen könnten (Planung) oder genommen haben (Reflexion). Das Modell kann damit den individuellen Weg zur Entwicklung professioneller Einsatzexpertise unterstützen. c) Einsatztrainer*innen • Das GeredE/ProEM gibt Einsatztrainer*innen eine Struktur, anhand derer sie im Training durch die Komplexität navigieren können. Handlungen im Training können anhand des Modells (und des Planungs-, Reflexionsrahmens) besprochen werden. Mögliches Entwicklungspotenzial bei einzelnen Teilnehmer*innen können anhand der sechs Dimensionen strukturiert identifiziert werden. • Das GerdE/ProEM zeigt, wie Entscheidungsprozesse für individuelle Lösungen im Einsatz (und im Training) reflektiert werden können: Was waren die Gründe für die Entscheidung; welche Tools wurden warum in welchem Kon-
Professionelles Einsatzverhalten: Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell
239
text angewendet? Gab es Gründe im Selbst für die Entscheidung in dieser Situation? Damit ermöglicht das Modell eine Abkehr von der Denkweise in „falsche Lösung“ vs. „richtige Lösung“ im Training. Wichtig erscheint, wie der/die einzelne Lerner*in seine/ihre Lösung anhand des Modell reflektiert. Diese Reflexion könnte auch im Sinne des/der reflektierten Praktiker*in und einer Expertise-Orientierung des Trainings zur Leistungserfassung (Prüfung etc.) genutzt werden. • In Bezug auf die eigene Bildung ergibt sich, dass Einsatztrainer*innen selbst das Modell mit den sechs Dimensionen durchdrungen haben müssen, insbesondere wenn das Modell in seiner Komplexität als Tool in Aus- und Fortbildungsveranstaltungen für Einsatzkräfte genutzt wird.
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Einsatzverhalten planen und reflektieren: Eine mögliche Struktur Mario Staller, Benjamin Zaiser und Swen Koerner
Inhaltsverzeichnis 1 Einsatzziele 2 Maßnahmen 3 Einsatzverhalten 4 Kontext 5 Bürger*innenverhalten 6 Gesundheit/Sicherheit Literatur
246 248 248 250 251 252 254
Reviewer*innen: Benedikt Heusler, Christof Römer Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine für die Ausrichtung des Handbuchs überarbeitete, inhaltlich und sprachlich modifizierte Version von: Staller, M. S., & Koerner, S. (2021). Gewaltreduzierendes Einsatzmodell: Eine Planungs- und Reflexionsstruktur. Kriminalistik, 75 (4), im Druck. M. Staller (*) Fachbereich Polizei, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] B. Zaiser Tactical Decision Making Research Group, University of Liverpool, Liverpool, UK E-Mail: [email protected] S. Koerner Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research, Deutsche Sporthochschule, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_13
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M. Staller et al.
Zusammenfassung
Die Komplexität und Dynamik von Einsatzsituationen nähren den Bedarf an systematischen Strukturen zur Planung und Reflexion des Einsatzverhaltens von Einsatzkräften. Basierend auf dem Gewaltreduzierenden Einsatzmodell legen wir im vorliegenden Beitrag eine Planungs- und Reflexionsstruktur vor, die Beamt*innen im Streifendienst eine systematische Vor- und Nachbereitung des Einsatzes ermöglicht. Neben der Optimierung des Einsatzverhaltens trägt die vorliegende Struktur im Rahmen eines learnings on the job zur Entwicklung der Expertise als polizeiliche Einsatzkraft bei.
Polizeiliche Einstätze sind ein dynamisches und komplexes Unterfangen (Cojean et al. 2020). Polizist*innen müssen dabei unterschiedlichste, teils gegenläufige Ziele, Strategien und Handlungsmöglichkeiten gegeneinander abwägen und ihr Verhalten entsprechend anpassen (Staller et al. 2021). Inwieweit das eigene Verhalten dabei in der komplexen Interaktion mit Bürger*innen zum geplanten Ausgang führt, ist dabei ebenso mit Unsicherheiten behaftet wie das Verhalten der beteiligten Personen. Die Interaktionen zwischen Polizei und Bürger*innen sind von Komplexität geprägt und bedürfen der Fähigkeit zur situativen Anpassung seitens der handelnden Einsatzkräfte; unabhängig, ob es sich um eine Bürger*innenansprache im Streifendienst, eine Festnahme im Kriminaldienst, das Begleiten einer Demonstration oder den Zugriff von Spezialeinsatzkräften handelt. Die Komplexität der Einsatzsituationen (und möglicher Konfliktsituationen) verbietet aus komplexitätstheoretischen Überlegungen (Staller und Körner 2020) ein Festhalten an starren „Wenn-Dann“-Beziehungen: Wenn Bürger*innen das Verhalten A an den Tag legen, dann hat die Polizei mit B zu reagieren. Vielmehr ist eine situative Bewertung der spezifischen Umstände des Einzelfalls vor Ort notwendig, um optimale Handlungsentscheidungen zu treffen und diese weiter anzupassen, abzuändern oder im weiteren Einsatzverlauf wieder zu verwerfen. Flexibilität und Adaptivität gelten als wesentliche Charakteristika der Einsatzkompetenz (Boulton und Cole 2016; Körner et al. 2019; Preddy et al. 2019; Rajakaruna et al. 2017). Während wir von einer individuellen Einsatzvorbereitung auf Grundlage linearer Wenn-Dann- und/oder Aktions-Reaktions-Zyklen abraten, wäre es aus handlungspraktischer Sicht ebenso problematisch, der Einsatzkraft keine Struktur zur Verfügung zu stellen, anhand derer das eigene Einsatzverhalten geplant und reflektiert werden kann. Basierend auf diesem Bedarf an konkreten handlungspraktischen Strukturen schlagen wir im Folgenden einen Rahmen vor, in dem einsatzspezifische Verhaltensentscheidungen individuell von Einsatzkräften strukturiert geplant und reflektiert werden können. Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell (GeredE) beschreibt auf einer abstrakten Ebene die Gestaltung von Einsätzen (Staller et al. 2021). Damit gibt das Modell zum einen Hinweise für Entwicklungsbereiche im persönlichen Kompetenzbereich und zum anderen liefert es Anhaltspunkte auf trainingspädagogischer Ebene zu Inhalten von Trainingssettings. Entsprechend weist das GeredE relevante Inhaltsbereiche aus. Es trifft jedoch keine Aussagen zu konkreten Fragestellungen, welche in der konkreten Planung und Re-
Einsatzverhalten planen und reflektieren: Eine mögliche Struktur
245
rechtlicher Rahmen
Verhalten Polizist*in
Verhalten
Gesundheit & Sicherheit
Kontext
Einsatzziele
1
2
3
4
5
6
7
8
9
n-1
n
Hypothetische Anzahl an Einsätzen, die benötigt werden, um das langfristige Ziel polizeilichen Tätigwerdens zu erreichen
Abwesenheit von Gewalt in der Gesellschaft
Abb. 1 Die Planungs- und Reflexionsstruktur zum Einsatzverhalten (PR-EV)
flexion des eigenen Einsatzverhaltens von Interesse wären. Diese Lücke schließt die vorliegende Planungs- und Reflexionsstruktur zum Einsatzverhalten (PR-EV). Wir verstehen die PR-EV als Denkwerkzeug, welches der Einsatzkraft helfen soll, das eigene Verhalten durch die Komplexität des Einsatzgeschehens zu navigieren. Im Mittelpunkt der Planungs- und Reflexionsstruktur stehen dabei fünf Aspekte, die untereinander in Verbindung stehen und wechselseitig miteinander interagieren (siehe Abb. 1). Auf handlungspraktischer Ebene scheinen dabei einige Aspekte von besonderer Relevanz, weil diese zum einen beeinflussbar erscheinen und zum anderen wesentlichen Einfluss auf den weiteren Einsatzverlauf haben. So bestimmen diese Aspekte, wie der/die Polizist*in (oder das Team) den Einsatz plant, und dienen als benchmark, an der konkretes Bürger*innenverhalten und eigenes Einsatzverhalten nach dem Einsatz reflektiert werden können.
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M. Staller et al.
Die PR-EV bettet die konkreten Einsatzsituationen in ein größeres Gesamtbild. Dadurch erlaubt sie es Polizist*innen, Einsatzziele an den langfristigen Zielen polizeilichen Tätigwerdens und der normativ-ethischen Ausrichtung an der freiheitlich-demokratischen Grundordnung auszurichten. Diese garantiert jedem Mitglied unserer Gesellschaft die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, welche wiederum die Abwesenheit von Gewalt erfordert. Um dieses Grundbedürfnis individueller und kollektiver Sicherheit gewährleisten zu können, wurde die Polizei mit dem staatlichen Gewaltmonopol ausgestattet. Dieser staatlichen Gewaltanwendung durch die Polizei, die durch einen rechtlichen Rahmen begrenzt ist, liegt das längerfristige Ziel der Reduktion der Gewalt in unserer Gesellschaft zugrunde (Staller et al. 2021). Die PR-EV stellt die Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen, die das Einsatzgeschehen bestimmen, in den Mittelpunkt der Planung und Reflexion. Beispielsweise weist die Komponente „Kontext“ Verbindungen zu den anderen Komponenten aus (= zweiköpfige Pfeile). In der Planung und Reflexion des Einsatzverhaltens können nun einzelne Dyaden sowie deren Interaktionseffekte durchdacht werden: Wie beeinflusst die Anwesenheit unbeteiligter Dritter mein Verhalten? Wie wird dadurch das Bürgerverhalten beeinflusst? Welche Auswirkungen hat das auf die Gesundheit und Sicherheit aller Beteiligten? Wie gehe ich angesichts dieser Aspekte vor (Maßnahme), um meine Einsatzziele zu erreichen? Welche Gründe sprechen hier für die Wahl oder die Demonstration eines bestimmten Führungs- und Einsatzmittels (als Kontextelement) in der entsprechenden Situation? Welche dagegen? Und wie beeinflusst der situative Kontext (z. B. Witterung) die Wahl der Einsatzmittel? Hier wird deutlich, dass Abwägungsprozesse eine wesentliche Rolle innerhalb der PR-EV spielen. Damit wird in besonderem Maße der Komplexität der Einsatzsituation Rechnung getragen. Lösungen, die allen Elementen gleich ohne Einschränkungen Rechnung tragen, gibt es hier nicht. Vielmehr steht eine fundierte, abwägende Planung und Reflexion im Mittelpunkt eines professionellen Einsatzverhaltens. Im Folgenden beschreiben wir kurz die einzelnen Elemente, die unserer Ansicht nach für den Streifendienst von Bedeutung sind. Für spezifische polizeiliche Aufgabenbewältigung (z. B. Bereitschaftspolizei, Spezialeinsatzkräfte) erscheint es sinnvoll, die einzelnen Elemente für den spezifischen Kontext anzupassen. Neben der Beschreibung der relevanten Elemente weisen wir Fragen aus, die die Planung und Reflexion von Einsätzen unterstützen und zum Nachdenken anregen. Die Fragen sind dabei als Reflexionsfragen in der Vergangenheit gestellt. Als Planungsfragen sind sie entsprechend umzuformulieren. Dies überlassen wir unseren Leser*innen.
1
Einsatzziele
Die Ziele des spezifischen Einsatzes ergeben sich aus den Erfordernissen der konkreten Situation. Dennoch steht der Einsatz nicht für sich. Als Interaktion mit dem/r Bürger*in ist er eingebunden in kurz-, mittel- und langfristige Ziele des polizeilichen Tätigwerdens. Einsatzverläufe werden von Vorerfahrungen der beteiligen Personen beeinflusst und be-
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einflussen so künftige Einsätze. Entsprechend sollten bei der Einsatzplanung auch die Gesamtschau auf die kontextspezifische Vorgeschichte und Auswirkungen auf weitere Einsätze sowie das gesellschaftliche Miteinander berücksichtigt werden (Küppers 2019). Empirische Befunde zeigen, dass besonders der Vertrauensaufbau mit Bürger*innen positive Auswirkungen auf künftige Einsätze hat (Dai 2020; Wood et al. 2020). Auch kann die Wahrnehmung (und damit auch das Verhalten) von Polizei und Bürger*in durch vorgegebene polizeiliche Einsatzstrategien negativ beeinflusst werden (Feltes und Rauls 2020; Küppers 2019; Mummolo 2018). Im Kern wird deutlich, dass polizeiliches Einsatzverhalten darauf abzielen muss, das Vertrauen der Zivilbevölkerung zu erhalten beziehungsweise zu erarbeiten (Antrobus et al. 2019; Kyprianides et al. 2021; Nix et al. 2015; Staubli 2017; Wood et al. 2020). Dieses Einsatzziel muss entsprechend im Einsatzverlauf als langfristiges Einsatzziel (neben anderen) berücksichtigt werden. Entsprechend geht es über das Bewältigen der aktuellen Einsatzlage (als kurzfristiges Ziel) hinaus. In Bezug auf das Element des Einsatzzieles (und der Auftragsgestaltung) sind damit die folgenden Abwägungsprozesse von besonderer Bedeutung: • Kurz, mittel- und langfristige Ziele, • unterscheidende, teilweise konkurrierende Einsatzziele (z. B. Vertrauensverlust der Öffentlichkeit in die Polizei gegenüber zügiger Notrufabarbeitung), • die Einbettung der Einsatzziele in die langfristige polizeiliche Strategie sowie • die Einbettung der Einsatzziele in Bezug auf den langfristigen Aufbau von Vertrauen in die Polizei und das Vorleben rechtsstaatlicher Prinzipien. Planungs- und Reflexionsfragen zu den Einsatzzielen
• Was waren deine Ziele für den Einsatz? Wenn es mehr als eines gab, welches Ziel hatte Priorität? • Was war die Grundlage für die Einsatzziele? Was wolltest du lang-, mittel- und kurzfristig erreichen? Inwieweit waren die Einsatzziele vorgegeben? Wo bestand Gestaltungsspielraum? • Wie hast du die Balance zwischen den Bedürfnissen der Bürger*innen, verschiedener beteiligter Personen und den eigenen Bedürfnissen gemanagt? Welchen individuellen Bedürfnissen wolltest du nachkommen? • Inwieweit wurde der Einsatz durch vorige Einsätze beeinflusst und wie beeinflusst der Einsatz künftiges Verhalten? • Wo lagen Zielkonflikte, beispielsweise zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Einsatzzielen oder zwischen Adressaten und Dritten? • Woraus leiteten sich die Einsatzziele ab? Inwieweit waren diese mit den eigenen Wertvorstellungen kompatibel? • Hat sich die Zielsetzung des Einsatzes in Abhängigkeit der Situation über den Einsatzverlauf hinweg weiterentwickelt? Wenn ja, war dies vorhersehbar?
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2
M. Staller et al.
Maßnahmen
Unter Maßnahmen sind alle polizeilichen Tätigkeiten innerhalb eines Einsatzes zu fassen. Häufig haben diese direkten oder indirekten Einfluss auf alle beteiligten Personen. Sie sind eingebettet in den rechtlichen Rahmen und haben häufig einen starken Bezug zu den Einsatzzielen. Dennoch können sie sich von diesen unterscheiden. So ist es denkbar, dass mehrere Maßnahmen geeignet sind, das übergeordnete Einsatzziel zu erreichen. In Bezug auf die Wahl der „optimalen“ Maßnahme stehen verschiedene Aspekte und Abwägungsprozesse im Mittelpunkt der Überlegungen: • Die Rechtsgrundlage und Verhältnismäßigkeit mit einem besonderen Fokus auf Grundund Menschenrechte, • die Einbettung in die Einsatzziele sowie die langfristigen polizeilichen Ziele, • rational und evidenz-basiert begründete Entscheidungen und der Ausschluss von möglichen kognitiven Verzerrungen wie beispielsweise Stereotypisierung, • verdeckt durchgeführte Maßnahmen versus das Bedürfnis an Transparenz, Fairness und Offenheit der Kommunikation zum Vertrauensaufbau, • die Selbstbestimmtheit von Bürger*innen versus Kontrolle von Bürger*innen sowie • die Wahl der Einsatzmittel. Planungs- und Reflexionsfragen zu den Maßnahmen im Einsatz
• Was waren die Gründe für die getroffenen Maßnahmen? Wie wolltest du damit deine Einsatzziele erreichen? • Wie unterstützen deine Maßnahmen das Bilden von Vertrauen in die Polizei mit Blick auf die kurz-, mittel- und langfristige Entwicklung? • Wie und wann hast du die Maßnahmen gegenüber Betroffenen kommuniziert? War dies so früh, wie es das Einsatzziel zuließ? Wenn nicht, was waren die Gründe hierfür? • Was waren deine Eskalations- und Deeskalationspläne für die weitere Entwicklung der Situation? Warst du auf dynamische Lageänderung vorbereitet? (Beispiel: Was, wenn der/die Bürger*in ein Messer zieht? Was, wenn der/die Verbarrikadierte sich ergibt?) • Lag möglicherweise eine kognitive Verzerrung in der Wahl deiner Maßnahme in Bezug auf den Adressaten vor? Wenn ja, wo möglicherweise? Wie hätte das verhindert werden können?
3
Einsatzverhalten
Das Einsatzverhalten bezieht sich auf das individuelle Verhalten von Polizist*innen in Einsätzen. Beachtenswert ist dabei der Unterschied zu den getroffenen Maßnahmen. Beispielsweise können getroffene Maßnahmen seitens der Polizeiführung vorgegeben sein
Einsatzverhalten planen und reflektieren: Eine mögliche Struktur
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(was), das Verhalten des/der Polizist*in (wie) ermöglicht aber Gestaltungsspielräume. Das Einsatzverhalten steht dabei in Wechselwirkung mit dem Verhalten von Bürger*innen und liegt dadurch der Gesundheit und Sicherheit von Bürger*innen sowie Polizist*innen zugrunde (Li et al. 2020). In Bezug auf das Einsatzverhalten stehen die folgenden Aspekte im Mittelpunkt von Planungs- und Reflexionsüberlegungen und -abwägungen: • • • •
die Kommunikation von Maßnahmen, Zielen und beabsichtigten Verhaltensweisen, Konfliktlösungsstrategien, die auf Kooperation oder Zwang zielen, eigenes Verhalten in der Interaktion zum Verhalten der Bürger*innen, das Bewusstsein über die eigene Grundeinstellung zum polizeilichen Handeln (siehe Kapitel zum Warrior versus Guardian Mindset und zur Verantwortung des Einsatztrainings) und deren Auswirkung auf das eigene Verhalten (Li et al. 2020; McLean et al. 2019; Stoughton 2016), • das Bewusstsein, wie kognitive Verzerrungen (cognitive bias) und logische Fehlschlüsse (logical fallacies) eigenes Verhalten beeinflussen (z. B. fundamentaler Attributionsfehler, Verfügbarkeitsheuristik, Action Bias, Law of the instrument, etc.) (Charman et al. 2017; Kahn et al. 2017; Kahn und Martin 2020; Mears et al. 2017), sowie • die individuelle Wahl, Anordnung, (Nicht-)Sichtbarkeit und (Nicht-)Demonstration der Führungs- und Einsatzmittel und die Wirkungsweise auf Einsatz- und Bürger*innenverhalten. Planungs- und Reflexionsfragen zum Verhalten als Polizist*in in Einsatzsituationen
• Inwieweit haben Einsatzziel und die als geeignet empfundenen Maßnahmen den Handlungsspielraum (insbesondere zur Deeskalation) eingeschränkt? • Mindset-Check 1: Mit welchem polizeilichen Grundverständnis (Warrior/Guardian) habe ich den Einsatz bestritten? Was spricht für das eine, was für das andere? • Mindset-Check 2: Wurde mein Verhalten von kognitiven Verzerrungen oder logischen Fehlschlüssen geleitet? Falls nicht, handelt es sich hier selbst um einen Fehlschluss? Welche Maßnahmen kann ich ergreifen, um dem künftig vorzubeugen? • Existierte ein unmittelbarer Handlungsdruck? War ein unmittelbares Eingreifen notwendig? Was sprach dafür, was sprach dagegen? • Waren Dritte gefährdet? Inwieweit beeinflusste das mein eigenes Einsatzverhalten? • Was sind meine emotionalen Auslöser? Wurden diese im Einsatzverlauf bedient? Wenn ja, hätte das verhindert werden können und wie? • War ich in der Lage, den Einsatz auf hohem Leistungsniveau durchzuführen? Was hat meine Leistung eingeschränkt? Wie könnte ich den Einsatz in dieser Hinsicht beim nächsten Mal besser gestalten? • Welche vorbeugenden Maßnahmen konnten getroffen werden (z. B. Fluchtweg abschneiden, Ambulanz im Nahbereich parken etc.)? Welche vorbeugenden Maßnahmen habe ich übersehen?
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4
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Kontext
Jede Einsatzsituation ist in einen spezifischen Kontext eingebettet. Dieser umfasst die konkrete Umgebung (Örtlichkeit), die Umgebungsbedingungen (Licht, Wetter etc.) und die Einbettung in die konkreten, situativen Umstände des Einsatzes (Vorbelastungen durch eine arbeitsintensive Schicht, Vertrauensbasis in der Community, zur Verfügung stehende Einsatzmittel, Personalkörper etc.). Von besonderem Interesse sind hier Interaktionseffekte zwischen • den situativen Ausgangsbedingungen (Umwelt, Umgebung, Wetter, Vorbelastung, Stimmung, Vertrauen zu Bürger*innen etc.), • den zur Verfügung stehenden Ressourcen (Personal, Führungs- und Einsatzmittel etc.) und • allen anderen Planungs- und Reflexionselementen der PR-EV. Planungs- und Reflexionsfragen zum Kontext in Einsatzsituationen
• Wie haben die konkrete Einsatzumgebung sowie die zum Einsatzzeitpunkt vorherrschenden Umgebungsbedingungen und situativen Umstände mein Einsatzziel sowie die zur Zielerreichung geeigneten Maßnahmen erschwert bzw. begünstigt (bspw. Einsätze an verrufenen Orten, Nachteinsätze, baubedingt eingeschränkte Funkreichweite, Kompromiss zwischen Fahrsicherheit und Notrufdringlichkeit bei Schneeglätte oder Einsatzfahrt im Rahmen einer Nacheile durch die Fußgängerzone, wetterbedingte Verkehrsunfälle und Zeugenwahrnehmung etc.)? • Standen alle benötigten FEM funktionsgetestet zur Verfügung (bspw. Distanzelektroimpulsgerät bei Bedrohungslagen mit Messer, Bodycam/Dashcam- Spannweite und -Nachtwirksamkeit etc.)? • War der Personalansatz richtig gewählt? Stand genügend und richtiges Personal zur Verfügung (bspw. Verstärkung und deren zeitgemäßes Eintreffen im Einsatzfall, Spezialeinsatzkräfte für besondere Gefahrensachverhalte etc.)? Waren benachbarte Dienststellen mit besonderen Zuständigkeiten, (z. B. Steuerfahndung, Zoll, Ordnungsamt/Durchsuchungszeugen) verfügbar? • Waren nicht antizipierte Dritte zugegen? Wie haben diese sich verhalten? Wie haben sich diese auf das Verhalten der adressierten Bürger*innen sowie auf mein eigenes Verhalten ausgewirkt? Wie haben diese sich auf die Sicherheit aller Beteiligten ausgewirkt (bspw. potenzielle Zeug*innen, Erste-Hilfe-Leistende, mittels Mobiltelefon Dokumentierende, Einsatzstörer*innen, Gegenobservationskräfte etc.)?
Einsatzverhalten planen und reflektieren: Eine mögliche Struktur
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Bürger*innenverhalten
Das Verhalten der adressierten Bürger*innen beeinflusst das Einsatzgeschehen und ist selbst Folge der Ausgestaltung aller übrigen Elemente der Planungs- und Reflexionsstruktur. Von besonderer Bedeutung ist hier die Sichtweise des/der Bürger*in auf die Polizei als Organisation (Einsatzziele/Maßnahmen) sowie auf die im konkreten Einsatzfall angetroffenen Polizeivollzugsbeamt*innen (Einsatzverhalten). Zum einen steht hier die Deutung der von der Einsatzkraft an den Tag gelegten Verhaltensweisen im Mittelpunkt (fundamentaler Attributionsfehler, Fehlinterpretation von Gefahrenreizen (Kahn et al. 2017)). Zum anderen gilt es, im Rahmen der PR-EV auch mögliche Denk- und Verhaltensweisen in der Folge des polizeilichen (Nicht-)Tätigwerdens seitens der Bürger*innen zu antizipieren. Von besonderem Interesse sind hier die folgenden Abwägungen und Interaktionseffekte: • Die Autonomie der adressierten Bürger*in sowohl hinsichtlich ihrer Selbstbestimmung vor dem Hintergrund ihres physischen und psychischen Gesundheitszustandes (bspw. Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen) als auch hinsichtlich des legalen Rahmens ihrer Selbstbestimmung (bspw. Jugendliche, strafunmündige Kinder, unter Vormundschaft stehende Bürger*innen), • nationale Herkunft und kultureller Hintergrund (national und international), die sowohl sprachliche als auch kulturelle Kommunikationsbarrieren bedingen und maßgebliches Konfliktpotenzial in sich tragen, • Sozialisierung und Werteverständnis sowie politische Sichtweise und Weltanschauung adressierter Bürger*innen, welche in ihrem Zusammenspiel maßgeblich deren Motivation vor und während des Zusammentreffens mit der Polizei bestimmen, • kognitive Verzerrungen und logische Fehlschlüsse, die die Wahrnehmung und das Handeln adressierter Bürger*innen beeinflussen, • akuter Geisteszustand adressierter Bürger*innen, der durch diagnostizierte oder nicht diagnostizierte, akzeptierte oder nicht akzeptierte Störungen oder Substanzmissbrauch maßgeblich deren Verhalten mitbestimmt, • akute Betrachtungen, die insbesondere für die Eigensicherung relevant sind und Waffen, gefährliche Gegenstände und Substanzen im Besitz adressierter Bürger*innen sowie ansteckende Krankheiten und andere Risiken umfassen.
Planungs- und Reflexionsfragen zum Verhalten von Bürger*innen
• Welche individuellen Faktoren (siehe oben) haben das Verhalten der adressierten Bürger*innen bestimmt (bspw. das Ignorieren polizeilicher Anweisungen durch Menschen mit Hörschädigung oder mangelnden Deutschkenntnissen oder von der Maßnahme verursachter Gesichtsverlust, der von Dritten – siehe oben unter „Kontext“ – bezeugt und für adressierte Bürger*innen spürbar wahrge nommen wird)?
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M. Staller et al.
• Welche Motivation lag dem Handeln der adressierten Bürger*innen zugrunde (handelt es sich bspw. um einen friedlichen Demonstranten oder um einen Angehörigen des schwarzen Blocks, Einstellung adressierter Bürger*innen ggü. Autorität etc.)? • Welche Möglichkeiten haben sich für einen vorausgehenden Informationsgewinn/Voraufklärung ergeben? Welche ungenutzten Möglichkeiten hätten bestimmte Verhaltensmuster vorhersehbar und vorbeugbar gemacht (bspw. vergangene polizei-relevante Erscheinungen/lokaler Aktenbestand, soziale Netzwerke, Einsatzkontext (siehe oben unter „Kontext“), um Schlüsse von verrufener Örtlichkeit auf angetroffene Bürger*innen zu ziehen)? • Welche Reaktion war von den adressierten Bürger*innen in Abhängigkeit des Einsatzziels und der durchgeführten Maßnahmen, unter Berücksichtigung der hier besprochenen Aspekte, zu erwarten (bspw. der fundamentale Attributionsfehler der ersten Aggressionshandlung, die von Demonstranten oft der Polizei und nicht dem/der von der Mehrheit nicht wahrgenommenen, einzelnen Störer*in zugeschrieben wird, oder die Verfügbarkeitsheuristik, die vergangene, schlechte Erfahrungen mit der Polizei auf künftige Zusammentreffen projiziert)?
6
Gesundheit/Sicherheit
Das Sicherstellen und Wahren der Gesundheit und Sicherheit aller am Einsatzgeschehen beteiligten Personen ist für das polizeiliche Tätigwerden von grundlegender Bedeutung. Entsprechend sind unter diesem Planungs- und Reflexionselement die folgenden Abwägungs- und Interaktionseffekte zwischen der Gesundheit und Sicherheit aller Beteiligten zu verstehen: • die Gefährdung für Adressat*innen der polizeilichen Maßnahme, • die Gefährdung von Unbeteiligten und • die Gefährdung von Polizist*innen (Eigensicherung). Planungs- und Reflexionsfragen zur Gesundheit und Sicherheit aller beteiligten Personen im Einsatz
• Wurden alle Möglichkeiten des vorausgehenden Informationsgewinns ausgeschöpft (bspw. INPOL – personengebundene Hinweise, vergangene polizei- relevante Erscheinungen/lokaler Aktenbestand, soziale Netzwerke, Einsatzkontext (siehe oben unter „Kontext“), um Schlüsse von verrufener Örtlichkeit auf angetroffene Bürger*innen zu ziehen)? • War die durchgeführte Maßnahme verhältnismäßig (geeignet, erforderlich und angemessen)? Hätte das Einsatzziel auch durch eine weniger grundrechtseingreifende Maßnahme erreicht werden können (bspw. Identitätsfeststellung und Platzverweis anstelle von Festnahme)?
Einsatzverhalten planen und reflektieren: Eine mögliche Struktur
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• Hätten die Gesundheit und Sicherheit aller Beteiligten durch ein Verlangsamen oder situationsangepasste Optimierung der Maßnahmenumsetzung besser gewährleistet werden können (bspw. Warten auf weitere Einsatzkräfte, um eine bessere Situationskontrolle zu gewährleisten bzw. durch die entsprechend signalisierte Überlegenheit Aggressionshandlungen vorzubeugen, Unfallbearbeitung auf dem Parkplatz und nicht im fließenden Verkehr, Notrufparteien einzeln aus der Wohnung sprechen anstelle eines unreflektierten Betretens des Innenbereichs)? • Wurden Gefahrenreize falsch interpretiert (bspw. Interpretation verbalen Ungehorsams oder passiven Widerstands als Vorläufer aktiver Widerstandshandlungen, die eine eskalierte Reaktion seitens des eigenen Verhandelns bedingte – oder umgekehrt: Wurden Gefahrenreize minimiert oder gar übersehen)? • Welche Sicherheits- und Gesundheitsrisiken zweiter und dritter Rangfolge wurden in der Planung berücksichtigt bzw. materialisierten sich im Laufe des Einsatzgeschehens (bspw. Rauchinhalation, Betäubungsmittel- oder Gefahrenstoffkontamination, ansteckende Krankheiten, psychische Belastungen etc.)? • Welche sicherheits- und gesundheitslogistischen Überlegungen waren in der Einsatzplanung angebracht (bspw. Bestandsaufnahme persönlicher Schutzausrüstung, Einsatz von Spezialkräften, vorsorgliche Entsendung von Rettungsdienst/Feuerwehr etc.)? Fazit Die Komplexität von Einsatzsituationen bedarf einer reflektierten Planung und Nachbearbeitung. Mit der vorgestellten Planungs- und Reflexionsstruktur wollen wir Polizist*innen zum einen bei einer strukturierten Verhaltensplanung im Einsatz unterstützen und zum anderen bei einer systematischen Reflexion unterstützen. Gerade hier sehen wir das Potenzial für eine kontinuierliche und reflektierte Weiterentwicklung on the job. Ein Aspekt, der seitens des Gewaltreduzierenden Einsatzmodells gefordert wird und hier eine konkrete Umsetzung findet. Als eine mögliche Planungs- und Reflexionsstruktur ergibt sich dadurch auch gleichzeitig der Bedarf nach spezifischem und individuellem Anpassen entsprechend dem eigenen Tätigkeitsbereich. Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die Praxis
a) Entscheider*innen Die PR-EV weist unterschiedliche Spannungsverhältnisse und Abwägungsprozesse der Einsatzkraft in der Komplexität von Einsatzlagen aus. Eine einzelne, optimale Lösung wird sich daher nicht immer finden lassen. Eine systematische Einsatzreflexion, die eine Weiterentwicklung der Einsatzkräfte bedingt, bedarf
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M. Staller et al.
einer positiven Fehlerkultur. Diese sollte seitens Entscheider*innen vorgelebt und aktiv eingefordert werden. Des Weiteren könnten Strukturen hilfreich sein, die (a) eine systematische Reflexion des Einsatzhandelns mit Polizist*innen fördern (z. B. Supervision, PeerGroup Support etc.) und (b) das Einsatzhandeln stets in den Fokus einer langfristigen Zielerreichung setzen und den Erfolg auch daran bemessen. b) Einsatzkräfte Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell weist auf eine strukturierte Planung und Reflexion des Einsatzverhaltens hin. Einsatzkräfte können die vorgestellte Struktur mit ihren Leitfragen nutzen, um eigenes Einsatzverhalten systematisch zu planen und im Anschluss zu reflektieren. Gerade im Austausch mit anderen Kolleg*innen ergeben sich anhand der Leitfragen Entwicklungsmöglichkeiten für künftige Einsätze. Das ehrliche Nutzen der vorliegenden Struktur ist damit ein wichtiger Baustein auf dem Weg zum/r reflektierten Praktiker*in. Als generelle Planungs- und Reflexionsstruktur ist die PR-EV offen für eine Individualisierung entsprechend dem eigenen Tätigkeitsbereich. Wir empfehlen basierend darauf eine persönliche Anpassung der Elemente der Struktur sowie der Leitfragen. Für die Reflexion unmittelbar nach Einsätzen (soweit keine weiteren Einsätze folgen) empfehlen wir die Reflexion anhand von individuell optimierten Taschenkarten. Diese könnten anhand der dargestellten Planungs- und Reflexionsfragen erstellt werden. Hierdurch könnte ein learning on the job intensiviert und das eigene Planungs- und Reflexionsvermögen verbessert werden. c ) Einsatztrainer*innen Das Planen und Reflektieren des individuellen Einsatzverhaltens ist ein wesentlicher Aspekt professioneller Polizeiarbeit und damit auch Inhalt des Einsatztrainings. Gerade aufgrund der Komplexität von Einsatzsituationen besteht die Möglichkeit zu unterschiedlichsten Handlungen und zu unterschiedlichsten Einsatzverläufen. Einsatztrainer*innen können durch systematisch angeleitete Planungs- und Reflexionsphasen aus realen Einsatzverläufen, aber auch aus Trainingssimulationen dazu beitragen, das Lerner*innen ihre Fähigkeit zur reflektierten Praxis ausbauen und das eigene Einsatzverhalten begründet und reflektiert optimieren. Eine Möglichkeit besteht im Erstellen individueller Taschenkarten mit den Teilnehmer*innen, welche diese im Einsatz mit sich führen können. Die vorliegende Struktur bietet dafür einen Rahmen, welcher im Einsatztraining genutzt werden kann.
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Einsatzverhalten planen und reflektieren: Eine mögliche Struktur
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Kommunikation in der Anwendung Benjamin Zaiser, Mario Staller und Swen Koerner
Inhaltsverzeichnis 1 E inleitung 2 Konflikt 2.1 Grundlagen 2.2 Selbstbild, Face und Ego 2.3 Eskalation 2.4 Deeskalation 3 Einstellung und Selbstverständnis 4 Anwendung im Einsatz 4.1 Was gesagt wird: selektive Wahrnehmung durch kognitive Verzerrungen 4.2 Wie es gesagt wird: anwendungsbezogene Gesprächsansätze Literatur
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Reviewer*innen: Buc Consten, Torsten Porsch, Henning Staar B. Zaiser (*) Tactial Decision Making Research Group, University of Liverpool, Liverpool, UK E-Mail: [email protected] M. Staller Fachbereich Polizei, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Koerner Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research, Deutsche Sporthochschule, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_14
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Zusammenfassung
Polizeiliche Kommunikationsfähigkeit und deeskalative Handlungskompetenz sind Schlüsselkompetenzen, die dem Einsatz anderer Mittel im Bürgerkontakt übergeordnet sind und das polizeiliche Handeln als Gesamtes tragen. Um effektiv kommunizieren zu können, benötigen Polizeivollzugsbeamt*innen einen Grundbestand an praktischem Hintergrundwissen zur Konfliktbewältigung. Mit dem dadurch gewonnenen Verständnis des Bestimmungspotenzials einer gelungenen Deeskalation können Polizeivollzugsbeamt*innen ihre Grundeinstellung und ihr Selbstbild mit den die Polizei legitimierenden Werten in Deckung bringen. Auf diesem Fundament können sie dann Gesprächstechniken Erfolg versprechend in Einsatz bringen. In diesem an Anwender*innen gerichteten Beitrag stellen wir einen wissenschaftlich fundierten Ansatz zur Erfolg versprechenderen Anwendung etablierter Kommunikationstechniken vor. In einem ersten Schritt besprechen wir die Mechanismen, die zwischenmenschliche Konflikte bestimmen, und erlangen Einsichten der Konfliktbewältigung und Deeskalation. In einem zweiten Schritt erarbeiten wir mit diesen Erkenntnissen korrespondierende Ankerpunkte, an denen Polizeivollzugsbeamt*innen ihre persönliche Einstellung und ihr Werteverständnis festmachen können. In einem dritten Schritt leiten wir anwendungsbereite Gesprächsansätze zur deeskalativen Konflikt-Kommunikation ab und stellen diese anhand von Beispielen vor. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf die Dimension des verbalen Anteils zwischenmenschlicher Kommunikation.
1
Einleitung
Das Begreifen der Kommunikation als eines unter mehreren Einsatzmitteln reflektiert eine nicht realitätsgetreue Übervereinfachung. Dieses Verständnis wird oft in Form linearer Wenn-Dann-Beziehung gelehrt, ähnlich dem Unterricht der Anwendung unmittelbaren Zwangs. So wie der Gebrauch des Distanzelektroimpulsgeräts (DEIG) für das Erreichen der Kampfunfähigkeit eines/einer Angreifer*in geeignet ist, wird deeskalative Kommunikation mit einer Reduzierung der emotionalen Erregung adressierter Bürger*innen assoziiert. Bleibt die von der Kommunikation erwartete Wirkung im Einsatzfall aus, dreht sich die Eskalationsspirale weiter. Polizeivollzugsbeamt*innen sind dann gezwungen, das nächste zur Verfügung stehende Mittel zur Einsatzbewältigung einzusetzen. Dem DEIG folgt der Gebrauch der Dienstwaffe. Dem gescheiterten Deeskalationsversuch autoritäre und damit eskalierende Kommunikation oder die Anwendung physischer Gewalt durch Handanlegen oder andere Mittel unmittelbaren Zwangs. Ein weiteres Merkmal, das das Entfaltungspotenzial der deeskalierenden Kommunikation beschränkt, ist die damit oft assoziierte Unsicherheit in der Erreichung des Einsatzziels. Die Androhung und/oder Anwendung unmittelbaren Zwangs mehrerer Polizeivollzugsbeamt*innen (unter Gewährleistung der Eigensicherung) löst die Lage oft schneller
Kommunikation in der Anwendung
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und mit größerer Bestimmtheit für alle Beteiligten. Dies ist unseres Erachtens auch dem an anderer Stelle in diesem Buch beschriebenen Missverhältnis des polizeilichen Einsatztrainings zwischen Zwangsanwendung und Kommunikation zuzuschreiben. Im Ergebnis bleibt ein oft rein instrumentelles Durchexerzieren eines manchmal wenig kompetenten Deeskalationsversuchs, der weder von einem tiefergehenden Hintergrundwissen über Konflikteskalation und Deeskalation getragen noch an einer nachhaltigen polizeilichen Zielsetzung ausgerichtet ist (Radburn et al. 2020; Zaiser und Staller 2015). Um sich von diesem Werkzeugdenken einer instrumentellen, auf das konkrete Einsatzziel beschränkten Kommunikation loszulösen, müssen Polizeivollzugsbeamt*innen polizeiliche Kommunikationsfähigkeit und deeskalative Handlungskompetenz als übergeordnete Schlüsselkompetenz begreifen. Kommunikation bestimmt das Geschehen von Beginn bis zum Ende des Bürger*innenkontakts und trägt damit das polizeiliche Handeln als Ganzes. Im Folgenden beschreiben wir, wie das Einsatztraining zur Verbesserung der polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalativen Handlungskompetenz auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse und mit Struktur gestaltet werden kann. Der zielführende Einsatz konkreter Gesprächsansätze leitet sich dabei über drei Ebenen hinweg ab. Auf einer übergeordneten Ebene erhalten Polizeivollzugsbeamt*innen Einsicht in die Grundlagen menschlichen Konflikts, um ihnen das für polizeiliche Konfliktbewältigung notwendige Hintergrundwissen zur Verfügung zu stellen. Auf einer mittleren Ebene stellen wir Ankerpunkte vor, die mit den vorgestellten Ansätzen zur deeskalativen Konfliktlösung korrespondieren und an denen die Lernenden ihr entsprechendes Werteverständnis und die darin widergespiegelte Verpflichtung zur Deeskalation festmachen können. Auf einer unteren Ebene besprechen wir verwandte, fehlerhafte Denkmuster, die eine eskalative Konflikt-Kommunikation begünstigen, und leiten greifbare, evidenzbasierte Gesprächstechniken ab.
2
Konflikt
2.1
Grundlagen
Sprey (1979) definierte Konflikt als „Konfrontation zwischen Einzelnen oder Gruppen hinsichtlich […] nicht miteinander vereinbarer Ziele“ (p. 134; Übersetzung aus dem Englischen). Garvey und Shantz (1992) hoben hervor, dass es sich bei Konflikten um soziale Aktivitäten handelt, die hauptsächlich in Form verbalen Austauschs mit dem Ziel der Unterordnung unter die Vernunft stattfinden. Shantz (1986) stellte jedoch fest, dass Konflikt in Gewalt münden kann und regelmäßig ungerechtfertigterweise mit Aggression gleichgestellt wird. Weiterhin unterschied Shantz (1986) zwischen intra-psychologischen und zwischenmenschlichen Konflikten. Bei intra-psychologischen Konflikten handelt es sich um das von Einzelnen, oft jedoch in Bezug auf äußere Einflüsse, wahrgenommene Aufeinander-
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treffen widersprüchlicher oder gegenseitig nicht vollständig vereinbarer Interessen und Handlungstendenzen. Entsprechend spricht die Psychologie auch von Entscheidungskonflikten. Solche inneren Konflikte verursachen emotionale Spannungen. Dadurch bestimmen sie die vom den Konflikt erlebenden Individuum wahrgenommenen Emotionen und somit dessen Motivation und Verhalten. Entsprechend sind Entscheidungskonflikte ein relevanter Bestimmungsfaktor für den Verlauf von Kontakten zwischen Bürger*innen und Polizeivollzugsbeamt*innen. Zwischenmenschliche Konflikte erfordern definitionsgemäß mindestens zwei Parteien, die sich in ihren Interessen und ihrem Verhalten zunächst unvereinbar gegenüberstehen. Gängige Modelle des zwischenmenschlichen Konflikts fokussieren zum einen auf innere, kognitive Prozesse und zum anderen auf die kommunikative Ausgestaltung der durch Konflikt bestimmten Interaktion zweier oder mehrerer Parteien. Hammond (1965) sah Konflikte als Folge des komplexen Zusammenspiels mehrerer Faktoren. Diese beinhalteten unter anderem den sachlichen Konfliktgegenstand, die persönliche Beziehung zwischen den Konfliktparteien und das durch die Konfliktparteien an den Tag gelegte Verhalten. Als grundlegendes Prinzip formulierte er die Feststellung, dass eine Konfliktpartei auf die von der anderen Konfliktpartei wahrgenommene Realität nur über Reize schließen kann, die sie selbst in Bezug auf die andere Konfliktpartei (oder den anderen Interessengegenstand) wahrnehmen und (auf Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen) interpretieren kann. Beide Seiten können auf das Weltverständnis, die Motivation und das Verhalten sowie die Wahrnehmung des eigenen Handelns durch die jeweils andere Seite nur über die Interpretation sinneswahrnehmbarer Hinweise schließen. Dabei erlangen sie niemals volles Wissen über die von der jeweils anderen Seite erfahrene Realität. Eine ähnliche Sequenz hat Dodge (1986) in seinem Modell der sozialen Informationsverarbeitung formuliert. Gemeinsam mit seinem Kollegen Crick (Crick und Dodge 1994) stellt er den ersten Schritt als Wahrnehmung sozialer Reize dar, z. B. einer von Bürger*innen an Polizeivollzugsbeamt*innen gerichteten Beleidigung. Darauf folgt das Generieren einer Konfliktlösungsstrategie, wie bspw. das Ignorieren der Beleidigung. An dieser Stelle räumen sie der emotionalen Erregung gestaltenden Spielraum ein. Dieser Betrachtung zufolge hängt die gewählte Konfliktlösungsstrategie in großem Maße vom Erregungszustand der Konfliktparteien sowie insbesondere von den erfahrenen Emotionen ab. So könnte sich der/die beleidigte Polizeivollzugsbeamt*in z. B. in einem schlafentzugsbedingten, erhöhten Erregungszustand auf eine verbale Eskalation oder einen beispielsweise nicht rechtmäßigen Platzverweis einlassen. Vor diesem Hintergrund erfordert die effektive Bewältigung sowohl von internen als auch von zwischenmenschlichen Konflikten einen erfolgreichen Perspektivwechsel. Nur durch ein Nachempfinden der inneren Welt des/der Gesprächs- oder Konfliktpartner*in kann auf dessen/deren Wahrnehmung, Beweggründe, Wünsche und Ziele geschlossen werden. Diese können dann wiederum dem eigenen Erleben mit dem Ziel des Feststellens von Schnittmengen gegenübergestellt werden.
Kommunikation in der Anwendung
2.2
261
Selbstbild, Face und Ego
Ein gelungener Perspektivwechsel erlaubt auch Einblick in die Bestrebung aller Menschen, ihr positives Selbstbild zu wahren (Goffman 1955). Kognitive Dissonanzen, Erfahrungen und Wahrnehmungen, die dem eigenen Selbstbild widersprechen, dieses verzerren oder die Identität einer Person infrage stellen, führen demnach zu Gesichtsverlust (Oetzel et al. 2001; Ting-Toomey und Kurogi 1998; Ting-Toomey 2005). Dieser ist mit der Erfahrung negativer Emotionen und einem erhöhten Erregungszustand verbunden, was sich regelmäßig eskalierend auf Konflikte (Hammer und Rogan 2004; Rogan und Hammer 1994, 1995; Hammer 2007) bis hin zum Ehrenmord (Cohan 2009) auswirkt. Semmer et al. (2019) stellten dieses Prinzip im Rahmen der Theorie über Stress als Angriff auf sich selbst (in der Literatur als stress-as-offence-to-self theory bekannt) mit einer wesentlichen Verfeinerung dar. Diese korrespondiert mit den oben besprochenen Konfliktgrundlagen zu internen und zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen und spricht die folgenden beiden Dimensionen an. Wir pflegen unser inneres Selbstbild, an dem wir uns unabhängig vom Urteil anderer messen. Ebenso ist unser positives Selbstbild von der Interaktion mit und vom Urteil anderer abhängig. Die Gesichtswahrung ist entsprechend vielschichtig und eine wesentliche Einflussgröße auf die Bewältigung zwischenmenschlicher Konflikte (Donohue 1992; Folger et al. 2021), nicht nur über kulturelle Grenzen hinweg (Oetzel et al. 2001; Ting-Toomey und Kurogi 1998). Die aktive Wahrung des Gesichts des anderen ermöglicht dabei den Aufbau tragfähiger Gesprächsbeziehungen (Rogan und Hammer 1994). Die Begrifflichkeiten des Gesichts (in der Literatur auch als face bekannt) und der Gesichtswahrung bzw. Vermeidung des Gesichtsverlusts (facework) haben durch Hammer und Rogan und Hammer (1994) bereits Einzug in die Literatur zur polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalativen Handlungskompetenz erhalten. Um die im weiteren Verlauf vorgestellten Gesprächsansätze im Rahmen von facework einsetzen zu können, regen wir u. a. an, dass Polizeivollzugsbeamt*innen sich mit den kulturellen Hintergründen der Bewohner*innen in ihren Zuständigkeitsräumen vertraut machen. Darüber hinaus gestaltet sich die Konfliktbewältigung wesentlich schwieriger, wenn Konfliktparteien kompromisslos auf den eigenen, in emotionalen Situationen oft kurzfristigen Vorteil beharren (unbeachtet langfristiger Auswirkungen; Baumeister et al. 1998; Muraven et al. 1998). In einer interdisziplinären Analyse von Literatur auf den Gebieten der Aggressions- und Gewaltforschung sowie in der Kriminologie haben Baumeister et al. (1998) festgestellt, dass ein bedrohtes Selbstbild oft Aggressivität mit sich bringt. Im Zustand ermüdungsbedingter Einschränkung des Selbstkontrollvermögens (in der Literatur als ego depletion bekannt) sind Menschen ebenfalls nicht mehr in der Lage, den kognitiven Aufwand für den von facework im engeren und die Konfliktbewältigung im weiteren Sinne erforderlichen emotionalen Aufwand aufzubringen (Hülsheger und Schewe 2011). Für Polizeivollzugsbeamt*innen selbst wurden die Neigung zu Aggressivität und exzessiver Gewaltanwendung sowie die verfrühte Anwendung unmittelbaren Zwanges unter Einschränkung ihres Selbstkontrollvermögens bereits nachgewiesen (Donner und Jen-
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B. Zaiser et al.
nings 2014; Staller et al. 2019). Sie müssen sich daher des Zustandes ihres eigenen Egos sowie des Egos adressierter Bürger*innen bewusst sein.
2.3
Eskalation
Personen, die miteinander in Konflikt stehen, beginnen die Durchsetzung ihrer Interessen üblicherweise höflich und ohne Aggressivität, bspw. durch einfache Bitten oder Vorschläge (Friedman und Currall 2003). Wird das Ziel durch diesen Ansatz nicht erreicht, wählen die Konfliktparteien durchsetzungsstärkere oder aggressivere Taktiken. Dazu zählen typischerweise Forderungen, die im weiteren Eskalationsverlauf in böswillige Äußerungen und schließlich in Drohungen oder gar Gewalt übergehen können. In Ergänzung bürgt die uns Menschen innewohnende Neigung zur Reziprozität (Becker 1956) erhebliches Eskalationspotenzial (wie auch Deeskalationspotenzial). Das Modell der Konfliktspirale (Rubin et al. 1994) beschreibt, wie die gegenseitige Erwiderung konfliktbezogener Aggressionshandlungen aller Beteiligten den Konflikt stets um eine Stufe höherstellt. Damit dreht sie die metaphorische Spirale immer weiter in den Konflikt hinein. Entsprechend gestaltet diese Dynamik die Erwartungshaltung und Wahrnehmungen beider Parteien. Auch mithilfe der unten vorgestellten kognitiven Verzerrungen macht sie die weitere Eskalation zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Im weiteren Verlauf kann es schließlich zu einer auf beiden Seiten wahrgenommenen moralischen Überlegenheit kommen. Diese kann in einer mit Feinddenken einhergehenden Dehumanisierung der jeweils anderen Konfliktpartei gipfeln (Opotow 2005; Rubin et al. 1994). Erschwerende Faktoren umfassen den generellen Gebrauch durchsetzungsorientierter Strategien, von Konfliktparteien wahrgenommene Unfairness, Anonymität zueinander sowie die Wahrnehmung moralischer Über- bzw. Unterlegenheit (Friedman und Currall 2003). Diese erinnern alle an die Bürger*innenperspektive in Polizeikontakten. Die beschriebenen Folgen eskalierter Konflikte (Feinddenken, Dehumanisierung) treten ebenfalls unter Polizeivollzugsbeamt*innen auf und werden stets als Grund exzessiver Gewaltanwendungen gegenüber Bürger*innen aufgeführt (Adedoyin et al. 2019; Kemme et al. 2020). Die Eskalationsspirale und korrespondierende Konfliktdynamiken sind entsprechend auch im Polizeidienst anzutreffen.
2.4
Deeskalation
Die erfolgreiche Umkehr der Eskalationsspirale sowie eine effektive Vorbeugung von Konflikten sind ohne den Aufbau einer tragfähigen (Gesprächs-)Beziehungsebene nicht möglich (Schulz von Thun 1981; Watzlawick et al. 2017). Ohne Rapport können keine substanziellen Sachverhalte besprochen, diskutiert oder verhandelt werden. Der erfolgreiche Aufbau einer solchen tragfähigen Beziehung wird durch einen von Empathie
Kommunikation in der Anwendung
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Bezugsrahmen: Bürger* innenkontakt
Bezugsrahmen: PVB*in
Ein uss
Rapport
Empathie
Zeitverlauf über den Bürger*innenkontakt hinweg
Abb. 1 Das Behavioral Influence Stairway Model nach Vecchi und Kollegen 2019, übersetzt und angepasst durch uns
g etragenen und mittels der unten besprochenen konkreten Gesprächsansätze, allen voran dem aktiven Zuhören, Perspektivwechsel ermöglicht (Rogers und Farson 1957). In der Polizei hat das Referat der Verhaltenswissenschaft des US-amerikanischen Federal Bureaus of Investigation (FBI) das empirisch validierte Stufenmodell der Verhaltensändernden Einflussnahme (im Original als Behavioral Influence Stairway Model bekannt; Vecchi et al. 2019) als internationalen Standard der polizeilichen Krisenintervention und Verhandlungsführung etabliert. Über drei Stufen hinweg erreichen Intervenierende dabei die Deeskalation von Verhaltenskonflikten und psychischen Krisenzuständen. Auf der ersten Stufe wird empathisiert, auf der zweiten Stufe eine tragfähige Gesprächsbeziehungsebene und ein Mindestmaß an Vertrauen erreicht. Auf der dritten Stufe folgt die Einflussnahme auf die andere Person und von Intervenierenden gewünschte Verhaltensänderung. Das Momentum des Treppensteigens ist dabei in der Anwendung aktiven Zuhörens über den gesamten Verlauf hinweg getragen. Der Fokus der Interaktion beginnt beim Bezugsrahmen der anderen Person (Perspektivwechsel Polizeivollzugsbeamt*in -> Bürger*in) und verschiebt sich langsam, mit Erreichen der letzten Stufe, hin zum Bezugsrahmen der Polizei (der gewünschten Verhaltensänderung, bspw. das Messer fallen zu lassen: erwiderter Perspektivwechsel Bürger*in -> Polizeivollzugsbeamt*in) (Abb. 1).
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Einstellung und Selbstverständnis
An dieses Grundverständnis zwischenmenschlichen Konfliktes schließen nunmehr die nachfolgend aufgeführten Wertorientierungen an. Als Ankerpunkte erlauben sie Polizeivollzugsbeamt*innen, ihr Selbstverständnis an ihnen festzumachen und dadurch ihre
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i ndividuellen Einstellungen unter der Verpflichtung zur Deeskalation mit der gesellschaftlichen Erwartungshaltung in Einklang zu bringen. Auf individueller Ebene reduzieren Polizeivollzugsbeamt*innen dadurch das Verletzungsrisiko aller am Bürgerkontakt Beteiligten. Auf gesellschaftlicher Ebene wahren sie das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Polizei als Institution. Selbstverständnis als Beschützer und Verpflichtung zur Deeskalation Als übergeordnetes Selbstverständnis wollen wir das normativ-ethisch begründete, beschützerische Rollenverständnis aufgreifen (in der Literatur als guardian mindset bekannt). Dieses Rollenverständnis steht in Gegensatz zu einer konfliktgenehmigenden, autoritären Grundhaltung (warrior mindset). Mit diesem Rollenverständnis gehen ein erhöhtes Deeskalationspotenzial sowie ein reduziertes Risiko polizeilichen Fehlverhaltens und der körperlichen Unversehrtheit von Bürger*innen sowie Polizeivollzugsbeamt*innen einher (McLean et al. 2020; Rahr und Rice 2015; Zaiser und Staller 2015). Schließlich sichert sich die Polizei im guardian mindset das Vertrauen und den Zuspruch der Gesellschaft auf effektivere und nachhaltigere Weise (McLean et al. 2020; Zaiser und Staller 2015). Darüber hinaus belegen Schmeichel und Vohs (2009), dass das Festhalten an einer wertegestützten, normativen Ausrichtung geistiger Ermüdung und der Erschöpfung von Willenskraftressourcen vorbeugt. Guardians ergreifen Initiative und setzen die unten besprochenen Kommunikationsansätze trotz Eskalation seitens des/der Bürger*in proaktiv ein. Damit erwirken sie eine entsprechende Erwiderung der von der Polizei getragenen Deeskalationshandlung durch Bürger*innen und damit die Umkehr der Eskalationsspirale. So kann bspw. unter Berücksichtigung der Sicherheit Dritter ein Nichtaussteigen aus dem Streifenwagen bei gleichzeitiger Kommunikation mit einer mit Messer bewaffneten Person durch ein teilweise geöffnetes Fenster genügend Raum und Zeit für eine erfolgreiche Deeskalation schaffen. Die anwesenden Polizeibeamt*innen minimieren dabei das Verletzungsrisiko aller Beteiligten und beugen einer möglicherweise durch die Polizei geschaffenen letalen Konfrontation vor (im Englischen als officer-induced-jeapardy bezeichnet). Empathie und kompromisslose Hingabe zum Perspektivwechsel Die oben aufgeführten Überlegungen zu Konfliktursachen und Deeskalation erfordern stets die von Empathie getragene, volle Hingabe zum Perspektivwechsel. Das bedeutet das fortgesetzte Versuchen, die gegensätzlichen Motivationen und Interessen der anderen Konfliktparteien zu verstehen und die diese antreibenden Emotionen nachzuempfinden. Nur dann gelingt es, das Potenzial einer deeskalierenden Konfliktlösung zu bestimmen und die richtigen Kommunikationsansätze (siehe unten) zielführend anzuwenden. Insbesondere in Anbetracht innerer Konflikte ermöglicht die authentische Motivation, die konkurrierenden Beweggründe der anderen Konfliktpartei zu verstehen, ein besseres Verständnis der Person, die sich hinter den an den Tag gelegten Verhaltensweisen verbirgt. Darüber hinaus erlaubt sie auch eine differenziertere Beurteilung von deren Motivation und Handeln. Zum Beispiel, mag die Entscheidung eines/einer Bürger*in, sich der Festnahme zu entziehen, von den involvierten Polizeivollzugsbeamt*innen als verächt-
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liches, von maßgeblicher krimineller Energie getragenes Verhalten interpretiert werden. Dies ließe eine Eskalation vonseiten der Polizei erwarten. Was jedoch in diesem Fall nicht bei dieser Beurteilung berücksichtigt wurde, könnte die Tatsache sein, dass der/die Bürger*in vor der drohenden Untersuchungshaft eine letzte Zusammenkunft mit seiner/ihrem Partner*in oder ihren Kindern genießen möchte. Dieses Wissen relativiert die nun als Vorverurteilung eines potenziellen, künftigen schweren Straftäters entlarvte Betrachtung und eröffnet ein über ein besseres Menschenverständnis gewonnenes, erhöhtes Deeskalationspotenzial. Kompromisslose Hingabe zur urteilsfreien Wahrnehmung Die oben vorgestellten wahrnehmungstheoretischen Überlegungen zu Konflikten erlauben Polizeivollzugsbeamt*innen, in Widerspruch stehende Realitäten von Konfliktparteien, selbst auf Ebene scheinbar nicht interpretierbarer Tatsachen bzw. Fakten, zu akzeptieren. Dies erfordert die Hingabe zu einer urteilsfreien Wahrnehmung, ohne die auch die Vielschichtigkeit der Motivation menschlichen Handelns nicht erkannt werden kann. Da wir als Menschen ohne die Beurteilung von Situationen und Interaktionspartnern nicht imstande sind, unsere Umwelt zu navigieren (Tversky und Kahneman 1974), heben wir an dieser Stelle vor dem Hintergrund der polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalativen Handlungskompetenz das folgende Ziel hervor: Polizeivollzugsbeamt*innen sollen Umweltreize, insbesondere das Handeln adressierter Bürger*innen, soweit es neuro-biologisch möglich ist, ohne kognitive Verzerrung und Vorurteile wahrnehmen bzw. unter Bewusstsein der unten aufgeführten Störfaktoren korrigieren. Diese Wahrnehmungen können dann unversehrt und vorurteilsfrei beurteilt werden und nachfolgende Handlungen leiten. So mag es manchen Polizeivollzugsbeamt*innen bspw. schwerfallen, in der Vergangenheit zahlreich kriminalpolizeilich in Erscheinung getretene Bürger*innen in der Opferrolle zu akzeptieren und dann im Zweifelsfall Entscheidungen zu deren Gunsten zu treffen. Die Reduktion kognitiver Verzerrungen und von Vorurteilen erfordert ein Bewusstsein der diese verursachenden Faktoren. Die unter diesen für den polizeilichen Alltag relevanten Mechanismen werden unten besprochen. Bedingungsloser Respekt Als in der Krisenintervention und Psychotherapie etabliertes Konzept hat sich die bedingungslose positive Wertschätzung von Interaktionspartner*innen seit mehr als einem halben Jahrhundert bewährt (Rogers und Farson 1957). Eine erfolgreiche Deeskalation psychologischer Krisen sowie innerer Konflikte ist ohne die volle Anerkennung des/der Interaktionspartner*in nicht möglich. Er/sie besitzt unabhängig jedweder Vergangenheit Würde und verdient Respekt. Damit verdient er/sie eine positive Wahrnehmung als Mitmensch, ohne Einschränkung. Eine solche Wertschätzung beugt insbesondere den oben beschriebenen, fortgeschrittenen Windungen der Eskalationsspirale, der moralischen Überlegenheit und Dehumanisierung, vor. Da Polizeivollzugsbeamt*innen ständig moralisch verwerflichem und gesellschaftlich verächtlichem Verhalten ausgesetzt sind (Gilmartin 2002), haben wir den Begriff des bedingungslosen Respekts gegenüber Bürger*innen als Anker für deren Selbstverständnis und
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Einstellung gewählt. Während es sich um dasselbe Konzept handelt, erlaubt der Begriff des bedingungslosen Respekts Polizeivollzugsbeamt*innen unter Gewährleistung ihrer Würde und Respekts, trotz möglicherweise verachtenswerter Verfehlungen straffälligen Bürger*innen gegenüberzutreten. So berühren bspw. pädophile Handlungen eines/einer Straftäter*in seine/ihre Würde als Mensch nicht. Im Umgang mit dieser Person wirkt sich der entsprechende, bedingungslose Respekt konfliktdeeskalierend und kooperationsfördernd kooperationsfördernd, beispielsweise in der Beschuldigtenvernehmung, aus. Kompromisslose Akzeptanz der Kommunikation als übergeordnete Schlüsselkompetenz Wie eingangs ausgeführt, ist die polizeiliche Kommunikationsfähigkeit und deeskalative Handlungskompetenz in ihrer Rolle als übergeordnete Schlüsselkompetenz noch nicht anerkannt. Während bspw. das oben beschriebene Eingehen auf die Perspektive der Bürger*innen, insbesondere in Bezug auf das polizeiliche Handeln, unbestritten ist (Todak und James 2018), ist die damit verbundene unmittelbare Zielsetzung nicht eindeutig bestimmt: So können Polizeivollzugsbeamt*innen entweder versuchen, Einsicht in die Welt und Sichtweise des/der Bürger*in zu gewinnen, um authentisch tatsächliches und nachhaltiges Verständnis zu entwickeln. Dies kann in einem nächsten Schritt zur Konfliktbewältigung genutzt werden. Polizeivollzugsbeamt*innen können aber auch die unten aufgeführten Gesprächstechniken einsetzen, um ungewollte Reaktionen zu minimieren und proaktiv normative Fügsamkeit zu produzieren (Radburn et al. 2020). Eine solche rein instrumentelle Anwendung von Deeskalationstools ist ohne die entsprechende darunterliegende Grundeinstellung ggü. Bürger*innen nicht zielführend (Zaiser und Staller 2015).
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Anwendung im Einsatz
Entsprechend sind die nachfolgend vorgestellten anwendungsbereiten Kommunikationsansätze nicht als Werkzeuge zu verstehen, die lediglich zu Beginn einer sich drehenden Eskalationsspirale durchexerziert werden, bevor zu autoritärerer Kommunikation oder Zwang gegriffen wird. Vielmehr handelt es sich um ein Repertoire an Handlungsalternativen, das Polizeivollzugsbeamt*innen über den gesamten Bürgerkontakt hinweg zur Verfügung steht. Verankert in einem Selbstverständnis, das das praktische Wissen zu erwartender Konfliktdynamiken für eine nachhaltige Konfliktbewältigung nutzt, entfalten sie dabei ihr volles und verlässliches Deeskalationspotenzial.
4.1
as gesagt wird: selektive Wahrnehmung durch W kognitive Verzerrungen
Um sich deren Eskalationspotenzial bewusst zu machen und einer entsprechenden Materialisierung im Konfliktfall vorzubeugen, halten wir es für unabdinglich, dass sich Polizei-
Kommunikation in der Anwendung
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beamt*innen mit selektiver Wahrnehmung und kognitiven Verzerrungen auseinandersetzen. Nachfolgend stellen wir eine Auswahl entsprechender Beobachtungen vor. Es handelt sich dabei nicht um eine abschließende Liste, sondern vielmehr um häufig vorkommende Beobachtungen. Selbstwertdienliche Verzerrung (auch als self-serving bias bekannt) Diese kognitive Verzerrung wurzelt in der Verteidigung eines positiven Selbstbildes (Goffman 1955; Greenberg et al. 1982). So werden positive Konsequenzen des eigenen Handelns stets als eigener Verdienst dargestellt, während negative Konsequenzen äußeren Umstanden wie Pech oder dem Handeln anderer zugeschrieben werden. Facework (vgl. oben) konzentriert sich auf die eigene Gesichtswahrung, nicht auf die des anderen. Im Umkehrschluss werden positive Konsequenzen des Handelns anderer als Ergebnis äußerer Umstände gesehen und negative Konsequenzen der Verantwortung des Handelnden zugeschrieben, was auch als fundamentaler Attributionsfehler bekannt ist (Jones und Harris 1967). So versuchen Polizeivollzugsbeamt*innen, eine Beziehung zu Bürger*innen dadurch aufzubauen, indem sie sich von negativen Erfahrungen, die diese in der Vergangenheit mit der Polizei gemacht haben, abgrenzen („Das ist verwerflich. Das heißt aber nicht, dass alle Beamte so sind“). Ein effektiverer Ansatz wäre jedoch eine positive Erfahrung durch einen kompromisslosen Perspektivwechsel hinsichtlich des/der Bürger/in zu schaffen (Zaiser, noch nicht veröffentlicht). Ebenso scheinen Polizeivollzugsbeamt*innen strafbares Handeln von Bürger*innen oft ausschließlich deren Person und Charakter zuzuschreiben, während äußere Umstande (wie z. B. Kindheitstraumata, Sozialisierung, Perspektivlosigkeit, Benachteiligungen usw.) nicht berücksichtigt werden. Der self-serving bias widerspricht dem Rollenverständnis des Beschützers und verhindert einen effektiven Perspektivwechsel sowie eine urteilsfreie Wahrnehmung. Projektionstrugschluss (auch als social consensus effect bzw. mirror imaging fallacy bekannt) Wir sind zu der Annahme veranlagt, dass andere Menschen, mit denen wir uns verbal und non-verbal austauschen, unsere Interaktionen und das Umfeld, in dem diese stattfinden, genau wie wir wahrnehmen, verarbeiten und interpretieren. Mit anderen Worten: Wir projizieren unseren Referenzrahmen und unser Werteverständnis regelmäßig auf unser Gegenüber (Krueger und Clement 1997; Zaiser, noch nicht veröffentlicht). Z. B. denken wir, dass das Kleinkind friert, wenn wir frieren, oder können divergierende politische Ansichten von Freunden nicht nachvollziehen. Der Projektionstrugschluss ist besonders schwer zu entlarven, da er regelmäßig ein erfolgreiches Empathisieren suggeriert. Um eigene Erfahrungen auf die andere Person projizieren zu können, bedarf es eines bis zu einem gewissen Punkt erfolgreich vollzogenen Perspektivwechsels. Dabei stellen wir uns einen Blick durch die Augen der anderen Person vor und identifizieren die Situation, in der diese sich befindet. Im nächsten Schritt rufen wir eigene Erfahrungen in ähnlichen Situationen ab und erleben diese schließlich nach. Ein von Empathie getragener Perspektivwechsel ist an dieser Stelle jedoch noch nicht vollzogen. Anstatt die von der anderen Per-
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son erlebte Gefühlswelt durch aktives Zuhören zu erforschen, teilen wir unsere eigene, nacherlebte Gefühlswelt mit. Weicht diese vom Erleben der anderen Person ab, fühlt diese sich nicht verstanden. Das wirkt sich negativ auf den Gesprächsbeziehungsaufbau und eskalierend aus. So wurde bspw. selbst bei polizeilichen Verhandler*innen die Neigung zur Annahme beobachtet, dass die Familie eines „home-grown“-Terroristen sein Handeln während des Anschlags verurteilen müsse. Dies ist aber je nach der eigenen Gesinnung nicht notwendigerweise der Fall (Zaiser, noch nicht veröffentlicht). Empathieversäumnis (auch als empathy failure bekannt) Unser Empathievermögen ist durch mehrere Faktoren eingeschränkt. So ist es stets wahrscheinlicher, dass Menschen innerhalb einer Gruppe miteinander empathisieren als mit Außenseitern (Cuddy et al. 2007). Dabei kann sich der Begriff der Gruppe auf alle vorstellbaren, gemeinsamen Merkmale beziehen, von Familie über ethnische Zugehörigkeit bis zu Arbeitgeber oder unterstütztem Bundesligaverein (Zaki und Cikara 2015). Ein für Polizeivollzugsbeamt*innen relevanter Grund von Empathieversäumnissen ist die sogenannte Mitgefühlsermüdung, die vorwiegend in den helfenden Berufen beobachtet wird. Das ständige Konfrontation mit Mitgefühl auslösenden Situationen hat eine sich nachhaltig distanzierende Schutzreaktion zur Folge, die ein erfolgreiches Empathisieren nicht mehr zulässt (Figley 1995). Auch verhindern Konflikte auf allen Ebenen regelmäßig Empathie zwischen allen Beteiligten, oft mit besonders widrigen Konsequenzen, die in Antipathie gipfeln können (Zaki und Cikara 2015). So sind Polizeivollzugsbeamt*innen ständig von Empathieversäumnissen bedroht: Sie sehen sich durch ihre professionelle Identität und ihren Teamgeist (self) von der Öffentlichkeit (other) abgegrenzt, sind einem erhöhten Risiko der Mitgefühlsermüdung ausgesetzt und stehen täglich zwischenmenschlichen Konflikten gegenüber. Verfügbarkeitsheuristik (auch als availability bias bekannt), Bestätigungsfehler (auch als confirmation bias bekannt), implicit bias Bei der Verfügbarkeitsheuristik handelt es sich um ein Denkmuster, das, im Gegensatz zur analytischen, evidenzbasierten Erörterung, auf Grundlage der Einfachheit des Abfragens im Gedächtnis gespeicherter Informationen die Wichtigkeit und Häufigkeit von Wahrnehmungen und Ereignissen bestimmt (Tversky und Kahneman 1974). So sind Polizeivollzugsbeamt*innen speziell im Einsatztraining unverhältnismäßig öfter gefährlichen Situationen ausgesetzt. Dies kann zur Folge haben, dass sie ihr Weltbild entsprechend anpassen und als Folge in jeder Interaktion mit Bürger*innen vom schlimmsten Fall ausgehen (Gilmartin 2002). Damit eng verbunden ist der Bestätigungsfehler (confirmation bias) (Snyder und Swann 1978), mit dem sie dieses Weltbild stützende Informationen verstärken und widersprüchliche Erfahrungen geschwächt oder gar nicht wahrnehmen. Dies begünstigt wiederum die Einfachheit des Abrufens des Worst-Case-Szenarios. Dieser unterbewusste Mechanismus umfasst oft auch unterbewusste Vorurteile, die weitestgehend als implicit bias bekannt sind und sich durch die entsprechende selektive
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Wahrnehmung etablieren (Greenwald und Banaji 1995). Auf implicit bias werden unter anderem die in den Vereinigten Staaten systematischen, exzessiven Gewaltanwendungen gegenüber Schwarzen und anderen Minderheiten zurückgeführt (Adedoyin et al. 2019). Nur mit dem Bewusstsein ihrer individuellen, unterbewussten Vorurteile können Polizeibeamt*innen als faire Beschützer*innen urteilsfrei Dienst verrichten. Handlungsneigung (auch als action bias bekannt), Unaufmerksamkeitsblindheit (auch als inattentional blindness oder cognitive tunneling bekannt) Insbesondere in dynamischen Situationen unterliegen Polizeibeamt*innen, wie medizinisches Notfallpersonal (Kiderman et al. 2013), der Handlungstendenz. Neben Distanz hat sich Zeit, sofern Eigensicherung und die Sicherheit Dritter und Unbeteiligter es zulassen, als Deeskalationsmittel bewährt (Vecchi et al. 2019). So erlaubt zusätzliche Zeit das Generieren weiterer Problemlösungsansätze und das Eintreffen weiterer Einsatzkräfte – zur gleichen Zeit können nicht nur mit der Polizei in Konflikt stehende Bürger*innen sondern auch Polizeivollzugsbeamt*innen ihre emotionale Intensität abbauen. Das überstürzte Handeln in komplexen Situationen bringt Polizeivollzugsbeamt*innen dabei schnell an die Grenzen ihres kognitiven Verarbeitungsvermögens. Diese Unaufmerksamkeitsblindheit bzw. -taubheit (auch als cognitive tunneling bekannt; Dirkin 1983) hat zur Folge, dass Polizeivollzugsbeamt*innen regelmäßig auf Kosten weniger aufmerksamkeitsbindender Umweltreize einzelne, herausragende Stimuli wahrnehmen. Dadurch sind sie erhöhten Risiken ausgesetzt. So richten sie regelmäßig ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf die Person, die am lautesten schreit und am offensichtlichsten konfrontiert, und nicht auf das Funkgerät, über das die Einsatzleitstelle vor einem weiteren Verdächtigen warnt. Speziell in diesen Situationen scheinen viele Polizeibeamt*innenKommunikation als Werkzeug zu begreifen, das auf der Suche nach dem geeigneten Einsatzmittel schnell gegenüber den verhältnismäßig mehr trainierten Alternativen der Zwangsanwendung weicht.
4.2
Wie es gesagt wird: anwendungsbezogene Gesprächsansätze
Die nun aufgeführten Gesprächsansätze leiten sich aus dem oben erarbeiteten Konfliktverständnis und den korrespondierenden Einstellungsankern ab. Sie sind geeignet, unter Berücksichtigung der zuvor besprochenen kognitiven Verzerrungen die polizeiliche Kommunikationsfähigkeit optimal zu gestalten und das Potenzial deeskalativer Handlungskompetenz voll auszuschöpfen. Es handelt sich bei dieser Übersicht nicht um eine abschließende Auflistung. Wir wollen mit diesen etablierten Gesprächsansätzen lediglich eine Idee der inhaltlichen Ausgestaltung eines kommunikationsbasierten Einsatztrainings vorstellen. Um die Authentizität in der Anwendung der folgenden Gesprächsansätze zu wahren, sind Polizeivollzugsbeamt*innen gehalten, die jeweiligen Beispiele lediglich als solche zu betrachten und die Techniken selbst in ihrem eigenen Stil anzuwenden.
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Nicht komplementäre Gesprächsansätze (auch als non-complementarity bekannt) Hierbei handelt es sich um das Durchbrechen der eskalativen Reiz-Reaktions-Sequenz, indem Polizeibeamt*innen Initiative ergreifen und pro-aktiv, der eigenen Intuition widersprechend, einen deeskalativen Kommunikationsansatz wählen (Oliva et al. 2010). Dieser widerspricht der Erwartung adressierter Bürger*innen, die aufgrund der Situation oft eine eskalative Reaktion auf ihr Handeln seitens der Polizei erwarten. Durch ein unerwartetes (wenn auch nur symbolisch auf kommunikativer Ebene) Entgegenkommen ermöglicht nicht-komplementäre Kommunikation eine Umkehr der Eskalationsspirale, indem sie die andere Person weniger in die Verteidigung ihrer Position drängt und eine Erwiderung der an den Tag gelegten deeskalativen Geste mit sich bringt. Beispiel
• Bürger*in: Verpiss dich, Bullenschwein! • Polizist*in: Okay – ich trete ein paar Schritte zurück. Ich kann mir vorstellen, dass ich das Letzte bin, was du heute gebrauchen kannst. Umso schneller ich mit deiner Frau/deinem Mann reden kann, umso schneller bist du mich los. • NICHT: Vorsicht – sonst gibt’s eine Anzeige wegen Beleidigung. (vgl. oben, Selbstwert dienliche Verzerrung) ◄ Das Trennen von Verhalten und Person Das von einer Person an den Tag gelegte Verhalten lädt ein, ohne Betrachtung äußerer Umstände auf den Charakter und damit auf die Identität der Person zurückzuschließen (vgl. die Prinzipien getreue Verhandlungsführung nach Fisher et al. 1981). Dies reduziert diese Person auf die im Moment gewonnene Wahrnehmung des/der Polizeivollzugsbeamt*in und setzt dabei vorverurteilend die Würde der Person herab: Wir sehen einen Kriminellen, eine Geisteskranke, ein Opfer. Was wir nicht sehen ist eine Person, die aufgrund widriger Umstände eine Reihe falscher Entscheidungen getroffen hat, die in der genetischen Lotterie das Los einer verhängnisvollen psychischen Störung gezogen hat oder jemand, der trotz Viktimisierung Handlungskompetenz entfaltet. Für eine erfolgreiche Deeskalation ist es dabei stets unabdinglich, das Verhalten nicht nur von der dahinterstehenden Person zu trennen, sondern auch von der die Handlung treibenden Emotion. Dies kann als Gesprächseinstieg zum Aufbau einer Beziehung mit Bürger*innen geschickt genutzt werden. Beispiel
• Polizist*in: Ob sie’s glauben oder nicht, ich komme auch oft an den Punkt, an dem ich meine Kinder einfach packen möchte. Ich glaube, das ist natürlich. Wir müssen lediglich der Tatsache auf den Grund gehen, wie es dazu kam, diesen Gefühlen freien Lauf zu lassen. • NICHT: Um Himmels willen! Welche Art Mensch geht denn so mit seinen/ihren Kindern um? (vgl. oben, Empathieversäumnis) ◄
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Vorwurfsinventar (auch als accusation audit bekannt) Ein Vorwurfsinventar nutzt die durch einen Perspektivwechsel gewonnene Wahrnehmung der Beurteilung des eigenen, negativen Handelns aus Sicht des anderen und kommuniziert diese entsprechend (Voss und Raz 2016). Die deeskalierende Wirkung entfaltet sich zum einen aus der Nichtkomplementarität (vgl. oben) sowie zum anderen aus der effektiven Mitteilung des eigenen Interesses, die andere Person in ihrer Position zu verstehen. Beispiel
• Bürger*in: Ich war es doch, der die Polizei gerufen hat, und jetzt werde ich selbst wie ein Krimineller behandelt! • Polizist*in: Ich verstehe, dass Ihnen aufgrund unseres Verhaltens nichts anders übrig bleibt als zu denken, dass Sie die rücksichtslosesten Kollegen geschickt bekommen haben. Darüber hinaus waren wir nicht imstande, Ihren Mieter aus der Wohnung zu entfernen, was Ihnen bestimmt Anlass gibt sich zu wundern, wofür Sie überhaupt Steuern zahlen. Leider können wir das Haus erst verlassen, wenn wir Ihre Personalien festgestellt haben. • NICHT: Mieter haben ihre Rechte und Vermieter wie Sie sollten sich mit diesen besser vertraut machen. Ich benötige Ihren Personalausweis. (vgl. oben, implicit bias, ggf. Verfügbarkeitsheuristik und Bestätigungsfehler) ◄ Aktives Zuhören (auch als active listening (skills) bekannt) Aktives Zuhören gründet auf einem Interaktionsverständnis der vollen Hingabe zum Perspektivwechsel. Aktives Zuhören, im Gegensatz zu passivem Zuhören, engagiert den/ die Anwender*in selbst und hält ihn/sie auf die andere Person konzentriert. Zur gleichen Zeit vermittelt es dieser das authentische Interesse an deren Perspektive seitens des/der Zuhörer*in (Rogers und Farson 1957). Unter polizeilichen Verhandler*innen hat sich auf internationaler Ebene das Acronym der MOREPIES (zu Deutsch „mehr Kuchen“) als Zusammenfassung der gängigen Techniken des aktiven Zuhörens etabliert (Zaiser und Staller 2015): Beispiel
(M) Minimal encouragers, zu Deutsch bestätigende, kurze Äußerungen: • Mhm, aha, oh, oh je, wow usw. (O) Open-ended questions, zu Deutsch offene Fragen: • Bürger*in: Ja. Ich habe lange genug gelitten. Heute werde ich den Schlussstrich ziehen. • Polizist*in: Was ist denn passiert, das dich zu dieser Entscheidung bewogen hat? • NICHT:Denkst du nicht, dass deine Frau dich vermissen wird? (vgl. oben, Pro jektionstrugschluss) (R) Reflection, zu Deutsch Reflexion/Spiegeln, steht für das Wiederholen der zuletzt geäußerten Worte der anderen Person, um ein Folgen der Konversation zu versichern:
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• Bürger*in: … also frage ich mich, weshalb die Polizei nicht imstande ist, den Rauschgiftkonsum im Park zu unterbinden. Es traut sich niemand mehr spazieren zu gehen. • Polizist*in: … niemand traut sich mehr, spazieren zu gehen. • Bürger*in: Wie denn auch – man bekommt ja schon am Tag Angst, so schlimm ist es … • NICHT: Weil wir unterbesetzt sind und keine Zeit dafür haben. (vgl. oben, Empa thieversäumnis) (E) Emotion Labeling, zu Deutsch das Benennen von Emotionen, ist der Schlüsselansatz zur effektiven Deeskalation, da das Verbalisieren der von der anderen Person erfahrenen Emotionen ihre Gefühlswelt validiert und dadurch die korrespondierende Intensität reduziert (Torre und Lieberman 2018): • Bürger*in: Verpisst euch ihr Bullenschweine! Sonst werdet ihr es bereuen, das verspreche ich euch! • Polizist*in: Ich höre da ungeheuerlich viel Wut heraus. Ich kann mir vorstellen, dass Sie die Nase voll haben von uns. Wir wollen nur mit Ihrer Tochter reden und verschwinden dann wieder. • NICHT: Wir gehen nicht, ohne mit Ihrer Tochter gesprochen zu haben (stellen Sie sich doch nicht so an)! (vgl. oben, Handlungsneigung, in einer derart konfrontativen Situation ist auch Unaufmerksamkeitsblindheit/-taubheit denkbar) (P) Paraphrasing, zu Deutsch Paraphrasieren, steht für das Wiedergeben gehörter Inhalte mit eigenen Worten: • Bürger*in: Wenn ich Ihnen meine Personalien gebe, dann wissen die doch, dass ich es war, die die Polizei gerufen hat. Das möchte ich nicht. • Polizist*in: Ich verstehe, Sie möchten anonym bleiben, weil Sie besorgt sind um Ihre Sicherheit. Unter welchen Umständen wären Sie den bereit, mir zu sagen, wer Sie sind? • NICHT: Sie sind als Zeuge aber gesetzlich verpflichtet, sich uns gegenüber auszuweisen. (vgl. oben, Empathieverlust, Handlungstendenz) (I) I-messages, zu Deutsch Ich-Botschaften, ordnen Äußerungen über Wahrnehmungen zum Verhalten anderer der eigenen Person zu und erheben damit nicht den Anspruch der Allgemeingültigkeit. Dadurch ist das Bedrohungspotenzial für das Selbstbild der anderen Person geringer: • Bürger*in: Ich sehe überhaupt kein Problem, Sie würden an meiner Stelle auch so reagieren. • Polizist*in: Das möchte ich doch gar nicht bestreiten. Alles, was ich sage, ist, dass es in meinen Augen hilfreich für Sie sein könnte, wenn Sie sich mit einem Arzt bezüglich Ihrer Situation unterhalten. • NICHT: Sie haben ein Problem und müssen ärztlich untersucht werden. (vgl. oben, implicit bias, Handlungstendenz)
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(E) Effective Pauses, zu Deutsch effektive Pausen, sind der Einsatz bewusst gesetzter Momente der Stille, insbesondere vor und nach bedeutungsvollen Aussagen. Sie bringen das Antizipieren bzw. Reflektieren dieser durch den/die Zuhörer*in und damit dessen/deren authentisches Interesse zum Ausdruck. (S) Summary, zu Deutsch Zusammenfassung, erlaubt durch Resümieren von Emotionen und Gesprächsinhalten, Verständnis zu signalisieren und Missverständnissen vorzubeugen : • Polizist*in: Okay, Sie sagen also, dass Sie, ohne zu wissen, wer alles hier ist, lediglich Ihre beiden Freunde besuchen wollten und sich jetzt selbst nicht erklären können, wie Sie in der Mitte des Streits nunmehr festsitzen. ◄ Fazit Der Polizeiberuf ist strukturell anfällig für Konflikte. Kommunikation ist dabei das Medium, über das Konflikte entstehen, sich verschärfen, aber auch deeskaliert werden können. In diesem Beitrag haben wir dafür plädiert, Kommunikation als das zentrale Medium der Polizei-Bürger*innen-Interaktion und als Grundlage polizeilicher Beziehungsarbeit zu verstehen. Deren konstruktive und konfliktminimierende Gestaltung kann von Polizeivollzugsbeamt*innen nicht gleichsam naturwüchsig erwartet und vorausgesetzt werden, sondern bedarf eines Grundbestands an Hintergrundwissen. Diesen haben wir auf drei Ebenen behandelt: Um Kommunikationsfähigkeit und deeskalative Handlungskompetenz als Schlüsselkompetenzen zu entwickeln, ist es 1) sinnvoll, die generierenden Mechanismen von Konflikten in und durch Kommunikation zu verstehen, 2) eigene Wahrnehmungs- und Handlungsroutinen und die diesen zugrunde liegenden Einstellungen vor allem auf Verzerrungstendenzen hin zu überprüfen sowie 3) sich mit konkreten Techniken und Prinzipien für ein professionelles Zuhören und Kommunizieren im Einsatz zu befassen und diese zu üben. Der Beitrag liefert dazu erste Orientierungen. Handlungssicherheit und das dadurch bedingte Vertrauen in die eigene Kommunikationskompetenz können nur durch Training und Erfahrung erlangt werden (Ericsson et al. 1993). Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die Praxis
Zuhören und Kommunizieren sind die zentralen Schlüsselkompetenzen, die den Berufsalltag von Polizeivollzugsbeamt*innen bestimmen. Die Fähigkeit zur professionellen Konflikt-Kommunikation ist dabei weder einfach vorauszusetzen noch durch die Behandlung von deklarativen Wissensbeständen über Konflikte und Kommunikation innerhalb der Aus- und Fortbildung sichergestellt. Konflikt-Kommunikation muss mittels repräsentativer Aufgaben geübt, auf zugrunde liegende Mechanismen hin reflektiert und in den komplexen Handlungs- und Entscheidungsfluss von Einsatzkräften integriert werden. a) Entscheider*innen Um die Entwicklung kommunikativ-deeskalierender Kompetenzen von Polizeivollzugsbeamt*innen zu fördern, ist der bisherige Stellenwert von Konflikt-Kommunikation innerhalb der Aus- und Fortbildung zu überprüfen und ggf. durch einen qualitati-
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ven und quantitativen Ausbau des Angebots zu stärken. Ebenso zu überprüfen und ggf. neu zu gestalten ist die Vernetzung bestehender Kommunikationsmodule mit anderen Modulen der Ausbildung, vor allem mit dem Einsatztraining, in dem die gesamte Klaviatur polizeilicher Einsatzkompetenz – mit Kommunikation im Zentrum – wie in einem Brennglas – zusammenlaufen sollte. Gerade hinsichtlich potenzieller Verzerrungstendenzen tun Polizeiorganisationen zudem gut daran, die Tiefenstrukturen ihrer eigenen Kultur auf potenziell problematische, konfliktverschärfende Menschenund Weltbilder zu überprüfen. Reflexivität ist auch hier das Mittel zur methodischen Kontrolle eigener blinder Flecken. b) Einsatzkräfte Kommunikation ist das Tagesgeschäft von Polizeivollzugsbeamt*innen. Entsprechend profitieren Einsatzkräfte nicht nur von professionalisierter Kommunikation wie der Anwendung konkreter Techniken, bspw. des aktiven Zuhörens. Sie profitieren insbesondere auch von der durch Aus- und Fortbildung sowie durch kollegiale Supervision angeleiteten Reflexion kommunikationsleitender Werte und Annahmen. Die Fähigkeit zur Deeskalation mindert belastende Konflikterfahrungen im Einsatz und reduziert damit auch das Risiko potenziell gewaltförmiger Eskalation. c) Einsatztrainer*innen Angesichts der Schlüsselstellung, die Kommunikation im Einsatz von Polizeivollzugsbeamt*innen hat, sind Einsatztrainer*innen aufgefordert, den Stellenwert deeskalativer Kommunikationskompetenzen im Curriculum und in der Praxis des Trainings zu überprüfen: Bestehende Anteile (wie viel?), Inhalte (auf welchen Wissensgrundlagen?) und Zuordnungen zu Inhaltsbereichen des Einsatztrainings (Taktik, Schießen etc.) sind zu validieren und ggf. neu auszurichten. Dies setzt die Bereitschaft von Einsatztrainer*innen voraus, sich vertieft mit theoretischen Grundlagen, praktischen Tools und trainingspädagogischen Möglichkeiten der Vermittlung auseinanderzusetzen. Vor dem Hintergrund des interdisziplinär breit gefächerten Fundaments Erfolg versprechender Faktoren sind sie angehalten, kommunikationsintegrierte Einsatztrainings dezidiert und nicht nur mitlaufend zu gestalten und dafür entsprechende Aus- und Fortbildungsangebote bereitzustellen. ◄
Literatur Adedoyin, A. C., Moore, S. E., Robinson, M. A., Clayton, D. M., Boamah, D. A., & Harmon, D. K. (2019). The dehumanization of black males by police: Teaching social justice – black life really does matter! Journal of Teaching in Social Work, 39(2), 111–131.
Kommunikation in der Anwendung
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Polizeiliche Kommunikationsfähigkeit und deeskalative Handlungskompetenz – Grundlagen und Potenzial des Einsatztrainings Benjamin Zaiser, Mario Staller und Swen Koerner
Inhaltsverzeichnis 1 E inleitung 280 2 Das Bestimmungspotenzial der polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalativen Handlungskompetenz 282 3 Status quo 284 3.1 Wissenschaftliche Evidenzlage 284 4 Defizite in der Einsatztrainingsgestaltung 286 4.1 Diskrepanz zwischen Einsatzpraxis und Einsatztraining 286 4.2 Diskrepanz zwischen Einsatztraining und Evidenz 288 Literatur 292
Reviewer*innen: Clemens Lorei, Hubert Vitt
B. Zaiser (*) Tactial Decision Making Research Group, University of Liverpool, Liverpool, UK E-Mail: [email protected] M. Staller Fachbereich Polizei, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Koerner Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research, Deutsche Sporthochschule, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_15
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B. Zaiser et al.
Zusammenfassung
Nur mit dem Vertrauen der Öffentlichkeit ist es der Polizei als Institution möglich, Straftaten erfolgreich vorzubeugen und aufzuklären. Das Vertrauen in die Polizei wird dabei maßgeblich von der öffentlichen Wahrnehmung beeinflusst, die durch die Kommunikation zwischen Polizist*innen und Bürgern gestaltet wird. Der vor diesem Hintergrund sinnvolle Trainingsaufwand von Kommunikation und deeskalierender Handlungskompetenz steht jedoch in stark benachteiligtem Verhältnis zu der Anwendung unmittelbaren Zwanges. Diese Anwendung unmittelbaren Zwanges folgt oft bereits vorausgegangener Kommunikation, die durch Polizist*innen, den/die Bürger*in oder durch die Wechselwirkung der von beiden ausgehenden Kommunikation eskaliert. In diesem an Praktiker*innen, insbesondere jedoch an Entscheidungsträger*innen, gerichteten Beitrag erarbeiten wir das Bestimmungspotenzial der polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalierenden Handlungskompetenz für den Verlauf des Bürger*innenkontaktes. Wir zeigen, dass deeskalierende Kommunikation eine Schlüsselkompetenz aller Polizeivollzugsbeamt*innen ist, die dem Einsatz anderer Mittel, insbesondere der Anwendung von Zwang, übergeordnet ist und das polizeiliche Handeln als Gesamtes trägt. Im weiteren Verlauf erarbeiten wir die wissenschaftliche Evidenz dieses Bestimmungspotenzials und begründen die Relevanz für das polizeiliche Einsatztraining und Konfliktmanagement im Einsatzfall. In der darauffolgenden Bestandsaufnahme zum Kommunikationsverständnis und dem davon hergeleiteten Trainingsaufwand der polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalativen Handlungskompetenz zeigen wir, wie der institutionelle Status quo den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht gerecht wird. Am Ende des Beitrags formulieren wir Empfehlungen, wie die festgestellten Mängel angesprochen und behoben werden können. Das Ziel ist es dabei sicherzustellen, evidenzbasierte Inhalte und Kompetenzen zu vermitteln, die es Polizeivollzugsbeamt*innen ermöglichen, über diverse und komplexe Kontexte hinweg den Bürger*innenkontakt stets deeskalativ zu gestalten, auch wenn die Anwendung von Zwang ein Bestandteil davon ist.
1
Einleitung
Nur mit dem Vertrauen der Öffentlichkeit ist es der Polizei als Institution möglich, Straftaten effektiv vorzubeugen, aufzuklären und dadurch ein größtmögliches Maß an Sicherheit für die Gesellschaft zu gewährleisten (Tyler 2002; Giles 2002, 2007, 2009). Das Vertrauen in die Polizei wird dabei maßgeblich von der öffentlichen Wahrnehmung beeinflusst, die durch die Kommunikation zwischen Polizist*innen und Bürger*innen gestaltet wird (Barker et al. 2008; Tyler 2002). Entsprechend gelingt es der Polizei mit größerer Vertrauensbasis, in der Öffentlichkeit einfacher Ordnung und Sicherheit sicherzustellen. Im
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mkehrschluss ruht aber auch die Sicherheit der Dienst verrichtenden PolizeivollzugsbeU amt*innen auf der Grundlage einer kommunikationsgestalteten Wahrnehmung der Polizei durch die Öffentlichkeit im Allgemeinen sowie durch adressierte Bürger*innen im konkreten Einsatzfall (Barker et al. 2008; Giles 2002, 2007, 2009; Zaiser und Staller 2015). Im weiteren Verlauf erarbeiten wir die wissenschaftliche Evidenz dieses Bestimmungspotenzials der polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalativen Handlungskompetenz. Auf dieser Basis begründen wir die Relevanz für das polizeiliche Einsatztraining und Konfliktmanagement im Einsatzfall. In der darauffolgenden Bestandsaufnahme zum Kommunikationsverständnis und dem davon hergeleiteten Trainingsaufwand der polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalativen Handlungskompetenz in der Polizei zeigen wir, wie der institutionelle Status quo den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht gerecht wird. Die Gegenüberstellung gliedert sich in drei übergeordnete Gegenstandsbereiche, in denen wir Defizite identifiziert haben: wissenschaftliche Evidenzlage, Einsatzgestaltung und Einsatztraining. Am Ende des Beitrags formulieren wir im Ergebnis Empfehlungen, wie die festgestellten Mängel angesprochen und behoben werden können. Das dadurch angestrebte Ziel eines evidenzbasierteren polizeilichen Konfliktmanagements durch Kommunikation und deeskalative Handlungskompetenz soll dabei sicherstellen, dass evidenzbasierte Inhalte und Kompetenzen vermittelt werden, die es Polizeivollzugsbeamt*innen ermöglichen, über diverse und komplexe Kontexte hinweg den Bürger*innenkontakt stets deeskalativ zu gestalten, auch wenn die Anwendung von Zwang ein Bestandteil davon ist. Ausgangs dieser Einleitung möchten wir klarstellen, dass es sich bei dieser Abhandlung um einen Ausgangspunkt handelt, der lediglich eine Bestandsaufnahme zu der Zeit ihrer Erstellung darstellt. Unser Ziel ist es, neben einer kritischen Reflexion des aktuell vorherrschenden Kommunikationsverständnisses und der entsprechenden Implikationen auf das Einsatztraining und -Geschehen eine Struktur zur Implementierung künftig neu gewonnener Wissensbestände für einen bestmöglichen Transfer über Training in den Echtfall bereitzustellen. Dieser Beitrag definiert die Relevanz deeskalierender Kommunikation für die Polizei auf Grundlage wissenschaftlicher Evidenz neu und zeigt korrespondierende Defizite in Forschung, Training und im Transfer von Training in den Einsatzfall auf. Die Vermittlung der entsprechenden Fertigkeiten begreifen wir als integrierten und fortgesetzten Kompetenzerwerb über die gesamte Laufbahn vom Grundstudium bis zum Ruhestand. Konkrete Trainingsinhalte und Anwendungen für Polizeivollzugsbeamt*innen werden im entsprechenden Kapitel vorgestellt.
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2
B. Zaiser et al.
as Bestimmungspotenzial der polizeilichen D Kommunikationsfähigkeit und deeskalativen Handlungskompetenz
Kommunikation beschränkt sich nicht nur auf den verbal übermittelten Informationsaustausch. Sie umfasst vielmehr ein breites Spektrum an Möglichkeiten, Nachrichten auch ohne die Verwendung von Worten auszutauschen (Watzlawick et al. 2017). Watzlawik et al. (2017) stellten fest, dass wir nicht „nicht kommunizieren“ können. Dies begründet die Tatsache, dass Kommunikation eine übergeordnete Sozialhandlung darstellt, ohne die kein zwischenmenschlicher Kontakt auskommt (Luhmann 1976, 1977; Ungeheuer 1974). Entsprechend kann es keine Begegnung zwischen Polizist*innen und Bürger*innen geben, die nicht von Kommunikation gestaltet oder mitgestaltet wird. So kommunizieren Polizeivollzugsbeamt*innen und Bürger*innen mit Beginn der jeweiligen Wahrnehmung der gegenseitigen Anwesenheit, bis der/die Interaktionspartner*in nicht nur aus den Augen, sondern auch aus dem Sinn ist (so können seitens der Polizei gewählte Worte und Taten auch nach der Zusammenkunft in der Erinnerung der adressierten Bürger*innen nachwirken und den nächsten Kontakt mit der Polizei vorbestimmen). Selbst während der Anwendung von Zwang, welcher selbst als Kommunikation begriffen wird, findet regelmäßig verbale Kommunikation statt, was auch regelmäßig Teil des Einsatztrainings ist. Dieser zeitlich nun erfasste Gestaltungsspielraum zwischenmenschlicher Kommunikation bestimmt den Verlauf des Bürger*innenkontaktes über dessen gesamte Dauer hinweg. Je nach Zusammenspiel der Verhaltensweisen von Polizeivollzugsbeamt*innen und Bürger*innen bedingt die Kommunikation eine Eskalation oder Deeskalation der Zusammenkunft, wirkt sich entsprechend konfliktfördernd oder konflikthemmend auf diese aus (Pruitt et al. 2003; Watzlawick et al. 2017; Schulz von Thun 1981). Die oft durch maßnahmenbedingte Auseinandersetzungen geprägten Interaktionen zwischen Polizei und Öffentlichkeit tragen stets das Potenzial zwischenmenschlichen Konflikts in sich (Cojean et al. 2020; Klukkert et al. 2009; Terrill 2003). Das staatliche Gewaltmonopol kann sich dabei entweder abschreckend deeskalierend oder, ähnlich einer Spirale, eskalierend auswirken (Eckert und Willems 2003; Mitchell 2014; Oliva et al. 2010). So leitet sich die Relevanz polizeilicher Kommunikationsfähigkeit und deeskalativer Handlungskompetenz auch als Prädiktor einer erfolgreichen Eigensicherung (Richmond et al. 2012; Zaiser und Staller 2015) aus diesen Überlegungen ab. In der logischen Konsequenz begründet sich schließlich ebenso ihre Relevanz für das originäre Ziel der Polizei: der Schutz persönlicher Rechtsgüter und, allen voran, die körperliche Unversehrtheit aller Bürger*innen. Ob es letztendlich im Verlaufe eines Bürgerkontaktes zu einer Eskalation oder zu einer Deeskalation kommt, hängt vom komplexen Zusammenspiel einer Vielzahl von den Interaktionspartner*innen inhärenten Faktoren sowie von unabhängigen, externen Einflussgrößen ab. Diese hat unter anderem das Gewaltreduzierende bzw. Professionelle Einsatzmodell zum Gegenstand, das im entsprechenden Beitrag dieses Bandes von Staller und Kollegen vorgestellt wird. Die Interaktion all dieser Faktoren erfolgt nur selten linear, wie ein vorhersehbares Wenn-Dann-Verhältnis. Alle bekannten und unbekannten, bewussten
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und unbewussten Einflussgrößen entfalten ihre Wirkung auf den Bürger*innenkontakt in einem sich gegenseitig bedingenden und ständig neu ausrichtenden Zusammenspiel. Dieses Zusammenspiel entwickelt sich tendenziell zwar oft pfadabhängig in eine bestimmte Richtung, bspw. Eskalation (Watzlawick et al.1969; Schulz von Thun 1981). Wegen des unüberschaubaren Wirkens zahlreicher, miteinander ständig in sich ändernder Beziehung stehenden Einflussgrößen entziehen sich soziale Interaktionen, insbesondere Konflikte, die den polizeilichen Alltag bestimmen, in ihrem Ausmaß und potenziellen Kristallisationszeitpunkten von Eskalation oder Deeskalation jeder Vorhersehbarkeit. Die Tatsache, dass sich die kommunikativen, den Bürger*innenkontakt bestimmenden Gestaltungsgrößen ständig neu ausrichten, erlaubt Polizeivollzugsbeamt*innen jedoch stets, den Reset- Knopf zu drücken, die zuvor erwähnte Pfadabhängigkeit zu verlassen und eine eskalative Auseinandersetzung entsprechend zu deeskalieren (Oliva et al. 2010; Tracey et al. 1981). Dies ist nicht nur vor der Anwendung unmittelbaren Zwanges relevant, sondern insbesondere auch während und nach der Zwangsanwendung, was letztlich wiederum die Wahrnehmung der Polizei auf individueller, aber auch gesellschaftlicher Ebene bestimmt. So haben Mobilfunkendgeräte und soziale Netzwerke polizeiliches Verhalten um ein Vielfaches transparenter gemacht. Das Beispiel der kommunikativ deeskalierend begleitenden Anwendung unmittelbaren Zwangs führt dabei die Rolle der Vertrauensbasis in der Öffentlichkeit vor Augen und leitet auf dieses grundlegende, erfolgsbedingende Prinzip Sir Robert Peels zurück. Nur mit dem Vertrauen der Öffentlichkeit ist es der Polizei als Institution möglich, Straftaten effektiv vorzubeugen, aufzuklären und dadurch ein größtmögliches Maß an Sicherheit für die Gesellschaft zu gewährleisten (Barker et al. 2008; Emsley 2014; Tyler 2002; Giles 2002, 2007, 2009). Wie oben ausgeführt, endet Kommunikation nicht mit der zwanghaften Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols. Im Ergebnis schließen wir, dass polizeiliche Kommunikationsfähigkeit und deeskalative Handlungskompetenz kein Einsatzmittel im konventionellen Sinne sind. Vielmehr handelt es sich um eine übergeordnete Schlüsselkompetenz, auf der das gesamte polizeiliche Handeln basiert. Dieser Tatsache wird im polizeilichen Einsatzgeschehen und Einsatztraining oft nicht Rechnung getragen. Insbesondere nach massenmedial verbreitetem polizeilichen Fehlverhalten (Neptunbrunnen, Berlin/Deutschland, Michael Brown, Missouri/Vereinigte Staaten, 2015; George Floyd, Minnesota/Vereinigte Staaten, 2020, i. a.) haben deeskalative Handlungskompetenz und psychische erste Hilfe mehr Aufmerksamkeit in den Curricula weltweiter Polizeiausbildungen erfahren. Den Trainingsschwerpunkt scheinen kommunikative Fertigkeiten immer noch lediglich in speziellen Ausbildungsmodulen wie Vernehmungsgestaltung, Opferbetreuung oder polizeiliche Verhandlungsführung zu bestimmen (Hermanutz et al. 2005; Homfeldt 2020; Korneffel 2020; Lieder 2020; Office of Community Oriented Policing Services 2015; Rotthoff 2020; Staller und Körner 2019; Vieting 2020). Im Ergebnis fordern wir die Annahme eines entsprechend weitreichenderen Kommunikationsverständnisses unter Polizeivollzugsbeamt*innen und Entscheidungsträger*innen sowie den entsprechenden Gestaltungswillen in Forschung, Einsatztraining und Einsatzgestaltung.
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B. Zaiser et al.
3
Status quo
3.1
Wissenschaftliche Evidenzlage
Vorhandenes Wissen Polizeiliche Kommunikationsfähigkeit und deeskalative Handlungskompetenz sind seit Beginn der modernen Polizei weltweit akzeptierte Mittel der Einsatzbewältigung (Emsley 2014). Sie spiegeln sich als bevorzugte Herangehensweise an polizeiliche Sachverhalte in den vom Begründer der modernen Polizei, Sir Robert Peel, formulierten Prinzipien wider: Um Straftaten vorzubeugen und, gegebenenfalls, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen, ist die Anwendung unmittelbaren Zwangs nur zulässig, wenn Überzeugungsarbeit, Ratschläge und Warnungen die notwendige Kooperation nicht erreichen: „To use physical force only when the exercise of persuasion, advice and warning is found to be insufficient to obtain public co-operation to an extent necessary to secure observance of law or to restore order (Emsley 2014, S. 13/14). Dabei werden durchweg Kommunikation (vgl. oben: „persuasion, advice and warning“) und unmittelbarer Zwang („physical force“) als die der Polizei zur Verfügung stehenden Wege der Zielerreichung skizziert. Empirisch validiert sind diese Einsichten durch Studien zur öffentlichkeitsfreundlichen Polizei, dem Community Policing, und prozeduraler Gerechtigkeit, Procedural Justice, welche das öffentliche Vertrauen und die Legitimation der Polizei in der erfolgreichen Anwendung dieser Grundsätze begründet sehen: Nehmen Bürger*innen Polizeiverhalten respektierend und fair wahr, sind sie geneigter, zu kooperieren sowie der Polizei mehr Legitimität zuzuschreiben (Barker et al. 2008; Gau et al. 2012; Giles 2002, 2007, 2009; Kochel et al. 2013; Reisig et al. 2007; Reisig und Lloyd 2009; Tyler 2002). Jüngere, ebenfalls normativ-ethisch begründete Untersuchungen zeigen, wie das Bekennen zu einem grundsätzlich beschützerischen Rollenverständnis, dem sogenannten Guardian Mindset“ gegenüber einer konfliktgenehmigenden, autoritären Grundhaltung, dem entsprechend gegenteiligen Warrior Mindset die Kommunikation mit Bürger*innen im Konfliktfall gegenüber der Zwangsanwendung fördert und das Risiko polizeilichen Fehlverhaltens reduziert (McLean et al. 2020). Eine auf fünf Jahre angesetzte Längsschnittstudie läuft seit 2015 in den Vereinigten Staaten und lässt auf weitere empirische Validierung warten (Rahr und Rice 2015). Darüber hinaus haben sich ersten Untersuchungen zufolge wertkorrespondierende soziale Interaktionstrainings bewährt, Potenzial körperlicher Konfliktsituationen im Verlauf von Bürger*innenkontakten zu reduzieren (Wolfe et al. 2020). Neben der Kodifizierung in den grundrechtsschützenden Legislationen und den gewohnheitsrechtlich etablierten Normen der Verhältnismäßigkeit hat sich die Deeskalationsausrichtung der Polizei im deutschen Sprachraum unter anderem durch Bernt und Kuhleber (1991) Deeskalatives Einsatzmodell (DEM; Leitfaden371; Massenbach-Bardt 2008; Mangold 2011) manifestiert. Formuliert auf Grundlage verfügbarer Wissensbestände aus „Praxis und Forschung“, hoben die Autoren jedoch hervor, dass das das Modell einen „auf Zeit begrenzten Anspruch auf Allgemeingültigkeit für die Bewältigung
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p olizeilicher Einsatzlagen“ hat, welcher sich in neuen Erkenntnissen der Forschung, neuen Erfahrungen aus der Alltagspraxis sowie in Ergebnissen aus Erfolgs- und Wirksamkeitskontrollen niederschlägt (Bernt und Kuhleber 1991, S. 224). Die Tatsache, dass das DEM 1991 formuliert wurde, während die deeskalationsorientierte Literatur eine Vielzahl an empirischer Bestätigung (siehe oben, die Studien zu Community Policing und Procedural Justice) später Einzug in die Literatur gehalten hat, ist die Notwendigkeit einer ständigen Neuausrichtung unseres Verständnisses polizeilicher Kommunikationsfähigkeit und deeskalierender Handlungskompetenz ein logischer Schluss. Entsprechend stellen Staller et al. im Beitrag ihr neu formuliertes, Gewaltreduzierendes Einsatzmodell bzw. Professionelles Einsatzmodell vor, das den aktuellen Erkenntnisstand der Wissenschaft widerspiegelt. Hermanutz et al. (2005) stellten in einer Beobachtungsstudie zur Kommunikationsgestaltung von Verkehrskontrollen einen Zusammenhang zwischen von Bürger*innen empfundener Bedrohlichkeit der kontrollierenden Polizeibeamt*innen und deren verbaler Kommunikation fest. Darüber hinaus führten die Autoren aus, wie die Höflichkeit der kontrollierenden Polizeivollzugsbeamt*innen negativ mit dem äußeren Erscheinungsbild der kontrollierten Bürger*innen korrelierte. Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass sich polizeiliche Kommunikationsfähigkeit in bestimmtem Ausmaß dem Einsatztraining entzieht und durch andere Faktoren bestimmt wird. Insbesondere Polizeikultur und -Subkultur, aber auch das unterbewusste Vorurteilen (implicit bias) stehen regelmäßig wirksamen Trainingsansätzen im Weg und bedürfen entsprechender Interventionen, die sich dem Geltungsbereich dieses Beitrags jedoch entziehen. Wissenslücken Diesen der Relevanz der polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalativen Handlungskompetenz zuträglichen empirischen Erkenntnissen stehen jedoch mehrere Einschränkungen gegenüber, die wir gerne in der Literatur angesprochen und in der Empirie erforscht sehen würden. Maßgebliches Entwicklungspotenzial, Bürgerkontakte gewaltlos und deeskalativ zu gestalten, wurde empirisch bereits festgestellt (Hermanutz et al. 2005; Todak und James 2018). Wie im Beitrag über den Umfang des polizeilichen Einsatztrainings in diesem Band ausgeführt, ist der Mangel eines gemeinsamen Vokabulars zwischen einzelnen Polizeidienststellen und -verbänden, national und international, sowie zwischen Polizei, Wissenschaft und Medien (und damit der Öffentlichkeit) eine Einflussgröße, die den aktuellen, wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zur polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalativen Handlungskompetenz begrenzt. Wie oben in den Ausführungen zum Bestimmungspotenzial von Kommunikation innerhalb polizeilicher Tätigkeit dargestellt, haben Polizeivollzugsbeamt*innen unterschiedliche Erfahrungen, Zugänge und damit unterschiedliche Verständnisse von Kommunikation und Deeskalation. Wie unten in den Defiziten in der Trainingsgestaltung aufgeführt, sozialisieren bspw. Aus- und Fortbildung die Verwendung von Kommunikation oft als bloßes Einsatzmittel, neben Reizstoffsprühgerät, Schlagstock und Schusswaffe. Während die Deeskalation seit Jahrzehnten als zentraler Begriff polizeilichen Handelns erwähnt wird, zeigt das Deeskalierende
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B. Zaiser et al.
Einsatzmodell z. B. auf, dass es sich oft um eine nicht mit konkreten Handlungsoptionen gelehrte und angewendete Hülse handelt, die in der Anwendung von Zwang nicht unberücksichtigt werden darf (Bernt und Kuhleber 2001; Staller et al. 2021). Ebenso bieten soziale Interaktionstrainings, Procedural Justice Trainings, ethische Diskussionen und Trainings zum Warrior – Guardian Mindset breiten Gestaltungsspielraum, der von einzelnen Forschungs- wie Trainingsunternehmen unterschiedlich ausgenutzt werden kann und dadurch konkrete Ableitungen für die Praxis erschwert. Darüber hinaus ist die Evidenzlage zur Wirksamkeit korrespondierender Trainings sehr begrenzt. Vor diesem Hintergrund führten Engel et al. (2020) jüngst eine Analyse von 64 wissenschaftlichen Evaluierungen von Deeskalationstrainings durch, die in verschiedenen Berufsfeldern, in der Mehrzahl in der Krankenpflege und in der Psychiatrie, über die letzten 40 Jahre durchgeführt wurden. Im Ergebnis schließen die Autoren auf eine äußerst begrenzte Aussagekraft der empirischen Untersuchungen infolge fragwürdiger Qualität des Forschungsdesigns fast aller untersuchten Studien. In dieser Hinsicht, sowie vor dem Hintergrund des oben aufgeführten Bestimmungspotenzials, schließen wir uns dem Aufruf von Engel et al. (2020) an, das empirische Validieren der hier aufgeführten Ansätze unter Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen und Stipendiengeber*innen zu priorisieren.
4
Defizite in der Einsatztrainingsgestaltung
4.1
Diskrepanz zwischen Einsatzpraxis und Einsatztraining
Bevor wir konkrete Defizite hinsichtlich der polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalativen Handlungskompetenz im Einsatztraining selbst besprechen, möchten wir darauf hinweisen, dass das durchgeführte Einsatztraining nur begrenzt wirksam ist, wenn das Potenzial des Transfers in den Einsatz nicht voll ausgeschöpft wird. Verglichen mit anderen Tätigkeitsfeldern unterscheidet sich die Lernumgebung im polizeilichen Einsatztraining von der tatsächlichen Einsatzumgebung beträchtlich (Jensen 2014; Körner und Staller 2018). Weiterführende Forschungsbestrebungen in mehreren Disziplinen sollten maßgeblich dazu beitragen, diese Lücke zu schließen, und den erfolgreichen Transfer kommunikationsrelevanter Trainingsinhalte besser gewährleisten. Allen voran steht hier die Erkenntnis von Körner und Staller (2020a, b), dass die Realität sämtlicher Bürger*innenkontakte der Polizei, insbesondere im Rahmen von Einsätzen, empirisch unzureichend fundiert ist. Als logische Konsequenz vermitteln Einsatztrainer*innen Anforderungen und Kompetenzen auf Grundlage eines Realitätsbildes, das durch ihren individuellen sowie einen kollektiven, polizeilichen Erfahrungsbestand geprägt ist. Dieser Grundlage sind jedoch durch wahrnehmungs- sowie motivations- und persönlichkeitspsychologische Mechanismen Grenzen gesetzt, was, wie im aktuellen Zeitgeschehen regelmäßig bezeugt werden kann, fatale Folgen haben kann. Heil et al. besprechen in diesem Zusammenhang die Konzeption der Realität von Konfliktsituationen im Einsatztraining im entsprechenden Beitrag dieses Bandes, was auch für die polizeiliche
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Kommunikationsfähigkeit und deeskalierende Handlungskompetenz volle Gültigkeit hat. Eng verbunden mit der Etablierung eines mit allen Beteiligten des Bürger*innenkontaktes geprägten Realitätsbildes ist die empirische Fundierung der Trainingsinhalte, wie sie oben im wissenschaftlichen Literaturüberblick anhand der Wirksamkeit verschiedener Deeskalationstrainings sowie im anwendungsorientierten Beitrag zur polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalativen Handlungskompetenz besprochen ist. Didaktische und pädagogische Überlegungen sind ebenfalls geeignet, die Lücke zwischen erfolgreicher Einsatzgestaltung und dem kommunikationsbezogenen Einsatztraining zu verkleinern. Die Vermittlung polizeilicher Kommunikationsfähigkeit und deeskalativer Handlungskompetenz steht anderen Herausforderungen gegenüber, die den Transfer von der Trainings- in die Einsatzumgebung erschweren. Zum Beispiel können Polizeivollzugsbeamt*innen den Schusswaffengebrauch mit scharfer Munition nicht im realitätsbasierten Rollenspiel mit anderen Teilnehmern trainieren (Staller und Zaiser 2015). Besondere Gesprächstechniken zur Deeskalation lassen sich zwar untereinander oder mit Schauspieler*innen in einer realitätsgetreueren Umgebung üben, jedoch gestaltet es sich für das Einsatztraining schwierig, die Komplexität entsprechender Kommunikationsverläufe zu erfassen. Einflussfaktoren, die das Wann und Wie des unmittelbaren Zwanges mit der Dienstwaffe bestimmen, stehen ebenfalls in einem komplexen Zusammenspiel zueinander. Sie sind jedoch gesetzlich auf eine begrenztere Anzahl von Szenarien eingeschränkt als die deeskalierende Kommunikation, die nicht nur vorrangig situativ, sondern auch über individuelle Unterschiede adressierter Bürger*innen hinweg (bspw. Sprache, Kultur, Sozialisierung, Motivation, physiologische und psychologische Faktoren usw.) geprägt ist. Schließlich schränken kognitive Verzerrungen und logische Fehlschlüsse den Zugriff auf im Einsatztraining erworbene Fertigkeiten ein. Für die polizeiliche Kommunikationsfähigkeit und deeskalierende Handlungskompetenz sind insbesondere Ablenkungen durch Streifenpartner*innen, Dritte, Funk und andere Umgebungsreize relevant, die angesichts des oft im Einsatzfall erfahrenen Stresses zu Tunnelblick (in der Literatur als Unaufmerksamkeitsblindheit bzw. Cognitive und Social Tunneling bekannt; Dirkin 1983; Dodge 1986) bzw. Unaufmerksamkeitstaubheit (in der Literatur als Auditory Exclusion bekannt) führen (Fenici et al. 2011). Die in der Folge oft übersehenen oder überhörten Wahrnehmungen bestimmen das weitere Einsatzgeschehen auf dem Kontinuum zwischen erschwerter Deeskalation und gescheiterter Eigensicherung mit fatalen Folgen (bspw. durch das Übersehen einer Waffe). Ebenso können kognitive Verzerrungen und logische Fehlschlüsse durch die Verfügbarkeitsheuristik (Tversky und Kahneman 1974) bei Polizeivollzugsbeamt*innen oft zu extremer Wachsamkeit bzw. Hypervigilanz führen (Gilmartin 2002), die, ebenso wie unterbewusste Vorurteile (in der Literatur als Implicit Bias bekannt; Greenwald und Banaji 1995), die Wahrnehmung gefährdungsrelevanter bzw. aggressiver Reize seitens der Bürger*innen verstärken oder gar vortäuschen. Diese und viele weitere Einschränkungen auf kognitiver und exekutiv-funktioneller Ebene (für eine weitergreifende Zusammenstellung siehe Feltes und Dahlen 2017) schränken den Abruf deeskalativer Kommunikationsoptionen im Einsatzfall maßgeblich ein.
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4.2
B. Zaiser et al.
Diskrepanz zwischen Einsatztraining und Evidenz
Missverhältnis von Trainingsinhalten (Kommunikation – Zwang) Ein Versäumnis des polizeilichen Einsatztrainings findet sich auf globaler Ebene im Missverhältnis zwischen dem Trainingsaufwand der Anwendung unmittelbaren Zwangs und der – vorwiegend in der Grundausbildung – körperlichen Fitness gegenüber der reinen Kommunikationsfähigkeit und der deeskalierenden Handlungskompetenz. So investieren Polizeibehörden regelmäßig ein Vieles mehr an Zeit und Aufwand in das Training unmittelbaren Zwanges als in Fertigkeiten in der deeskalierenden Gesprächsführung (siehe Abb. 1; Homfeldt 2020; Korneffel 2020; Lieder 2020; Office of Community Oriented Policing Services 2015; Rotthoff 2020; Staller et al. 2019; Staller und Körner 2020; Vieting 2020). Dies steht einer Realität der Dienstverrichtung gegenüber, in der Bürger*innenkontakte regelmäßig kooperativ oder zumindest ohne Widerstandshandlungen gegenüber der Polizei ablaufen (Office of Community Oriented Services 2015). Darüber hinaus reflektiert dieses Missverhältnis die Ausrichtung des polizeilichen Einsatztrainings auf Reaktives, betrachtet man die Anwendung unmittelbaren Zwanges als Antwort auf eine durch die Polizei erfahrene Eskalation (Rubin et al. 1994; Office of Community Oriented Einsatz Kommunikation
PVB*in
Zwang
Einsatztraining Zwang
PVB*in
Kommunikation
Abb. 1 Das Missverhältnis der Trainingsinhalte
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Services 2015). Demgegenüber steht das oben erarbeitete Bestimmungspotenzial der polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalativen Handlungskompetenz, welche idealerweise die Prävention einer Eskalation gewährleistet und damit wesentlich weniger mit Risiken für alle Beteiligten behaftet ist (Barker et al. 2008; Gau et al. 2012; Giles 2002, 2007, 2009; Kochel et al. 2013; Reisig et al. 2007; Reisig und Lloyd 2009; Tyler 2002). Die potenziell fatalen Folgen dieses Trainingsmissverhältnisses sind in zahlreichen Bürgerkontakten dokumentiert, in denen sich die Kommunikation von Polizeibeamt*innen in der Konfrontation mit einer mit Messer o. Ä. bewaffneten Person auf sich ständig wiederholende, identische Aufforderungen – „Messer weg!“ – beschränkt. Die Literatur zu Kompetenz und Expertise ist schlüssig, dass Fertigkeiten, insbesondere in stressvollen Situationen, ohne bedachtsames Üben (in der Literatur als Deliberate Practice bekannt) nicht möglich sind (Ericsson et al. 1993; Campitelli und Gobet 2011). Dies beinhaltet ein Repertoire an deeskalierenden Gesprächsansätzen, die über „Messer weg!“ hinausgehen müssen. Inhaltliche Ausgestaltung Wie für die Evidenzlage (siehe oben) spielt der Mangel an Begriffsbestimmungen zum Thema polizeiliche Kommunikationsfähigkeit und deeskalative Handlungskompetenz auch für die konkrete Ausgestaltung des entsprechenden Einsatztrainings eine wichtige Rolle. Die in den Curricula mittlerweile etablierten Kommunikations- oder Deeskalationstrainings tragen dabei politischen Rufen nach einer deeskalativeren und bürgerorientierten Ausrichtung der Polizei befriedigend Rechnung. Jedoch stellen diese sich oft als Worthülsen heraus, die Einsatztrainer*innen mit wenig Struktur und ohne Evidenzbasis füllen (Homfeldt 2020; Korneffel 2020; Lieder 2020; Rotthoff 2020; Staller et al. 2019; Todak und March 2021; Vieting 2020). Entsprechend stehen Erkenntnisse zu konkreten Gesprächsansätzen, die sich unter der übergeordneten Begrifflichkeit der Deeskalation und der Kommunikation zusammenfassen lassen, oft noch aus. Noch weniger sicher sind Erkenntnisse darüber, welche funktionierenden Ansätzen am effektivsten vermittelbar sind und inwieweit diese auf Lernbarkeit, Einstellung, Persönlichkeit oder anderen Prädispositionen beruhen. Während persönliche Einstellungen mittels Training bzw. Bildung noch beeinflusst werden können, verschiebt sie der auf Persönlichkeit stützende Erfolg des Einsatztrainings auf eine gelungene Personalselektion, was sich dem Umfang des vorliegenden Beitrags und Bandes entzieht. Verständnis der deeskalierenden Kommunikation als Schlüsselkompetenz Schließlich ist das Training der polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalativen Handlungskompetenz durch das bereits oben erwähnte Begreifen einsatzbegleitender Kommunikation als konventionelles Einsatzmittel beträchtlich eingeschränkt. Kommunikation mit adressierten Bürger*innen beginnt mit dem Eintreffen am Einsatzort und endet erst nach dem Verlassen der Polizei. Entsprechend ist die Kommunikation den klassischen Führungs- und Einsatzmitteln, die einen Großteil der Trainingsinhalte ausmachen, übergeordnet. Zusätzlich zu der ebenfalls bereits besprochenen Problematik der inhaltlichen
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Ausgestaltung steht die effektive Vermittlung deeskalativer Kommunikationsfertigkeit der Herausforderung dieses Werkzeugdenkens gegenüber. Zum einen wird dieses fehlgeleitete Kommunikationsverständnis der Komplexität des Zusammenspiels aller das Einsatzgeschehen bestimmenden Einflussgrößen (siehe oben) nicht gerecht. Zum anderen vermittelt das Begreifen der Kommunikation als Einsatzmittel eine nicht realitätsgetreue Übervereinfachung, die oft in Form linearer Wenn-Dann-Beziehungen gelehrt wird, ähnlich der Unterrichtung der Anwendung unmittelbaren Zwanges: So, wie in diesem Paradigma eine Aggressionshandlung mit einem Messer eine angemessene Variation der Sicherungshaltung fordert, hat die begleitende Kommunikation autoritär zu erfolgen. Folgen adressierte Bürger*innen den ebenfalls aggressiven Aufforderungen der Polizei im weiteren Verlauf nicht, ist die nächste Stufe der Eskalationstreppe erreicht. Die Wahrscheinlichkeit eines Schusswaffengebrauchs ist damit deutlich gestiegen. So, wie der Gebrauch der Dienstwaffe die Kampfunfähigkeit eines/einer Angreifer*in bedingt, wird deeskalative Kommunikation mit einer Reduzierung der emotionalen Aufgebrachtheit adressierter Bürger*innen assoziiert. Bleibt die von der Kommunikation erwartete Wirkung im Einsatzfall aus, ist wieder die nächste Stufe der Eskalationstreppe erreicht. Polizeivollzugsbeamt*innen haben einen Versuch der kommunikativen Deeskalation unternommen und waren nach Ausbleiben der erwünschten Wirkung gezwungen, physische Gewalt anzuwenden. Hinzu kommt, dass unmittelbarer Zwang mehrerer Polizeivollzugsbeamt*innen das Einsatzziel oft schneller und mit für alle Beteiligten größerer Bestimmtheit erreicht. Das oben beschriebene Missverhältnis des polizeilichen Einsatztrainings zwischen Zwangsanwendung und Kommunikation kann vor dem Hintergrund dieser Überlegungen für eine von den Polizeibeamt*innen wahrgenommene größere Ungewissheit in der erfolgreichen Durchsetzung polizeilicher Maßnahmen mittels deeskalierender Kommunikation sorgen. Im Ergebnis bleibt eine oft rein instrumentelle Anwendung von Deeskalationstools, die ohne darunterliegende Grundeinstellung der Polizeivollzugsbeamt*innen und genügend Training bereits vor Beginn ihres Einsatzes zum Scheitern verurteilt ist (Radburn et al. 2020; Zaiser und Staller 2015). Entsprechend können wir durch mehr Training alleine das Potenzial einer erfolgreichen Vermittlung polizeilicher Kommunikationsfähigkeit und deeskalierender Handlungskompetenz nicht ausschöpfen. Polizeivollzugsbeamt*innen muss ein neues Kommunikationsverständnis mitsamt darunterliegender Grundeinstellung vermittelt werden, und zwar auf Grundlage einer evidenzbasierten und einheitlichen Struktur, die unter Berücksichtigung des vollen Bestimmungspotenzials der polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalierenden Handlungskompetenz diese, integriert mit anderen einsatzrelevanten Inhalten, vermittelt. Fazit In diesem Kapitel haben wir mehrere Ansätze vorgestellt, das Potenzial des Trainings polizeilicher Kommunikationsfähigkeit und deeskalierender Handlungskompetenz basierend auf jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnissen besser auszuschöpfen, als es bisher unserer Wahrnehmung zufolge der Fall war. Wir haben das Bestimmungspotenzial
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f estgestellt und ausgearbeitet, in welchen Bereichen das Einsatztraining diesem nicht gerecht wird. Im Rückblick haben wir zwei übergreifende Themen festgestellt. Erstens, in Anbetracht dieses absoluten Bestimmungspotenzials polizeilicher Kommunikationsfähigkeit und deeskalierenden Handlungskompetenz, wird Kommunikation oft missverstanden: Kommunikation ist kein konventionelles Einsatzmittel, das mit anderen zur Verfügung stehenden Optionen konkurriert und in manchen Situationen genutzt wird und in anderen Situationen anderen Einsatzmitteln weicht. Polizeiliche Kommunikationsfähigkeit und deeskalierende Handlungskompetenz sind Schlüsselkompetenzen, die dem Einsatz anderer Mittel, insbesondere der Anwendung von Zwang, übergeordnet sind und das polizeiliche Handeln als Gesamtes tragen. Im Ergebnis fordern wir eine kritische Reflexion der eigenen Einstellung von Polizeivollzugsbeamt*innen, die eine entsprechende Gesprächsführung nicht nur als Mittel zur Erreichung des kurzfristigen polizeilichen Einsatzziels versteht, sondern vielmehr auf den Grundwerten der modernen Polizei beruht: dem nachhaltigen Vertrauensaufbau mit der Öffentlichkeit. Zweitens haben wir einen Mangel an Übereinkunft bzw. Feststellung inhaltlicher Ausgestaltungen von Begrifflichkeiten, korrespondierenden Forschungsunternehmungen und nicht zuletzt dem Einsatztraining festgestellt. Wie sich die inhaltliche Ausgestaltung zur bestmöglichen Erreichung eines adäquateren Kommunikationsverständnisses und damit volle deeskalative Handlungskompetenz evidenzbasiert durchführen lässt, besprechen wir im anwendungsbezogenen Beitrag zur polizeilichen Kommunikationsfähigkeit und deeskalativen Handlungskompetenz. Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die Praxis
Das Begreifen polizeilicher Kommunikationsfähigkeit und deeskalierender Handlungskompetenz als übergeordnete Schlüsselkompetenz erachten wir als einen wichtigen Schritt zu einer weiteren Professionalisierung des polizeilichen Einsatztrainings. a) Entscheider*innen Kommunikation ist mehr als eine Einsatzmittel. Als Schlüsselkompetenz übersteigt es den als Einsatzmittel zugeordneten Rahmen in verschiedenen Trainingssettings des Einsatztrainings. Entsprechend sollte in den Curricula sowie in der konkreten Ausgestaltung des Einsatztrainings sichergestellt werden, dass Kommunikationsfähigkeit und deeskalative Handlungskompetenz in sämtliche Bereiche des Einsatztrainings strahlt und dort Anwendung findet. b) Einsatzkräfte Einsatzkräfte kommunizieren im Einsatz immer; ob bewusst oder unbewusst. Kommunikation geht dabei über die verbale Sendung von Mitteilungen hinaus. Es
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ist kein konventionelles Einsatzmittel, das mit anderen zur Verfügung stehenden Optionen konkurriert und in manchen Situationen genutzt wird und in anderen Situationen anderen Einsatzmitteln weicht. Ein Bewusstsein hierfür und eine kontinuierliche Weiterentwicklung dieser übergeordneten Schlüsselkompetenz erscheinen essenziell für ein professionelles Einsatz- und Konfliktmanagement. c) Einsatztrainer*innen Einsatztrainings trainieren immer Kommunikationsfähigkeit, da Mittel der Interaktionsgestaltung stets als Kommunikation zu verstehen sind. Einsatztrainer*innen müssen sich dieser Verantwortung bewusst sein und inhaltliche Fokussierungen auf bestimmte Themenbereiche (z. B. Zwang vs. Kooperation) in Abhängigkeit der Tätigkeitsschwerpunkt der Lerner*innen reflektierten.
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Kontakt-Kompetenz im polizeilichen Dienstalltag Heidi Mescher und Sandra Winheller
Inhaltsverzeichnis 1 E inleitung 298 1.1 Kontakt-Kompetenz – Eine wissenschaftstheoretische Verortung 299 1.2 Der Ansatz der Kontakt-Kompetenz als Grundlage handlungssicherer Gelassenheit 301 2 Auf dem Weg zur handlungssicheren Gelassenheit – Transfer und Empfehlungen für die polizeiliche Aus- und Fortbildungspraxis 304 Literatur 310
Zusammenfassung
Um in polizeilichen Einsätzen mit einer handlungssicheren Gelassenheit agieren zu können, ist es notwendig, dass sich Polizeibeamt*innen auf verschiedenen Ebenen der Handlungskompetenz einschätzen und reflektieren können. Unter Berücksichtigung des in diesem Beitrag vorgestellten Ansatzes der Kontakt-Kompetenz soll erörtert werden, wie es gelingen kann, Kompetenzen zu fördern und somit Potenziale von Polizeibeamt*innen auszubilden und zu stärken. Ausgehend von einer erziehungswissenschaftlich-psychologischen Perspektive werden zunächst relevante Begrifflichkeiten Reviewer*innen: Thomas Meuser, Detlev Oertel H. Mescher (*) HSPV NRW, Abteilung Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Winheller Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_16
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und Konzepte wissenschaftlich verortet und mit Blick auf den Begriff der Kontakt-Kompetenz vorgestellt. Dieser wird im Anschluss als ein tragfähiger Ansatz zur Förderung von Handlungssicherheit für den Aus- und Fortbildungskontext von Polizeibeamt*innen dargestellt und konzeptionell auf das Trainings-Transfer-Modell (Baldwin und Ford 1988) übertragen. Hieran schließen sich Hinweise zum Transfer und Empfehlungen für die polizeiliche Aus- und Fortbildungspraxis an. In diesem Sinne handelt es sich bei den folgenden Ausführungen um eine handlungspraktische Erörterung bereits existierender theoretischer Inhalte, die in der Darstellung und Konzeption eines neuen Modells der Kontakt-Kompetenz münden, welches abschließend, mit Blick auf seine Anwendbarkeit in der polizeilichen (Ausbildungs-)Praxis, kritisch diskutiert wird.
1
Einleitung
In all seinen Sparten und Facetten ist der Polizeiberuf in hohem Maße interaktiv und umfasst ein breites Spektrum an Handlungskontexten mit zwischenmenschlichen Kontakten, wie beispielsweise die Aufnahme von Wohnungseinbrüchen, der Einsatz bei Ruhestörungen oder häuslicher Gewalt, Verkehrskontrollen, kriminalpolizeiliche Vernehmungen oder die Gesprächsführung in Verhandlungssituationen. Die polizeilichen Ziele sind dabei oftmals Deeskalation, das Leisten emotionalen Beistandes oder Informationsgewinnung. Nicht immer ist das polizeiliche Gegenüber an den gleichen Zielen interessiert bzw. nicht immer decken sich polizeiliche und nicht-polizeiliche Sichtweisen. Oftmals versuchen die Interaktionsakteur*innen, die jeweils andere Seite von ihrer Perspektive zu überzeugen. Mit Blick auf die Praxis endet dies nicht selten in konflikthaften, unter Umständen gewalttätigen Auseinandersetzungen oder aber, im Rahmen von Vernehmungen, in einem „Ringen um die Wahrheit“. Hierbei ist das öffentliche Interesse an den Arbeits- und Verhaltensweisen polizeilicher Akteur*innen ungebrochen und oftmals Gegenstand medialer Berichterstattungen, deren thematischer Schwerpunkt sich allerdings in den letzten Jahren verändert hat. Während in den 1990er-Jahren Studien zum Thema Gewalt gegen Polizeibeamt*innen initiiert und durchgeführt wurden (Ellrich et al. 2010, 2012; Falk 2000), deren Fokus beispielsweise auf der Aufdeckung von situativen und personalen Risikokon stellationen und -faktoren in Polizei-Bürger*innen-Kontakten lag, steht aktuell das Thema Gewalt durch Polizeibeamt*innen im Zentrum emotional und kontrovers geführter öffentlicher Diskussionen (vgl. Rassismusdebatte, Ellrich und Baier 2015). Menschenrechtsverletztendes und unverhältnismäßiges polizeiliches Agieren in den USA und Europa erhitzen auch hierzulande die Gemüter. Wesentlicher Bestandteil des professionellen Selbstverständnisses von Polizeibeamt*innen muss das Bestreben sein, ein die Würde des Menschen berücksichtigendes, straf- und disziplinarrechtlich einwandfreies Verhalten zu zeigen. Die Herausforderung für junge wie auch erfahrene Kolleg*innen besteht darin, immer wieder, unter den kritischen
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Augen der Öffentlichkeit, in emotional und kognitiv stressvollen, dynamischen Interaktionen mit Konfliktpotenzial, eine handlungssichere Gelassenheit an den Tag zu legen, die im Idealfall deeskalierend wirkt und das Potenzial hat, das Bild der Polizei in der Öffentlichkeit sowie die Haltungen gegenüber der Institution positiv zu prägen. Anhand des Ansatzes der Kontakt-Kompetenz wird dargestellt, auf welchen (Handlungs-)Ebenen Menschen Fähigkeiten und Wissen erwerben müssen, um in zwischenmenschlichen Interaktionen mit dem Gegenüber gut in Kontakt zu treten, tragfähige Arbeitsbeziehungen zu gestalten bzw. professionellen Respekt herzustellen. Dass konflikthafte Dynamiken, die nicht deeskalativ gelöst werden können, ebenfalls Teil der polizeilichen Interaktionsrealität sind, bleibt hierbei unbenommen. Ziel ist es, einmal mehr auf die Bedeutung einer ganzheitlichen Sicht- und Herangehensweise in der Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten/Fertigkeiten und Selbstreflexionskompetenzen in der Aus- und Fortbildung von Polizeibeamt*innen hinzuweisen. Alle Einsatztrainer*innen und Dozierenden leisten hier durch ihre Motivation und Begeisterung für die Themen, die methodisch-didaktische Vermittlung und die Weitergabe ihrer eigenen dienstlichen und persönlichen Erfahrungen einen wesentlichen Beitrag. Als Rollenvorbilder sind sie entscheidende Akteur*innen, die junge wie auch diensterfahrene Kolleg*innen dabei unterstützen können, die im polizeilichen Dienstalltag (überlebens-)wichtige professionelle Handlungssicherheit zu entwickeln, die zu Gelassenheit im Inneren und Äußeren führt. Der Ansatz bzw. die Begrifflichkeit der Kontakt-Kompetenz soll hierbei als eigenständiges Konstrukt dargestellt werden. Auf der Grundlage der empirisch und theoretisch etablierten Kompetenzaspekte (vgl. White 1959; Roth 1971; Erpenbeck und Heyse 2007) hebt das Modell die immense Bedeutung der Notwendigkeit einer in allen Kernkompetenzbereichen ausgeprägten Befähigung von Polizeibeamt*innen sowie deren Erlangung in der beschriebenen Form explizit hervor.
1.1
Kontakt-Kompetenz – Eine wissenschaftstheoretische Verortung
Um die Kernelemente von Kontakt-Kompetenz zu beschreiben, werden die vor allem in den Erziehungswissenschaften und der Psychologie thematisierten und anerkannten Kernbereiche von Handlungskompetenz herangezogen (vgl. White 1959; Roth 1971; Erpenbeck und Heyse 2007). Der Fokus der noch folgenden Diskussion wird, wie bereits einleitend angemerkt, auf der Hervorhebung der Notwendigkeit einer in allen Bereichen ausgeprägten Befähigung von Polizeibeamt*innen liegen. Die in der Literatur beschriebenen vier Bereiche von Handlungskompetenz beziehen sich auf die Persönlichkeits-, Sozial-, Methoden- und Fachkompetenz (Erpenbeck und Heyse 2007). Die Annahme ist, dass Polizeibeamt*innen, die um ihren Kompetenzstand hinsichtlich jeder der vier Bereiche wissen, somit ihre Optimierungsbedarfe kennen und nach Kompetenzerweiterung streben, nach und nach eine handlungssichere Gelassenheit entwickeln können, die die
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Wahrscheinlichkeit erhöht, Polizei-Bürger*innen-Kontakte konstruktiv bzw. deeskalierend zu gestalten. Mit Blick auf den Kompetenzbegriff oder die Frage, was (handlungs-)kompetentes Verhalten ausmacht, wird schnell deutlich, dass die Literatur kein einheitliches Verständnis präsentiert (Weinert 2001). Im psychologischen Bereich ist es David Clarence McClelland (1973), der als Ergebnis seiner Studie „Testing for Competence rather than for Intelligence“ den Kompetenzbegriff prägt. McClelland sprach sich erstmals dafür aus, dass die klassische Testung von Eignung, Wissen und Intelligenz nicht ausreicht, um ein erfolgreiches Handeln im Beruf vorherzusagen. Seiner Meinung nach sind es tätigkeitsspezifische und verhaltensbezogene Analysen der im Beruf geforderten Kompetenzen, die Aufschluss über eine erfolgreiche Aufgabenbewältigung in der Zukunft geben (McClelland 1973). „Wer wissen wolle, was einen guten Polizisten auszeichne, müsse sich in dessen Tätigkeitsfeld hineinbegeben und sich mit dessen konkreten Tätigkeiten und Herausforderungen auseinandersetzen, anstatt Polizeibewerber anhand von Zahlenreihen und Sprachanalogien auszuwählen“ (McClelland 1973, zitiert nach Grote et al. 2006, S. 16). Hilfreich für die folgenden Ausführungen zur Kontakt-Kompetenz ist zudem das Verständnis, dass es sich bei Kompetenzen um geistige oder physische Selbstorganisations dispositionen handelt, die Fähigkeiten umfassen, „selbstorganisiert und kreativ zu handeln und mit unscharfen oder fehlenden Zielvorstellungen und Unbestimmtheiten umzugehen“ (Erpenbeck et al. 2017, S. XII). Franz E. Weinert (2001) empfiehlt, den Kompetenzbegriff dann zu verwenden, wenn: (1) es um die Bewältigung komplexer Anforderungen geht, bei denen kognitive, motivationale, ethische, willensmäßige und soziale Komponenten notwendig sind, (2) der Komplexitätsgrad der Anforderungen hoch genug ist, um selbstorganisiertes Handeln zu erfordern und (3) Lernprozess eine Voraussetzung zur Bewältigung sind. In der Motivationspsychologie ist es Robert W. White (1959), der den Kompetenzbegriff einführt und damit die Entwicklung grundlegender Handlungsfähigkeiten beschreibt, die weder genetisch angeboren sind noch auf Reifungsprozessen beruhen, sondern vom Menschen selbstorganisiert hervorgebracht werden. Wenn Kompetenzen angewendet werden, sich also im Verhalten der selbstmotivierten Interaktion mit der Umwelt zeigen, spricht White (1959) von Performanz. Kompetenzen können somit durch Lernprozesse erworben werden und eröffnen die Möglichkeit, besonders zwischenmenschliche Interaktionen – sowohl unter vertrauten als auch neuen Rahmenbedingungen (Weinberg 1996) – effektiv und erfolgreich zu gestalten. In der aktuellen Kompetenzforschung etablierten sich in Erweiterung der drei von Heinrich Roth (1971) vorgestellten Kompetenzebenen der Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz die Dimensionen der Personalen-, der Fach-, der Methoden- und der Sozialkompetenz (vgl. Roth 1971; Erpenbeck und Heyse 2007). Die benannten Kompetenzdimensionen finden sich auch in dem durch die Europäische Union festgelegten Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR) für lebenslanges Lernen, einem Instrument zur Einordnung der Qualifikationen des deutschen Bildungssystems. Das Rahmenmodell soll zum einen die Orientierung im deutschen Bildungssystem erleichtern und zum anderen zur Ver-
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gleichbarkeit deutscher Qualifikationen in Europa beitragen (Büchter et al. 2012). Kompetenz „bezeichnet im DQR die Fähigkeit und Bereitschaft des Einzelnen, Kenntnisse und Fertigkeiten sowie persönliche, soziale und methodische Fähigkeiten zu nutzen und sich durchdacht sowie individuell und sozial verantwortlich zu verhalten. Kompetenz wird in diesem Sinne als umfassende Handlungskompetenz verstanden“ (AK DQR 2010, S. 16). Wichtig ist anzumerken, dass die Begriffe Kompetenz und Handlungsfähigkeit oftmals synonym verwendet werden (Erpenbeck et al. 2017). Beschreibungen von Kompetenzdimensionen finden sich ebenfalls mit Blick auf die operativ polizeilichen Betätigungsfelder. Orientierung für eine Auslegung bietet hierbei der Leitfaden 371 mit Ausführungen zur Eigensicherung im Polizeidienst (2002). Hans P. Schmalzl (2008) identifiziert und benennt beispielsweise vier Dimensionen einsatzkompetenten Handelns zur Bewältigung kritischer Einsatzsituationen. Bei den Dimensionen handelt es sich um: (1) Selbstkontrolle/Selbststeuerung, (2) Situationskontrolle, (3) Aufgabenorientierung und (4) Teamorientierung. Positive Ausprägungen in diesen Kompetenzdimensionen beeinflussen die Handlungssicherheit und Eigensicherung positiv. Wie bereits einleitend skizziert, basiert der Ansatz der Kontakt-Kompetenz auf den vier Kernbereichen von Handlungskompetenz. Kontakt-Kompetenz beschreibt im Sinne der Autorinnen die Fähigkeit, Polizei-Bürger*innen-Kontakte so zu gestalten, dass sich Akteur*innen im Interaktionsmoment auf einer „tragfähigen Arbeits-Beziehungs-Ebene“ begegnen. Kontakt-Kompetenz ist dabei die Voraussetzung für ein handlungssicheres, ge lassenes Auftreten. Die Argumentationslogik zur Implementierung des Modells der Kontakt-Kompetenz folgt der Annahme, dass das Wissen um sowie die realistische Einschätzung der eigenen Kompetenzen dazu beitragen, eine handlungssichere Gelassenheit zu entwickeln. Handlungssichere Gelassenheit zeigt sich bei den Personen, die ehrlich und unerschrocken den Stand des eigenen Kompetenzniveaus erkennen, mit Defiziten lösungsorientiert umzugehen wissen und sich mit einem positiven Menschenbild auf die verschiedensten Interaktionsmomente im polizeilichen Dienstalltag einstellen können. Die Möglichkeiten, die eigene Kontakt-Kompetenz zu erweitern und eine handlungssichere Gelassenheit zu gewinnen, werden nachfolgend diskutiert.
1.2
er Ansatz der Kontakt-Kompetenz als Grundlage D handlungssicherer Gelassenheit
Nachdem im vorangegangenen Kapitel der Kompetenzbegriff allgemein und in den ihn definierenden Kernbereichen erörtert wurde, soll nun der Frage nachgegangen werden, was Polizeibeamt*innen in Einsatzlagen kontakt-kompetent macht und welches Rüstzeug vorhanden sein muss, um auch in Interaktionen mit Konfliktpotenzial professionell und mit der nötigen handlungssicheren Gelassenheit zu agieren. Dem Ansatz der Kontakt- Kompetenz entsprechend setzt dies ein ganzheitliches Verständnis mit Blick auf das Zusammenspiel und Wirken der Kernbereiche von Handlungskompetenz (vgl. Roth 1971;
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Abb. 1 Dimensionen der Kontakt-Kompetenz. (Quelle: Eigene Darstellung)
Erpenbeck und Heyse 2007) voraus. Es gilt, auf personaler, sozialer, Fach- und Wissens ebene Fähigkeiten und die eigene Person reflektierendes Wissen zu erwerben bzw. zu erweitern, um in zwischenmenschlichen Interaktionen mit dem Gegenüber in Kontakt zu treten, tragfähige Arbeitsbeziehungen zu gestalten bzw. professionellen Respekt herzustellen (vgl. Abb. 1). Kontakt-kompetente Menschen können in Einsatzlagen auf der Grundlage ihres Rechtswissens und ihres Wissens im Bereich der Einsatzlehre und beispielsweise der Psychologie (Fachkompetenz) über die vorzunehmenden Maßnahmen rechtssicher entscheiden. Die Maßnahmen können den Bürger*innen sozial- und kommunikationskompetent vermittelt (Sozialkompetenz) werden. Auf mögliche Provokationen, im Wissen um eigene Triggerpunkte und das eigene Wertesystem (Personale Kompetenz) sowie im Vertrauen auf die Beherrschung von Eigensicherungstechniken (Methodenkompetenz), kann gelassen und aus diesem Grund (im Idealfall) deeskalierend reagiert werden. Kontakt-Kompetenz als entscheidende Voraussetzung für Handlungssicherheit und Gelassenheit im Polizei-Bürger*innen-Kontakt kann in (Einsatz-)Trainings, im Rahmen von Aus- und Fortbildung, eingeübt werden. Grundlegend ist hierbei die Reflexion der eigenen Kompetenzen, wie sie nachfolgend dargestellt wird (vgl. Tab. 1). Die Bewusstheit und Kenntnis bzgl. des Kompetenzstandes der eigenen Fähigkeiten, Verhaltens- und Rollenmuster genauso wie das Wissen um Defizite und Schwächen tragen zu einer realistischen Selbsteinschätzung bei. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion, das Wissen darum, wer man ist,
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Tab. 1 Übersicht Kompetenzdimensionen und Möglichkeiten der Kompetenzerweiterung Personale Ebene → Personale Kompetenz
Soziale Ebene → Sozialkompetenz
Handlungs- und Methodenebene → Methodenkompetenz
Wissensebene → Fachkompetenz
Quelle: Eigene Darstellung
Polizeibeamt*innen wissen um ... • eigene individuelle Bedürfnisse • eigene(n) Antreiber • eigene(n) Triggerpunkt(e)/„Wutpunkt(e)“/ Schwachstelle(n) • eigenes Wertesystem • eigene Wirkung auf andere (Erscheinung, nonverbale Aspekte) Kompetenzerweiterung durch … • Selbstreflexion • kritisches/konstruktives Feedback zur eigenen Person und persönlich/beruflichen Haltung Polizeibeamt*innen wissen um … • eigene Kommunikationsformen • eigene Interaktionsformen • eigenes Einfühlungs- und Zuhörvermögen • eigene Kommunikationsfertigkeit • eigene Einstellung zu Diversität (z. B. Geschlecht, Ethnie, Religion, Alter) Kompetenzerweiterung durch … • Selbstreflexion • kritisches/konstruktives Feedback zu eigenen Umgangs- und Kommunikationsformen (die oftmals die eigene Haltung reflektieren) Polizeibeamt*innen wissen um … • eigene Fertigkeit im Umgang mit Führungs- und Einsatzmitteln (FEM) • eigene Fertigkeit im Umgang mit Techniken der Eigensicherung (SV) Kompetenzerweiterung durch … • Training • kritisches/konstruktives Feedback zur eigenen Handlungs- und Entscheidungssicherheit Polizeibeamt*innen wissen um … • eigene Wissensstände bzgl. rechtstheoretischer Inhalte • eigene Wissensstände bzgl. der Inhalte von Einsatzund Verkehrslehre • eigene Wissensstände bzgl. psychologischer Inhalte • eigene Wissensstände bzgl. interkultureller Inhalte Kompetenzerweiterung durch … • Lernen • kritisches/konstruktives Feedback zur eigenen Handlungs- und Entscheidungssicherheit
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was einen trifft, auf welche Stärken man sich verlassen kann und was einem im Kontakt mit dem Gegenüber wichtig ist (beispielsweise mit Blick auf Respekt und „Umgangsformen“), stärkt individuelle Deeskalationsmöglichkeiten in konflikthaften Situationen. Die folgende Tab. 1 skizziert in Bezugnahme auf die Kontakt-Kompetenz-Ebenen wesentliche Bereiche, in denen eine Wissenserweiterung für Polizeibeamt*innen von Bedeutung ist. Einschätzungs- und Reflexionsebenen am Beispiel von Eingriffsmaßnahmen
Wissensebene → Fachkompetenz Ich verfüge über eine angemessene Kontakt-Kompetenz, wenn ich als Polizeibeamt*in weiß, auf welcher rechtlichen Grundlage ich eine Maßnahme einleite und umsetze und mir zudem auch sicher bin, dass ich dies der Bürgerin, dem Bürger auf Nachfrage erklären kann. Personale und Soziale Ebene → Personale und Sozialkompetenz Ich verfüge über eine angemessene Kontakt-Kompetenz, wenn ich mich als Polizeibeamt*in im Vertrauen auf meine Interaktionskompetenzen (Soziale Ebene) und dem Wissen um meine Triggerpunkte und mein Wertesystem (Personale Ebene), bei Provokationen kontrolliert verhalten kann. Handlungs- und Methodenebene → Methodenkompetenz Ich verfüge über eine angemessene Kontakt-Kompetenz, wenn ich als Polizeibeamt*in im Falle einer körperlichen Auseinandersetzung sicher im Umgang mit Führungs- und Einsatzmitteln sowie SV-Techniken bin – mich also auch mit Blick auf die körperliche Wehrhaftigkeit kompetent fühle. ◄
2
uf dem Weg zur handlungssicheren Gelassenheit – Transfer A und Empfehlungen für die polizeiliche Ausund Fortbildungspraxis
Auf dem Weg zu einer handlungssicheren Gelassenheit müssen Polizeibeamt*innen durch Trainings und weitere Vermittlungsmethoden auf den polizeilichen Dienstalltag vorbereitet bzw. geschult werden. Wie bereits zu Beginn des Beitrags skizziert, beschreibt eine handlungssichere Gelassenheit, die mit Kontakt-Kompetenz einhergeht bzw. sich aus Kontakt-Kompetenz ergibt, die Fähigkeit, im Vertrauen auf die eigenen realistisch eingeschätzten Handlungskompetenzen und einen pragmatischen Optimismus, in Polizei- Bürger*innen-Kontakten zu agieren. Die Rückmeldungen der Einsatztrainer*innen/Dozent*innen spielen dabei eine wesentliche Rolle für die persönliche Entwicklung und weitere Kompetenzentfaltung der Beamt*innen. Das Ziel muss sein, persönlichkeits- und kompetenzstarke Kolleg*innen in die Praxis zu entlassen. Dies kann nur erreicht werden, wenn Einsatztrainer*innen und Dozent*innen durch ganzheitliche, möglichst objektive Einschätzungen der theoretisch und praktisch erbrachten Leistung der Lernenden diese
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begleiten. Im Idealfall basieren Rückmeldungen hierbei auf einer einheitlichen „Philosophie“ hinsichtlich zu vermittelnder Inhalte und dem methodisch-didaktischen Vorgehen sowie einem Verständnis bezüglich der eigenen (Rollen-)Vorbildfunktion, in die maßgeblich die Persönlichkeit und das Menschenbild der Einsatztrainer*innen einfließen. Ausgehend von dem Wissen um die Bedeutung der Berücksichtigung aller vier Kontakt- Kompetenz-Dimensionen in Feedbacks, stellt das „Modell der vier Dimensionen einsatzkompetenten Handelns“ nach Hans P. Schmalzl (2008) einen praxisrelevanten Anknüpfungspunkt dar. Mit Bezug auf die Bewältigung kritischer Einsatzsituationen werden, wie bereits oben beschrieben, Selbstkontrolle/Selbststeuerung, Situationskontrolle, Aufgabenorientierung und Teamorientierung als Aspekte benannt, die für eine Handlungssicherheit im Einsatz wichtig sind.1 Der Einbezug dieses vielschichtigen Modells in strukturierte Rückmeldeprozesse ermöglicht Einsatztrainer*innen und Dozent*innen, die Selbstreflexion der Lernenden hinsichtlich ihrer Persönlichkeit, des persönlichen Umfelds, ihrer Einstellungen, der innerpsychischen Prozesse sowie der tatsächlich erfolgten Handlung im Einsatz anzustoßen. Hierdurch können auf der individuellen Emotions- und Verhaltensebene Hindernisse und Spannungsverhältnisse sichtbar werden (z. B. was „triggert“, was „gut“ tut bzw. was „gebraucht“ wird). Um gelassener und handlungssicher im eigenen Denken und Verhalten zu werden, können diese Spannungselemente auf den vier Dimensionen des Modells zum einsatzkompetenten Handeln betrachtet werden. Mit Blick auf die eigene Person, können • • • • • •
Selbst- und Fremdvertrauen, Selbstwirksamkeit, individuelle Motive, Bedürfnisse, Selbstreflexionsfähigkeit und eigene Erwartungen
relevant sein, wenn es um die Identifikation von Hindernissen oder Spannungsfeldern geht. Wie weiter oben bereits ausgeführt, ist es elementar, dass die Grundlage der Rückmeldungen durch Trainer*innen und Dozent*innen vor dem Hintergrund eines gemeinsam geteilten Kanons erfolgt, der sich an • verbindlich festgelegten und vereinbarten wissenschafts- und praxisbezogenen Ansätzen und Theorien, • einer einheitlichen Auslegung von Ausbildungsbausteinen und -schritten sowie deren Verzahnung, • einer gemeinsamen Philosophie (HSPV + Einsatztraining, LAFP), • der geteilten Vorstellung eines professionellen Selbstverständnisses, Das entwickelte und empirisch überprüfte Modell bezieht sich in erster Linie auf den polizeilichen Streifendienst. 1
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• einem durch Führung vorgegebenen professionellen Berufs(selbst-)verständnis und • einem informellen Selbstverständnis2 orientiert. Dementsprechend scheinen auch die vier Dimensionen einsatzkompetenten Verhaltens nach Schmalzl (2008) eine geeignete Hintergrundfolie für Reflexions- und Feedbackprozesse zu bieten. Hinsichtlich der zurückzumeldenden Inhalte sollten zudem die von Gabi Reinmann und Heinz Mandl (2006) herausgestellten transferförderlichen Lernprinzipien Beachtung finden, die sich auf Selbststeuerung, kooperative Lernszenarien, Artikulation und Reflexion, Authentizität, Anschaulichkeit, multiple Kontexte/Perspektiven beziehen. Es gilt, diese Prinzipien in Trainings einzubauen, da die individuelle Transferleistung von der Umgebung und den Anwendungsbedingungen positiv beeinflusst wird bzw. der Lernerfolg dadurch erhöht wird (Hasselhorn und Gold 2009). Das Trainings-Transfer-Modell von Timothy T. Baldwin und J. Kevin Ford (1988) trägt diesen Erkenntnissen Rechnung und gilt als das grundlegende Modell in der prozess orientierten Trainingsforschung. Es fasst die Einflüsse auf den Transfer von Trainings aus 70 empirischen Studien zu einem Gesamtmodell zusammen und liefert so konkrete Hinweise für die Praxis. Nach Baldwin und Ford (1988) muss der Trainingsinhalt dabei nicht nur gelernt und behalten, sondern auch generalisiert und aufrechterhalten werden. „For transfer to have occurred, learned behaviour must be generalized to the jobcontext and maintained over a period of time on the job“ (Baldwin und Ford 1988, S. 63). Die ver-
Abb. 2 Kontakt-Kompetenz im Trainings-Transfer-Modell. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Baldwin und Ford (1988)) Ungünstige informelle Selbstverständnisse sollten sich nicht etablieren.
2
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schiedenen Einflüsse werden im Trainings-Transfer-Modell als drei Faktoren zusammengefasst: Teilnehmer*innenmerkmale, Maßnahmenmerkmale und Arbeitsumgebung. Hinsichtlich der Einübung der Kontakt-Kompetenz lässt sich das Trainings-Transfer-Modell in Anlehnung an Baldwin und Ford (1988) adaptieren und wie folgt theoretisch darstellen (vgl. Abb. 2). In Bezug auf die Kontakt-Kompetenz verdeutlicht das Modell (Abb. 2), dass alle drei Faktoren einen direkten Einfluss auf das Erlernen und (Bei-)Behalten der Kontakt- Kompetenz und somit auf eine handlungssichere Gelassenheit besitzen (1, 2, 3). Gleichzeitig haben die Teilnehmer*innenmerkmale und die Arbeitsumgebung auch einen direkten Einfluss auf die Generalisierung des Wissens und Aufrechterhaltung des Transfers hinsichtlich der zu erlernenden Kontakt-Kompetenz (4, 5). Das Trainingsdesign (im Original „Maßnahmenmerkmale“) hat dagegen nur indirekt, über das Erlernen und Behalten, einen Einfluss auf die Generalisierung und die Aufrechterhaltung der Kontakt-Kompetenz (6). Das Modell verdeutlicht überblicksartig, dass es eine Vielzahl unterschiedlichster Faktoren geben kann, die den Trainingstransfer beeinflussen.3 Unter Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen der Polizeibeamt*innen sollten Rückmeldungen und Reflexionsangebote zu allen Kompetenzdimensionen gegeben werden, die sich an (einheitlichen) curricularen Kompetenzstandards orientieren. Zudem sollten in den Trainings (bzw. Aus- und Fortbildungskontexten) immer wieder Best-Practice-Beispiele für Kontakt- Kompetenz in Lehreinheiten eingebunden werden, um Reflexionsmöglichkeiten anzubieten und um ein Bewusstsein für mögliche Handlungsoptionen zu vermitteln. In Aus- und Fortbildungstrainings unterstützen Rollenspiele die Polizeibeamt*innen hierbei (Schmalzl 2008; Hücker 2017; Pfannkuche und Lüdtke 2017). Durch eine hohe Realitätsnähe (Füllgrabe 2016), Wiederholungsmöglichkeiten (Haselow und Walkowiak 2012) und Raum für Fehler (Vester 1995) können Gelassenheit und Handlungssicherheit optimiert werden. Entscheidend ist hierbei ein einheitliches didaktisches Vorgehen. Bezüglich des Transfers in die polizeiliche Handlungspraxis bedarf es zudem einer kontinuierlichen Nutzung des vermittelten Wissens bzw. einer dauerhaft Anwendung findenden Umsetzung (Aufrechterhaltung). Baldwin und Ford (1988) definieren dies als „the degree to which trainees effectively apply the knowledge, skills, and attitudes gained in a training context to the job“ (S. 63). Neben der Trainingsgestaltung ist grundsätzlich die Arbeitsumgebung sowie eine systematische Arbeitsgestaltung (bzw. das Transfermanagement) als wichtige Stellschraube zu nennen (Seeg 2020). Im Anschluss an die Trainings, oder wie beispielsweise im Deeskalativen Einsatzmodell NRW in der Nachbereitungsphase vorgesehen (Bernt und Kuhleber 1991), können Auswertungsgespräche oder die Kolleg*innen- und Vorgesetzten-
In Bezug zur Trainingsforschung rückten in den letzten Jahren verstärkt motivationale und situative Aspekte, die Einfluss auf den Trainingsprozess nehmen, in das Zentrum von Untersuchungen. Hier erscheinen ein sich selbst verstärkender Kreislauf zur nachhaltigen Aufrechterhaltung der erlernten Fähigkeiten und dessen positive Konsequenzen sowie ihre Rückwirkung auf Trainingskompetenzen, Trainingsmotivation und Trainingsmöglichkeiten besonders förderlich (vgl. Seeg und Schütz 2020). 3
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unterstützung (Brahma und Chakraborty 2019; Lee et al. 2014) im Sinne eines „ensure transfer of training“ (Salas et al. 2012) ein begünstigendes Klima schaffen, in dem sich Kontakt-Kompetenz leichter entwickeln und im polizeilichen Dienstalltag festigen kann. Dies ist besonders wichtig in Bezug auf das Erlernen neuer Inhalte und das Behalten dieser. Fazit Der vorliegende Beitrag setzt sich aus einer erziehungswissenschaftlich-psychologischen Perspektive mit der Thematik der Kontakt-Kompetenz im polizeilichen Dienstalltag auseinander und erörtert Bedingungen, die dazu beitragen, diese Kompetenz – und in der Folge die Entwicklung einer handlungssicheren Gelassenheit – auszubilden bzw. zu fördern. Der Begriff Kontakt-Kompetenz bezieht sich auf entscheidende Kern- bzw. Handlungskompetenzen und verweist auf deren Wichtigkeit der Einschätzung und Reflexion. Kontakt- Kompetenz als Handlungskompetenz ist in polizeilichen Einsätzen unerlässlich. Der Beitrag thematisiert die Frage, wie sich handlungssichere Gelassenheit entwickeln kann bzw. wie Polizeibeamt*innen in ihren Potenzialen und Kompetenzen gefördert werden können. Hierzu wird erstmalig der Begriff der Kontakt-Kompetenz zum Trainings-Transfer-Modell von Baldwin und Ford (1988) in Bezug gesetzt. Die Stärken des vorliegenden Ansatzes liegen im Aufzeigen der Bedeutung von Kontakt-Kompetenz für den polizeilichen Dienstalltag sowie in der ausführlichen Darstellung der Vermittelbarkeit dieser Kernkompetenz; ebenso in der Inbezugsetzung von Kontakt-Kompetenz zu dem empirisch in seiner Validität gut begründeten Trainings-Transfer-Modell, welches die Vorhersagekraft von Einflussfaktoren auf erfolgreiche Trainings beschreibt. Der Beitrag verfolgt den innovativen Ansatz, eine theoretische Kontextualisierung und Beschreibung des Begriffes Kontakt-Kompetenz vorzunehmen, der eine hohe Anschlussfähigkeit für weitere empirische Untersuchungen im Feld der Trainingsforschung bietet. Beispielsweise könnte das hier dargestellte Trainings-Modell als theoretisches Konstrukt überprüft oder im Kontext eines Experimentaldesigns als Grundlage für den praktischen Trainingsablauf genutzt und getestet werden. Zudem wäre eine hypothesengeleitete Überprüfung von Einflussfaktoren und Wechselwirkungen auf die Generalisierung und Aufrechterhaltung der Kontakt-Kompetenz vorstellbar. Die Herausstellung und Bewusstmachung der Bedeutung von Kontakt-Kompetenz sowie der idealtypisch hieraus resultierenden handlungssicheren Gelassenheit in dienstlichen Interaktionen kann als gewinnbringende Ergänzung im Forschungsfeld betrachtet werden, aus der sich Implikationen für zukünftige Forschungen ergeben – insbesondere in Bezug auf den Erwerb und die Fördermöglichkeiten der Kontakt-Kompetenz in Trainings. Neben den theoretischen Ausführungen und Konstruktionen zeigt der vorliegende Beitrag handlungspraktische Inhalte auf, die für Polizeibeamt*innen bei der Anwendung und Generalisierung von professionellen Handlungsmustern relevant sind: Zur individuellen Überprüfung der Kontakt-Kompetenz ist die hier entwickelte Reflexionsvorlage als Selbsteinschätzungsinstrument geeignet und kann für Rückmeldeprozesse von Entscheider*innen, Einsatzkräften oder Einsatztrainier*innen in der polizeilichen Praxis genutzt werden. Die Autorinnen heben so die Aspekte der Reflexion und des Feedbacks hervor, die
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im Kontext der Erweiterung der eigenen professionellen Kompetenzen eine wichtige Rolle spielen. Hervorzuheben ist ebenso, dass alle an der Vermittlung curricularer Inhalte und professionell polizeilicher Wertesysteme Beteiligten daran interessiert sein müssen, angehenden Polizist*innen Orientierung zu bieten (und nicht zu irritieren), sodass diese die (überlebenswichtige) handlungssichere Gelassenheit entwickeln können. Die folgenden Hinweise dienen den unterschiedlichen Beteiligten als Empfehlung zur Unterstützung dieser Prozesse. Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Nur ein von allen Einsatztrainer*innen und Lehrenden geteiltes und mitgetragenes Verständnis bzgl. der Sinnhaftigkeit von Inhalten und Vermittlungsmethoden kann langfristig und nachhaltig dazu beitragen, dass Polizist*innen mit der nötigen kognitiven und psychischen Gelassenheit in Einsätze gehen. Entscheidungsträger*innen obliegt in diesem Zusammenhang eine hohe Verantwortung. Entscheidend für die Akzeptanz des Ansatzes der Kontakt-Kompetenz bei den Lernenden ist, dass den Vermittler*innen durch Entscheidungsträger*innen nachdrücklich nahegebracht wird, Rückmeldeprozesse einheitlich zu gestalten. Der Ernst und die Wichtigkeit des Anliegens müssen über die Entscheidungsträger*innen motiviert und glaubhaft vermittelt werden. In der Verantwortlichkeit von Führung liegt zudem, dass festgelegte und als wertvoll bewertete Inhalte und Vermittlungsmethoden (vgl. Feedbackverständnis im Kontakt-Kompetenz-Ansatz) den Trainer*innen nahegebracht werden. In der Folge muss für eine inhaltliche und methodische Umsetzung und Einhaltung der Vorgaben gesorgt werden. Eine regelmäßige Überprüfung der Einhaltung festgelegter Standards ist unumgänglich und trägt zur Etablierung eines auf Dauer einheitlich ausgerichteten Vorgehens bei. Die Anpassung an Erfordernisse einer sich dynamisch verändernden Gesellschaft mit Blick auf curriculare Inhalte und Vermittlungsmethoden muss hierbei eine Selbstverständlichkeit sein. b) Einsatzkräfte Ob im Streifendienst oder bei der Kriminalpolizei, der Arbeit in der Hundertschaft oder den Einsätzen, die das Einschreiten der Spezialkräfte erfordern, immer ist es von unschätzbarem Wert für die Weiterentwicklung bzw. Überprüfung und möglicherweise Korrektur der eigenen Kontakt-Kompetenz, dass eingesetzte Kräfte sich kollegial Rückmeldung geben. Dies nicht nur dann, wenn Lagen nicht optimal abgearbeitet wurden, sondern insbesondere auch, wenn Einsätze und besondere Herausforderungen gelungen gemeistert wurden. Wichtig ist hierbei eine
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präzise Beschreibung der Erfolgsfaktoren. Wünschenswert ist die Entwicklung einer idealerweise bereits in der theoretischen und praktischen Ausbildung geprägten und als selbstverständlich angesehenen Feedback-Kultur, die die Ebenen der Kontakt-Kompetenz berücksichtigend zur persönlichen und professionellen Entwicklung von Polizist*innen beiträgt (vgl. „ensure transfer of training“). Polizeibeamt*innen agieren vor dem Hintergrund ihres persönlichen Wertesystems und Rollenverständnisses. Dies zu reflektieren sollte für die Ausbildung einer professionellen Berufsrolle elementar sein. Ziel sollte die Vermittlung der Rolle als „Akteur*in“ sein, die/der bewusst und selbstwirksam Handlungsund Spielräume gestaltet und eröffnet. Sich als Akteur*in wahrzunehmen ermöglicht, den Fokus auf die Interaktivität von und die Einflussnahmemöglichkeit auf Kontaktsituationen zu richten. Ferner kann die Wirksamkeit und polizeiliche Akzeptanz von Kommunikation als Deeskalationswerkzeug erlebt und Stress- und Konfliktsituationen kontakt-kompetent begegnet werden. c) Einsatztrainer*innen Auch für Trainer*innen und Lehrende gilt, dass die Grundlage der Interaktionen mit Lernenden ein gemeinsam geteiltes, einheitliches Verständnis der Inhalte und Methodik sein sollte. Lernende fällt das Verständnis, die Verinnerlichung und die Umsetzung von Inhalten umso schwerer, je widersprüchlicher (und somit irritierender) Informationen in Feedbacksituationen erscheinen. Die persönlichen Erfahrungen von Einsatztrainer*innen/Dozent*innen sind sehr wertvoll und sollten in den Lehrkontext einfließen (z. B. durch Best-Practice-Beispiele). Die Funktion eines Rollenvorbildes ist hierbei von großer Bedeutung im Lehr-, Fort- und Ausbildungskontext. Die Lernenden sollten jedoch bewusst ermutigt werden, den jeweils eigenen Weg im Umgang mit und der Herangehensweise an Einsatzsituationen zu finden. Eine reine Verhaltensimitation ist in der Trainer*innen-/Lehrenden-Lernenden-Interaktion nicht sinnvoll. Die Authentizität der Beamt*innen im Polizei-Bürger*innen-Kontakt führt meistens zu mehr Akzeptanz und Anerkennung.
Literatur Baldwin, T. T., & Ford, J. K. (1988). Transfer of training. A review and directions for future research. Personnel Psychology 41(1), 63–105. https://onlinelibrary.wiley.com/toc/17446570/41/3. Zugegriffen am 21.09.2021. Bernt, P., & Kuhleber, H.-W. (1991). Das deeskalative Einsatzmodell. Die Polizei, 9, 219–235.
Kontakt-Kompetenz im polizeilichen Dienstalltag
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Einsatzkompetenz – Ein Modell zur Bewältigung kritischer Einsatzsituationen Hans Peter Schmalzl
Inhaltsverzeichnis 1 D ie Ausgangsüberlegung: Einsatzhandeln ist Risikohandeln in kritischen Situationen 2 Entwicklung eines Modells der Einsatzkompetenz 2.1 Koordination mit dem/der Partner*in vorab (vor der ersten Einsatzhandlung) 2.2 Eigensicherung/Distanzkontrolle 2.3 Aufmerksamkeitssteuerung/Wahrnehmung/Wachsamkeit 2.4 Flexibilität/geistige Wendigkeit/Neuorientierung 2.5 Äußeres Erscheinungsbild 2.6 Selbstsicherheit im Auftreten 2.7 Verbale Deeskalation und direktive Intervention (Handlungsanweisung) 2.8 Taktisches Vorgehen 2.9 Koordination mit dem (Streifen-)Partner*in in den Einsatzhandlungen 3 Einsatztrainings als Königsweg zum Erwerb von Einsatzkompetenz: Ein empirischer Beleg 4 Weitere empirische Ansätze zur Einsatzkompetenz und zu Einsatzkompetenz-Trainings 5 Folgen für die polizeiliche Praxis Literatur
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Reviewer*innen: Buc Consten, Robert Hintereker, Torsten Porsch Der vorliegende Beitrag basiert in Teilen auf bereits publizierten Aufsätzen des Autors (siehe Schmalzl 2009, 2012, 2017).
H. P. Schmalzl (*) ehemals: Zentraler Psychologischer Dienst der Bayerischen Polizei, Polizeipräsidium München, München, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_17
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H. P. Schmalzl
Zusammenfassung
Polizeiarbeit ist Handeln unter Risikobedingungen. Selbst Routineverrichtungen können in schwierige bis lebensbedrohliche Lagen umschlagen. Sie werden dann zu kritischen Situationen, in denen es sich entscheidet, welchen Verlauf eine Sache (z. B. ein Einsatz) nimmt und wie die Sache ausgeht. Solche Situationen sind nicht in allen Details planbar. Oft nehmen sie eine neue oder überraschende Wendung. Je überraschender oder erwartungswidriger sich dann die Einsatzlage entwickelt, umso weniger reicht es aus, dass Polizist*innen auf allgemeine fachliche, persönliche und soziale Kompetenzen zurückgreifen können. Sie brauchen zusätzliche Ressourcen, die mit dem Begriff der Einsatzkompetenz umschrieben und in einem psychologischen Modell operativer Handlungskompetenz ausformuliert werden. Einsatzkompetenz wird darin definiert als die Gesamtheit an persönlichen Merkmalen, Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Polizist*innen zur Verfügung haben, um Einsatzsituationen zu bewältigen, wobei deren Einsatzkompetenz umso bedeutsamer wird, je kritischer die Situation ist. Im Extremfall ist sie lebensrettend. Der Modellannahme zufolge legen sich die einzelnen Komponenten der Einsatzkompetenz schichtenförmig um einen Persönlichkeitskern. Sie umfassen Aspekte des dienstlichen Umfeldes und der Einstellung zum Beruf, ferner Funktionsweisen innerpsychischer Abläufe wie Wahrnehmungs-, Denk- und emotionale Prozesse und schließlich Fertigkeiten auf der Ebene des konkreten Einsatzhandelns. Jede Schicht steuert spezifische Teilkompetenzen bei, die zusammen im Idealfall den einsatzkompetenten Beamten bzw. die einsatzkompetente Beamtin ausmachen. Die handlungsrelevanten Fertigkeiten (wie zum Beispiel das kommunikative Verhalten oder das taktische Vorgehen) können konkret beschrieben und für empirische Zwecke operationalisiert werden. Es konnte experimentell nachgewiesen werden, dass man Einsatzkompetenz (zumindest auf der Ebene dieser handlungsrelevanten Fertigkeiten) mithilfe interaktiver Einsatztrainings erwerben beziehungsweise deutlich verbessern kann. Der Königsweg zur Einsatzkompetenz führt somit über Einsatztrainings, die integrativ die einzelnen Komponenten des Modells berücksichtigen.
1
ie Ausgangsüberlegung: Einsatzhandeln ist Risikohandeln D in kritischen Situationen
Die tägliche Polizeiarbeit im Wach- und Streifendienst lässt sich als Risikohandeln beschreiben. Selbst Routineverrichtungen wie zum Beispiel eine Verkehrsanhaltung können in schwierige bis lebensbedrohliche Lagen umschlagen. An jedem Entscheidungspunkt eines beliebigen Einsatzes, also beispielsweise der Frage, ob man als Polizist*in ein bestimmtes Fahrzeug anhält, wie man den/die angehaltene/n Fahrzeugführer*in ansprechen will, was zu tun ist, wenn sich der/die Fahrer*in weigert, die geforderten Fahrzeugpapiere
Einsatzkompetenz – Ein Modell zur Bewältigung kritischer Einsatzsituationen
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vorzuzeigen, bis hin zu den Handlungsoptionen im Fall, dass anstelle der Papiere eine Waffe gezogen wird, ergeben sich Konstellationen, die zu kritischen Situationen werden. Kritische Situationen (Badke-Schaub et al. 1999) sind also kurzzeitige Konstellationen, in denen es sich entscheidet, welchen Verlauf eine Sache (z. B. ein Einsatz) nimmt und wie die Sache ausgeht. Solche Situationen sind nicht in allen Details planbar. Oft nehmen sie eine neue oder überraschende Wendung. Je überraschender oder erwartungswidriger sich dann die Einsatzlage entwickelt, umso mehr müssen Polizist*innen auf etwas zugreifen können, was man als Einsatzkompetenz umschreiben könnte. Bei einer/m gesetzestreuen und folgsamen Autofahrer*in mag etwas Fachkompetenz mit entsprechend rechtlichem Wissen und etwas soziale Kompetenz mit entsprechend kommunikativem Geschick ausreichen, um eine Anhaltung und Fahrzeugkontrolle professionell und erfolgreich auszuführen. Je mehr Schwierigkeiten aber auftreten, je kritischer sich die Situation an einem Entscheidungspunkt darstellt, umso stärker sind Polizist*innen auf zusätzliche Ressourcen angewiesen. Dann brauchen sie Einsatzkompetenz. Das Spezifische an kritischen Situationen im polizeilichen Kontext ist die unmittelbare Gefahr von Eskalation und Gewalt; denn anders als kritische Situationen, die auch anderswo verheerende Folgen haben können, im Forschungslabor etwa oder auf dem Finanzmarkt, bedroht die kritische polizeiliche Einsatzsituation oft schlagartig die körperliche Unversehrtheit des Beamten oder der Beamtin und manchmal sogar deren Leben. Welche wiederkehrenden Risikofaktoren eine Einsatzsituation eskalieren beziehungsweise gewaltgeneigt werden lassen, soll im Folgenden dargestellt werden. Darauf baut das Konstrukt der Einsatzkompetenz auf; denn es muss angeben, wie diesen Risiken begegnet werden kann. Die dafür erforderlichen Kompetenzmerkmale werden anschließend in einem Modell beschreiben. Es soll schließlich gezeigt werden, dass die Validität der im Modell postulierten Merkmale (zumindest zum Teil schon) empirisch belegt werden kann und dass es nachweisbar Methoden gibt, die Einsatzkompetenz fördern. Das Repertoire dieser Methoden findet man in interaktiv-dynamischen Einsatztrainings. Gewalteskalation ist also das polizeispezifische Risikomoment in kritischen Situationen. Natürlich wird dabei nicht übersehen, dass Polizeiarbeit eine Vielzahl weiterer Risiken birgt, beispielsweise Ermittlungsfehler der Kriminalpolizei mit gravierenden Folgen für Beschuldigte und Opfer im strafrechtlichen Gerichtsverfahren. Aber unser Fokus liegt auf dem schutzpolizeilichen Handeln mit seinen Folgen für die Polizist*innen selbst. Die Frage, unter welchen Umständen ein Polizeieinsatz in Richtung Gewalt eskaliert, wurde meist so gestellt, dass etwas einseitig nach den Umständen gefragt wurde, unter denen Polizeibedienstete Opfer von Gewalt wurden (Sessar et al. 1980; Jäger 1988; Ohlemacher et al. 2003; Ellrich et al. 2012). Der Zungenschlag lag bei diesen sehr umfangreichen Untersuchungen damit auf einer Gewalt, die, von anderen ausgeübt, die Polizeiseite in die Reaktion zwingt, und weniger auf der Dynamik eines grundsätzlich interaktiven Geschehens, das sie mitgestaltet, sei es durch aktives Handeln oder bloße Passivität. Dabei gilt festzuhalten, dass man auch bei einer dynamischen Interaktion Täter und Opfer unterscheiden kann. Die Verantwortung eines Gewalttäters für seinen Angriff auf einen Polizeibeamten oder eine Beamtin soll keineswegs aufgeweicht werden, aber grundsätzlich dient
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H. P. Schmalzl
es dem Erkenntnisprozess, wenn man dem interaktiven Prozesscharakter eines Einsatzes mehr Beachtung schenkt als bisher. In einer unveröffentlichten qualitativen Sekundäranalyse des von der Bayerischen Polizei jährlich erhobenen Lagebildes „GewaPol“ (Gewalt gegen die Polizei) wurde der Versuch unternommen, den interaktiven Aspekt zu berücksichtigen. Analysiert man zumindest stichprobenweise die dort erfassten Fälle von Beleidigungen, Körperverletzung, Widerstand gegen Polizeibedienstete und schließlich Tötungsdelikte und achtet dabei nicht nur auf die Grunddaten wie Tatort, Tatzeit, beteiligte Kräfte, Beschuldigte/r, Einsatzanlass und -ausgang, sondern identifiziert auch die Entscheidungspunkte oder kritischen Momente in der Verhaltensdynamik, so findet man wiederkehrende Verläufe einer eskalierenden Interaktion der beteiligten Personen. Die Polizei ist dabei in den meisten Fällen der leichteren Gewaltdelikte (KV, Widerstand) zunächst reaktiv an der Dynamik des Einsatzgeschehens beteiligt. Häufig stoßen die Beamt*innen auf eine Grundaggressivität ihres Gegenübers, was sie dazu bringt, Personalien festzustellen, einen Platzverweis zu erteilen oder die Gewahrsamnahme einzuleiten – mit der Folge einer erhöhten Gewaltbereitschaft auf der Gegenseite. Je gravierender allerdings das Gewaltdelikt wird, umso größer wird der Anteil aktiver polizeilicher Verhaltensweisen für die Interaktionsdynamik. Am deutlichen fällt dies bei den Tötungsdelikten auf, wo bewusste Maßnahmenentscheidungen, etwa die Aufnahme der Verfolgung einer Person oder das Eindringen in deren Privatsphäre einen gefährlichen Eskalationsschub auslösen können. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich, einmal ist es eine suizidale oder psychisch kranke Person, die sich von der Polizei bedrängt oder bedroht fühlt, ein andermal ist es ein flüchtiger Gewalttäter, der sich der Festnahme zu entziehen versucht. Hervorzuheben ist die ubiquitäre Bedeutung des Substanzmissbrauchs bei allen untersuchten Delikten. Sehr viele Beleidiger*innen und noch mehr Widerständler*innen und Körperverletzer*innen sind zur Tatzeit alkoholisiert. Die gewaltfördernde Rolle des Alkohols scheint erst bei den Tötungsdelikten abzunehmen. Das sind alles keine neuen Erkenntnisse, aber doch eindeutige Belege für die anfangs postulierte Störanfälligkeit und Risikoträchtigkeit polizeilichen Einsatzhandelns. Damit kommt die Bedeutung von Einsatzkompetenz wieder ins Spiel. Ihr soll in zweifacher Hinsicht nachgegangen werden, zunächst theoretisch mit der Präsentation eines Modells der Einsatzkompetenz und dann empirisch mit einigen Forschungsergebnissen.
2
Entwicklung eines Modells der Einsatzkompetenz
Man kann Einsatzkompetenz definieren als die Gesamtheit an persönlichen Merkmalen, Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Polizist*innen zur Verfügung haben, um Einsatzsituationen zu bewältigen, wobei deren Einsatzkompetenz umso bedeutsamer wird, je kritischer die Situation ist. Im Extremfall ist sie lebensrettend. Was aber macht Einsatzkompetenz aus? Man kann sich das Konstrukt modellhaft als eine Mozartkugel vorstellen, bei der sich die einzelnen Komponenten der Einsatzkompetenz schichtenförmig um einen Persönlichkeitskern legen. Diese Schichten oder Komponenten umfassen As-
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pekte des dienstlichen Umfeldes und der Einstellung zum Beruf, ferner Funktionsweisen innerpsychischer Abläufe wie Wahrnehmungs-, Denk- und emotionale Prozesse und schließlich Fertigkeiten auf der Ebene des konkreten Einsatzhandelns. Jede Schicht steuert spezifische Teilkompetenzen bei, die zusammen im Idealfall den einsatzkompetenten Beamten bzw. die einsatzkompetente Beamtin ausmachen. Die Merkmale zu benennen, die jede Schicht beitragen kann, damit sich Einsatzkompetenz ausbilden kann, ist Aufgabe polizeipsychologischer Forschung. Erste Ergebnisse werden in Abschn. 4 erwähnt. Schmalzl (2008) hat in der Darstellung seines Einsatzkompetenz-Modells einige begründete Annahmen gemacht. So drängen sich gewisse berufs- bzw. einsatzrelevante Persönlichkeitsmerkmale auf, die ein junger Mensch beim Eintritt in den Polizeidienst zumindest ansatzweise mitbringen sollte. Dazu gehören Selbstsicherheit und die Fähigkeit, sich auf neuartige Situationen ohne übergroße Ängstlichkeit einstellen und dabei Mehrdeutigkeiten aushalten zu können. Psychologisch spricht man von Selbstwirksamkeitserwartung, mentaler Flexibilität und Ambiguitätstoleranz. Zur nächsten Schicht, dem beruflichen Umfeld, gehören nicht nur die Vorschriften und Regularien des Dienstbetriebs, die formale Aus- und Fortbildung etc., sondern auch das informelle Regelwerk auf den Dienststellen und die Gruppenprozesse in der Kollegenschaft. Beide Kulturen, die formale Polizeikultur und die informelle Polizistenkultur (Behr 2000), sollten Persönlichkeitseigenschaften wie die oben genannten fördern und gleichzeitig die Basis bilden für positive Berufseinstellungen und Motivlagen. Einsatzkompetenz gedeiht dann auf der Grundlage von Engagement und der Bereitschaft, sich beruflich weiterzuentwickeln und die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vervollkommnen. Persönlichkeit, berufliches Umfeld und die Einstellung und Motivation zum Beruf haben ihrerseits Einfluss auf die innerpsychischen Prozesse unmittelbar vor, während und nach einem Einsatz. Was man dort wahrnimmt, fühlt und denkt, ist entscheidend für das eigentliche Einsatzhandeln, weshalb diese perzeptiven, emotiven und kognitiven Prozesse als eigener Faktor (vierte Schicht) gelten können. Die Vorstellung von der Situation, dann die Wahrnehmung in der Situation, die Informationsaufnahme und -verarbeitung, die emotionalen Begleitfunktionen, schließlich die Denk- und Entscheidungsvorgänge, alle diese innerpsychischen Abläufe sind handlungsvorbereitend und handlungsbestimmend. Hier zeigt sich, welche Reaktion als erste erfolgt und welcher Handlungsablauf initiiert wird. In einer besonders kritischen Situation, in der beispielsweise ein angehaltener Autofahrer eine Schusswaffe hervorholt, kann es einsatz-inkompetenten Polizist*innen passieren, dass sie vor Schreck und Ratlosigkeit handlungsunfähig werden, während einsatzkompetente Polizist*innen Deckung suchen, gleichzeitig die Dienstwaffe ziehen, jedenfalls auf Handlungsoptionen zurückgreifen, die mental einstudiert, in Trainings eingeübt und so verfügbar sind. Mentale Beschäftigung und Training führen nämlich zu neuen neuronalen Verschaltungen im Gehirn, die in der Extremsituation aktiviert werden (Schmalzl 2011). Hinzu kommen die innerpsychischen Vorgänge nach Einsatzende, also die Verarbeitung des Erlebten, kognitive Umstrukturierungen und Lerneffekte bis hin zum Umgang mit Belastungen und Trauma-Reaktionen.
318
H. P. Schmalzl
Die fünfte und letzte Schicht (im Modell die äußere, sichtbare Schokoladenoberfläche der Mozartkugel) beschreibt das konkrete Einsatzverhalten, das einige Kriterien erfüllen muss, um als kompetentes Einsatzhandeln zu gelten. Die wesentlichen Kriterien orientieren sich an Fragen wie diesen: Hat der/die Polizeibeamt*in sich selbst im Griff, kann er/ sie sein/ihr eigenes Verhalten steuern? Übernimmt er/sie die Führung und Kontrolle in der Situation? Konzentriert er/sie sich auf die Bewältigung der Aufgabe? Harmoniert und kooperiert er/sie mit dem/der Streifenpartner*in? Übrigens beeinflussen sich die Schichten wechselseitig. Eine entwicklungsfähige Persönlichkeitsstruktur wird bei günstigen Bedingungen des beruflichen Umfeldes zu positiven Grundeinstellungen führen, welche die Voraussetzungen für die Herausbildung und Aktivierung situationsangemessener innerpsychischer Abläufe schaffen, die ihrerseits die richtigen Handlungsschritte in Gang setzen. Und andersherum: Handlungserfolg im Einsatz stabilisiert und optimiert die innerpsychischen Abläufe, was sich wiederum positiv auf berufsbezogene Einstellungen auswirkt, die ihrerseits dazu angetan sind, im beruflichen Umfeld die positiven Aspekte zu entdecken, welche schließlich auch eine günstige Persönlichkeitsentwicklung fördern. Wenn man nun den Fokus auf die Handlungsebene richtet, bleibt die entscheidende praxisorientierte Frage: Was genau konstituiert einsatzkompetentes Handeln? Bei den folgenden Überlegungen orientieren wir uns wieder an Einsatzszenarien, die häufig als Routinehandlungen beginnen, dann aber überraschende Momente oder eskalierende Wendungen enthalten und in eine akute Bedrohung mit Waffengebrauch münden. Mindestens zehn Merkmale einsatzkompetenten Handelns lassen sich in diesen Fällen unterscheiden.
2.1
oordination mit dem/der Partner*in vorab (vor der K ersten Einsatzhandlung)
Schon bei einer vorbereiteten Aktion wie einer Schwerpunkt-Verkehrskontrolle und erst recht nach einer akuten Einsatzalarmierung ist es sinnvoll, dass sich die Streifenpartner*innen darüber verständigen, was der Einsatz wohl von ihnen erwartet. Außerdem muss klar sein, wer welche Rolle bei Eintreffen am Einsatzort übernimmt und wie die Rollenverteilung konkret ausgefüllt wird. Mit der Vorstellung dessen, was einen erwarten könnte, und der ersten koordinierenden Vorbereitung darauf hat man bereits Techniken der mentalen Antizipation angewandt. In Einsatzsimulationen konnte gezeigt werden, dass Vorabsprachen und mentale Antizipation die Überlebenschance bei einer Schießerei erhöhten (Hermanutz und Spöcker 2001).
2.2
Eigensicherung/Distanzkontrolle
Unmittelbar bei Eintreffen am Einsatzort sollte der erste Gedanke immer dem Schutz von Personen, nicht zuletzt dem der eigenen Person, gelten: Wie verhalte ich mich, damit
Einsatzkompetenz – Ein Modell zur Bewältigung kritischer Einsatzsituationen
319
öglichst niemand zu Schaden kommt? Wie positioniere ich mich im Raum? Welchen m Abstand halte ich? Welche Ausrüstung bietet zusätzlichen Schutz? Fallstudien (Sessar et al. 1980; Pinizzotto et al. 1998) haben die lebenswichtige Bedeutung der Eigensicherung vielfach hervorgehoben. „Überleben ist kein Zufall“, konstatiert Füllgrabe (2019) im Untertitel seiner Monografie „Psychologie der Eigensicherung“, in der eine Fülle von Fallstudien und Erklärungsansätzen diese These belegen.
2.3
Aufmerksamkeitssteuerung/Wahrnehmung/Wachsamkeit
Zur gleichen Zeit muss die Aufmerksamkeit auf die Einsatzsituation und die dort anwesenden Personen gerichtet sein. Am Einsatzort angekommen, sollten die Augen wie eine Überwachungskamera ruhig, aber präzise die Szenerie durchmustern (Körber et al. 2008). Eine aktive Informationsaufnahme dient nicht nur der kognitiven Situationsbewältigung, sondern auch der emotionalen Stabilisierung. Miller (1992) hat Studien über posttraumatische Belastungsstörungen bei israelischen Soldat*innen analysiert und dabei herausgefunden, dass die Soldat*innen, die (auch) in Gefahrensituationen aktiv nach relevanten Informationen Ausschau halten, zwei Jahre nach ihrem Fronteinsatz weniger Belastungssymptome zeigen als andere. Durch dieses „Monitoring“ entwickeln solche Personen offenbar bereits in der Gefahr ein Verständnis von dem, was eigentlich passiert. Das hilft ihnen wiederum, posttraumatischen Störungen vorzubeugen. Die Art der Informationsaufnahme und -verarbeitung ist somit für mehrere Facetten kompetenten Einsatzhandelns von Bedeutung. Man denke dabei auch an das Konzept des Gefahrenradars (Füllgrabe 2019). Einsatztrainer*innen betonen nicht umsonst den Blick auf die Hände der wahrgenommenen Personen; denn die unmittelbarste Gefahr geht von den Händen aus, nicht vom Gesichtsausdruck oder vom Mundwerk. Die Fokussierung auf die Hände bedarf eines eigenen Trainings, da Menschen gelernt haben, Augenkontakt herzustellen und diesen Blickkontakt im Gespräch auch zu halten.
2.4
Flexibilität/geistige Wendigkeit/Neuorientierung
Aufmerksamkeit und Wahrnehmung dienen der Entdeckung und Weiterleitung von Reizen. Allerdings kommt man mit dem einmal wahrgenommenen und kognitiv verarbeiteten Eindruck nicht sehr weit; denn die übliche Einsatzsituation ähnelt nicht einem Standbild, sondern einem Film, der mitunter die besagten überraschenden Wendungen bereithält. Was also zusätzlich benötigt wird, ist die Fähigkeit, solche Wendungen zu antizipieren oder zumindest sofort zu registrieren und richtig zu deuten. Merkmale wie Intuition und die Verwendung einfacher Heuristiken sind hier mit eingeschlossen (Gaissmaier und Gigerenzer 2006), ebenso das, was Endsley (1995) als „situation awareness“ beschreibt. Ohne eine rasche und stimmige Situationsbewertung wird man vielleicht später konstatieren, dass der Angriff gegen die eigene Person völlig überraschend gekommen sei (Ohlemacher et al. 2003).
320
2.5
H. P. Schmalzl
Äußeres Erscheinungsbild
Die Bedeutung, die Polizist*innen dem äußeren Erscheinungsbild ihres Gegenübers beimessen sollten, korrespondiert mit der Wirkung des eigenen Erscheinungsbildes auf das Gegenüber. Hermanutz (2013) konnte in einer groß angelegten Studie mit über 900 Proband*innen (meist Schüler*innen unterschiedlicher Schultypen) zeigen, dass ein schlampig gekleideter Polizeibeamter bei anderen die Aggressionsbereitschaft selbst dann erhöht, wenn er sich freundlich gibt und korrekt kommuniziert. Spricht er obendrein unfreundlich-herablassend oder provozierend, schnellt die Aggressionsbereitschaft des Gegenübers nochmals in die Höhe. Eine korrekte Uniform verschafft dem Beamten jedenfalls einen Vertrauensbonus, während ein nicht korrektes Erscheinungsbild – und dazu zählt bereits das Tragen eines Polo-Shirts anstelle der üblichen Dienstkleidung – zum Handicap wird, vor allem, wenn weitere Nachlässigkeiten (z. B. in der Eigensicherung) oder Fehlverhaltensweisen (z. B. in der Kommunikation) hinzukommen. (Die Merkmale 6 und 7 greifen diesen Aspekt wieder auf!) Offensichtlich erwarten Menschen ein in sich stimmiges und verlässliches polizeiliches Erscheinungsbild, um Absichten und Maßnahmen der Polizei beruhigt einschätzen zu können. Korrekte Kleidung und korrekte Ansprache gehören dazu. Erwartungswidriges polizeiliches Auftreten dagegen irritiert und löst leicht Aggressionen aus.
2.6
Selbstsicherheit im Auftreten
Parallel zur Orientierung in der gegebenen Situation sollten Polizist*innen deutlich machen, dass sie die Führung in der Situation beanspruchen. Betritt die Polizei offen eine Szene, darf sie dies nicht zaghaft oder halbherzig tun, sondern im Bewusstsein, dass es jetzt auf sie ankommt, dass jetzt – bei aller Höflichkeit – ihr Wort Gewicht hat und ihr Handeln zählt. In ihrer Körpersprache und in ihrem Gesamtverhalten muss sich dieser Anspruch widerspiegeln. Das hat nichts mit Selbstherrlichkeit zu tun, sondern steht im Dienst einer durchsetzungsfähigen und effizienten Polizeiarbeit. Selbstsicheres Auftreten erhöht die „compliance“ und damit auch die Wahrscheinlichkeit, nicht angegriffen zu werden (Pinizzotto et al. 1998; Pinizzotto und Davis 1999).
2.7
erbale Deeskalation und direktive V Intervention (Handlungsanweisung)
Kontaktaufnahme und Gespräch während einer polizeilichen Maßnahme können sich aus unterschiedlichen Gründen (z. B. Sprachbarrieren, Misstrauen, Erschrecken, Aversionen etc.) schwierig gestalten. Ein kommunikatives Bemühen um Konfliktdämpfung, um Deeskalation, ist deshalb unabdingbarer Bestandteil einsatzkompetenten Basisverhaltens. Das beginnt mit einer freundlichen Anrede und setzt sich in der steten Bereitschaft fort, die Maßnahme, etwa die Kontrolle von Ausweispapieren, unmissverständlich anzukündigen und ge-
Einsatzkompetenz – Ein Modell zur Bewältigung kritischer Einsatzsituationen
321
gebenenfalls zu begründen. Menschen wollen erklärt bekommen, weshalb sie einer Aufforderung Folge leisten sollen (Langer 1991). Allerdings kommt eine erfolgreiche verbale Intervention mit deeskalativen Bemühungen allein nicht aus. Das polizeiliche Gegenüber zeigt sich erfahrungsgemäß nicht immer gefügig, kompromissbereit und deeskalationswillig. Daher hat verbale Deeskalation eine Kehrseite, nämlich die direktive Intervention, in der dem Gegenüber die Grenzen seiner „non-compliance“ sofort deutlich gemacht werden. Eine klare Handlungsanweisung, notfalls in Kommandosprache, muss es schlagartig erkennen lassen, dass mit der Polizei nicht zu spaßen ist. Beruhigt sich dann die Person, erscheint eine Rückkehr zu deeskalativer Freundlichkeit – bei gleichzeitiger Wachsamkeit – angezeigt. Man könnte dieses der spieltheoretischen Tit-for-tat-Strategie nachempfundene Kommunikationsmuster auch die Strategie der bedingten Freundlichkeit nennen.
2.8
Taktisches Vorgehen
Trotz geschickter verbaler Intervention, in der alle Register einer Strategie der bedingten Freundlichkeit gezogen werden, mag es vorkommen, dass die skizzierte Person in ihrer konfrontativen Haltung verharrt, möglicherweise sogar die Situation eskalieren lässt, indem sie beispielsweise ein Messer zieht. Neben einer nochmaligen Direktive („Waffe weg!“) und den nötigen Maßnahmen der Eigensicherung (z. B. Distanzvergrößerung) müssen hier polizeitaktische Vorgehensweisen ins Spiel kommen, die um die Frage nach dem optimalen Waffengebrauch (Pfefferspray, Einsatzstock, Schusswaffe) kreisen. Bei einem Messerangriff wird im Einsatztraining der abgestufte Einsatz der Schusswaffe gelehrt. Entsprechend dem Grad der akuten Bedrohung und Gefährdung – bleibt der Angreifer beispielsweise in größerer Entfernung stehen oder kommt er auf die Beamt*innen zu – wird die Schusswaffe in vier möglichen Optionen eingesetzt, vom Griff zur Waffe am Holster bis zur beidhändigen Waffenhaltung bei ausgestreckten Armen. Weitere taktische Schritte betreffen die Notwendigkeit, jemanden durchsuchen und gegebenenfalls (mit Handfesseln) fixieren zu müssen. Impliziert sind im taktischen Vorgehen die kognitiven Prozesse der Situationsbewertung und Entscheidung.
2.9
oordination mit dem (Streifen-)Partner*in K in den Einsatzhandlungen
Als Streifenbeamter oder Streifenbeamtin agiert man in der Regel im Zweierteam, manchmal mit anderen Streifen zusammen, aber eigentlich nie allein. Einsatzhandeln ist deshalb Teamwork. Jede Maßnahme, vom Erscheinen am Einsatzort bis zur Anwendung von Zwangsmitteln (z. B. Überwältigung und Fesselung), sollte koordiniert ablaufen. Grundlegend ist die funktionale Aufteilung in Sprecher und Sicherer. Der oder die eine geht voran und spricht die, sagen wir, zu kontrollierende Person an, der oder die andere steht seitlich und achtet auf alles, was handlungsrelevant sein könnte. Einschlägig sind hier die Einsatzleitlinien des Leitfadens 371.
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Die wesentlichen Merkmale einsatzkompetenten Handelns sind damit aufgezählt: Zum einen kommt es offensichtlich darauf an, sich selbst zu steuern (Aufmerksamkeit; Selbstsicherheit; Flexibilität), zum anderen ist es wichtig, die Situation zu steuern (Distanzkontrolle; verbale Deeskalation und Handlungsanweisung). Dazu darf das Augenmerk jedoch nicht zu sehr auf die eigene Person gerichtet sein, etwa mit der bangen Frage, ob man wohl der Sache gewachsen sei und ob man denn nun alles richtig mache. Stattdessen muss das Augenmerk, nach außen gerichtet, der Erfüllung der Aufgabe gelten (taktisches Vorgehen). Und es muss auf den Partner bzw. die Partnerin gerichtet sein und deren Aktionen mitberücksichtigen, sodass es im Idealfall zu gemeinschaftlichem Handeln kommt (Koordination vorab und Koordination im Handeln). Damit basieren die zehn Merkmale auf vier Dimensionen einsatzkompetenten Handelns, nämlich • Selbststeuerung (Aufmerksamkeit; Selbstsicherheit; Flexibilität; äußeres Erschei nungsbild) • Situationssteuerung (Distanzkontrolle; verbale Deeskalation; Handlungsanweisung) • Aufgabenorientierung (taktisches Vorgehen) und • Teamorientierung (Koordination vorab und Koordination im Handeln) Zusammen ergeben sie die zur Perfektion gebrachte Einsatzkompetenz. Allerdings führt der Weg zur Meisterschaft über die Stufen, die in den Annahmen des Einsatzkompetenz- Modells postuliert wurden. Eine günstige Polizei- und Polizistenkultur gehört dazu, förderliche Ausbildungsinhalte, die mühselige Automatisierung von Bewegungsabläufen, mentales Üben, Einsatzerfahrungen, aus denen die richtigen Schlüsse gezogen wurden und so weiter. Wenn das alles vorliegt, findet Selbststeuerung statt. Es stellen sich dann zielgerichtete Handlungsimpulse ein, bevor willentliche Entscheidungen überhaupt gereift sind. Die Impulse führen zu Handlungen, die zwar noch fehlerbehaftet und störanfällig sein können, aber die Unbeirrbarkeit dessen aufweisen, der einfach weiß, was er will. „Im Zustand der selbstgesteuerten Aktion sind alle Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsprozesse der Entscheidung und Kontrolle des Polizeibeamten unterworfen.“ (Ungerer 2001, S. 133) Dieser Zustand wirkt nicht nur, sich selbst verstärkend, positiv auf die Polizist*innen zurück, sondern teilt sich auch anderen mit. Aus der Selbststeuerung erwächst die Steuerung der Situation. Wer also unbeirrt und „selbstwirksam“ in eine Situation hineingeht, übernimmt die Führung und Kontrolle über die Situation. Wer dann noch unbeirrt und gekonnt das anpackt, was zu tun ist, und die Aufgabe mit seinem Partner bzw. seiner Partnerin synchronisiert, der wird nach allem Ermessen auch das Richtige tun.
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insatztrainings als Königsweg zum Erwerb von Einsatz E kompetenz: Ein empirischer Beleg
Bleibt die Frage zu klären, wie man Einsatzkompetenz gezielt erlernen kann. Der mutmaßlich effizienteste Weg zum Erwerb von Einsatzkompetenz verläuft über Einsatztrainings, die so angelegt sind, dass sie in realitätsnahen Szenarien die als kritisch definierten Ein-
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satzsituationen üben. Dieser Behauptung wurde in einer experimentellen Untersuchung nachgegangen (Schmalzl 2008). Daneben war diese Studie so angelegt, dass sie das Einsatzkompetenz-Modell insgesamt auf den Prüfstand hob. Zwar konnten nicht alle Schichten des Modells mit allen postulierten Aspekten untersucht werden, aber zumindest explorativ sollten Merkmale der Persönlichkeit, der Einstellung zum Beruf und der innerpsychischen Ausstattung (z. B. der Informationsverarbeitung) gemessen und in ihren Bezügen zur Einsatzkompetenz überprüft werden. In Zusammenarbeit mit den Einsatztrainer*innen des Polizeipräsidiums München wurden 108 Münchner Beamtinnen und Beamte des regulären Streifendienstes für Trainingseinheiten rekrutiert, in denen sie zunächst ein Szenarium durchliefen, das der Ermittlung des Ausgangsniveaus (Baseline- Messung) der individuell vorhandenen Einsatzkompetenz (Frage 1) diente. Unmittelbar danach fand ein (experimentelles) Einsatztraining in drei unterschiedlichen Varianten statt, Variante 1 (Experimentalgruppe 1) bestand in einem Training auf der Verhaltensebene, Variante 2 (Experimentalgruppe 2) enthielt einige zusätzliche mentale Übungen und Variante 3 lieferte die Kontrollgruppen-Bedingung. Dabei wurden die Beamt*innen bzw. Versuchspersonen der Kontrollgruppe keineswegs ohne Training entlassen, sondern absolvierten Übungen mit lediglich motorisch-technischen Aspekten der Eigensicherung und des Waffenhandlings. In diesen Übungen waren Handlungskomponenten des Einsatzkompetenz-Modells nicht enthalten. Fünf Tage nach dem Training wurden die Versuchspersonen zu einem zweiten, ähnlichen Szenarium geladen, das der Überprüfung von Trainingseffekten diente: Von den Versuchspersonen in den Experimentalgruppen wurde erwartet, dass sie höhere Trainingseffekte zeigen, also mehr Einsatzkompetenz aufweisen als die Proband*innen der Kontrollgruppe. Ein Vergleich der beiden Experimentalgruppen sollte zudem einen Hinweis auf die (Zusatz-)Wirkung mentaler Übungen geben. Viereinhalb Monate nach dieser zweiten Messung wurde in einer Follow-up-Erhebung ein drittes Einsatzszenarium präsentiert, das Aufschlüsse über Langzeiteffekte des Trainings und möglicherweise auch über Interaktionseffekte des Trainierten mit den zwischenzeitlich in der Praxis gemachten Einsatzerfahrungen geben sollte. Der zusätzliche Aufwand, der mit der Einrichtung einer zweiten Experimentalgruppe verbunden war, bedarf der Erläuterung: Neben dem Verhaltenstraining sollte auch der Effekt mentalen Trainierens untersucht werden. Empirische Befunde und Anwendungserfolge im Leistungssport, aber auch in der Medizin und Psychologie legen nahe, dass mentale Übung auch im polizeilichen Einsatztraining die Wahrscheinlichkeit eines (nachhaltigen) Trainingserfolgs erhöhen könnte; denn der Lerntransfer vom Einsatztraining zur Lagebewältigung in der Einsatzrealität wird erleichtert, wenn man in der Vorstellung Handlungsoptionen und Lösungswege erprobt, die sich dann in der Praxis bewähren. Pragmatisch kann man zugunsten mentalen Trainierens außerdem anführen, dass Einsatztrainings mit Live-Simulationen sehr personal- und zeitaufwendig sind und zudem der regelmäßigen Wiederholung bedürfen, während mentales Üben immer möglich und durchführbar ist. Die drei Einsatzszenarien, das erste vor dem Training, das zweite fünf Tage danach und das dritte nach weiteren viereinhalb Monaten, markierten die drei Zeitpunkte, zu denen
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Einsatzkompetenz gemessen wurde. Um jedoch ein Konstrukt wie Einsatzkompetenz überhaupt messbar zu machen, musste es aufwendig operationalisiert werden. Damit ist Folgendes gemeint: Konkretes Einsatzverhalten (z. B. eine bestimmte Positionierung im Raum) wurde in seinen möglichen Extremausprägungen beschrieben, einmal als absolut einsatzkompetentes Verhalten (z. B. „Bleibt im Bereich der Tür stehen, sodass ein Ausweichen und Deckungnehmen möglich sind.“) und einmal als nicht-einsatzkompetenter Gegenpol („Kein Bemühen um die richtige Distanz; bei zu viel Nähe wird Distanz nicht wieder hergestellt.“). Damit waren bipolare Aussagen (sogenannte Items) definiert, denen eine fünfstufige Skala von 0 bis 4 beigegeben wurde. Anhand dieser Skala wurde dann von zwei Experten (Einsatztrainern) unabhängig voneinander eingeschätzt, inwieweit das von der Versuchsperson tatsächlich gezeigte Verhalten einem der beschriebenen Pole entsprach oder nahe kam. Dazu hatten die beiden Trainer*innen Filmmaterial von allen Versuchspersonen und Szenarien zur Verfügung. Für jedes Item schätzten sie also den Grad an Einsatzkompetenz ein, indem sie einen Punktwert von 0 bis 4 vergaben. Die Items waren jeweils einem Merkmal (z. B. dem Merkmal Distanzkontrolle) zugeordnet. Die Merkmale wurden, wie oben beschrieben, auf die vier Dimensionen (z. B. die Dimension Situationskontrolle) verteilt, die ihrerseits ein Maß für Einsatzkompetenz ergaben. Die wichtigsten Ergebnisse dieser experimentellen Studie zeigen, dass sich Einsatzkompetenz im Sinne des beschriebenen Modells deutlich und nachhaltig durch qualifizierte interaktive und verhaltensdynamische Einsatztrainings erlernen bzw. erhöhen lässt: Das Niveau der Einsatzkompetenz ist in beiden Experimentalgruppen kurz nach dem Einsatztraining signifikant höher, ein Effekt, der sich in viereinhalb Monaten zwar abschwächt, aber erhalten bleibt. Eine verstärkende Wirkung mentalen Trainings war allerdings nur in der Tendenz (Effektgrößen-Berechnung) messbar. Die Kontrollgruppe verharrt über alle drei Messzeitpunkte auf ihrem Ausgangsniveau. Das ist insofern ein bedeutsames Ergebnis, als offensichtlich ohne Trainingseinheiten, die explizit einsatzkompetentes Verhalten verbessern sollen, keine Verbesserung der Einsatzkompetenz zu erzielen ist, weder spontan durch unkontrollierte Einflüsse noch durch die Einsatzszenarien, aus denen man ohne Trainervermittlung demnach auch keine Lehren zieht. Weitere Ergebnisse ergaben, dass sich Defizite im einsatzkompetenten Handeln mithilfe des Trainings erfolgreich angehen lassen, auch spezifische Defizite wie Unsicherheiten bei der Übernahme einer aktiven Rolle im Einsatz (nachweisbar bei Frauen) oder Gefühle von Überforderung (nachweisbar bei Beamt*innen mit entsprechenden Einsatzerfahrungen).
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eitere empirische Ansätze zur Einsatzkompetenz und zu W Einsatzkompetenz-Trainings
Körber (2020) postuliert in einem explizit „Einsatzkompetenz 4.0“ betitelten Aufsatz, dass Einsatzkompetenz ein erfolgreiches und zudem evidenz-basiertes Beispiel für den oft mühsamen und aufwendigen „Weg der langsamen Neuerung“ sei, den wissenschaftliche
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Konzepte in die polizeiliche Praxis nehmen müssen. Er referiert etliche Forschungsrichtungen, die sich – analog dem Bemühen um Einsatzkompetenz – einer Optimierung des Einsatzhandelns im Wach- und Streifendienst widmen. Körbers eigener Ansatz hierbei gilt der Aufmerksamkeitssteuerung und visuellen Informationsverarbeitung bei der Gefahrenerkennung (Körber et al. 2008). Schult man die polizeiliche Expertise in entsprechenden Trainingssequenzen, verbessert sich die gezielte Wahrnehmungssteuerung und bereitet so im Sinne „aktiven Sehens“ den Boden für einsatzkompetentes Handeln (Körber 2016), ein Effekt übrigens, der sich auch ergibt, wenn man in der Wahrnehmungsschulung mit Tai Chi arbeitet (Körber und Schmidt 2019). Damit gerät auch der schon lange und vielfach nachgewiesene Vorteil mentalen Übens (z. B. Driskell et al. 1994) wieder auf die Agenda der Förderfaktoren von Einsatzkompetenz. Gerade Trainingseinheiten, in denen es um die Bewältigung von komplexen Extremsituationen geht, von Amok- oder Terrorlagen beispielsweise, lassen sich in realistischen Szenarien auf der Verhaltensebene nur schwer darstellen. Wissmath et al. (2016) haben deshalb mit Einheiten des schweizerischen Verbandes Swiss Rescue Wahrnehmungsaufgaben, Bewegungsmuster und Handlungsabläufe in der Vorstellung trainiert, möglichst realitätsnah und möglichst auf dem Stress- und Aktivierungsniveau, das man in der Echtsituation erwarten würde. Dabei wurden sukzessive einzelne Sequenzen eines Handlungsgeschehens präsentiert, bis der Trainingsteilnehmer jeweils angab, dass er die Sequenz in der Vorstellung beherrscht. Eine Übungswiederholung einige Wochen später zeigte Leistungsverbesserungen. Die Teilnehmer*innen selbst beschrieben das Training als zweckmäßig und wirksam. Die Idee, im Einsatztraining Realitätsnähe durch Stressinduktion herzustellen, verfolgte auch Pundt (2016) in einer Untersuchung mit niedersächsischen Polizeikräften. Er konzipierte ein dreitägiges Training mit theoretischer Vorbereitung und praktischen Übungsszenarien „unter Hochstress“ einschließlich des Gebrauchs der Schusswaffe. Sowohl die subjektiven Bewertungen der Versuchspersonen als auch Verhaltensbeobachtungen legten den Schluss nahe, dass die vorbereitende Konfrontation mit Hochstress-Lagen die Einsatzbewältigung verbessert. Evident war, „dass in Hochstressphasen mit einer mangelhaften Vorbereitung die Leistungsgrenze beziehungsweise Belastungsgrenze schnell erreicht und überschritten wurde“ (Pundt 2016, S. 155). Pundt berichtet beispielsweise von Versuchspersonen, die in Übungssituationen, in denen eine Waffe auf sie gerichtet ist, sich wegdrehen oder aufgeben, anstatt um ihr Leben zu kämpfen.
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Folgen für die polizeiliche Praxis
Bezogen auf die oben ausführlicher dargestellte experimentelle Untersuchung von Schmalzl (2008) lässt sich konstatieren: Der nachgewiesene Nutzen des dort zugrunde gelegten Einsatztrainings sollte zu verstärkten Anstrengungen führen, Training und Trai-
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ner*innen weiter zu professionalisieren. Dazu zählen auch die Rahmenbedingungen wie Übungsstätten, Ausrüstung, Maßnahmen der Trainer*innen-Qualifizierung etc. Der relative Rückgang der Einsatzkompetenz von der Post- zur Follow-up-Messung weist auf die Notwendigkeit hin, häufigere Trainingseinheiten anzusetzen, was übrigens in der Bayerischen Polizei wie auch anderswo mittlerweile umgesetzt wird. Unterstützende mentale Übungen wären zu überlegen. Die Ergebnisse der Untersuchung unterstützen jedoch nicht die an sich naheliegende Idee, Einsatzkompetenz zu einer Schlüsselqualifikation zu erheben, die bereits bei der Einstellung in den Polizeivollzugsdienst im Rahmen der Personalauswahl berücksichtigt werden sollte. Einsatzkompetenz basiert offensichtlich viel mehr auf erlerntem Verhalten als auf Dispositionen der Persönlichkeit des Einzelnen und vor allem: Einsatzkompetenz bzw. einsatzkompetentes Handeln lässt sich relativ schnell verbessern. Der Königsweg zur Einsatzkompetenz führt somit über Einsatztrainings, die – das legt das Einsatzkompetenz-Modell nahe – einen integrativen Ansatz wählen (vgl. dazu auch Körner und Staller 2020). Dieser Ansatz verbindet die einzelnen Komponenten des Modells in dynamischen, oft überraschende Wendungen nehmenden, interaktiven und der Einsatzrealität angepassten Sequenzen. Wahrnehmung, Aufmerksamkeitssteuerung, die begleitenden kognitiven und affektiven Prozesse, das daraus resultierende Entscheidungsverhalten, die davon wiederum abhängigen Kommunikationsstrategeme, Interaktionsmuster und taktischen Optionen, das alles sollte in einer „ökologischen Dynamik“ (Seifert et al. 2019) ineinanderfließend trainiert werden. Staller und Körner haben wiederholt theoretisch und empirisch dargelegt, wie ein solches Training als quasi „integrativer Mechanismus“ Polizeibeamt*innen hilft, Unsicherheit zu reduzieren und so auf komplexe Einsatzsituationen vorzubereiten (Körner und Staller 2020; Staller und Körner 2020a, b). Dabei legen die Autoren großes Gewicht auf eine interdisziplinär-wissenschaftliche, also evidenz- basierte Fundierung und wenden sich gegen eine Trainingspraxis, die einzelne Elemente wie den Gebrauch der Dienstwaffe isoliert übt. Nicht verkannt wird, dass diesen Vorstellungen etliche Hürden entgegenstehen, von der Art und Funktion der bestehenden Trainingsstätten über die derzeitige Aus- und Fortbildung der Trainer*innen und deren „linearer Pädagogik“ – von Trainer*innenseite wird gelehrt oder vorgemacht, was die Übenden lernen sollen – bis zur althergebrachten Wissenschaftsferne und Abschottung der Polizei. Aber in der Summe zeigen alle hier referierten Ansätze doch, dass sich sowohl Wissenschaftler, vorzugsweise Psycholog*innen, als auch Polizeibedienstete, vorzugsweise Einsatztrainer*innen, gemeinsam um eine Optimierung dessen bemühen, was in diesem Beitrag als Einsatzkompetenz beschrieben wurde.
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Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die Praxis
a) Entscheider*innen Entscheider*innen sollten darauf achten, dass polizeiliche Einsatztrainings das enorm breite Verhaltensspektrum abbilden, auf das Polizist*innen im Einsatz früher oder später zurückgreifen müssen. Dieses Spektrum kennen und beherrschen zu lernen, ist für Trainingsteilnehmer*innen nicht nur eine Frage professionell-geschickter Einsatzbewältigung, sondern manchmal auch eine Frage des Überlebens in besonders kritischen Einsatzlagen. Das hier vorgelegte Einsatzkompetenz-Modell fängt ein solches Verhaltensspektrum ein und liefert den Entscheider*innen einen Orientierungsrahmen, der ihnen hilft, Einsatztrainings konzeptionell, von der passenden Trainingsörtlichkeit über den Personalansatz bis zu den Trainingsinhalten, optimal zu gestalten. b) Einsatzkräfte Wer Polizist*in wird, unterschätzt in der Regel die Band- und Variationsbreite der Situationen, die sich in zukünftigen Einsätzen zwangsläufig ergeben. Bei Weitem nicht alles, was passieren kann, lässt sich trainieren oder auch nur imaginieren. Aber Basiskompetenzen für die unterschiedlichsten Einsatzlagen kann man erlernen. Das Einsatzkompetenz-Modell bietet dafür einen praxisorientierten Rahmen, der zudem den möglichen Verlauf von Einschreitsituationen und die Gefahr von Eskalationsdynamiken berücksichtigt. Sich mit dem Modell zu beschäftigen, bedeutet für Polizist*innen, sich mit den berufsimmanenten Risiken vertraut zu machen, dabei handlungssicherer zu werden und so die Erkenntnis zu gewinnen, dass die Bewältigung selbst schwierigster Einsatzsituationen möglich ist. c) Einsatztrainer*innen Für Einsatztrainer*innen ist das Einsatzkompetenz-Modell schlichtweg ein Referenzrahmen. Er lässt sich nutzen, indem man sowohl auf die postulierten Kompetenz-Schichten des Modells achtet, also auf die Persönlichkeit, das dienstliche Umfeld, die Einstellung zum Beruf und die innerpsychischen Abläufe, als auch auf die zehn beschriebenen Merkmale einsatzkompetenten Handelns. Das Modell trägt damit zur Entwicklung eines integrativen Trainings bei, das dynamische Wendungen in unterschiedlichen Einsatzverläufen berücksichtigt.
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Aspekte des polizeilichen Schusswaffengebrauchs zur realistischen Gestaltung des Einsatz- und Schießtrainings Clemens Lorei
Inhaltsverzeichnis 1 E inführung 2 Studie „Schießen auf flüchtende Personen“ 2.1 Hintergrund 2.2 Methode 2.3 Ergebnisse 2.4 Fazit der Studie 3 Studie „Schnell schießen oder genau treffen“ 3.1 Hintergrund 3.2 Methode 3.3 Ergebnisse 3.4 Fazit der Studie 4 Studie „Schießen auf Täter mit Schutzwesten“ 4.1 Hintergrund 4.2 Methode 4.3 Ergebnisse 4.4 Fazit der Studie 5 Vor- und Nachteile unterschiedlicher Waffenhaltungen 5.1 Hintergrund 5.2 Methode 5.3 Ergebnisse 5.4 Fazit der Studie
332 335 335 336 337 338 339 339 340 341 342 343 343 344 344 345 346 346 349 349 350
Reviewer*innen: Oliver Bertram, Michael Hauck, Nils Neuwald, Stefan Schade C. Lorei (*) Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung, Fachbereich Polizei, Wiesbaden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_18
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332 6 S tudie „Umstände und Folgen von Warnschüssen“ 6.1 Hintergrund 6.2 Methode 6.3 Ergebnisse 6.4 Fazit der Studie Literatur
351 351 352 352 353 355
Zusammenfassung
Um auf die Realtität vorbereitet zu sein, muss die Realtität bekannt sein und es muss realistisch trainiert werden. Über den polizeilichen Schusswaffengebrauch in Deutschland existiert aber relativ wenig wissenschaftlich fundiertes Wissen. Der Beitrag widmet sich dabei den unterschiedlichen Arten des polizeilichen Schusswaffengebrauchs. Er versucht, sowohl die Realität zu erfassen und darzustellen als auch einzelne Aspekte des Schusswaffengebrauchs empirisch zu untersuchen. Dargestellt werden dabei die grundlegenden Aspekte der Studien sowie die wesentlichen Ergebnisse zu den folgenden Themen: • • • • •
Schießen auf flüchtende Personen Schnell schießen oder genau treffen Schießen auf Täter*innen mit Schutzwesten Vor- und Nachteile unterschiedlicher Schießhaltungen Umstände und Folgen von Warnschüssen
Der Beitrag möchte damit über einige Erkenntnisse zum polizeilichen Schießen aufklären, die in Aus- und Fortbildung häufig thematisiert, aber kaum empirische fundiert behandelt werden. Die dargestellten Ergebnisse erscheinen geeignet, über rechtlich zulässig oder unverhältnismäßig entscheiden zu können, taktisch relevante Hinweise zu ge ben und Grundlagen für realistisches Training zu bieten.
1
Einführung
Der polizeiliche Schusswaffengebrauch ist eine der intensivsten Formen der Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols und stellt wahrscheinlich die gravierendste Eingriffsmaßnahme dar, die eine Polizeibeamt*in durchführen kann. Deutsche Polizist*innen schossen 2019 laut der Statistik der Innenministerkonferenz (IMK) in 62 Fällen auf Personen und gaben 44 mal einen Warnschuss ab (siehe Tab. 1). Außer dem Aufstellen dieser sehr allgemeinen Statistik wird der polizeiliche Schusswaffengebrauch in Deutschland kaum wissenschaftlich untersucht. Empirisch fundierte
Fluchtvereitelung bei Verdacht eines Verbrechens oder eines „gleichgestellten Vergehens“ 1 12 20 1 0 8 0 0 0 0 0 1 Verhinderung der Fluchtvereitelung gewaltsamen von Gefangenen Gefangenenbefreiung 1 0 5 0 1 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
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Schusswaffen gebrauch gegen Personen in einer Menschenmenge 0 0
Anmerkung: In der jeweils ersten Zeile befinden sich die Zahlen für 2019, in der jeweils zweiten für 2018 und in der jeweils dritten Zeile die Zahlen für das Jahr 2017
Schusswaffengebrauch in Fällen von Notwehr/Nothilfe Verhinderung Leibes- und von Verbrechen Lebensgefahr in oder sonstigen Fällen „gleichgestellten (nach Jedermannsrechten) Vergehen“ Warnschüsse 39 3 29 3 33 7 Schusswaffengebrauch 47 14 gegen Personen 54 2 60 6 Folge: getötete Person 12 3 11 0 13 0 Folge: verletzte Person 23 7 32 2 38 0
Tab. 1 Statistik zu Fällen von polizeilichem Schusswaffengebrauch im Jahr 2017–2019. (Quelle: Mitteilungen der Innenministerkonferenz)
Aspekte des polizeilichen Schusswaffengebrauchs zur realistischen Gestaltung des … 333
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C. Lorei
Analysen, wissenschaftliche Aufarbeitungen und Diskussionen verschiedener Aspekte des Umgangs mit der Dienstwaffe und Schießens sind nur lückenhaft vorhanden. Oft bleibt deshalb die Chance ungenutzt, aus den polizeilichen Schussabgaben sowie aus der Forschung zu lernen. Es wird so versäumt, mögliche wissenschaftliche Erkenntnisse systematisch in Aus- und Fortbildung einfließen zu lassen, um polizeiliches Handeln professioneller und sicherer zu machen. Letztendlich ist eine optimale Vorbereitung auf diesen massiven Gewalteinsatz durch Polizeibeamte dann eher zufällig als systematisch, denn es bleibt häufig offen, wie die Realtität des Schusswaffengebrauchs aussieht, welche Aspekte wie vorzubereiten sind und wie sich bestimmte Gegebenheiten in der Wirklichkeit entgegen denen in der Aus- und Fortbildung auswirken. Sicherlich kann nicht jede möglicherweise vorkommende Situation vorher geübt oder antizipiert werden. Aber es können prototypische Aspekte bekannt gemacht, erfahren und trainiert werden. Betrachtet man mit diesem Ziel die Statistik (siehe Tab. 1), so ergeben sich drei Gruppen von typischen Schusswaffengebräuchen. Eine solche Gruppe ist die Abgabe eines Warnschusses. Dieser wird in der Aus- und Fortbildung meist nur randständig und oft ausschließlich rechtlich behandelt (Lorei 2012b). Unter welchen Bedingungen, mit welchem Effekten und wie überhaupt dieser abgegeben wird, gilt es zu wissen, um darauf vorbereitet zu sein. Eine der nachfolgend in Grundzügen dargestellten Studien analyisiert deshalb Warnschussabgaben von Polizeibeamt*innen in Deutschland. Als zweite Gruppe kann das Schießen auf Personen zur Abwehr einer massiven Gefahr von sich oder anderen bzw. zur Verhinderung von Verbrechen angesehen werden. Auch hier sind Situation, Umstände, Art und Folgen (vgl. Lorei und Balaneskovic 2020a) zu kennen und in Aus- und Fortbildung zu berücksichtigen. Auf dieses Wissen aufbauend stellt sich im Einsatztraining im Zusammenhang mit Übungen zu dieser Gruppe oft die Frage, ob man in potenziell lebensgefährlichen Situationen die Dienstwaffe zieht oder lieber im Holster lässt. Diese Diskussion wird oft sehr emotional geführt. Unterstützung bei einer sachlichen Argumentation im Rahmen der Entscheidung für das Einnehmen einer entsprechenden Sicherungs- oder Schießhaltung kann hier eine empirische Betrachtung der Vor- und Nachteile unterschiedlicher Schießhaltungen unter besonderer Berücksichtigung der Reaktionszeiten und der Trefferwahrscheinlichkeit bieten. Hierzu werden nachfolgend Ergebnisse berichtet. Der Geschwindigkeitaspekt spielt hier offensichtlich auch eine große Rolle ebenso wie bei der Frage, ob es besser ist, schnell auf einen Angreifer zu schießen, um seinen Angriff zu stoppen, oder ob es vorteilhafter sei, sich etwas mehr Zeit zu lassen und dafür dann aber eher oder genauer zu treffen. Diese Frage ist zur Vorbereitung wichtig wie auch um zu verstehen, warum bei Analysen von realen Feuergefechten sich häufig erstaunlich niedrige Trefferquoten finden (Lorei und Balaneskovic 2020a). Entsprechende Hinweise zur Beantwortung der Frage finden sich weiter unten berichtet. Ebenso wird eine weitere Studie vorgestellt, die sich mit Trefferquoten in realistischen Situationen beschäftigt. Hierbei geht es nicht nur darum, ob und wie eine angreifende Person abgewehrt werden kann, sondern auch, ob Polizist*innen erkennen und wie sie dann reagieren, wenn der Angreifer durch eine Schutzweste geschützt ist.
Aspekte des polizeilichen Schusswaffengebrauchs zur realistischen Gestaltung des …
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Als dritte Gruppe kann der Schusswaffengebrauch im Zusammenhang mit flüchtenden Personen angesehen werden. Dieser scheint in den letzten Jahren seltener zu werden (siehe Tab. 1), als er einige Jahre zuvor war (Lorei 2012a). Dabei ist nicht klar, ob die entsprechenden Situationen seltener auftreten oder sich die Polizist*innen öfter gegen einen Schusswaffengebrauch in diesen Fällen entscheiden. Letzteres kann u. a. an der Abwägung der Verhältnismäßigkeit liegen, bei der sich die potenziellen Schütz*innen auch fragen müssen, wie sicher sie das Ziel treffen.
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Studie „Schießen auf flüchtende Personen“
Die nachfolgend beschriebenen zwei Studieen werden bei Lorei, Stiegler und Bäuerle (2014) sowie Lorei und Heimann (2017) ausführlich beschrieben.
2.1
Hintergrund
Der polizeiliche Schusswaffengebrauch gegen Personen bezweckt vor allem, Angriffe auf Polizeibeamt*innen oder Dritte zu verhindern oder zu beenden (siehe Tab. 1). Die Mehrheit der Schussabgaben findet in diesem Zusammenhang statt. Daneben findet sich sich aber auch rechtlich die Möglichkeit, flüchtende Personen unter bestimmten Bedingungen mittels Schusswaffengebrauch zu stoppen. Dies findet in der Praxis seltener als zum Abwehren einer Lebensgefahr oder zur Verhinderung eines Verbrechens statt und nimmt in den letzten Jahren an Häufigkeit eher ab. Diese Abnahme der Häufigkeit schmälert aber nicht die Bedeutung, da diese womöglich gar nicht auf eine Reduzierung entsprechender Situationen zurückgeht, sondern auch ein Folge von Unsichereit im Zusammenhang mit dem Schießen auf Flüchtende ist, welche erheblich die Entscheidung zu schießen oder nicht beeinträchtigt. Ebenso finden sich immer wieder auf Fälle in der Statistik der IMK, die tödlich für einen beschossenen Flüchtigen ausgehen (2008, 2009, 2010, 2014, 2017), was diese Fallgruppe trotz geringer Häufigkeit bedeutsam macht. Andererseits weisen die Statistiken Schusswaffengebräuche gegen Flüchtende aus, bei denen es in einzelnen oder mehreren dieser Fälle zu keinem Verletzten oder Toten kommt (z. B. in 2010: acht Fälle mit zusammen einem Toten und drei Verletzten; 2011 drei Fälle und 2013 vier Fälle ohne jegliche Folgen; 2017 acht Fälle mit einem Toten und einem Verletzten). Hier stellt sich dann die Frage, wie hoch die Trefferquote in diese Fällen ist und woran dies liegt. Im Rahmen der Entscheidung zu einem solchen Schuss im Allgemeinen sowie in der Bestimmung der (rechtlichen) Verhältnismäßigkeit im Besonderen spielt die Trefferwahrscheinlichkeit eine wichtige Rolle. Da dies empirisch nicht umfassend untersucht war, wurden zwei entsprechende Studien durchgeführt. Es ist davon auszugehen, dass das Schießen auf eine flüchtende Person zwei unterschiedliche Ausgangslagen haben kann. Einerseits kann der Schütze in einer Position verharren und schießt einer davonlaufenden Person nach. Im anderen Fall geht dem Schusswaffengebrauch eine relativ intensive
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C. Lorei
erfolgung zu Fuß voraus. Entsprechend kann dies auch in der Studie berücksichtigt werV den. Wie häufig welche Variante in der Praxis vorkommt, kann der offiziellen Statistik der IMK nicht entnommen werden. Es sind dem Autor auch keine entsprechenden Analysen für die deutsche Polizei bekannt. Die vorausgehende körperliche Belastung im Falle einer Nacheile vor einem Schusswaffengebrauch kann eine Schießleistung bereits stark beeinträchtigen (Hoffman et al. 1992; Evans et al. 2003). Hingegen fand Brown (2011) keine entsprechenden Leistungseinbußen nach ausführlicher körperlicher Belastung. Dabei handelt es sich beim Schusswaffengebrauch gegen Flüchtende meist um eher kurze Spitzenbekastungen (Sprint) denn längere Ausdauerleistungen oder kurzfristige Maximalanstrengungen. Nitzsche und Stolz (1990) fordern ein ausführliches Training des Übergangs von einer vorrangig körperlichen, grobmotorischen Belastung wie dem Laufen mit hohen Bewegungsamplituden zu einer eher feinmotorischen Aktivität mit geringer Bewegungsamplitude und der Notwendigkeit größter Präzision wie dem Schießen. Dabei muss beim polizeilichen Schießen auf Flüchtende – im Unterschied zum Biathlon – nach körperlicher Belastung nicht nur mit der Pistole geschossen werden, sondern ist das Ziel in diesem Fall auch nicht statisch, sondern es bewegt sich schnell. Die Bewegung beinhaltet dabei einerseits die Veränderung der Örtlichkeit des Ziels (z. B. Verschiebung in Querrichtung), andererseits auch dessen Größe (z. B. optische Verkleinerung durch zunehmende Entfernung). Beim Schießen auf Flüchtende kann auch davon ausgegangen werden, dass der/die Schütz*in unter Zeitdruck steht. Es ist für ihn/sie nicht möglich, sich beliebig viel Zeit zum Visieren zu nehmen, da sich das Ziel mit fortschreitender Zeit immer weiter entfernt und damit schwieriger zu treffen ist oder sogar aus dem Einwirkbereich – z. B. hinter einer Häuserecke – verschwindet. Ein schnelles Schießen kann die Trefferleistung beeinflussen, da der/die Schütz*in zwischen Genauigkeit der Visierung und Schnelligkeit der Schussabgabe abwägen muss (Lorei et al. 2017).
2.2
Methode
In zwei Untersuchungen schossen insgesamt 139 Polizeistudierende, 25 Angehörige einer Beweis- und Festnahmeeinheit sowie 31 Einsatzkräfte einer Einsatzeinheit in einer interaktiven Schießanlage auf zwei eigens für die Untersuchung erstellte Filme. In diesen sprintete ein Darsteller auf einem großen Parkplatz von der/dem Schütz*in weg. In einer Version verlief der Sprint in gerader Linie von ca. fünf Meter Entfernung von der/dem Schütz*in in ca. vier bis fünf Sekunden auf 30 Meter Abstand. In einer zweiten Version lief die flüchtende Person von ihrer fünf Meter entfernten Startposition zunächst ca. zehn Meter in gerader Strecke von der/dem Schütz*in weg (wofür er/sie ca. eine bis zwei Sekunden benötigte), bog dann aber nach rechts ab und lief rechtwinklig in ca. 20 Metern Entfernung nach rechts. Dieser horizontale Lauf dauerte ca. eine Sekunde. Bei der Kon struktion des Filmes wurde darauf geachtet, dass die auf der Leinwand dargestellte Person in der Schießanlage dieselben Proportionen wie in der Realität hat. Die Versuchspersonen
Aspekte des polizeilichen Schusswaffengebrauchs zur realistischen Gestaltung des …
337
erhielten den Auftrag, auf die Beine inkl. Gesäß des Flüchtenden zu schießen. Eine Entscheidung, zu schießen oder nicht zu schießen, war nicht gefordert. Die aufgenommenen Treffer wurden in die sechs Klassen Beine (alle Treffer unterhalb des Gürtels), Oberkörper, Arme, Kopf sowie Fehlschuss mit geringer oder mit hoher Umgebungsgefährdung eingeteilt. Beim Startsignal machten die Versuchspersonen zunächst 20 Kniebeugen und sprinteten dann insgesamt ca. 40 Meter. Als sie dann an ihrer Schießposition eintrafen, wurde der Film mit der Flucht gestartet und die Versuchspersonen durften auf die flüchtende Person schießen.
2.3
Ergebnisse
Die Untersuchung erbrachte zahlreiche Ergebnisse. Für Details wird auf die ausführlichen Beschreibungen verwiesen. Flüchten in gerader Linie Flüchtet die Person in gerader Linie von der/dem Schütz*in weg, so treffen ca. 40–50 % die Beine (und das Gesäß) auftragsgemäß mit dem ersten Schuss. Mit jedem weiteren Schuss scheint die Wahrscheinlichkeit für einen entsprechenden Treffer abzunehmen. Relativ gering ist im gesamten Übungsverlauf die Wahrscheinlichkeit, die Arme oder den Kopf zu treffen. Jedoch traf mindestens jede/r zehnte Schütz*in den Oberkörper des Flüchtenden. Im Verlauf der Übung, d. h. mit zunehmender Entfernung des Flüchtenden, nahmen die Schüsse in der Anzahl zu, die nicht die flüchtende Person trafen. Insbesondere bei späten Schüssen stieg der Anteil der Fehlschüsse, die eine eher hohe Gefährdung darstellen können, deutlich an. Abbiegendes Flüchten Zunächst flüchtet auch in dieser Version die Person in gerader Linie von der/dem Schütz*in weg. Wie bei gerader Flucht treffen auftragsgemäß um die 50 % mit dem ersten Schuss die Beine (und das Gesäß). Mit jedem weiteren Schuss, und hier vor allem mit dem Abbiegen der Person, nimmt die Wahrscheinlichkeit für einen entsprechenden Treffer deutlich ab. Die Wahrscheinlichkeit, im Übungsverlauf die Arme oder den Kopf zu treffen, ist relativ gering. Außer mit dem ersten Schuss traf weniger als jede/r zehnte Schütz*in den Oberkörper des Flüchtenden. Im Verlauf der Übung scheinen die Schüsse, die die flüchtende Person nicht treffen, zuzunehmen. Insbesondere bei späten Schüssen steigt der Anteil der Fehlschüsse, die eher eine hohe Gefährdung darstellen, deutlich an. Einfluss der Schießfertigkeit Vor dem Schießen auf die flüchtende Person wurde für jede Person ein Aspekt der Schießfertigkeit gemessen, in dem sie aus aus 15 Metern Entfernung auf eine 10-er-Ringscheibe vier Präzisionsschüsse abgab und die erzielten Ringe summiert wurden. Der Vergleich von
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C. Lorei
Versuchspersonen mit unterschiedlichen Leistungen bei dieser Vorübung legt nahe, dass sich gute Fertigkeiten bei grundlegenden Schießtechniken auch bei einem eher einsatzbezogenen Schießen – hier Schießen auf einen Flüchtenden – positiv auswirken.
2.4
Fazit der Studie
Die erzielten Ergebnisse müssen bei einer Entscheidung sowie der rechtlichen Würdigung eines Schusses auf Flüchtende in die Verhältnismäßigkeitsabwägung einfließen. Dabei ist festzustellen, dass die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, die Beine (inkl. Gesäß) eines/r auf gerader Linie Flüchtenden zu treffen, zwischen 40 % und 50 % zu liegen scheint, wenn diese Person noch relativ nah ist, was in der Simulation einer Distanz von fünf bis fünfzehn Metern zwischen Schütz*in und Flüchtendem entsprach. Biegt die flüchtende Person bei der Flucht ab oder läuft in einiger Entfernung quer zu/m Schütz*in, verringert sich die Trefferquote deutlich auf ca. 10–20 %. Mit zunehmender Entfernung des Flüchtenden sinkt die Wahrscheinlichkeit, dessen Beine zu treffen. Auch wird mit zunehmender Entfernung die Trefferwahrscheinlichkeit allgemein niedriger, während die für gefährliche Fehlschüsse deutlich ansteigt. Ein nicht eindeutiges Bild zeichnet die Schießgeschwindigkeit. Hier ist besonders überlegtes oder sehr schnelles Schießen nicht eindeutig mit Erfolg verbunden. In beiden Fällen ist zu beachten, dass dies jeweils nicht die Wahrscheinlichkeiten für eine einzelne Person darstellen, sondern die Mittelwerte für Gruppen von Personen sind. Die Wahrscheinlichkeit für eine einzelne Person hängt von deren individueller Schießfertigkeit ab und kann deshalb von der Gruppenwahrscheinlichkeit stark abweichen. Dies bedeutet, dass ein/e Schütz*in nicht damit rechnen kann, dass er/sie mit einer Wahrscheinlichkeit von z. B. 50:50 trifft, wie dies im Gruppenmittel der Fall ist, sondern dies von seiner/ihrer persönlichen Leistungsfähigkeit abhängt. Bei der Abwägung der Verhältnismäßigkeit, welche dann über den Einsatz der Schusswaffe (mit)entscheidet, muss also jeder seine eigenen, individuellen Fähigkeiten berücksichtigen, da sich diese von Schütz*in zu Schütz*in stark unterscheiden können. Entsprechend muss das Schießen in solchen Situationen sowohl geübt werden, als auch jede/r potenzielle Schütz*in ihre/seine eigene Leistungsfähigkeit für solche Schüsse kennen. Jede/r dienstliche Waffenträger*in sollte also solche Übungen schießen, um im Ernstfall beurteilen zu können, ob sie/er in der Lage ist, mit ausreichender Sicherheit und unter Ausschluss von nicht intendierten Treffern das Ziel des Schusswaffengebrauchs in diesem Falle zu erreichen. Nur dann kann die Ver hältnismäßigkeitsabwägung adäquat erfolgen.
Aspekte des polizeilichen Schusswaffengebrauchs zur realistischen Gestaltung des …
3
339
Studie „Schnell schießen oder genau treffen“
Die nachfolgend in den wesentlichen Teilen beschriebene Studie wird bei Lorei, Grünbaum, Spöcker und Spitz (2017) ausführlich und detailliert beschrieben. Dort findet sich auch ein deutlich elaborierter theoretischer Hintergrund.
3.1
Hintergrund
In polizeilichen Feuergefechten geht es um Leben und Tod. So kann das Überleben einer/s Polizeibeamt*in davon abhängen, ob es ihr/ihm durch den Gebrauch ihrer Schusswaffe gelingt, den sie/ihn oder eine andere Person angreifende/n Täter*in angriffsunfähig zu machen. Je nach Angriffsart (z. B. Schusswaffe oder Messer) kann es dabei ganz entscheidend sein, dies möglichst schnell zu erreichen, um so nicht selbst gefährlich oder sogar lebensgefährlich verletzt zu werden. Entsprechend scheint es ratsam, möglichst schnell zu schießen, wenn man sich zum Schusswaffengebrauch entschlossen hat. Doch ein schneller Schuss allein kann ein Gegenüber nicht unbedingt von seinem Angriff abhalten. Es muss letztlich dabei auch ein geeigneter Treffer erzielt werden. Dabei stehen Schnelligkeit und Genauigkeit aber womöglich in einer gewissen Konkurrenz zueinander. Dies könnte eine Aspekt der Erklärung sein, warum Polizeibeamt*innen in realen Feuergefechten eine deutlich niedrigere Trefferquote erzielen als in vielen Schießübungen (Aveni 2004; Lorei und Balaneskovic 2020a). Für die Abhängigkeit der Geschwindigkeit und der Treffgenauigkeit voneinder finden sich zahlreiche Studien für motorische wie auch kognitive Leistungen. Hier zeigte sich regelmäßig, dass die Parameter Schnelligkeit und Genauigkeit in Konkurrenz stehen, da sie abhängig voneinander sind. Steigt die Geschwindigkeit einer Aufgabenlösung, sinkt häufig ihre Qualität. Lässt man sich mehr Zeit, so wird die Genauigkeit regelmäßig besser. Letztlich kann eine gute Balance für eine Gesamtleistung entscheidend sein. Dies kann dann als Schnelligkeits-Genauigkeits-Kompromiss (speed- accuracy-tradeoff = SAT) bezeichnet werden. SAT bei motorischen Handlungen Zahlreiche Studien konnten einen solchen Kompromiss für motorische Handlungen zeigen (vgl. Fitts 1966; Meyer et al. 1990; Sherwood und Enebo 2005; Van den Tillaar und Ulvik 2014). Hier standen Bewegungsgeschwindigkeit und Genauigkeit in Konkurrenz. Wurde die Bewegung schneller ausgeführt, sank deren Genauigkeit. Sollte sie genauer sein, musste sie langsamer ausgeführt werden. Dabei wurde dieser Kompromiss bei unterschiedlichen Arten von Bewegungen gefunden. Während einerseits zyklische, also sich wiederholende, Bewegungen untersucht wurden (Fitts 1966), stellten andere diskrete Bewegungen in den Fokus (z. B. Fußballschuss. Van den Tillaar und Ulvik 2014). Es wurden einarmige (Fitts 1966) und beidhändige Bewegungen (Sherwood und Enebo 2005) betrachtet. Auch die Dominanz des Gliedmaßes (dominant vs. nicht-dominant) wurde
340
C. Lorei
u ntersucht (Van den Tillaar und Ulvik 2014). Insgesamt brachten nahezu alle Bewegungsformen und -varianten eine Abhängigkeit von Geschwindigkeit und Genauigkeit zutage. SAT bei kognitiven Operationen Neben motorischen Aspekten findet sich dieser Kompromiss auch für kognitive Aufgaben. Für Entscheidungen, die auf jeglicher Art von Informationen basieren, ergibt sich der Schnelligkeits-Genauigkeits-Kompromiss dadurch, dass die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen Zeit erfordert (vgl. Bogacz et al. 2010). Je mehr Informationen jedoch in eine Entscheidung einfließen bzw. je besser diese ausgewertet werden, desto besser wird regelmäßig die Entscheidung. Damit steigt die Korrektheit der Entscheidung, während jedoch ihre Schnelligkeit sinkt. Je nach Anforderung der Aufgabe kann dann die Priorität auf Geschwindigkeit oder Genauigkeit oder einen entsprechend ausgewogenen Kompromiss gelegt werden. Neben solch wohlüberlegten Entscheidungen zeigt sich die Abhängigkeit der beiden Parameter u. a. auch bei einfachen Wahrnehmungs-Entscheidungs- Aufgaben. Es war aber bisher unklar, wie diese beiden Parameter im Bereich des (polizeilichen) Schießens miteinander verbunden sind und wie diese mögliche Abhängigkeit durch andere Faktoren moderiert wird. Einer der diskutierten Fakoren ist dabei die Fähigkeit bzgl. der Aufgabe. Um dies zunächst für den motorischen Teil des Schießens aufzuklären, wurde die nachfolgend beschriebene Studie durchgeführt.
3.2
Methode
Als Versuchspersonen dienten 72 weibliche und männliche Polizeibeamte. 39 davon waren berufserfahrene Polizist*innen, während 33 sich als Anwärter*innen im Studium befanden. Diesen wurden jeweils die Instruktionen für eine Schießübung in Anlehnung an Van den Tillaar und Ulvik (2014) verschiedene Kompromisse des SAT gegeben: • so schnell wie möglich auf eine 10er-Ringscheibe zu schießen • so schnell wie möglich auf eine 10er-Ringscheibe zu schießen und dabei zu versuchen, das schwarze Zentrum der 10er-Ringscheibe zu treffen • das schwarze Zentrum der 10er-Ringscheibe zu treffen und zu versuchen, dies so schnell ,wie möglich zu tun‘ • das schwarze Zentrum der 10er-Ringscheibe zu treffen Geschossen wurde aus acht Metern Entfernung mit Waffen ohne Visierung auf eine 10er-Ringscheibe. Jeder Schussvorgang wurde mittels Timer gestartet (akustischer Reiz). Jeder der vier SAT-Kompromisse wurde entsprechend den Instruktionen von jedem viermal geschossen.
Aspekte des polizeilichen Schusswaffengebrauchs zur realistischen Gestaltung des …
341
Tab. 2 Schießergebnisse für die vier unterschiedlichen Bedingungen (Gruppenmittelwerte und -standardabweichungen der vier einzelnen Schüsse sowie der Summe der Serie) Bedingung schnell schnell & präzise präzise & schnell präzise
3.3
Ø SD Ø SD Ø SD Ø SD
1. Schuss Zeit Treffer 1,236 7,22 ,398 1,79 1,489 7,62 ,431 1,72 1,748 7,90 ,422 1,62 2,620 8,46 ,848 1,14
2. Schuss Zeit Treffer 1,197 7,72 ,401 2,08 1,455 7,83 ,392 1,57 1,742 8,13 ,549 1,48 2,468 8,67 ,897 1,22
3. Schuss Zeit Treffer 1,254 7,74 ,366 1,82 1,427 7,79 ,414 1,53 1,746 8,35 ,509 1,10 2,360 8,63 ,699 1,01
4. Schuss Zeit Treffer 1,177 7,69 ,425 1,75 1,433 8,25 ,445 1,49 1,751 8,42 ,574 1,95 2,378 8,83 ,708 1,00
Summe Zeit Treffer 4,854 30,38 1,422 4,85 5,804 31,50 1,555 4,14 6,987 32,79 1,887 3,83 9,826 34,58 2,693 2,58
Ergebnisse
Im Mittel benötigten die Versuchspersonen in der Bedingung „schnell“ schießen zwischen 1,18 und 1,25 Sekunden (siehe Tab. 2). Im Mittel trafen sie zwischen 7,22 und 7,74 Ringe. In der Bedingung „schnell und präzise“ zu schießen lag die Reaktionszeit im Mittel zwischen 1,42 und 1,49 Sekunden. Im Mittel trafen hier die Versuchspersonen zwischen 7,62 und 8,25 Ringe. Für die Bedingung, „präzise und schnell“ zu schießen, wurden ca. 1,74 Sekunden als Reaktionszeit gemessen. Dies resultierte in einer Leistung von 7,9 bis 8,4 Ringe. Sollten die Versuchspersonen „präzise“ schießen, benötigten sie zwischen 2,36 und 2,62 Sekunden. Im Mittel trafen sie dann zwischen 8,4 und 8,8 Ringe. Insgesamt fielen in allen Ergebnissen deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Versuchspersonen auf. Untersucht wurde dann, ob die unterschiedlichen Schießbedingungen auch zu unterschiedlichen Reaktionszeiten und Treffergenauigkeiten im Sinne eines Kompromisses (SAT) führen. Dies wurde sowohl für den jeweils ersten Schuss als auch für die Summe von jeweils vier Schüssen einer Serie in jeder einzelnen Bedingung ermittelt. Es fand sich sowohl für den ersten Schuss als auch die Serie, dass die unterschiedlichen Instruktionen hinsichtlich Geschwindigkeit und Genauigkeit auch zu unterschiedlichen Reaktionszeiten und Trefferleistungen führten. Die statistischen Tests zeigten für fast alle entsprechenden Paarungen statistisch signifikante Unterschiede. Dabei nahmen die Reaktionszeiten jeweils zu, während die Genauigkeit zulasten der Geschwindigkeit immer mehr in den Fokus rückte. Teilweise konnte dies nicht nur für die Genauigkeit der Schüsse, sondern auch für ihre Präzision festgestellt werden. Um den Einfluss der grundlegenden Schießfähigkeit auf die Abhängigkeit von Schießschnelligkeit und Genauigkeit zu prüfen, wurden die Versuchspersonen anhand ihrer Leistung in einer grundlegenden Schießübung in gute und weniger gute Schütz*innen aufgeteilt. Die schlechteren Schütz*innen zeigten im Experiment mit steigender Geschwindigkeit eine kontinuierlich abnehmende Schießleistung. Bei den besseren Schütz*innen trat zwar tendenziell auch mit steigender Geschwindigkeit eine kontinuierlich abnehmende Schießleistung auf, aber diese war auf den Extremvergleich zwischen „präzise“ und „schnell“
342
C. Lorei
beschränkt. Damit konnte gezeigt werden, dass die grundlegende Schießfertigkeit auf die Abhängigkeit von Geschwindigkeit und Genauigkeit einen Einfluss hat. Mit zunehmender Schießfertigkeit wird der Kompromiss zwischen Geschwindigkeit und Genauigkeit besser, sodass die Steigerung der Schnelligkeit weniger Qualitätseinbußen in der Schießleistung hervorruft, als dies bei weniger guten Schütz*innen der Fall ist. Es lässt sich festhalten, dass eine höhere Grundfertigkeit im Schießen die Nachteile des schnelleren Schießens zumindest zu einem Teil kompensieren kann.
3.4
Fazit der Studie
Es konnte eindeutig ein Kompromiss zwischen Schnelligkeit und Genauigkeit beim Schießen nachgewiesen werden. So wird das Treffen schlechter, wenn sich die Reaktionsgeschwindigkeit verschnellert. Umgekehrt wird besser getroffen, wenn man sich für das Schießen mehr Zeit lässt. Dabei zeigt sich dies (im Wesentlichen) in allen verwendeten Parametern zur Bestimmung der Trefferqualität (Treffgenauigleit als Treffer erster Schuss, Summe der Treffer von vier Schuss, Präzision als Standardabweichung der Treffer einer Schussserie). Die Verschlechterung der Schießleistung bei Steigerung der Geschwindigkeit kann dabei auf zwei unterschiedliche Aspekte aufgeteilt werden. Einerseits liegen die Treffer weniger zentral, wenn schneller geschossen wird. Die Genauigkeit sinkt also. Andererseits verändert sich die Präzision, also das „Trefferbild“ bei einer Schussserie, wie die Veränderung der Standardabweichung zeigt. Dies bedeutet, dass die vier Treffer einer Serie weniger dicht zusammenliegen, die Präzision also geringer wird. Es wird also bei der Erhöhung der Schießschnelligkeit weniger zentral getroffen und dabei deutlicher gestreut. Auch zeigte sich, dass Schütz*innen, die grundlegend besser schießen, auch weniger von einem Kompromiss zwischen Genauigkeit und Schnelligkeit betroffen sind. So zeigte sich eindeutig, dass bei guten Deutschütz*innen die Genauigkeitsunterschiede zwischen „schnellem“ und „präzisem“ Schießen geringer sind, als dies bei schlechteren Deutschütz*innen gefunden wurde. Damit lässt sich behaupten, dass eine hohe grundlegende Schießfertigkeit für ein realistisches Feuergefecht aus mindestenes zwei Gründen von Vorteil ist. Zum einen, dass die Trefferwahrscheinlichkeit grundsätzlich ansteigt, und zum anderen, dass in dieser Situation, in der es um Leben und Tod geht, veränderte Reaktionszeiten – die Schütz*innen sehen sich gezwungen, schneller zu schießen – sich weniger nachteilig auswirken können. Im Sinne einer bestmöglichen Vorbereitung auf den polizeilichen Schusswaffengebrauch kann also doppelt für eine hohe Fertigkeit im grundlegenden Deutschießen geworben werden. Einschränkend ist zu sagen, dass hier in einer Schießanalage auf eine 10-er-Ringscheibe geschossen wurde. Damit konnte die grundlegende Abhängigkeit der Geschwindigkeit und der Trefferleistung nachgewiesen werden. Wie sich diese in einem realen Feuergefecht dann exakt auswirkt, kann aus diesen Ergebnisse nur abgeleitet werden. Auch ist unklar, wie sich weitere Aspekte einer realen Situation auf die Abhängigkeit auswirken.
Aspekte des polizeilichen Schusswaffengebrauchs zur realistischen Gestaltung des …
343
Reale Situationen sind nämlich gegenüber der hier simulierten von Angst und Stress sowie Bewegung geprägt, weil sowohl die/der Schütz*in als auch die/der Beschossen*e sich meist bewegen (Lorei und Balaneskovic 2020a). Auch sind in der Realität unterschiedliche Anschlagsarten zu finden (Lorei und Balaneskovic 2020a), wo sich die vorliegende Studie nur auf eine beschränkt hat. Somit könnten sich die in der Simuluation doch relativ dicht beieinander liegenden Leistungen bei einem Schusswaffengebrauch in einer realen Polizeieinsatz deutlich voneinander entfernen und somit gravierende Auswirkungen auf den Ausgang des Feuergefechtes haben. Hier wäre eine Fortführung der Studie z. B. mit Farbmarkierungswaffen und unter unterschiedlichen Bedingungen (Bewegung, Anschlag etc.), sowie mit unterschiedlichen Schießdistanzen aufschlussreich, um den Transfer der Ergebnisse zu sichern.
4
Studie „Schießen auf Täter mit Schutzwesten“
Die nachfolgend beschrieben Studie wird bei Lorei und Stiegler (2014b) ausführlich dokumentiert.
4.1
Hintergrund
Polizeibeamt*innen schießen mitunter, um Personen an einem Angriff oder der Flucht zu hindern. Dabei schießen sie, bis diese Trefferwirkung eintritt. Dass beim Schießen eine Wirkung ausbleibt, kann verschiedene Ursachen haben. Es kann sein, dass die/der Polizeibeamt*in nicht getroffen hat. Ebenso kann sie/er aber auch getroffen haben, dies aber an einer Stelle, an der die Wirkung gar nicht oder zeitlich stark verzögert auftritt (vgl. Rothschild und Kneubühl 2012). Mitunter kann es auch vorkommen, dass ein durch Schutzausrüstung geschützter Bereich des Gegenübers getroffen wurde und deshalb keine entsprechende Trefferwirkung auftritt. Entsprechend wird in Aus- und Fortbildung darauf hingewiesen, dass nach einer solchen Feststellung beim anschließenden Zielen dann ein alternatives Zielgebiet ausgewählt werden sollte. Häufig wird hierbei der Kopf genannt. Unabhängig davon, ob dies rechtlich, taktisch oder medizinisch günstig oder richtig ist, gehen diese Diskussionen davon aus, dass in einer solchen Situation sowohl die Wahrnehmung als auch die Steuerung des Schießens umfassend bewusst, kontrolliert und effektiv abläuft. Dies wird für entsprechend trainierte Personen sicherlich auch zutreffen. Andererseits stellt die Stressforschung (vgl. Lorei 2014) infrage, ob in einer solchen Situation ein derartiges Handeln und effektive kognitive Prozesse bei allen Polizeibeamt*innen aufzufinden sein werden. Neben dieser möglichen kognitiven Beschränkung ist außerdem unklar, ob die Schießleistung auch für einen entsprechenden Treffer nach dem Wechsel des Zielbereiches ausreichend ist. Es liegen bisher keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse darüber vor, ob Polizeibeamt*innen in einer Situation, in der sie lebensgefährlich angegriffen wer-
344
C. Lorei
den, erkennen können, dass die/der Angreifer*in eine Schutzweste trägt, und sie ihr Schießverhalten deshalb entsprechend modifizieren und letztendlich dann auch wirkungsvoll treffen können. Die anschließend hier beschriebene Studie soll erste Erkenntnisse liefern, wie Polizeibeamt*innen bei einer Schießerei reagieren, in der sie feststellen müssen, dass ihre auf den Oberkörper des Gegenübers abgefeuerten Schüsse wirkungslos bleiben. Hier interessierte insbesondere der Wechsel des Zielgebietes von Oberkörper auf die Kopfregion des Gegenübers und die damit verbundene Trefferleistung.
4.2
Methode
Zur Erhebung empirischer Daten schossen 48 Polizeistudierende am Ende ihres Studiums in einer Schießanlage auf einen Schießfilm. Diese mussten dabei Entscheidungen treffen, ob sie eine erscheinende Person beschießen oder nicht. Entsprechend mussten sie dann auch schießen. Im Film trat ein Darsteller aus einem nicht einsehbaren Bereich in einen Türrahmen und blieb dort stehen. Dabei nahm er drei unterschiedliche Haltungen ein. Entweder war er unbewaffnet, er richtete eine Schusswaffe auf die/den Betrachter*in oder er richtete eine Schusswaffe auf den/die Betrachter*in, wobei er eine deutlich sichtbare Schutzweste trug. Wurde der Angreifer beschossen und getroffen, brach er zusammen. Trefferzone war dabei im Film beim Angriff ohne Schutzweste der gesamte Körper, beim Film mit Schutzweste der gesamte Körper außerhalb der Schutzweste. In der Simulation wurde nicht versucht, (zusätzlichen) Stress zu erzeugen. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Neuartigkeit der Übung, die Unsicherheit bzgl. der eigenen Entscheidungen und Ergebnisse und auch der durch die Übungsaufgabe erzeugte Zeitdruck Stress in einem mindestens moderaten Maß erzeugten. Das Ausmaß des empfundenen Stresses wurde aber weder kontrolliert noch erfasst. Es wird insgesamt angenommen, dass der Stress für alle Schütz*innen vergleichbar war.
4.3
Ergebnisse
Trefferquote auf angreifenden Tätern ohne Schutzweste Mit dem ersten Schuss trafen Schuss 44,4 % den Angreifer zentral. Bei 14,0 % traf dieser eher Randbereiche des Körpers. 41,6 % verfehlten mit dem ersten Schuss den Angreifer. Im Mittel betrug die dafür benötigte Reaktionszeit 1,23 Sekunden. Die Trefferquote ähnelt mehr oder minder stark dem, was Analysen realer Feuergefechte zeigen (vgl. Lorei und Balaneskovic 2020a) und was in vergleichbaren Studien gefunden wird (53,85 % Trefferquote bei Vickers und Lewinski 2012). Ergebnisse beim Angreifer mit Schutzweste War der Angreifer mit einer Schutzweste ausgerüstet, schoss fast ein Drittel (31,3 %) der Polizeibeamt*innen mit den ersten Schüssen mindestens einmal vorbei. 41,7 % trafen mit
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345
ihrem ersten Schuss sofort außerhalb des durch die Weste geschützten Bereichs. Die übrigen trafen mit mindestens einem Schuss die Schutzweste. Wenn die Person außerhalb der Schutzweste getroffen wurde, so fand sich der Treffer mehrheitlich dennoch im Oberkörper außerhalb der Schutzweste. Am zweithäufigsten wurden der Kopf sowie die Beine des Angreifers getroffen. Nur zweimal wurden die Arme des Angreifers beschossen. Es zeigt sich augenscheinlich kein konsistenes Verlagern des Zielgebietes auf den Kopf. Im Mittel wurde beim Täter mit einer Schutzweste eine Reaktionszeit von 1,82 Sekunden benötigt, bis ein Treffer außerhalb der Schutzweste erzielt wurde. Diese Reaktionszeit unterscheidet sich statistisch signifikant (p2-seitig = 0,000,) von der bei einem Angreifer ohne Schutzweste (im Mittel 1,23 Sekunden). Der Unterschied scheint dabei aber vor allem auf nur sieben Personen zurückzugehen, die deutlich langsamer reagierten als die anderen und mindestens 2,75 Sekunden benötigten. Zusammenhang der Schießfähigkeit im Deutschießen mit Schießen auf Schutzwestenträger Die Versuchspersonen wurden aufgrund ihrer Schießleistung beim Deutschießen auf eine 10er-Ringscheibe in zwei Leistungsgruppen eingeteilt. Fast jede/r der Gruppe mit besserer Schießgenauigkeit dort traf bei der Übung mit der Person mit Schutzweste mindestens einmal die Schutzweste. In der Gruppe mit den schlechteren Deutschussergebnissen trafen dort nur ca. jede/r Fünfte. Dieser Unterschied ist statistisch signifikant (p = 0,002). Die Reaktionszeit, bis ein Treffer außerhalb der Schutzweste erzielt wurde, unterschied sich bei den beiden Gruppen statistisch signifikant (p = 0,006). Während die schlechteren Deutschütz*innen im Mittel nach ca. 1,4 Sekunden ihr Ziel außerhalb der Weste trafen, benötigten die besseren Schütz*innen ca. 2,1 Sekunden. Dabei unterschieden sich die beiden Leistungsgruppen nicht bei der Trefferlage außerhalb der Schutzweste.
4.4
Fazit der Studie
Deutlich wurde, dass ein/e Polizeibeamt*in etwas länger braucht, um einen Angreifer zu treffen, der seinen Oberkörper durch eine Schutzweste schützt als einen, der diese Protektion nicht besitzt. Welche medizinische Wirkung dabei die unterschiedlichen Treffergebiete haben, bleibt dabei außer Acht. Im Mittel werden 0,6 Sekunden zusätzlich benötigt. Dies ist eine Zeitraum, in dem ein Angreifer ca. zwei Schuss auf den Polizeibeamten abgeben kann (Lewinski und Redmann 2009). Somit scheint diese Differenz nicht nur statistisch bedeutsam zu sein. Als Grund für diese Dauer kommt vor allem infrage, dass über 40 % der Versuchspersonen zunächst auf die Schutzweste schossen. Ca. 17 % trafen die Weste sogar wiederholt. Hiermit wäre zumindest ein Teil der Zeitdifferenz erklärt. Zunächst erstaunlich ist, dass schlechtere Deutschütz*innen schneller auf die Schutzweste zu reagieren scheinen. Sie trafen 0,7 Sekunden früher außerhalb der Schutzweste als gute Deutschütz*innen und erzielten auch seltener Schüsse auf die
346
C. Lorei
Schutzweste (im Verhältnis 1:5). Eine mögliche Erklärung für die guten Leistungen der schlechteren Schütz*innen beim Angriff des Schutzwestenträgers könnte sein, dass die Streuung ihrer Schüsse höher ist (niedrige Präzision) und damit Zufallstreffer außerhalb der Weste wahrscheinlicher werden. Dies entspräche auch Erkenntnissen einer Studie des Force Science Institutes (2007). Letztlich ist festzuhalten, dass ein/e Angreifer*in, die mit einer Schutzweste ausgestattet ist, in einem Feuergefecht mit der Polizei keine/n unüberwindbare/n Gegner*in darstellt. Zwar verzögert sich der Moment, bis ein Treffer erzielt werden kann. Die meisten Schütz*innen konnten dennoch innerhalb der ersten Sekunden wirksam treffen. Die wundballistische Wirkung dieses Treffers muss dabei an dieser Stelle offen bleiben, darf aber nicht vernachlässigt werden. Unbefriedigend dabei ist, dass die trotz Schutzweste erzielten Treffer mitunter nur Zufallstreffer waren und weniger das Ergebnis einer bewussten und sicheren Schießleistung. Es ist auf verschiedene Einschränkungen der Studie hinzuweisen. Einerseits wurden hier ausschließlich Studierende betrachtet. Diese haben einerseits ihre intensive Schießausbildung noch sehr präsent. Damit dürften ihre Schießleistungen eher hoch sein. Auch sind sie es durch die Schießausbildung und das intensive Einsatztraining im Studium „gewohnt“, Entscheidungen in der Art der Simulation zu treffen. In einem realen Einsatz stellt sich die Frage, wie erwartbar diese Entscheidung ist und ob diese genauso getroffen wird, da ja hier massive Konsequenzen resultieren. Damit können sich dann Reaktionszeiten und auch Trefferleistungen verändern. Auch ist die Belastung in solchen Einsätzen hoch, sodass sich noch Stresseffekte ergeben können (Lorei 2014). Des Weiteren haben die Versuchspersonen in der Simulation nur die Entscheidung zu treffen, zu schießen oder eben nicht zu feuern. Eine andere Lagebewältigung z. B. duch sich zurückzuziehen, Deckung ausnutzen etc. war nicht gegeben. Auch wurde eine realistische Trefferwirkung, die mitunter sehr verzögert auftritt (Rothschild und Kneubühl 2012), nicht simuliert. Letztendlich war die Schießentfernung von zehn Metern Distanz den meisten Entfernungen in echten polizeilichen Feuergefechten nicht entsprechend (Lorei und Balaneskovic 2020a). Entsprechend gilt es in nachfolgenden Studien, diese den Transfer möglicherweise beinträchtigenden Aspekte zu berücksichtigen.
5
Vor- und Nachteile unterschiedlicher Waffenhaltungen
Die nachfolgend beschriebene Studie wird bei Lorei und Stiegler (2014b) ausführlich vorgstellt.
5.1
Hintergrund
Während der polizeiliche Schusswaffengebrauch durch Gesetze sehr stark geregelt ist, ist die Waffenhaltung (aufmerksame Sicherungshaltung, entschlossene Sicherungshaltung
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347
und entschlossene Schießhaltung)1 dem einzelnen Waffenträger weitestgehend selbst überlassen. Genaue Ausführungen, welche Waffenhaltung wann, das heißt z. B. in welcher Situation, zu welchem taktischen Zweck oder bei welcher Gefährdung einzunehmen ist, finden sich weder in Polizeidienstvorschriften noch in Leitfäden. Bei der nachträglichen Analyse eines polizeilichen Schusswaffengebrauchs werden diese Waffenhaltungen analysiert. Insbesondere ist dies der Fall, wenn der Schuss nicht beabsichtigt abgegeben wurde (Lorei 2005). Das Einnehmen einer entsprechenden Haltung kann dann durchaus als Fahrlässigkeit angesehen werden. Im Einsatztraining werden entsprechend regelmäßig die Vor- und Nachteile thematisiert. Die Argumente basieren dabei häufig nur auf unsystematischen Erfahrungen und Meinungen ohne eine wissenschaftlich gesicherte Basis. Ein wesentlicher Aspekt der Diskussion dabei ist, dass die unterschiedlichen Waffenhaltungen verschiedene Reaktionszeiten für das Schießen produzierten würden sowie eventuelle Vorteile bzgl. der Trefferleistung bringen könnten. Dem häufig behaupteten zeitlichen Vorteil einer gezogenen Waffe wird dabei die Gefahr einer unbeabsichtigten oder verfrühten Schussabgabe entgegengehalten (Lorei 2005; Heim 2009). Ebenso werden psychologische Effekte auf das Gegenüber angeführt. Einerseits könnte die Bedrohlichkeit einer gezogenen Waffe das polizeiliche Gegenüber zum Einlenken veranlassen, andererseits könnte es aber auch eskalierend wirken. Im Nachfolgenden wird sich nur auf den Zeitaspekt, die Trefferleistung und die Möglichkeit einer unbeabsichtigten Schussabgabe bezogen und für diese Aspekte empirische Hinweise produziert. Weitere, hier nicht beschriebene Aspekte, wie Drohpotenzial, Aspekte des schnellen Wegsteckens etc. werden bei Lorei und Stiegler (2014a) diskutiert. Zeitvorteile der unterschiedlichen Waffenhaltungen Aveni (2006) sieht das Ziehen der Waffe als vorbereitende Handlung für eine konflikthafte Konfrontation und nimmt einen taktischen Vorteil durch eine „drastische“ Reduktion der Zeit, die benötigt wird, um auf eine tödliche Bedrohung zu reagieren. Er beruft sich dabei auf Studien, ohne diese zu benennen, die eine Reaktionszeitverbesserung von 66 bis 75 % aufzeigen, wenn eine Waffe vor der Schussabgabe bereits gezogen ist, gegenüber dem Fall, wenn die Waffe sich noch im Holster befindet. Er sieht den Zeitunterschied als sub stanziell für das Überleben an, da die meisten Polizeibeamt*innen seiner Meinung nach in der entsprechenden Zeitdifferenz vier Schuss abgeben könnten. Tobin und Fackler (1997) ermittelten die Reaktionszeiten von Polizeibeamt*innen beim Schießen aus der entschlossenen Schießhaltung auf ein akustisches Signal hin. Im Mittel benötigten die Polizeibeamt*innen dafür 0,365 Sekunden, (SD = 0,146; Range 0,18–0,89 Sekunden) wenn ihr Zeigefinger bereits vorher auf dem Abzug der Waffe lag, was für deutsche Polizist*innen aber den Vorschriften widerspricht. Befand sich der Für die entschlossene Schießhaltung existieren Rechtsauffassungen, dass diese im Sinne einer Androhung zu verstehen sei und deshalb die rechtlichen Voraussetzungen des Schusswaffengebrauches benötigten (Mantel 2001). Akzeptiert man diese Ansicht, sind die Waffenhaltung ebenso wie der Schusswaffengebrauch geregelt. 1
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C. Lorei
bzugsfinger längs des Griffstücks („Finger lang“), so brauchten die Versuchspersonen A im Mittel 0,677 Sekunden (SD = 0238; Range 0,24–1,24 Sekunden). Lewinski und Hudson (2003) führen außerdem an, dass die Reaktionen auf visuelle Reize langsamer seien als die auf akustische. Sie würden auch mit zunehmender Komplexität des Reizes länger. Lewinski und Hudson (2003) fanden auf ein visuelles Signal eine durchschnittliche Reaktionszeit von 0,31 Sekunden für die entschlossene Schießhaltung mit Abzugsfinger auf dem Abzug. Es müsse aber unterschieden werden, ob das visuelle Signal zum Schießen auffordere oder dies gerade nicht zu tun. Wenn also eine einfache Entscheidungsaufgabe gelöst werden musste, stieg die Reaktionszeit auf fast das Doppelte, nämlich 0,56 Sekunden, an (Baumgartner et al. 2006). Für eine der aufmerksamen Sicherungshaltung entsprechende Haltung fand Lewinski (2002) eine durchschnittliche Reaktionszeit von 1,0 Sekunden. Bei der entschlossenen Sicherungshaltung betrug sie bei ihm ungefähr 0,83 Sekunden. Für die entschlossene Schießhaltung maßen sie zwischen 0,35 und 0,54 Sekunden je nach Fingerlage und Blickrichtung. Insgesamt muss auch der Holstertyp bedacht werden, da unterschiedliche Holster sowie die dabei vorhandenen Sicherheitsfeatures zu verschiedenen Reaktionszeiten mit einer Differenz von bis zu 0,39 Sekunden führen können (Lewinski 2002). Blair et al. (2011) beobachteten bei Elite-Polizeibeamt*innen, die auf den Angriff eines Gegenübers reagieren sollten, im Mittel 0,39 Sekunden bis zur Schussabgabe aus der entschlossenen Schießhaltung. Vorteile hinsichtlich der Trefferleistung durch unterschiedliche Waffenhaltungen Aveni (2006) nimmt an, dass eine gezogene Waffe dazu führen könnte, dass sich die Schütz*innen mehr Zeit für das Schießen nehmen und dadurch präziser treffen würden. Hingegen fand White (2006) bei seiner Analyse von Schießereien in Philadelphia zwischen 1987 und 1992, dass es für die Trefferrate bzw. -genauigkeit keinen Unterschied machte, ob die Polizeibeamt*innen die Waffe bereits vor dem Schusswaffengebrauch gezogen hatten oder diese erst direkt zum Schießen aus dem Holster nahmen. Möglichkeit einer unbeabsichtigten Schussabgabe Als Nachteil sieht Aveni (2006), dass es bei gezogener Waffe zu unbeabsichtigten Schuss abgaben kommen kann. Mechanismen hierfür finden sich bei Lorei (2005) und Heim (2006). Beide untersuchten Bedingungen der unbeabsichtigten Schussabgabe. Es zeigt sich dabei, dass das Halten der Waffe unabhängig, ob in entschlossener Sicherungshaltung oder entschlossener Schießhaltung, eine unbeabsichtigte Schussabgabe möglich macht. Die Hand lediglich an der Waffe zu haben, während diese im Holster steckt, macht eine unbeabsichtigte Schussabgabe für verschiedene Auslösemechanismen der unbeabsichtigten Schussabgabe unempfindlicher, da u. a. durch die Bauart des Holsters bedingt der Finger sich meist nicht im Abzugsbügel befindet. Eine wahrnehmungsbedingte Auslösung erscheint aber auch hier denkbar (Heim 2009).
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5.2
349
Methode
Da die empirische Lage wie oben dargestellt noch sehr dünn zu sein scheint, wurde eine Studie (Lorei und Stiegler 2014a) durchgeführt, um mögliche Unterschiede zwischen den drei verschiedenen Waffenhaltungen in relativ realen Entscheidungsaufgaben zu erfahren: • Reaktionszeiten • Treffgenauigkeit • Risiko einer unbeabsichtigten Schussabgabe Untersucht wurden 48 Polizeistudierende am Ende ihres Studiums. Diese mussten in einem Schießfilm Entscheidungen treffen, ob sie eine Person beschießen oder nicht. Entsprechend mussten sie dann auch schießen. Dies war aus unterschiedlichen Waffenhaltungen heraus gefordert. Im Film trat ein Darsteller aus einem nicht einsehbaren Bereich in einen Türrahmen und blieb dort stehen. Dabei nahm er drei unterschiedliche Haltungen ein. Entweder war er unbewaffnet, richtete eine Schusswaffe auf den/die Betrachter*in oder er zeigte seinen Ausweis, wobei dies einer Schießhaltung ähnelte. Als Reaktionszeit wurde gemessen werden, wie viel Zeit von der Szene, in der der Angreifer vollständig erschienen war, bis zum Einschlagen des Schusses – registriert durch die automatische Trefferaufnahme der Schießanlage – verging.
5.3
Ergebnisse
Im Mittel benötigen die Schütz*innen aus der aufmerksamen Sicherungshaltung 1,15 Sekunden, um zu entscheiden, dass ein lebensgefährlicher Angriff vorlag, die Waffe zu ziehen, diese auf den Angreifer zu richten und einen Schuss abzugeben. Dabei unterschieden sich die Versuchspersonen untereinander deutlich (SD = 0,2386). Es gibt Personen, die weniger als eine Sekunde benötigten, und andere, die fast zwei Sekunden brauchten. Aus der entschlossenen Sicherungshaltung musste der Angriff als solcher identifiziert, die Waffe in Richtung Ziel gebracht und ein Schuss abgefeuert werden. Hierfür brauchten die Versuchspersonen im Mittel 0,98 Sekunden. Auch hier unterschieden sich die Versuchspersonen wieder deutlich (SD = 0,2494). Aus der entschlossenen Schießhaltung, die nur noch das Erkennen des Angriffs, das Entscheiden über Schießen/Nichtschießen und das Abfeuern der Waffe erforderte, fiel im Mittel nach 0,7548 Sekunden ein Schuss. In der dafür aufgewendeten Zeit unterschieden sich die Versuchspersonen noch deutlicher (SD = 0,3011). Insgesamt unterschieden sich die mittleren Reaktionszeiten für die verschiedenen Waffenhaltungen statistisch jeweils signifikant (p = 0,000) voneinander. Mehr als ein Drittel der Versuchspersonen erzielte aus der jeweiligen Schießhaltung keinen Treffer auf den Angreifer. Ca. ein Fünftel traf den Angreifer eher am Rand des entsprechenden Körperbereichs. Mehr als 40 % der Schütz*innen erzielten einen zentralen
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C. Lorei
Treffer. Die Trefferlagen der Schüsse aus den verschiedenen Waffenhaltungen unterschieden sich statistisch nicht signifikant (p = 0,580 bis 0,931). Die Szene, in der ein Ausweis gezeigt wurde, diente der Kontrolle einer unbeabsichtigten oder zumnindest unberechtigten Schussabgabe. In der entschlossenen Schießhaltung wurde einmal entsprechend geschossen. Dies kam nur in dieser Haltung vor.
5.4
Fazit der Studie
Für die verschiedenen Schießhaltungen haben sich unterschiedliche Reaktionszeiten gezeigt, bis ein Angreifer bekämpft wurde. Die hier gemessenen Zeiten sind etwas langsamer als die, welche in anderen Studien gefunden wurden. Dies wird vor allem auf die hier sehr realistische Entscheidungssituation zurückgeführt. Keinen Einfluss hatten die Schießhaltungen auf die Trefferquote. Diese war für alle drei Haltungen gleich und, wie aus anderen Studien bekannt, nur mittelmäßig hoch. Es konnte statistisch nicht signifikant gezeigt werden, dass die entschlossene Schießhaltung unberechtigte Schussabgaben provoziert bzw. die Sicherungshaltungen diese eher verhindern (dafür war die Anzahl zu gering). Dabei fand eine ungerechtfertigte Schussabgabe aus der entschlossenen Schießhaltung heraus statt, was als Hinweis gewertet wird, dass die Risikoannahme doch nicht zu verwerfen ist, sondern in nachfolgenden Studien weiter zu untersuchen ist. Die Methode der hier präsentierten Studie entspricht in vielerlei Hinsicht der der Studie zum Schießen auf Täter mit Schutzwesten. Entsprechend gelten die wesentlichen Hinweise auf Limitationen dort auch für die Studie hier. Deutlich zeigt sich bei der hier besprochenen Studie, dass die Anzahl der untersuchten Personen vergrößert werden müsste, um die Gefahr von unbeabsichtigten bzw. nicht zulässigen Schießentscheidungen prägnant zu prüfen. Geht man nämlich davon aus, dass dieses Risiko existiert, aber nur sehr selten in beobachtbarer Form auftritt, dann kann der Nachweis nur mit entsprechend großen Umfängen an Personen oder Durchgängen erfolgen. Auch war die Simulation hier nur von sehr kurzer Zeit und entsprach nicht einem realen Einsatz und Eskalationsverlauf, der sich häufig über einen längeren Zeitraum entwickelt (Lorei und Balaneskovic 2020a), aber auch sehr kurz und überraschend sein kann (Schmalzl 2005). Ob sich dann ein entsprechender Verlauf auf die Möglichkeit einer unbeabsichtigen Schussabgabe auswirkt, wie dies bei Heim (2009) gezeigt wurde, muss hier unklar bleiben. Auch dürfte das Stressniveau nicht annähernd dem entsprechen, was in einer entsprechenden realen Situation vorherrscht und dann Entscheidungen beeinträchtigen kann (Lorei 2014). Neben der Wirkung von Stress auf Entscheidungen wird Stress als Einflussfaktor auf eine unbeabsichtigte Schussabgabe diskutiert (Lorei 2005). Insgesamt kann also angenommen werden, dass die Bedingungen in der Simulation hier eher das Auftreten von unbeabsichtigten oder ungerechtfertigten Schussabgaben weniger fördern als in der Realität. Nachfolgende Studien sollten diese Aspekte einschließen. Nicht diskutiert wurden hier auch psychologische Effekte der unterschiedlichen Schießhaltungen auf Schütz*in und Gegenüber. Bei einer taktischen Auswertung der
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351
tudienergebnisse ist dies einzubeziehen. Ebenso ist dabei zu bewerten, wie gut eine entS sprechende Haltung in der realen Situation eine Schussabgabe vorbereitet. So kann in stark beengten Räumlichkeiten ein Ziehen und Zielen aus der aufmerksamen Sicherungshaltung deutlich erschwert sein, während die entschlossene Sicherungshaltung dies vielleicht erleichtert. Dann ergeben sich daraus weitere Zeitdifferenzen und eventuell sogar Unterschiede in der Trefferleistung. Dies ist ebenso in nachfolgenen Studien zu erproben.
6
Studie „Umstände und Folgen von Warnschüssen“
Die nachfolgend in Auszügen dargestellte Studie wird bei Lorei 2012a, b ausführlich beschrieben.
6.1
Hintergrund
Ein Warnschuss ist die beabsichtigte Schussabgabe mit dem Ziel, eine positive Verhaltens änderung bei einer anderen Person zu bewirken (LAAW International 1994). Dabei kann der Warnschuss abgegeben werden, damit eine Person ihre Flucht beendet, eine Waffe ablegt, um die Aufmerksamkeit einer potenziell gewalttätigen Menschenmenge zu erhalten oder zu ähnlichen Zwecken. Jährlich geben Polizeibeamt*innen in Deutschland zwischen ca. 30 bis 60 Warnschüsse ab. Die IMK registrierte 2019 insgesamt 43 Fälle mit Warnschüssen (siehe Tab. 1). Dies sind etwas weniger Schusswaffengebräuche als Schüsse direkt auf Personen. Identisch ist dabei der rechtliche Hintergrund, da Warnschüsse in den Polizeigesetzen als Androhung des Schusswaffengebrauchs eben dieselben Voraussetzungen erfordern. In vielen europäischen Ländern wie z. B. Deutschland, Österreich und den Niederlanden, aber nicht in allen (Lorei und Balaneskovic 2020b) ist der Warnschuss als polizeiliches Handeln erlaubt und durch Vorschriften oder Ähnliches geregelt oder sogar im Sinne einer Androhung des Schusswaffengebauchs gegen Personen vorgeschrieben. Hingegen ist er von den meisten Polizei-Behörden in den USA routinemäßig aus verschiedenen Gründen untersagt (LAAW International 1994). Dabei spielen verschiedene Aspekte bei der Diskussion eine Rolle (LAAW International 1994; ausführliche Diksussion bei Lorei 2012a): • Pro Warnschuss –– kann einen Flüchtigen stoppen –– kann aggressives Verhalten einer Person mildern oder beenden –– kann die Aufmerksamkeit einer Menschenmenge erregen –– kann einen Zeitgewinn darstellen • Kontra Warnschuss –– kann eine unbeteiligte Person beeinträchtigen oder verletzen (wenn dies der Fall ist, ist er rechtlich nicht zulässig)
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C. Lorei
–– kann eine Person treffen, obwohl der Einsatz potenziell letaler Einsatzmittel nicht gerechtfertigt ist (dieses scheint in Deutschland irrelevant, da ein Warnschuss nur zulässig ist, wenn auch der Schusswaffeneinsatz gegen die Person rechtlich erlaubt ist) –– kann eine/en andere/n beteiligte/n Polizist*in beeinflussen, ungerechtfertigt zu schießen –– kann die/den Empfänger*in des Warnschusses zur Eskalation ihres/seines Gewalteinsatzes gegen die Polizei veranlassen –– kann Schaden an Sachen verursachen –– die Klassifikation einer Schussabgabe als Warnschuss könnte missbraucht werden, wenn versehentlich oder ungerechtfertigt ein Schusswaffengebrauch stattfand –– kann Angst in Unbeteiligten hervorrufen Diese Diskussion findet dabei rein theoretisch statt, da empirische Analysen im Wesentlichen fehlen. Um erste fundierte wissenschaftliche Ergebnisse zu erhalten und die Diskussion fachlich führen zu können sowie Aspekte für Aus- und Fortbildung zu erhalten, wurden deshalb Warnschüsse in Deutschland analysiert.
6.2
Methode
Empirische Grundlage der Untersuchung ist eine schriftliche Befragung eines Teils der Polizeibeamt*innen, die 2008 oder 2009 einen Warnschuss abgegeben hatten.
6.3
Ergebnisse
Die „Gewarnten“ Die Mehrheit der Personen, an die sich der Warnschuss richtete, war polizeilich bekannt, am häufigsten wegen Gewalt- und Eigentumsdelikten. Dabei waren jedoch nur wenigen Polizist*innen diese Falldaten schon vor dem Einsatz bekannt. Drei Viertel der Gewarnten erschienen nüchtern. Im Einwirkungsbereich befanden sich bei einem Fünftel Schusswaffen und bei einem Drittel Stich- und Schnittwaffen. Weniger als ein Fünftel hatte Hiebwaffen oder gefährliche Gegenstände. Ein Drittel hatte keine Gegenstände, von denen einen Gefahr hätte ausgehen können, im Zugriff. Die Situation Die Mehrheit der Einsätze (70,8 %) waren ungeplante Aktionen, die sich im Rahmen des regulären Dienstes zu völlig unterschiedlichen Anlässen ergeben hatten. Die Mehrheit der Einsätze fand nachts und in dunklen Lichtverhältnissen statt. Vor dem Warnschuss wurde meist bereits der Schusswaffengebrauch angedroht. Mitunter wurde zuvor auch das
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fefferspray oder körperliche Gewalt angedroht, was zu sehr unterschiedlichem Verhalten P wie Fluchversuchen, Bedrohen, Angriffen oder gar keiner Reaktion führte. Reaktion des Warnschussempfängers Fast in der Hälfte aller Fälle wurde angegeben, dass das polizeiliche Gegenüber, dem der Warnschuss galt, keinerlei Reaktion bzw. keine Verhaltensänderung auf den Warnschuss zeigte. In der Mehrheit der Fälle versuchte der/die Warnschussempfänger*in (weiter) zu flüchten. Nur in einem Viertel aller untersuchten Warnschussabgaben gab der/die Empfänger*in sein/ihr zuvor gezeigtes Verhalten auf – wenn auch teilweise nur für kurze Zeit. In zwei Fällen kam es nach der Warnschussabgabe zur Eskalation, wobei einmal ein Angriff auf die Polizei stattfand, ein anderes Mal das der Polizei gezeigten Drohverhalten gegen Dritte wiederholt wurde und der/die Empfängerin sich zur Umsetzung seiner/ihrer Drohungen vorbereitete. Vorbereitet sein auf die Situation Die Mehrheit der Schütz*innen gab an, dass sie auf einen Warnschuss höchstens theoretische und hier im Schwerpunkt nur rechtlich vorbereitet wurden. Nur wenige haben im Rahmen von Aus- oder Fortbildung dies auch praktisch geübt, psychologische Aspekte besprochen oder Orte, wohin ein Warnschuss gerichtet werden kann, diskutiert.
6.4
Fazit der Studie
Die Frage, ob die Abgabe eines Warnschusses effektiv ist oder nicht, kann u. a. anhand der Reaktionen des Gegenübers, dem der Warnschuss galt, diskutiert wer den. Allerdings kann der Warnschuss rechtlich notwendig und damit unabhängig davon abzugeben sein, ob er beim Gegenüber etwas bewirkt oder nicht. Die in dieser Studie gefundenen Reaktionen auf einen Warnschuss sind in Bezug auf dessen psychologische Effektivität eher enttäuschend. Die meisten Personen in dieser Studie reagierten gar nicht oder flüchteten nach dem Warnschuss. Lediglich ein Viertel gab auf. Zudem gab es als Reaktion auch eskalierende Verläufe wie einen Angriff auf eine/n Polizist*in und die Vorbereitung, vorherige Drohungen gegen Dritte umzusetzen. Es lässt sich zusammenfassen, dass es keine sichere und bestimmte Reaktion auf einen Warnschuss gibt. Vielmehr kann er eine gewünschte Wirkung haben – dies zeigt ja ein Viertel der Fälle –, diese kann aber auch ausbleiben oder gar ins Gegenteil umschlagen. Diese Erkenntnis – so trivial sie vielleicht erscheinen mag – ist wesentlich und sollte in die Aus- und Fortbildung transportiert werden. Denn so vorbereitet ist man nicht überrascht, wenn die erhoffte Wirkung eines Warnschusses nicht eintritt, und man bleibt handlungsfähig. Man kann und sollte sich auf verschiedene Reaktionen beim Gegenüber einstellen und entsprechende Maßnahmen vorbereiten (der sog. „Plan-B“). Nach den Ausführungen der Befragten wird das Thema Warnschuss zwar teilweise in Aus- und Fortbildung behandelt, doch erfolgt dies eher selten und geht kaum über
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C. Lorei
r echtliche Aspekte hinaus. Deshalb sollten insoweit sowohl psychologische als auch taktische und auch ballistische Lerninhalte die entsprechenden Lehrveranstaltungen ergänzen. Des Weiteren sind Trainingsszenarien, die auf eine Warnschussabgabe fokussieren, empfehlenswert. Sie sollten in die entsprechenden Curricula aufgenommen werden. Einschränkend ist zu sagen, dass nur ein Fünftel der Gesamtzahl aller in dem Zeitraum relevanten Fälle in diese Untersuchung einbezogen werden konnte. Als Konsequenz ist die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse eingeschränkt, zumal ein selektiver Rücklauf nicht ausgeschlossen werden kann. Aufgrund der geringen Fallzahl sind dann leider auch nur bedingt Muster zu erkennen, da die Situationen sehr unterschiedlich und Abläufe teilweise sehr speziell sind. Daher können dann Regelmäßigkeiten nicht sehr salient und augenfällig sein und deshalb übersehen werden. Somit stellt diese Studie nur eine erste Näherung dar. Vor einer Übertragung der Ergebnisse auf andere polizeiliche Schusswaffengebräuche ist zu warnen, da sich Bedingungen und Verläufe massiv unterscheiden können. Letztendlich ist dies aber auch unklar, da Analysen von polizeilichen Schusswaffengebräuchen in Deutschland nur selten und unsystematisch erfolgen. Es ist zu fordern, dass entsprechend die verschiedenen Arten des polizeilichen Schusswaffengebrauchs analysiert werden und in Aus- und Fortbildung entsprechend einfließen, um eine möglichst optimale Vorbereitung auf „den Ernstfall“ zu ermöglichen. Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Der Beitrag wurde mit der Feststellung eingeleitet, dass der polizeiliche Schusswaffengebrauch eine der intensivsten Formen der Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols und wahrscheinlich die gravierendste Eingriffsmaßnahme darstellt, die ein/e Polizeibeamt*in durchführen kann. Mit fünf Studien konnte gezeigt werden, dass mit Analysen und Forschung belastbare Erkenntnisse produziert werden, die eine Vorbereitung auf den Ernstfall zu verbessern helfen. Entscheider*innen müssen dafür sorgen, dass Polizist*innen optimal auf den „Fall der Fälle“ vorbereitet sind. Hierfür haben Entscheider*innen drei Aufgaben. Sie müssen erstens ermöglichen, dass die in der Realität aufgetretenen Fälle systematisch analysiert und ausgewertet werden, um alle Aspekte diesbezüglich zu verstehen und eine fundierte Wissensbasis zu haben. Zweitens müssen sie dafür sorgen, dass auf dieser Grundlage die unterschiedlichen Aspekte wissenschaftlich untersucht werden, um geeignete Trainingsmaßnahmen daraus abzuleiten. Drittens müssen sie darauf aufbauend Trainingsmöglichkeiten schaffen, die eine optimale Vorbereitung ermöglichen. Diese umfassen neben der räumlichen, technischen und personellen Ausstattung auch eine stets fortschreitende Qualifikation der Einsatztrainer*innen und vor allem das Bereitstellen von Trainingszeit für Polizeibeamt*innen.
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b) Einsatzkräfte Einsatzkräfte, die sich bestmöglich vorbereiten wollen, müssen sich über die Realität informieren und die trainieren. Analysen von Einsätzen und die Ergebnisse von Forschung helfen, das Repertoire von Handlungsoptionen zu erweitern (z. B. Plan B nach einem Warnschuss, Wahl eines alternativen Zielgebietes bei mangelhafter Trefferwirkung), mögliche kritische Situationen besser einzuschätzen (z. B. wie gut treffe ich in der vorliegenden Situation?), riskante Verhaltensweisen zu vermeiden (z. B. eine unbeabsichtigte Schussabgabe) und sich bewusst für Handlungen zu endscheiden (z. B. sich für einen Schuss auf eine/n Täter*in etwas Zeit zu lassen, um besser zu treffen oder im Gegenteil, darauf vertrauen zu können, zu treffen, obwohl man schnellstmöglich schießt; die taktisch sinnvollste Schießhaltung einzunehmen). Letztendlich ist die beste Vorbereitung, sich vorzubereiten: sowohl mental als auch durch kontinuierliches Üben der unterschiedlichen, realistischen Aspekte des polizeilichen Schusswaffengebrauchs. c) Einsatztrainer*innen Für Einsatztrainer*innen stellen die Ergebnisse der Studien ein Fundament und eine Ergänzung für ihre Lehre und Training dar. Sie können sowohl damit taktische Empfehlungen untermauern sowie z. B. das Einnehmen der verschiedenen Schießhaltungen in verschiedenen Situationen und zu unterschiedlichen Zwecken diskutieren als auch die Abwägung der Verhältnismäßigkeit in realistischen Situationen trainieren. Daneben zeigen die Ergebnisse, dass eine grundlegende Schießfertigkeit die Basis für einen Schusswaffengebrauch in unterschiedlichen Situationen darstellt. Aber sie belegen auch, dass dies alleine nicht ausreicht, sondern spezifische Arten zu schießen trainiert werden müssen. Letztendlich sind für die unterschiedlichen Arten von polizeilichen Schusswaffengebräuchen und deren verschiedenen Aspekte, wie sie in der Realität vorkommen, entsprechende Übungen durchzuführen. Nur dadurch sind eine realistische Vorbereitung, der Erhalt der Handlungsfähigkeit in lebensgefährlichen Einsatzlagen sowie deren korrekte Bewältigung möglich.
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C. Lorei
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Aspekte des polizeilichen Schusswaffengebrauchs zur realistischen Gestaltung des …
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Taktische Blickführung und Aufmerksamkeitsausrichtung in polizeilichen Hochstresssituationen Benedikt Heusler
Inhaltsverzeichnis 1 V isuelle Wahrnehmung und Aufmerksamkeit 2 Polizeitaktische Aspekte 2.1 Gefahrenerkennung 2.2 Taktische Blickführung und Aufmerksamkeitsausrichtung 3 Aus- und Fortbildung Literatur
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Zusammenfassung
Polizeivollzugsbeamt*innen müssen sich im Dienst auf ihre visuelle Wahrnehmung verlassen können. Vor allem bei der Erkennung von Gefahren spielen Blickführung und Aufmerksamkeitsausrichtung eine entscheidende Rolle. Studien zeigen, dass noch vor polizeilicher Diensterfahrung insbesondere ein hoher Trainingsstand positive Auswirkungen auf Blickführung, taktisches Verständnis und Gefahrenerkennung hat. Anhand praktischer Beispiele werden in diesem Beitrag Blickführungsmuster thematisiert, die gezielt kritische Regionen des polizeilichen Gegenübers priorisieren und unter Stress die Gefahr eines „Wahrnehmungslochs“ reduzieren können. Abschließend wird Entscheider*innen und Einsatztrainer*innen nahegelegt, der Thematik verstärkt Aufmerksamkeit zu widmen und antiquierte Trainingskonzepte zu überdenken. Einsatzkräften Reviewer*innen: Sandra Adiarte, Michael Hauk B. Heusler (*) Deutsche Hochschule der Polizei, Fachgebiet II.4, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_19
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wird geraten, die polizeiliche Aus- und Fortbildung im Hinblick auf Wahrnehmungselemente proaktiv zu reflektieren und sinnvoll mitzugestalten. Trainierende sind keine reinen Konsument*innen, sie müssen aktiv am Training teilnehmen und die vermittelten Inhalte nicht nur lernen – sondern vor allem verstehen.
Polizeivollzugsbeamt*innen (PVB)1 sind in ihrem alltäglichen Dienst darauf angewiesen, potenzielle Gefahren visuell schnell erkennen und einschätzen zu können. Bewusste Blickführungsstrategien und ein ausgeprägtes Verständnis darüber, an welchen Stellen Waffen und gefährliche Gegenstände beim polizeilichen Gegenüber (PGÜ)2 zu erwarten sind, reduzieren das Risiko bei lebensbedrohlichen Angriffen erheblich. Ziel dieses Beitrags ist es, den Leserkreis wissenschaftlich fundiert über die taktische Relevanz einer bewussten Blickführung und Aufmerksamkeitsausrichtung unter Stress zu informieren und Ausbildenden sowie Trainierenden praktische Hinweise zu einer optimierten Aus- und Fortbildung an die Hand zu geben. Im Bereich der Sportwissenschaften wird seit Jahrzehnten Eye-Tracking3-Technologie genutzt, um die visuelle Wahrnehmung und taktische Blickführung von Experten zu untersuchen und diese trainingsunterstützend einzusetzen (Edworthy et al. 2000; Ripoll et al. 1985, 1995; Vickers 1992, 1996a, b, 2011; Vine et al. 2014). Bei der Übertragung sportwissenschaftlicher Erkenntnisse auf das polizeiliche Einsatztraining ist jedoch Vorsicht geboten. Selbst Sportarten, die scheinbar vergleichbare Elemente beinhalten – wie z. B. das Schießen im Biathlon –, können nur bedingt im Hinblick auf polizeiliche Hochstresssituationen interpretiert werden. So müssen sich Biathlet*innen beispielsweise zu keinem Zeitpunkt die für PVB wohl kritischste Frage stellen: Darf überhaupt geschossen werden? Gallicchio et al. (2016) stellten zudem fest, dass hochklassige Biathlet*innen zur Steigerung der Trefferwahrscheinlichkeit gezielt alle verfügbaren mentalen Ressourcen auf den Schießvorgang fokussieren und andere kognitive Prozesse aktiv ausblenden. PVB dürfen ihre mentale Flexibilität jedoch nicht absichtlich einschränken, da sich das Gefahrenpotenzial, taktische Umstände und das Umfeld in hochdynamischen Situationen jederzeit unerwartet ändern können. Neben der Sportpsychologie forscht vor allem die allgemeine Kognitionspsychologie schon seit Dekaden ausgiebig über Blickführung und aktive Blicksteuerung. Im polizeilichen Kontext sind vergleichbare Untersuchungen jedoch wesentlich jünger und daher
Inhalte dieses Kapitels gelten u. U. gleichermaßen für Vollzugsbeamt*innen weiterer Behörden (Zoll, Justiz etc.). 2 Nichtpolizeiliche Personen, die Gegenstand polizeilicher Maßnahmen sind oder mit PVB interagieren. 3 Eye-Tracker: ein mobiles oder stationäres Gerät, das Blickpfade anhand von Augenbewegungen feststellt. 1
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noch vergleichsweise rar. Auch militärische Studien sind kaum zu finden, dies mag aber vor allem daran liegen, dass militärische Erkenntnisse als Verschlusssachen meist nicht öffentlich zugänglich sind. Obwohl PVB in ihrem täglichen Dienstgeschäft jederzeit mit potenziell tödlichen Situationen konfrontiert werden können, treten solche Worst-Case-Szenarien glücklicherweise nicht routinemäßig ein. Umso wichtiger ist es, dass sich PVB in diesen seltenen und hochdynamischen Situationen auf erlernte Handlungskompetenzen verlassen können. Hierzu gehören unter anderem eine schnelle Aufmerksamkeitsausrichtung, Gefahrenerkennung, Situationsbewertung und Entscheidungsfindung unter Stress (Helsen und Starkes 1999; Vickers und Lewinski 2012).
1
Visuelle Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
Etwa ein Drittel des menschlichen Gehirns ist der visuellen Wahrnehmung vorbehalten. Dieser Umstand unterstreicht eindrucksvoll, welchen Stellenwert das Sehen bei der Wahrnehmung von externen Reizen einnimmt (Findlay und Gilchrist 2003). Auch bei der Benutzung von Werkzeugen4 spielt die visuelle Wahrnehmung eine entscheidende Rolle, da sie oftmals entscheidende Rückmeldungen bezüglich Bewegung, Distanz und deren Verhältnis vermittelt. Wahrnehmung und Aktion sind also eng miteinander verbunden (Gibson 2015; Sack und Sutter 2017; Sutter et al. 2013). Obwohl das menschliche Gehirn eine weitgehend realistische und verlustfreie Wahrnehmung simuliert, ist die Aufnahme und Verarbeitung visueller Reize stark limitiert. Neben rein physikalischen Faktoren spielen auch interne Prozesse eine entscheidende Rolle bei der Frage, welche Reize abschließend tatsächlich bewusst wahrgenommen werden. Maximal scharfes Sehen ist beispielsweise nur in einem Winkel von ca. 2° (foveales Sehen) möglich. Dies entspricht in etwa der Fläche des eigenen Daumennagels am ausgestreckten Arm. Zudem muss sich die Linse des Auges auf die entsprechende Distanz zum Objekt einstellen, bei Fokuswechseln zwischen nah und fern kann diese Anpassung unter Umständen mehr als eine Sekunde dauern. Sehen außerhalb des fovealen Bereichs, vor allem aber ab 5°, wird als peripheres Sehen bezeichnet. Während foveales Sehen die zweifelsfreie Identifizierung von Objekten und das verlässliche Erkennen von Veränderungen begünstigt, können Bewegungen meist gut peripher wahrgenommen werden. Die foveale Ausrichtung des Blicks auf einen Stimulus wird (meist ab einer Verweildauer von 100 ms) als Fixation bezeichnet, die Blicksprünge dazwischen als Sakkaden. Während der Sakkaden ist keine visuelle Reizverarbeitung möglich (Carrasco 2011; Castelhano et al. 2009; Findlay und Gilchrist 2003; Hoffman 1998; Irwin 1992; Rayner 2009; Salvucci und Goldberg 2000; Yarbus 1967).
4
Im polizeilichen Kontext sind hier vor allem Führungs- und Einsatzmittel zu nennen.
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Weiterhin können Kapazitätsgründe dazu führen, dass visuelle Informationen gar nicht oder nur mangelhaft verarbeitet werden. Da das menschliche Gehirn nicht in der Lage ist, alle visuellen Reize ausnahmslos und verlustfrei zu verarbeiten, werden Informationen automatisch priorisiert, aussortiert und interpretiert. In den meisten Fällen bieten diese Interpretationen eine solide Repräsentation der Umwelt und ermöglichen somit eine problemfreie Orientierung. Die wohl eindeutigsten Beispiele für mangelhafte oder sogar fehlerhafte Interpretation optischer Reize sind die Effekte von Veränderungsblindheit (change blindness), kognitive blinde Flecken (cognitive blind spots) und optische Täuschungen (Findlay und Gilchrist 2003; Gibson 2015; Rensink 2002, 2005; Rensink et al. 2016). Kernaussagen
• Nicht jeder visuelle Reiz wird kann scharf aufgenommen werden. • Nicht jeder aufgenommene visuelle Reiz wird bewusst wahrgenommen. • Nicht jeder bewusst wahrgenommene Reiz wird korrekt interpretiert. ◄ Groner und Groner (1989) geben an, dass der dominante Sehsinn das menschliche System zur Reiz- und Informationsverarbeitung sowohl bottom-up (z. B. bei der Aufnahme von visuellen Informationen aus der Umwelt) als auch top-down (bspw. bei der bewussten Steuerung des Blicks auf Objekte) beeinflusst. Übereinstimmend mit dieser Feststellung kommen Findlay und Gilchrist (2003) zu dem Schluss, dass ein rein passiver Erklärungsansatz der Komplexität menschlicher visueller Wahrnehmung nicht gerecht wird. Sie beschreiben die Fertigkeit, Fixationen gezielt zu steuern, erwünschte Informationen zu extrahieren und diese anschließend bewusst zu verarbeiten, als „aktives Sehen“. Aktive visuelle Suche nach Reizen beinhaltet systematisches „Scanning“, das entweder direkt kognitiv gesteuert oder auch unbewusst auftreten kann. Obwohl saliente Reize5 eine Verlagerung des Blicks und der Aufmerksamkeit provozieren können, scheint aktive visuelle Suche mehr von bewussten Strategien und kognitiven Prozessen gelenkt zu werden. So kann Scanning beispielsweise verbessert werden, indem trainiert wird, wann und wohin geblickt werden soll. Weiterhin kann auch erlernt werden, welche wichtigen Informationen während der Fixationen extrahiert werden sollen. Zudem können Scanning- Strategien durch visuelles Priming,6 gezielte Aufgabenstellungen und Aufmerksamkeit beeinflusst werden (Castelhano und Henderson 2007; Castelhano et al. 2009; Dewhurst und Crundall 2008; Gilchrist und Harvey 2006; Henderson et al. 2007; Körber 2016; Loftus und Mackworth 1978; Yantis und Egeth 1999). Ein weiterer zentraler Aspekt visueller Wahrnehmung ist neben der Blickführung auch die eben genannte Aufmerksamkeit. Während reine Blickführung objektiv mit einem
Saliente Reize sind Stimuli, die den Blick des Betrachters förmlich auf sich ziehen. Gründe hierfür können außergewöhnliche Farbe, Größe, Form oder situativer Kontext sein. 6 Priming beschreibt die Voraktivierung oder Vorbereitung auf einen Ziel-Reiz durch einen Priming-Reiz. 5
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Eye-Tracker aufgezeichnet und ausgewertet werden kann, handelt es sich bei Aufmerksamkeit um einen internen Prozess. Posner et al. (1980) sowie Eriksen und St. James (1986) geben an, dass visuelle Wahrnehmung am meisten davon profitiert, wenn visuelle Aufmerksamkeit nicht geteilt, sondern auf jeweils nur ein Objekt ausgerichtet wird. Es ist jedoch fraglich, ob eine parallele Aufmerksamkeitsverteilung überhaupt möglich ist. McMains und Somers (2004) stellten beispielsweise fest, dass Versuchspersonen ihre Aufmerksamkeit nur scheinbar auf zwei Bereiche parallel lenken konnten, indem sie den Fokus schnell zwischen den Regionen hin und her verschoben. Blickführung entspricht also nicht zwangsläufig visueller Wahrnehmung. Trotz Fixierung des Blicks auf einen Stimulus kann es sein, dass die Aufmerksamkeit bewusst auf einen anderen Reiz konzentriert wird. Weiterhin kann es sein, dass visuelle Informationen trotz Fixation schlichtweg nicht verarbeitet werden (Carrasco 2011; Dewhurst und Crundall 2008; Duchowski 2003; Findlay und Gilchrist 2003; Holmes et al. 1977). Beispiel für Aufmerksamkeitsverschiebung
Ein PGÜ hält während einer Kontrollmaßnahme den Blickkontakt mit einem PVB. Trotz Fixation auf das Gesicht des PVB wird peripher nach einem Fluchtweg gesucht. ◄ Beispiel für fehlende Reizverarbeitung:
Im praktischen Einsatztraining hat ein PVB gelernt, dass er sich nach der Fesselung eines PGÜ nach weiteren Gefahren umsehen sollte. Der PVB blickt automatisch wie im Training um sich, nimmt jedoch nicht bewusst wahr und übersieht unter den umstehenden Personen einen zweiten bewaffneten Täter. ◄ Eine bewährte Methode der Blickführungsoptimierung ist das sogenannte „Quiet Eye“, welches erstmalig von Vickers (1996a, b) beschrieben wurde. Ein Quiet Eye zeichnet sich durch Fixationen auf das gewünschte Ziel (z. B. Tor oder Zielscheibe) anstatt auf das Objekt (z. B. Ball oder Pistole) kurz vor und während der Schussabgabe aus. Der Nutzen dieser „ruhigen“ Blickführung konnte unter anderem im Schießsport, Darts, Eishockey und verschiedenen Ballsportarten7 nachgewiesen werden. Versuchspersonen mit einem Quiet Eye zeigten auch unter Stress eine bessere Performanz als Versuchspersonen, deren Blick unmittelbar vor und während der Aktion unruhig war (Behan und Wilson 2008; Causer et al. 2010; Edworthy et al. 2000; Lebeau et al. 2016; Piras und Vickers 2011; Vickers 2011; Vickers und Lewinski 2012; Vickers und Williams 2007; Vine et al. 2014; Vine und Wilson 2010, 2011; Wood und Wilson 2012). Vergleichbare Effekte konnten auch im polizeilichen Kontext festgestellt werden. So zeigten polizeiliche Versuchspersonen mit Quiet Eye in realitätsnahen Trainingsszenarien eine höhere Treffgenauigkeit und Entscheidungssicherheit. Selbst unter künstlichem
7
U. a. Fußball, Volleyball, Basketball und Golf.
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Stress konnten PVB, die kurz vor Schussabgabe das Ziel fixierten, ihre Trefferleistung signifikant verbessern (Nieuwenhuys und Oudejans 2011; Vickers und Lewinski 2012). Studien aus angrenzenden Forschungsfeldern decken sich mit diesen Erkenntnissen und bestätigen, dass Quiet-Eye-Training nicht nur Treffgenauigkeit, sondern auch Stressresistenz stärkt (Moore et al. 2012; Vine et al. 2014; Vine und Wilson 2010, 2011). Diese Erkenntnisse legen nahe, dass erlernbare Blickführungsstrategien die polizeiliche Handlungskompetenz in Hochstresssituationen erheblich optimieren können.
2
Polizeitaktische Aspekte
Trotz des vergleichsweise jungen Forschungsfeldes existieren bereits Studien, die sich explizit mit der Blickführung von PVB beschäftigen (für einen Überblick siehe Heusler und Sutter 2020a). Auf Basis dieser Studien kann davon ausgegangen werden, dass sich visuelle Expertise im polizeilichen Kontext aus angeborenen Fähigkeiten und erlernten Fertigkeiten zusammensetzt, die durch Praxiserfahrung und gezieltes Training weiterentwickelt werden können.
2.1
Gefahrenerkennung
PVB müssen sich nicht nur in Extremfällen, sondern auch in ihrem alltäglichen Dienstgeschäft darauf verlassen können, Waffen und gefährliche Gegenstände schnell und zuverlässig visuell wahrzunehmen (Körber 2016; Körber und Neuberger 2009; Neuberger 2013; Vickers und Lewinski 2012). Dies deckt sich mit militärischen Erkenntnissen aus einer von Alt und Darken (2008) durchgeführten Studie. Befragte Soldaten nahmen Gefahren in Gefechtssituationen bei Tageslicht ausschließlich visuell wahr. Selbst bei nächtlichen Lichtverhältnissen wurden noch fast die Hälfte (44 %) der Gefahrenreize optisch wahrgenommen. Körber (2016) konnte durch mehrere Experimente zeigen, dass polizeiliche Versuchspersonen bei der Suche nach gefährlichen Objekten effizientere Blickführungsstrategien nutzten und Gefahrenquellen somit schneller feststellten als zivile Vergleichspersonen. Außerdem konnten die polizeilichen Expert*innen ihren Blick schneller von gefährlichen Gegenständen lösen und so zügiger nach weiteren kritischen Reizen suchen als ihre nichtpolizeilichen Pendants. PVB müssen jedoch vor allem in hoch dynamischen Einsatzlagen abseits von Laborbedingungen einsatzfähig sein und Gefahren zuverlässig erkennen können. Unabdingbar sind daher Stressstabilität und das Verständnis darüber, wo bei einem potenziellen Angreifer gefährliche Gegenstände und Waffen am wahrscheinlichsten zu erwarten sind. Nur so können Blick und Aufmerksamkeit taktisch gezielt ausgerichtet werden (Helsen und Starkes 1999; Heusler und Sutter 2020b; Nieuwenhuys und Oudejans 2011; Nieuwenhuys et al. 2012b; Vickers und Lewinski 2012).
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Angriffe auf das Leben von PVB können, vor allem unter Einsatz von Schusswaffen, in Sekundenbruchteilen erfolgen und den eingesetzten Kräften mitunter kaum Zeit zur Reaktion geben. In einem Experiment, das von Blair et al. (2011) durchgeführt wurde, brauchten Täter, die eine Schusswaffe neben sich zu Boden hielten, durchschnittlich lediglich 360 ms, um auf eine polizeiliche Versuchsperson zu zielen und zu schießen. Die polizeilichen Versuchspersonen brauchten jedoch im Durchschnitt 380 ms, um auf den Angriff zu reagieren und auf den Angreifer zu schießen – selbst wenn ihre Dienstwaffen bereits im Vorfeld auf die Person gerichtet waren. Diese Reaktionszeiten verdeutlichen, wie wichtig gute taktische Blickführung und Aufmerksamkeitsausrichtung sind. PVB, deren Aufmerksamkeit und Blick auf den Händen des Angreifers liegen, können in Ex tremsituationen wertvolle Sekundenbruchteile gewinnen. Dies gilt vor allem dann, wenn Angreifer verdeckt getragene Waffen ziehen, die durch PVB zunächst als solche erkannt werden müssen.
2.2
Taktische Blickführung und Aufmerksamkeitsausrichtung
Ein entscheidender Aspekt guter taktischer Blickführung und Aufmerksamkeitsausrichtung ist das Verständnis darüber, dass bei einem/r potenziellen Angreifer*in zwischen „harmloseren“ und „gefährlicheren“ Körperregionen zu unterscheiden ist. Für einen lebensbedrohlichen Angriff durch ein bewaffnetes PGÜ werden in nahezu allen Fällen die Hände eingesetzt.8 Schusswaffen, Messer, gefährliche Gegenstände und selbst die meisten Zündvorrichtungen für Explosivstoffe müssen manuell bedient werden, um eine unmittelbare Lebensgefahr darzustellen. Aus diesem Grund ist die Aufmerksamkeitsverschiebung auf die Hände des PGÜ unerlässlich. Menschliche Gesichter sind sehr saliente Reize, das heißt, sie ziehen den Blick und die Aufmerksamkeit anderer Personen mehr auf sich als andere Reize (Calvo und Nummenmaa 2008; Cerf et al. 2007). Zudem gilt der Blick ins Gesicht des/der Gesprächspartner*in im deutschsprachigen Kulturraum als höflich und aufrichtig. Zwar lassen sich die Emotionen eines PGÜ in den meisten Fällen über die Mimik interpretieren, Gewissheit über dessen Absichten lässt sich hierdurch jedoch nicht ableiten. Umso bedeutender ist es, dass sich PVB mit dieser Thematik auseinandersetzen und ein gutes taktisches Gespür für verschiedene Einsatzsituationen entwickeln. Wird einem PGÜ aus Gründen der Höflichkeit bewusst ins Gesicht geblickt, darf die Aufmerksamkeit im taktisch wichtigen Hand- & Hüftbereich nicht vernachlässigt werden. Wird eine Situation taktisch als besonders brisant wahrgenommen, sollten PVB immer sowohl ihren Blick als auch ihre Aufmerksamkeit auf die Hände des PGÜ ausrichten. Wird im klassischen Streifenteam9 agiert, kommt dem sichernden PVB hier eine zentrale Rolle zu.
8 9
Der Einsatz von Fahrzeugen als Waffe sei an dieser Stelle ausgeklammert. PVB 1 übernimmt die Kommunikation mit dem PGÜ, während PVB 2 sichert.
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Grundsatz
Tödliche Angriffe auf PVB gehen so gut wie immer von den Händen des/der Angreifer*in aus – von dessen/deren Mimik jedoch nie. Höflichkeit = Deeskalation? Der Blick ins Gesicht eines PGÜ wirkt – obwohl grundsätzlich höflich und respektvoll – nicht automatisch deeskalierender als der Blick auf die Hände. Potenziell gefährliche Personen machen ihr Verhalten oft von der Körpersprache der eingesetzten PVB abhängig. Eine professionelle Blickführung auf die Hände eines/r taktisch geschulten Angreifer*in gibt diesem/r deutlich zu verstehen, dass die PVB handlungssicher sind und auf einen bewaffneten Angriff unmittelbar reagieren können. ◄ Um den Blick auch unter Stress bewusst (top-down) von salienten, aber taktisch unterzuordnenden Reizen lösen zu können, ist gezieltes Training notwendig. Unter Hochstress laufen PVB ansonsten Gefahr, in ein „Wahrnehmungsloch“10 zu fallen und mentale Flexibilität einzubüßen. Ein hoher Stresslevel, wie er in dynamischen Einsatzlagen durchaus auftreten kann, wirkt sich allgemein negativ auf Entscheidungen und Schießgenauigkeit von PVB aus (Nieuwenhuys et al. 2009, 2012a, b; Nieuwenhuys und Oudejans 2010, 2011; Renden et al. 2014, 2015). Nibbeling et al. (2014) beschreiben vergleichbare negative Stresseffekte auch bei Infanteriesoldaten. Angesichts dieser Erkenntnisse drängt sich die Notwendigkeit förmlich auf, Stressoren bewusst in ausgewählte Aus- und Fortbildungselemente zu integrieren, um den Umgang mit potenziell lebensbedrohlichen und hoch dynamischen Einsatzlagen möglichst realitätsnah zu trainieren. Heusler und Sutter (2020b) konnten mit einem mobilen Eye-Tracker und realitätsnahen Videoszenarien nachweisen, dass taktisch besonders geschulte Mitglieder eines Mobilen Einsatzkommandos (MEK) signifikant länger die kritische Hand- und Hüftregion eines festzunehmenden Täters fixierten als uniformierte Streifenbeamte mit hoher Praxisroutine. Umgekehrt fixierten diese signifikant länger das Gesicht des Täters als die Mitglieder des MEK. Diese Effekte waren erstaunlicherweise am stärksten bei einem Videoszenario zu beobachten, bei dem der Täter beide Hände in seinen Jackentaschen versteckt hielt und sich unkooperativ zeigte. Es ist also davon auszugehen, dass die taktisch besonders geschulten Mitglieder des MEK ihren Blick bewusst von dem emotionalen Gesicht (salienter Reiz) des Täters gelöst und zu den nicht einsehbaren Händen (taktisch relevanter Bereich) gelenkt haben. Gezieltes Training scheint demnach zu einer schnelleren und längeren Blick- und Aufmerksamkeitsausrichtung auf die taktisch kritische Hand- und Hüftregion zu führen als reine Praxisroutine.
Als „Wahrnehmungsloch“ ist ein (meist stressbedingter) Zustand stark eingeschränkter Wahrnehmungsfähigkeit zu verstehen, der die Handlungskompetenz empfindlich herabsetzt. 10
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Beispielszenarien bei scheinbar routinemäßigen Personenkontrollen11
PGÜ wirkt freundlich und kooperativ, zieht jedoch langsam eine verdeckt getragene Schusswaffe. ⨯ PVB richtet den Blick und die Aufmerksamkeit auf das Gesicht des PGÜ. Die Schusswaffe wird nicht oder zu spät bemerkt. ✓ PVB richtet den Blick auf das Gesicht des PGÜ. Die Aufmerksamkeit liegt jedoch bewusst auf dessen Händen, somit kann die Schusswaffe rechtzeitig bemerkt und identifiziert werden. ✓ PVB richtet sowohl Blick als auch Aufmerksamkeit bewusst auf die Hände des PGÜ. Die Schusswaffe wird rechtzeitig bemerkt und identifiziert. PGÜ gibt sich verbal aggressiv, greift unvermittelt in seine Jackentasche und zieht ein Messer. ⨯ PVB richtet den Blick und die Aufmerksamkeit auf das emotionale Gesicht des PGÜ und wird von dessen Handbewegung überrascht. Die nötige Neuorientierung von Blick und Aufmerksamkeit kostet zu viel Zeit – es kann in der Folge nicht rechtzeitig reagiert werden. ✓ PVB richtet den Blick auf das Gesicht des PGÜ, die Aufmerksamkeit liegt jedoch bewusst auf dessen Händen. PVB kann zwar peripher wahrnehmen, dass ein Gegenstand gezogen wird, zur Identifizierung muss jedoch zunächst der Blick verschoben werden. PVB kann eventuell nicht rechtzeitig reagieren. ✓ PVB richtet sowohl Blick als auch Aufmerksamkeit bewusst auf die Hände des PGÜ. Das Messer wird rechtzeitig bemerkt und identifiziert. ◄
3
Aus- und Fortbildung
Es gibt mehrere Wege, die visuelle Expertise einer Personengruppe (in diesem Fall PVB) zu verbessern. Zum einen kann so selektiert werden, dass lediglich Personen mit wünschenswerten Wahrnehmungsfähigkeiten die Ausbildung erfolgreich durchlaufen. Zum anderen führen Berufspraxis und Training zu messbaren Verbesserungen (Neuberger 2013). In diesem Abschnitt soll das Potenzial gezielter Aus- und Fortbildung zur Steigerung der einsatzbezogenen visuellen Expertise erörtert werden. Um die polizeiliche Aus- und Fortbildung modern zu gestalten und PVB adäquat auf Ernstlagen vorzubereiten, müssen Trainingsinhalte möglichst praxisorientiert gestaltet werden. Das bedeutet, dass Taktiktraining, Selbstverteidigung und Schießausbildung grundsätzlich dynamisch und realitätsnah trainiert werden sollten. Versuche haben gezeigt, dass vor allem Simulationstraining und praktisches Training positive Effekte auf den
An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die angeführten Szenarien frei ausgewählte Beispiele sind. Jede Kontrollsituation ist anders und kann sich stets unerwartet entwickeln. 11
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B. Heusler
Lernerfolg von PVB haben – Wahrnehmungsleistung und taktische Blickführung konnten schon durch wenige oder sogar nur eine einzige Trainingseinheit signifikant verbessert werden (Helsen und Starkes 1999; Nieuwenhuys und Oudejans 2011). Dies deckt sich mit Erkenntnissen aus anderen Forschungsfeldern, die ebenfalls die hohe Wirksamkeit gezielter Simulationstrainings unterstreichen (Beaubien 2004; Gaba 2004; Gorman et al. 1999; Starkes und Lindley 1994). Während klassische statische Übungen zwar dazu geeignet sind, Anfänger an Themenbereiche heranzuführen und Expert*innen die Möglichkeit zur Festigung von Handlungsabläufen geben, dürfen sie jedoch nicht Hauptbestandteil der polizeilichen Fortbildung sein. Vor allem in aufbauenden Trainingsveranstaltungen sollten die bereits erlernten Handlungskompetenzen unter Stress und in unvorhersehbaren Situationen trainiert werden. PVB, die in sterilen statischen Übungssituationen zwar handlungssicher erscheinen, können leicht an der unübersichtlichen Dynamik einer Reallage scheitern. Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang die polizeiliche Schießausbildung. Allzu oft werden im Rahmen der klassischen Schießausbildung schnelle, genaue und präzise Trefferbilder mit „guter Schießleistung“ gleichgesetzt. Vor allem in statischen und realitätsfernen Übungen wird hierdurch häufig ein falsches Bild vermittelt, das die Teilnehmer*innen über ihren eigentlichen Trainingsstand und die Komplexität von Echteinsätzen im Unklaren lässt. Die Herausforderung besteht im Realfall eben nicht darin, eine vorgegebene Anzahl von Schüssen präzise auf ein farbiges Viereck abzugeben, sondern unter unübersichtlichen Bedingungen und unter Zeitdruck zu entscheiden, ob überhaupt geschossen werden darf. Der Einsatz von Eye-Trackern kann die polizeiliche Aus- und Fortbildung grundsätzlich sinnvoll ergänzen. Körber und Neuberger (2009) geben jedoch zu bedenken, dass der Einsatz von Eye-Trackern grundsätzlich geschultes Personal voraussetzt, welches die gewonnenen Daten auswertet. Im Praxistest haben Eye-Tracker und kompatible Software, welche die Beobachtung und Auswertung der Blickführung in Echtzeit ermöglichen, jedoch auch ohne technisch besonders geschultes Personal einen großen Mehrgewinn dargestellt. Neben der eigentlichen Verbesserung von Blickführung und Aufmerksamkeitsausrichtung können Eye-Tracker immense „Aha-Erlebnisse“ bei Trainierenden auslösen. Die Erfahrung zeigt, dass diese das objektive Feedback eines Eye-Trackers sehr gut annehmen – insbesondere dann, wenn sie ihre eigene Blickführung nach dem Training am Monitor selbst nachvollziehen können. Zwar birgt der Einsatz technischer Geräte stets die Gefahr von zusätzlichen Übungskünstlichkeiten, mobile Eye-Tracker der neueren Generationen unterscheiden sich im Tragegefühl jedoch nicht merklich von üblichen Schutzbrillen, wie sie beispielsweise in der Schießausbildung getragen werden. Ein entscheidender Teil der taktischen Blickführungsschulung ist es, bei den Teilnehmer*innen das Bewusstsein über die Limitationen der eigenen visuellen Wahrnehmung zu wecken. Nur wenn PVB über diese Umstände Bescheid wissen, können sie auch unter Stress mögliche Interpretationsfehler gezielt vermeiden und Wahrnehmungsdefizite minimieren. Weiterhin sollten PVB wissen, dass der Blick in das Gesicht einer potenziell ge-
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fährlichen Person eine trügerische Sicherheit vermitteln kann und im Falle einer lebensbedrohlichen Eskalation unter Umständen wertvolle Zeit kostet. Fazit Der Hauptsinn des menschlichen Wahrnehmungssystems ist das Sehen. Dies gilt entsprechend für PVB, die in ihrem täglichen Dienstgeschäft darauf angewiesen sind, Gefahren schnell und zuverlässig zu erkennen. Da jedoch nicht alle visuellen Reize wahrgenommen und verarbeitet werden können, müssen PVB ihre Wahrnehmungsfertigkeiten gezielt optimieren. Vor allem unter Stress kann eine eingeschränkte visuelle Wahrnehmung schnell zu lebensbedrohlichen Verzögerungen oder Fehlentscheidungen führen. Da nur direkt fixierte Objekte scharf gesehen werden können, ist eine gute taktische Blickführung in potenziell lebensbedrohlichen Situationen unumgänglich. Um Waffen oder gefährliche Gegenstände zweifelsfrei identifizieren zu können, müssen PVB ihren Blick direkt darauf lenken. Ein weiterer Aspekt ist die Aufmerksamkeitsausrichtung, die für eine bewusste Verarbeitung von relevanten Informationen Voraussetzung ist – selbst dann, wenn der Blick direkt auf dem Reiz liegt. PVB sollten ihre Aufmerksamkeit also niemals vollständig von dem taktisch wichtigen Hand- und Hüftbereich eines PGÜ lösen, selbst wenn der Blick auf eine andere Region ausgerichtet wird. Da das Gesicht (bzw. die Mimik) eines emotionalen PGÜ sehr salient ist und den Blick förmlich auf sich zieht, ist das aktive Training der Aufmerksamkeitsausrichtung auf die tatsächlich sicherheitsrelevanten Hände essenziell für eine effiziente Eigensicherung. Sind Blick und Aufmerksamkeit auf das Gesicht eines PGÜ gerichtet, werden Waffen oder gefährliche Gegenstände eventuell nicht rechtzeitig erkannt. Gezieltes Wahrnehmungstraining, im Idealfall unter Einsatz von Eye-Trackern, kann polizeiliche Handlungskompetenzen bei überraschenden Angriffen erheblich erhöhen. Vor allem in hochdynamischen Situationen können antrainierte Aufmerksamkeits- und Blickführungsmuster das gefürchtete „Wahrnehmungsloch“ verhindern und PVB auch unter Stress handlungsfähig halten. Dies erhöht einerseits die Wahrscheinlichkeit, dass PVB schneller und gezielter auf lebensbedrohliche Attacken (Shoot-Szenarien) reagieren. Andererseits wird auch die Gefahr reduziert, dass unbewaffnete Angriffe (No-Shoot- Szenarien) fehlinterpretiert werden. Regelmäßiges polizeiliches Wahrnehmungs- und Entscheidungstraining unter Stress kommt also PVB und PGÜ gleichermaßen zugute.
Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Eine zeitgemäße und zielgerichtete Aus- und Fortbildung ist wesentlicher Bestandteil einer modernen und zukunftsorientierten Polizei. Nur wenn Schwerpunkte und
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Methoden stetig an dynamisch wechselnde Anforderungen, wissenschaftliche Erkenntnisse und neu verfügbare Technologien angepasst werden, kann die Polizei ihrem gesellschaftlich wichtigen und hochkomplexen Auftrag als staatliches Exekutivorgan gerecht werden. Seien Sie daher offen für Innovationen und zunächst unkonventionell wirkende Herangehensweisen. Die kontinuierliche Suche nach Optimierungsmöglichkeiten beinhaltet im Idealfall automatisch die kritische thematische Auseinandersetzung mit möglicherweise längst überholten Ansätzen. Fördern und unterstützen Sie deshalb aktiv Forschungsprojekte, die das polizeiliche Einsatztraining bereichern können. Stellen Sie Ressourcen für ein modernes Training bereit und bieten Sie Einsatztrainer*innen regelmäßige Schulungen. Nur wenn diese Kenntnis von neuen Möglichkeiten und wissenschaftlichen Erkenntnissen haben, können sie sie adäquat in die polizeiliche Aus- und Fortbildung integrieren. Im Kontext dieses Beitrags erscheinen vor allem Eye-Tracker in Kombination mit Virtual Reality (VR)-Technologie vielversprechend. Hierdurch könnten sich mobile und flexible Optionen abseits von statischen Einsatztrainingszentren ergeben. Man stelle sich nur einmal das Potenzial vor, das in diesen Trainingsmöglichkeiten liegt: Streifenbeamt*innen, die sich während einer Wartephase in der Wache eine dienstliche VR-Brille überstreifen und spielerisch ihre taktische Blickführung in lebensnahen Szenarien trainieren. Anwärter*innen, die in speziellen Trainingsbereichen ressourcenschonend üben können und automatisches Feedback bekommen. Melden Sie deshalb gezielt den Bedarf an innovativen Trainingsmethoden, die auf Eye-Tracking und VR-Technologie zurückgreifen. Nur wenn die Polizei zukünftig vermehrt Interesse an Trainingsmöglichkeiten dieser Art zeigt, werden zufriedenstellende Produkte auf den Markt kommen. Grundsätzlich sollen PVB mindestens einmal jährlich verpflichtend einen Nachweis über ihre Schießfertigkeiten ablegen. In der PDV 211 (Schießtraining in der Aus- und Fortbildung) wird hierfür die „Kontrollübung“ beschrieben, deren Bestehen Voraussetzung zum Führen der jeweils abgeprüften Schusswaffe ist. Die Kon trollübung beinhaltet zwar wichtige Grundlagen des Schießens (Magazinwechsel, Störungsbeseitigung, Deutschuss, visierter Schuss, Deckungsarbeit etc.), überprüft aber zu keinem Zeitpunkt die Wahrnehmungs- und Entscheidungsfähigkeit der PVB. Es handelt sich also mehr um eine auswendig gelernte Choreografie als um einen realistischen Befähigungsnachweis, eine Schusswaffe sicher bedienen zu können. Die größte Herausforderung am polizeilichen Schusswaffengebrauch ist die Frage, ob überhaupt geschossen werden darf! Als Befähigungsnachweis zum Tragen einer Schusswaffe kann es also nicht ausreichen, einmal jährlich lediglich die choreografierte Kontrollübung in einer stressfreien Atmosphäre zu bestehen. Ergänzen Sie deshalb den alljährlich abzuleistenden Befähigungsnachweis zum Führen
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von Schusswaffen um Wahrnehmungselemente, unvorhersehbare Abläufe und Darstellungen, die nicht beschossen werden dürfen. b) Einsatzkräfte Der Polizeialltag unterscheidet sich mitunter stark vom polizeilichen Einsatztraining. Zum einen kann der Hochstress einer potenziell tödlichen Situation in der Aus- und Fortbildung nicht abschließend simuliert werden. Zum anderen besteht die Tücke gefährlicher Einsatzlagen häufig darin, dass sie unvorhergesehen auftreten. Eine oft erlebte und scheinbar harmlose Routinesituation kann in Sekundenbruchteilen unerwartet lebensbedrohlich für Sie und das PGÜ werden. Aus diesem Grund ist das rechtzeitige Erkennen von Gefahren (und die Identifizierung von ungefährlichen Gegenständen) von höchster Bedeutung. Das Gesicht eines Menschen zieht die Aufmerksamkeit und den Blick förmlich auf sich. So versuchen viele PVB beispielsweise instinktiv, Emotionen im Gesicht des PGÜ abzulesen. Zudem gilt der Blickkontakt im deutschsprachigen Kulturkreis als höflich und aufrichtig. Obwohl es in einigen Einsatzsituationen förderlich sein kann, dem PGÜ ins Gesicht zu blicken (z. B. aus Höflichkeit), dürfen die Hände nie vernachlässigt werden. Waffen, gefährliche Gegenstände, Zünder etc. müssen fast immer mit den Händen bedient werden. Machen Sie sich deshalb schon vor einer Eskalation bewusst, wohin Sie Ihren Blick und Ihre Aufmerksamkeit steuern. Mit dem Gesicht wird kein Täter schießen – achten Sie deshalb auf die Hände und mögliche Waffenverstecke. Machen Sie sich bewusst, dass das menschliche Auge nur einen sehr kleinen Teil des Blickfeldes scharf sehen kann. Um Waffen und harmlose Gegenstände zweifelsfrei identifizieren zu können, müssen Sie Ihren Blick und Ihre Aufmerksamkeit direkt darauf richten. Taktisch ungünstige Blickführung und Aufmerksamkeitsausrichtung können im Hochstress zu Schreckmomenten, tödlicher Verzögerung und zu fatalen Fehlentscheidungen führen. Trainieren Sie also stets in der Gewissheit, dass Sie das Erlernte notfalls im Einsatz umsetzen können müssen. Besprechen Sie die Aus- und Fortbildung mit Kolleg*innen und stellen Sie Ihren Ausbilder*innen jederzeit Fragen, wenn Ihnen Inhalte unklar sind oder Sie an der praktischen Umsetzbarkeit zweifeln. Das polizeiliche Einsatztraining wird immer Übungskünstlichkeiten beinhalten, die das Training vom Einsatz unterscheiden, und somit eine 100-prozentige Vorbereitung auf den Ernstfall erschweren. Sie können den Trainingserfolg jedoch für sich selbst maximieren, indem Sie reflektiert mit der Thematik umgehen. Hierzu sollten Sie in ruhigen Minuten bereits erlebte und hypothetische Einsatzsituationen visualisieren und durchdenken. Spielen Sie in Gedanken verschiedene Szenarien durch und machen Sie sich bewusst, ob und wann Sie schießen würden. Diese wichtigen Fragen
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sollten Sie sich nicht dann zum ersten Mal stellen, wenn Sie unter Hochstress mit einer potenziell lebensbedrohlichen Situation konfrontiert sind. Bedenken Sie: Sie sind ein wichtiger Teil Ihrer Aus- und Fortbildung! Nur durch Ihre Erfahrungen mit realen Einsatzlagen und den gelernten Trainingsinhalten lässt sich das polizeiliche Einsatztraining zufriedenstellend evaluieren. Sehen Sie sich nicht in einer reinen Konsumentenhaltung – arbeiten Sie aktiv mit, geben Sie Feedback und reflektieren Sie kritisch! c) Einsatztrainer*innen Der sich schon einigen Jahren entwickelnde Trend weg von statischen Übungen und hin zu dynamischen Simulationsszenarien ist absolut richtig und notwendig. Die polizeiliche Aus- und Fortbildung ist kein Selbstzweck, sondern muss immer das Ziel verfolgen, die eingesetzten PVB für den Realeinsatz handlungssicher und stressfest zu machen. Vor allem in hoch dynamischen Einsatzsituationen, die im Extremfall tödlich für beide Seiten enden können, kann der Trainingsstand den entscheidenden Unterschied bedeuten. Thematisieren Sie im Einsatztraining, dass Stress die Wahrnehmung und Entscheidungssicherheit von PVB empfindlich herabsetzt. Das praktische Training taktischer Blickführung (wohin soll geblickt werden?) und Aufmerksamkeitsausrichtung (worauf soll geachtet werden?) gibt Ihren Teilnehmer*innen Sicherheit für den Ernstfall. Achten Sie hierbei darauf, dass bevorzugt das Erkennen einsatzrelevanter Reize (Waffen, Täter etc.) anstatt abstrakter Reize (Zahlen, Buchstaben etc.) geschult wird. PVB, die ihre taktischen Wahrnehmungsfertigkeiten nie gezielt trainiert haben, wird es im Einsatz bedeutend schwerer fallen, den Blick und die Aufmerksamkeit vom Gesicht eines/r emotionalen Täter*in zu lösen und auf dessen/deren Hände zu steuern. Nachdem Ihre Teilnehmer*innen eine gewisse Basiskompetenz – sei es im Umgang mit der Dienstwaffe oder waffenlosen Selbstverteidigungstechniken – erlangt haben, sollten Sie schrittweise den „Realitätsgehalt“ der Übungen erhöhen. Wichtig ist hierbei, dass Sie die Trainierenden mit dynamischen Situationen konfrontieren und gezielt Stressoren einbauen, um „Aha-Erlebnisse“ zu provozieren. Sie können zwar nicht jede vorstellbare Einsatzsituation simulieren, Sie können PVB jedoch so flexibel, kompetent und entschlussfreudig machen, dass diese auch in hoch emotionalen und hektischen Lagen handlungsfähig bleiben. Vermitteln Sie den Teilnehmenden deutlich, dass jedes Training Übungskünstlichkeiten enthält. Der optimale Lerneffekt kann also erst dann erzielt werden, wenn sich die Trainierenden nicht in einer reinen Konsumentenhaltung sehen, sondern die Lerninhalte bewusst reflektieren und auf ihre Einsatzrealität übertragen. Als Einsatztrainer*in muss es Ihr Ziel sein, Einsatzkräfte nicht nur fit für Leistungsstander-
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hebungen im Mattenraum und auf der Schießbahn zu machen, sondern handlungssicher und stressfest für den Realeinsatz. Hinterfragen Sie daher regelmäßig Ihre Trainingsgestaltung und tauschen Sie sich aktiv mit Kolleg*innen aus. Machen Sie Ihren Trainierenden Mut, beim Üben auch bewusst die eigenen Grenzen kennenzulernen und Erfahrungen zu sammeln. Schnelle und präzise Treffer in der Schießausbildung zeugen beispielsweise nicht zwangsläufig von einem sicheren und guten Umgang mit der Dienstwaffe außerhalb einer sterilen Übungsumgebung. Viel wichtiger als ein enges Trefferbild ist im Realeinsatz das Erkennen von Gefahren und die damit einhergehende Entscheidung, ob überhaupt geschossen werden darf. Wer schnell und präzise schießt, ohne es zu dürfen, ist kein guter Schütze.
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Mentale Stärke von Polizeibeamten*innen im Einsatz und im Polizeitraining Valentina Heil und Michelle Bechold
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung: Mentale Anforderungen im Einsatz Literatur
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Zusammenfassung
Mentale Stärke ist eine Ressource, die auf der persönlichen Einstellung sowie Denkund Wahrnehmungsprozessen basiert. Die Bewältigung von belastenden und stressigen Situationen im Polizeialltag kann durch eine solide mentale Stärke gefördert werden. Zusätzlich wird dadurch irrationales und unverhältnismäßiges Handeln von Polizisten*innen minimiert. Mentale Stärke kann durch adaptierte Wahrnehmungsprozesse, Emotionskontrolle und eine positive Einstellung gefördert werden. Studien postulieren, dass es zur Herausbildung mentaler Stärke effektive Trainingsmöglichkeiten gibt. Demnach können Polizisten*innen ihre mentale Stärke mittels Emotions- und Selbstregulationstechniken sowie der Visualisierung von Einsatzlagen trainieren.
Reviewer*innen: Jürgen Biedermann, Wolfgang Moos V. Heil (*) Institut für Professionelles Konfliktmanagement, Langen, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Bechold HfPV Mühlheim, Mühlheim, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_20
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Einleitung: Mentale Anforderungen im Einsatz
Polizeibeamte*innen sind wahre Multitalente. Sie sind Seelsorger*innen, Lebensretter*innen, Überlebenskämpfer*innen, Beschützer*innen, Freund*innen und Helfer*innen zugleich. Um diesen Spagat zufriedenstellend meistern zu können, müssen sie jedoch über eine Vielzahl an Fähigkeiten verfügen (Andersen et al. 2015a). Je nach Art des Einsatzes variieren die zur erfolgreichen Lagebewältigung erforderlichen persönlichen, fachlichen sowie sozialen Kompetenzen. Daneben wird der Einsatzverlauf durch das polizeiliche Gegenüber, die Einsatzörtlichkeit sowie die bestehenden rechtlichen Vorschriften beeinflusst. Ein gelungener Einsatz hängt somit nicht nur von den agierenden Polizeibeamt*innen selbst, sondern auch von unterschiedlichen äußeren Faktoren ab (Strobl und Wunderle 2007; Zeitner et al. 2015). Diese äußeren Faktoren sind oft vorgegeben und nicht oder kaum veränderbar. Auf ihr eigenes Handeln und die Einsatzvorbereitung können Polizeibeamte*innen hingegen selbst Einfluss nehmen. Daher scheint es umso wichtiger, die benötigten Fertigkeiten zu festigen und stärken. Dies erfolgt im Rahmen des polizeilichen Einsatztrainings unter Anwendung nachgestellter polizeilicher Einsätze. Trotz des Trainings kommt es in der Realität immer wieder zu inadäquaten Verhaltensweisen von Polizeibeamt*innen (Schmalzl 2008). Im Unterschied zu Übungsreizen im Einsatztraining sind Polizeibeamt*innen im Dienst oftmals wenig im Vorfeld über Gefahrenreize und externe Faktoren informiert, sie müssen ad hoc reagieren. Genau diese Ungewissheit und Notwendigkeit, ad hoc zu handeln, erzeugt körperlichen und psychischen Stress. In Folge laufen Polizeibeamten*innen Gefahr, irrational und unverhältnismäßig zu handeln (Feltes und Jordan 2017; Minjina 2015). Besonders in komplexen und stressigen Situationen kommt es aufgrund von Stressreaktionen vermehrt zu polizeilicher Gewaltanwendung (Ohlemacher et al. 2008). Um in diesen Situationen schnell und dennoch rational agieren zu können, ist es wichtig, die mentale Stärke von Polizisten*innen zu trainieren und fördern. Neben physischen Fertigkeiten, wie Festnahme- und Selbstverteidigungs-Skills, müssen auch kognitive und emotionale Fertigkeiten trainiert werden. Studien zeigen, dass die Wahrnehmung und Emotionen von Polizeibeamten*innen das eigentliche Einsatzhandeln immens beeinflussen und daher eine solide mentale Stärke von hoher Bedeutung für die Selbstregulation ist (Feltes und Jordan 2017; Schmalzl 2008; Staller 2013). Der Beitrag dient dazu, die Relevanz der Mentalität für den Polizeiberuf hervorzuheben und einen grundlegenden Überblick über die unterschiedlichen Facetten von mentaler Stärke zu verschaffen. Mentale Stärke im Polizeiberuf Zu dem Konstrukt der mentalen Stärke existieren verschiedene Erklärungsansätze und Konzepte. Mentale Stärke ist eine Ressource, die auf Denkprozessen, der persönlichen Einstellung und kognitiven Prozessen wie der Wahrnehmung und Emotionskontrolle basiert (Clough und Strycharczyk 2012).
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Ein Konzept, welches besondere polizeiliche Relevanz aufweist und international von Einsatztrainer*innen diskutiert wird, ist die „Mental Toughness“ (MT). MT beinhaltet im Allgemeinen eine mentale Ressource, die zur Stressbewältigung genutzt werden kann und den Fokus auf eine positive Einstellung gegenüber Herausforderungen legt. In der Praxis und Wissenschaft wird MT unterschiedlich definiert. Die fundamentalsten und gebräuchlichsten Aspekte der MT beschreiben diese als eine lebenslange mentale Ressource, welche effiziente und flexible Zielerreichung ermöglicht. Ein Schwerpunkt wird dabei auf die persönliche Entwicklung und das Wachstum gelegt (Gucciardi 2017). In besonders stressigen Polizeieinsätzen können die Aspekte von MT beispielsweise durch eine positive Einstellung gegenüber der Situation und möglichen Bewältigungsmechanismen unterstützen. Clough et al. (2002) beschreiben die MT mit vier Komponenten: 1) Kontrolle, 2) Commitment, 3) Vertrauen und 4) Herausforderung. Angewandt auf die polizeiliche Praxis würde Kontrolle bedeuten, das Gefühl der Kontrolle in schwierigen Situationen wiederzuerlangen, anstatt sich hilflos der Situation ausgeliefert zu fühlen. Die eigenen Emotionen zu kontrollieren, wenn man beispielsweise durch das polizeiliche Gegenüber provoziert wird, ist ein weiterer wichtiger Aspekt von Kontrolle der MT. Commitment bedeutet im Zuge der MT ein Streben nach den persönlichen Zielen trotz diverser Schwierigkeiten und gleichzeitig, eine positive Einstellung auch bei Rückschlägen aufrechtzuerhalten. Im Polizeiberuf bestehen vielseitige Möglichkeiten, sich individuelle Ziele zu setzen, beispielsweise gewisse einsatzrelevante Fähigkeiten oder Fertigkeiten zu erlangen. Weiter können persönliche Ziele bedeuten, eine bestimmte Karriere, Verwendung oder ein sportliches Ziel zu erreichen. Mit dem Aspekt der Herausforderung ist die mentale Einstellung gemeint, potenzielle Bedrohungen und Schwierigkeiten als Herausforderung anzunehmen und die Belastung als Chance für persönliches Wachstum anzuerkennen. Polizisten*innen müssen sich täglich an neue Bedingungen anpassen und können diese statt als belastende Stressoren in persönliche Herausforderungen umwandeln. Der letzte Punkt nach Clough et al. (2002) ist das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten trotz Rückschlägen. Wie eingangs beschrieben, ist die Erwartung an Polizeibeamten*innen seitens der Gesellschaft und eigenen Behörde hoch. Das Selbstvertrauen kann auch bei Rückschlägen durch die eigene mentale Stärke gefestigt und Fehler, bedingt durch Verunsicherung, vermieden werden. Anfänglich stand das Konstrukt der MT trotz seiner Popularität und Anwendung in der Praxis in der Kritik, nicht wissenschaftlich überprüfbar zu sein. Aktuelle Studien widerlegen diese Kritik (Gucciardi 2017). Ein weiteres bekanntes Konstrukt zur mentalen Stärke ist das „Fixed and growth mindset“. Dieses beschreibt zwei divergente mentale Einstellungen. Menschen mit einer festen (fixed) mentalen Einstellung glauben, dass Talent, Intelligenz und Fähigkeiten feststehen und nicht erlernbar sind. Personen mit einer feststehenden mentalen Einstellung stellen sich selten Herausforderungen, sehen die eigenen Fähigkeiten als limitiert an und nehmen Kritik sowie Feedback persönlich. Menschen mit einer wachsenden (growth) mentalen Einstellung suchen Herausforderungen, glauben, neue Fähigkeiten durch harte Arbeit erlernen zu können, und befürworten Feedback. Studien haben herausgefunden, dass Menschen mit einer wachsenden mentalen Einstellung eine hohe Durchhaltefähigkeit
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und Motivation haben sowie insgesamt eine höhere Tendenz zu Erfolg haben (Bryant und Aytes 2019; Yeager und Dweck 2012). Beide Einstellungen können in der mentalen Einstellung von Polizisten*innen fundiert sein und die persönliche und berufliche Entwicklung hemmen oder fördern. Mentale Stärke als Ressource basiert auf verschiedenen Aspekten. Die zwei bisher beschriebenen Ansätze (MT und „Fixed and growth mindset“) beziehen sich besonders auf die Überzeugung und Einstellung von Polizisten*innen. Weitere Komponenten, die mentale Stärke besonders in stressigen Einsätzen beeinflussen, sind Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsprozesse sowie die Emotionskontrolle von Polizeibeamten*innen. Die korrekte Wahrnehmung in stressreichen und dynamischen Einsätzen bekommt eine zentrale Bedeutung. Je unbekannter und dynamischer die Situation für Polizeibeamte*innen ist, desto mehr neue Informationen müssen verarbeitet werden. Das menschliche Gehirn kann allerdings nur einen begrenzten Umfang an Informationen aufnehmen und verarbeiten. Wird die Kapazität überschritten, so verlangsamen sich auch die Verarbeitungsprozesse, wodurch es wiederum zu Störungen im Handlungsablauf kommen kann. Um dies zu verhindern, sollten Polizeibeamte*innen dazu in der Lage sein zu selektieren, welche Informationen zur Lagebewältigung tatsächlich benötigt werden und welche nicht. Man spricht hierbei auch von Situationsbewusstsein. Die Anzahl der Anwesenden zu erfassen oder das Erkennen auffälliger Bewegungen des Täters ist beispielsweise wichtiger als die Farbe eines vorbeifahrenden Fahrzeuges. Der Schlüssel liegt also darin, die Aufmerksamkeit auf die richtigen Dinge zu lenken (Andersen et al. 2015a; Krauthan 2013). Mit dem Situationsbewusstsein geht auch die Fähigkeit einher, eine Situation richtig zu bewerten. Also realistisch zu beurteilen, ob diese ein Gefahrenpotenzial birgt oder welche Folgen diese nach sich ziehen kann. Der Grund dafür liegt darin, dass eine richtige Einschätzung der Situation bereits vorab alle erforderlichen Prozesse aktiviert. Denn je eher man sich einer Gefahr bewusst ist, desto eher können die Prozesse aktiviert werden, die zur Bewältigung benötigt werden. Dies wiederum spart zum einen Zeit, zum anderen jedoch auch Energie und Kapazität (Sde-Or und Yanilov 2001). Es zeigt sich immer wieder, dass Polizeibeamte*innen in stressreichen Situationen potenziell gefährliche Gegenstände, wie z. B. Waffen, zu spät wahrnehmen oder im anderen Extrem ungefährliche Gegenstände fälschlicherweise als Gefahr werten, weshalb das Training von situationsangepasster Wahrnehmung einen wichtigen Bestandteil des Einsatztrainings darstellt (Matthews et al. 2011). Neben dem Situationsbewusstsein trägt auch die Einstellung von Polizisten*innen entscheidend dazu bei, in stressreichen Situationen bestehen zu können. Polizeibeamten*innen müssen davon überzeugt sein, eine Situation trotz überraschender und unbekannter Umstände, mithilfe der eigenen Ressourcen, lösen zu können (Staller 2011). Ist dies nicht der Fall, treten Selbstzweifel hervor und die Konzentration gilt nicht länger dem Lösen der zu bewältigenden Aufgabe. In Folge sollte ebenfalls die Selbstüberzeugung von Polizeibeamten*innen trainiert werden. Das Handeln von Polizisten*innen wird neben kognitiven Prozessen auch von emotionalen Prozessen gesteuert. Daher ist die Fähigkeit der Emotionskontrolle ein weiterer wichtiger Bestandteil, um kompetent handeln und eine solide mentale Stärke anwenden zu
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können. Im Einsatzgeschehen können Emotionen wie Wut und Angst besonders dominant sein. Angst kann entweder zu Fluchtgedanken führen, also dazu, dass Polizeibeamte*innen sich der Situation entziehen möchten, im schlimmsten Falle jedoch auch zu einer Art Schockstarre, welche zu einer vollkommenen Handlungsunfähigkeit führen kann (Krauthan 2013; Schmalzl 2008). Kommt es hingegen zu Wut, so neigen Polizeibeamte*innen eher zu unkontrollierbaren Aggressionsschüben (Boe et al. 2020). Boe und Ingdahl (2017) betonen, dass maßvolle Aggressivität1 als Mittel genutzt werden kann, sich Respekt zu verschaffen und sich somit sogar einsatzfördernd auswirken kann. Dabei sollte der/die Agierende jedoch zwischen gerechtfertigtem temporären Aggressionsverhalten und einer durchgängig aggressiven Grundhaltung unterscheiden können. Aggressives Verhalten sollte stets gut durchdacht sein und punktuell eingesetzt werden. Ist dies bereits ein automatisch ablaufender Prozess, so gilt es, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, um das Aggressionspotenzial steuern zu können. Grundsätzlich scheint es sinnvoll, dass sich jede/r Polizeibeamt*in mit ihren/seinen Emotionen auseinandersetzt und sich selbst die Frage stellt, ob sie/er eher Angst oder Wut empfindet und wie sich diese Gefühle äußern. Die eigene Reflexion und die damit verbundene Überwachung der eigenen Vorgänge tragen wesentlich zum Einsatzerfolg bei (Schmalzl 2008). Mentale Stärke = Warrior Mindset? Bei der Polizei bestehen unterschiedliche Einstellungen gegenüber der Arbeit mit dem/der Bürger*in. Die mentale Einstellung des „Warrior Mindsets“ ist weitverbreitet und sieht Polizisten*innen als Kämpfer*innen gegen das Böse an. Studien zeigen, dass Polizisten*innen mit einer kriegerischen mentalen Einstellung die Verbrechensbekämpfung als primäre Aufgabe der Polizei ansehen und ein Selbstbild des maskulinen und aggressiven Kämpfers haben. Extreme Ausprägungen dieser mentalen Einstellungen beinhalten die Wahrnehmung, dass die Polizei über dem/der Bürger*in stehen würde, wodurch eine Zusammenarbeit mit dem/der Bürger*in deutlich erschwert wird (Carlson 2019; McLean et al. 2019). Die kriegerische mentale Einstellung wird von bestimmten Polizeibehörden explizit verlangt und lässt oftmals keine weitere mentale Einstellung zu (Behr 2018). Wie eingangs beschrieben ist eine starke mentale Einstellung wichtige Basis für mentale Stärke. Explizit die kriegerische Einstellung kann für das polizeiliche Handeln negativ und positiv sein. In besonders gefährlichen und stressigen Situationen mit hoher Gewalt kann die kriegerische Einstellung Polizisten*innen unterstützen, Gefahren erfolgreich abzuwenden. Auf der anderen Seite postulieren Forscher*innen und Praktiker*innen, dass die Zusammenarbeit mit dem/der Bürger*in immens zu einer ordnungsgemäßen und sicheren Polizeiarbeit beiträgt. Polizisten*innen, welche sich extrem von dem/der Bürger*in abgrenzen, werden Probleme in der Zusammenarbeit haben. Die wichtige Unterstützung und die Akzeptanz durch den/die Bürger*in mit der Polizei kann dadurch negativ belastet In diesem Zusammenhang ist Aggressivität als Angriffsverhalten zu verstehen, welches der Abschreckung des Gegenübers dient (Boe und Ingdahl 2017). 1
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werden. Wichtig für die polizeiliche Praxis und das Einsatztraining ist das Verständnis, dass mentale Stärke nicht mit der kriegerischen Einstellung gleichzusetzen ist. Um in der Praxis zu funktionieren, muss mentale Stärke vielseitig fundiert sein. Anteile einer kriegerischen Einstellung in der mentalen Stärke können Polizist*innen jedoch unterstützen besonders belastende und stressige Situationen zu bewältigen (Jager et al. 2013; Renden et al. 2015; McLean et al. 2019; Carlson 2019; Stoughton 2016). Folglich muss Polizeibeamten*innen zum einen vermittelt werden, dass Gewalt zur Durchsetzung einer Maßnahme in manchen Situationen unausweichlich ist und einen Teil von Polizeiarbeit darstellt. Zum anderen muss ihnen gelehrt werden, dass Gewalt stets als Ultima Ratio angesehen werden sollte und Gewaltaffinität nichts mit mentaler Stärke gemein hat. In der Vergangenheit wurden bereits mehrfach Pilotprojekte zum Training mentaler Stärke durchgeführt. Die Bereitschaft, sich mit diesem Themengebiet auseinanderzusetzen, fiel jedoch gering aus, weshalb die Projekte nicht weitergeführt wurden. Aufgrund der fehlenden theoretischen und evidenz-basierten Vermittlung des Konzeptes der mentalen Stärke entstehen Vorurteile und Halbwissen. Um die Einstellung von Polizeibeamt*innen zu ändern und die Bereitschaft zukünftig zu erhöhen, sollte also zunächst vonseiten der Polizeibehörde Aufklärungsarbeit geleistet werden. Übertragbarkeit bestehender mentaler Trainingsverfahren aus dem Spitzensport in das Einsatztraining? Polizeibeamte*innen trainieren ihre Einsatzkompetenz vor allem im Rahmen des polizeilichen Einsatztrainings. Dieses dient unter anderem dazu, Polizeibeamte*innen adäquat auf Einsätze vorzubereiten, die sich vom dienstlichen Alltag abheben. Dazu zählen beispielsweise Bedrohungslagen oder Katastrophen. Wie eben dargelegt, spielen dabei allerdings nicht nur physische Fertigkeiten eine wichtige Rolle. Gerade in stressreichen Situationen sind psychologische Fertigkeiten, wie Selbstregulation und Selbstkontrolle, von besonderer Bedeutung (Schmalzl 2008; Staller 2011). Anders als im Spitzensport, wird diesem Aspekt innerhalb der Polizei derzeit jedoch noch wenig Beachtung geschenkt. Psychologische Trainingsverfahren haben ihren Ursprung in der Sportpsychologie und sind seit einigen Jahrzehnten fester Bestandteil der Wettkampfvorbereitung von Spitzensportlern*innen. Leistungssportler*innen trainieren, ähnlich wie Polizeibeamte*innen, um zu einem bestimmten Zeitpunkt bestmögliche Leistungen zu erbringen. Der/Die Athlet*in wird darin geschult, trotz des Konkurrenz- und Leistungsdrucks im Wettkampf, aufmerksam, konzentriert, fokussiert und kontrolliert agieren zu können (Eberspächer 2012; Jones 2002). Unter diesem Aspekt erscheint es durchaus sinnvoll, bewährte sportpsychologische Trainingsverfahren auch für die polizeiliche Einsatzvorbereitung in Betracht zu ziehen. Doch sind polizeiliche Einsätze tatsächlich vergleichbar mit sportlichen Wettkämpfen? Hänsel et al. (2016) haben Kriterien zur Bewertung wettkampfähnlicher Situationen erarbeitet. Demnach sind Wettkampfsituationen durch folgende vier Punkte charakterisiert: • Erwartung an die Leistung (Prognose)
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• Konsequenz, z. B. Belohnung bzw. Bestrafung • Leistung zu einem vorgegebenen Zeitpunkt • fehlende Wiederholbarkeit Wendet man diese Kriterien auf polizeiliche Einsätze an, so merkt man, dass diese durchaus einen wettkampfähnlichen Charakter aufweisen. Die Polizei steht stets im Fokus der Öffentlichkeit. Die Presse und die Bürger*innen sind die „Zuschauer*innen“, welche eine rechtmäßige, fehlerfreie Arbeit von Polizeibeamten*innen erwarten, womit der Punkt Prognose erfüllt ist. Polizeiliches Handeln zieht auch Konsequenzen nach sich, jedoch in einem anderen Maße als im sportlichen Kontext. Meist richtet sich das Handeln gegen Dritte und die daraus resultierenden Folgen können mitunter verheerend sein, im schlimmsten Fall sogar Leben kosten. Häufig sind Polizeieinsätze durch Spontaneität und Plötzlichkeit charakterisiert. Nicht selten werden die Beamten*innen über einen polizeilich relevanten Sachverhalt informiert, ohne sich vorher darauf vorbereiten zu können. Zwar ist der Zeitpunkt der Handlung somit auch vorgegeben, der Unterschied zum Wettkampf liegt jedoch darin, dass Polizist*innen den Zeitpunkt erst kurzfristig erfahren. Sie müssen also immer einsatzbereit sein und ihr Können unter Beweis stellen. Unumstritten trifft jedoch das Kriterium der fehlenden Wiederholbarkeit zu. Jeder polizeiliche Einsatz ist einzigartig und somit nicht wiederholbar (Bioni et al. 2010; Staller 2013). Unstrittig ist, dass sowohl Sportler*innen als auch Polizisten*innen im Wettkampf bzw. in kritischen Einsätzen unter Druck oder Stress stehen. Ob die Art von Stress wiederum vergleichbar ist, ist fraglich. Sportler*innen sehen sich einem Konkurrenz- und Leistungsdruck ausgesetzt, während Polizisten*innen im schlimmsten Fall mit Gefahren für Leib und Leben konfrontiert werden (van der Meulen et al. 2018). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es durchaus Parallelen zwischen einem sportlichen Wettkampf und einem polizeilichen Einsatz gibt, die die Annahme rechtfertigen, dass sportpsychologische Trainingsverfahren auch auf das polizeiliche Training projiziert werden können. Allerdings gibt es auch Unterschiede, die es in der Trainingsumsetzung zu beachten gilt. Aufgrund der mehrfach erforschten und bewiesenen Wirksamkeit mentaler Trainingsverfahren im Sport erscheint es sinnvoll, diese in angepasster Form auch im polizeilichen Training zu integrieren (Staller 2013). Im anschließenden Abschnitt dieses Beitrags werden Möglichkeiten für eine Integrierung mentaler Trainingsverfahren in das polizeiliche Einsatztraining vorgestellt. Fazit Wie eingangs beschrieben kann der Polizeiberuf gefährlich und besonders belastend sein. Diese Belastung kann sich im konkreten Einsatzhandeln negativ auf die Leistungsfähigkeit auswirken. Die Bewältigung kritischer Einsätze fordert sowohl physiologische als auch mentale Ressourcen, die es zu stärken und zu trainieren gilt (Bioni et al. 2010). Auf mentaler Ebene sollte ein/e Polizist*in stets in der Lage sein, seinen/ihren Gemütszustand zu reflektieren, Erregungszustände aktiv wahrzunehmen und die beteiligten Prozesse zu steuern. Dazu zählen auch die Fokussierung der Aufgabe und die Unterdrückung negativer
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Emotionen. All dies in Summe beeinflusst wiederum die eigentliche Handlung des/der Beamt*in und ist ein Teil mentaler Stärke. Um den Anforderungen im Einsatzgeschehen gewappnet zu sein, benötigt es neben physischem Training also auch mentales Training (Andersen et al. 2015a). Dazu muss der/die Polizeibeamt*in davon überzeugt sein, eine Situation trotz überraschender und unbekannter Umstände mithilfe der eigenen Ressourcen lösen zu können und auch lösen zu wollen (Lovallo 2005; Staller 2011). Die mentale Einstellung eines/r Polizist*in trägt somit entscheidend dazu bei, in stressreichen, mental und physisch beanspruchenden Situationen bestehen zu können. Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Die mentale Stärke von Polizisten*innen trägt entscheidend dazu bei, in stressreichen, mental und physisch beanspruchenden Situationen bestehen zu können. Laut Boe et al. (2020) liegt das Problem allerdings darin, dass diese von behördlicher Seite vorausgesetzt wird. Jede/r Polizeibeamte*in muss im Zuge des Bewerbungsverfahrens einen psychologischen Test durchlaufen, der unter anderem auf die Belastbarkeit von Bewerbern*innen schließen lässt. Eine gewisse mentale Stärke gilt mit Eintritt in die Behörde somit als gegeben, weshalb eine weitergehende Vermittlung, wie mentale Stärke trainiert werden kann, kaum stattfindet. Studien zeigen, dass die Integration mentaler Trainingsverfahren positive Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit im polizeilichen Einsatz haben kann. Dies zeigte sich vor allem in einem verbesserten Situationsbewusstsein und rationaleren Entscheidungen. Doch nicht nur die Einsatzkompetenz konnte insgesamt verbessert werden, sondern auch die Fähigkeit, Stress zu bewältigen, was sich langfristig positiv auf die Polizeibeamt*innen auswirken kann. Neben den zahlreichen Studien im sportpsychologischen Bereich konnte für mentale Trainingsverfahren bereits mehrfach die Effektivität für den Polizeiberuf erbracht werden, weshalb eine Integration mentaler Fähigkeiten künftig einen festen Bestandteil der polizeilichen Einsatzvorbereitung bilden sollte (Andersen und Gustafsberg 2016; McCraty und Atkinson 2012; Arnetz et al. 2009; Andersen et al. 2015a, b; Bioni et al. 2010; Christopher et al. 2020; van der Meulen et al. 2018). Das Bewusstsein von Entscheider*innen, mentale Stärke im Einsatztraining trainieren zu können, und die Unterstützung von mentalen Trainings für Polizist*innen sind fundamental. b) Einsatzkräfte Einsatzkräfte können ihre mentale Stärke auf unterschiedliche Art und Weise trainieren. Grundlage für das Training ist die Bereitschaft, sich neuen Herausforderungen zu stellen und auch bei Rückschlägen an sich selbst zu glauben. Exempla-
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risch sind Anregungen für Einsatzkräfte zum Training der mentalen Stärke aufgeführt: • Schwere Situationen im Einsatz und deren Bewältigung visualisieren • Reflexion der eigenen mentalen Stärken- und Schwächen • Intensiv mit der Verfolgung von Zielen beschäftigen und mögliche Hindernisse reflektieren, mentale Stärke in Zielsetzung integrieren • Bedrohungen, Stress und Hindernisse tragen zu einer soliden mentalen Stärke bei, wenn diese als Chance für persönliches Wachstum gesehen werden • Emotions- und psychophysiologische Regulation durch Atem- und Selbstregulationstechniken schulen, Bewusstsein für emotionale Trigger schaffen • Kognitive Prozesse können gestärkt werden, wenn in einem komplexen und sich verändernden Umfeld trainiert wird (siehe Handlungsempfehlung Einsatztrainer*innen) Abschließend wird eine Übungsform für den polizeilichen Alltag vorgestellt, um Selektionsprozesse zu schulen: Eine Möglichkeit besteht beispielsweise darin, den Weg zum Einsatzort dazu zu nutzen, bestimmte Wahrnehmungsprozesse vorab zu schärfen. So könnte sich Polizisten*innen bereits auf der Anfahrt fest vornehmen, erst dann aus dem Fahrzeug auszusteigen, wenn sie sich einen kurzen, bewussten Überblick über den Einsatzort verschafft haben, statt sofort aus dem Auto auszusteigen. Sollte nun ein/e Täter*in flüchten, kosten die Verarbeitungsprozesse zur Umgebungswahrnehmung weniger Kapazität, da die Einsatzörtlichkeit bereits bekannt ist. Diese Kapazität steht dann unter anderem zur eigentlichen Aufgabenbewältigung (der Verfolgung) zur Verfügung (Krauthan 2013; Schmalzl 2008). Natürlich können sich kritische Situationen auch erst spontan im Laufe einer polizeilichen Maßnahme ergeben und bieten somit keinen Raum für eine mentale Einstimmung. Allerdings kann auch hier ein regelmäßiges Training Abhilfe schaffen, um beispielsweise das Verschaffen eines kurzen, präzisen Überblicks zu automatisieren. Denn Training schafft Routine. c) Einsatztrainer*innen Einsatztrainer*innen haben die Möglichkeit, die mentale Stärke von Polizisten*innen vielseitig im Einsatztraining zu schulen. Trainer*innen können Polizisten*innen ermutigen, die eigene mentale Stärke im Einsatztraining herauszufordern und auch bei Rückschlägen nicht aufzugeben. Das Training sollte an die jeweilige Zielgruppe angepasst werden, die mentale Stärke herauszufordern bedarf einer genauen Evaluation, um Polizist*innen nicht zu unter- und überfordern. Durch das Einsatztraining kann die mentale Stärke immens gestärkt werden und gleichzeitig nachhaltig geschwächt werden, wenn Einsatztrainer*innen einen unsensiblen Um-
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gang und die falsche Wahl von Übungsformen wählen. Ein sicheres Lernumfeld muss geschaffen werden, bei dem Fehler erwünscht sind und zum Wachstum der mentalen Stärke von Polizisten*innen beitragen. Exemplarisch sind Anregungen für das Einsatztraining aufgeführt: • Training mit integrierten Ablenkungen, wodurch die Fähigkeit trainiert wird, viele Aufgaben gleichzeitig zu erledigen und Prioritäten zu setzen • Situationen stellen, die sich immer wieder verändern und nicht vorhersehbar sind, dadurch wird die Vertrautheit mit Veränderungen trainiert • Fortlaufend neue und unbekannte Herausforderungen, um das Selbstbewusstsein zu stärken, diese bewältigen zu können • Training zur Kontrolle von Emotionen und der psychophysiologischen Regulation, beispielsweise durch das abwechselnde Hoch- und Herunterregulieren von stresserzeugenden Mechanismen. Polizist*innen erlernen, passend zur Situation Emotionen und das subjektive Stressempfinden zu regulieren.
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Die äußere Erscheinung von Polizistinnen und Polizisten im Polizeieinsatz – auch im Einsatztraining? Markus M. Thielgen, Stefan Schade und Christine Telser
Inhaltsverzeichnis 1 2 3 4
Einleitung as Erscheinungsbild als Teil des nonverbalen Verhaltens D Das Erscheinungsbild von Polizeibediensteten Die Wirkung des Erscheinungsbildes von Polizeibediensteten 4.1 Psychologische Ebene 4.2 Eigensicherungs-Ebene 4.3 Einsatzerfolg und Einsatzrisiken 5 Die Wirkung einzelner Merkmale des Erscheinungsbildes 6 Diskussion Literatur
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Zusammenfassung
Die äußere Erscheinung von Polizist*innen im Einsatz ist durch Uniform und Ausrüstung für andere deutlich wahrnehmbar. Mit der Wahrnehmbarkeit beginnt auch die Eindrucksbildung. Im Sinne des Brunswik’schen Linsenmodells formt der/die Betrachtende
Reviewer: Oliver Bertram, Andrea Reinhartz Geteilte Erstautorenschaft
M. M. Thielgen (*) · S. Schade · C. Telser Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz, Abteilung 1 – Studium, Flughafen Hahn, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_21
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aus proximalen („wahrnehmbaren“) Hinweisreizen (cues) einer Person ein Urteil über distale („entfernte“) Merkmale der Person (zum Beispiel „Kompetenz“, „Vertrauenswürdigkeit“ oder „Bedrohlichkeit“). Bei Begegnungen mit der Polizei fließen sämtliche Merkmale der eingesetzten Polizeikräfte zu einem Gesamteindruck beim polizeilichen Gegenüber zusammen – und umgekehrt. Die Polizeiuniform als äußeres Merkmal führt dabei üblicherweise zu einer positiveren Einschätzung des/des Träger*in durch Beobachtende (Uniform-Effekt). Auch von Führungs- und Einsatzmitteln, insbesondere Waffen, ist der Einfluss auf Wahrnehmung und Verhalten bekannt (Waffen-Effekt; Waffen-Fokus-Effekt). Wenn das äußere Erscheinungsbild eine einsatzrelevante und empirisch nachweisbare Einflussgröße darstellt und hierdurch insbesondere Einsatzerfolg und Einsatzrisiko beeinflusst werden, dann ist dessen Wirkung im Einsatzgeschehen von den beteiligten Einsatzkräften zu beachten und muss konsequenterweise auch Gegenstand des Einsatztrainings sein. Theoretische Konzepte, empirische Befunde und Implikationen für das polizeiliche Einsatztraining werden nachfolgend diskutiert.
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Einleitung
Das physische Erscheinungsbild von Polizist*innen ist im Einsatz von ständiger Bedeutung. Als Teil nonverbalen Verhaltens kann es die Interaktion zwischen Einsatzkräften und Bürger*innen beeinflussen und den Einsatzerfolg bestimmen. Bereits die bloße Anwesenheit von Polizist*innen in der Öffentlichkeit kann die Aufmerksamkeit anderer erregen, ohne dass die Beobachtenden in eine direkte Interaktion mit der Polizei involviert sind. So könnte die häufigste Begegnung mit der Polizei vor allem auf Wahrnehmung aus der Distanz beruhen. Unbeteiligte sehen beispielsweise vorüberfahrende Polizist*innen im Streifenwagen oder beobachten einen Polizeieinsatz. Darüber hinaus begünstigt die zunehmende Bedeutung sozialer Medien die Bewertung von Einsätzen durch die Öffentlichkeit. Insbesondere durch die Uniform und Ausrüstung ist die äußere Erscheinung von Polizist*innen im Einsatz salient (Simpson 2017, 2018; Thielgen et al. 2020). Mit der Wahrnehmbarkeit beginnt die Eindrucksbildung. Im Sinne des Brunswik’schen Linsenmodells (Brunswik 1944, 1952, vgl. Abb. 1) formt der/die Betrachtende aus proximalen („wahrnehmbaren“) Hinweisreizen (cues) einer Person ein Urteil über distale („entfernte“) Merkmale der Person (zum Beispiel „Kompetenz“, „Vertrauenswürdigkeit“ oder „Bedrohlichkeit“). Sämtliche wahrnehmbaren Merkmale der eingesetzten Polizeikräfte fließen zu einem Gesamteindruck beim polizeilichen Gegenüber zusammen (und umgekehrt). Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, inwiefern im polizeilichen Einsatztraining explizit auf das äußere Erscheinungsbild und dessen Wirkung eingegangen werden sollte. Zu Beginn des Theorieteils werden wir zunächst den Begriff des Erscheinungsbildes als Teil des nonverbalen Verhaltens näher definieren. Im Hauptteil werden wir zuerst auf die Bedeutung des ersten Eindrucks im Polizeidienst eingehen. Im Zusammenhang
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Sender
Verhalten
Wahrnehmung
Distale Cues
Proximale Percepte
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Empfänger
Urteil Persönlichkeitsmerkmale
Kategorisierung
Zustände Attribution Ausdruck Externalisierung Encodierung
Perzeption
Eindruck Inferenz Decodierung
Abb. 1 Das Brunswik’sche Linsenmodell der Personenwahrnehmung und Eindrucksbildung. (Quelle: Lieven und Tomczak 2012). Die Genauigkeit der Personenbeurteilung hängt zum einen davon ab, inwiefern beobachtbares Verhalten tatsächlich die Persönlichkeit des/der Beurteilten repräsentiert, d. h. wie valide der Ausdruck ist. Zum anderen wird sie dadurch bestimmt, inwiefern der/die Urteiler*in seine Wahrnehmungen zur Urteilsbildung nutzt. Dabei tauschen Sender und Empfänger fortwährend Signale aus
mit der Eindrucksbildung sollen der Begriff der kognitiv-emotionalen Schemata (Fiske und Neuberg 1990) sowie die Dualität des Denkens (Kahneman 2011) betrachtet werden. Anschließend besprechen wir die Wirkungen äußerer Merkmale von Polizist*innen (Uniform, Führungs- und Einsatzmittel, Körpermodifikationen) auf Wahrnehmung, Eindrucksbildung und Verhalten des polizeilichen Gegenübers. Weiterhin werden empirische Befunde zum Erscheinungsbild von Polizeibediensteten überblicksartig dargestellt. Im Rahmen der Diskussion soll die Bedeutung der Empirie zum Erscheinungsbild von Polizeikräften für das polizeiliche Einsatztraining diskutiert werden. Insgesamt liegt der Mehrwert des aktuellen Beitrages darin, dass wir einen Überblick über den aktuellen Wissensstand zum Erscheinungsbild von Polizeibediensteten geben. Dabei werden gesicherte und auch weniger gesicherte Erkenntnisse erörtert.
2
Das Erscheinungsbild als Teil des nonverbalen Verhaltens
Das Erscheinungsbild ist eine Facette nonverbalen Verhaltens. Es bezieht sich auf das Senden und Empfangen nichtsprachlicher Reize in der Interaktion von Individuen im Rahmen eines breiten, dynamischen Ökosystems (Patterson 2019). Ein Modell, das nonverbales Verhalten zwischen Individuen in einem sozialen System beschreibt, ist das
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System-Modell Dyadischer Nonverbaler Interaktion (Patterson 1984, 1995, 2019). Es geht davon aus, dass in einer Interaktion Individuen nonverbale Signale simultan senden und empfangen. Das nonverbale Verhalten, das eine Person zeigt, wird von der anderen Person wahrgenommen und verarbeitet – und umgekehrt. Patterson (2019) beschreibt das Bild einer Interaktionszelle (interaction cell), in der sich beide Interaktionspartner*innen befinden und wechselseitig beeinflussen. Welche Konsequenzen oder Ergebnisse die nonverbale Interaktion hat, hängt sowohl von den Individuen ab als auch von der Umwelt, in der die Interaktion stattfindet (Patterson 1984, 1995, 2019). Ein wichtiger Einflussfaktor in diesem Modell ist die individuelle Erscheinung (appearance) der Personen, die nach Patterson (2019) die einzelnen Facetten nonverbalen Verhaltens umfasst. Die Erscheinung eines Individuums wirkt bei dem jeweils anderen Individuum als Stimulus, der eine sofortige, automatische Wahrnehmung im Sinne einer Kategorisierung und Interpretation anstößt. Im zweiten Schritt kann die automatische Verarbeitung wiederum automatisch ein Verhalten beim Gegenüber auslösen. Diese Wirkungskette läuft unbewusst und ohne willentliche Kontrolle ab und wird als Wahrnehmungs-Verhaltens-Autobahn (perceptionbehavior-expressway) bezeichnet (Dijksterhuis und Bargh 2001). Zwar betont das System-Modell Dyadischer Nonverbaler Interaktion (Patterson 1984, 1995, 2019) die Bedeutung automatischer Prozesse. Jedoch geht es auch davon aus, dass der Eindruck des Gegenübers bewusst beeinflusst werden kann. Auch nach der Impression-Management-Theorie (Snyder 1981) kann eine Person bewusst nonverbale Verhaltensweisen zeigen, um eine bestimmte Wirkung beim Gegenüber zu erzielen. Voraussetzung dafür ist, dass sich die Person der Wirkung nonverbaler Signale bewusst ist (Bolino et al. 2016). Beide Ansätze lassen sich leicht auf die Polizeiarbeit übertragen. Hier findet die Interaktion zwischen Polizist*innen und Bürger*innen im Kontext eines polizeilichen Einsatzes statt. Die gegenseitige Wahrnehmung und Eindrucksbildung läuft auf beiden Seiten unmittelbar und automatisch ab. Typischerweise werden mehrere Facetten nonverbalen Verhaltens unterschieden, d. h. Gesichtsausdruck (Blickrichting, Mimik etc.), Stimme, Körperbewegungen, Gestik und Körperhaltung, Nähe, Distanz und Berührungen sowie das physische Erscheinungsbild, wobei auch immer Umwelt und Kontext zu beachten ist, in dem nonverbales Verhalten stattfindet (Eaves und Leathers 2018; Knapp et al. 2014; Lorei und Litzke 2014). Mit anderen Worten umfasst nonverbales Verhalten Ausdruck und Aussehen einer Person, welches sie unbewusst oder bewusst äußert (Patterson 2019). Dabei weist das physische Erscheinungsbild eine Besonderheit auf. Es bezieht sich sowohl auf veränderliche Merkmale (Kleidung, Körpermodifikationen und -schmuck, Bart- und Haartracht) als auch auf Attribute, die nicht einfach veränderbar sind (Geschlecht, Alter, Hautfarbe oder Körpergröße etc.; Pryor et al. 2004). Im Folgenden begrenzen wir unsere Darstellung auf Aspekte, die von Personen leicht selbst bestimmt werden können.
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Das Erscheinungsbild von Polizeibediensteten
Das Erscheinungsbild von Polizeibediensteten definieren wir als das individuelle Aussehen, das die Polizeiuniform (Farbe, Beschaffenheit, Wappen, Krawatte, Hut etc.) sowie Führungs- und Einsatzmittel (Dienstwaffe, Schlagstock, Reizstoffsprühgerät, „Taser“, Handschellen, Weste etc.) umfasst (O’Neill et al. 2018; Simpson 2017, 2018; Thielgen et al. 2020). Weiterhin zählen auch die individuelle Haar- und Barttracht sowie Körpermodifikationen (Tätowierungen, Brandings, Cuttings etc.) bzw. Körperschmuck (Brillen, Ohrringe, Piercings, Ohrtunnel etc.) dazu. Gemeinsam fließen diese Attribute des Erscheinungsbildes zu einem Gesamteindruck aufseiten der Bürger*innen gegenüber einem/r Polizist*in zusammen (Thielgen et al. 2020; Abb. 2).
Abb. 2 Linke Seite: Das Erscheinungsbild von Polizeibediensteten. Es umfasst neben dienstlichen Merkmalen auch veränderbare individuelle sowie nicht veränderbare individuelle Charakteristiken. (Quelle: Foto aus Thielgen et al. 2020). Rechte Seite: Modell zur Wirkung des Erscheinungsbildes im Polizeidienst. Ausgangspunkt ist das objektiv beobachtbare, individuelle Erscheinungsbild von Polizeibediensteten (Patterson 2019). Zum einen kann das Erscheinungsbild beim Gegenüber eine Reihe psychologischer Effekte auslösen. Zum anderen hat es eine unmittelbare Bedeutung für die Eigensicherung. Beide Ebenen – die psychologische und die eigensicherungsbezogene – können letztlich das situative Einsatzergebnis bzw. situative Einsatzrisiko bestimmen (Quelle: Eberz et al. 2019)
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ie Wirkung des Erscheinungsbildes D von Polizeibediensteten
Im Folgenden stellen wir die Grundlagen unseres Modells zur Wirkung des polizeilichen Erscheinungsbildes im Einsatz dar. Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist das objektiv beobachtbare, individuelle Erscheinungsbild von Polizeibediensteten. In diesem Zusammenhang gehen wir auf psychologische Aspekte, eigensicherungsbezogene Fragen sowie auf Einsatzerfolg und Einsatzrisiken ein (Eberz et al. 2019; Thielgen et al. 2020; Abb. 2).
4.1
Psychologische Ebene
Eindrucksbildung Sind Merkmale des Erscheinungsbildes im Einsatz hinreichend salient, können sie durch das Gegenüber wahrgenommen werden und den ersten Eindruck bestimmen. Hier konnten Studien zeigen, dass in sogenannten Null-Bekanntschaften, also beim erstmaligen Aufeinandertreffen von Menschen, eine erste Einschätzung des anderen bereits nach 100 ms entsteht (Back et al. 2010; Nestler und Back 2013). Dabei erfolgt eine relativ einfache Bewertung des Gegenübers z. B. nach Merkmalen wie Attraktivität, Sympathie, Vertrauen, Kompetenz oder Aggression (Swider et al. 2016; Willis und Todorov 2006). Gerade im Polizeidienst sind Null-Bekanntschaften, beispielsweise im Rahmen einer Verkehrskontrolle, zu erwarten. Ist der erste Eindruck erst einmal gebildet, kann er die menschliche Informationsverarbeitung bedeutsam vorprägen. Durch diese Vorprägung (bias) werden kongruente Informationen, das heißt solche, die dem ersten Eindruck entsprechen, einfacher oder sogar bevorzugt verarbeitet. Aspekte hingegen, die dem ersten Eindruck widersprechen und sogenannte kognitive Dissonanz auslösen würden, werden hingegen eher ausgeblendet (Heider 1946; Festinger 1957). Dadurch wird die komplexe Umwelt zwar einfacher, aber auch ungenauer wahrgenommen. Wichtig ist, dass der erste Eindruck die Gestaltung der Interaktion vor allem zu Beginn dominiert. Erst mit zunehmender Dauer der Interaktion gewinnt die Beziehungsgestaltung an Bedeutung (Swider et al. 2016; Abb. 3). Diese Erkenntnis unterstreicht die Wichtigkeit, den Eindruck möglichst positiv zu gestalten, um mit einem Vorteil in die Interaktion zu starten. Zudem wird dieser erste (positive) Eindruck von Polizist*innen beim Gegenüber relevant, wenn Kontakte unter negativen Vorzeichen beginnen, beispielsweise, wenn Polizist*innen Platzverweise erteilen und die Aufmerksamkeit so auf das Aussehen und Verhalten der agierenden Polizist*innen gerichtet ist. Im Zuge der Eindrucksbildung werden üblicherweise kognitiv-emotionale Schemata aktiviert. Schemata sind mentale Repräsentationen, die Wissen über Personen, Objekte oder Umweltbedingungen umfassen (Fiske und Neuberg 1990). Im Polizeikontext gibt es mehrere, die im Hinblick auf das Erscheinungsbild existieren können. Das im Polizeidienst wichtigste Schema bezieht sich wohl auf die dienstliche Uniform. Die Polizeiuniform im Dienst der Schutzpolizei besteht typischerweise aus den Kleidungsstücken der Uniform selbst, deren Stil, deren Farbe, der Beschaffenheit der Materialien, polizeilichen Symbo-
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Abb. 3 Schematische Darstellung zum Einfluss von erstem Eindruck und Beziehungsgestaltung auf die Interaktion zwischen Polizist*innen und Bürger*innen. Zu Beginn einer Interaktion dominiert die Wirkung des ersten Eindrucks. Erst mit zunehmender Dauer der Interaktion gewinnt die Beziehungsgestaltung an Bedeutung. Hinzu kommt, dass Kontakte mit der Polizei eher negative Anlässe haben und mit Stress (zumindest auf Bürger*innenseite) verbunden sind. (Quelle: Eigene Darstellung)
len und Wappen sowie ggf. Krawatte und Hut o. Ä. (Abb. 2). Die Uniform hat typischerweise eine wichtige Symbolfunktion, das heißt, sie zeigt die Zugehörigkeit einer Person zur Organisation (Polizei) bzw. einer Gruppe (Polizeiberuf), den Status einer Person (Dienstrang) oder ihre Legitimität (Exekutive) an (Simpson 2018, S. 1; Joseph und Alex 1972) (Timming und Perrett 2017; social identity theory; Tajfel und Turner 1979, 1986). Da Polizeibeamt*innen im Dienst bei der Schutzpolizei neben ihrer Uniform auch Führungs- und Einsatzmittel tragen, können gleichzeitig entsprechende kognitiv-emotionale Schemata hierzu aktiviert werden (Waffen-Fokus-Effekt; Waffen-Effekt). Über die Effekte dienstlicher Merkmale hinaus können auch veränderbare individuelle Merkmale eine Rolle bei der Eindrucksbildung spielen und ggf. kognitiv-emotionale Schemata auslösen. Effekte, die durch veränderbare individuelle Merkmale (zum Beispiel Körpermodifikationen, Haare) entstehen, bezeichnen wir als Individualisierungs-Effekt. Im Gegensatz zum Uniform-Effekt haben sie vor allem eine Individualisierungsfunktion, beispielsweise sind Tätowierungen häufig Ausdruck von Persönlichkeit, Individualität und Indenität der Person („uniqueness“) (Snyder und Fromkin 1977). Informationsverarbeitung Sind kognitiv-emotionale Schemata aktiviert, werden sie auf zwei Wegen weiterverarbeitet. Ausgehend von Zwei-Prozess-Theorien menschlicher Informationsverarbeitung (Chaiken et al. 1989; Petty und Cacioppo 1986a, b; Evans und
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Stanovich 2013; Kahneman 2011; Pendry 2014; Pryor et al. 2004), geht die psychologische Forschung heutzutage davon aus, dass diese auf zwei Wegen ablaufen kann. In den Worten von Kahneman (2011) werden sie als „schnelles Denken“ (System 1) und „langsames Denken“ (System 2) bezeichnet. Die Informationsverarbeitung im System 1 erfolgt typischerweise schnell und automatisch ohne mentale Anstrengung. Gewöhnlich erfolgt die Informationsverarbeitung im System 1 auf Basis sich ausbreitender Aktivierung in einem semantischen, neuronalen Netzwerk („associative proposition model“; Gawronski und Bodenhausen 2011). Die Aktivierung impliziter Schemata führt wiederum zu Urteilen nach „Faustregeln“, sogenannten heuristischen Urteilen. In vielen Fällen des täglichen Lebens führt die Informationsverarbeitung durch System 1 zu korrekten Urteilen und ermöglicht somit an vielen Stellen eine reibungslose Anpassung. Allerdings ist das System 1 auch anfällig für Fehlurteile, beispielsweise bei Zeitdruck oder Stress. Aus der Schnelligkeit und der geringen Anstrengung beim Urteilen können dann Vorurteile und Stereotype resultieren. Im Gegensatz dazu erfolgt die Informationsverarbeitung im System 2 durch bewusste Elaboration von Inhalten, was mentale Ressourcen kostet (Gawronski und Bodenhausen 2011). Typischerweise erfolgt die Informationsverarbeitung im System 2 durch logisches Schlussfolgern („associative proposition model“; Gawronski und Bodenhausen 2011). Die Aktivierung expliziter Schemata führt wiederum zu bewussten, rational begründeten Urteilen (Chaiken et al. 1989; Petty und Cacioppo 1986a, b; Pryor et al. 2004; Pendry 2014). Typischerweise basiert die menschliche Informationsverarbeitung auf System 1, d. h., unsere Handlungen sind vor allem durch schnelle und automatische Informationsverarbeitung begründet (Kahneman 2011). Zwar können Menschen Informationen bewusst mit System 2 verarbeiten. Jedoch bedarf dies einer entsprechenden Verarbeitungskapazität und Verarbeitungsmotivation (Chaiken et al. 1989; Petty und Cacioppo 1986a, b; Pryor et al. 2004; Pendry 2014). Im polizeilichen Einsatz sollte beim Gegenüber im Hinblick auf das Erscheinungsbild vor allem eine Verarbeitung mit System 1 vorliegen. Zum einen gehen wir davon aus, dass Bürgerinnen und Bürger im Einsatz typischerweise Stress erleben, das heißt die mentale Verarbeitung herabgesetzt sein sollte. Zum anderen erwarten wir, dass Bürgerinnen und Bürger im Einsatz primär mit dem vorliegenden Sachverhalt beschäftigt sind, weshalb die Motivation zur elaborierten Verarbeitung der Polizistinnen und Polizisten eher niedrig sein sollte (Eberz et al. 2019; vgl. Thielgen et al. 2020). Einstellung und Verhalten Es ist empirisch sehr gut bestätigt, dass Merkmale des Erscheinungsbildes Urteile über die Persönlichkeit einer Person direkt beeinflussen können (Degelman und Price 2002; Forbes 2001; Miller et al. 2009; McAleer et al. 2014). Hier stellt sich die Frage, wie spezifische Schemata, die durch Polizeiuniform sowie Führungsund Einsatzmittel ausgelöst werden, zu einem Gesamteindruck der Persönlichkeit zusammenfließen. Einen Erklärungsansatz liefert das Linsenmodell von Brunswik (1944, 1952) als allgemeine Konzeption zu menschlichen Urteilsprozessen (Abb. 1). Es geht davon aus, dass Individuen ständig Situationen, Objekte und Personen bewerten. Jedoch sind Persönlichkeitseigenschaften typischerweise latent, das heißt, sie können nicht direkt beobachtet
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werden. Dadurch muss eine Person, wenn sie eine andere Person einschätzt, auf beobachtbare Hinweisreize zurückgreifen, um latente Persönlichkeitseigenschaften erschließen zu können. Ein weiterer Erklärungsansatz wird durch den Stigmatisierungs-Ansatz beschrieben. Er besagt, dass eine Person als Ganzes negativ bewertet wird, auch wenn sie nur ein bestimmtes negativ bewertetes Merkmal zeigt. Dies sollte insbesondere dann geschehen, wenn das konkrete Merkmal stark diskreditierend wirkt (Goffman 1963; McElroy et al. 2014). Ein Beispiel wäre eine Tätowierung mit gewaltverherrlichendem, sexistischem oder extremistischem Inhalt. Dadurch, dass eine Person eine solche Tätowierung trägt, wird ihre Persönlichkeit als Ganzes abgewertet. Dieser Gedanke kann auch auf den beruflichen Kontext sowie den Polizeidienst übertragen werden. So kann ein solches Stigma dazu führen, dass die Passung zwischen wahrgenommenen Eigenschaften der Person und Anforderungen des Berufs („person job fit“) als gering bewertet wird, woraus geringe Erwartungen über spätere berufliche Leistung resultieren können (McElroy et al. 2014). Zusammengefasst können physische Merkmale des Erscheinungsbildes von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten einen Einfluss darauf haben, wie sie vom Gegenüber als Persönlichkeiten bewertet werden. In der psychologischen Forschung bezeichnen wir die Gesamtbewertung eines Stimulusobjektes im Allgemeinen oder einer Person im Besonderen auch als Einstellung (Haddock und Maio 2014). Betrachtet man die Einstellung gegenüber Personen genauer, so fällt auf, dass zwei grundlegende Dimensionen sozialen Denkens und Urteilens angenommen werden können: Agency und Communion. Agency bezieht sich vor allem auf Merkmale der Kompetenz und Durchsetzungsstärke, d. h. wenn Personen als „fähig“ oder „respektabel“ bezeichnet werden. Im Gegensatz dazu bezieht sich Communion vor allem auf Merkmale sozialen Anschlusses und sozialer Bindungen, z. B. „Vertrauen“ oder „Sympathie“. Tatsächlich können beide Kategorien leicht auf die Wahrnehmung der eigenen Person, die Wahrnehmung anderer Personen oder von Gruppen angewendet werden (Hogan und Shelton 1998; Wojciszke und Abele 2008). Eine andere Unterscheidung von Einstellungen könnte aus motivationspsychologischer Perspektive her begründet werden, nämlich Annäherung und Vermeidung. Annäherung bezieht sich auf Hinweisreize oder Merkmale, die die Motivation fördern, sich zu einem Stimulusobjekt oder einer Person hin zu bewegen. Dies wäre der Fall, wenn wir eine Person als kompetent, vertrauenswürdig, sympathisch oder respektabel bewerten würden. Im Gegensatz dazu bezieht sich Vermeidung auf Merkmale, die die Motivation fördern, sich von einem Stimulusobjekt oder einer Person zu entfernen, was der Fall wäre, wenn eine Person bedrohlich wirken würde. Aus evolutionstheoretischer Perspektive ist es daher wichtig, zwischen Hinweisreizen der Annäherung und Vermeidung unterscheiden zu können, um potenzielle Gefahren und Bedrohungen frühzeitig erkennen und damit das Überleben sichern zu können (McClelland 1987). Schließlich stellt sich die Frage, inwiefern Einstellungen in Verhalten resultieren können. Diese Verknüpfung wird prominent durch die Theorie des geplanten Verhaltens beschrieben (Ajzen 2001). Nach diesem Modell können Eigenschaften einen direkten Einfluss auf die Verhaltensintentionen einer Person haben, die wiederum beobachtbares Verhalten initiieren können. Häufig verhalten sich Personen kongruent zu ihren Einstel-
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lungen. Ein Gegenüber mit einer insgesamt positiven Einstellung gegenüber einer Polizeibeamtin bzw. einer Polizeibeamten sollte demnach eher Verhalten zeigen, das auf Kooperation abzielt. Umgekehrt sollte eine Person mit negativen Einstellung gegenüber einer Polizeibeamtin bzw. einem Polizeibeamten eher Verhalten zeigen, das auf Konflikt abzielt (Eberz et al. 2019).
4.2
Eigensicherungs-Ebene
Das Erscheinungsbild von Polizeibediensteten im Einsatz kann auch unmittelbare Auswirkungen auf die Eigensicherung haben (Eberz et al. 2019). Zunächst trägt die Uniform dazu bei, dass die Polizeibeamt*innen insbesondere als Repräsentant*innen der Organisation Polizei und damit des Staates wahrgenommen werden. Damit geht auch eine Anonymisierung oder De-Individualisierung einher. Jede Form der Individualisierung, beispielsweise durch auffällige Tätowierungen, kann die Wahrscheinlichkeit des Wiedererkennens, auch im privaten Umfeld, und damit verbundene Gefahren erhöhen. Im täglichen Polizeidienst hat die Uniform die praktische Funktion, den Einsatzkräften im Sinne des Arbeitsschutzes eine wetterangepasste und einsatzangemessene Bekleidung zu bieten. Weiterhin können bestimmte Merkmale des Erscheinungsbildes die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum erhöhen, gerade im Straßenverkehr oder bei Großveranstaltungen, beispielsweise durch das Tragen von Jacken mit Reflektoren oder der Dienstmütze. Äußere Merkmale tragen auch zur Wehrhaftigkeit bei. So müssen alle verfügbaren Führungs- und Einsatzmittel (einschließlich Schutzweste und Einsatzgürtel) zur Gewährleistung der Eigensicherung leicht greifbar und zugänglich (und damit in der Regel sichtbar) sein, sodass sie im Bedarfsfall schnell eingesetzt werden können. Schließlich sollten Merkmale, die die Angreifbarkeit animieren könnten, vermieden werden (z. B. Binder ohne Clipverschluss). Abschließend bleibt festzustellen, dass ein langer Bart, lange Haare sowie Körperaccessoires wie Ohrringe oder Piercings das Verletzungsrisiko bei polizeilichen Einsatzmaßnahmen erheblich beeinflussen können und daher möglichst minimiert werden sollten. Dies gilt sowohl für die eigene Person als auch für das polizeiliche Gegenüber (Eberz et al. 2019).
4.3
Einsatzerfolg und Einsatzrisiken
Wir nehmen an, dass das Erscheinungsbild von Polizeibediensteten Auswirkung auf Einsatzergebnisse und Einsatzrisiken haben kann – sowohl auf physischer Ebene als auch auf eigensicherungsbezogener Ebene (Eberz et al. 2019; Thielgen et al. 2020; vgl. Abb. 1). Zu diesen Einsatzergebnissen zählen beispielhaft die Einstellungen von Bürger*innen gegenüber Polizeibediensteten, die wahrgenommene Legitimität von Polizeieinsätzen oder das Image der Polizeiorganisation (Simpson 2019). In diesem Sinne definieren wir situative Einsatzrisiken wie folgt:
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„Situatives Einsatzrisiko ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Polizeibeamte/-innen im Einsatz physisch oder psychisch verletzt werden, polizeiliche Einsätze nicht erfolgreich abgeschlossen werden können, der Einsatzerfolg nur unter erschwerten Bedingungen (mehr Zeit, stärkerer Einsatz von Führungs- und Einsatzmitteln, mehr Anstrengung, mehr verbale und nonverbale Auseinandersetzungen mit dem polizeilichen Gegenüber etc.) realisiert werden kann oder das Ansehen der Polizei insgesamt und das Vertrauen in die Polizei im Rahmen des Einsatzes beschädigt wird“ (Eberz et al. 2019).
Folglich können entweder bestimmte Merkmale oder Abweichungen des individuellen Erscheinungsbildes vom standardmäßigen Erscheinungsbild von Polizeibeamt*innen Risikofaktoren darstellen, die den Zielen von Polizeieinsätzen entgegenstehen. Im Folgenden werden für verschiedene Merkmale empirische Befunde überblicksartig dargestellt und im Hinblick auf Einsatzergebnisse und Einsatzrisiken diskutiert.
5
Die Wirkung einzelner Merkmale des Erscheinungsbildes
Es stellt sich die Frage, inwiefern Merkmale des Erscheinungsbildes von Polizist*innen Risikofaktoren darstellen könnten, die den Zielen von Polizeieinsätzen entgegenstehen. In den letzten Jahrzehnten wurde eine Reihe von Studien zur Wirkung des Erscheinungsbildes im Polizeidienst durchgeführt. Im Folgenden nehmen wir insbesondere dienstliche Merkmale in den Blick (Uniform, Führungs- und Einsatzmittel). Außerdem geben wir einen kurzen Überblick andererseits veränderbarer individueller Merkmale (Haar- und Barttracht, Körpermodifikationen und -schmuck). Thematisiert werden sowohl auf Befunde im Hinblick auf Einstellungen als auch auf Verhalten. Uniform Der Uniform-Effekt beschreibt den Einfluss der Polizeiuniform auf Einstellung und Verhalten von Beobachtenden und gilt, im Vergleich zu anderen Merkmalen des Erscheinungsbildes, als empirisch am besten gesichert (Simpson 2019; Johnson 2001, für einen Überblick). Er basiert auf der Annahme, dass das Tragen einer Polizeiuniform ein kognitiv-emotionale Schema aktiviert, das positiv bewertete Zuschreibungen umfasst, beispielsweise „Kompetenz“, „Vertrauen“ oder „Respekt“. Eine damit einhergehende positive Einstellung gegenüber der Polizeibeamtin bzw. dem Polizeibeamten sollte folglich in kooperativem Verhalten des Gegenübers resultieren. In Bezug auf Einstellungen konnte gezeigt werden, dass Polizist*innen, die moderne Uniformen traten, signifikant kompetenter, intelligenter, vertrauenswürdiger und kooperativer wahrgenommen werden als Polizist*innen in militärischen Uniformen oder Personen in Zivilkleidung (Bell 1982; Cizanckas und Feist 1975; Gundersen 1987; Gundersen und Summerlin 1978; Johnson et al. 2015; Mauro 1984; Singer und Singer 1985; Tenzel und Cizanckas 1973; Tenzel et al. 1976; Volpp und Lennon 1988; siehe Johnson 2001, für eine
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Übersicht). Ein aktuelles Projekt mit einer US-amerikanischen Polizei, das „Police Officer Perception Project“ (Simpson 2017, 2018, 2019), untersuchte die Wirkung von Polizeibeamt*innen in verschiedenen Streifensituationen (patrol strategies), zum Beispiel zu Fuß, auf dem Fahrrad, im Fahrzeug sowie beim Tragen verschiedener Accessoires. Die Ergebnisse bestätigten, dass Personen in Polizeiuniformen bessere Bewertungen erhielten im Hinblick auf (geringere) Aggressivität, Ansprechbarkeit, Freundlichkeit, Respektabilität und Zuverlässigkeit als Personen in Zivilkleidung. Ein ähnliches Projekt an der Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz bestätigte den Uniform-Effekt im Rahmen der Befragung von Bürger*innen. Im Ergebnis konnte gezeigt werden, dass Personen in Polizeiuniform mehr Kompetenz, Vertrauen und Respekt zugeschrieben wurde sowie die Befragten den Anweisungen der abgebildeten Polizist*innen eher folgen würden als Personen in Zivilkleidung (Schäfer et al. 2019). Weitere Studien zur Wirkung des polizeilichen Erscheinungsbildes an der Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz bezogen sich auf die Wirkung von Kompetenzen in spezifischen Kontexten (Patterson 2019). In einer Studie zum polizeilichen Erscheinungsbild bei Fußballspielen ging es um die Leitfrage, in welcher Weise Möglichkeiten der Gewaltprävention durch das polizeiliche Auftreten gegenüber Fußballfans anhand des äußeren Erscheinungsbildes von Polizist*innen bestehen (Freundorfer 2017; Freundorfer et al. in Vorbereitung). Verglichen wurden Personen in Uniform der Schutzpolizei, Personen in Zivilkleidung mit Warnweste „Polizei“, Personen in Körperschutzausstattung mit und ohne Schutzhelm sowie Personen in Zivilkleidung. Insgesamt wurden Polizist*innen mit Uniform der Schutzpolizei die beste Wirkung zugeschrieben, v. a. im Hinblick auf Kompetenz, Vertrauen, Sympathie und Respekt. Im Vergleich wirkten Polizist*innen in Körperschutzausstattung ohne Helm bzw. mit Helm ebenfalls kompetent und respektabel, jedoch auch weniger vertrauensvoll, weniger sympathisch und bedrohlicher. Diese Effekte waren stärker ausgeprägt, wenn die abgebildeten Personen den Helm trugen. Eine weitere Studie beschäftigte sich speziell mit der polizeilichen Zielgruppe verurteilter Straftäter, denen intensiver bzw. häufiger Kontakt mit der Polizei unterstellt werden kann (Thielgen et al. 2020). Im Ergebnis konnte der Uniform-Effekt repliziert werden, wonach selbst Strafgefangene Polizist*innen in Uniform der Schutzpolizei als kompetenter und respektabler bewerteten als Personen in Zivilkleidung. Neben Studien, die sich mit der Uniform insgesamt befassen, gibt es auch eine Reihe von Arbeiten mit Fokus auf einzelne Uniform-Teile. Westen scheinen positive Wirkung auf die Einstellung von Bürgerinnen und Bürgern zu haben, während schwarze Handschuhe, lange Schlagstöcke und Sonnenbrillen eher negative Assoziationen hervorrufen (Simpson 2018). Tragen Polizist*innen Schutzwesten, die umfangreich mit Führungs- und Einsatzmitteln bestückt sind, scheinen sie kompetenter, organisierter und sichtbarer zu wirken, jedoch auch weniger ansprechbar, militärischer und einschüchternder (O’Neill et al. 2018). Keine Rolle scheinen Krawatte bzw. Halstuch zu spielen (Johnson et al. 2015). Die Effekte von spezifischen Merkmalen von Mützen waren Gegenstand einer aktuellen US-amerikanische Studie im Polizeikontext mit dem Ergebnis: „no hat or tie required“ (Johnson et al. 2015, S. 158; Simpson 2018).
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In Bezug auf Verhalten konnte gezeigt werden, dass das Tragen von Polizeiuniformen einen direkten Einfluss auf das Agieren des Gegenübers hat. So motiviert die Uniform Bürger*innen, den Anweisungen von Polizeibediensteten zu folgen (Bickman 1971, 1974; Bushman 1984, 1988; Cizanckas und Feist 1975; Lawrence und Watson 1991; Tenzel und Cizanckas 1973; Tenzel et al. 1976; Volpp und Lennon 1988; siehe Johnson 2001, für einen Überblick). Ein wichtiger Aspekt scheint dabei zu sein, die Polizeiuniform gepflegt, vorschriftsmäßig und „ordentlich“ zu tragen (Bickman 1971; Wocial et al. 2014). Zwei Studien legen nahe, dass Polizist*innen mit nicht korrekt getragener Uniform beim Gegenüber Intentionen zu aggressivem Verhalten hervorrufen können (Hermanutz 2013; Hermanutz et al. 2005; Hermanutz und Weigle 2017; Junk 2014). Ein weiterer Befund zeigt, dass insbesondere schwarze Polizeiuniformen eher zu aggressivem Verhalten bei Bürger*innen führen als Uniformen anderer Farben (siehe Johnson 2005, 2013, für einen Überblick). Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass die Uniform der Schutzpolizei eine positivere Wirkung auf Bürger*innen zu haben scheint als Personen in Zivilkleidung. Selbst Strafgefangene bewerten uniformierte Polizist*innen als kompetenter und respektabler. Anweisungen von Bediensteten in Uniform werden eher befolgt, was sich auch in objektiv beobachtbarem Verhalten zeigt. Zu beachten ist, dass die Körperschutzausstattung unter Umständen auf Bürger*innen bedrohlicher wirken kann. Wird ein Helm getragen und damit die Möglichkeit der Kommunikation begrenzt, werden die Kolleg*innen distanzierter wahrgenommen. Weiterhin scheint wichtig zu sein, dass die Uniform ordnungsgemäß erscheint. Insgesamt kann von positiven Wirkungen der Uniform auf Einstellung und Verhalten des Gegenübers ausgegangen werden. Führungs- und Einsatzmittel Die polizeiliche Ausrüstung im Dienst der Schutzpolizei umfasst typischerweise Dienstwaffe, Schlagstock, Reizstoffsprühgerät, „Taser“, Handschellen und Einsatzweste (und „Body-Cam“). In diesem Zusammenhang sind zwei bekannte und empirisch gesicherte psychologische Effekte von besonderer Bedeutung. Einerseits kann der sogenannte Waffen-Fokus-Effekt bewirken, dass die selektive Aufmerksamkeit von Beobachter*innen sich auf den Träger richtet (Loftus et al. 1987; Fawcett et al. 2011; Kocab 2013; Kocab und Sporer 2016; Steblay 1992). Andererseits kann der sogenannte Waffen-Effekt dazu führen, dass kognitiv-emotionale Schemata von Aggression und Bedrohung bei der/dem Wahrnehmenden aktiviert werden (Berkowitz 1971; Berkowitz und LePage 1967), was aggressives Verhalten beim Gegenüber begünstigen könnte (Brenner 2010; Frodi 1975; Hemenway et al. 2006; Hermanutz 2013; Hermanutz et al. 2005; Hermanutz und Weigle 2017; Wormwood et al. 2016; siehe Benjamin und Bushman 2016, für eine Metaanalyse). Im Rahmen des Projekts der Arbeitsgruppe „Erscheinungsbild“ an der Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz wurde die Wirkung von Bewaffnung einer/s Polizeibeamt*in auf das Blickverhalten einer Person mithilfe der Eye-Tracking-Methode untersucht. Die Ergebnisse legen nahe, dass die reguläre Dienstwaffe kaum Effekte auf das Blickverhalten des Gegenübers hatte, während die Maschinenpistole das Blickverhalten signifikant beeinflusste (Behrens 2017).
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Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass Führungs- und Einsatzmittel die Aufmerksamkeit des Gegenübers binden können („Waffen-Fokus-Effekt“). Möglich ist auch eine aggressionsförderliche Wirkung von Waffen („Waffen-Effekt“). Beide Effekte können als relativ gut belegt angesehen werden. Bei Beamtinnen und Beamten der Schutzpolizei scheinen die Führungs- und Einsatzmittel als Teil der Uniform wahrgenommen zu werden, weshalb sie hier noch nicht ins Gewicht zu fallen scheinen. Wahrscheinlicher sind Effekte für Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, die wahrnehmbar eine Vielzahl von Führungs- und Einsatzmitteln mit sich führen bzw. die eine Maschinenpistole tragen, d. h. „militärischer“ wirken. Haar- und Barttracht, Körpermodifikationen und Körperschmuck Der Individualisierungs-Effekt basiert auf der Annahme, dass sichtbare Veränderungen der eigenen Erscheinung kognitiv-emotionale Schemata aktivieren können. Zur Wirkung von Haar- und Barttracht liegen vor allem Studien aus dem Alltag vor, jedoch nur wenige aus dem Polizeidienst. Eine Studie von Tinsley, Plecas und Anderson (2003, S. 45) kommt zum Ergebnis, dass Bürger*innen strenge Maßstäbe an das Erscheinungsbild von Polizist*innen anlegen: „[…] the results of the present study do not support relaxed grooming standards for police officers.“ Mit anderen Worten sprechen die Befunde dafür, dass das Erscheinungsbild zum Typ passen sowie ordentlich und gepflegt erscheinen soll. Zur Wirkung von Körpermodifikationen (Tätowierungen etc.) und Körperschmuck (Piercings etc.) im Polizeidienst liegen nur wenige Studien vor (Tinsley et al. 2003; McMullen und Gibbs 2019). Eine aktuellere Studie der Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz zeigt, dass Polizist*innen mit Tätowierung von Bürger*innen als weniger kompetent, vertrauenswürdig und res pektabel wahrgenommen werden und bedrohlicher wirken als Personen ohne Tätowierung (Schäfer et al. 2019). Sie legt auch eine eher negative Wirkung von Piercings nahe (Schäfer et al. 2019). Bei verurteilten Straftäter*innen spielen Tätowierungen im Zusammenhang mit der Bewertung von Polizist*innen keine Rolle (Thielgen et al. 2020). Belege zum Zusammenhang zwischen Tätowierungen und Verhalten sind selten (Baumann et al. 2016; Funk und Todorov 2013; Guéguen 2013). Studien zu Auswirkungen auf das Verhalten gegenüber Polizist*innen mit Tätowierungen oder Körperschmuck sind uns bisher nicht bekannt. Insgesamt ist weitere Forschung im Polizeikontext mit Hinblick auf die Wirkung von Körperschmuck und -modifikationen auf Einstellung und Verhalten, insbesondere auch bei speziellen Zielgruppen wie Strafgefangenen, notwendig. Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass im Hinblick auf Haartracht und Barttracht die Befunde dafürsprechen, dass das Erscheinungsbild zum Typ passen sowie ordentlich und gepflegt erscheinen sollte. Körpermodifikationen (Tätowierungen etc.) und Körperschmuck (Piercings etc.) gehen bei Bürgerinnen und Bürgern mit eher negativeren Einstellungen einher, während sie bei Strafgefangenen keinen Unterschied zu machen scheinen. Weitere Erkenntnisse zu den Auswirkungen auf Einstellungen und Verhalten sind für eine ganzheitliche Beurteilung der Wirkung notwendig.
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Diskussion
Fazit Die äußere Erscheinung von Polizeibediensteten ist ein Teil des nonverbalen Erhaltens von Polizist*innen im Einsatz. Es stellt eine empirisch nachweisbare Einflussgröße dar, die sich auf Einstellung und Verhalten des Gegenübers auswirkt. Auch haben Merkmale des Erscheinungsbildes direkte Bedeutung für die Eigensicherung, beispielsweise im Sinne des Arbeitsschutzes. Beide Faktoren – psychologische und eigensicherungsbezogene – können sich auf den situativen Einsatzerfolg und das situative Einsatzrisiko auswirken. Daher ist dessen Wirkung im Einsatztraining zu berücksichtigen, um Polizeikräfte für den Einsatz hinreichend vorbereiten zu können. Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Entscheider*innen sollten dem Erscheinungsbild von Polizeibediensteten einen hohen Stellenwert einräumen, da sich eine qualitativ hochwertige Uniform der Schutzpolizei auf die Interaktion mit Bürger*innen positiv auswirken kann. Zudem leisten Uniform und Führungs- und Einsatzmittel einen wichtigen Beitrag für die Eigensicherung der Einsatzkräfte. Beide Faktoren können Einsatzerfolg fördern und Einsatzrisiken minimieren. Dies trägt letztendlich zu einer professionell wirkenden Polizeiarbeit bei. b) Einsatzkräfte Zwar löst das Erscheinungsbild von Polizeibediensteten beim Gegenüber automatisch mentale Prozesse aus, die letztendlich Verhalten beeinflussen können. Jedoch kann man davon ausgehen, dass der Eindruck des Gegenübers bewusst beeinflusst werden kann. So können Polizeibeamt*innen aktiv nonverbale Verhaltensweisen zeigen, um eine bestimmte Wirkung beim Gegenüber zu erzielen. Voraussetzung dafür ist, dass sich die Person der Wirkung nonverbaler Signale bewusst ist. Polizeiliche Einsatzkräfte können eine Sensibilität für die einsatzrelevante Bedeutung ihres dienstlichen Äußeren erlangen und es in ihrem Sinne einsetzen. Spezialisierte Einsatzverbände unterscheiden sich in ihrem Erscheinungsbild deutlich von Polizist*innen in Standarduniform. Insofern kann sich die Wahrnehmung gegenüber der Polizei verändern, wenn solche Einsatzkräfte auftreten, z. B. bei Fußballspielen oder Demonstrationen. Kommt es zu einer Situation, in der die Polizei gegen eine größere Anzahl von Personen Eingriffsmaßnahmen treffen muss, kann das Erscheinungsbild einer zivilgesellschaftlichen Bürgerpolizei nicht mehr ausreichen,
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wenn erhöhte Eigensicherungsbedürfnisse Helme, Rüstungen und Brandschutzhauben notwendig machen. Wenn es also zum Einsatz von Zugriffseinheiten kommt, muss die Notwendigkeit dieser Eingriffe kommunikativ begleitet werden. Solche Situationen verdeutlichen die Wirkungszusammenhänge zwischen der Einsatzentwicklung und ihrer darauf aufbauenden polizeilichen Reaktion. Kurzum ist die transparente und einsatzbegleitende taktische Kommunikation beim Einsatz von Zugriffs einheiten ein wichtiges kompensatorisches Element (Freundorfer 2017). c) Einsatztrainer*innen Einsatztrainer*innen sollten die Bedeutung nonverbalen Verhaltens im Einsatztraining hinreichend berücksichtigen. Dabei sollten sie grundsätzlich auch auf den Einsatzfaktor „Erscheinungsbild“ eingehen. Die Wirkung sowohl von dienstlichen Merkmalen wie Uniform sowie Führungs- und Einsatzmitteln als auch individuellen Merkmalen wie Tätowierungen sollte in Trainings diskutiert werden. Dass nonverbales Verhalten, Erscheinungsbild und Einsatzerfolg in engem Zusammenhang stehen, ist eine wichtige Kernbotschaft gerade für junge Polizist*innen in Ausbildung und Studium. Die Themen „nonverbales Verhalten“ und „Erscheinungsbild“ können auch wichtige Aspekte sein, wenn Einsatztrainer*innen die innere Haltung, Werte und Glaubenssätze von Auszubildenden und Studierenden reflektieren. Zum einen sollte dafür sensibilisiert werden, dass nonverbales Verhalten und Erscheinungsbild einen bedeutsamen Einfluss auf die Kommunikation mit Bürger*innen haben können. Zum anderen sollen Nachwuchskräfte erkennen, dass sie ihr nonverbales Verhalten und ihr Erscheinungsbild bewusst und aktiv beeinflussen und daher als strategisches Einsatzmittel anwenden können. Um überzeugend zu sein, erscheint insbesondere die Kongruenz von polizeilichem Auftrag und (non-)verbaler Kommunikation als wichtiger Erfolgsfaktor.
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Menschen mit psychischen Erkrankungen in Polizeieinsätzen – Besonderheiten und deren Bedeutung für die Praxis Linus Wittmann
Inhaltsverzeichnis 1 V erhaltensauffälligkeiten und psychische Erkrankungen 2 Besonderheiten 2.1 Häufigkeit 2.2 Zunahme der Häufigkeit dieser Einsätze 2.3 Einsatzanlass 3 Subjektives Erleben der Beteiligten 3.1 Subjektives Erleben der Einsatzkräfte 3.2 Subjektives Erleben betroffener psychisch erkrankter Menschen 3.3 Besonderheit: Psychotisches Erleben 3.4 Stigmatisierung und Gefährlichkeit Literatur
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Zusammenfassung
Polizeieinsätze, in denen Menschen mit psychischen Erkrankungen beteiligt sind, gehen mit besonderen Herausforderungen für die Einsatzkräfte einher. In dem vorliegenden Beitrag werden sowohl die Zunahme der Häufigkeit als auch die Anlässe dieser Einsätze vorgestellt. Darüber hinaus wird das subjektive Erleben der beteiligten
Reviewer*innen: Uwe Füllgrabe, Stefan Hollenberg, Hubert Vitt L. Wittmann (*) Europa-Universität Flensburg, Institut für Gesundheits-, Ernährungs- und Sportwissenschaften/ Abteilung Gesundheitspsychologie und -bildung, Flensburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_22
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L. Wittmann
insatzkräfte sowie der Menschen mit psychischen Erkrankungen dargestellt. Zudem E wird beispielhaft ein vertiefter Einblick in psychotisches Erleben gegeben, um darüber die Besonderheiten für die Einsatzbewältigung aufzuzeigen. Die besondere Vulnerabilität von Menschen mit psychischen Erkrankungen im Rahmen von Polizeieinsätzen wird als Folge von Stigmatisierungsphänomen diskutiert. Am Beispiel der Schizophrenie wird die verzerrte gesellschaftliche und polizeiliche Wahrnehmung der betroffenen Menschen als gefährlich und unberechenbar beschrieben. Am Ende des Beitrages werden Empfehlungen für Entscheider*innen, Einsatzkräfte und Einsatztrainer*innen vorgestellt.
1
Verhaltensauffälligkeiten und psychische Erkrankungen
Einsatzkräfte der Polizei haben regelmäßig mit Menschen Kontakt, die verhaltensauffällig oder psychisch erkrankt sind. Allein statistisch gesehen ist das Zusammentreffen mit Menschen mit psychischen Erkrankungen, bei einer 12-Monatsprävalenz von fast 30 %, nicht unwahrscheinlich (Jacobi et al. 2014a, b). Während die Definition psychischer Erkrankungen durch Klassifikationssysteme (z. B. ICD–10–Klassifikation psychischer Störungen; Dilling und Freyberger 2019) einheitlich festgelegt ist, gilt dies nicht für Verhaltensauffälligkeiten im polizeilichen Kontext. Dies ist schon aus Gründen der Operationalisierung herausfordernd: Ab wann ist welches Verhalten überhaupt auffällig? Wird das gleiche Verhalten bei unterschiedlichen Person als auffällig eingeschätzt? Für eine Vereinheitlichung des Begriffes wird von folgender Definition ausgegangen: „Aus polizeilicher Sicht können unter Verhaltensauffälligkeiten Erscheinungsformen psychischer Erkrankungen, akuter Substanzintoxikationen sowie Verhaltensabweichungen verstanden werden, die nicht im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen stehen.“ (Wittmann und Groen 2021c, S. 31). Die Polizei häufig ein Weichensteller dahin gehend, ob eine Person in eine psychiatrische Behandlung gelangt. Daher sollten Einsatzkräfte psychische Auffälligkeiten in einem gewissen Maß erkennen können und über ein ausreichendes Wissen hinsichtlich des psychiatrischen Versorgungssystems verfügen (Lamb et al. 2002). Obwohl Polizeibeamt*innen keine diagnostische Ausbildung haben, sind sie trotzdem in der Lage, psychische Auffälligkeiten in einem gewissen Maß zu erkennen (Watson und Wood 2017). Wie valide diese Einschätzung ausfällt, zeigt eine Studie aus Großbritannien von McKinnon und Grubin (2013): Im Rahmen dieser Studie wurden 250 in Gewahrsam genommene Personen eingeschlossen und von Polizeibeamt*innen hinsichtlich ihrer psychischen Verfassung eingeschätzt. Diese Einschätzung wurde anschließend mit einer psychiatrischen Diagnostik verglichen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Einsatzkräfte etwa 50 % der psychischen Auffälligkeiten richtig identifizierten und 80 % der Polizeibeamt*innen Anzeichen einer Schizophrenie erkannten. In Deutschland ist bislang noch nicht untersucht worden, wie präzise die Einschätzung von Einsatzkräften hinsichtlich verschiedener psychischer Auf-
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fälligkeiten ausfällt. Nach Schmalzl und Latscha (2016) ist das polizeiliche Ziel aber auch nicht eine korrekte Einordnung von Symptomen, sondern der konfliktfreie Umgang mit den betroffenen Personen. Daher soll an dieser Stelle keine umfassende Übersicht über verschiedene psychische Erkrankungen präsentiert werden (siehe dafür vertiefend Lorei und Hallenberger 2016).
2
Besonderheiten
2.1
Häufigkeit
In den USA hat jede zehnte Person mit einer psychischen Erkrankung zunächst Kontakt zur Polizei, bevor sie in psychiatrische Behandlung gelangt (Livingston 2016). Eine australische Studie zeigt, dass 75 % aller von der Polizei in Gewahrsam genommenen Personen an einer psychischen Erkrankung litt (Baksheev et al. 2010). Eine Untersuchung deutscher Polizeibeamt*innen offenbart, dass 35 % der befragten Einsatzkräfte mehrmals in der Woche und 44 % mehrmals im Monat Einsätze mit Personen mit Verhaltensauffälligkeiten erlebt. Konfliktreiche Einsätze gaben 44 % der Befragten mehrmals im Monat und 45 % weniger als einmal im Monat an (Wittmann und Groen 2021c). In 20 % der Überprüfung verdächtiger Personen nahmen niedersächsische Polizeibeamt*innen psychische Auffälligkeiten wahr (Ellrich und Baier 2014). Einsätze, in denen Menschen mit psychischen Erkrankungen involviert sind, treten demnach regelmäßig im Polizeialltag auf.
2.2
Zunahme der Häufigkeit dieser Einsätze
Der Polizeipraxis ist regelmäßig zu entnehmen, dass diese Art von Einsätzen zugenommen habe (Krahmer 2019; Meltzer 2015). In Deutschland wurde die Frage nach der Zunahme der Einsätze mit Menschen mit psychischen Erkrankungen bislang nicht systematisch untersucht. In einer aktuellen Befragung von 958 Polizeikräften konnte jedoch gezeigt werden, dass tatsächlich 45 % der Befragten eine moderate und 34 % eine starke Zunahme der Einsätze mit Personen erleben, die als verhaltensauffällig eingeschätzt wurden. (Wittmann und Groen 2021c). Auch in einer Auswertung von 467 Polizeieinsätzen, in denen Menschen mit psychischen Erkrankungen beteiligt waren, konnte innerhalb eines Zeitraums von vier Jahren eine Zunahme dieser Einsätze um 64 % gezeigt werden (Wittmann et al. 2020). Diese Ergebnisse stützen das subjektive Erleben vieler Einsatzkräfte im täglichen Dienst, die zunehmend mehr Einsätze dieser Art erleben (Krahmer 2019). Die Annahme, dass eine generelle gesellschaftliche Zunahme von psychischen Erkrankungen die Zunahme dieser Einsätze erklärt, ist jedoch nicht haltbar (Jacobi et al. 2014a, b; Richter 2020; Richter und Berger 2013). Als weiterer möglicher Erklärungsansatz muss berücksichtigt werden, ob sich die stärkere öffentliche Aufmerksamkeit und Sensibilität für psychische Erkrankungen auch bei Einsatzkräften der Polizei vollzogen hat (Mnich et al. 2015). Eine erhöhte Sensibilität aufseiten der Einsatzkräfte kann jedoch nicht als Hauptur-
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sache für die zuvor beschriebene Zunahme angenommen werden. Als möglicher Grund für den Anstieg dieser Einsätze muss auch die Veränderung der psychiatrischen Versorgungsstrukturen diskutiert werden. Obwohl stationäre Behandlungsfälle von 1994 bis 2008 um 45 % zugenommen haben, reduzierte sich die mittlere stationäre Verweildauer von 1991 (65 Tage) bis 2008 (23 Tage) erheblich (Schneider et al. 2011). Dies lässt vermuten, dass aufgrund des erhöhten Bedarfes zunehmend mehr Menschen psychiatrisch behandelt werden, aber die stationäre Behandlungsdauer immer kürzer ausfällt. Darüber hinaus sind ein Ausbau ambulanter Behandlungskapazitäten und Abbau stationärer Behandlungskapazitäten über die letzten Jahre zu beobachten (Blum 2012; Jäger und Rössler 2012). Diesem Umbau des psychiatrischen Versorgungsystems steht allerdings entgegen, dass das Vorliegen bestimmter psychischer Erkrankungen (z. B. Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen) die Chance auf einen ambulanten Behandlungsplatz reduziert (Strauß 2015). Insbesondere Menschen, die an einer Schizophrenie erkrankt sind, gelangen seltener in eine ambulante Psychotherapie (Schlier und Lincoln 2016; Zepf et al. 2003). Dies kann gemeinsam mit weiteren krankheitsspezifischen Behandlungsproblemen (z. B. geringe Krankheitseinsicht; siehe vertiefend Lambert et al. 2015) dazu beitragen, dass Menschen mit bestimmten psychischen Erkrankungen inadäquat therapeutisch versorgt werden und somit häufiger durch Krankheitssymptome in der Öffentlichkeit auffallen. Ebenso kann diskutiert werden, ob die Zunahme einzelner psychischer Erkrankungen wie der Substanzabhängigkeit oder der bipolare Störungen zu einem höheren Einsatzaufkommen der Polizei beiträgt, da diese eher durch spezifische Symptome öffentlich auffallen (Richter et al. 2019).
2.3
Einsatzanlass
Aus US-amerikanischen Studien ist bekannt, dass Einsätze mit Menschen mit psychischen Erkrankungen häufiger aus nicht-kriminalitätsbezogenen Anlässen hervorgehen (Charette et al. 2014). Hierzulande sind die Anlässe solcher Polizeieinsätze bislang kaum untersucht worden. Es gibt Hinweise darauf, dass Betroffene häufig zunächst selber Hilfe bei der Polizei suchen (Wittmann et al. 2020; 2021e). In einer Befragung Hamburger Einsatzkräfte gaben fast drei Viertel der Befragten an, dass Hilfsbedürftigkeit der betroffenen Person ein häufiger Einsatzanlass sei. Zudem gab mehr als die Hälfte der befragten Einsatzkräfte verbale Auseinandersetzungen als häufigen Einsatzanlass an (Wittmann et al., 2021e). Weitere häufige Anlässen sind Ruhestörungen, Bedrohungen und körperliche Auseinandersetzungen (Wittmann et al. 2020; 2021e). Auch eine Studie aus Niedersachsen zeigt, dass in 40 % der Einsätze wegen häuslicher Gewalt oder körperlicher Auseinandersetzungen das polizeiliche Gegenüber als psychisch auffällig wahrgenommen wird (Ellrich und Baier 2014). Dies verdeutlicht, dass Polizist*innen und Menschen mit psychischen Erkrankungen häufig in Situationen zusammentreffen, in denen es bereits zu einer verbalen oder physischen Eskalation gekommen ist. Daher sind Deeskalationsstrategien für die Einsatzbewältigung von zentraler Bedeutung.
Menschen mit psychischen Erkrankungen in Polizeieinsätzen – Besonderheiten und …
3
417
Subjektives Erleben der Beteiligten
Im folgenden Kapitel werden das subjektive Erleben von Einsatzkräften sowie von Menschen mit psychischen Erkrankungen im Rahmen von Polizeieinsätzen näher dargestellt.
3.1
Subjektives Erleben der Einsatzkräfte
Das subjektive Erleben der Einsatzkräfte wurde bislang vorwiegend in internationalen Studien untersucht (z. B. Borum et al. 1998; Oxburgh et al. 2016; Ruiz und Miller 2004; Soares und Pinto da Costa 2019; Watson et al. 2004, 2014; Wells und Schafer 2006). In einer Befragung von 958 deutschen Einsatzkräften wurde deutlich, dass fast 30 % der Befragten Angst in Einsätzen mit Personen erlebt haben, die psychisch auffällig sind (Wittmann et al., 2021e). 75 % der Befragten schätzten ihr Wissen für den Umgang mit diesen Menschen als unzureichend ein. Interessanterweise ist ein geringes Wissen über psychische Erkrankungen mit höherem Angsterleben der Einsatzkräfte (schwach) assoziiert (Wittmann et al., 2021e). Zudem sind die Unberechenbarkeit des Verhaltens, verbale und physische Aggressivität sowie Kommunikationsschwierigkeiten die zentralen Herausforderungen für die Einsatzkräfte (Wittmann und Groen 2021c). Dass das polizeiliche Gegenüber als unberechenbar und aggressiv wahrgenommen wird und solche Einsätze aus polizeilicher Sicht schwer durch Kommunikation gelöst werden können, macht deutlich, dass diese Einsätze ein gewisses Eskalationsrisiko bergen. Eskalationen dieser Art können bis hin zum tödlichen Schusswaffengebrauch verlaufen (Finzen 2014) und somit auch für die Einsatzkräfte ein Risiko für psychische Traumatisierungen darstellen (Darius et al. 2014).
3.2
ubjektives Erleben betroffener psychisch S erkrankter Menschen
Betroffene, die an bestimmten psychischen Erkrankung leiden, haben ein höheres Risiko für die Anwendung unmittelbaren Zwanges gegen sie und polizeiliche Ingewahrsamnahme. Dies ist in internationalen Studien umfassend untersucht worden (Charette et al. 2014; Morabito et al. 2017; Rossler und Terrill 2016). Beispielsweise geraten Menschen mit einer Schizophrenie oder Depression besonders häufig in Polizeieinsätze (Puntis et al. 2018). Das Vorliegen einer Schizophrenie oder bipolaren Störung mit zusätzlichem Sub stanzgebrauch erhöht wiederum die Wahrscheinlichkeit polizeilicher Zwangsmaßnahmen (Fazel et al. 2009; Kesic et al. 2013; Steinert und Traub 2016). Betroffene, die an einer Schizophrenie erkrankt sind, haben ein fast neunfach erhöhtes Risiko, durch Einsatzkräfte verletzt zu werden (Holloway-Beth et al. 2016). Darüber hinaus war ein Drittel der in Deutschland zwischen 2007 und 2014 durch die Polizei erschossenen Personen vermutlich psychisch erkrankt (Finzen 2014). Eine kanadische Studie zeigt ein uneinheitliches
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L. Wittmann
Bild über das Erleben der Betroffenen: Während drei Viertel der Befragten ihren letzten Polizeikontakt als überwiegend zufriedenstellend erlebten, gab nur die Hälfte der Befragten an, insgesamt zufrieden mit allen vergangenen Zusammentreffen mit der Polizei zu sein (Livingston et al. 2014b). Eine Untersuchung aus Deutschland zeigt ebenfalls, dass Betroffene ihr Zusammentreffen mit der Polizei überwiegend als zufriedenstellend erleben, sie sich gleichzeitig aber auch mehr Empathie und Geduld durch die Einsatzkräfte wünschen (Wittmann et al. 2021d).
3.3
Besonderheit: Psychotisches Erleben
Da häufig Simplifizierungen und Vorurteile die öffentliche Wahrnehmung psychischer Erkrankungen begleiten, soll an dieser Stelle beispielhaft das subjektive Erleben psychotischer Symptome dargestellt werden. Im Rahmen verschiedener psychotischer Erkrankungen, wie der paranoiden Schizophrenie, kann es zu psychotischem Erleben kommen. In Deutschland erkranken jährlich etwa 2,6 % der erwachsenen Gesamtbevölkerung an einer psychotischen Störung (Jacobi et al. 2014a, b). Obwohl die Prävalenz psychotischer Störungen im Verglich zu anderen psychischen Erkrankungen gering ist, zeigt eine Studie aus den USA, dass Einsatzkräfte häufig mit Menschen interagieren, die an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt sind (Puntis et al. 2018). Daher ist das Wissen um psychotische Symptome für die polizeiliche Einsatzbewältigung wichtig. Übergeordnet können psychotische Symptome in Positiv- und Negativsymptomatik unterteilt werden, die sich phasenweise abwechseln oder mischen können. Negativsymptomatik umfasst eine Verarmung des emotionalen Erlebens (z. B. Affektverflachung) des Antriebs, der Psychomotorik (z. B. langsame Bewegungen) und des Denkens. Hingegen kann die Positivsymptomatik mit ausgeprägter emotionaler Erregung (z. B. Angst, Wut) oder mit parathymen Emotionen (z. B. inadäquates Lachen) eingehen. Des Weiteren können sogenannte Ich-Störungen (z. B. „Andere können meine Gedanken lesen“, „Ich kann die Gedanken anderer lesen“) auftreten. Hinzu kommen häufig Halluzinationen, welche visueller (z. B. Gestalten sehen), akustischer (z. B. Stimmen hören), olfaktorischer (z. B. Verbranntes riechen) oder gustatorischer Art (z. B. Blut schmecken) sein können. Entgegen der Darstellung in vielen Spielfilmen werden im Rahmen einer paranoiden Schizophrenie am häufigsten akustische Halluzinationen erlebt, welche wiederum häufig in Form von Stimmen auftreten (Hubl et al. 2008). Die Qualität dieser Stimmen kann beleidigend (z. B. „Du bist nichts wert!“), imperativ (z. B. „Sprich nicht mit denen!“) oder unterstützend („Du bist etwas Besonderes!“) sein. Akustische Halluzinationen werden von den Betroffenen also nicht immer nur als belastend erlebt, sondern können auch aufrechterhaltend für das Selbstwertgefühl sein, wenn sie als unterstützend erlebt werden. Imperative Stimmen können hingegen zu irrationalen Handlungen wie Selbst- oder Fremdverletzungen auffordern und so die Eigen- oder Fremdgefährdung erhöhen. Zusätzlich zu den bisher beschriebenen Symptomen treten häufig kognitive Beeinträchtigungen wie Konzentrationsstörungen, voreiliges
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Schlussfolgern sowie die Unkorrigierbarkeit irrationaler Gedanken (= Wahn) auf (Moritz et al. 2011). Wahnhafte Gedanken werden häufig in Form von Verfolgungswahn (z. B. „Ein Geheimdienst verfolgt mich.“) oder Beeinträchtigungswahn (z. B. „Meine Nachbarn hören mich ab.“) erlebt. Aus dem psychiatrischen Kontext ist bekannt, dass Menschen, die an einer Schizophrenie erkrankt sind, eine beeinträchtigte räumliche Wahrnehmung haben können (Czernik und Steinmeyer 1976; Volz et al. 2010). Dies kann mit Veränderungen in der Nähe-Distanz-Wahrnehmung einhergehen, sodass räumliche Distanzen als näher wahrgenommen werden. Insbesondere im Zusammenhang mit paranoidem Wahn und Ich-Störungen kann ein räumliches Einengen der betroffenen Person zu erhöhtem Angstund Stresserleben beitragen. Dies kann wiederum zu (aggressiven) Handlungen führen, welche von außen als irrational angesehen werden, aber im Sinne der Wahnsymptomatik häufig schlüssig sind. Aus Eigensicherungsgründen sollte die Wahrung räumlicher Distanz (siehe auch Verteidigungskreise: Füllgrabe 2019) daher immer berücksichtigt und Betroffene möglichst nicht räumlich eingeengt werden.
3.4
Stigmatisierung und Gefährlichkeit
Als Stigma werden negative Etikettierungen von Personengruppen mit bestimmten Merkmalen (z. B. psychische Erkrankung) verstanden (Aydin und Fritsch 2015). Die häufig verzerrte mediale Darstellung in Spielfilmen und Zeitungen trägt nach wie vor dazu bei, dass beispielsweise an Schizophrenie erkrankte Menschen als gefährlich und unberechenbar stigmatisiert werden (Baumann et al. 2003; Schlier und Lincoln 2014). Internationale Studien weisen darauf hin, dass auch Einsatzkräfte der Polizei psychische Erkrankungen mit Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit verbinden (Godschalx 1984; Kissling und Wundsam 2006; Psarra et al. 2008; Soares und Pinto da Costa 2019; Watson et al. 2004). Eine Untersuchung aus Großbritannien zeigt wiederum, dass sich 16 % der Menschen mit psychischen Erkrankungen durch die Polizei stigmatisiert fühlen (Corker et al. 2013). Als weiterer Indikator für Stigmatisierung wird häufig soziale Distanz untersucht, welche das Ausmaß an gewünschter Distanz beschreibt, welche Personen zwischen sich und Menschen mit psychischen Erkrankungen setzten möchten (Baumann et al. 2007). Litzcke (2006) konnte in einer Untersuchung an deutschen Polizeikräften zeigen, dass diese eine größere soziale Distanz gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen aufwiesen als eine Kontrollgruppe. Ein allgemeiner Zusammenhang zwischen dem Vorliegen einer psychischen Störung und einem erhöhten Risiko für Gewaltstraftaten ist nicht belegbar (Fitzgibbon 2010; Fuchs et al. 2016; Kröber 2009). Bleiben wir beim Beispiel der Schizophrenie, für die ein vergleichsweise hohes Risiko für Gewaltstraftaten angenommen wird: In einer australischen Kohortenstudie wurde eine psychisch unauffällige Kohorte über 25 Jahre mit einer K ohorte an Schizophrenie erkrankter Menschen verglichen. Die Diagnose einer Schizophrenie erhöhte die Wahrscheinlichkeit für eine Gewaltstraftat von 1,8 % um das 4,6-Fache auf
420
L. Wittmann
8,2 % (Wallace et al. 2004). Auch andere Studien zeigen ein höheres Risiko für Gewaltstraftaten bei schizophren erkrankten Menschen (Douglas et al. 2009; Hodgins und Müller-Isberner 2014). Dennoch bedeutet dies nicht, dass von an Schizophrenie erkrankten Personen ein deutlich erhöhtes Risiko für Gewaltstraftaten ausgeht, wie folgendes Beispiel von Kröber (2008) verdeutlicht: Im Jahr 2005 wurden 2500 Tötungsdelikte begangen, von denen etwa 10 % der Täter*innen an Schizophrenie erkrankt waren. Bei einer 1-Jahresprävalenz von 0,6 % litten im selben Zeitraum 240.000 Menschen an einer Schizophrenie. Folglich haben trotz eines hohen relativen Risikos lediglich 0,001 % der Menschen mit einer Schizophrenie ein Tötungsdelikt begangen (Kröber 2008). Eine adäquate psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung sind neben Drogenabstinenz zentrale risikominimierende Faktoren für gewalttätiges Verhalten (Rueve und Welton 2008; Volavka und Citrome 2008). Menschen mit psychischen Erkrankungen haben zudem ein höheres Eigengefährdungsrisiko als Fremdgefährdungsrisiko für die polizeilichen Einsatzkräfte (Wittmann et al. 2020; 2021e). Stigmatisierungen sind demnach häufig die Folge vereinfachter Schlussfolgerungen. Zusammenfassend unterliegen Menschen mit psychischen Erkrankungen einem hohen Risiko für Stigmatisierung als unberechenbar und gefährlich, was wiederum in einer selbsterfüllenden Prophezeiung resultieren kann (Godschalx 1984; Watson et al. 2004). Die Erwartung, dass eine Person gefährlich ist, kann zu einer selektiven Wahrnehmung und Informationsverarbeitung der Einsatzkräfte führen und so das Risiko für Zwangsmaßnahmen erhöhen. Daher sollte das polizeiliche Einsatztraining neben der Vermittlung von Deeskalationsstrategien auch ein differenziertes Bild über den Zusammenhang von psychischen Erkrankungen und Gefährlichkeit vermitteln. Fazit Insgesamt zeigen die hier präsentierten Befunde, dass Einsatzkräfte regelmäßig mit Menschen mit psychischen Erkrankungen interagieren. Einige Studien weisen auf eine Zunahme der Häufigkeit dieser Einsätze hin. Für Polizeibeamt*innen sind die angenommene Unberechenbarkeit, verbale und physische Aggressivität sowie Kommunikationsschwierigkeiten zentrale Herausforderungen in diesen Einsätzen. Die Stigmatisierung als gefährlich und unberechenbar stellt für Menschen mit psychischen Erkrankungen wiederum eine potenzielle Benachteiligunng bis hin zu Bedrohung dar. Insbesondere sollten Einsatzkräfte die Besonderheiten psychotischen Erlebens kennen und deren Bedeutung für die Einsatzbewältigung einschätzen können. Die weitere Aus- und Fortbildung sollte darauf abzielen, Stigmatisierung zu reduzieren und Einsatzkräften noch mehr Sicherheit (z. B. Deeskalationstrainings) im Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen zu vermitteln, damit psychische und physische Verletzungen bei allen Beteiligten zukünftig vermieden werden.
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Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Für die Polizei sind Einsätze mit Menschen mit psychischen Erkrankungen von hoher Relevanz, da sie im schlimmsten Fall zu tödlichen Verletzungen des polizeilichen Gegenübers oder der Einsatzkräfte führen können. Demnach ist es wichtig, die polizeiliche Aus- und Fortbildung in diesem Bereich zu fokussieren und muliprofessionelle Konzepte zu diskutieren (siehe vertiefend Wittmann 2021a). • Aus- und Fortbildung Ein kontaktbasierter Ansatz zur Entstigmatisierung betroffener Menschen ist das sogenannte trialogische Seminar. Trialog bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sowohl Menschen mit psychischen Erkrankungen als auch deren Angehörige mit Polizeikräften in einen Austausch über das subjektive Erleben verschiedener psychischer Erkrankungen sowie den Umgang damit kommen (Bock et al. 2015). Ziel dieser eintägigen Fortbildung ist zum einen der Abbau negativer Vorurteile und sozialer Distanz sowie zum anderen, die Fähigkeit zur Perspektivübernahme zu stärken. Eine Untersuchung aus Großbritannien zeigt, dass Interventionen zur Entstigmatisierung zu einem Wissenszuwachs und mehr Handlungssicherheit beitragen können (Pinfold et al. 2003). Auch eine aktuelle randomisierte-kontrollierte Studie weist auf die Wirksamkeit von Interventionen zur Entstigmatisierung hin (Hansson und Markström 2014). Für einen umfassenderen Überblick zur Implementierung trialogischer Seminare im polizeilichen Kontext wird auf die entsprechende Literatur verwiesen (siehe Bock et al. 2015; Kissling und Wundsam 2006; Wittmann et al. 2021b; Wundsam et al. 2007). • Multiprofessionelle Konzepte International wurde insbesondere das Crisis Intervention Team (CIT)-Training als polizeiliches Fortbildungs- und Einsatzkonzept untersucht. In einem 40-stündigen Training werden den Einsatzkräften Anzeichen und Symptome bestimmter psychischer Erkrankungen, Informationen zu Behandlungsmöglichkeiten sowie Deeskalationstechniken vermittelt und in Szenarientrainings eingeübt (CIT Inernational 2019). CIT stellt neben dem Training einen Ansatz dar, der über die reine Fortbildung hinausgeht und polizeiliche Abläufe (z. B. die Zuteilung von Einsätzen) mitgestaltet. Das CIT-Training umfasst die Zusammenarbeit zwischen der Polizei, dem Gesundheitssystem und Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie deren Angehörigen. Eine quasi-experimentelle Studie zeigt die Überlegenheit der CIT-trainierten Einsatzkräfte gegenüber einer Kontrollgruppe im Hinblick auf umfassenderes Wissen über psychische Erkrankungen, positivere Einstellungen gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie mehr Kompetenz in Kommunikations- und Deeskalationstechniken (Compton et al. 2014). Auch andere Studien weisen darauf hin, dass das CIT-
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Training zur einer Reduzierung von Gewaltanwendung, einer Veränderung von Stereotypen sowie einer Wissensvermittlung beitragen kann (Morabito et al. 2010; Peterson und Densley 2018; Watson et al. 2017). Als weiterer Ansatz gilt Street Triage. Dieses Einsatzkonzept sieht vor, dass Streifenwagenbesatzungen gemeinsam mit Gesundheitsexpert*innen (z. B. psychiatrieerfahrenen Gesundheits- und Krankenpfleger*innen) Einsätze bewältigen, die Menschen mit psychischen Erkrankungen involvieren. Es existieren unterschiedliche Modelle hinsichtlich der zeitlichen Erreichbarkeit und der Art der Einsatzbegleitung (gemeinsame Einsätze anfahren oder telefonische Unterstützung durch Gesundheitsexpert*innen; Horspool et al. 2016; Puntis et al. 2018). Aktuelle Übersichtsarbeiten zeigen, dass Street Triage zu einer Reduzierung von Festnahmen sowie psychiatrischer Einweisungen beitragen kann (Puntis et al. 2018). Das Konzept wird aufseiten der Polizeikräfte, Gesundheitsexpert*innen und Betroffenen positiv bewertet (Puntis et al. 2018; Rodgers et al. 2019). b) Einsatzkräfte Polizeiliche Einsatzkräfte werden im täglichen Dienstgeschehen in besonderer Weise mit den zuvor beschriebenen Herausforderungen konfrontiert. Im Folgenden werden fünf zentrale Handlungsempfehlungen für Einsätze mit Menschen mit psychischen Erkrankungen vorgestellt, die insbesondere bei Menschen mit psychotischen Symptomen berücksichtigt werden sollten. • Abstand Wie im Abschnitt zum psychotischen Erleben (3.3) dargestellt, können bestimmte psychische Erkrankungen mit einer veränderten Nähe-Distanz-Wahrnehmung einhergehen, sodass räumliche Distanzen als subjektiv näher wahrgenommen werden können. Insbesondere im Zusammenhang mit paranoidem Wahn, Halluzinationen und Ich-Störungen kann ein räumliches Bedrängen einer Person unerwartete Reaktionen auslösen. Aus Eigensicherungsgründen sollte die Wahrung der räumlichen Distanz möglichst immer gewahrt werden. • Einfühlungsvermögen Auch die Beziehung zu der betroffenen Person kann entscheidend für den Verlauf eines Einsatzes sein. Menschen wollen sich in aller Regel verstanden fühlen und insbesondere dann, wenn sie sich in einer psychischen Krise befinden und wohlmöglich die Erfahrung gemacht haben, dass andere sich abgewendet haben (z. B. Arbeitskolleg*innen, Freunde). Um eine tragfähige und professionelle Beziehung aufzubauen, ist Einfühlungsvermögen nötig (Uchtenhagen 2020). Auch ein Großteil der Einsatzkräfte bewertet Geduld und Einfühlungsvermögen als wichtige Aspekte in entsprechenden Einsätzen (Wittmann et al. 2020; 2021e).
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Für den Beziehungsaufbau ist das Erfragen des subjektiven Erlebens nötig (z. B. „Wie fühlen Sie sich?“, „Was macht Ihnen Angst?“). • Geduld Auch im Hinblick auf den Faktor Zeit gibt es Besonderheiten, denn Verständnis und Empathie für das Gegenüber aufzubringen gelingt am ehesten mit Geduld. Empfehlenswert ist es, möglichst nicht hektisch und überstürzt vorzugehen und den Anspruch zu verwerfen, die Situation schnell lösen zu müssen. Die Situation einzufrieren ermöglicht bei Bedarf zudem das Hinzuziehen von Spezialkräften. • Respekt und Fairness Je fairer sich Menschen durch Einsatzkräfte behandelt fühlen, desto weniger wenden Einsatzkräfte Zwang gegen sie an (Livingston et al. 2014a, b; Watson et al. 2010). Einsatzkräfte sollten demnach möglichst darauf achten, dem Gegenüber das subjektive Gefühl zu geben, respektvoll und fair behandelt zu werden (de Tribolet-Hardy et al. 2015; Watson et al. 2010). Das Verhalten der Einsatzkräfte ist hierbei entscheidend dafür, wie gerecht sich das polizeiliche Gegenüber behandelt fühlt (Livingston 2016). • Umgang mit Wahngedanken Aus psychologischer Sicht ist es ratsam, dass Einsatzkräfte Wahninhalte (z. B. „Meine Nachbarn verstrahlen meine Wohnung und das macht mir Angst.“) nicht durch Äußerungen (z. B. „Dann entstrahlen wir jetzt Ihre Wohnung.“) oder Handlungen (z. B. durch Entstrahlen der Wohnung mit dem Funkgerät) verstärken. Vielmehr sollte versucht werden, emphatisch auf das emotionale Erleben einzugehen (z. B. „Ich glaube Ihnen, dass sie Angst haben.“), Wahninhalte dabei nicht zu verstärken und falls nötig den Zugang zum psychiatrischen Hilfesystem anzubieten. Für eine detaillierte Ausführung zum Umgang mit psychisch erkrankten Menschen wird auf Schmalzl und Latscha (2016) verwiesen. c) Einsatztrainer*innen Einsatztrainer*innen sollten in der Aus- und Fortbildung möglichst interaktive Szenarientrainings nutzen, um die Kommunikation und das Verhalten in entsprechenden Einsätzen zu üben. Hierbei kann auf vergangene reale Fälle zurückgegriffen werden. Der Schwierigkeitsgrad sollte dabei nicht zu hoch sein, um Trainierenden positive Erfahrungen und die Entwicklung ihrer Selbstwirksam keitsüberzeugung zu ermöglichen. Idealerweise gelingt ein multiprofessionelles Training, welches mit den Trainierenden und anderen Berufsgruppen (z. B. Psycholog*innen) gemeinsam reflektiert wird, um verschiedene Perspektiven einzunehmen (siehe Kap. 3 in diesem Band).
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Menschen mit psychischen Erkrankungen in Polizeieinsätzen – Besonderheiten und …
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Der polizeiliche Umgang mit aggressiven Verhaltensweisen bei Menschen mit psychischen Störungen – Handlungskonzepte, Spannungsfelder und Notwendigkeiten der zukünftigen Beforschung Jürgen Biedermann und Karoline Ellrich Inhaltsverzeichnis 1 H intergrund und Relevanz der Thematik für die Polizei 2 Das Seminarkonzept „Krank und/oder gefährlich? – Polizeilicher Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen“ 2.1 Das grundlegende Einsatzmodell auf der Basis verschiedener Bedingungen für aggressive Verhaltensweisen im Kontext psychischer Störungen 2.2 Aggressive Handlungen als Folge einer rationalen Kosten-Nutzen-Analyse bei dissozialen Persönlichkeitsstörungen 2.3 Aggressive Handlungen als Folge eines subjektiv empfundenen Bedrohungszustands im Kontext psychotischer Zustandsbilder 2.4 Aggressive Handlungen als Folge von Selbstwertkränkungen im Kontext des Konsums von Rauschmitteln 2.5 Aggressive Handlungen als Folge von emotionalen Regulationsproblemen im Kontext der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung 2.6 Zu gewaltsamen Überwältigungsstrategien bei Scheitern des kommunikativen Beziehungsaufbaus
432 433 434 436 436 438 439 440
Beide Autoren haben gleichwertig an der Erstellung dieses Beitrags mitgewirkt. Reviewer*innen: Sandra Adiarte, Andrea Reinartz, Linus Wittmann
J. Biedermann (*) Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg, Oranienburg, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Ellrich Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg, Villingen-Schwenningen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_23
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J. Biedermann und K. Ellrich
432
3 V ergleich des grundlegenden Einsatzmodells mit anderen Handlungsempfehlungen 3.1 Berücksichtigung aggressionsbegünstigender störungsspezifischer Bedingungen 3.2 Indikationen für einen gewaltsamen Zugriff 4 Allgemeine Voraussetzungen für spezifische Einsatzmodelle im Bereich psychischer Störungen und deren didaktische Vermittlung 5 Zukünftige Forschungsansätze Literatur
441 441 443 444 444 448
Zusammenfassung
Obgleich die Notwendigkeit adäquater polizeilicher Konzepte im Umgang mit Aggressionen von Menschen mit psychischen Störungen erkannt wurde, fehlt bislang ein anerkannter und dezidiert empirisch begründeter Ansatz hierzu. Ein unzureichendes Verständnis von Erlebenswirklichkeiten bei unterschiedlichen psychischen Störungsbildern sowie mangelnde Trainingskonzepte begünstigen sowohl Stigmatisierungstendenzen als auch Handlungsunsicherheiten. An dieser Stelle setzt das im Beitrag vorgestellte polizeiliche Einsatzmodell an, welches verschiedene Bedingungen für aggressive Verhaltensweisen im Kontext psychischer Störungen differenziert und in ein interdisziplinär ausgerichtetes Seminarkonzept eingebettet ist. Daran anknüpfend werden Spannungsfelder zu bisherigen Handlungsempfehlungen skizziert und allgemeine Voraussetzungen zur didaktischen Vermittlung aufgezeigt. Zudem sollen Ansatzpunkte für die empirische Beforschung entsprechender Interventionsansätze diskutiert werden.
1
Hintergrund und Relevanz der Thematik für die Polizei
Die Relevanz psychischer Störungen im polizeilichen Einsatzgeschehen ergibt sich weniger über eine bloße Betrachtung der Quantität polizeilicher Einsätze mit Personen mit psychischen Störungen, sondern vor allem durch die Qualität, die derartige Einsätze entwickeln können. Gleichwohl verweisen jüngere Studien darauf, dass zumindest in der Wahrnehmung von Polizeibeamt*innen auch Zuwächse auf einer quantitativen Ebene zu verzeichnen sind (Wittmann und Groen 2021). Psychische Störungen beinhalten ein großes Spektrum an Krankheitsbildern, die sich in der Schwere, Dauer und Art der Symptomatik stark unterscheiden und unter Einbezug auch leichterer psychischer Störungen in der Bevölkerung weitverbreitet sind (Jacobi et al. 2014). In vielen Fällen muss sich eine psychische Störung nicht merklich auf das Verhalten von Personen in polizeilichen Einsatzsituationen auswirken oder besondere Handlungsstrategien notwendig machen. Auf der anderen Seite können bestimmte psychische Störungen in Kombination mit spezifischen Rahmenbedingungen einen eskalierenden Einsatzverlauf begünstigen. Dies kann sich in einem erhöhten Gewaltrisiko für Polizeikräfte niederschlagen (Ellrich und Baier 2014); zugleich ergibt sich ein hoher Anteil psychisch erkrankter Personen bei poli-
Der polizeiliche Umgang mit aggressiven Verhaltensweisen bei Menschen mit …
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zeilichen Schusswaffeneinsätzen mit tödlichem Ausgang (Australian Institute of Criminology 2013; für Deutschland siehe Finzen 2014; Siegmund 2014), und auch im Rahmen von polizeilichen Einsätzen steht bei psychisch erkrankten Personen häufig zunächst einmal ein erhöhtes Eigengefährdungsrisiko im Vordergrund (Wittmann et al. 2020). Auf dieser Grundlage nicht überraschend wird der Kontakt mit psychisch erkrankten Personen von der Polizei häufig als belastend, gefährlich und unberechenbar empfunden (siehe Litzcke 2004a). Gleichzeitig fühlen sich viele Polizist*innen nicht ausreichend gut für diese Einsatzsituationen ausgebildet (Ellrich et al. 2012, s. a. Kap. „Menschen mit psychischen Erkrankungen in Polizeieinsätzen – Besonderheiten und deren Bedeutung für die Praxis“ in diesem Band). Ziel sollte es daher sein, die Handlungssicherheit durch adäquate polizeiliche Trainingskonzepte zu erhöhen, um gewaltbegünstigenden Einsatzverläufen soweit möglich vorzubeugen. Bisherige Ausarbeitungen zu diesem Thema sind meist auf einzelne mehr oder weniger konkrete Handlungsempfehlungen begrenzt, werden aber nicht in ein übergeordnetes Gesamtkonzept integriert. An dieser Stelle setzt das nachfolgende Seminarkonzept an, welches überblicksweise vorgestellt werden soll.1
2
as Seminarkonzept „Krank und/oder gefährlich? – D Polizeilicher Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen“
Das oben betitelte interdisziplinär ausgerichtete Seminarkonzept mit speziellem Bezug zum Umgang mit fremdaggressiven Verhaltensweisen bei psychischen Störungen wurde zunächst innerhalb der Polizei Berlin als mehrtägige Fortbildungsveranstaltung entwickelt und anschließend im Rahmen eines sogenannten Wahlpflichtmoduls für Studierende des gehobenen Polizeivollzugsdienstes an die Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg transferiert. Es gliedert sich in vier Teilbereiche (1) Psychologische Grundlagen psychischer Störungen und darauf aufbauende polizeiliche Handlungskonzepte, (2) rechtliche Rahmenbedingungen, (3) praktische Übungen (unter Einbezug der Fachbereiche Einsatzlehre und Sozialkompetenz-Entwicklung) (4) Einbindung von Netzwerkpartnern innerhalb und außerhalb der Polizei (z. B. Exkursionen zur Verhandlungsgruppe, in die Psychiatrie, in den Maßregelvollzug) und verzahnt damit in besonderer Weise Wissenschaft und Praxis. Ziel ist es, einen vertieften Verständniskontext zu generieren, wozu es neben einem differenzierten Blick auf die Gewaltentstehung bei psychischen Erkrankungen des Einbezugs konkreter Beispiele, szenarienbasierter Übungen sowie des reflektierten Umgangs mit antizipierten Schwierigkeiten und Fallstricken auf Basis eigener Praxiserfahrungen bedarf. Zugleich gilt es, der Gefahr einer schablonenhaften Übernahme bestimmter kom-
Aufgrund der Begrenzung des Umfangs dieses Beitrags haben die nachfolgenden Betrachtungen einen kursorischen Charakter. Nähere Informationen sowie konkrete Beispiele sind der über das Extrapol-Netzwerk der Polizei zugänglichen Fortbildungsschrift zu entnehmen (Biedermann 2017). 1
434
J. Biedermann und K. Ellrich
munikativer Formulierungen in Verbindung mit einem nicht authentischen Auftreten entgegenzuwirken. Grundlage des Seminars und Schwerpunkt des vorliegenden Beitrags bildet das nachfolgend vorzustellende Einsatzmodell, welches sich dem erstgenannten Teilbereich zuordnen lässt und Erkenntnisse aus verschiedenen Wissenschaftsgebieten (u. a. der psychosozialen Krisenintervention, rechtspsychologischen Risiko- und Gefährlichkeitseinschätzung) im Hinblick auf die Erfordernisse polizeilicher Einsatzstrategien integriert.
2.1
as grundlegende Einsatzmodell auf der Basis verschiedener D Bedingungen für aggressive Verhaltensweisen im Kontext psychischer Störungen
Wie aus Abb. 1 ersichtlich, baut das Modell zunächst auf vertrauten Grundsätzen der allgemeinen polizeilichen Einsatzgestaltung und Eigensicherung nach dem polizeilichen Leitfaden 371 auf. Zentral ist die darüber hinausgehende Berücksichtigung situativer, personenbezogener und störungsspezifischer (Risiko-)Faktoren, denen aggressive Handlun-
Abb. 1 Das grundlegende Einsatzmodell innerhalb des Seminarkonzepts, welches auf einer Differenzierung verschiedener Bedingungen für aggressive Verhaltensweisen beruht („innere Handlungslogik“). (Quelle: adaptiert nach Biedermann 2020)
Der polizeiliche Umgang mit aggressiven Verhaltensweisen bei Menschen mit …
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gen im Kontext psychischer Erkrankungen unterliegen können. Es geht also zunächst um die kommunikative Erarbeitung eines adäquaten Konfliktverständnisses („innere Handlungslogik“) für den vorliegenden Fall. Hierfür ist ein vertieftes Wissen über die möglichen Auswirkungen bestimmter psychischer Störungen von großem Vorteil, nicht aber das Stellen einer Diagnose, was auch nicht in den Aufgabenbereich der Polizei fällt. Genauso wenig zielt die Erarbeitung eines Konfliktverständnisses darauf ab, mögliche strafbare Handlungen des Gegenübers in irgendeiner Weise zu legitimieren. Wird diese Unterscheidung nicht beachtet, sinkt gegebenenfalls die persönliche Bereitschaft, sich im Rahmen einer empathischen Grundhaltung auf die Perspektive der anderen Person einzulassen. Liegen Hinweise für die „innere Handlungslogik“ in der jeweiligen Fallkonstellation vor, können aggressionsreduzierende Bedingungen abgeleitet werden. Unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in der Folge ein gestuftes Vorgehen zur Erreichung der polizeilichen Ziele unter möglichst weitreichendem Einsatz kommunikativer Mittel angestrebt, was allerdings nicht bedeutet, dass gewaltsame Überwältigungsstrategien stets vermieden werden können. Was die Gefährlichkeit psychischer Störungen betrifft, ist zunächst einmal irreführenden stereotypen Vorstellungen und damit verbundenen Stigmatisierungen zu begegnen (vgl. Schomerus et al. 2017; Wundsam et al. 2007). Psychische Störungen führen keinesfalls zu einer pauschalen bzw. unberechenbaren Gefährlichkeit (Andrews und Bonta 2010). Dies gilt es, sich stets bewusst zu machen, ansonsten können sich entsprechende kognitive Fehleinschätzungen (unbewusst) in negativen emotionalen (z. B. Angst, Ärger) und verhaltensbezogenen Reaktionen (z. B. weniger Geduld oder Kommunikationsbereitschaft) psychisch erkrankten Personen gegenüber niederschlagen (vgl. Rüsch et al. 2004; Kap. „Menschen mit psychischen Erkrankungen in Polizeieinsätzen – Besonderheiten und deren Bedeutung für die Praxis“ in diesem Band). Gleichwohl weisen bestimmte psychische Störungen, allerdings wiederum lediglich unter bestimmten Bedingungen, ein erhöhtes Risiko für Gewalthandlungen auf (Andrews und Bonta 2010; Fazel et al. 2009; Kröber 2011; Nedopil 2004). Für die Polizei erscheinen in diesem Kontext drei Störungsgruppen von zentraler Bedeutung, wenn als ein zusätzliches Kriterium die Auftretenshäufigkeit miteinbezogen wird (vgl. Litzcke und Hermanutz 2004; Schmalzl und Latscha 2016): 1. Psychotische Störungen, insbesondere die Schizophrenie, 2. Substanzinduzierte Störungen, insbesondere die akute Alkohol- und Drogenintoxikation sowie 3. Persönlichkeitsstörungen, insbesondere die dissoziale (antisoziale) Persönlichkeitsstörung und die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, die auch als Borderline-Persönlichkeitsstörung bezeichnet wird. Nachfolgend werden bei diesen Störungsbildern aggressionssteigernde Bedingungen gemäß der „inneren Handlungslogik“ und daraus abzuleitende sinnvolle polizeiliche Handlungsstrategien behandelt. Einige der aggressionssteigernden Bedingungen können auch außerhalb dezidierter psychischer Störungen auftreten, wirken allerdings im Zusammenspiel mit psychischen Störungen regelhaft besonders stark.
436
2.2
J. Biedermann und K. Ellrich
ggressive Handlungen als Folge einer rationalen KostenA Nutzen-Analyse bei dissozialen Persönlichkeitsstörungen
Der nüchtern kalkulierte und gezielte Einsatz aggressiver Verhaltensweisen zur Durchsetzung eigener Interessen, welche auch aus einer rationalen Perspektive als Vorteile anzuerkennen sind (bspw. persönliche Bereicherung, Flucht vor der Polizei) wird gemeinhin nicht mit dem Einfluss psychischer Störungen in Verbindung gebracht. Bei Personen mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung begünstigt ein Syndrom weiterer Merkmale allerdings die Ausübung derart kalkulierter Aggressionshandlungen (u. a. gewaltlegitimierende Einstellungen, Empathiedefizite, mangelndes Schuldbewusstsein, siehe World Health Organization 1992), wobei die strafrechtlich relevante Steuerungsfähigkeit trotz psychischer Störung im Allgemeinen nicht erheblich beeinträchtigt ist (vgl. Boetticher et al. 2007). Als Indiz für das Vorliegen einer derartigen Persönlichkeitsproblematik kann eine polytrope und ausgedehnte strafrechtliche Vorgeschichte gewertet werden. Eine entsprechende Einsatzvorbereitung, welche u. a. die Recherchemöglichkeiten in den polizeilichen Informationssystemen umfasst, ist daher von großem Vorteil. In Bezug auf polizeiliche Handlungsstrategien erscheint hier vor allem ein professionell- unaufgeregtes, selbstsicheres Aufzeigen der polizeilichen Übermacht sinnvoll, um die subjektiv eingeschätzte Erfolgsaussicht aggressiver Handlungen des Gegenübers und somit auch die Wahrscheinlichkeit entsprechender Gewaltausübung zu reduzieren. Zudem sollte man sich durch eine im Spiel mit aggressiven Drohgebärden geübte Person nicht zu unüberlegten und nachteiligen Überreaktionen verleiten lassen. Die skizzierte Strategie dürfte in weiten Teilen dem tradierten, „klassischen“ Vorgehen der Polizei bei gewaltbereiten Personen entsprechen, die unter Umständen eine erhöhte „kriminelle Energie“, allerdings keine eingeschränkte Realitätsprüfung aufweisen.
2.3
ggressive Handlungen als Folge eines subjektiv empfundenen A Bedrohungszustands im Kontext psychotischer Zustandsbilder
Im Unterschied zu den obigen Betrachtungen sind aggressive Verhaltensweisen bei psychotischen Störungen bzw. schizophrenen Erkrankungen als zentraler Unterform regelmäßig an einen subjektiv empfundenen Bedrohungszustand gekoppelt, eine „psychotische Angst“, die keine rational nachvollziehbare Grundlage zu haben scheint. Dieser Zustand resultiert aus einer krankheitsbedingten Verkennung der Realität durch wahnhafte Überzeugungen (bspw. fühlt sich jemand in der Folge eines paranoiden Wahns von anderen Personen massiv bedroht und möchte sich gegen diese Bedrohung nun wehren) oder Wahrnehmungsstörungen (bspw. dem Hören beleidigender oder befehlender Stimmen, siehe Finzen 2014; Kröber und Lau 2010). Zudem kann eine beeinträchtigte Fähigkeit zur kognitiven und emotionalen Verarbeitung von Außenreizen zu einer Art „Reizüberflutung“ und aggressiven Überforderungsreaktionen bei Konflikten führen, die aus einer Außenper-
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437
spektive geringfügig erscheinen. Kröber (2011) spricht hier von einem unheilvollen „Zusammenprall zweier Welten“, der des Kranken und der des sozialen Umfelds. Ein erhöhtes Risiko für Gewalthandlungen ergibt sich bei psychotischen Erkrankungen neben der eigentlichen Krankheitssymptomatik vor allem in Kombination mit weiteren Faktoren, u. a. bereits prämorbid vorhandenen aggressionsbegünstigenden Persönlichkeitsfaktoren, einer komorbiden Alkohol- oder Drogenproblematik, früheren Viktimisierungserfahrungen, einer mangelhaften sozialen Unterstützung und Einbettung in das psychiatrische Versorgungssystem sowie fehlender Krankheits-/Behandlungseinsicht (Fazel et al. 2009; Hiday 1997; Kröber und Lau 2010; Nedopil 2004). Beispiel
Ein 24-jähriger Mann ist an Schizophrenie erkrankt, fühlt sich u. a. durch seine Nachbarn verfolgt und abgehört. In seiner Wahrnehmung wollen die Nachbarn mittels spezieller Strahlen zusätzlich seine Gedanken manipulieren und versuchen, mit beleidigenden Stimmen auf ihn einzuwirken. Dagegen versucht er, sich mittels spezieller Installationen und Folien zu schützen, die er in seiner Wohnung, zusätzlich allerdings auch im Hausflur anbringt. Um sein Bedrohungsempfinden zu dämpfen und besser schlafen zu können, konsumiert er verstärkt Alkohol und Cannabis, was ihm zeitweise helfen mag, seinen Zustand aus objektiver Sicht allerdings langfristig verschlechtert. Die Nachbarn empfinden seine Installationen als „Unrat“ und wollen diese entfernen. Der 24-Jährige fühlt sich dadurch massiv bedroht, hat Angst um sein Leben und greift den „Entsorgungstrupp“ an, was die Nachbarn wiederum überhaupt nicht nachvollziehen können. Es kommt es zu einer Gewalteskalation und die Polizei wird alarmiert. Der Mann verschanzt sich daraufhin mit einem Messer in der Hand in seiner Wohnung … ◄ Polizeiliche Interventionsstrategien sollten sich in einem solchen Bedingungsgefüge zentral auf eine Reduktion des Bedrohungsgefühls und die Vermeidung einer weiteren situativen Überförderung beziehen. Wenngleich nicht immer, lassen sich Hinweise für eine derartige psychotische Problematik in vielen Fällen identifizieren, falls eine entsprechende Sensibilität besteht (siehe Dörner et al. 2010; Rey 2011). Überdies verweist die Studie von Litzcke (2004b) darauf, dass insbesondere Polizist*innen vielfach in der Lage sind, mit einer Schizophrenie verbundene Auffälligkeiten korrekt zuzuordnen. Ein wichtiger Baustein innerhalb der übergeordneten Interventionsstrategie bei psychotischen Personen besteht in der Einhaltung eines ausreichenden Sicherheitsabstands (Finzen 2014; Rupp 2012), welcher freilich auch unabhängig von psychischen Erkrankungen als wichtiger Aspekt der Eigensicherung betrachtet wird (vgl. Ellrich und Baier 2014). Dabei verfügen psychotische Personen gegebenenfalls über ein erhöhtes Abstandsbedürfnis, um sich nicht bedroht zu fühlen (Schmalzl 2004). Auf der anderen Seite sollten auch die psychotischen Personen selbst, insbesondere im Rahmen einer Bewaffnung, frühzeitig und proaktiv auf die Einhaltung eines ausreichenden Sicherheitsabstands hingewiesen werden, da diesen die Konsequenz einer Unterschreitung von Sicherheitsabständen mitun-
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J. Biedermann und K. Ellrich
ter nicht mehr bewusst ist. Hier ergibt sich ein deutlicher Unterschied zu im Kontakt mit der Polizei erfahrenen Personen mit intaktem Realitätsbezug. Als Grundlage für eine kommunikative Beeinflussung der Person ist im Weiteren eine transparente und konstruktive Arbeitsbeziehung zu schaffen (u. a. bzgl. des Anlasses für das Erscheinen der Polizei, der primären Zielstellung der Polizei, weitere Gefahren von allen Beteiligen abzuwenden). Falls in diesem Rahmen wahnhafte Inhalte und Wahrnehmungsstörungen geäußert werden, sollten diese als subjektive Realität akzeptiert werden (Dörner et al. 2010; Schmalzl 2004). Nicht zu empfehlen ist somit einerseits ein „Dagegenhalten“ mit rationalen Argumenten sowie andererseits eine scheinbare Übernahme der Realität des anderen. Beispielhaft würde sich dieser Ansatz folgendermaßen ausdrücken: „Ich glaube Ihnen, dass Sie sich verfolgt fühlen und Stimmen hören. Ich kann diese Stimmen allerdings nicht hören.“ Unter der Verwendung von Elementen des aktiven Zuhörens kann im günstigen Fall ein Konfliktverständnis aufgebaut werden, auf dessen Grundlage die Annahme weiterer Hilfe fußen kann (Dörner et al. 2010; Schulz und Zechert 2004), bspw. „So wie ich das verstanden habe, benötigen Sie einen Ort, an dem Sie vor Ihren Verfolgern geschützt sind und sich nicht mehr bedroht fühlen. Wir wollen Ihnen hierbei helfen und Sie zunächst einmal in ein Krankenhaus begleiten.“). Als Voraussetzung hierfür ist eine Grundhaltung anzustreben, die Sicherheit, Ruhe und Respekt ausstrahlt (Richter 2004). Nicht zur Diskussion stehende Entscheidungen (bspw. die Zuführung zu einem Krankenhaus bei akuter Fremd- und Eigengefährdung) sollten nicht im Sinne einer Pseudowahlfreiheit infrage gestellt werden, gleichwohl können möglicherweise Entscheidungsspielräume bei der konkreten Umsetzung von Maßnahmen eingeräumt werden (Rupp 2012). Im Sinne eines „geschmeidigen“ Führens muss hierbei auch anerkannt werden, dass die Person in ihrem Zustand ggf. mit bestimmten Entscheidungen überfordert ist und eine authentisch zugewandte Haltung benötigt, die Orientierung und Sicherheit hinsichtlich des weiteren Ablaufs der Intervention bietet.
2.4
ggressive Handlungen als Folge von Selbstwertkränkungen A im Kontext des Konsums von Rauschmitteln
Die Gefährlichkeit des Konsums von Alkohol und Drogen in Bezug auf fremdaggressive Verhaltensweisen ergibt sich vor allem in der Kombination mit bestimmten Situationsvariablen sowie Faktoren der Vorgeschichte und der Persönlichkeit einer Person, die in der Folge eine gefährliche Mischung ergeben (u. a. Beck und Heinz 2013; White et al. 2013). Alkohol und Drogen können eine enthemmende Wirkung haben, die Risikobereitschaft erhöhen und mit einer reduzierten Fähigkeit zur Verarbeitung von Informationen einhergehen. Hinsichtlich der „inneren Handlungslogik“ aggressiver Verhaltensweisen erweisen sich auf der situativen Ebene vor allem ein aufgestautes Frusterleben aufgrund der aktuellen Lebenssituation, Selbstwertprobleme oder empfundene Provokationen hinsichtlich der eigenen Ehre als bedeutsam (Kassin et al. 2013).
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439
In Bezug auf polizeiliche Interventionsstrategien sollte trotz eines notwendigen Setzens von Verhaltensgrenzen (bspw. im Sinne eines gefahrenabwehrrechtlich begründeten Platzverweises) darauf geachtet werden, weitere Destabilisierungen des Selbstwerts zu vermeiden, um nicht zusätzlich „Öl ins Feuer“ zu gießen. Unter Beachtung der noch vorhandenen kognitiven Leistungsfähigkeit sollte der betroffenen Person die Möglichkeit eingeräumt werden, etwaige Konflikte aus ihrer Sicht zu schildern. Dies signalisiert nicht nur Wertschätzung und Interesse, zugleich wird damit ein Konfliktverständnis erzielt, das sowohl der Ausrichtung und Vermittlung der weiteren Gefahrenabwehr als auch gegebenenfalls als Informationsgrundlage für die Strafverfolgung dient. Bei der Benennung und Unterbindung kritischer Verhaltensweisen der betroffenen Person sollte darauf geachtet werden, eine globale Abwertung der Person zu vermeiden und nicht in einen herablassenden, belehrenden Stil zu verfallen. Diese Empfehlung gilt natürlich auch allgemein für andere Einsatzsituationen. Allerdings ist die Einnahme einer respektvollen und dennoch grenzsetzenden Haltung gerade gegenüber berauschten Personen häufig von besonderer Schwierigkeit, u. a. weil diese in einer teilweisen tragischen Manier nach Anerkennung und Respekt streben und das Gegenüber zu Rivalitätskämpfen herausfordern. Auf diese sollte man jedoch nicht einsteigen, da ansonsten die Gefahr droht, lediglich Pyrrhussiege zu erzielen (vgl. Meichenbaum und Novaco 1985).
2.5
ggressive Handlungen als Folge von emotionalen A Regulationsproblemen im Kontext der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung
Die Verbindung der emotional-instabilen bzw. Borderline-Persönlichkeitsstörung zu Ausbrüchen aggressiven Verhaltens besteht zentral in unzureichend ausgeprägten Emotionsregulationsfähigkeiten, wobei diese Problematik mit ungünstigen Entwicklungsbedingungen, u. a. Missbrauchserfahrungen in der Kindheit, in Verbindung gebracht wird (u. a. Bandelow et al. 2005; Heard und Linehan 1994). Insbesondere sich zuspitzende Konflikte im sozialen Beziehungsgefügte (bspw. Beendigung einer partnerschaftlichen Beziehung, Zurückweisung seitens wichtiger Bezugspersonen) stellen häufig einen Auslöser für hochgradige Erregungs- und Anspannungszustände dar, die in der Folge zu eigen-, aber auch zu fremdaggressiven Verhaltensweisen führen können. Hinweise auf eine derartige Persönlichkeitsproblematik (in strenger Abgrenzung zu einer Diagnosestellung!) können sich auf der Basis erheblicher Selbstverletzungen (in Form von Narben durch selbst zugefügte Schnitte etc.) oder durch Fremdberichte (falls die Person bspw. in einer betreuten Einrichtung wohnt) sowie anhand früherer Einsätze mit der betreffenden Person ergeben. In Anbetracht des Erregungszustands der betroffenen Person sollte zunächst ein adäquater Sicherheitsrahmen geschaffen werden, um eine eigene Ruhe für das Einschreiten zu gewinnen. Der nächste Schritt zielt darauf ab, sich die Erregung der betroffenen Person erklären zu lassen und ein Verständnis für den Konflikt aus deren Sicht zu erlangen („Was
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J. Biedermann und K. Ellrich
ist denn aus Ihrer Sicht passiert, dass es so weit kam?“, vgl. Richter 2004; Schulz und Zechert 2004). Hierbei spielt insbesondere auch das Anerkennen der emotionalen Situation des Gegenübers im Sinne des aktiven Zuhörens eine bedeutende Rolle. Dadurch soll eine verbale Kanalisierung der Erregung erzielt werden, in deren Folge sich die Person beruhigt und wieder zugänglicher wird. Erst auf dieser Basis kann nachvollziehbar vermittelt werden, welche Interventionsschritte die Polizei nun anstrebt. Körperliche Berührungen können je nach der Vorgeschichte der Person (bspw. Missbrauchserfahrungen) angstbesetzt sein und sollten, wenn notwendig (bspw. eine Durchsuchung nach Waffen), vorbesprochen werden, um falsche Befürchtungen zu zerstreuen. Eine solche Strategie ermöglicht es der betroffenen Person, sich unter weitgehender Wahrung der eigenen Handlungsautonomie an die polizeiliche Erwartungshaltung anzupassen und somit den Einsatz von Zwangsmitteln zu verhindern. Im Hinblick auf den Umgang mit Provokationen bei emotional hochgradig erregten Personen ergibt sich ein Spannungsfeld. Einerseits kann die ein oder andere Provokation überhört werden. Gleichzeitig sollten Grenzsetzungen so frühzeitig erfolgen, dass diese nach wie vor mit Bestimmtheit, Ruhe und Sicherheit ausgestrahlt werden können (Rupp 2012). Zudem können Personen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung biografiebedingt über sehr feine Antennen in Bezug auf die Gefühlslagen und Intentionen anderer Personen verfügen. Deshalb sind eine authentisch-zugewandte Haltung, eindeutige Botschaften und eine klare Absprache im Team sehr wichtig für gelingende polizeiliche Interventionen.
2.6
u gewaltsamen Überwältigungsstrategien bei Scheitern des Z kommunikativen Beziehungsaufbaus
Wenngleich nach dem oben skizzierten Einsatzmodell eine Erhöhung der Wahrscheinlichkeit angestrebt wird, eine kommunikative Lösung für akute Krisenlagen zu erzielen, sollte man stets auch auf das Scheitern einer solchen Einflussnahme vorbereitet sein. Die Polizei muss sich in ihrem Zuständigkeitsbereich auch Personen stellen, die hinsichtlich der Notwendigkeit polizeilicher Maßnahmen zur Abwehr akuter Eigen- bzw. Fremdgefährdung leider nicht überzeugt werden können. Falls in diesem Kontext gewaltsame Überwältigungsstrategien notwendig werden, sollten diese bisherigen Erfahrungen zufolge koordiniert, zielstrebig, entschlossen, schnell und mit körperlicher Übermacht erfolgen (vgl. Schulz und Zechert 2004). Ein sich länger hinziehender Kampf geht hingegen mit dem Risiko unnötiger Schäden für die Polizei und die festzunehmende Person einher und ist daher unbedingt zu vermeiden. Im Bereich der klinischen Krisenintervention haben sich diesbezüglich gezielte Trainings (wer bspw. welches Körperteil ergreift, wer sich um den Schutz des Kopfes kümmert) als gewinnbringend erwiesen (ebd.). So wird die persönliche Sicherheit erlangt, auch im Falle eines Scheiterns der Kommunikation noch adäquat reagieren zu können. Damit verbunden sinkt das eigene Anspannungsniveau im Einsatz,
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was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, die Situation allein mit kommunikativen Mitteln beruhigen zu können (Richter 2004). Wichtig ist im Falle gewaltsamer Überwältigungsstrategien bei psychisch beeinträchtigten Personen allerdings auch, dass diese verbal begleitet und nachbereitet werden. Im Kontrast zu polizeierfahrenen Personen aus dem kriminellen Milieu können Zwangsmaßnahmen insbesondere von psychotischen Personen nicht mehr aus einer rationalen Perspektive nachvollzogen werden und einen traumatisierenden Charakter aufweisen. Im Weiteren herrschen teilweise extreme Befürchtungen hinsichtlich des weiteren Vorgehens nach der Überwältigung (vgl. McGuinness et al. 2013; Watson et al. 2008). Unterbleiben entsprechende Erklärungsansätze im Rahmen der Zwangsanwendung, können sich derartige Erfahrungen auch auf zukünftige Interaktionen mit der Polizei negativ auswirken.
3
ergleich des grundlegenden Einsatzmodells mit V anderen Handlungsempfehlungen
Bei einer Recherche zum polizeilichen Umgang mit Menschen mit psychischen Störungen stößt man in Bezug auf deutschsprachige Veröffentlichungen aus der jüngeren Zeit zentral auf das Themenheft „Polizei & psychisch Kranke“ (2004 in der Zeitschrift Polizei & Wissenschaft erschienen) und den Sammelband „Grundwissen Psychisch Kranke“ (Lorei und Hallenberger 2016), auf einen Beitrag in einem Lehrbuch für Polizeipsychologie (Hermanutz und Hermanutz 2016) sowie einzelne Beiträge in polizeinahen Publikationsorganen (u. a. Füllgrabe 2011; Hermanutz und Litzcke 2004). Diese Ausarbeitungen und Handlungsempfehlungen stellen auch für das oben skizzierte Einsatzmodell eine wichtige Grundlage dar und finden sich dort teilweise wieder (vgl. Biedermann 2017, 2020). Zugleich ergeben sich Spannungsfelder, die es beispielhaft zu skizzieren gilt.2
3.1
Berücksichtigung aggressionsbegünstigender störungsspezifischer Bedingungen
Ein Spannungsfeld betrifft den Differenzierungsgrad aggressionsbegünstigender Bedingungen im Kontext psychischer Störungen und daraus abzuleitender konkreter Handlungsempfehlungen. Bisherige Ansätze bleiben an dieser Stelle eher allgemein oder fokussieren ein Störungsbild. So empfehlen bspw. Hermanutz und Litzcke (2004) bei psychisch kranken Personen grundsätzlich, zunächst nicht von allgemein empfohlenen Kommunikationsstrategien bei Personenkontrollen abzuweichen, wenngleich nachgeordnet dennoch
Ein Vergleich ist freilich nur eingeschränkt möglich, insofern der Darstellungsraum bei Zeitschriftenartikeln und einzelnen Buchkapiteln im Gegensatz zu einer Fortbildungsschrift deutlich beschränkter und das vorgestellte grundlegende Einsatzmodell Teil eines umfassenden praxisbezogenen Seminarkonzepts ist. 2
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einige Besonderheiten bei „Wahnkranken“ erwähnt werden. Bei Hermanutz und Hermanutz (2016) werden die Empfehlungen im Umgang mit psychisch kranken Personen zwar in vier Phasen aufgeteilt (vor Erstkontakt, Erstkontakt, Gesprächsführung, Zugriff), es erfolgen an dieser Stelle jedoch ebenfalls keine Differenzierungen nach verschiedenen Störungshintergründen und damit verbundenen Bedingungen für aggressive Verhaltensweisen. Darüber hinaus erschließt sich der Begründungskontext für manche Empfehlungen nicht, die daher als allgemeine Empfehlungen nicht überzeugen, bspw. „keine offenen Fragen“, „kein direkter Blickkontakt“ (Hermanutz und Hermanutz 2016, S. 217). Erst im Anschluss werden verschiedene polizeirelevante psychische Störungen vorgestellt und spezifische Verhaltensempfehlungen dargelegt. Diese fallen jedoch sehr knapp aus und werden nur bedingt in Verbindung zu dem zuvor dargelegten Phasenmodell gebracht. Bei Schmalzl und Latscha (2016) wird verstärkt versucht, ein Verständnis für die Ausgangslage von Personen mit psychotischen Symptomen zu erzeugen. Es ergeben sich deutliche Parallelen zu den Empfehlungen des oben dargestellten Interventionskonzepts bei psychotischen Erkrankungen. Die antisoziale Persönlichkeitsstörung und substanzinduzierte Störungen werden zwar erwähnt, es erfolgt allerdings kein kontrastierender Vergleich zu psychotischen Erkrankungen in Bezug auf die Risikokonstellationen aggressiver Handlungen bei diesen Störungen und hierzu passende Interventionsstrategien. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung und ihre Verbindung zu aggressiven Verhaltensweisen werden nicht weiter thematisiert. Auch Füllgrabe (2011) bezieht sich in seinen Ausführungen speziell auf die Schizophrenie. Neben Parallelen zu den Empfehlungen des hier vertretenen Einsatzmodells werden allerdings auch problematische Ratschläge erteilt, die kurzfristig und in Einzelfällen funktionieren mögen, aber nicht allgemein zu empfehlen sind (Biedermann 2017). Dies betrifft insbesondere sogenannte „Tricks“ im Umgang mit wahnhaften Überzeugungen. So wird beispielsweise der inszenierte Funkspruch „Hier spricht der liebe Gott, verlassen Sie sofort das Polizeifahrzeug, sonst schlägt ein Blitz ein“ als fantasievolle Maßnahme beworben. Das Risiko einer Störung des Vertrauensverhältnisses gegenüber der Polizei, bereits während des Einsatzes oder nach Abklingen der akuten psychotischen Symptomatik, auch bei den Angehörigen, wird hingegen nicht weiter thematisiert. Zudem könnte die Wahl mancher sprachlichen Formulierungen insbesondere bei selbst Betroffenen zu Irritationen führen (so lautet der Titel des Beitrags bspw. „Umgang mit psychisch Gestörten“). Wie deutlich wird, betont das vorgestellte Einsatzmodell in einem stärkeren Ausmaß als frühere Ansätze die Notwendigkeit einer Unterscheidung situativer und störungsspezifischer Bedingungen aggressiver Verhaltensweisen. Obgleich eine dezidierte Diagnosestellung im Einsatz weder möglich noch gefordert ist und im konkreten Einzelfall Vermischungen verschiedener Diagnosen und aggressionssteigernder Bedingungen vorliegen können, soll im Sinne eines idealtypischen Vorgehens (Weber 1984) ein in sich stimmiger Verständnis- und Begründungshintergrund für verschiedene Grundtypen von Einsatzkonstellationen mit psychisch erkrankten Personen geschaffen werden. Insofern sind die dar-
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gestellten Handlungsempfehlungen als Bausteine eines Methodenkoffers für verschiedene prototypische Konstellationen zu verstehen (vgl. Kolk und Walkowiak 2011). Durch das Modell wird bildlich gesprochen ein Netz mit Aufhängepunkten gespannt, die jeweils verschiedene aggressionssteigernde Bedingungen in Reinform symbolisieren. Der konkrete Einzelfall dürfte nicht selten zwischen diesen Aufhängepunkten angesiedelt sein und wird dennoch durch dieses Netz getragen, indem sich die Auswahl und Kombination verschiedener Handlungsstrategien jeweils an dem aktuell gegebenen Bedingungsgefüge ausrichten.
3.2
Indikationen für einen gewaltsamen Zugriff
Analog zu einigen anderen Ansätzen der polizeipsychologischen Literatur (z. B. Hermanutz und Hermanutz 2016; Hermanutz und Litzcke 2004) empfiehlt das dargestellte Einsatzmodell ein schrittweises Vorgehen, welches im Falle des Scheiterns einer kommunikativen Einflussnahme auch gewaltsame Überwältigungsstrategien nicht ausspart. Ein Spannungsfeld ergibt sich jedoch bei der Spezifizierung der Indikationen für einen gewaltsamen Zugriff. Unstrittig ist, dass sich Einsatzkräfte im Falle eines direkten Angriffs oder Unterschreitens des als notwendig erachteten Sicherheitsabstands entgegen vorherigen Anweisungen zur Wehr setzen müssen. Ab welchem Zeitpunkt hingegen eine proaktive Überwältigung des Gegenübers zur Durchsetzung polizeilicher Maßnahmen seitens der einschreitenden Beamt*innen als zwingend notwendig erachtet wird beziehungsweise inwiefern noch weitere Versuche der kommunikativen Beeinflussung angestrebt werden sollten, bleibt allerdings offener und stellt damit eine Grauzone dar. Insbesondere bei Hermanutz und Litzcke (2004) gewinnt man den Eindruck eines recht frühzeitigen und eher forschen Vorgehens im Hinblick auf die Einstellung kommunikativer Bemühungen. So solle „rasch mit wenigen Fragen“ geklärt werden, inwiefern die Person noch „steuerungsfähig“ sei, indem sie beispielsweise aufgefordert wird, ihre Hände zu zeigen oder sich hinzusetzen. Im Falle einer negativen Reaktion sei ein Zugriff unmittelbar indiziert. Die Empfehlungen im Bereich der psychosozialen Krisenintervention (an deren Grundsätzen sich das beschriebene Einsatzmodell orientiert) legen hingegen nahe, dass Hektik in der Regel kein guter Berater ist und für Personen in einer psychischen Krise durch geeignete nonverbale und verbale Kommunikation zunächst einmal ein geeignetes Setting zu schaffen ist, welches signalisiert, dass man der Person wohlgesonnen und an einem Verständnis der aktuellen Situation interessiert ist (Richter 2004; Schulz und Zechert 2004). Setzt man hingegen sich und die betroffene Person unter Druck, sofort reagieren und eine Problemlösung erzielen zu müssen, wird man ohnehin bestehende Erregungsund Anspannungszustände – wie oben skizziert – eher verschärfen und zusätzliche Reaktanz gegenüber der polizeilichen Maßnahme bzw. der Einsatzkraft auslösen, was einem gewaltsamen Zugriff wiederum Vorschub leisten kann.
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llgemeine Voraussetzungen für spezifische Einsatzmodelle A im Bereich psychischer Störungen und deren didaktische Vermittlung
Allen vorgestellten Konzepten und Handlungsempfehlungen gemein ist der Anspruch, die polizeiliche Vorgehensweise zunächst an einem möglichst weitreichenden Einsatz kommunikativer Mittel auszurichten. In diesem Rahmen stellen universelle Kommunikationskompetenzen eine wichtige Grundvoraussetzung dar, insbesondere das Konzept des „aktiven Zuhörens“ sowie die Unterscheidung der Sach- und Beziehungsebene bei der Wirkung verbaler und nonverbaler Kommunikationsinhalte (vgl. Kolk und Walkowiak 2011; Schmalzl und Latscha 2016). Darüber hinaus erweist sich für eine gelingende Krisenintervention eine adäquate innere Grundhaltung, die von Respekt, Gelassenheit und einer angemessenen persönlichen Distanz („Professionalität“) geprägt ist, von großer Bedeutung (Rupp 2012). Eine solche Grundhaltung lässt sich nicht erzwingen, spielen hierbei doch emotionale Bewertungsprozesse und grundsätzliche Einstellungen gegenüber psychisch erkrankten Personen eine Rolle, die gerade bei Polizist*innen durch die selektive Verarbeitung (negativer) beruflicher Erfahrungen bedingt sein können (Wundsam et al. 2007). Unverständnis, Reaktanz bis hin zu einer abwertenden und ablehnenden Haltung bestimmten Ansätzen und Empfehlungen gegenüber (z. B. Erarbeitung der „inneren“ „Handlungslogik“) können die Folgen entsprechend negativ getönter Erlebnisse sein und müssen im Rahmen der Fortbildung ernst genommen werden. Auch die Art der benutzten Sprache im Umgang mit psychisch erkrankten Personen ist diesbezüglich von nicht zu unterschätzender Relevanz. Aus den genannten Gründen ist ein Klima notwendig, das selbstreflexive Prozesse begünstigt, wobei sich der gemeinsame Erfahrungsaustausch mit Fachleuten aus dem psychosozialen Bereich sowie selbst von psychischen Erkrankungen betroffenen Personen als gewinnbringend erweist. Im Weiteren bedarf es praktischer Übungen, damit die theoretisch erworbenen Einsatzkonzepte im konkreten Einsatzfall abruf- und umsetzbar sind. In Stress- und Bedrohungssituationen resultieren Einschränkungen hinsichtlich der Flexibilität im Denken und Handeln und es ergibt sich eine verstärkte Abhängigkeit von automatisierten und stark eingeübten Verhaltensweisen (Eder und Brosch 2017; Krummenacher und Müller 2017). Zudem ermöglichen Übungen, universell ausgerichtete Kommunikationsstrategien so an die eigene Person anzupassen, dass man nach wie vor authentisch wirkt, was als wichtige Bedingung für eine gelingende Kommunikation erachtet wird.
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Zukünftige Forschungsansätze
Insbesondere für den deutschsprachigen Raum ist den Autor*innen bis dato kein empirisch validiertes Modell zu polizeilichen Einsatzstrategien bei Menschen mit psychischen Störungen bekannt. Im englischsprachigen Raum ergeben sich diesbezüglich erste Er-
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kenntnisse, die allerdings noch kein klares Bild liefern (Compton et al. 2014a, b; Taheri 2016). Obgleich bei dem oben skizzierten Einsatzmodell Erkenntnisse aus verschiedenen Wissenschaftsgebieten berücksichtigt wurden, steht eine kritisch-wissenschaftliche Evaluation des Gesamtkonzepts noch aus. Eine randomisierte Interventions-Kontrollgruppen-Studie als Goldstandard zur Überprüfung der Wirksamkeit bestimmter Strategien (Eid et al. 2017) erscheint praktisch nur schwer umsetzbar, u. a. aufgrund wissenschaftsethischer Überlegungen, die sich auf die Freiwilligkeit der Studienteilnahme und die Konsequenzen ungünstig verlaufender Interventionen beziehen. Eine Alternative hierzu bestünde in einer Analyse von qualitativ hochwertigen Dokumentationen zu Einsätzen, bei denen sich psychische Störungen als relevant erwiesen. So könnte ein kontrastierender Vergleich von Einsätzen mit und ohne Anwendung von Zwangsmitteln in Bezug auf die eingesetzten Kommunikationsstrategien sowie weitere Charakteristika der Situation und der beteiligten Personen vorgenommen werden. Erste Schritte in diese Richtung unternimmt die Studie von Wittmann et al. (2020). Allerdings ist bei solchen Forschungsdesigns Vorsicht vor vorschnellen kausalen Interpretationen bestimmter Ergebnisse angebracht, da sich die beiden zu kontrastierenden Fallgruppen möglicherweise gleichzeitig hinsichtlich einer Vielzahl von Faktoren unterscheiden und der Einfluss einzelner Faktoren somit unter Einbezug relevanter Kontextfaktoren zu werten ist. Weitere Untersuchungen sollten sich verstärkt mit der Nachhaltigkeit spezifischer Seminare zum polizeilichen Umgang mit psychisch erkrankten Personen beschäftigen.
Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Einsätze mit psychisch kranken Menschen werden von vielen Polizist*innen als belastend erlebt. Sie fühlen sich auf solche Situationen nicht hinreichend vorbereitet und nehmen psychisch Erkrankte oft pauschalisierend als gefährlich und unberechenbar wahr. Eine mangelnde Berücksichtigung aggressionsbegünstigender Faktoren bei psychisch kranken Personen und ein daraus resultierendes unzureichendes Konfliktverständnis führen zu Handlungsunsicherheiten und teils dramatischen Einsatzverläufen, die stereotype Denk- und Verhaltensmuster wiederum verfestigen. All dies belegt die Notwendigkeit, personelle, räumliche und zeitliche Ressourcen für entsprechende Fortbildungsangebote bereitzustellen. Zu empfehlen wären in diesem Zusammenhang insbesondere: • Die Durchführung interdisziplinär angelegter Trainingskonzepte, in denen rechtliche, taktische, aber auch psychologische Inhalte vermittelt und praktisch geübt werden. Eine enge Verzahnung zwischen Theorie und Praxis ist unabdingbar, um Einsatzsituationen differenziert beurteilen und selbst in stressreichen Situationen mental flexibel, kommunikationsbereit und handlungsfähig agieren zu können.
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• Eine Institutionalisierung regelmäßiger Einsatznachbereitungen, u. U. auch unter Rückgriff auf Expert*innen innerhalb und außerhalb der Polizei (z. B. Psychiatrie, Verhandlungsgruppen), um eigene Erfahrungen und Haltungen zu reflektieren und die Wirksamkeit von Handlungsempfehlungen zu erörtern. Entsprechende Angebote dienen auch der psychischen Verarbeitung von belastenden Einsätzen und lassen sich als wichtigen Baustein einer adäquaten Fürsorge und psychosozialen Unterstützung im Sinne der PDV 100 betrachten. • Die Unterstützung von Forschungsbemühungen, die der Evaluation entwickelter Interventionskonzepte dienen (z. B. Feldzugang ermöglichen), um die Qualität entsprechender Fortbildungsangebote zu sichern und weiterzuentwickeln. b) Einsatzkräfte Spezielle Trainingskonzepte, welche wissenschaftliche Ansätze und praktische Übungen integrieren, können Polizist*innen helfen, mehr Sicherheit im Umgang mit polizeilichen Einsatzsituationen mit psychisch kranken Menschen zu entwickeln. Einsatzkräfte profitieren von: • Der Vermittlung eines stufenweisen Einsatzmodells, welches (unter Berücksichtigung der Eigensicherungsrichtlinien) zunächst eine kommunikative Problemlösung anstrebt, zugleich bei entsprechender Indikation aber auch auf einen gewaltsamen Übergriff vorbereitet. • Einem differenzierten Verständnis des Bedingungsgefüges, welches der Entstehung von Aggressionen bei bestimmten psychischen Störungen zugrunde liegt. Wer die innere Handlungslogik des Gegenübers versteht und Risikofaktoren erkennt, kann gezielt deeskalierend agieren. Dabei geht es weder um das Stellen einer Diagnose noch um eine Legitimation ggf. strafbarer Handlungen! • Der kritischen Reflexion eigener Haltungen gegenüber psychisch kranken Menschen, auch auf Basis bisheriger Erfahrungen. Pauschalisierende Schemata können handlungsleitend wirken und einem situationsadäquaten, professionellen Einsatzverhalten entgegenstehen. Professionalität bedeutet auch, bisherige Handlungspraktiken und deren (unbeabsichtigte) Folgen kritisch zu hinterfragen. • Kommunikationsübungen in szenarienbasierten Trainings, um allgemeine Kommunikationsstrategien auszuprobieren und individuell anzupassen, sodass ein authentisches Auftreten gewährleistet ist. • Gezielte Trainings zur professionellen Überwältigung von Personen (inklusive verbaler Begleitung). Eine entsprechende Handlungssicherheit reduziert nicht nur Verletzungen auf beiden Seiten; es fördert zugleich ein ruhigeres Auftreten im Einsatz und erweitert den Handlungsspielraum für kommunikative Bemühungen.
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c) Einsatztrainer*innen Das Einsatztraining stellt auch in interdisziplinär ausgerichteten Fortbildungen (wie dem im Beitrag vorgestellten Einsatzmodell) einen zentralen Baustein dar, da es den Teilnehmer*innen ermöglicht, theoretisch vermittelte Inhalte in praxisnahen Übungsszenarien auszuprobieren, Handlungssicherheit zu erwerben und Automatismen zu entwickeln, auf die in bedrohlichen Einsatzsituationen zurückgegriffen werden kann. Einsatztrainer*innen nehmen in solchen Lehr-Lern-Prozessen eine zentrale Vorbildfunktion ein, an der sich Kolleg*innen orientieren. Daher sollten sich auch Einsatztrainer*innen ihrer handlungsleitenden Einstellungen, Erfahrungen und Überzeugungen im Umgang mit psychisch erkrankten Personen bewusst sein und diese im Austausch mit anderen Expert*innen (z. B. Psycholog*innen) kritisch reflektieren (siehe Kap. „Der/die reflektierte Praktiker*in: Reflektieren als Polizist*in und Einsatztrainer*in“ in diesem Band). Hierfür sind eine offene Grundhaltung gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie eine ausgeprägte kommunikative Kompetenz unabdingbar. Folgende Aspekte sind bei der Ausgestaltung der Einsatztrainings zudem empfehlenswert: • Szenarienbasierte Trainings sollten in ihrer Konzeption eine große Bandbreite an Handlungsoptionen abbilden und nicht per se beschränkt sein auf Situationen, in denen eine Eskalation und somit ein gewaltsamer Zugriff vorprogrammiert sind. Gemäß einem stufenweisen Vorgehen ist der Schwerpunkt zunächst auf die kommunikative Konfliktbearbeitung zu legen, sodass das Wechselspiel zwischen kommunikativen Bemühungen und durchzusetzenden polizeilichen Maßnahmen trainiert werden kann. Dabei ist seitens der Einsatztrainer*innen auch auf einen angemessenen, nicht stigmatisierenden Sprachgebrauch zu achten. • Um pauschalen Gefährlichkeitszuschreibungen entgegenzuwirken und stattdessen ein differenziertes Verständnis aggressionssteigernder Bedingungen bei bestimmten psychischen Erkrankungen zu fördern, sollten verschiedene Grundtypen von Einsatzkonstellationen und daraus resultierende spezifische Handlungsempfehlungen trainiert werden. Gerade erfahrene Polizist*innen stehen aufgrund eigener Erfahrungen bestimmten Konzepten und Handlungsempfehlungen oft sehr kritisch oder gar ablehnend gegenüber. Wichtig ist es, von Beginn an einen Raum zu schaffen, in dem solche Bedenken thematisiert werden können. Auch der Einbezug konkreter Fallbeispiele kann hierbei hilfreich sein, die nicht im Hinblick auf mögliche „schuldhafte Versäumnisse“, sondern hinsichtlich der Vor- und Nachteile möglicher Herangehensweisen in zukünftigen ähnlichen Situationen betrachtet werden.
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Polizeilicher Schusswaffengebrauch und psychisch erkrankte Angreifer Michael Jasch
Inhaltsverzeichnis 1 D as Problem: Zu viele vermeidbare Tote 2 Die Rechtslage 2.1 Polizeirechtliche Eingriffsgrundlage 2.2 Notwehr oder Nothilfe 3 Der Umgang mit psychisch Erkrankten 3.1 Erkrankungen erkennen 3.2 Mit psychisch Erkrankten richtig umgehen 3.3 Netzwerke bilden 4 Der Taser als neue Option Literatur
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Zusammenfassung
Ein erheblicher Teil der tödlich endenden Schusswaffeneinsätze durch die Polizei erfolgt gegenüber psychisch kranken Personen. Das ist besorgniserregend, zumal ein letaler Waffengebrauch gegenüber dieser Personengruppe situativ oft vermeidbar erscheint. In diesem Beitrag wird erörtert, welche rechtlichen Einschränkungen sich für den Schusswaffeneinsatz gegenüber psychisch Kranken ergeben können (1.2) und Reviewer*innen: Consten Buc, Stefan Hollenberg M. Jasch (*) Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Fachbereich Polizei, Mülheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_24
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arum der Umgang mit dieser Personengruppe im Einsatztraining stärker als bislang w verankert werden muss (1.3). Gefordert werden eine interdisziplinär ausgerichtete Ausund Fortbildung sowie die Einrichtung von lokalen Netzwerken für die Bewältigung dieser Situationen im polizeilichen Alltagsdienst.
Der Gebrauch von Schusswaffen gegen Menschen gehört in Deutschland glücklicherweise zu den vergleichsweise seltenen Ereignissen im Alltag eines Polizeibeamten.1 So wurden im Jahr 2019 in der gesamten Bundesrepublik 135 Einsätze der Schusswaffe gegen Personen gezählt, wobei es sich bei einem Teil davon um Warnschüsse handelte. Direkt gegen Personen erfolgten 62 der Schussabgaben. In 15 dieser Fälle verstarben die betroffenen Menschen durch die Schüsse, 30 Personen wurden durch die Polizeigeschosse verletzt.2 Damit wurden in jenem Jahr so viele Menschen durch Polizisten getötet wie seit 1999 nicht mehr. Jedes dieser Ereignisse geht mit massiven Folgen für beide Seiten einher. Natürlich hat der Schusswaffengebrauch in erster Linie für die an- oder erschossene Person sowie ihre Angehörigen fatale Folgen. Doch auch für die den Schuss abgebenden Beamten stellt die Tötung oder schwere Verletzung eines Menschen oft ein traumatisierendes Ereignis dar (Latscha 2005). Häufig handelt es sich bei diesen Ereignissen um Situationen, in denen Polizisten einem psychisch gestörten oder erkrankten Bürger gegenüberstehen. Enden diese Einsätze mit schweren Verletzungen oder sogar tödlich, so stellen sich spezifische Fragen nach der ethischen Angemessenheit und nach der rechtlichen Zulässigkeit des Waffeneinsatzes.3
1
Das Problem: Zu viele vermeidbare Tote
Endet ein Polizeieinsatz gegenüber einem psychisch erkrankten Menschen für diesen tödlich, so drängt sich unbefangenen Betrachtern mindestens ein mulmiges Gefühl, häufig sogar Kopfschütteln oder Entsetzen über den Polizeieinsatz auf. Denn Angehörige dieser Personengruppe handeln in der Regel nicht frei verantwortlich. Ihre Zurechnungsfähigkeit im juristischen Sinn ist eingeschränkt oder fehlt völlig. Ein Missstand ist allein schon, dass es an einer statistischen Erfassung von Vorfällen dieser Art fehlt. Einige Schätzungen sprechen von etwa der Hälfte der polizeilich getöteten Personen, die psychische Störungen aufwiesen (Rückert 2012; Feltes 2017), in ausgewählten Zeiträumen seien sogar zwei
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Text die männliche Form verwendet, gemeint sind aber stets Polizeiangehörige jeden Geschlechts. 2 Quelle aller Daten: Übersichten von C. Lorei, seinerseits unter Berufung auf die DHPol (http:// www.schusswaffeneinsatz.de/download/statistiken.pdf. Zugegriffen: 20.02.2021). 3 Mit „Waffe“ ist hier stets nur die Schusswaffe gemeint. Aus sprachlichen Gründen wird hier nicht der in den Polizeigesetzen verwendeten Differenzierung gefolgt (vgl.: § 53 Abs. 4 PolG NRW). 1
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Drittel der Getöteten krank oder verwirrt gewesen (Diederichs 2015, S. 10). Andere gehen von mindestens einem Drittel der Todesfälle aus, in denen dies zutrifft (Finzen 2014). Empirische Analysen des polizeilichen Schusswaffengebrauches gelangen zu dem Ergebnis, dass die Betroffenen in rund 40 % der Fälle psychisch krank waren (Lorei 2020, S. 32). Nicht zu bestreiten ist, dass es sich in den dokumentierten Fällen fast ausschließlich um Situationen handelt, in denen der Polizei in rechtlicher Hinsicht grundsätzlich der Griff zur Waffe erlaubt war. Stets handelte es sich um potenziell lebensbedrohliche Situationen: Personen, die sich mit Eisenstangen, Messern oder Äxten auf die Beamten oder dritte Personen zubewegen und deren weitere Aktionen gerade aufgrund ihres Krankheitsbildes unberechenbar erscheinen konnten. Kritisch zu hinterfragen ist jedoch, ob die polizeiliche Einsatzgestaltung in ihrer Gesamtheit nicht in fataler Weise misslungen ist, wenn es zu dieser konkreten Bedrohungslage überhaupt kommen konnte. Wenn Fachleute urteilen, dass bei den polizeilichen Todesschüssen auf psychisch erkrankte Personen „fast alle Fälle vermeidbar“ waren (Feltes 2017), zeigt dies einen dringenden Handlungsbedarf zur Lösung des Problems auf. Denn im Hinblick auf die staatliche Verpflichtung zum Schutz des Lebens sind die hohen Anteile getöteter Personen, die sich in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand befanden, völlig inakzeptabel. Auch für die Reputation der Polizei ist es nicht förderlich, wenn der Eindruck entsteht, ihre Beamten seien von der Begegnung mit psychisch Kranken regelmäßig überfordert. Dabei wird auf die Notwendigkeit einer intensiveren Befassung der Polizei mit dieser Thematik bereits seit vielen Jahren hingewiesen. Der Fall des 2009 von 16 Polizeikugeln getroffenen Studenten Tennessee Eisenberg oder die bundesweit bekannt gewordene Tötung eines an Schizophrenie erkrankten 31-Jährigen im Berliner Neptunbrunnen stellen wohl die bekanntesten Einsätze dieser Art dar. Doch die tödlich endenden Konfrontationen mit psychisch Erkrankten reißen nicht ab. Konstatiert wird eine weitgehende Hilflosigkeit der Polizei im Umgang mit dem Phänomen (Finzen 2014, S. 42; Diederichs 2015, S. 12). Und das Problem wird künftig eher größer werden: Vor allem bei jungen Erwachsenen steigt die Zahl der diagnostizierten psychischen Erkrankungen in Deutschland zurzeit stark an (Deutsche PsychotherapeutenVereinigung 2020, S. 19). Zudem wächst der Anteil von älteren Personen an der bundesdeutschen Bevölkerung und damit die Zahl der altersbedingten psychischen Störungen. Schon gegenwärtig zeichnet sich eine Zunahme von Konfrontationen zwischen Vollzugsbeamten und erkrankten Personen ab (siehe Kap. „Menschen mit psychischen Erkrankungen in Polizeieinsätzen – Besonderheiten und deren Bedeutung für die Praxis“ in diesem Band). Tragisch ist vor allem, dass ein Großteil der gewaltsam oder tödlich endenden Einsätze aus alltäglichen Standardsituationen heraus entsteht, wie drei Beispiele verdeutlichen sollen: Beispiel Bremen, Juni 2020
Mit zwei Schüssen in den Oberkörper wird ein 54-jähriger Mann von Polizeibeamten getötet. Zuvor hatten der Mann, die Beamten und eine Vermieterin völlig konfliktfrei eine gemeinsame Wohnungsbesichtigung durchgeführt. Erst als die Polizei ihn
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zu einer Untersuchung mit auf die Wache nehmen wollte, entstand ein verbaler Konflikt, in dessen Verlauf der 54-Jährige ein Messer ergriff. Einer der Polizisten hatte zunächst Pfefferspray gegen den Mann benutzt. Den Beamten war eine psychische Erkrankung des Getöteten schon lange vor dem Einsatz bekannt gewesen. Im Senat der Hansestadt entwickelte sich anlässlich des Vorfalls eine kontroverse Diskussion über polizeiliche Todesschüsse und die Ausbildung der Polizei.4 ◄
Potsdam, April 2017
Ein als vermisst gemeldeter, als suizidgefährdet geltender Mann wird von einer Polizeistreife in einem Waldstück angetroffen. Als sich die Streife dem Mann nähert, soll er eine Waffe auf sie gerichtet haben. Daraufhin kommt es zur Schussabgabe, durch die der 64-Jährige am Bein verletzt wird und flieht. Anstatt psychiatrische Fachkräfte oder Mediziner zu rufen, verständigen die Beamten das SEK. Während der Festnahme durch das Einsatzkommando soll der Mann seine Pistole auf die Beamten des SEK gerichtet haben, die ihn daraufhin erschossen.5 ◄
Erharting, Juli 2016
Ein 64-Jähriger soll aus einem Altenheim in eine psychiatrische Klinik verlegt werden. Polizeibeamte waren um eine Begleitung des Transportes gebeten worden, da der Mann als potenziell aggressiv galt und an einer chronischen Schizophrenie litt. Als dem Mann die Verlegung in den Räumen des Altenheimes mitgeteilt wurde, ergriff er ein Messer und stach auf die Beamten ein, die ihn daraufhin mit mehreren Schüssen töteten. Ungeachtet der Planbarkeit der Lage hatte sich offenbar niemand zuvor darum gekümmert, dass keine gefährlichen Gegenstände in Reichweite des Betroffenen lagen.6 ◄ Auffällig ist, dass in den meisten Situationen dieser Art keine dritten Personen gefährdet oder verletzt wurden. Vielmehr entwickeln sich polizeiliche Todesschüsse überwiegend aus einer Konfrontation zwischen dem Erkrankten und den Streifenteams selbst. Auch die Einsatzanlässe stellen sich anfangs meist als banale Routineereignisse dar: Ruhestörungen, planbare Überführungen, Vandalismus oder die von Bürgern beobachtete
Weser-Kurier v. 19.06.2020 (https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-stadt_artikel,-ermittlungen-gegen-zwei-polizisten-_arid,1919309.html); taz-Nord v. 19.06.2020 (https://taz.de/Polizist-erschiesst-psychisch-Kranken/!5691703/). 5 Nordkurier v. 12.04.2017 (https://www.nordkurier.de/brandenburg/polizei-erschiesst-mann-inwaldstueck-1227572404.html). 6 Süddeutsche Zeitung v. 13.06.2016 (https://www.sueddeutsche.de/bayern/notwehr-polizei-erschiesst-heimbewohner-1.3077107). 4
Polizeilicher Schusswaffengebrauch und psychisch erkrankte Angreifer
455
Hilflosigkeit einer Person stehen oft am Anfang eines Einsatzes, der dann in tragischer Weise eskaliert (vgl. auch: Biedermann 2020; Lorei 2020, S. 27).
2
Die Rechtslage
Jeder gezielte Schuss auf einen Menschen stellt einen Eingriff in die höchsten Güter dar‚ die von der bundesdeutschen Verfassung geschützt werden. Artikel 1 GG garantiert einen Schutz des menschlichen Lebens nicht nur durch die Polizei, sondern auch vor der Polizei (Pieroth 2019, S. 264). Dieses Recht auf Leben ist bei einem polizeilichen Schusswaffengebrauch auch dann unmittelbar bedroht, wenn der Polizeibeamte nicht töten, sondern den Vorgaben der Polizeigesetze gemäß nur eine Angriffs- oder Fluchtunfähigkeit herbeiführen will. Angesichts der stressbeladenen und oft unübersichtlichen Einsatzsituation kann selbst ein ausgebildeter Schütze, der auf die Extremitäten einer sich rasch bewegenden Person zielt, nie garantieren, dass sein Schuss keine tödliche Verletzung zur Folge haben wird. Mindestens aber ist das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 1 GG) durch einen Schuss in erheblicher Weise betroffen.
2.1
Polizeirechtliche Eingriffsgrundlage
Eine Rechtfertigung dieses Eingriffes kann sich aus den polizeirechtlichen Vorschriften über den Schusswaffengebrauch ergeben. Die Voraussetzungen für den Schusswaffeneinsatz sind in den Bundesländern in den Grundzügen übereinstimmend geregelt. So sieht § 64 Abs. 1 PolG NRW nur fünf Situationen vor, in denen die Waffe gegen Menschen eingesetzt werden darf. Neben der Erzwingung einer Festnahme und der Vereitelung einer Flucht in den Fällen besonders schwerwiegender Verdachtslagen (Nr. 3, 4) spielt in der Praxis vor allem die Verhinderung gegenwärtiger Angriffe eine Rolle: Zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben oder zur Verhinderung der unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung eines Verbrechens oder eines Vergehens unter Anwendung oder Mitführung von Schusswaffen oder Explosivmitteln ist der Waffeneinsatz erlaubt (§ 64 Abs. 1 Nr. 1, 2 PolG NRW).7 Der Variante der Abwehr gegenwärtiger physischer Gefahren kommt, wie auch die obigen Beispiele zeigen, die größte Bedeutung bei einem bereits eskalierten Umgang mit psychisch Kranken zu. Geht jemand mit erhobenem Messer oder einer schweren Eisenstange drohend aus kurzer Distanz auf einen Polizeibeamten zu, so ist zumeist dessen Leben, zumindest aber seine körperliche Integrität ernsthaft bedroht.
Gleichlautend u. a.: § 77 Abs. 1 NPOG (Niedersachsen); Abweichend formuliert, aber inhaltlich gleichartig: § 11 UzwG (Berlin). 7
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Doch wie jede polizeiliche Maßnahme muss auch der Schusswaffeneinsatz in diesen Fällen vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gedeckt sein (§ 2 PolG NRW). Traditionell wird dieser Grundsatz in die Voraussetzungen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit unterteilt (Thiel 2019, § 8 Rn. 182). An diesen Grundsatz sind für die Anwendung unmittelbaren Zwanges, und speziell des Schusswaffengebrauches, besonders hohe Anforderungen zu stellen. Bei den hier zugrunde gelegten Fällen eines unmittelbaren Angriffes ist die Voraussetzung der Geeignetheit offensichtlich unproblematisch. Denn zur Beendigung oder Abschwächung von Angriffen einer Person mit gefährlichen Gegenständen ist der Einsatz der Waffe stets aussichtsreich. Fraglich ist allerdings, ob bei psychisch kranken Angreifern Besonderheiten bei der Erforderlichkeit des Waffeneinsatzes gelten. Erforderlich ist eine Maßnahme, wenn sie für den Betroffenen die mildeste unter mehreren geeigneten darstellt. Für den Gebrauch der Waffe als dem gefährlichsten Einsatzmittel herrscht Einigkeit darüber, dass sie nur „ultima ratio“ sein kann (Lisken und Denninger-Graulich 2018, VIII Rn. 919). Dementsprechend qualifizieren auch die relevanten Spezialnormen die Erforderlichkeit, indem der Schusswaffeneinsatz nur für den Fall erlaubt wird, wenn andere Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges bereits erfolglos angewendet wurden oder offensichtlich aussichtslos sind (§ 63 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW). Verhältnismäßigkeit: Höchste Anforderungen Eine weitere – und für die hier diskutierten Fälle relevante – Konkretisierung der Verhältnismäßigkeit enthalten die Polizeigesetze für den Waffeneinsatz gegenüber Kindern: Grundsätzlich ist gegenüber Personen, die dem äußeren Eindruck nach unter 14 Jahre alt sind, von der Schusswaffe kein Gebrauch zu machen. Selbst wenn nur Zweifel darüber bestehen, ob man sich einem Kind gegenübersieht, hat der Waffeneinsatz zu unterbleiben (Nr. 63.3 VVPolG NRW). Nur wenn es das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben ist, darf ausnahmsweise auch gegen sie die Waffe eingesetzt werden (§ 63 Abs. 3 PolG NRW).8 Die Formulierung „das einzige Mittel“ statuiert die höchstmöglichen Anforderungen an die Auswahl des polizeilichen Einsatzmittels: Nur, wenn kein anderer Weg zur Rettung der höchsten Schutzgüter mehr ersichtlich ist, darf von der Waffe Gebrauch gemacht werden.
Ebenso: § 76 Abs. 3 NPOG, § 60 Abs. 3 HSOG; § 66 Abs. 3 BbgPolG; § 83 Abs. 3 POG Rh.-Pfalz; Art. 83 Abs. 3 PAG-Bayern; § 108 Abs. 3 SOG-MV; § 65 Abs. 3 SOG LSA (begrenzt auf die Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr). Strenger dagegen ist die Formulierung in einigen Bundesländern, deren Polizeirecht den Schusswaffengebrauch gegen Kinder ausnahmslos verbietet, so: § 9 UZwG (Berlin), § 24 Abs. 3 SOG (Hamburg). Sehr kontrovers diskutiert wurde im Jahr 2020 die Einschränkung dieses absoluten Kinder-Privilegs im Land Schleswig-Holstein nach dem Vorbild der zuerst genannten Bundesländer (vgl.: § 257 LVwG; dazu: Neues Deutschland v. 05.11.2020: https:// www.neues-deutschland.de/artikel/1144036. polizeigesetz-auch-schuesse-auf-kinder-moeglich.html sowie Landtag S-H: https://www.landtag.ltsh.de/nachrichten/20_06_polizeireform/). 8
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Ziel der Regelung ist der besondere Schutz von Kindern (BeckOK PolG NRW-Thiel § 63, Rn. 23). Im Hintergrund steht einerseits die Annahme, dass unter 14-Jährige in der Regel schon aufgrund ihrer körperlichen Unreife kaum eine so gewichtige Bedrohung darstellen können, dass der Waffeneinsatz erforderlich wäre. Andererseits wird damit auch auf die verminderte Einsichts- und Steuerungsfähigkeit von Kindern Rücksicht genommen, von der auch in anderen Bereichen des deutschen Rechts ausgegangen wird (vgl.: §§ 19 StGB, 828 BGB). Zwar hängt die Eigenschaft als Störer, und damit als Adressat von Gefahrenabwehrmaßnahmen, unstreitig nicht von der Schuldfähigkeit einer Person ab. Bei der Auswahl des einzusetzenden Mittels wird jedoch auf die verminderte Einsichts- und Steuerungsfähigkeit kindlicher Störer hier zu Recht Rücksicht genommen. Dieser Rechtsgedanke muss nach hier vertretener Ansicht analog auch für diejenigen Störer gelten, die erkennbar unter einer psychischen Krankheit leiden. Es ist nicht einsehbar, warum auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit für psychisch Kranke etwas anderes gelten soll als für die in ihrer Einsichtsfähigkeit eingeschränkten Kinder. Zwar könnte hier eingewendet werden, dass sich die Situationen durch den Grad der Bedrohung unterscheiden: Regelmäßig sind psychisch kranke Angreifer eben nicht wie die unter 14-Jährigen körperlich unterlegen, sondern erwachsen und durch ihren Zustand, Medikamente oder Rauschmittel sogar eher schmerzunempfindlicher und risikobereiter als nicht beeinträchtigte Menschen (Füllgrabe 2019, S. 62; Meltzer 2015, S. 6). Diese Erwägung ändert jedoch nichts an der Pflicht, Zwangsmittel unter Berücksichtigung der Gesamtumstände der Situation nur verhältnismäßig einzusetzen. Und zu diesen Gesamtumständen gehört stets auch der mentale Zustand der betroffenen Person. Bei Angriffen, die auf einer psychischen Erkrankung unter Ausschluss freier Willensbestimmung beruhen, sind die Voraussetzungen für den Schusswaffengebrauch noch einmal enger auszulegen, als es bei frei verantwortlich Handelnden der Fall ist. Im Polizeirecht des Bundeslandes Sachsen findet sich ein expliziter Anknüpfungspunkt für diese Situationen, indem der „Zustand des Betroffenen“ ausdrücklich als ein Abwägungskriterium für die Auswahl des jeweiligen Zwangsmittels genannt wird (§ 32 Abs. 1 Satz 4 SächsPolG). Da der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Verfassungsrang hat, gilt dieses Kriterium – unabhängig von seiner expliziten Erwähnung – aber in allen Bundesländern für das Polizeihandeln. Konkret folgt daraus: Der Polizeibeamte darf Schüsse auf diese Personen nur abgeben, wenn dies das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder einer erheblichen Leibesgefahr ist. An diesem Punkt der Überlegungen ist in Bezug auf die Praxis sicherlich zwischen zwei Situationen zu unterscheiden: Liegt eine akute Bedrohung für eine dritte Person vor, so wird sich der Waffengebrauch für den Beamten regelmäßig als das einzige Mittel darstellen. Erfolgt der Angriff aber auf den Polizeibeamten selbst, so hat er das Geschehen selbst stärker in der Hand. In diesem Fall ist in Erwägung zu ziehen, ob die Situation nicht auf andere Weise entschärft werden kann, wenn zwischen dem Angreifer und dem Beamten noch ausreichend räumliche Distanz besteht. Dabei ist nicht nur an den Einsatz anderer Einsatzmittel wie Reizgas (RSG) oder Mehrzweckstock zu denken. Auch ein Zurückweichen des Polizeibeamten vor dem Angreifer kann, soweit dies situativ möglich ist, das verhältnismäßige Mittel sein. Gerade bei Konfliktsituationen mit psy-
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chisch Kranken resultiert der Angriff nämlich oft nicht aus einem feindseligen, auf eine Verletzung des Beamten gerichteten Entschluss der kranken Person, sondern aus der – wenn auch wahnhaften – Vorstellung heraus, sich gegen eine existenzielle Bedrohung der eigenen Person verteidigen zu müssen. Daraus ergibt sich zumindest eine erhöhte Chance, dass schon ein defensives Verhalten des Beamten den Störer zu einem Abbruch seines Angriffes bringen kann.
2.2
Notwehr oder Nothilfe
Ob sich Polizeibeamte überhaupt bei dienstlichen Aktionen neben den polizeirechtlichen Vorschriften auch auf den strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund der Notwehr berufen können, wird vielfach mit guten Gründen bestritten (siehe dazu: Fischer 2021, § 32 Rn. 12; Götz und Geis 2017, § 13 Rn. 53). Die Rechtsprechung erkennt diese Möglichkeit jedoch recht fraglos an (BGH NStZ 2005, 31; OLG Frankfurt NStZ-RR 2013, 108). Relevant wird das stets, wenn ein Vollzugsbeamter wegen eines Schusses dem strafrechtlichen Vorwurf der fahrlässigen Tötung oder Verletzung ausgesetzt ist. In den praktisch bedeutsamen Fällen ist zumeist nicht streitig, ob eine Notwehrsituation vorgelegen hat: Ernsthafte physische Bedrohungen für den Beamten selbst oder Dritte stellen unproblematisch einen Angriff im Sinne von § 32 StGB dar. Einschränkung des Notwehrrechts Dennoch kann ein Schusswaffengebrauch unzulässig sein, wenn das Notwehrrecht eingeschränkt ist. Obwohl die Notwehr grundsätzlich keine Verhältnismäßigkeitsabwägung zwischen dem angegriffenen Rechtsgut und den Gütern des Angreifers kennt, ist nicht jede Verteidigungshandlung erlaubt. Zulässig sind nur Notwehrhandlungen, die auch geboten sind (§ 32 Abs. 1 StGB). Geboten ist die Verteidigung, wenn keine Einschränkung des Notwehrrechts vorliegt. Eine solche Einschränkung ergibt sich aber, wenn der Angreifer erkennbar schuldunfähig ist. Darunter fallen neben Kindern auch Personen, die aufgrund einer sehr starken Intoxikation oder eben aufgrund einer psychischen Erkrankung für ihr Handeln nicht verantwortlich gemacht werden können (Fischer 2021, § 32 Rn. 36). In der Rechtsprechung wird eine Einschränkung des Notwehrrechts für Polizisten abgelehnt, wenn die psychische Störung eines Angreifers für die Beamten nicht erkennbar war (OLG Frankfurt a. a. O.; OLG Nürnberg 2 Ws 227/10 BeckRS 2010, 144438). Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass eine Erkennbarkeit der Situation durchaus zu einer Einschränkung von § 32 StGB – und damit zur Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit des polizeilichen Schusswaffeneinsatzes führen kann. Für die hier diskutierten Fälle bedeutet dies: Ist für den Beamten erkennbar, dass eine Person psychisch krank ist oder sich in einem krankhaften Ausnahmezustand befindet, so darf er von seinem Notwehrrecht nur in abgestufter Weise Gebrauch machen: (a) Wenn und soweit möglich, muss er dem Angriff ausweichen. Ist ein Ausweichen nicht möglich oder Erfolg versprechend, so muss er (b) zunächst weniger gefährliche und defensive Mit-
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tel als die Schusswaffe (z. B.: RSG, Mehrzweckstock) einsetzen (sog. Schutzwehr). Erst wenn auch diese Einsatzmittel keine sichere Abwehr eines lebensgefährlichen oder erheblich verletzenden Angriffes versprechen, so ist er (c) auch zum Einsatz der Schusswaffe berechtigt.9 Für polizeiliche Alltagslagen folgt daraus eine Unterscheidung zwischen Notwehr- und Nothilfesituationen: Rennt ein Angreifer mit einem gefährlichen Gegenstand aus kurzer Distanz auf eine dritte Person zu, so ist für den anwesenden Polizeivollzugsbeamten (PVB) in der Regel auch der Einsatz der Waffe geboten, da er zum Schutz des Dritten verpflichtet ist und zumeist kein anderes Mittel zur Abwehr einer unmittelbaren Lebensgefahr verfügbar ist. Anders kann es sich jedoch verhalten, wenn allein der Beamte selbst in der genannten Form angegriffen wird, also eine Notwehrlage besteht. Hier ist zunächst an die Möglichkeiten der Schutzwehr – bis hin zu einem Ausweichen und Sich- Zurückziehen – zu denken, bevor die Schusswaffe eingesetzt wird. Natürlich kann über die von § 32 StGB gedeckten Mittel nicht pauschal entschieden werden. Immer hängt die Beurteilung von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. So wird in einer engen 2-Zimmer-Wohnung zumeist weder ein Ausweichen noch der Einsatz des Reizstoffsprühgerätes möglich sein. Hat der Angreifer ein Plastikschwert in der Hand, ist dies anders zu beurteilen als die Bedrohung mit einem langen Messer. Entscheidend ist aber das Bewusstsein eines Polizeibeamten, dass bei erkennbar psychisch erkrankten Personen andere, nämlich noch strengere Maßstäbe für den Waffengebrauch gelten als bei schuldfähigen Angreifern. Ein pauschales Denken nach dem Motto „Ich werde angegriffen, also darf ich sofort schießen“ wäre fehlerhaft. Das Problem „Notwehrprovokation“ Eine Einschränkung des Notwehrrechtes ist nicht nur wegen des Umstands der psychischen Erkrankung des Bürgers allein, sondern auch aufgrund eines groben Fehlverhaltens der Vollzugsbeamten in der Einsatzsituation denkbar. Im Rahmen von § 32 StGB ist anerkannt, dass eine Provokation der Notwehrsituation durch den Angegriffenen zu einer Einschränkung der Mittel führt, derer er sich bedienen darf. Da in Polizeieinsätzen nicht realistisch von einer vorsätzlichen Provokation des Angreifers ausgegangen werden kann, kommt hier nur die Konstellation einer unvorsätzlichen, aber vorwerfbaren Notwehrprovokation in Betracht. Sogar rechtmäßige Verhaltensweisen können nach zutreffender Ansicht der Rechtsprechung eine vorwerfbare Notwehrprovokation darstellen, wenn sie sich nach sozialethischer Wertung als absehbare Herbeiführung einer Notwehrlage darstellen: „Wer durch ein sozialethisch zu beanstandendes Vorverhalten einen Angriff auf sich
Umstritten ist, ob eine solche Einschränkung des Notwehrrechts auch gegenüber Personen gilt, die nicht schuldunfähig, sondern nur vermindert schuldfähig im Sinne von § 21 StGB sind. Der Bundesgerichtshof hat diese Frage offen gelassen (BGH 2 StR 523/15), in der Rechtslehre ist sie umstritten. Polizeipraktisch ist diese Kontroverse jedoch kaum von Bedeutung, da es in der Einsatzsituation eher darum geht, ob eine psychische Störung überhaupt erkennbar war und welche alternativen Handlungsweisen möglich gewesen sind. 9
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schuldhaft provoziert hat, selbst wenn er ihn nicht in Rechnung gestellt haben sollte oder gar beabsichtigt hat, darf nicht bedenkenlos von seinem Notwehrrecht Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen. Er muss vielmehr dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen und darf zur Trutzwehr mit einer lebensgefährlichen Waffe erst übergehen, nachdem er alle Möglichkeiten zur Schutzwehr ausgenutzt hat (…)“ (BGH NStZ 2019, 263; BGH 2 StR 10/15). Welches Verhalten genau „sozialethisch zu beanstanden ist“, bleibt ein problematisch interpretationsoffener Begriff. Es muss sich etwa um eine provokante Aktion handeln, die vom „Gewicht her einer schweren Beleidigung gleichkommt“ (BGH NStZ 1996, 381). Allgemeiner formuliert der BGH, nur ein Verhalten, das bei vernünftiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalles den Angriff als „eine adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheinen lässt“ (BGH 2 StR 473/14: openJur 2015, 12617 Rn. 22), könnte zu einer Einschränkung der Notwehrbefugnisse führen. Angesichts dieser Formulierung ist sehr zweifelhaft, dass das Oberlandesgericht Nürnberg „etwaige Fehler in der Einschätzung der Lage und des gebotenen weiteren Vorgehens“ von Polizeibeamten bei der Beurteilung ihrer Notwehrbefugnisse für irrelevant gehalten hat (OLG Nürnberg 2 Ws 227/10: BeckRS 2010, 144438). Denn zumindest grobe und bewusste Verstöße von Polizeibeamten gegen Einsatzregeln und Dienstvorschriften können durchaus mindestens sozialethisch missbilligenswert sein. Da spezielle Dienstvorschriften beamtenrechtliche Bindungswirkung besitzen, ist ihre Verletzung sogar rechtserheblich. Daraus folgt: Provoziert ein Polizeibeamter durch sein eigenes Verhalten in voraussehbarer Weise und pflichtwidrig eine psychisch kranke Person zu einer gewaltsamen Attacke, so kann sich daraus eine Einschränkung des Notwehrrechts für den Beamten ergeben. Rechtsfolge ist aber auch hier nicht ein Erlöschen des Notwehrrechts. Vielmehr ist dieses Recht in der Form eingeschränkt, dass zunächst und soweit möglich defensive Mittel bis hin zu einem Rückzug zu ergreifen sind.
3
Der Umgang mit psychisch Erkrankten
Eine adäquate Bewältigung der Einsatzsituation erfordert Beamte, die im Umgang mit psychisch Erkrankten gut ausgebildet sind. Gegenwärtig ist diese Ausbildungslage höchst defizitär. Rund 76 % gaben bei einer Befragung von Polizeibeamten an, nicht über ausreichendes Wissen über Verhaltensauffälligkeiten zu verfügen (Wittmann und Groen 2020, S. 31). Zwar steht insbesondere in der Ausbildung zum gehobenen Polizeidienst dieses Thema durchaus in den Curricula der theoretischen Hochschulausbildung und des praktischen Einsatztrainings, vom Umfang und der Relevanz her ist es jedoch ausgesprochen randständig. Gemessen daran, dass es für jeden Beamten im Streifendienst als sicher betrachtet werden kann, dass er oder sie mit psychischen Erkrankungen konfrontiert wird, sollte der Stellenwert dieser Problematik künftig unbedingt verbessert werden. Zu den Zielen der Ausbildung muss es auch gehören, für eine Entstigmatisierung von psychisch Erkrankten und eine realistischere Einschätzung der von ihnen ausgehenden Gefahren zu sorgen (Wößner 2018).
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3.1
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Erkrankungen erkennen
Grundvoraussetzung für ein angemessenes Vorgehen ist ein möglichst gutes Wissen des Beamten darüber, wann bei seinem Gegenüber eine psychische Erkrankung vorliegen könnte. Diese Einschätzung ist zugegebenermaßen oft schwierig, da selbst klassische Krankheitsbilder wie die Schizophrenie oder schwere Depressionen sich nicht bei allen Menschen in derselben Weise und Intensität äußern. Weitgehende Einigkeit besteht jedoch über die folgenden Symptome, die eine schwerwiegende psychische Störung zumindest wahrscheinlich erscheinen lassen (nach Feltes und Alex 2020, S. 283 ff.): Symptome für eine schwerwiegende psychische Störung
• Suizidverdacht, Selbstverletzung • Wirres Denken/Sprechen • Extreme Stimmungsschwankungen, sehr plötzliche Stimmungs- oder Verhaltens änderung • Sehr impulsives oder aggressives Verhalten • Apathie • Nicht nachvollziehbare Ängste, Furcht (auch wenn diese nicht ausdrücklich artikuliert werden) ◄ Über diese allgemeinen Auffälligkeiten hinaus ist es für die Einsatzbewältigung hilfreich, zumindest ein Grundwissen über die Besonderheiten spezifischer Störungen zu haben. So ist es für die Kommunikationsgestaltung entscheidend, etwa bei einer paranoiden Schizophrenie zu realisieren, dass imaginäre Personen, mit denen eine Person redet, für diese wirklich existieren. Hört etwa das Gegenüber Stimmen oder fühlt sich verfolgt, so wird von Psychologen und Psychiatern dringend davon abgeraten, diese Äußerungen als unglaubwürdig abzutun. Besser sei es, dieser Person klarzumachen, dass diese Empfindung geglaubt und ernst genommen wird, man selbst diese Deutung aber nicht teile (Schmalzl und Latscha 2013, S. 291). Während rein rauschmittelbedingte Zustände einen professionellen Beamten innerlich und äußerlich auf Distanz zu den Äußerungen seines Gegenübers bringen sollten, ist bei depressiven Schüben eher das Gegenteil gefragt: Hier ist ein persönliches Eingehen auf die Person, und damit eine Kommunikation auf der Beziehungsebene, eher förderlich, um eine Suicide-by-Cop-Situation zu vermeiden.
3.2
Mit psychisch Erkrankten richtig umgehen
Besteht der begründete Verdacht auf eine psychische Erkrankung, so ist die – verbale und nonverbale – Kommunikation der Beamten entscheidend für den weiteren Verlauf des Einsatzes. Diese Erkenntnis gilt übrigens nicht nur bei kranken Personen, sondern in den meisten Begegnungen zwischen Polizei und Bürgern. Bei jüngeren Untersuchungen von
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Gewaltakten durch und gegen Beamte hat sich herausgestellt: Kommunikation stellt „ein wesentliches Merkmal in der Deeskalation von Situationen dar“ und unmittelbarer Zwang sollte „nicht voreilig angekündigt werden“ (Luff et al 2018, S. 262 f.). Das Hauptproblem beim Umgang mit psychisch Erkrankten besteht oft darin, dass die Polizeibeamten davon ausgehen, ihr Gegenüber sei zur Wahrnehmung und Befolgung einer Anordnung überhaupt in der Lage. In Wahrheit ist dies aber bei diesen Personen häufig nicht der Fall, da Erkrankte die Realität oft gar nicht als solche wahrnehmen, sie zumindest verzerrt erfahren oder sogar unter Halluzinationen leiden. Bei aggressiv wirkenden und bewaffneten Menschen hat dieses Missverständnis dann fatale Folgen, denn „die betreffende Person ‚kann‘ oft die Waffe gar nicht fallen lassen (auch wenn sie dazu aufgefordert wird), weil sie sich unbewusst und intuitiv daran festhält und die Muskulatur stark verkrampft ist“ (Feltes und Alex 2020, S. 289). Besteht der Verdacht auf eine psychische Störung, so sollte der Polizeibeamte zur Vermeidung einer Eskalation zumindest die folgenden Ratschläge beachten:10 Ratschläge bei Verdacht auf eine psychische Störung
• • • • • • • • • •
Distanz halten Auf räumliche Ausweichmöglichkeiten achten Nur einen Polizeibeamten das Gespräch führen lassen Die Ansprache soll bestimmt, aber möglichst empathisch sein: In erster Linie Hilfe anbieten, Wünsche und Ängste erfragen Auf hektische Gesten verzichten Ruhig und klar sprechen Reizüberflutungen vermeiden! Nicht zu viel reden, Wichtiges wiederholen Wenn immer möglich Bedrohungen mit der Waffe vermeiden Zwangsanwendung so weit wie möglich vermeiden Professionelle Hilfe anfordern! (Verhandlungsgruppe, Sozialpsychiatrischer Dienst, Psychiatrische Klinken, Betreuer, Notarzt) ◄
An diesen Handlungsempfehlungen wird deutlich: Ziel der Interaktion mit der betroffenen Person muss es sein zu vermeiden, dass er oder sie sich akut bedroht fühlt. Beruhigung, Deeskalation, Vertrauensbildung und Hilfe müssen die Primärziele sein, solange das Leben eines Menschen noch nicht akut in Gefahr ist (so auch: Kap. „Der polizeiliche Umgang mit aggressiven Verhaltensweisen bei Menschen mit psychischen Störungen – Handlungskonzepte, Spannungsfelder und Notwendigkeiten der zukünftigen Beforschung“ in diesem Band; Wittmann und Groen 2020). Dafür braucht man Zeit und Geduld. In der Praxis steht diesen Zielen zumeist die berufskulturelle Konditionierung von Ähnliche und weitere Empfehlungen in Kap. „Menschen mit psychischen Erkrankungen in Polizeieinsätzen – Besonderheiten und deren Bedeutung für die Praxis“ in diesem Band. Siehe auch: Hermanutz und Hermanutz 2016, S. 216 (die m. E. jedoch zu früh zum Zugriff raten) sowie Füllgrabe (2011). 10
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Polizeibeamten entgegen, konkrete Maßnahmen umsetzen und eine Lage möglichst schnell „klären“ zu wollen. Eine angemessene Einsatzgestaltung hängt demnach nicht allein vom Wissen um die Rechtsgrundlagen oder den Umgang mit den Einsatzmitteln ab. Tangiert ist hier vielmehr auch ein polizeikulturelles Problem: Gerade im Umgang mit psychischen Ausnahmesituationen wird relevant, mit welcher Mentalität die Beamten in einen Einsatz hineingehen und dem Bürger gegenübertreten, zu wie viel Flexibilität und kritischer Selbstdistanz sie fähig sind. Im Umgang mit psychisch Kranken kann es erforderlich sein, auch einmal zurückzuweichen, defensiv zu bleiben, auf die Durchsetzung einer Anordnung nicht zu bestehen oder sich für zuvor gemachte Äußerungen zu entschuldigen. Diese Verhaltensweisen kommen in der Praxis des Streifendienstes und der Polizeiausbildung bis heute oft zu kurz, denn sie entsprechen nicht den auf Arbeitsebene vorherrschenden Vorstellungen von Polizeiarbeit, die eher auf Dominanz und die Durchsetzung von Autorität ausgerichtet sind (dazu: Behr 2019, S. 26; Jasch 2019, S. 237).
3.3
Netzwerke bilden
Jede Dienststelle ist gut beraten, für diese Fälle geeignete Netzwerke und Ansprechpartner auf lokaler Ebene vorzuhalten. Es ist Aufgabe der örtlichen Führungskräfte, mit den sozialpsychiatrischen Diensten, den Rettungsdiensten und Gesundheitsämtern der Kommunen ins Gespräch darüber zu kommen, wie in entsprechenden Einsätzen eine spontane und schnelle Beteiligung psychologisch-psychiatrischer Fachkräfte und vor allem der individuellen Betreuer von Klienten gewährleistet werden kann. Über die akuten Einsätze hi naus empfiehlt es sich, eine solide Basis für die interdisziplinäre Aus- und Fortbildung der Vollzugsbeamten zu schaffen (Wittmann 2021). Innovation und Kreativität sind hier gefragt. So haben sich in einigen, aber bislang viel zu wenigen Städten Kooperationen zwischen der Polizei und kompetenten freien Trägern zum Zweck der Fortbildung von Polizeibeamten entwickelt. Beispiele dafür finden sich in Hamburg, wo der Verein „Irre menschlich“ trialogische Fortbildungen mit Polizisten und Angehörigen von psychisch erkrankten Menschen durchführt (dazu: Kap. „Menschen mit psychischen Erkrankungen in Polizeieinsätzen – Besonderheiten und deren Bedeutung für die Praxis“ in diesem Band; Wundsam et al 2007). Einen ähnlichen Ansatz verfolgt das Projekt BASTA11 in Bayern, das regelmäßige Seminare über diesen Themenkreis an den Polizeifachhochschulen des Bundeslandes durchführt. Anregungen für eine Verbesserung der Situation finden sich auch im Ausland: In den USA sind sowohl die Forschung als auch die entwickelten Praxisprojekte zu diesem Problemkreis wesentlich weiter fortgeschritten als in Europa. Dort wird die hohe Bedeutung des Einsatzes von Crisis Intervention Teams für die Reduzierung von Gewalt zwischen Beamten und psychisch erkrankten Menschen betont (Usher
Siehe dazu: http://www.bastagegenstigma.de/polizeiprojekt.
11
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et al 2019; Compton et al. 2014). In diesen Teams sind speziell für den Umgang mit Erkrankten ausgebildete Polizisten tätig, die zugleich als Bindeglied zu den psychiatrischen Diensten agieren (Angell und Ottati 2012, S. 71 ff.; Rossler und Terrill 2017, S. 206; Kane et al. 2017). Interessant an diesen Modellen ist unter anderem, dass nicht alle Polizisten nach dem „Gießkannenprinzip“ beschult werden müssen, sondern auf eine begrenzte Zahl sehr gut qualifizierter Spezialisten gesetzt wird.
4
Der Taser als neue Option
Gerade für die hier diskutierten Situationen mögen sich viele Polizeibeamte die Einführung von Elektroimpulsgeräten (Taser) als neues und zusätzliches Einsatzmittel wünschen. In den meisten Bundesländern ist der Einsatz dieser Taser, die als Waffen im Sinne des Polizeirechts anzusehen sind, zwar bis heute den Spezialeinheiten vorbehalten. Für die kommenden Jahre zeichnet sich jedoch immer mehr die Einführung dieser Geräte als Standardausrüstung auch für den Streifendienst ab.12 Konfrontationen mit psychisch Kranken werden dann voraussichtlich zu den primären Anwendungsfällen für dieses Einsatzmittel werden: Studien in anderen Rechtsordnungen haben bereits die problematische Situation aufgezeigt, dass Taser überproportional häufig gegen Menschen mit psychischen Erkrankungen eingesetzt werden (O’Brien et al. 2010, S. 3). Allzu große Hoffnungen auf eine Reduzierung der tödlichen Schusswaffeneinsätze durch die Verbreitung von Tasern sollte man sich jedoch nicht machen. Seitens der Polizei wird der Taser aus technischen Gründen schon jetzt ausdrücklich nicht als Alternative zur Pistole angesehen.13 In dynamischen Bedrohungssituationen mit sich bewegenden Personen sei die Verwendung des Gerätes schlicht zu unsicher. Vielmehr solle damit die Lücke zwischen Schlagstock und Reizgasspray einerseits und der Schusswaffe auf der anderen Seite geschlossen werden (GdP 2017, S. 3; Landesarbeitsgruppe „DEIG“ 2017, S. 24). Diese Auffassung von Elektroimpulswaffen als „Lückenbüßer“ nähren die Befürchtungen, dass ihre reguläre Einführung für den Polizeidienst zu einer Zunahme von erheblicher Gewaltausübung durch die Polizei führen kann: Die Versuchung für Polizeibeamte ist groß, den Taser zu voreilig in Fällen einzusetzen, in denen sonst einfach körperliche Gewalt oder sogar ein völliger Verzicht auf Zwangsmittel ausgereicht hätte.
Derzeit wird bereits in drei Bundesländern der Taser flächendeckend von der Polizei verwendet. In sechs weiteren Bundesländern laufen Testphasen mit unterschiedlichem Umfang, so etwa seit Anfang 2021 eine Erprobung im Wach- und Wechseldienst in vier Polizeibehörden des Landes Nordrhein-Westfalen. 13 Bericht des Ministers des Innern NRW für die Sitzung des Innenausschusses am 14.05.2020, Vorlage 17/3367, S. 2; Bürgerschaft der Hansestadt Hamburg, Drs. 21/12695, S. 2. 12
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465
Das ist insbesondere mit Blick auf die Gesundheitsrisiken für Personen, die an Herzkrankheiten leiden, aber auch für psychische Ausnahmesituationen oder mit Psychopharmaka behandelte Menschen bedenklich. So hat eine Arbeitsgruppe des Landes Rheinland- Pfalz schon früh darauf hingewiesen, dass schwere Gesundheitsschäden bis hin zum Tod nach dem internationalen Forschungsstand nicht auszuschließen seien: „Tödliche Verläufe stehen zumeist im Zusammenhang mit Beeinträchtigungen durch Alkohol, Drogen oder Medikamente, Erkrankungen der Psyche und des Herz-Kreislauf-Systems, hohem Erregungszustand und körperlicher Anstrengung (…)“ (Landesarbeitsgruppe „DEIG“ 2017, S. 24). In Deutschland ist es – obwohl das Gerät hier bislang nur sehr begrenzt eingesetzt wird – bisher zu vier Todesfällen in Zusammenhang mit Taser-Anwendungen gekommen. Dass die alleinige Ursächlichkeit des Tasers für den Tod in diesen Fällen unklar ist (betont von Kunz und Krys 2020, o. S.), ist für seine Bewertung als gefährliches Einsatzmittel irrelevant. Insgesamt betrachtet kann es zwar statische Einsatzsituationen mit aggressiven Personen geben, in denen das Elektroimpulsgerät ein sinnvolles und zugleich verhältnismäßiges Mittel darstellt. Auch kann allein die Präsenz des Gerätes auf bestimmte Personen eine abschreckende Wirkung haben. Zugleich ist aber davor zu warnen, die Impulsgeräte quasi präventiv anzuwenden, um eine nur möglicherweise eskalierende Situation von Anfang an zu vermeiden. Die beschriebenen Probleme im Umgang mit psychisch Erkrankten werden durch das Gerät eher nicht gelöst. Hier ist vielmehr auf den Ausbau kommunikativer und menschlicher Kompetenzen zu setzen. Fazit Die Konfrontation mit psychisch kranken Personen gehört zum Berufsalltag der meisten Polizeibeamten im Vollzugsdienst. Der ganz überwiegende Teil dieser Einsätze kann friedlich und oft für alle Seiten zufriedenstellend gelöst werden kann. Dennoch ist es besorgniserregend, dass ein erheblicher Teil der tödlich endenden Schusswaffeneinsätze gegenüber psychisch kranken Menschen erfolgt. Die Polizei ist verfassungsrechtlich in erster Linie zum Schutz des menschlichen Lebens verpflichtet. Gegenüber psychisch erkrankten Menschen sind für den Gebrauch der Schusswaffen besonders hohe Anforderungen bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu stellen. In konkreten Einsatzlagen können, wie die Analyse der relevanten Normen des Polizeirechts sowie des § 32 StGB gezeigt hat, Polizeibeamte auch bei einem körperlichen Angriff sogar zum Verzicht auf den Schusswaffeneinsatz verpflichtet sein, wenn Dritte nicht unmittelbar gefährdet sind. Eine angemessene Gestaltung des Einsatzes von Beginn an, die geprägt ist von Geduld, Deeskalation und Verzicht auf bedrohliche Aktionen, kann zumeist dazu beitragen, dass der Gebrauch von Zwangsmitteln erst gar nicht notwendig erscheint. Als Organisation muss sich die Polizei der Problematik von Einsätzen mit psychisch kranken Personen intensiver als bislang widmen und dabei vor allem die Interdisziplinarität der Ausbildung stärken. Der richtige Umgang mit dieser Personengruppe ist in der Aus- und Fortbildung der Polizei noch nicht in einem Maße verankert, das der realen Bedeutung des Problems in der Praxis entspricht. Das sollte sich baldmöglichst ändern.
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Ableitungen/Handlungsempfehlungen für die Praxis
a) Entscheider*innen Der Umgang mit psychisch kranken Menschen muss in der theoretischen, vor allem aber der berufspraktischen Ausbildung deutlich umfangreicher verankert werden, als es bisher der Fall ist. Auf Ebene der Polizeibehörden sollten lokale Netzwerke zwischen der Polizei und Fachkräften für den Umgang mit dieser Personengruppe organisiert werden. Als Vorbild für die Organisation von Einsätzen können etwa die in den USA und Großbritannien erprobten Crisis Intervention Teams dienen. b) Einsatzkräfte In Einsätzen mit psychisch gestörten Personen ist von Anfang in besonderem Maße deeskalierend, beruhigend und helfend vorzugehen. Abstand zu den Personen, das Sicherstellen von Ausweichmöglichkeiten, ein bestimmter, aber ruhiger Umgang mit den erkrankten Menschen sind wichtige Voraussetzungen eines gelungenen Einsatzes. Die Möglichkeit einer Hinzuziehung von medizinisch-psychiatrischen Fachkräften und/oder Angehörigen muss stets geprüft werden. Diese Verhaltensempfehlungen dienen nicht nur dem Lebensschutz des Betroffenen, sondern auch der Eigensicherung des Beamten. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verpflichtet Polizeibeamte dazu, bei Konfrontationen mit psychisch Kranken besonders sorgfältig über das angemessene Vorgehen und das mildeste erforderliche Einsatzmittel nachzudenken. Bei jedem Einsatz mit erkrankten Personen sollte daran gedacht werden, dass nicht jede ursprünglich geplante Maßnahme jetzt auch sofort durchgesetzt werden muss, wenn der Verzicht auf Maßnahmen eine Eskalation vermeiden kann. Bei körperlichen Angriffen durch erkennbar psychisch Kranke ist vor einem eventuellen Gebrauch der Schusswaffe – soweit möglich – sogar ein Ausweichen vor dem Angriff zu erwägen. c) Einsatztrainer*innen Mehrere Situationstrainings und Rollenspiele, in denen Konfrontationen mit psychisch Kranken geübt werden, müssen zum Pflichtstandard in der praktischen Ausbildung gehören. Dabei sollte die Interdisziplinarität der Ausbildung sichergestellt werden: Am besten kann die Zusammenarbeit von erfahrenen Polizeibeamten und Fachleuten aus der Psychiatrie während der praktischen Übungen eine fachgerechte und realitätsnahe Simulation von Einsatzlagen dieser Art sicherstellen. Zugleich sollten die rechtlichen Voraussetzungen des Zwangsmitteleinsatzes mit den praktischen Übungen verzahnt werden.
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Die Gefährlichkeit von Begegnungen der Polizei mit psychisch auffälligen Personen im Einsatz Hans Peter Schmalzl
Inhaltsverzeichnis 1 A llgemeine Anmerkungen zur Gefährlichkeit von psychisch auffälligen Personen 1.1 Ein fiktives Eingangsbeispiel 1.2 Die besondere Gefahrenkonstellation bei Kontakten der Polizei mit psychisch auffälligen Personen 1.3 Psychisch krank – psychisch auffällig – verhaltensauffällig: Begriffsklärungen 1.4 Polizeilich kritische Erkrankungen und ihre spezifischen Gefahrenmomente 2 Allgemeine und spezifische Risiken im Umgang mit psychisch Auffälligen 3 Empfehlungen für das polizeiliches Einsatztraining: Basiskompetenzen im konkreten Kontakt mit einer psychisch auffälligen Person Literatur
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Zusammenfassung
Die Polizei kommt typischerweise dann in Kontakt mit einer psychisch auffälligen Person, wenn diese den Scheitelpunkt einer akuten Krise erreicht hat und dann besonders hilfsbedürftig, aber häufig auch problematisch in ihrem Verhalten ist. Bei einigen psychischen Störungsbildern, vor allem bei suchtkranken, paranoid schizophrenen und psychopathischen Personen kann das auffällige Verhalten bis zur Gewalttätigkeit gehen. Die Gefährlichkeit zeigt sich vor allem in bestimmten Konstellationen, die man als Reviewer*innen: Robert Hintereker, Stefan Hollenberg H. P. Schmalzl (*) ehemals: Zentraler Psychologischer Dienst der Bayerischen Polizei, Polizeipräsidium München, München, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_25
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H. P. Schmalzl
Polizist*in mitgestaltet. Für die Polizei kommt es deshalb darauf an, Begegnungen mit psychisch auffälligen Personen aufmerksam, auf Eigensicherung bedacht, kommunikativ und taktisch geschickt, kurz einsatzkompetent anzugehen und dabei spezifische, in diesem Beitrag dargestellte Verhaltensempfehlungen zu berücksichtigen.
1
llgemeine Anmerkungen zur Gefährlichkeit von psychisch A auffälligen Personen
1.1
Ein fiktives Eingangsbeispiel
Eine Frau wählt den Polizei-Notruf. Sie wirkt verstört und voller Angst. Ihr eigener Sohn habe sie gerade geschlagen und gewürgt. Aber sie habe zu Nachbarn fliehen können. Sie wisse nicht, was ihr Sohn jetzt treibt. Sie verstehe das alles nicht und – die Polizei möge bitte dringend und sofort kommen. Die Streife, die den Einsatz übernimmt, erfährt vom Disponenten noch, dass der Sohn 25 Jahre alt ist, noch bei seiner Mutter wohnt und nach Angaben der Mutter weder Drogen nimmt noch Waffen besitzt. Er könnte was getrunken haben … Die Streife erfährt nicht, dass der Sohn schon zweimal wegen paranoider Schizophrenie in stationärer psychiatrischer Behandlung war. Vor Ort finden die beiden Polizeibeamten den Sohn apathisch auf einer Couch sitzen. Sie sprechen ihn ruhig an, er reagiert nicht. Doch plötzlich springt er auf, ein Küchenmesser in der Hand, das er unter seinem Oberschenkel hervorgezogen hat … (Schmalzl 2012).
1.2
ie besondere Gefahrenkonstellation bei Kontakten der Polizei D mit psychisch auffälligen Personen
Auffälliges Verhalten, Gereiztheit, Aggressivität oder Schutzbedürftigkeit begegnet Polizist*innen vielleicht häufiger als Verhalten, das der Alltagsnormalität entspricht. Das ist berufsimmanent; denn die Polizei wird regelmäßig dann gerufen, wenn Menschen ihr Normalverhalten ablegen, wenn sie etwas Normwidriges getan haben oder Hilfe benötigen. So ist Verhaltensauffälligkeit eine Beobachtung, die Polizeibeamtinnen und -beamte und regelmäßig machen (Wittmann und Groen 2020). Auch psychisch kranken Menschen begegnet die Polizei gerade dann, wenn sie auffällig werden, weil eine akute Krise ihren Kulminationspunkt erreicht hat, an dem sie sich hilfsbedürftig, suizidal, renitent oder auch gewalttätig zeigen. Der Ausgang ist bisweilen fatal: Zwei Drittel der Personen, die im Verlauf eines Schusswaffengebrauchs von der Polizei getötet werden, gelten als psychisch krank (Finzen 2014). Unser Eingangsbeispiel ist so ein Fall von Krisenkulmination und tödlicher Eskalationsgefahr: Der 25-jährige Mann mag schon lange unter einer Psychose leiden und die
Die Gefährlichkeit von Begegnungen der Polizei mit psychisch auffälligen Personen im … 471
Mutter mag dabei vieles mitgemacht und ertragen haben. Aber erst der Angriff gegen sie ruft die Polizei auf den Plan, die mit viel zu wenig Informationen und viel zu wenig psychiatrischem Know-how nun ausgerechnet dann der Lage Herr werden soll, wenn das Verhalten des Mannes am auffälligsten, unberechenbarsten und gefährlichsten ist. Der polizeiliche Umgang mit psychisch kranken Personen ist deshalb à priori problematischer als etwa der Umgang des/der klinischen Psycholog*in mit derselben Personengruppe. In der psychologischen Praxis bleibt der Klient oder die Klientin meist friedlich im Sessel sitzen, vor der Polizei springt er oder sie bisweilen aggressiv oder sogar bewaffnet auf, wie unser Beispiel zeigt.
1.3
sychisch krank – psychisch auffällig – P verhaltensauffällig: Begriffsklärungen
Vorab allerdings muss geklärt werden, was man in den medizinischen und psychologischen Fachdisziplinen überhaupt unter „psychisch krank“ versteht; denn der Alltagsgebrauch engt die Bedeutung der Begrifflichkeit zu stark ein. Landläufig spricht man erst von einem psychisch Kranken, wenn jemand mutmaßlich nicht mehr Herr seiner Sinne, Gedanken oder Gefühle ist. Ein an paranoider Schizophrenie Erkrankter, der Stimmen hört und meint, der Satan sei hinter ihm her, wäre sicherlich als psychisch krank zu bezeichnen und genauso die an einer schweren sogenannten bipolaren affektiven Störung Leidende, die vermeintlich grundlos in Tränen ausbricht und sich von allen verlassen fühlt, während sie ein paar Tage später am liebsten lachend die Welt umarmen möchte. Tatsächlich definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) „psychisch krank“ viel umfassender: Patienten mit hirnorganischen Schäden werden ebenso einbezogen wie Personen mit depressiven Verstimmungen und/oder suizidalen Gedanken, aber auch Alkoholund Drogenabhängige. Wer an vorübergehenden neurotischen Ängsten leidet, zählt ebenso dazu wie jemand mit einer lebenslangen Persönlichkeitsstörung. Die WHO zieht deshalb auch den Begriff der Störung (disorder) dem der Krankheit (disease) vor; denn es wäre irreführend und auch stigmatisierend, all diese Menschen als „krank“ zu bezeichnen. Man kann aber davon ausgehen, dass deutlich von der Norm abweichende Auffälligkeiten des Denkens, Fühlens und Verhaltens, die ein/e Patient*in/Klient*in gegenüber einem/r Psychiater*in/Psychotherapeut*in zeigt oder berichtet, zunächst als psychische Störungen eingeordnet werden. In den Handbüchern der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10; Weltgesundheitsorganisation & Dilling et al. 2009) oder auch der weltweit maßgeblichen American Psychiatric Association (DSM-IV; Saß et al. 2003) sind sie entsprechend erfasst und klassifiziert. Dem Laien, und somit auch den Polizeibeamten*innen, ist mit psychiatrischen Diagnosehandbüchern nicht gedient. Sie können die unterschiedlichsten Formen von Auffälligkeiten nur schwer einordnen, zumal auch noch Kombinationen von Störungsformen bzw. Überlappungen auftreten, die zu Unsicherheiten bei der Feststellung der psychischen Erkrankung führen.
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Es ist deshalb für den alltäglichen Einsatz nicht relevant, eine genaue klinische Dia gnose zu liefern. (Gleichwohl bemüht sich die polizeipsychologische Literatur um Grundkenntnisse (vgl. z. B. Lorei und Hallenberger 2013)). Vielmehr kommt es darauf an, auf das bei der auffälligen Person erlebte Verhalten angemessen zu reagieren; das heißt, das oberste Ziel im Umgang mit psychisch auffälligen Personen ist der konfliktfreie Umgang und nicht die Erstellung der korrekten psychiatrischen Diagnose. Deshalb gelten zwei Kernaussagen: • Die psychisch merkwürdig oder anormal erscheinende Person, mit der die Polizei zusammentrifft, ist zunächst keine psychisch kranke, sondern eine verhaltensauffällige Person. • Man erwartet von der Polizei keine psychiatrische Diagnostik und schon gar keine therapeutische Maßnahme, sondern eine geschickte Situationsbewältigung zur Abwehr von Gefahren. Mit welchen Gefahren aber muss man als Polizeibeamt*in rechnen?
1.4
olizeilich kritische Erkrankungen und ihre P spezifischen Gefahrenmomente
Man weiß mittlerweile, dass zwar psychisch Kranke nicht allgemein anfälliger für Gewalttaten sind als die Allgemeinbevölkerung, dass aber einige Störungen oder Krankheiten, namentlich Suchterkrankungen, Psychosen (vor allem paranoide Schizophrenie) und Psychopathien eine deutlich erhöhte Gewaltneigung aufweisen (Nedopil 2004; Schmalzl 2009). Wie kommt diese erhöhte Gewaltbereitschaft zustande? Bei Suchtkranken reduziert der Substanzmissbrauch (Alkohol, Drogen oder Medikamente) die Fähigkeit, Emotionen zu kontrollieren, das eigene Verhalten situationsangemessen zu steuern oder Probleme vernunftmäßig anzugehen. Stattdessen nehmen Ichbezogenheit und Selbstüberschätzung zu. Diese kognitiven Handicaps und affektiven Enthemmungen bringen Suchtkranke dazu, Gewalt als einfachen und selbst im intoxikierten Zustand noch verfügbaren Weg der Problemlösung einzuschlagen. So standen bei nahezu jedem dritten (29,7 %) in Deutschland im Jahr 2005 aufgeklärten Gewaltdelikt die Tatverdächtigen unter Alkoholeinfluss (Bundesministerium des Innern und Bundesministerium der Justiz 2006). Ganz anders erklären sich aggressive und gewalttätige Verhaltensmuster bei paranoid Schizophrenen. Die Erkrankung bewirkt, dass sich Wahrnehmung, Körperempfindung und Denken verändern. Man erlebt die Außenwelt anders, irritierend und fremdartig. Das macht dem/der Betroffenen Angst. Er/Sie wird misstrauisch und zieht sich zurück (Steinert 1995; Nedopil 2004). In dem Versuch, sich auf all das einen Reim zu machen, entstehen Wahnvorstellungen. Man glaubt sich ausspioniert oder verfolgt. Das lässt den/die Erkrankten/e noch misstrauischer und zunehmend feindselig werden. Die Umwelt reagiert
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entsprechend verstört oder abweisend. So bauen sich Spannungen auf, die Nähe anderer wird als bedrohlich erlebt und am Endpunkt, an dem sich Anspannung und Bedrohungsgefühl entladen, steht womöglich die gewaltsame Aktion. Ganz offensichtlich liegt hier ein Erklärungsansatz für das Verhalten des jungen Mannes aus unserem Eingangsbeispiel. Wieder anders gestaltet sich die Gewaltneigung bei Psychopathen (vgl. das psychopathy- Konzept von Hare 1998) oder Personen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung. Solche Personen empfinden keine Skrupel, wenn sie anderen Schaden zufügen. Schuld ist immer das Opfer. Es überrascht deshalb nicht, dass das Risiko, als Mörder oder Totschläger verurteilt zu werden, bei Personen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung noch höher zu veranschlagen ist, nämlich zwölffach erhöht gegenüber der Allgemeinbevölkerung, als bei Schizophrenen (achtfach) oder bei Alkoholabhängigen (elffach) (Eronen et al. 1996). Am problematischsten wird es allerdings, wenn zwei oder mehrere Störungen zusammenkommen (sog. Komorbiditäten), etwa wenn eine schizophrene oder psychopathische Person unter Substanzeinfluss steht (Walsh et al. 2002). Dann wirkt Alkohol bei einem ohnehin Gewaltgeneigten wie ein Brandbeschleuniger bei einem Feuer. Wenn nun gesagt wird, dass – neben hier unerwähnt gebliebenen psychischen Störungsbildern – vor allem suchtkranke, paranoid schizophrene und psychotische Personen ihrer Umwelt gefährlich werden können, dann ist eine Einschränkung wichtig: Die Gefährlichkeit zeigt sich nicht immer und überall. Es gibt bestimmte soziale oder situative Konstellationen, die eine Gefährlichkeit, gerade auch für die Polizei, deutlich erhöhen. Es gilt deshalb, diese (Einsatz-)Konstellationen im polizeilichen Umgang mit psychisch Kranken herauszuarbeiten. Unter welchen Bedingungen also kann es für Polizist*innen gefährlich werden, wie können sie sich darauf einstellen und Gefährdungen rechtzeitig erkennen, und was können sie tun, um selbst kritische Begegnungen zu einem guten Ende zu bringen?
2
llgemeine und spezifische Risiken im Umgang mit A psychisch Auffälligen
Eine ältere BKA-Studie (Sessar et al. 1980) über „Polizeibeamte als Opfer vorsätzlicher Tötung“ hat einige Faktoren herausgearbeitet, die Polizeibegegnungen mit gefährlichen, auch psychisch kranken, Rechtsbrechern eskalieren lassen. Kombiniert man die statistischen Ergebnisse und die Fallberichte der Studie mit weiteren, dem Autor bekannten Fällen und mit den oben referierten Aussagen über Risiko-Diagnosegruppen, so rundet sich das Bild zu bestimmten Risiko-Konstellationen. Zu unterscheiden sind grundsätzlich problematische Bedingungen, die für Kontakte mit allen psychisch auffälligen Personen gelten, von den Spezifika im Umgang mit den drei beschriebenen Hauptrisikogruppen. Zu den allgemeinen Risiko-Konstellationen gehört aufseiten der auffälligen Person eine krisenhaft zugespitzte Lebenssituation mit dem Gefühl, nicht mehr weiterzuwissen oder in eine Sackgasse manövriert worden zu sein, aus der es auszubrechen gilt. Suizidgedanken können dann aufkommen, Hassgefühle und übersteigerte Aggressivität oder alles
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zusammen, auch der Einfluss von Alkohol oder anderen, die Eigensteuerung beeinträchtigenden Substanzen. Am kritischsten ist natürlich die Verfügbarkeit von Waffen oder waffentauglichen Gegenständen. Schon eine Bierflasche in Reichweite oder das Obstmesser in der Schale mit den Äpfeln und erst recht die bewusst mitgeführte Waffe am Körper lassen die Gefährlichkeit enorm steigen. Situative Komponenten wie räumliche Enge, Dunkelheit oder schlechte Beleuchtung verstärken bei einer ohnehin beunruhigten Person die Vorstellung, in einer bedrohlichen oder ausweglosen Situation zu stecken. Schließlich tragen auch die beteiligten Polizeibeamten*innen zu einer möglichen Eskalation bei, wenn sie uninformiert, unaufmerksam oder nachlässig erscheinen, dabei Grundregeln der Eigensicherung missachten oder ihr Einschreitverhalten nicht mittels Absprachen und klarer Aufgabenaufteilung koordinieren (-> Einsatzkompetenz; vgl. auch Schmalzl 2008). Einsätze, die mit Verletzung oder Tötung von Beteiligten enden, weisen regelmäßig neben den erwähnten Eskalationsfaktoren aufseiten der psychisch auffälligen Person sowie aufseiten von Situation und Umfeld auch Mängel im einsatzkompetenten Einschreiten auf. Diese Bedingungen finden sich als allgemeine Risikofaktoren bei allen psychisch Auffälligen, gerade auch bei den drei wichtigsten Gruppen. Bei Suchtkranken und Psychotikern kann noch verschärfend hinzukommen, dass man sie nicht ernst nimmt, als unzurechnungsfähig oder unselbstständig hinstellt und so gegen sich aufbringt. Vor allem Äußerungen von schizophrenen Personen, die auf Halluzination oder Wahnideen hinweisen, werden bisweilen leichtfertig abgetan. Psychopathische Personen dagegen entfalten ihre Gefährlichkeit vor allem, wenn sie bei Preisgabe ihrer Identität viel zu verlieren haben und eine Chance sehen, sich der Herausgabe ihrer Daten zu entziehen. Zur Festnahme ausgeschrieben oder mit Diebesgut im Kofferraum wird ein Psychopath sehr wohl überlegen, ob er nicht der Polizeikontrolle entkommen kann, indem er die Flucht ergreift, zur Not mit Waffengewalt. Denn im Gegensatz zu Suchtkranken und Psychotikern sind Psychopathen auch unter Stress sehr wohl in der Lage, rationale Risiko-Kalkulationen anzustellen.
3
mpfehlungen für das polizeiliches Einsatztraining: E Basiskompetenzen im konkreten Kontakt mit einer psychisch auffälligen Person
In Abschn. 1.3 wurde betont, dass niemand von der Polizei weiterführende Kenntnisse in Psychopathologie verlangt, dass keine psychiatrische Differenzialdiagnose, wohl aber eine fundierte polizeiliche Gefahrenprognose erwartet wird. Der/Die Polizeibeamt*in sollte also ein Gespür für die akute Gefährlichkeit einer Person mitbringen und eine Vorstellung davon, wie man polizeilich mit dieser Gefährlichkeit umgehen kann. Um allerdings einschätzen und dann entsprechend handeln zu können, braucht man einige – am besten über Einsatztrainings erlernbare – Basiskompetenzen im Einsatzhandeln. Dazu zählen eine genaue Beobachtung, differenzierende Wahrnehmung und Deutung von
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efahrenmomenten, kommunikatives Geschick und natürlich ein breites polizeitaktisches G Repertoire. Leider beginnt der polizeiliche Kontakt mit einer psychisch kranken oder gestörten Person nicht immer damit, dass die Polizei ausdrücklich auf die psychische Störung hingewiesen wurde. Bisweilen – wie auch in unserem Anfangsbeispiel – begegnet man einer Person, die sich in irgendeiner Weise „psychisch“ auffällig verhält, zum Beispiel wie versteinert dasitzt oder aber übermäßig erregt ist, merkwürdige Dinge erzählt, irrwitzig herumalbert, unverständlich lallt oder scheinbar grundlos wüste Drohungen ausstößt. Solche Verhaltensweisen können auf eine psychische Störung hinweisen, sie können aber auch andere Ursachen haben: Wer stumm dasitzt oder sich äußerst erregt zeigt oder komische Dinge erzählt, kann gerade etwas Schlimmes erlebt haben und somit unter Schock stehen; wer herumalbert, wird es vielleicht aus jugendlichem Überschwang tun oder weil er provozieren will; wer lallt, mag aufgrund seiner Gehörlosigkeit Probleme mit dem Sprechen haben; und wer sich aggressiv gebärdet, steht womöglich unter Alkohol- oder Drogeneinfluss. Was die Wahrnehmung zusätzlich erschwert, sind die erwähnten Kombinationen oder Komorbiditäten, also ein psychotischer und zugleich alkoholisierter Mann oder eine angst-neurotische Frau, die gerade ein traumatisierendes Erlebnis hatte. Wichtig sind daher zunächst genaues Hinschauen und differenziertes Wahrnehmen. Es gibt Warnsignale; denn auffälliges Benehmen, das einen psychopathologischen Hintergrund haben könnte, weist einige Charakteristika auf (Miller 2006, S. 48–49), nämlich: • • • • •
Starke Veränderungen im Aktivierungsgrad Starke Stimmungsausschläge oder -schwankungen Veränderte oder verzerrte Wahrnehmungen Merkwürdig erscheinende Ideen, Gedanken oder Interpretationen der Wirklichkeit Desorientierung und Gedächtnisausfälle
Hochgradige Erregung allein besagt nicht viel. Wer sich aber unerklärlich exaltiert gibt, also eine hysterisch-überdrehte Unruhe zeigt, begleitet vielleicht von wildem Armfuchteln oder Reden ohne Punkt und Komma, nährt einen gewissen Anfangsverdacht auf psychische Gestörtheit. Das Gleiche gilt für das entgegengesetzte Verhalten, nämlich eine stark verlangsamte Motorik bis hin zur Regungslosigkeit, eine wie eingefroren wirkende Mimik und Gestik, ein stierer Blick und Wortkargheit bis zum völligen Verstummen. Erst recht sollte der abrupte Wechsel zwischen den beiden Extremen zu denken geben, also Schreie, die plötzlich ersticken, oder heftige Gebärden, die plötzlich einfrieren, um sich im nächsten Augenblick wieder ins Gegenteil zu verkehren. Solche Wechsel oder zumindest Schwankungen lassen sich auch im affektiven Verhalten beobachten: Eine übermütig- heitere, fast euphorische Stimmung kann umschlagen in tiefe Traurigkeit oder Angst. Überhaupt sind extreme Affektzustände ein Alarmsignal. Dazu gehören auch grobe Unbeherrschtheit, Aggressivität und Wut. Freilich ist immer zu prüfen, ob nicht auch extremes Verhalten gut nachvollziehbar und außergewöhnlichen Umständen geschuldet ist. Wer gerade großes Leid oder Unrecht erfahren hat, wird womöglich guten Grund haben, außer
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sich zu sein. Erst ein Extremverhalten, das in der Kontaktsituation mit der Polizei unangemessen oder widersinnig erscheint, sollte zu denken geben. Dass wir alle psychopathologisch reagieren können, wenn die Situation unsere Möglichkeiten zur angemessenen Bewältigung überfordert, ersieht man aus extremen Einsatzlagen wie dem Schusswaffengebrauch gegen Personen, wo es auch bei erfahrenen Polizist*innen regelmäßig zu Verzerrungen oder Ausfällen der Wahrnehmung, zu Denkstörungen oder Amnesien kommt (Artwohl und Christensen 1997). Auch der schizophren Erkrankte zeigt Symptome, die an das Erleben in einer traumatisierenden Situation erinnern: Seine Wahrnehmung ist verändert, sein Denken und Handeln eingeengt. Schließlich gibt es Personen, die die Orientierung verlieren darüber, wer und wo sie sind. An Demenzkranke ist hier natürlich zu denken oder an Menschen mit hirnorganischen Verletzungen. Der polizeilich gern gebrauchte Ausdruck der „verwirrten Person“ deckt sich häufig mit solchen Diagnosegruppen. Aber trennscharf ist er nicht, auch eine akut psychotische Person mag einen verwirrten Eindruck machen. Wie bei allen genannten Auffälligkeiten gilt es also, genau hinzuschauen und sich zu fragen, wie das beobachtete Verhalten unter den gegebenen Bedingungen zu deuten ist. Hilfreich ist hierfür das Wissen um spezifische Risiko-Konstellationen, wie sie oben beschrieben wurden. So kann man auf die wesentlichen eskalationsfördernden Faktoren achten: Ist die Person bewaffnet oder könnte sie sich eines Gegenstands als Waffe bedienen? Steht die Person möglicherweise unter Alkohol- oder Drogeneinfluss? Inwieweit entspricht das, was sie sagt, der Realität? Ist das polizeiliche Auftreten dazu angetan, bei der Person Bedrohungsgefühle hervorzurufen? Oder wirken die Licht- oder Raumverhältnisse ängstigend oder einengend? Darüber hinaus sind alle polizeilich verfügbaren Informationen mit ins Kalkül zu ziehen, Einträge natürlich, aber auch Vorerkrankungen, stationäre Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen, derzeitige psychiatrische Behandlungen, Medikamenteneinnahmen und vor allem Erkenntnisse über die aktuelle Lebenssituation (Verlust des Partners, des Arbeitsplatzes, Obdachlosigkeit usw.). Mit einem Einschreitstil nach dem Motto „Da fahren wir hin und dann sehen wir schon!“ ist eine solche datenbasierte Risiko-Einschätzung nicht zu haben. Stattdessen wird deutlich, wie wichtig eine etwas zeitintensivere Recherche und Einsatzvorbereitungsphase sind. In allen Fällen, in denen man es verantworten kann, sollte man sich diese Zeit auch nehmen. Kommt es dann zum direkten Kontakt mit der Person und zeigen sich einige der oben aufgeführten Verhaltensauffälligkeiten und Risikofaktoren, gibt es genügend Erfahrungswerte und Expertenhinweise (unter anderen: Steinert 1995; Hermanutz und Litzcke 2004; Castellano-Hoyt 2003; Miller 2006; Laspe 2006; Schmalzl 2012; Biedermann 2020), die einige Essentials im polizeilichen Vorgehen nahelegen. Die folgenden Vorgehensweisen passen besonders gut zu unserem Eingangsbeispiel bzw. zum Umgang mit psychotisch Erkrankten, sind aber grundsätzlich anzuraten: • Verstärkung hinzuziehen
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Menschen registrieren selbst in einer akut psychotischen Phase die Übermacht der anderen und fügen sich viel eher als in Situationen, in denen sie nur einer oder zwei Personen gegenüberstehen (Ketelsen et al. 2004). • Große Distanz halten • Ausgänge nicht zustellen Die Wahrscheinlichkeit, als Polizeibeamter oder -beamtin bei zu schneller und unangekündigter Annäherung auf Widerstand oder sogar gewaltsame Gegenwehr zu stoßen, ist grundsätzlich hoch, bei vielen psychisch Kranken wird sie aufgrund der nicht mehr beherrschbaren Angst fast zur Gewissheit. Das Gefühl, eingeengt und unentrinnbar eingesperrt zu sein, erzeugt man auch, wenn man sich als Polizeibeamter oder -beamtin in die Tür stellt. Natürlich lässt man niemanden einfach gehen, aber die leicht variierte Position am Türpfosten statt in der Tür lässt dem anderen zumindest die Illusion eines Wegs aus der beklemmenden Enge. Dieses und der gebührende Abstand machen psychologisch den Unterschied zwischen einem Restgefühl an Souveränität und dem Gefühl vollkommenen Ausgeliefertseins. • Ruhig sprechen und jede Maßnahme ankündigen • Langsam und ruhig bewegen Wenn Wahrnehmungs- und Denkprozesse verzögert oder verzerrt ablaufen, wie bereits bei Betrunkenen zu beobachten, dann stellen schon schnelles Reden, die Verwendung schwieriger Begriffe oder plötzlich einsetzende Bewegungen eine Überforderung dar. Wie mit einem fremden verängstigten Kind, das man auf der Straße aufliest, sollte man mit einem/r psychisch Kranken in allem sehr behutsam vorgehen und entsprechend kommunizieren. • Erklären, weshalb man da ist, und dabei ehrlich sein • Hinhören, sich einfühlen, die Person ernst nehmen Ob man polizeilicherseits Vertrauen aufbaut und Gehör findet, hängt ohnehin von der Art der Kommunikation ab, der nonverbalen noch mehr als der verbalen. Einem ruhigen, zunächst nicht nur räumlich distanzierten Auftreten sollte deshalb die einfache Botschaft folgen, dass nach der Polizei verlangt wurde und man jetzt da sei, um nach dem Rechten zu sehen, um zu schlichten, aber auch um zu helfen, wo Hilfe erforderlich ist. Bei allem, was die Person dann sagt oder tut, sollte man sich bemühen zu verstehen, was in ihr vorgeht und mit ihr passiert. Auf das Bemühen kommt es an; denn selbst ein akut psychotischer Mensch erkennt, ob der/die Beamt*in verstehen oder nur vollziehen will. • Auf Symptome eingehen, aber klarmachen, dass man sie nicht teilt (z. B. bei geäußerten Wahnvorstellungen oder Halluzinationen)
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• Auswirkungen der Symptome erfragen und Möglichkeit der Abhilfe („Arzt“; „Krankenhaus“) ansprechen Was den Umgang mit psychisch Kranken besonders schwierig macht, ist die unterschiedliche Interpretation der Wirklichkeit. Der paranoid Schizophrene beispielsweise hört Stimmen oder fühlt sich von Feinden umstellt, während man dazu nur mit Unverständnis den Kopf schütteln kann. Statt aber die Äußerungen einfach so stehen zu lassen oder gar als unglaubwürdig abzutun, sollte man deutlich machen, dass man der Person glaubt, wenn sie so empfindet, dass man aber ihre Deutungen nicht teilt. Man könnte also sagen: „Dass Sie sich verfolgt fühlen, glaub ich Ihnen schon, aber ich kann es nicht nachvollziehen. Andererseits muss das ja schlimm sein, sich verfolgt zu fühlen …!“ Indem man nach den Folgen einer solchen Wahnentwicklung forscht, zeigt man ein gewisses Maß an Empathie und Interesse, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Person Vertrauen fasst. Wenn sie dann von Bedrohung und Angst spricht, kann man langsam auf Fachleute verweisen, die helfen könnten, die Angst zu reduzieren. • Grenzen setzen, ohne zu drohen • Erleichterungen (z. B. Hinsetzen; Wasser aus Plastikbecher) anbieten, aber: • Das polizeilich Erforderliche (z. B. Einweisung) ansprechen und dabei das Positive („Hilfe erlangen“; „zur Ruhe finden“; „in gute Obhut kommen“) herausstellen Nicht selten wird man auch bei einfühlsamem Vorgehen auf Widerstand stoßen. Emotionale Ausbrüche mit Flüchen oder Tritten gegen das nächste Möbelstück wird man noch hinnehmen. Wenn aber die Person beleidigend wird oder mit dem nächsten Blumentopf wirft, ist es an der Zeit, sich derartiges Gebaren zu verbitten: „Schluss jetzt! So kommen wir nicht weiter.“ Der scharfen und keinen Widerspruch duldenden Anordnung sollte dann in deutlich ruhigeren und leiseren Worten die Bitte folgen, sich doch hinzusetzen, um zur Ruhe zu kommen und gemeinsam eine Lösung zu finden. Dass in vielen Fällen die „Lösung“ in der Einweisung in eine psychiatrische Klinik besteht, muss direkt oder indirekt auch angesprochen werden, allerdings versehen mit der positiven Aussicht, dort Hilfe zu bekommen. Nun gibt es Fälle, die trotz geschickter Kommunikation und ehrlichen Bemühens nicht den gewünschten Erfolg zeitigen: Statt sich zu fügen, nimmt die psychisch kranke Person eine immer bedrohlichere Haltung ein oder geht zum Angriff über. Das ist vor allem dann zu befürchten, wenn man die Person kommunikativ nicht mehr erreicht (Ketelsen et al. 2004). Wenn man sie anspricht und keine oder eine überhaupt nicht zur Ansprache passende Antwort erhält, dann hat die Person keinen wirklichen Kontakt aufgenommen oder den Kontakt gekappt, weil sie möglicherweise mit der Vorstellung beschäftigt ist, sich jetzt aus dieser unerträglichen Situation gewaltsam zu befreien. Bei alldem darf man nie vergessen: Als Polizist*in steckt man in einer Interaktionsdynamik, die man mitbestimmt, die aber auch von anderen, namentlich der psychisch auffälligen Person und verschiedenen Umgebungsvariablen mitgestaltet wird. Jeder Ausgang
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eines Einsatzes, sei es die friedvolle Schlichtung eines bereits eskalierten Geschehens oder die Tötung einer beteiligten Person, ist somit nie zufällig oder nur einer Partei zuzuschreiben, sondern resultiert immer aus einem Zusammenspiel, für das alle mitverantwortlich sind. Niemand entlässt die Polizei aus ihren Verantwortungsanteilen. Umso wichtiger ist der Kompetenzerwerb im schwierigen Umgang mit psychisch auffälligen Personen. Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die Praxis
a) Entscheider*innen Begegnungen der Polizei mit psychisch auffälligen Personen enthalten ein hohes Konflikt- und Eskalationspotenzial und manchmal ein beträchtliches Tötungsrisiko auf beiden Seiten. Das gilt vor allem für spezifische psychiatrische Diagnosegruppen in spezifischen situativen Konstellationen. Diese Spezifika müssen Entscheider*innen nicht kennen. Sie schulden es aber den Einsatzkräften und ihrem psychisch auffälligen Gegenüber, alles dafür zu tun, dass deren Begegnungen konflikt- und gefahrenärmer gestaltet werden. Dazu zählt eine professionnelle polizeiliche Aus- und Fortbildung, die das Thema theoretisch und auch in Einsatztrainings noch intensiver und interdisziplinärer behandelt. Dazu zählt auch der Aufbau von inner- und außerpolizeilichen Strukuren einer im Einsatzfall aktivierbaren psychosozialen Unterstützung. Innerpolizeiliche Stellen wie psychologische und psychosoziale Dienste sind entsprechend personell auszustatten und die Vernetzung mit außerpolizeilichen Stellen (Krisendienst Psychiatrie; Kriseninterventionsteams etc.) ist voranzutreiben. b) Einsatzkräfte Einsatzkräfte, die Kontakt zu einer psychisch auffälligen Person aufnehmen, sollten über das dann erforderliche professionelle Vorgehen gut Bescheid wissen. Zen tral ist der Grundgedanke, dass von Polizist*innen zwar keine psychiatrische Differenzialdiagnose, wohl aber eine fundierte Gefahrenprognose erwartet wird. Das setzt voraus, dass jede Einsatzkraft, wenn irgendwie möglich, datenbasiert agiert, das heißt Informationen einholt, genau wahrnimmt und Risiken kalkuliert. Das weitere einsatzkompetente Handeln, nonverbal wie verbal, sollte sich an den in diesem Beitrag formulierten Verhaltensempfehlungen orientieren. Schließlich gilt für jedes Streifenteam der Hinweis, dass man gerade in solchen Einsätzen die Lage nicht allein bewältigen muss, sondern auf die Unterstützung anderer, weiterer Einsatzkräfte, aber auch psychologischer Fachkräfte bauen kann. c) Einsatztrainer*innen Anders als Entscheider*innen müssen Einsatztrainer*innen sehr wohl die Spezifika der Konfliktquellen und Gefahren einer polizeilichen Begegnung mit psychisch
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auffälligen Personen kennen. Überhaupt sollten sie sich mit menschlichem Verhalten in Extremsituationen beschäftigen. Grundlagen der Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Sozialpsychologie wären hier ebenso zu empfehlen wie die in diesem Beitrag skizzierten Basiskenntnisse einer polizeirelevanten Psychopathologie. Das erfordert kein Studium, aber mit der Interpretation von Verhalten müssen sich Einsatztrainer*innen umfassend auseinandergesetzt haben. Es ist unschätzbarem Wert für Einsatzkräfte, wenn Trainer*innen körpersprachliche Signale oder verbale Äußerungen richtig deuten gelernt haben und das im Training auch vermitteln können.
Literatur Artwohl, A., & Christensen, L. W. (1997). Deadly force encounters. What cops need to know to mentally and physically prepare for and survive a gunfight. Boulder: Paladin Press. Biedermann, J. (2020). „Messer weg!“ – Polizeilicher Umgang mit psychisch erkrankten Personen im Spannungsfeld zwischen Kommunikation und Zwangsanwendung. In W. Nettelnstroth (Hrsg.), Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis zur Polizeipsychologie (S. 5–31). Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft. Bundesministerium des Innern und Bundesministerium der Justiz (Hrsg.). (2006). Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht. Berlin: Publikationsversand der Bundesregierung. Castellano-Hoyt, D. W. (2003). Enhancing police response to persons in mental health crisis. Providing strategies, communication techniques, and crisis intervention preparation in overcoming institutional challenges. Springfield: Charles C Thomas Publisher. Eronen, M., Hakola, P., & Tiihonen, J. (1996). Mental disorders and homicidal behavior in Finland. Archives of General Psychiatry, 53, 497–501. Finzen, A. (2014). Polizei-Interventionen – jeder dritte Tote war psychisch krank. Psychiatrische Praxis, 41(01), 50–52. https://www.researchgate.net/publication/274148646. Hare, R. D. (1998). Without conscience: The disturbing world of the psychopaths among us. New York: Guilford Press. Hermanutz, M., & Litzcke, S. M. (2004). Standards für den Umgang mit psychisch Kranken im polizeilichen Alltag. Polizei & Wissenschaft, Themenheft: Polizei und psychisch Kranke, 3, 40–48. Ketelsen, R., Schulz, M., & Zechert, C. (2004). Seelische Krise und Aggressivität. Der Umgang mit Deeskalation und Zwang. Bonn: Psychiatrie-Verlag. Laspe, H. (2006). Psychisch auffällige Personen im polizeilichen Alltag. Bayerns Polizei, 1, 15–16. Lorei, C., & Hallenberger, F. (Hrsg.). (2013). Grundwissen Psychisch Kranke. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft. Miller, L. (2006). Practical police psychology. Stress management and crisis intervention for law enforcement. Springfield: Charles C Thomas. Nedopil, N. (2004). Glauben und Wissen über die Gefährlichkeit psychisch Kranker. Polizei & Wissenschaft, Themenheft: Polizei und psychisch Kranke, 3, 31–39. Schmalzl, H. P. (2008). Einsatzkompetenz. Entwicklung und empirische Überprüfung eines psychologischen Modells operativer Handlungskompetenz zur Bewältigung kritischer Einsatzsituationen im polizeilichen Streifendienst. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft. Schmalzl, H. P. (2009). Zur Frage der Gefährlichkeit psychisch Kranker in Kontakten mit der Polizei. In C. Lorei (Hrsg.), Eigensicherung & Schusswaffeneinsatz bei der Polizei. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis 2009 (S. 183–201). Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft.
Die Gefährlichkeit von Begegnungen der Polizei mit psychisch auffälligen Personen im … 481 Schmalzl, H. P. (2012). Umgang mit psychisch auffälligen Personen. In H. P. Schmalzl & M. Hermanutz (Hrsg.), Moderne Polizeipsychologie in Schlüsselbegriffen (3., völlig neu bearb. u. gest. Aufl., S. 347–357). Stuttgart: Richard Boorberg. Sessar, K., Baumann, U., & Müller, J. (1980). Polizeibeamte als Opfer vorsätzlicher Tötung (BKA-Forschungsreihe, Bd. 12). Wiesbaden: Bundeskriminalamt. Steinert, T. (1995). Aggression. In V. Faust (Hrsg.), Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Klinik, Praxis und Beratung (S. 483–499). Stuttgart: Gustav Fischer. Walsh, E., Buchmann, A., & Fahy, T. (2002). Violence and schizophrenia: Examining the evidence. British Journal of Psychiatry, 180, 490–495. Wittmann, L., & Groen, G. (2020). Die Interaktion mit verhaltensauffälligen Menschen aus polizeilicher Perspektive. In Psychiat Prax. Stuttgart: Georg Thieme. https://doi.org/10.1055/a-1190-7598.
Rechtswidrige polizeiliche Gewaltanwendung: Interaktionen, Risikofaktoren und Auslöser Laila Abdul-Rahman und Tobias Singelnstein
Inhaltsverzeichnis 1 E inführung 2 Forschungsstand: Risikofaktoren unverhältnismäßiger polizeilicher Gewalt 2.1 Individuelle Faktoren 2.2 Situative Faktoren 2.3 Organisationale Faktoren 3 Auslöser der Gewalt aus Sicht betroffener Bürger*innen 3.1 Kommunikation 3.2 Situation und Handlungen der Bürger*innen 3.3 Verhalten der Polizist*innen 4 Fazit Literatur
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Zusammenfassung
Kommt es in Konfliktsituationen zum Einsatz physischer Gewalt, so geht dem häufig ein dynamischer wechselseitiger Eskalationsprozess voraus. Zugleich sind die rechtlichen Grenzen polizeilicher Gewaltausübung in der Praxis fließend und im Nachhinein oft schwer zu rekonstruieren. Vor diesem Hintergrund rückt der Beitrag Situation und Interaktion (im Vorfeld) der polizeilichen Gewaltanwendung in den Fokus, um der Reviewer*innen: Markus Thielgen, Patrick Schreier L. Abdul-Rahman (*) · T. Singelnstein Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl für Kriminologie, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_26
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Frage nachzugehen, wann, wo und warum es zu rechtswidrigen Gewalthandlungen durch Polizeibeamt*innen kommt. Es wird ein Überblick über den nationalen sowie internationalen Forschungsstand zu individuellen, situativen und organisationalen Risikofaktoren gegeben. Im Anschluss wird dargestellt, welche Auslöser es aus Bürger*innenperspektive für rechtswidrige polizeiliche Gewalt gibt. Die Daten und Befunde stammen aus einer Online-Befragung von Personen (N = 3373), die polizeiliche Gewalt erlebt haben, die sie als rechtswidrig bewerteten, die 2018 im Rahmen des DFG-Projekts „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ durchgeführt wurde.
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Einführung
Als Teil der Exekutive übt die Polizei für den Staat das Gewaltmonopol aus. Der Einsatz von unmittelbarem Zwang zur Durchsetzung polizeilicher Maßnahmen stellt jedoch eine Ausnahmebefugnis dar: Die Polizei darf physische Gewalt nur dann einsetzen, wenn die Voraussetzungen der rechtlichen Eingriffsbefugnis erfüllt sind; zudem ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip des Grundgesetzes zu beachten, der Gewalteinsatz muss also geeignet, erforderlich sowie angemessen sein, um das Ziel der Maßnahme zu erreichen. Ein Gewalteinsatz, der diesen Vorgaben nicht genügt, ist rechtswidrig und regelmäßig auch gemäß § 340 StGB als Körperverletzung im Amt strafbar. Das Einsatztraining soll (auch) darauf vorbereiten, in der Einsatzsituation die notwendigen rechtlichen Entscheidungen sicher treffen zu können. Dazu gehört im Sinne des Ultima-Ratio-Prinzips auch ein möglichst zurückhaltender Einsatz körperlicher Gewalt, der stets nur das letzte Mittel der Intervention darstellen darf. In den Einsatzsituationen steht häufig aber nicht nur die Frage nach dem Ob, sondern auch nach dem Wie im Fokus. Wie viel Gewalt ist notwendig, wann wird sie unverhältnismäßig? Die Anwendung unmittelbaren Zwangs ist Bestandteil polizeilicher Tätigkeit. Da es keinen Berufsalltag ohne Fehler gibt, gehören auch rechtswidrige Gewaltausübungen zur polizeilichen Realität dazu (Singelnstein 2019), wie auch verschiedene Studien gezeigt haben. In einer niedersächsischen Befragung sagten 58 % der Beamt*innen, dass sie schon einmal einen illegalen polizeilichen Übergriff erlebt haben (Bosold 2006). In der Untersuchung von Wiendieck et al. (2002) sagten 28 %, dass ihnen das Verhalten von Kolleg*innen schon einmal zu weit ging. Außerdem gaben 23 % der Beamt*innen an, dass sie ihren Ermessensspielraum schon einmal unnötigerweise voll ausgeschöpft hätten (ebd., S. 37). Auch in den Interviews von Maibach (1996) und Feltes et al. (2007) sowie in den Beobachtungsstudien von Schweer und Strasser (2003), Hunold (2011) und Reuter (2014) spielten übermäßige Gewaltanwendungen eine Rolle. In Deutschland hatte Forschung zu gewaltvollen Interaktionen zwischen Polizei und Bürger*innen bisher im Wesentlichen die polizeiliche Perspektive im Blick (z. B. Behrendes 2003; Bosold 2006; Ellrich und Baier 2015; Maibach 1998; Ohlemacher et al. 2008; Wiendieck et al. 2002). Die Sichtweise der betroffenen Bürger*innen war lange unterbe-
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lichtet, obwohl der damit verbundene Perspektivwechsel unabdingbar ist, um einschlägige Eskalationsprozesse zu verstehen. Dies ist sowohl aus polizeipraktischer als auch aus demokratietheoretischer Perspektive von Bedeutung, da als rechtswidrig bewertetes Vorgehen zum Verlust von Vertrauen und Legitimität führen und somit Akzeptanz und Kooperationsbereitschaft in der Bevölkerung beeinträchtigen kann (siehe Kap. „Vertrauen in die Polizei im 21. Jahrhundert: Fairness in Interaktionen als Grundlage“ in diesem Handbuch). Das Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ (KviAPol) hat erstmalig eine breit angelegte quantitative Befragung von Personen (N = 3373) durchgeführt, die Gewalt durch die Polizei erlebt haben, die sie als rechtswidrig bewerten (vgl. Abdul-Rahman et al. 2020a, b). Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über den internationalen Forschungsstand zur Frage der Risikofaktoren rechtswidriger Gewaltanwendungen gegeben, bevor im Anschluss die Sichtweise betroffener Bürger*innen auf den Eskalationsprozess und insbesondere die Frage dargestellt wird, was den als unverhältnismäßig empfundenen Gewalteinsatz ausgelöst hat.1
2
orschungsstand: Risikofaktoren unverhältnismäßiger F polizeilicher Gewalt
Gewaltsamen Ereignissen geht ein Eskalationsprozess voraus, das bedeutet die schrittweise Verschärfung der als notwendig angesehenen Mittel. Was als notwendige Gewalt angesehen wird, hängt dabei nicht nur von einzelnen objektiven Handlungen ab, sondern auch davon, wie diese subjektiv gedeutet werden (vgl. Ullrich et al. 2018). Dabei spielen unterschiedliche Faktoren eine Rolle, die auf Ebene der individuellen Polizist*innen, der Ebene situativer Gegebenheiten und Ereignisse sowie auf institutioneller Ebene der Polizei als Organisation verortet werden können. Diese Faktoren prägen nicht nur den Gewalteinsatz und seine Entstehung, sondern auch das Risiko der Überschreitung rechtlicher Grenzen, also rechtswidriger Gewaltanwendungen.
2.1
Individuelle Faktoren
Persönliche Eigenschaften und Einstellungen können die Gewaltbereitschaft erhöhen und somit einen Risikofaktor auch für übermäßige Gewaltausübungen darstellen. Dem Forschungsstand zufolge neigen junge, männliche Beamte eher zu Gewalt (Garner und Maxwell 2002; McElvain und Kposowa 2004, 2008; Reuter 2014), während Gewaltanwendungen mit dem Dienstalter und zunehmender Erfahrung tendenziell abnehmen (Crawford und Burns 1998; Lersch und Mieczkowski 2005; Ouellet et al. 2019; Paoline und
Wir danken Jana Buschmann, Marius Garnhartner und Johannes Niemz für die Unterstützung in Vorbereitung dieses Beitrags. 1
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L. Abdul-Rahman und T. Singelnstein
Terrill 2007; Reuter 2014). Ellrich und Baier (2015) identifizierten männliche, eher risikofreudige Beamte als häufiger Gewalt anwendend. Bei der von Reuter (2014) durchgeführten teilnehmenden Beobachtung von 103 Polizeieinsätzen in Deutschland waren es nur zwei Situationen, in denen es zur Gewalteskalation kam. Diese betrafen junge, männliche Polizisten des mittleren Polizeivollzugsdienstes mit geringer Diensterfahrung, die sich schon vor dem Einsatz dergestalt äußerten, dass es in ihrem Job und Einsatzgebiet vor allem um die Demonstration von Macht und Stärke gehe. Diese Einstellung zeigte sich auch in ihrer Körpersprache und Kommunikation mit dem Gegenüber (ebd., S. 84 ff.). Reuter beschreibt dies als sogenannte „Krieger- Männlichkeit“ (vgl. dazu Behr 2008, S. 92). Schon geringe Provokationen, wie das schlichte Ignorieren der Anweisung, sich auszuweisen, könnten dann zur Eskalation und übermäßigen Anwendung von Gewalt führen (Reuter 2014, S. 92). Allerdings ist zu beachten, dass bestimmte Einstellungen nicht zwangsläufig zu einem konkreten Verhalten führen. Welches Verhalten intendiert wird, hängt nach Ajzens Theorie des geplanten Verhaltens (1991) neben Einstellungen ebenso von subjektiven Normen und wahrgenommener Kontrolle ab. Diese Punkte sind insbesondere im Polizeikontext von Bedeutung, da das Verhalten der einzelnen Beamt*innen gerade auch davon abhängen wird, welches Verhalten als erwünscht und wie stark entsprechende Kontrolle empfunden wird (s. Abschn. 2.3). Bosold (2006) befragte mithilfe fiktiver Fallkonstellationen Polizeibeamt*innen aus Niedersachsen zu deren Übergriffsintention, das heißt deren Bereitschaft zur Anwendung illegaler Gewalt in bestimmten Situationen. Danach war die individuelle Punitivität der stärkste Einflussfaktor für höhere Gewaltbereitschaft. Alter und Geschlecht zeigten hier keinen Einfluss, dafür aber Selbstwertgefühl und Identifikation mit der Organisation Polizei: Je geringer beides ausgeprägt war, desto stärker war die Übergriffsintention in ungünstigen Situationen – aber auch eine Überidentifikation mit der Polizei konnte diese Wirkung zeigen (ebd., S. 153). Beamt*innen des mittleren Dienstes neigten außerdem eher zu Übergriffen als solche des höheren Dienstes (ebd., S. 127). Die Übergriffsintention war auch davon abhängig, ob das polizeiliche Gegenüber deutscher oder anderer Herkunft war (ebd., S. 143). Aus der Persönlichkeitsforschung (Big Five-Modell, Costa und McCrae 1985) ist bekannt, dass für Kontaktberufe wie den Polizeiberuf Extraversion (nach außen gewandt, aktiv) und Verträglichkeit (kooperativ, mitfühlend) bedeutsam sind, aber auch Gewissenhaftigkeit (verantwortungsbewusst, diszipliniert; vgl. Nettelnstroth et al. 2019, S. 4). Aggressivität kann dabei insbesondere als Ausdruck fehlender Verträglichkeit verstanden werden (vgl. Sarges und Wottawa 2001, S. 412). Auch zu Neurotizismus neigende, d. h. emotional instabile Persönlichkeiten sind für bestimmte Berufe, wie die Polizei, weniger geeignet (vgl. Schuler und Barthelme 1995), da sie leicht reizbar und impulsiv sind. In der Polizeiforschung wurde wiederholt das Phänomen des „Dirty Harry“ oder des „Jägers“ beschrieben. Beamt*innen des Typs „Dirty Harry“ akzeptieren auch rechtswidrige polizeiliche Verhaltensweisen, wenn sie denn Erfolg im Sinne der Erreichung des finalen Maßnahmezwecks versprechen (Fekjaer et al. 2014; Klockars 1980). Ähnlich ver-
Rechtswidrige polizeiliche Gewaltanwendung: Interaktionen, Risikofaktoren und Auslöser 487
hält es sich bei „Jägern“, für die der „Jagderfolg“ – beispielsweise Festnahmen – an oberster Stelle steht, für dessen Erreichung auch gesetzliche Grenzen übertreten werden (Feltes et al. 2007; Lorei 2012; Schweer et al. 2008). Bei „Widerstandbeamt*innen“ (Tränkle 2017) handelt es sich demgegenüber um Beamt*innen, die besonders oft in Widerstandslagen geraten bzw. diese durch ihr Verhalten provozieren und Situationen schneller zum Eskalieren bringen als andere Beamt*innen. Eine solche persönliche Gewaltbelastung erhöht die Wahrscheinlichkeit, auch in Zukunft schneller und häufiger Fehlverhalten im Dienst zu zeigen (Donner 2018; Harris und Worden 2014). Auch kommunikative Defizite bei Polizeibeamt*innen werden als wesentlich für die Eskalation einer Situation mit gegenseitigem Gewalteinsatz eingestuft (Hermanutz 2015, S. 64). Nach Behrendes beruht die überwiegende Zahl an polizeilichen Übergriffen auf persönlichen Fehleinschätzungen und Überforderungen in einem situativen Eskalationsprozess (Behrendes 2003, S. 173).
2.2
Situative Faktoren
Die Entwicklung gewaltsamer Interaktionen kann nicht ohne die Gegebenheiten der konkreten Situation analysiert werden. Von diesen hängt nicht nur ab, ob und welches Maß an Gewalt gerechtfertigt ist, sie prägen auch die Wahrnehmung der Beteiligten und das jeweilige Interaktionsgeschehen. Nach Bittner ist Polizei ein „Mechanismus für […] situativ gerechtfertigten Zwang innerhalb der Gesellschaft“ (1990, S. 125, eigene Übersetzung). Individuelle Faktoren sollen demnach in den Hintergrund treten. Alpert et al. (2004) analysierten in den USA die Interaktion zwischen Bürger*innen und Polizist*innen auf Grundlage von „Use-Of-Force Reports“. Die Schwere der polizeilichen Gewalt war danach abhängig von der Einsatzsituation, so wurde z. B. bei Gewaltdelikten auch auf polizeilicher Seite mehr Gewalt eingesetzt; ein höheres Maß an Gewalt wurde jedoch auch angewendet, wenn Bürger*innen einen niedrigeren sozialen Status zu haben schienen. Situative Faktoren umfassen damit sowohl äußere Gegebenheiten des Einsatzes als auch Merkmale des polizeilichen Gegenübers (vgl. dazu auch Klahm und Tillyer 2010; Lersch und Mieczkowski 2005). In Deutschland gab es verschiedene Untersuchungen zu der Frage, was den Gewalteinsatz und damit auch das Risiko rechtswidriger Gewalt situativ begünstigt. Faktoren waren dabei z. B. Personenüberzahl und potenzielle wahrgenommene Gefährlichkeit des Gegenübers (Ellrich und Baier 2015), wahrgenommene Selbstwertbedrohungen und (Miss-)Erfolg des Einsatzes (Bosold 2006) sowie der Einsatzort. In Gebieten, die als gefährlich angesehen werden, wird dem Forschungsstand nach schneller und intensiver Gewalt eingesetzt (Abdul-Rahman et al. 2020b; Crawford und Burns 1998; Terrill und Reisig 2003). Ein solcher Zusammenhang wird dabei insbesondere auch für Gebiete mit hoher Migrationsrate beschrieben (Hunold 2015; Lersch et al. 2008). Hunold spricht hier von einer „über den Raum gesteuerten Ungleichbehandlung von ethnischen Minderheiten“ (ebd., S. 217). Da bestimmte Stadtviertel als problematisch bzw. gefährlich wahrgenommen werden, gelte dies auch für deren Bewohner*innen.
488
L. Abdul-Rahman und T. Singelnstein
Bestimmte Einsatzsituationen tragen ein besonderes Eskalations- und Konfliktpotenzial in sich, so vor allem Demonstrationen und Profifußballspiele mit Fanbegleitung (Abdul-Rahman et al. 2020a; Feltes 2013; Friedmann 2009; Reicher et al. 2007). Im Bereich der Protestforschung liegt umfangreiche Forschung zu Eskalationsprozessen vor (Drury und Reicher 2000; Hunold und Wegner 2018; Malthaner et al. 2018; Nassauer 2012, 2019). Nach Nassauer (2012) liegen Eskalationen räumliche Konflikte zwischen Demonstrierenden und Polizei zugrunde, die in Kombination mit polizeilichem Miss management, aber auch mit Fehlverhalten der Demonstrierenden wie Sachbeschädigungen letztlich zu Gewalt führen. Außerdem sind es vor allem Gruppendynamiken, die während des Situationsverlaufs (z. B. während einer Demonstration) zur Entwicklung auseinanderfallender Perspektiven der Eigen- und Fremdwahrnehmung beitragen (Drury und Reicher 2000; vgl. auch Friedmann 2009; Kruszynski 2016). Auf polizeilicher Seite kann es zur Eskalation beitragen, wenn die Demonstrierenden oder Fußballfans insgesamt als Bedrohung oder Gefahr angesehen werden (Reicher et al. 2007; Stott und Reicher 1998). Reicher et al. (2007) betonen zur Gewaltvermeidung die Wichtigkeit einer nachvollziehbaren Kommunikation, eines differenzierten und respektvollen Umgangs mit Veranstaltungsteilnehmenden und das Sicherstellen, dass Nichtstörende nicht in den Konflikt hineingezogen werden (vgl. auch Feltes 2010). Widerstandshandlungen spielen für das eskalative Geschehen ebenfalls eine zentrale Rolle (Garner und Maxwell 2002; Klahm und Tillyer 2010; Manzoni 2003). Diese Verhaltensweisen müssen dabei als Bestandteile des jeweiligen Interaktionsgeschehens betrachtet werden, die sich nicht als lineare Prozesse verstehen lassen, in denen polizeiliche Gewalt nur eine Reaktion auf einen Angriff oder ein sonstiges Verhalten des Gegenübers ist; Widerstands- und Abwehrreaktionen aufseiten der Bürger*innen können ebenso eine Reaktion auf unverstandenes oder als illegitim wahrgenommenes polizeiliches Handeln einschließlich polizeilicher Gewalt darstellen („Gewaltkreislauf“, Klahm et al. 2014). Beide Seiten des Konflikts handeln dabei jeweils aus ihrem Verständnis der Situation und messen ihrem Handeln einen bestimmten, als legitim verstandenen Sinn bei. Besondere Bedeutung kommt dem Forschungsstand zufolge somit dem Verhalten des polizeilichen Gegenübers zu. So wird ein als respektlos empfundenes Verhalten der Bürger*innen in verschiedenen Untersuchungen als häufiger Ausgangspunkt für eskalierende Geschehensabläufe beschrieben (Bosold 2006; Feltes et al. 2007; Hunold 2011; Reuter 2014); hinzu kommen Alkoholisierung und Nichtbefolgen polizeilicher Anweisungen (Luff et al. 2018). Dabei ist das Zusammenspiel situativer und individueller Faktoren maßgeblich: Die kognitive und emotionale Bewertung des Verhaltens des Gegenübers bedingt letztlich die Reaktion der Beamt*innen. In Fokusgruppeninterviews mit Polizeibeamt*innen aus sieben Bundesländern stellten Feltes et al. (2007) fest, dass die Angst vor Eskalation und der Wille zum Autoritätserhalt maßgebliche Bedingungen für den Einsatz übermäßiger Gewalt sind. Ein immer weiter eskalierendes Szenario („Hochschaukeln“) solle abgewendet und gleichzeitig die eigene bzw. staatliche Autorität gesichert oder wiederhergestellt werden. Daraus – und insbesondere dann, wenn Widerstandshandlungen der beteiligten Bürger*innen erfolgen – könne
Rechtswidrige polizeiliche Gewaltanwendung: Interaktionen, Risikofaktoren und Auslöser 489
sich eine Gewaltspirale entwickeln, in der „Handlungen von Emotionen bestimmt und […] rechtliche Vorgaben ausgeblendet werden – und gewalttätiges Handeln als Lösungsmechanismus für den Konflikt dient“ (Ohlemacher et al. 2008, S. 25). Auch Nassauer (2012, 2019) betont mit Collins (2008) die Bedeutung von Emotionen wie Anspannung und Angst für (polizeiliche) Gewaltanwendungen.
2.3
Organisationale Faktoren
Neben individuellen und situativen Faktoren sind auch die Strukturen der Polizei als Organisation von Bedeutung, da sie die Rahmenbedingungen schaffen, unter denen sich problematisches Verhalten entwickeln und verfestigen kann, wie auch für den Umgang mit Fehlverhalten. Dies betrifft die konkreten Bedingungen der jeweiligen Tätigkeit unter Einschluss des Arbeitsklimas ebenso wie die unterschiedlichen Ebenen von Kultur in der Polizei. Verschiedene Untersuchungen nehmen die besonderen Belastungen bei polizeilicher Tätigkeit als Faktoren in den Blick. Wiendieck et al. (2002) nennen als Ursachen polizeilichen Fehlverhaltens den ständigen Umgang mit Kriminalität, die hohe Arbeitsbelastung, den Mangel an Beachtung, die Distanz zur Führung und die Kohäsion der Dienstgruppe (ebd., S. 47). Der hierdurch ausgelöste Stress wird als ein zentraler Risikofaktor angesehen (Maibach 1996; Manzoni 2003). Auch Handlungsspielräume, die für die Beamt*innen innerhalb der Organisation bestehen, beeinflussen potenzielles Fehlverhalten. Gerade unter belastenden Bedingungen treten bei niedrigem Handlungsspielraum vermehrt Fehler auf, andererseits reduziert er die Komplexität der Arbeit und kann damit auch fehlerreduzierend wirken (Zapf et al. 1999, S. 406). Während geschlossene Einheiten vor allem auf Anordnung tätig werden, entscheiden Beamt*innen auf Streife normalerweise eigenständiger (Behrendes 2003). Einsätze von geschlossenen Einheiten zeichnen sich durch spezifische Risikokonstellationen aus, wie z. B. Demonstrationen und politischen Protest. Streifenbeamt*innen müssen demgegenüber „im Rahmen eines riesigen Aufgabenspektrums in häufig emotional stark aufgeladenen Lebenssachverhalten ad-hoc Entscheidungen treffen“ (ebd., S. 160). Aus beiden Konstellationen ergeben sich unterschiedliche Implikationen für innere Führung wie äußere Kontrolle; ein offener Umgang mit dem Thema Gewaltmissbrauch bildet dafür die notwendige Basis (ebd., S. 183 ff.). Hierarchiearme Kommunikation und Vorbildfunktion der polizeilichen Führung sind hier relevant. Insbesondere den direkten Vorgesetzten, wie Dienstgruppenleitenden und Zugführenden, kommt besondere Bedeutung als „Scharniere zwischen Basis und Führung“ zu (ebd.). Kulturen in der Polizei unterscheiden sich auf den einzelnen Ebenen der Organisation (Silver et al. 2017). Die Arbeits- und Organisationskultur auf der Dienststelle ist mitentscheidend dafür, wie Polizist*innen sich im Kontakt mit Bürger*innen verhalten (Dübbers 2012). Polizeikultur umfasst dabei auch das Selbstverständnis, welches die Organisation sowie ihre Mitglieder teilen, so z. B., wie bürger*innennah agiert werden soll, ob eher
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L. Abdul-Rahman und T. Singelnstein
repressive oder präventive Strategien bevorzugt werden usw. (vgl. Dübbers 2015). Traditionelle Polizeikultur ist eher verknüpft mit positiver Einstellung zu Gewalt und Männlichkeit (Behr 2008; Dübbers 2015; Silver et al. 2017; Seidensticker 2019). Auch heute wird Gewalt als Mittel eingesetzt, um sich vor Kolleg*innen zu beweisen (Hunold 2019). Eine solche „Street Cop-Kultur“ (Behr 2008; Ullrich 2018), die eher auf autoritäres Auftreten und hartes Durchgreifen setzt und autonom agiert (Zdun 2010), kann dazu führen, dass Gewalt nicht mehr nur als Ultima Ratio verstanden wird, sondern als gängige Konfliktlösung, was rechtswidrige Gewalteinsätze begünstigen kann. Nachgewiesen werden konnten in den USA auch sogenannte Netzwerkeffekte: Polizeibeamt*innen, denen häufig unverhältnismäßiger Gewalteinsatz vorgeworfen wurde, hatten häufiger Kontakte zu anderen Beamt*innen, die ebenfalls zu übermäßigem Gewalt einsatz neigten (Ouellet et al. 2019). Eine mögliche Erklärung dafür kann sein, dass Verhaltensweisen innerhalb der Gruppe erlernt werden und somit auch unzulässiges Verhalten normalisiert wird. Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass der Zusammenhang unabhängig von den individuellen Eigenschaften der Beamt*innen nachgewiesen werden konnte (ebd.). Teilweise wurden auch in Deutschland fest etablierte Kulturen rechtswidriger Gewalt beschrieben (z. B. Maibach 1998). Als weitere Probleme der Organisation in diesem Kontext sind Gruppendruck und die Angst vor kollegialer Ausgrenzung zu nennen (vgl. Heidemann 2020; Schütte 2014), die dem aktiven Verhindern von übermäßigen Gewaltanwendungen durch Kolleg*innen wie auch der Aufarbeitung im Weg stehen (ebd., S. 4; vgl. auch BGH NStZ 2010, 407), was als „code of silence“ bezeichnet wird (Behr 2009; Weisburd und Greenspan 2000). Einer wirksamen Auseinandersetzung mit strukturellen Problemen innerhalb der Organisation kann es entgegenstehen, wenn Fälle rechtswidriger Gewalt grundsätzlich als bedauerliche Einzelfälle angesehen werden, welche nichts mit der Organisation Polizei an sich zu tun hätten (Behr 2000; Brusten 1992; Groß 2020; Heidemann 2020; Lersch und Mieczkowski 2005). Der Umgang mit Fehlverhalten kann einerseits in Strategien der Fehlervermeidung und andererseits in solchen des Fehlermanagements bestehen (Zapf et al. 1999). Eine Fehlervermeidungskultur, die keinen Raum für die Thematisierung und Reflexion von Fehlern lässt, steht einer konstruktiven Fehlerkultur entgegen (Heidemann 2020; Preuß 2019; Schütte 2014; Seidensticker 2019). Notwendig wäre eine Fehlerkultur, die alle Faktoren berücksichtigt und Fehlverhalten nicht nur individuell, sondern organisational analysiert und aufarbeitet. Zahlreiche Instrumente werden dazu bereits innerhalb der Polizei diskutiert (Überblick bei Preuß 2019, z. B. Teamcoaching, Supervisionen, Debriefing von Einsätzen, Beschwerde- und Mediationsstrukturen).
3
Auslöser der Gewalt aus Sicht betroffener Bürger*innen
In der Betroffenenbefragung (N = 3373) des Forschungsprojekts KviAPol wurde der Verlauf einer konkreten Situation abgefragt, in der aus Sicht der Befragten durch die beteiligten Polizeibeamt*innen rechtswidrig Gewalt angewendet wurde. Der Online-Fragebogen
Rechtswidrige polizeiliche Gewaltanwendung: Interaktionen, Risikofaktoren und Auslöser 491
war ab dem 08.11.2018 für 9,5 Wochen auf der Projektwebseite verfügbar.2 Die Befragten wurden im Schneeballverfahren rekrutiert (vgl. Diekmann 2020, S. 399). Zivilgesellschaftliche Organisationen (Opferberatungsstellen, NGOs usw.) wurden im Vorfeld kontaktiert und gebeten, den Link zur Befragung an Betroffene weiterzugegeben. Zugleich wurde der Link auch über Social-Media-Kanäle geteilt.3 Damit handelt es sich nicht um ein bevölkerungsrepräsentatives Sample. Ein solches Vorgehen hätte wegen der mutmaßlich niedrigen Prävalenz des Untersuchungsgegenstands (Ellrich und Baier 2015) ein sehr großes Screening erfordert und somit einen unverhältnismäßigen Kostenaufwand und eine ineffiziente Stichprobenziehung bedeutet (Trübner und Schmies 2019, S. 964; Berg und Lune 2014, S. 52). Mit der gewählten Vorgehensweise können empirisch belastbare Aussagen über die Wahrnehmung von polizeilicher Gewaltanwendung durch die erreichten Befragten getroffen werden; eine Generalisierbarkeit für eine (unbekannte) Grundgesamtheit ist damit nicht zu realisieren (Fricker 2017, S. 170). Es handelt sich um ein exploratives Vorgehen, dessen Ziel es ist, Erkenntnisse über Art und Ablauf von Situationen zu generieren, in denen polizeiliche Gewaltanwendungen als rechtswidrig wahrgenommen werden. Die Stichprobe setzt sich wie folgt zusammen: 72 % der Befragten sind männlich, 16 % haben einen Migrationshintergrund, sie sind eher jung (zum Zeitpunkt des geschilderten Vorfalls 25,9 Jahre) und hoch gebildet (71 % mit Abitur oder Fachhochschulreife, vgl. Abdul-Rahman et al. 2020a). In der Befragung wurde unter anderem nach dem Auslöser der Gewalt gefragt: „Gab es Ihrer Meinung nach einen konkreten Auslöser oder Trigger für die Gewaltanwendung der Polizei? An welchem Punkt ist die Situation gekippt, begann also die Gewaltanwendung?“ Es handelte sich dabei um eine offene Frage, das bedeutet, die Befragten konnten in eigenen Worten und ohne vorgegebene Antwortkategorien in einem Freitextfeld darlegen, wie es zur Gewalteskalation kam. Der Fragebogen enthielt außerdem eine weitere offene Frage zu den Gründen, weswegen die Befragten die Gewaltanwendung als rechtswidrig bewertet haben. Die Angaben zu beiden Fragen wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse (Mayring 2015) codiert und ausgewertet. Im Folgenden wird dargestellt, welche Auslöser aus Sicht der Befragten zur rechtswidrigen Gewalt führten.
3.1
Kommunikation
Gestörte Kommunikation und Missverständnisse bilden häufig eine wesentliche Grundlage der geschilderten Eskalationsgeschehen. Eine besondere Rolle als Auslöser spielen aus Sicht der Befragten die Infragestellung der polizeilichen Autorität und Deutungshoheit, etwa in Form von Beschwerden oder Protest über polizeiliche Maßnahmen und An Der Fragebogen ist online verfügbar unter https://kviapol.rub.de/images/pdf/KviAPol_Fragebogen.pdf. 3 Ausführlich zum Vorgehen Abdul-Rahman et al. 2019. 2
492
L. Abdul-Rahman und T. Singelnstein
weisungen, durch Nachfragen (z. B. nach der Rechtsgrundlage oder nach Namen bzw. Ausweisen der Beamt*innen), durch Anzweifeln der Rechtmäßigkeit der Handlung, in Form von Diskutieren oder dem Einfordern von Rechten, die den Betroffenen ihrer Ansicht nach zustehen. Für die beschriebenen (gestörten) Kommunikationsprozesse ist kennzeichnend, dass die Wahrnehmungen der Konfliktparteien auseinanderfallen, dass Worte wie auch Handlungen unterschiedlich interpretiert werden. Daraus können sich Missverständnisse ergeben, die dann wiederum zu weiteren Handlungen führen können, die beim Gegenüber Unverständnis auslösen und so die Eskalationsspirale vorantreiben. In besonderer Weise gilt dies, wenn die Meinungsverschiedenheiten von einer oder mehreren Seiten auch durch Provokationen, Beleidigungen, Respektlosigkeit oder mangelnde Höflichkeit zum Ausdruck gebracht werden. Darüber hinaus wird von den Befragten auch fehlende Kommunikation moniert. So wird von unmittelbaren Gewaltanwendungen berichtet, die ohne vorherige Ansprache oder „ohne Vorwarnung“ erfolgt seien, womit häufig auch die Bewertung der Gewalt als rechtswidrig einhergeht, da der Gewalteinsatz als unnötig oder unfair beschrieben wird. Beispiele
„Ich habe mich beschwert, dass ein Freund von mir des Platzes verwiesen wurde. Da raufhin hat der Beamte mir eine Backpfeife gegeben und meinte ich solle mich verpissen. Ich war damals weder alkoholisiert noch unhöflich.“ Lfdn. 4054 „Nachdem ich fragte, wieso ich denn nun kontrolliert wurde, kam nur ein „Frag nicht so blöd“ und als ich dann doch fragte, kam erst ein wegschubsen und bei wiederholtem nachfragen, wieso er so etwas mache, gab es noch nen Schlag vor die Brust.“ Lfdn. 4170 „Meiner Meinung nach war der konkrete Auslöser, dass ich vermehrt nach den Dienstausweisen der beiden PolizistInnen fragte, welche zuerst am Einsatzort waren und mich kontrollieren wollten. Da diese mir aber ihren Dienstausweis verwehrt haben, habe ich immer und immer wieder danach gefragt … Daraufhin nahm mich ein Polizist und schlug mich gegen die Wand, er habe die Schnauze voll waren seine Worte …“ Lfdn. 5427 „Mein Vater äußerte sich, aufgrund des sehr aggressiven Verhaltens der Polizei, beim Weggehen mit Faschos, keine 2 Sekunden später lagen er und ich mit dem Kopf auf dem Boden, ohne Vorwarnung. Dabei wurde mit mehreren Politzisten auf eine Person losgegangen. Auf mich ebenfalls, obwohl ich nichts gemacht habe. Ich verstehe bis jetzt nicht, wieso so aggressiv gegen uns vorgegangen wurde.“ Lfdn. 6938 ◄
3.2
Situation und Handlungen der Bürger*innen
Nicht in jedem Fall findet Kommunikation statt. Aus Sicht der Befragten liegen Gründe für das übermäßige Eingreifen der Polizeibeamt*innen – vor allem bei Großveranstaltun-
Rechtswidrige polizeiliche Gewaltanwendung: Interaktionen, Risikofaktoren und Auslöser 493
gen wie Demonstrationen oder Profifußballspielen – auch in unübersichtlichen oder unruhigen Situationen bzw. Konflikten (z. B. zwischen Fangruppen oder Gegendemonstrant*innen) oder einfach in einer aufgeheizten, aggressiven Stimmung, die Überreaktionen begünstigt. Thematisiert werden dabei auch Situationen räumlicher Enge, in denen es aufgrund zu vieler Menschen zu Gedränge kommt, wodurch Panik oder unkontrollierte Massenbewegungen ausgelöst werden. Eine besondere Rolle spielen hier An- und Abreisesituationen bei Großveranstaltungen. Aber auch eigene Handlungen oder das Verhalten weiterer anwesender Personen wird als Auslöser für die polizeiliche Gewaltanwendung beschrieben. Dabei kann grundsätzlich zwischen verbotenem, also strafbarem oder ordnungswidrigem Verhalten und erlaubtem Verhalten unterschieden werden. Bei Ersterem geht es vorrangig um klassisches Problemverhalten wie Vermummung, Pyrotechnik oder Versuche, an gesperrte Orte zu gelangen (Fußballplatz/Zaun, durch Polizeiketten oder Absperrungen gesperrter Bereich etc.). Nicht immer müssen diese Handlungen durch die Befragten selbst erfolgt sein, mitunter befinden sich diese auch nur in unmittelbarer Nähe und sind somit ebenfalls von dem polizeilichen Vorgehen betroffen. Diese faktische Mithaftung ist häufig ein Grund dafür, dass die Gewaltanwendung als rechtswidrig bewertet wird, und stellt die Frage nach einer effektiven Trennung von Störer*innen und Nichtstörer*innen im polizeilichen Vorgehen. Im Bereich des erlaubten Verhaltens ist das Beobachten, Fotografieren oder Filmen von Polizeieinsätzen hervorzuheben. Während Bürger*innen die Dokumentation zu Beweiszwecken als notwendig ansehen, kann sie von Polizeibeamt*innen als Provokation verstanden werden und somit zur Gewalteskalation führen. Darüber hinaus wird häufig nicht das Ob, sondern das Wie der Gewaltanwendung beanstandet bzw. stößt auf Unverständnis. Gerade bei nicht erlaubten Handlungen wird zumeist nicht beanstandet, dass polizeilich eingegriffen wird, sondern die Härte der Reaktion wird als übertrieben beschrieben. Dies gilt zum Beispiel für Befragte, die festgenommen wurden und weniger die Maßnahme an sich kritisieren, sondern von Gewalt berichten, die über das notwendige Maß hinausgegangen sei. Beispiele
„Ich war an der Demonstration in keinster Form beteiligt […]. Ich stand an einer Bühne, höre Schreie, drehe mich um und sehe hunderte Personen auf die Bühnen zu rennen. […] Plötzlich steht ein gepanzerter Polizist vor mir, schlägt mir ohne Vorwarnung in den Bauch und tritt mich gegen das Schienbein. Es waren nur Sekunden, dann rannte er weiter. […] Ich kann nicht beurteilen, was zuvor passiert ist. Ich vermute, dass ich für einen Teilnehmer der Demo gehalten wurde, was die Gewalt nicht rechtfertigen würde, aber das Verhalten des Polizisten insofern erklären könnte, dass es bereits zuvor zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und DemoteilnehmerInnen gekommen ist.“ Lfdn. 5731 „Das Filmen hat sie provoziert. Haben sie auch so gesagt. Folgender Wortlaut: Polizist: Er, (deutet auf mich) provoziert uns doch.“ Ich: „Ich provoziere nicht, ich dokumentiere.“ Lfdn. 9033
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„[Auslöser der Gewalt war] das Filmen der Situation zum Beweis der Rechtswidrigkeit der Maßnahme. Der Beamte versuchte in den Besitz meines Handys zu gelangen um die Videoaufnahmen zu löschen.“ Lfdn. 3313 „Der Bahnsteig war voll mit Fans, die auf den Zug gewartet haben. Als der Zug einfuhr und anhielt entschieden sich einige Polizisten ohne erkennbaren Grund eine Eingangstür zu Sperren. Daraufhin kam es zu Gedrängel von hinten und die Polizei entgegnete mit Gewalt. Ich wurde von einem der Polizisten ins Gleisbett geschubst.“ Lfdn. 7419 „Einige Personen in der Demonstration hatten sich vermummt. Die Polizei griff ohne für alle hörbare Durchsagen den gesamten vorderen Block der Demonstration an und wandte ohne abzuwarten, den Versuch deeskalativ zu agieren oder einzelne Vermummte zu isolieren, heftige körperliche Gewalt an. Wer wollte, konnte sich nicht von der Demonstration entfernen. Eine Ordnungswidrigkeit Einzelner wurde also durch heftige Gewalt geahndet.“ Lfdn. 4948 „Ich stand mit erhobenen Händen in diesem Hinterhof, rannte nicht mehr weg, wurde mit voller Wucht auf den Asphalt geklatscht und als ich da lag und einer der Polizisten mir die Hände auf dem Rücken fesselte gab es 3 oder 4 Tritte in mein Gesicht und die Seite meines Kopfes und danach noch ein paar Schläge in die Seite. Die angewendete Gewalt fand erst statt als ich schon am Boden lag.“ Lfdn. 5522 ◄
3.3
Verhalten der Polizist*innen
Erklärungen für eskalative Verläufe und übermäßige Gewalt werden von den Befragten außerdem im Verhalten bzw. der dienstlichen Situation der Polizeibeamt*innen gesehen. Dazu zählen etwa der Eindruck, dass die Beamt*innen mit der Situation überfordert gewesen seien, dass die Einsatzstrategien nicht klar gewesen seien, dass die Beamt*innen gestresst oder gereizt gewirkt hätten. Einige Betroffene hatten den Eindruck, die Polizei wolle durch Gewaltanwendung ihre Macht demonstrieren oder sich Respekt verschaffen, auch um so die Kontrolle über das Geschehen wiederzuerlangen. Auch von Ungeduld wird berichtet. Als Indikator für die Rechtswidrigkeit der Gewalt beschreiben einige Betroffene, dass nur ein*e einzelne*r Beamt*in Gewalt angewendet und überreagiert habe, während die Kolleg*innen nichts getan oder sogar eingegriffen hätten. Berichtet wird auch davon, dass Gewalt nicht eingesetzt worden sei, um ein gesetzliches Ziel zu erreichen, sondern zur Ahndung für ein vorangegangenes Verhalten der Befragten, also zur Bestrafung oder Schikane. Des Weiteren sahen einige Befragte den Auslöser der Gewalt einzelner Beamt*innen in ihrer bloßen (tatsächlichen oder von den Beamt*innen so angenommenen) Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Genannt wurden dabei rassistische und antisemitische Motive, aber auch die Zuordnung zur „linken Szene“ oder die Identifikation als Fußballfan.
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„Es herrschte von Anfang an eine gereizte Grundstimmung bei den Beamten und sie wirkten mit der Situation überfordert. Es wurde nicht kommuniziert, wo man sich aufhalten darf, sondern man wurde mit einem „Weg da!“ hin und her geschubst. Untereinander herrschte darüber bei der Polizei auch keine Einigkeit.“ Lfdn. 8038 „Polizei verlor Kontrolle über eine harmlose Situation (Veranstaltung auf privatem Grundstück) und wollten sich mit Gewalt behaupten Es ging um Machtdemonstration.“ Lfdn. 4255 „Von Anfang an wollte die Polizei Macht demonstrieren. Wenn die Anweisungen zu langsam befolgt wurden ist die Polizei gewalttätig geworden.“ Lfdn. 9105 „Vermutlich ging dem [Polizisten] die Auflösung der Party zu langsam. Das könnte aber unter anderem der Tatsache geschuldet sein, dass wir uns auf einem Dachboden befanden und der einzige Ausgang eine Leiter nach unten war. […] Als ich wartete, bis die Leiter nach unten frei war, wurde ich plötzlich von hinten gestoßen, verlor meine Brille und wäre fast in die Luke gefallen, die mehrere Meter nach unten in die nächste Etage führte. Als ich vom Boden aufstieg, sah ich hinter mir einen Beamten, der von Kollegen festgehalten wurde (!) und dabei noch brüllte, ich solle endlich verschwinden. […] Als ich am nächsten Tag eine Beschwerde bei der Polizei einreichte, versuchte der aufnehmende Beamte die gesamte Zeit den Vorfall runterzuspielen, O-Ton: „Haha, da hat der Beamte wohl keinen Sex gehabt und war schlecht gelaunt …“ Das Verfahren wurde dann eingestellt, mit dem Verweis, die Schilderungen der Beamten hätten ein anderes Bild ergeben als meine Angaben …“ Lfdn. 1921 „Bei McDonaldʿs hatten wir aus Spaß Gurken an die Scheibe geworfen und diese haben auch die Polizei gerufen. […] Am Streifenwagen wurden wir gefesselt und dort reingesetzt. Ohne Vorwarnung wurde ich mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Er sagte nur zu mir: jetzt machen wir euch fertig, wegen so ein Scheiß mussten wir kommen.“ Lfdn. 2542 „Ich wurde von Beginn an rassistisch und sexistisch beschimpft. Man wollte die Anzeige nicht aufnehmen und hat sich über meine Bissverletzung am Bein lustig gemacht und gemeint, man hoffe, es sei ein Deutscher Schäferhund gewesen. Man nannte mich Aysche und Fatima.“ Lfdn. 6294 „Verstärkung wurde mit den Worten: „Wir haben hier ein Problem mit linken Zecken.“ angefordert, was u. U. auch das Auftreten der Verstärkung erklärt. Wie die Polizisten zu dieser Bewertung kamen, kann ich nicht beurteilen. Wir, wie auch dazu kommende Personen, waren normal gekleidet.“ Lfdn. 10710 ◄
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Fazit
Fazit Risikofaktoren für rechtswidrige polizeiliche Gewaltanwendungen können auf individueller, situativer wie auch organisationaler Ebene verortet werden. Eskaliert ein Konflikt zwi-
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schen Bürger*innen und Polizei, so stellt dies in der Regel ein dynamisches Interaktionsgeschehen dar, indem sich die verschiedenen Faktoren verschränken und zusammenwirken können. Die Befunde der KviAPol-Befragung zur Perspektive betroffener Bürger*innen spiegeln verschiedene Aspekte des bestehenden Forschungsstandes wider, etwa das Infragestellen von Deutungshoheit und Autorität, welches aus Sicht der Betroffenen als Auslöser eine wichtige Rolle spielt, wie auch weitere Formen gestörter oder fehlender Kommunikation, das Filmen von Einsätzen, Belastung und (situative) Überforderung der eingesetzten Beamt*innen. Darüber hinaus heben die Befragten weitere Aspekte hervor, wie Gewalteinsatz zur Erreichung apokrypher Ziele (Bestrafung, Schikane, Diskriminierung) oder die Beeinträchtigung von Nichtstörer*innen. Hierin werden die gegensätzlichen Perspektiven der Konfliktparteien auf das Geschehen deutlich sichtbar. Einschränkend zu berücksichtigen bleibt, dass nur Personen befragt wurden, die nach ihrer Einschätzung rechtswidrige Gewalt erlebt hatten, und dass die Befunde die subjektive Wahrnehmung der Betroffenen darstellen. Im Wege der Analyse der Sichtweise der betroffenen Bürger*innen lassen sich gleichwohl einerseits Probleme identifizieren und andererseits Lösungsansätze herausarbeiten. Weiterer Forschungsbedarf besteht im Hinblick auf Analysen spezifischer Einsatztaktiken und Gewaltformen, die von Betroffenen als besonders problematisch wahrgenommen wurden, z. B. durch Beobachtungen solcher Einsatzsituationen oder Videoanalysen. Um mehr über den genauen Umfang des Phänomens in Deutschland herauszufinden, sollte in repräsentativen Bevölkerungsbefragungen auch nach Viktimisierungen durch die Polizei gefragt werden. Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen • Gewalteinsatz muss Ultima Ratio sein. Die Anwendung unmittelbaren Zwangs stellt eine Ausnahmebefugnis dar und darf (auch für problematische Konstellationen) nicht zu einer Standardmaßnahme polizeilichen Handelns geraten (siehe Kap. „Professionelles Einsatzverhalten: Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell“ in diesem Handbuch). Dies erfordert ein Arbeitsklima, das Bürger*innennähe und Reflexionsbereitschaft höchste Priorität einräumt und für alle Menschen gleichermaßen gilt. „Hartes Durchgreifen“ gegenüber bestimmten Personengruppen sollte nicht gefordert oder gefördert werden, denn es begünstigt die Entstehung von Feindbildern als Bestandteil einer problematischen Polizeikultur. • Die zum Einsatz kommenden Techniken werden im demokratischen Rechtsstaat nicht nur durch die Polizei selbst, sondern ebenso durch Politik, Gerichte und Öffentlichkeit diskutiert und hinterfragt. Für die Auseinandersetzung mit Kritik am polizeilichen Gewalteinsatz bedeutet dies, nicht bei pauschalen Verweisen auf Eingriffsbefugnisse stehen zu bleiben, sondern konkrete Polizeipraktiken zur Diskussion zu stellen und selbst zu hinterfragen.
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• Für eine wirksame Fehlerkultur innerhalb der Polizei müssen die notwendigen organisationalen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Vorgesetzte sollten Raum für den offenen Umgang mit Problemen und Fehlern geben, Transparenz und Offenheit fördern. In besonders stressbehafteten Berufen muss es die regelmäßige Möglichkeit geben, Erfahrungen auszuarbeiten und zu reflektieren. Negativerfahrungen können sonst zu gefestigten Stereotypen vom polizeilichen Gegenüber führen, die einen offenen Kommunikationsprozess erschweren und Konfliktpotenzial bergen. In diesem Sinne sollten Coaching und Supervision in der Polizei fester Bestandteil werden und in die Arbeitskultur integriert werden. Das Fortbildungsangebot (z. B. Antirassismus- oder Kommunikationstrainings) sollte ausgeweitet werden. • Polizeibeamt*innen sollten darin bestärkt werden, Fehler zu thematisieren. Das Risiko eigener Strafverfolgung wegen Strafvereitelung im Amt (§ 258a StGB), wenn strafbares Verhalten von Kolleg*innen nicht sofort, sondern erst verspätet gemeldet wird, ist geringer als in der Polizei gemeinhin angenommen, da der Taterfolg nach herrschender Ansicht erst nach „geraumer Zeit“ eintritt (etwa nach zwei Wochen; Wessels et al. 2020, Rn. 709). Unbeschadet dessen sollten auch anonyme Meldemechanismen eingerichtet werden. Möglichkeiten alternativer Konfliktlösungen, z. B. durch Mediation, ggf. unter Verzicht disziplinar- oder sogar strafrechtlicher Verfolgung, sollten erwogen werden (Schütte 2014). b) Einsatzkräfte • Kommunikation in Konfliktsituationen ist eine Herausforderung. Nicht immer können Konflikte rein kommunikativ gelöst werden können. Um in solchen Situationen die Eskalationsspirale nicht selbst unnötig voranzutreiben, ist Reflexion des eigenen Verhaltens und der eigenen Gefühle notwendig (siehe Kap. „Der/die reflektierte Praktiker*in: Reflektieren als Polizist*in und Einsatztrainer*in“ in diesem Handbuch). Auch wenn Neutralität als oberstes Gebot gelten soll, hilft es nicht, die eigenen Emotionen zu ignorieren. Es ist normal, Wut, Angst, Ärger oder Ungeduld in der konflikthaften Situation zu empfinden. Diese sollten wahrgenommen werden, um in der Lage zu sein, das eigene Handeln zu hinterfragen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass innere Faktoren wie persönliche Verletzungen das Handeln mitbestimmen und zu Überreaktionen führen, die den Rahmen des rechtlich zulässigen Handelns verlassen. • Um solche Mechanismen besser zu erkennen und Interaktionsgeschehen nachvollziehen zu können, ist es notwendig, sich sowohl in der Situation als auch im Rückblick auf einen Perspektivwechsel einzulassen, der anderen Konfliktpartei zuzuhören und deren Sichtweise ernst zu nehmen (siehe Kap. „Kommunikation in der Anwendung“ in diesem Handbuch). Bürger*innen, die der Polizei unrechtmäßiges Handeln bzw. übermäßige Gewalt vor-
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werfen, sind häufig in einer emotionalen Ausnahmesituation, nicht zuletzt aufgrund physischer Schmerzen. Beschwerden von Bürger*innen sollten deshalb nicht pauschal als respektlose Abwehrhaltung abgetan werden. • Ein besonderes Spannungsfeld ist das Beobachten und Filmen polizeilicher Maßnahmen. Dies wird häufig als störend empfunden, nicht selten versucht zu unterbinden, löst damit Konflikte aus und kann zur Gewalteskalation führen. Während Bürger*innen im Filmen meist die einzige Möglichkeit sehen, Beweise zu sichern, sehen Polizeibeamt*innen ihre Autorität in Gefahr. Da Bildaufnahmen von Polizeieinsätzen unter den bekannten Voraussetzungen in der Regel rechtlich zulässig sind und in der Zukunft eher noch zunehmen werden, sollte die Polizei ein professionelles Verhältnis zu diesem Umstand entwickeln und den Umgang mit zivilen Videoaufnahmen normalisieren. Dies bedeutet, nicht regelmäßig, sondern nur ausnahmsweise gegen Filmaufnahmen vorzugehen, nämlich dann, wenn sie den Einsatz tatsächlich behindern oder klar unzulässig sind. Da vielerorts Bodycams eingeführt werden, ist es aus Bürger*innenperspektive zudem kaum nachvollziehbar, Polizeibeamt*innen nicht filmen zu dürfen, solange Persönlichkeitsrechte gewahrt bleiben. Der Versuch, Bildaufnahmen von Polizeieinsätzen und damit die Herstellung von Transparenz zu unterbinden, kann das Vertrauen in die Polizei und die Akzeptanz der Organisation beeinträchtigen. c) Einsatztrainer*innen • Einsatztraining sollte Gewaltanwendung nicht als rein rationale, standardisierte Handlung vermitteln, sondern diese in ihrer physischen wie auch psychischen Wirkung auf Individuen begreifbar machen. Das bedeutet, nicht auf reine Technikvermittlung zu setzen, sondern den Gesamtkontext von Gewaltsituationen sowie die Betroffenenperspektive ins Training einzubeziehen. Das Einsatztraining muss neben der größtmöglichen Sicherheit für die Polizeibeamt*innen auch die Beeinträchtigungen für Bürger*innen und die gesellschaftlichen Folgen des Gewalteinsatzes im Blick behalten und gegeneinander abwägen. Konzepte der nonlinearen Pädagogik erscheinen hier zielführend (siehe Kap. „Die Implementierung nonlinearer Pädagogik in das Einsatztraining – Beschreibung einer Entwicklung“ in diesem Handbuch). • Auch im Einsatztraining sollte das Verhältnismäßigkeitsprinzip stets mitgedacht werden: Ist ein Schmerzgriff nur, weil er das effektivste Mittel ist, tatsächlich das mildeste Mittel? Welche Risiken sind bestimmten Techniken immanent, welche dieser Risiken sind in emotional aufgeladenen, stressvollen Einsatzlagen überhaupt zu beherrschen? Auch wenn der Eigensicherung eine hohe Priorität eingeräumt wird, darf sie nicht als einziges Gebot über allem stehen.
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Gewalt gegen die Polizei – ein Überblick zur Verbreitung, zu Einflussfaktoren und Implikationen für die Praxis Karoline Ellrich und Dirk Baier
Inhaltsverzeichnis 1 H äufigkeit und Entwicklung polizeilicher Gewalterfahrungen 2 Einflussfaktoren von Gewaltopfererfahrungen 2.1 Erklärungsmodell der Gewaltentstehung 2.2 Empirische Befunde zum Erklärungsmodell 3 Vor- und Nachbereitung von Gewalterleben 4 Folgerungen mit Blick auf die wissenschaftliche Forschung 5 Fazit Literatur
504 507 507 509 513 514 515 519
Zusammenfassung
Im Gegensatz zu den meisten anderen Berufen birgt die Tätigkeit von Polizeikräften stets die Gefahr, im Rahmen der Dienstausübung Gewalt zu erleben. Solche Erfahrungen können eine Vielzahl von Folgen auf körperlicher und psycho-emotionaler Ebene nach sich ziehen. Vor diesem Hintergrund ist der Vorbereitung auf den Umgang mit potenziell gefährlichen Einsatzsituationen und daraus resultierenden Angriffen ein hoher Reviewer*innen: Michael Alex, Detlef Oertel K. Ellrich (*) Hochschule für Polizei Baden-Württemberg, Villingen-Schwenningen, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Baier Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_27
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K. Ellrich und D. Baier
Stellenwert bei der Aus- und Fortbildung von Polizist*innen zuzusprechen. Entsprechende Handlungsempfehlungen sollten sich idealerweise an vorliegenden Forschungsbefunden orientieren. Ausgehend von aktuellen Daten zur Verbreitung von Gewaltopfererfahrungen in der Polizei, stehen deshalb Befunde aus Studien zu Einflussfaktoren von körperlichen Übergriffen im Fokus des Beitrags, welche entlang eines Erklärungsmodells der Gewaltentstehung überblicksartig dargestellt werden. Abschließend gilt es, die Bedeutung von Aus- und Fortbildung bzw. zukünftiger wissenschaftlicher Forschung in diesem Kontext aufzuzeigen und praktische Implikationen abzuleiten.
Betrachtet man das Themenfeld Gewalt gegen die Polizei, so lässt sich für Deutschland eine gewisse Forschungstradition erkennen (für einen Überblick vgl. Ohlemacher et al. 2003; Ellrich und Baier 2014; Reuter 2014). Insbesondere in den letzten Jahren sind zunehmende Forschungsbemühungen zu registrieren, welche im Zusammenhang mit den verstärkten politischen und medialen Diskussionen um eine gestiegene Respektlosigkeit und Gewaltbereitschaft Einsatzkräften gegenüber (z. B. Lorei et al. 2019) stehen dürften. Obgleich somit einige Erkenntnisse zu dem Phänomen vorliegen, lassen sich auf deren Basis nur bedingt Präventionsmaßnahmen ableiten. Zum einen liegen den Untersuchungen unterschiedliche Gewaltdefinitionen zugrunde (für einen Überblick Lorei et al. 2019), wodurch die Ergebnisse nur eingeschränkt vergleichbar sind. Zum anderen werden bei den Studien unterschiedliche Methoden der empirischen Forschung gewählt (vgl. Ellrich und Baier 2014), die nur teilweise die Analyse von Risiko- und Schutzfaktoren erlauben. Die Identifikation dieser Faktoren ist zugleich mit Blick auf die Prävention als besonders bedeutsam einzuschätzen, weshalb im Folgenden ein Schwerpunkt hierauf gelegt wird. Zunächst erfolgt ein kurzer Überblick zur Verbreitung und Entwicklung von Gewalt gegen die Polizei.
1
Häufigkeit und Entwicklung polizeilicher Gewalterfahrungen
Die Häufigkeit von Gewalt gegen Polizeibeamt*innen kann unter Rückgriff auf zwei Datenquellen aufgezeigt werden. Die erste Datenquelle umfasst die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), in der angezeigte Taten, Tatverdächtige und Opfer ausgewiesen werden. Seit dem Jahr 2011 existiert dabei die Möglichkeit, spezifisch Polizeibeamt*innen als Opfer verschiedener Delikte darzustellen, sodass deren Viktimisierungsrisiken untersucht werden können. Die Gewaltdefinition orientiert sich hierbei ausschließlich an den juristisch definierten Straftatbeständen. Um daneben auch jene Übergriffserfahrungen sichtbar zu machen, die nicht angezeigt werden (sog. Dunkelfeld)1 oder in der PKS keine Berücksich Trotz des Strafverfolgungszwangs wird nicht jedes entsprechende Delikt angezeigt, wie bspw. Messer (2009) für Widerstandshandlungen belegt. 1
Gewalt gegen die Polizei – ein Überblick zur Verbreitung, zu Einflussfaktoren und …
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tigung finden (bspw. nicht-tätliche Angriffe wie Beschimpfungen), kann zweitens auf Befragungsstudien unter Polizeibeamt*innen rekurriert werden. Diese erlauben zudem Analysen, die über die Möglichkeiten der PKS hinausreichen, so z. B. zu Mehrfachviktimisierungen oder Ursachen und Folgen von Gewaltübergriffen. In Deutschland werden seit den 1980er-Jahren entsprechende Viktimisierungssurveys durchgeführt (u. a. Jäger 1988; Ohlemacher et al. 2003; Jager et al. 2013; Ellrich et al. 2012). Tab. 1 (vgl. Tab. 1) weist die Anzahl an Polizeibeamt*innen aus, die laut PKS in einem Jahr Opfer verschiedener Delikte geworden sind. Im Jahr 2019 handelt es sich hierbei um 80.408 Polizeikräfte. Diese Zahl muss ins Verhältnis zur Anzahl an Polizist*innen in Deutschland gesetzt werden. Da eine exakte Gesamtanzahl nicht offiziell ausgewiesen wird, kann als Annäherung die Anzahl an Vollzeitäquivalenten genutzt werden (Statistisches Bundesamt 2020). Dementsprechend gilt, dass etwa jede*r vierte Polizist*in in einem Jahr Opfer mindestens einer in der Kriminalstatistik abgebildeten Straftat wurde. Von Mord/Totschlag ist zugleich nur eine sehr geringe Anzahl betroffen: Im Jahr 2019 waren dies 72 Polizist*innen, wobei es sich jeweils um Versuche und nicht um vollendete Taten handelte. Schwere bzw. einfache Körperverletzungen wurden im Jahr 2019 von weniger als 1 % aller Polizist*innen erlebt. Deutlich verbreiteter sind hingegen Widerstandshandlungen. Zudem kommen tätliche Angriffe recht häufig vor – 26.176 Polizist*innen erstatteten diesbezüglich Anzeige. Hierbei handelt es sich um ein Delikt, das erst seit 2018 in der PKS registriert wird und einen körperlichen Angriff in feindseliger Absicht ohne Bezug zur Vollstreckungshandlung und unabhängig vom Taterfolg umfasst (Bundeskriminalamt 2020). Da in der PKS seit dem Jahr 2011 polizeibezogene Opferzahlen ausgewiesen werden, lassen sich zudem Aussagen zur Gewaltentwicklung treffen. Allerdings sind diesbezüglich folgende Einschränkungen zu beachten: Die Einführung einer neuen Registrierungspraxis bedarf einer gewissen Zeit, weshalb bspw. die Zahlen vor 2013 als weniger verlässlich Tab. 1 Anzahl Opfer gewordener Polizeivollzugsbeamt*innen nach Jahr. (Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik) Straftaten insgesamt Mord, Totschlag darunter: vollendet Gefährliche und schwere Körperverletzung Vorsätzliche einfache Körperverletzung Nötigung Bedrohung Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und gleichstehende Personen §§ 113, 115 StGB Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte und gleichstehende Personen §§ 114, 115 StGB Widerstand gegen Polizeivollzugsbeamte Vollzeitäquivalente Polizei
2011 54.843 93 1 3326 11.308 868 2942 –
2013 59.044 106 2 3393 12.632 814 3065 –
2015 64.371 79 0 4071 14.756 839 3619 –
2017 74.403 86 5 4186 16.688 876 4507 –
2019 80.408 72 0 2280 2846 933 4414 43.290
–
–
–
–
26.176
35.636 38.527 40.501 47.495 – 296.460 298.775 299.585 308.890 322.455
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K. Ellrich und D. Baier
einzustufen sind. Zudem ist eine mögliche Veränderung der Grundgesamtheit zu beachten. Entsprechend Tab. 1 hat sich die Anzahl an Vollzeitäquivalenten seit 2011 um 8,8 % erhöht. Ein Anstieg der Polizist*innen würde unter sonst gleichen Bedingungen mit einem Anstieg der Opferzahlen einhergehen. Zu beachten wäre zudem die Entwicklung des Einsatzaufkommens, zu der aber keine Informationen vorliegen. Bedeutsam sind daneben auch Veränderungen des Anzeigeverhaltens. Gerade bei leichteren Delikten wie Bedrohungen/Widerstand kann eine Zunahme der Zahlen durch eine erhöhte Sensibilisierung und steigende Anzeigebereitschaft erklärbar sein. Nicht zuletzt haben sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen verändert, was sich direkt auf die Statistik auswirkt: Die Einführung des Straftatbestands des tätlichen Angriffs (§ 114 StGB) verändert die Erfassung von Opfererfahrungen, was sich bspw. daran zeigt, dass im Vergleich der Jahre 2017 und 2019 deutlich weniger leichte Körperverletzungen zugunsten der tätlichen Angriffe registriert wurden. Aussagen zu Entwicklungstendenzen können daher letztlich nur unter Bezug auf die Delikte Mord/Totschlag und schwere Körperverletzung getroffen werden. Die geringe Anzahl an Betroffenen im Bereich Mord/Totschlag macht es dabei schwierig, einen Trend zu identifizieren. Bei den schweren Körperverletzungen ergibt sich im Zeitraum 2011 bis 2017 aber ein bedeutsamer Anstieg, der auch stärker ausfällt als die Zunahme der Vollzeitäquivalente. In jüngster Zeit sind die Opferzahlen aber deutlich gefallen. Alles in allem deuten die Zahlen damit nicht auf eine signifikante Zunahme des Gewalt- Viktimisierungsrisikos in letzter Zeit hin, wenngleich gerade leichtere Übergriffsformen (Tätlichkeiten inkl. einfache Körperverletzungen) weiterhin häufig anzutreffen und 2019 etwa jeder*m elften Polizist*in widerfahren sind. Befragungsstudien, die auch das Dunkelfeld abdecken, belegen eine noch weitere Verbreitung der Gewaltviktimisierung unter Polizist*innen. Auch hier sind verschiedene methodische Nachteile zu beachten: So kann vermutet werden, dass sich an solchen Untersuchungen vermehrt Beamt*innen beteiligen, die Opfererfahrungen aufweisen, was die ermittelte Viktimisierungsrate erhöht. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass Befragte Erfahrungen berichten, die möglicherweise den Straftatbeständen nicht entsprechen oder zu anderen Zeitpunkten als den Referenzzeiträumen passiert sind, was ebenfalls zu einer Überschätzung der Prävalenzen führt. Bislang existiert zudem keine wiederholt in regelmäßigen Abständen durchgeführte Trendstudie, sodass Entwicklungsaussagen zum Dunkelfeld derzeit nicht möglich sind. Einige beispielhafte Zahlen erlauben dennoch, das Ausmaß an Gewalterfahrungen von Polizist*innen zu illustrieren. In einer im Jahr 2010 in zehn Bundesländern durchgeführten Befragung gaben 80,9 % der Polizist*innen an, im Vorjahr beschimpft oder beleidigt worden zu sein; 37,9 % wurden geschubst, 20,9 % getreten; insgesamt 16,3 % berichteten, mit der Hand oder Faust geschlagen worden zu sein; etwa jede/r Elfte wurde mit einer Waffe oder einem gefährlichen Gegenstand angegriffen (Ellrich et al. 2012). Eine umfangreiche Studie im Bundesland Nordrhein-Westfalen im Jahr 2012 zeigte, dass 43,3 % der Polizist*innen im Jahr zuvor einen tätlichen Angriff, 63,4 % einen nicht-tätlichen Angriff (z. B. Beleidigung, Distanzunterschreitung) erlebt haben (Jager et al. 2013). Auch aus anderen Ländern wie der Schweiz liegen Befunde zur hohen Betroffenheit mit Gewalt vor: In einer Befragung berichtete bspw. jede/r fünfte
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Polizist*in davon, in den letzten drei Jahren mindestens eine lebensbedrohliche Situation erlebt zu haben; 18,8 % waren in diesem Zeitraum von einer Körperverletzung, 55,0 % von einem tätlichen Angriff betroffen (Biberstein et al. 2017). Sowohl die Hellfeld- als auch die Dunkelfeldanalysen belegen somit, dass Gewalterfahrungen unter Polizist*innen verbreitet sind, wobei die Häufigkeit mit der Schwere des Übergriffs abnimmt. Im Fokus dieses Beitrags steht nachfolgend das Erleben körperlicher Gewalt, insofern hierzu empirische Befunde vorliegen. Das bedeutet zugleich nicht, dass verbale Angriffe hinsichtlich des Belastungspotenzials und der negativen psycho-emotionalen Folgen vernachlässigbar wären.2
2
Einflussfaktoren von Gewaltopfererfahrungen
Gewaltviktimisierung ist entsprechend den genannten Zahlen weitverbreitet im Polizeidienst. Das bedeutet aber nicht, dass jede/r Polizist*in gleichermaßen betroffen ist oder dass jede Einsatzsituation in dieser Weise eskaliert. Dies führt zu der Frage, welche Faktoren für die Gewaltentstehung von Bedeutung sind? Diese Frage ist auch deshalb von hoher Relevanz, weil die Kenntnis von Einflussfaktoren die Voraussetzung dafür ist, geeignete Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. Die Reduktion von Gewalterfahrungen im Dienst ist auch mit Blick auf die Folgen für die Polizist*innen sowie die Organisation ein erstrebenswertes Ziel. Neben physischen Verletzungen (besonders betroffen sind Hände/Arme; vgl. Lorei et al. 2019) und teils eingeschränkter Dienstfähigkeit, berichten Betroffene von psychischen Symptomen infolge von Angriffen, welche z. B. erhöhte Wachsamkeit oder Schlafprobleme bis hin zu posttraumatischen Belastungsstörungen umfassen können (Ellrich et al. 2012; Ohlemacher et al. 2003; Jager et al. 2013). Darüber hinaus konnten Ellrich et al. (2012) Zusammenhänge zwischen Viktimisierung und arbeitsbezogenen Wahrnehmungen bzw. Einstellungen von Beamt*innen belegen. So sind von Gewalt betroffene Polizeibeamt*innen bspw. strafhärter eingestellt und stimmen stärker negativen Selbstbildern (z. B. „Prügelknabe“) zu. Dies kann sich wiederum in den direkten Interaktionen mit Bürger*innen niederschlagen und erneuten Eskalationen Vorschub leisten.
2.1
Erklärungsmodell der Gewaltentstehung
Im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Gewalt im Einsatz- und Streifendienst haben Ellrich und Baier (2014) auf Basis vorliegender Ansätze (u. a. Schmalzl 2008; siehe Kap. „Einsatzkompetenz – Ein Modell zur Bewältigung kritischer Einsatzsituationen“ in diesem Band) und bisheriger Befunde ein Erklärungsmodell für die Entstehung von Ge Vgl. u. a. Jager et al. (2013); konkrete Studien zu den Auswirkungen verbaler Gewalt im Polizeidienst liegen bislang nicht vor. 2
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walt gegen Polizeibeamt*innen formuliert.3 Es berücksichtigt zudem grundlegende Annahmen des General Aggression Models (GAM) von Anderson und Bushman (2002). Dem GAM zufolge werden aggressive Handlungen durch den gegenwärtigen inneren Zustand einer Person (einschließlich Kognition, Erregung und Affekt) beeinflusst, der wiederum von zwei Faktoren abhängt: Der erste Faktor bezieht sich auf stabile Personenmerkmale wie Charaktereigenschaften, Einstellungen oder Überzeugungen. Die Forschung hat hier bspw. gezeigt, dass Feindseligkeit, gewaltbefürwortende Einstellungen und geringe Selbstkontrolle positiv mit gewalttätigem Verhalten zusammenhängen (ebd.). Der zweite Faktor (Situation) umfasst bestimmte situative Bedingungen, die gewalttätiges Verhalten begünstigen können, wie z. B. Provokationen/Frustrationen, der Konsum von Alkohol usw. Hierauf aufbauend unterscheiden Ellrich und Baier (2014) insgesamt vier Merkmalsbereiche, die mit der Gewaltviktimisierung in einer spezifischen Einsatzsituation in Beziehung stehen können: 1. Unmittelbar bedeutsam sind die Merkmale der Situation. Hierbei handelt es sich einerseits um objektive Faktoren (z. B. schlechte Sichtverhältnisse). Andererseits ist hiermit der subjektive Zustand (z. B. psychische Verfassung) bzw. das konkrete Verhalten der Polizeibeamt*innen ebenso wie der Bürger*innen angesprochen. All diese situativen Bedingungen können eine Rolle spielen und wirken interaktiv; d. h., die Situation, in der Beamt*innen und Bürger*innen aufeinandertreffen, ist dynamisch; jeder reagiert auf jeden. 2. Der Zustand bzw. das Verhalten der Beamt*innen ist abhängig von bestimmten Personenmerkmalen. Hierbei ist zwischen sichtbaren und nicht-sichtbaren Merkmalen zu unterscheiden. Sichtbar ist bspw. das Geschlecht oder das äußere Erscheinungsbild, die für ein Gegenüber Hinweisreize darstellen können. Nicht-sichtbar sind allgemeine und arbeitsbezogene Merkmale, z. B. Einstellungen oder das Temperament. 3. Ebenso ist der Zustand bzw. das Verhalten der Bürger*innen abhängig von deren Personenmerkmalen. Dabei ist wiederum zwischen sichtbaren und nicht-sichtbaren Merkmalen zu differenzieren. 4. Die Beamt*innen sind zusätzlich in ein Arbeitsumfeld eingebunden, welches sie formell wie auch informell sozialisiert. Die Merkmale des Arbeitskontextes (z. B. Arbeitsanforderungen, Kultur auf der Dienststelle) stellen eher distale Faktoren dar, insofern sie die (arbeitsbezogenen) Personenmerkmale der Beamt*innen prägen, die sich wiederum im situativen Verhalten niederschlagen können. Gewalt im Polizeialltag wird entsprechend dem Modell als Ergebnis eines dynamischen interaktiven Prozesses verstanden. Das Modell reiht sich damit in die Tradition multifaktorieller Ansätze ein. Wie erwähnt, wurde es mit Blick auf Übergriffe im Einsatz- und Aufgrund des begrenzten Umfangs kann an dieser Stelle nur ein grober Überblick skizziert werden. Nähere Informationen finden sich bei Ellrich und Baier (2014). 3
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Streifendienst konzipiert. Bei Großveranstaltungen (z. B. Demonstrationen, Fußballspielen) müssen hingegen in deutlich stärkerem Maße auch gruppendynamische Prozesse berücksichtigt werden, die sich auf das Verhalten der verschiedenen Akteure bzw. Akteursgruppen auswirken. So zeigt sich auch phänomenologisch, dass Übergriffe bei Einsätzen geschlossener Einheiten z. B. hinsichtlich Angriffsmotivation, Waffeneinsatz und Folgen von jenen im Streifendienst abweichen (Ellrich et al. 2012).
2.2
Empirische Befunde zum Erklärungsmodell
Ein solches multifaktorielles Modell der Gewaltentstehung wurde bislang in der Forschung nicht gesamthaft empirisch geprüft. Generell ist die Mehrheit der bisherigen quantitativen Studien (z. B. Ohlemacher et al. 2003; Jager et al. 2013; Jäger 1988; Hermanutz 2015) phänomenologisch angelegt, was keine Prüfung von Erklärungsfaktoren erlaubt. Phänomenologische Studien betrachten nämlich ausschließlich Fälle, in denen es zu Gewaltübergriffen gekommen ist. Ziel solcher Studien ist es, eine detaillierte Beschreibung der Täter*innen, der Opfer, der situativen Umstände sowie der Folgen zu erhalten (vgl. z. B. Hermanutz 2015). Eine Identifikation von Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs erhöhen (Risikofaktoren) oder verringern (Schutzfaktoren), kann mit solchen Studiendesigns nicht erfolgen. Um festzustellen, welche Faktoren für einen Gewaltübergriff relevant sind, ist eine vergleichende Analyse von Einsatzsituationen mit friedlichem Ausgang und solchen, die in einem Übergriff geendet haben, unerlässlich (vgl. Ellrich und Baier 2014). Dies geschieht mittels Risikofaktor-Studien. Zentrale Befunde aus den wenigen hierzu vorliegenden Untersuchungen sollen überblicksartig dargestellt werden: 1. Merkmale der Situation: Wiederholt konnte gezeigt werden, dass Einsätze bei Festnahmen, Personenkontrollen und (häuslichen) Streitigkeiten im Vergleich zu bspw. Verkehrssachverhalten ein höheres Risiko der Gewalteskalation aufweisen (u. a. Manzoni 2003). Dabei dürfte sich das erhöhte Risiko nicht auf die Situationen an sich beziehen, sondern vielmehr auf diesen zugrunde liegenden Einsatzkonstellationen (z. B. Kontakt mit emotional aufgebrachten, alkoholisierten Personen). Ein höheres Viktimisierungsrisiko für die Beamt*innen geht nach Rabe-Hemp und Schuck (2007) sowie Ellrich et al. (2012) zudem von Einsatzsituationen aus, die sich nachts ereignen, an als gefährlich geltenden Orten stattfinden und bei denen Dritte anwesend sind bzw. eine zahlenmäßige Überlegenheit des Gegenübers herrscht. Auch die Einschätzung der Situation als gefährlich geht mit höheren Gewaltraten einher (Ellrich und Baier 2014). Erwähnenswert ist zudem, dass Beamt*innenteams, die in der Vergangenheit häufiger zusammen Einsätze fuhren, ein höheres Gewaltopferrisiko aufweisen (ebd.). Jenseits dieser Ergebnisse sind aber vor allem zwei Befunde der Forschung zu den Merkmalen der Situation hervorzuheben: Erstens gilt, dass von alkoholisierten, unter Drogeneinfluss
510
K. Ellrich und D. Baier
stehenden Bürger*innen sowie Personen, die als psychisch auffällig erlebt werden4 eine erhöhte Übergriffsgefahr ausgeht (u. a. Ellrich und Baier 2014; Johnson 2011). Zweitens ist unter Bezug auf das Verhalten der Polizist*innen zu konstatieren, dass ein einsatzkompetentes Teamverhalten (angelehnt an den Leitfaden zur Eigensicherung) vor Gewaltübergriffen schützt (Ellrich und Baier 2014). Besonders effektiv im Sinne der Verringerung des Übergriffsrisikos ist, ausreichend Distanz zum Gegenüber einzuhalten, das Geschehen aktiv zu bestimmen und insofern die Kontrolle über die Situation nicht aus der Hand zu geben sowie die Ankündigung und Erklärung durchzuführender Maßnahmen. Nicht überraschend konnte darüber hinaus auch ein enger Zusammenhang zwischen polizeilichem Gewalterleben und eigener Gewaltausübung nachgewiesen werden (Ellrich und Baier 2015b), wobei unklar bleibt, was Ursache und was Folge ist. Dabei lagen die Prävalenzraten der eigenen Gewaltausübung mit 33,7 % etwas über dem Gewalterleben (27,6 %). . Personenmerkmale der Beamt*innen: Zu den am häufigsten untersuchten Bedingungs2 faktoren aufseiten der Beamt*innen gehören die sichtbaren, demografischen Merkmale. Mit Blick auf das Geschlecht gilt dabei, dass weibliche Beamte seltener angegriffen werden als männliche (z. B. Jager et al. 2013; Ellrich et al. 2012), was damit im Zusammenhang stehen könnte, dass a) das meist männliche Gegenüber Hemmungen hat, Frauen anzugreifen, b) Beamtinnen stärker deeskalieren oder c) männliche Kollegen in gemischtgeschlechtlichen Teams in potenziell gefährlichen Situationen ebenfalls deeskalierender bzw. vorsichtiger oder schützend agieren. Hinsichtlich des Alters belegen vorhandene Studien, dass jüngere Polizeibeamt*innen häufiger angegriffen werden als ältere (u. a. Manzoni 2003; Jager et al. 2013). In Bezug auf den Organisationsbereich gilt, dass Beamt*innen aus dem Einsatz- und Streifendienst sowie aus besonderen Einsatzeinheiten (z. B. Bereitschaftspolizei) studienübergreifend als besonders gefährdet einzustufen sind (u. a. Ellrich et al. 2012; Jager et al. 2013). In einer Untersuchung zu Jugendlichen hat sich zudem gezeigt, dass Nachlässigkeiten im äußeren Erscheinungsbild (z. B. nicht korrektes Tragen der Uniform) eher Gewaltbereitschaft provozieren (Hermanutz 2013), wobei einschränkend darauf hinzuweisen ist, dass hier keine körperlichen Übergriffe erfasst wurden. Mit Blick auf die nicht- sichtbaren Merkmale liegen nur wenige Befunde vor. Ellrich und Baier (2014) kommen in ihrer Studie, in der eine Vielzahl von beamt*innenbezogenen Merkmalen geprüft wurden, zu dem Schluss, dass Beamt*innen mit einer höheren Risiko- und Kampfbereitschaft sowie einem höheren Neurotizimuswert (u. a. höhere Reizbarkeit, emotionale Instabilität, Unsicherheit) häufiger Gewalt erfahren. Die Zusammenhänge
Was „psychisch auffällig“ bedeutet, wird in den Befragungsstudien nicht definiert, d. h., es handelt sich um eine subjektive Einschätzung der Befragten. Wie wichtig eine Differenzierung aggressionsbegünstigender Verhaltensweisen im Kontext psychischer Störungen ist, erläutern Biedermann und Ellrich (siehe Kap. „Der polizeiliche Umgang mit aggressiven Verhaltensweisen bei Menschen mit psychischen Störungen – Handlungskonzepte, Spannungsfelder und Notwendigkeiten der zukünftigen Beforschung“ in diesem Band). 4
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sind jedoch als eher schwach einzustufen. Insgesamt ist daher zu folgern, dass nicht-sichtbare Personenmerkmale scheinbar eine geringere Rolle spielen, als dies möglicherweise angenommen werden konnte.5 Von größerer Bedeutung erweisen sich hingegen arbeitsbezogene Merkmale. Manzoni (2003) konnte bspw. den Einfluss von Burn-out auf das Viktimisierungsrisiko belegen: Emotional erschöpfte Beamt*innen (Erschöpfung als eine Dimension von Burn-out) berichten häufiger davon, körperlich angegriffen worden zu sein als Beamt*innen mit geringeren Erschöpfungswerten (vgl. auch Ellrich und Baier 2014). Einer ersten Längsschnittstudie (Baier et al. 2021) zufolge führt daneben das Erleben verbaler Aggression zu körperlichen Gewalterfahrungen einige Monate später. Die wiederholte Konfrontation bspw. mit Beleidigungen scheint sich also negativ auf die Wahrnehmung und den Umgang mit Bürger*innen auszuwirken und zukünftigen Eskalationen Vorschub zu leisten. In diesem Zusammenhang ist auch der Einfluss des Polizeiverständnisses zu erwähnen. In einer Studie ergab sich, dass Polizist*innen mit höherer Zustimmung zur Bürgerorientierung seltener von physischen Übergriffen in den letzten Monaten berichteten (Ellrich und Baier 2015a). Demgegenüber erwies sich ein autoritäres Polizeiverständnis, welches u. a. den Einsatz körperlicher Gewalt als probates Mittel im Umgang mit den Bürger*innen betont, als Risikofaktor für eigene Gewalterfahrungen. Auch Hunold (2012) problematisiert polizeiliche Handlungsstrategien, die auf Machtdemonstration und Autoritätserhalt infolge wahrgenommener oder erwarteter Respektlosigkeit insbesondere im Umgang mit Jugendlichen abzielen (vgl. auch Reuter 2014). Vor diesem Hintergrund sollte die in der Polizei geteilte Überzeugung einer zunehmenden Respektlosigkeit der Bevölkerung als Ursache für Gewaltübergriffe (z. B. Hermanutz 2015) stärker kritisch reflektiert werden. 3 . Personenmerkmale der Bürger*innen: Analog zu den beamt*innenbezogenen Merkmalen liegen Erkenntnisse zu Bedingungsfaktoren aufseiten der Bürger*innen vor allem für sichtbare, demografische Merkmale vor. Bezüglich Geschlecht, Alter, Körpergröße, Schulbildung oder Familienstand ergeben sich keine klaren Zusammenhänge mit der Bereitschaft, Polizeibeamt*innen physisch anzugreifen (Ellrich et al. 2012; Ellrich und Baier 2014). Demgegenüber scheint ein von den Polizeikräften wahrgenommener Migrationshintergrund6 mit einer erhöhten Angriffsneigung einherzugehen (Ellrich et al. 2012; Rabe-Hemp und Schuck 2007). Hinsichtlich der nicht-sichtbaren Merkmale konnte eine Studie zu Jugendlichen (Ellrich et al. 2018) zeigen, dass ein hohes Polizeivertrauen einen Schutzfaktor für Gewalt darstellt. Zudem gilt, dass die Integration in delinquente Freundeskreise für Gewalt gegen Polizeibeamt*innen be-
Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass a) in der Studie weitere Merkmale, die möglicherweise einen engeren Bezug zur Gewaltviktimisierung aufweisen (z. B. Aggressionsbereitschaft, Ärgerneigung), nicht geprüft werden konnten, b) teilweise Kurzskalen verwendet wurden, c) es gerade in diesem Kontext verstärkt zu sozial erwünschten Antworttendenzen gekommen sein könnte. 6 Auch hier gilt, dass in Befragungen die Einschätzung der Polizist*innen zu einem möglichen Migrationshintergrund des Gegenübers erfasst wird. Woran dieser konkret festgemacht wurde, bleibt offen. 5
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K. Ellrich und D. Baier
deutsam ist, was darauf verweist, dass auch nicht-sichtbare, das Umfeld von Personen betreffende Merkmale zu beachten sind (ebd.). Auch die Befunde von qualitativen Täterinterviews von Steffes-enn (2012) weisen darauf hin, dass nicht-sichtbare Personenmerkmale der Bürger*innen eine Rolle bei Widerstandshandlungen spielen. Die Studie ergab bspw., dass Menschen, die allgemein zu risikoreichem Verhalten neigen, die sich außerhalb der „ordentlichen Welt“ verorten und die eine starke Fokussierung auf körperliche Stärke und Männlichkeit aufweisen, Angriffe auf Polizist*innen ausführen. 4 . Merkmale des Arbeitsumfelds: Zu diesen Merkmalen liegen ebenso wie zu den Merkmalen der Bürger*innen bislang noch recht wenige Befunde aus Risikostudien vor. Erste Erkenntnisse bestätigen aber bspw., dass mit steigenden organisationalen, tätigkeitsbezogenen und sozialen Stressoren das Viktimisierungsrisiko zunimmt: Je mehr Nachtdienste, Zeitdruck, kollegiale Konflikte usw. Polizeibeamt*innen erleben, umso häufiger kommt es zu Übergriffen (Ellrich und Baier 2014; Manzoni 2003). Als Schutzfaktor kann hingegen das Ausmaß an sozialer Kohäsion eingestuft werden: Je stärker das Gefühl eines inneren Zusammenhalts, gegenseitiger Solidarität und Unterstützung vorhanden ist, umso seltener werden Übergriffserfahrungen berichtet (Ellrich und Baier 2014). Abschließend sollen noch einige Erkenntnisse aus qualitativen Studien Erwähnung finden, welche die dargestellten Befunde ergänzen, zugleich aber keinen Nachweis des Wirkens von Risiko- und Schutzfaktoren liefern können. Sie geben dennoch wichtige Einblicke in die Erlebens- und Handlungslogiken der Akteur*innen. So arbeitet bspw. Tränkle (2020) verschiedene Merkmale der Konflikt- bzw. Deeskalationsbereitschaft von Streifendienstbeamt*innen in drohenden Widerstandslagen heraus. Die Bereitschaft zur Deeskalation selbst bei drohendem Autoritäts- oder Glaubwürdigkeitsverlust wird als Ergebnis verschiedener Entscheidungsprozesse verstanden. So spielen neben der primären individuellen Risikoanalyse (Kalkulation der eigenen und gegnerischen Kampftauglichkeit bzw. -bereitschaft und daraus resultierendem Verletzungsrisiko) auch pragmatisch- arbeitsökonomische Motive (z. B. Karrierechancen, Arbeitsbelastung) sowie Aspekte der Dienstgruppe bzw. Organisation (Unterstützungspotenzial, Reputationsschaden) eine wesentliche Rolle. Tränkle (2020) zufolge lassen sich zwei Typen von Beamt*innen entsprechend ihrem Konfliktverhalten unterscheiden: Zu den eher konfrontativ, einer Eskalation nicht aus dem Wege gehenden Personen zählen u. a. die Kämpferischen, die Erlebnisorientierten, die Unbeherrschten und die Autoritätsverteidiger. Demgegenüber lassen sich Ärgervermeider, Besonnene, Vulnerable und (sozial) Verantwortungsvolle eher dem deeskalativ orientierten Typ zuordnen. Auch Reuter (2014) identifiziert auf Basis von Einsatzbeobachtungen eskalationsfördernde und -vermeidende Faktoren in Bezug auf Einstellungen, Kommunikation und Einsatzverhalten der Polizeibeamt*innen. Als ungünstig gelten der Analyse zufolge bspw. die Unfähigkeit zur Stressregulation, hohe Erwartungshaltungen hinsichtlich des Entgegenbringens von Respekt, Dominanzdemonstration durch Gesten und Kommunikation sowie das Zeigen von Unsicherheit. Demgegenüber werden
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u. a. ein empathischer, die Perspektive der Bürger*innen einnehmender, verständnisvoller und respektvoller Umgang verbunden mit Transparenz der Maßnahme, selbstbewusst reflektierendem Auftreten und aktivem Zuhören als gewaltvermeidend eingestuft. Die Studien unterstreichen insofern noch einmal die Bedeutung der Merkmale der Beamt*innen sowie der polizeilichen Subkultur in potenziell gewalttätigen Polizei-Bürger*innen- Interaktionen. Zugleich verweisen sie darauf, dass es auch einer gewissen Haltung bedarf, damit die in Aus- und Fortbildung erlernten kommunikativen und taktischen Strategien eingesetzt werden. Zusammengefasst liegen damit zwar erste Erkenntnisse zu den einzelnen Merkmalsbereichen des Erklärungsmodells der Gewaltentstehung vor, diese basieren aber teils nur auf einzelnen Untersuchungen – Replikationsstudien sind daher zwingend notwendig. Zudem muss berücksichtigt werden, dass die Stärke der identifizierten Zusammenhänge und somit die Vorhersagekraft der einzelnen Faktoren deutlich variiert. In der Regel handelt es sich um kleine bis mittlere Effekte (Ellrich und Baier 2014), d. h., dass nur ein Teil des Übergriffsrisikos erklärt werden kann. Kritisch anzumerken ist ebenfalls, dass es sich bei den aufgeführten empirischen Untersuchungen i. d. R. um Querschnittsstudien handelt, d. h., alle Variablen wurden nur zu einem Zeitpunkt erhoben. Es bleibt somit offen, ob die analysierten Merkmale tatsächlich Einflussfaktoren der Viktimisierung oder Folgen davon sind oder möglicherweise einfach nur Korrelate darstellen. Darüber hinaus gilt, dass die meisten Befunde auf Befragungen von Polizist*innen basieren, die aus unterschiedlichen Gründen verzerrt sein können (z. B. Rückschaufehler, fundamentaler Attributionsfehler).
3
Vor- und Nachbereitung von Gewalterleben
Bereits in der Ausbildung bzw. dem Studium, aber auch im Rahmen von berufsbegleitenden Fortbildungen werden Polizeibeamt*innen auf Einsatzsituationen, in denen sie Gewalt erleben können bzw. Gewalt anwenden müssen, vorbereitet. Eine Schlüsselrolle spielen dabei Einsatztrainings, welche die Teilnehmer*innen in die Lage versetzen sollen, u. a. Konfliktsituationen und Angriffshandlungen professionell zu bewältigen (Staller und Körner 2019). Zugleich zeigt sich insbesondere mit Blick auf jüngere Polizist*innen, dass diese sich auf Gewaltübergriffe teils schlecht vorbereitet fühlen (Ellrich et al. 2012; Jager et al. 2013). Das betrifft Themen wie Konflikthandhabung und körperliche Abwehr, vor allem aber auch die psychologische Beurteilung und Einschätzung der Situation (Ellrich et al. 2012); zudem wurde die Praxistauglichkeit und Umsetzbarkeit des LF 371 rückblickend häufig als unzureichend bewertet. Selbstkritische Einschätzungen das eigene Verhalten betreffend sind hingegen deutlich seltener anzutreffen (z. B. berichten 17 % der Opfer von Gewaltübergriffen eigenes provokantes Auftreten; ebd.). Die empfundene unzureichende Vorbereitung geht mit Unsicherheiten (z. B. in der Umsetzung von Techniken) und dem Gefühl von Hilflosigkeit in der Angriffssituation einher (Jager et al. 2013). Bemängelt wird vor allem die als zu gering empfundene Häufigkeit des Trainings, um
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Automatismen und Routinen zu entwickeln. Ein weiterer Kritikpunkt betraf in der Untersuchung von Jager et al. (2013) die mangelnde Thematisierung psychischer Belastungen, die durch das Erleben von Gewalt, aber auch anderen (nicht-)tätlichen Angriffen (z. B. bespuckt werden) hervorgerufen werden können. Formelle Nachbereitungen, in denen solche und andere Aspekte (z. B. Reflexion des Einsatzverlaufs) zu thematisieren wären, finden jedoch kaum statt (Jager et al. 2013; Ellrich et al. 2012); vielmehr muss der informelle kollegiale Austausch gesucht werden, welcher zugleich eine wichtige Unterstützung bietet. Der Mangel an formeller Einsatznachbereitung erscheint problematisch, berücksichtigt man, dass dieser u. a. Veränderungen im eigenen Einsatzverhalten (bspw. in Form erhöhter Aufmerksamkeit, Eigensicherung, kollegialer Absprachen) zur Folge haben kann (Jager et al. 2013). Einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass die dargelegten Befunde schon älteren Datums sind und ggf. teilweise bereits entsprechende Maßnahmen realisiert wurden. Es scheint gleichwohl Bedarf zu bestehen, bisherige Aus- und Fortbildungskonzepte zur Prävention bzw. Postvention von Gewaltübergriffen auf Inhalte und Wirksamkeit hin zu prüfen und das Einsatztraining weiter zu professionalisieren (vgl. zu letztgenanntem Staller und Körner 2019; Körner und Staller 2020). Bochenek und Staller (2014) betonen in diesem Zusammenhang die generelle Notwendigkeit der Entwicklung eines kompetenzorientierten Modells speziell zu Abwehr gewalttätiger Übergriffe. Mit Blick auf wissenschaftliche Befunde fordern sie, dass dieses über die bloße Vermittlung von Techniken7 hinausgehend die Entwicklung der Persönlichkeit des Menschen (innere Haltung, psycho- emotionale Ressourcen) in den Fokus nehmen muss. An dieser Stelle ist zudem auf das von Staller et al. (2020) konzipierte Gewaltreduzierende Einsatzmodell „GeredE“ zu verweisen, welches einen entsprechend umfassenden Ansatz verfolgt (siehe Kap. „Professionelles Einsatzverhalten: Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell“ in diesem Band).
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Folgerungen mit Blick auf die wissenschaftliche Forschung
Wie dargestellt, konzentrieren sich die Befunde zu Risiko- und Schutzfaktoren auf wenige Studien; die Erkenntnislage zu Einflussfaktoren der Gewaltopferschaft im Polizeidienst ist insofern begrenzt. Ein stärkeres Forschungsinteresse an Risikostudien, idealerweise solchen, die auch Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge mittels Längsschnittstudien untersuchen, wäre daher wünschenswert. Zur Identifizierung relevanter Faktoren dürfte zudem eine stärkere Berücksichtigung der Befunde qualitativer Studien inspirativ sein. Auch umfassendere Täter*innenbefragungen könnten Hinweise darauf geben, welche Verhaltensweisen und Signale aufseiten der Polizist*innen als gewaltfördernd/provozierend oder Auch die Entwicklung technisch-taktischer Fertigkeiten setzt ein komplexes Zusammenspiel kognitiver (z. B. Wahrnehmung, Entscheidung) und motorischer Prozesse voraus, die es im Rahmen von Einsatztrainings entsprechend zu berücksichtigen gilt (Staller 2015). 7
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deeskalierend erlebt werden. In diesem Zusammenhang gilt es auch, verstärkt Interaktionseffekte zu prüfen: So mögen bestimmte Merkmale, Haltungen und Verhaltensweisen der Beamt*innen in bestimmten Situationen mit bestimmten Bürger*innen Eskalationen begünstigen, in anderen aber verhindern. Daneben scheint es mit Blick auf die genannten Befunde angemessen zu sein, sich verstärkt der Frage des (un)verhältnismäßigen Gewalteinsatzes durch Beamt*innen und dessen Beziehung zur Opferwerdung zu widmen. Da über Befragungsstudien allein solche dynamischen, interaktiven Prozesse nicht abgebildet werden können, gilt es, andere methodische Zugänge verstärkt zu nutzen (z. B. Beobachtungen, Analyse von Videoaufnahmen). Besonderes Augenmerk ist zudem auf die Evaluation und evidenz-basierte Weiterentwicklung von Aus- und Fortbildungskonzepten im Bereich der Gewaltprä- und -postvention zu legen (für Einsatztrainings vgl. z. B. Körner und Staller 2020; Staller und Körner 2019).
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Fazit
Fazit Die vorliegenden Erkenntnisse zu den Einflussfaktoren der Gewaltviktimisierung von Polizist*innen haben zweifellos Implikationen für die Organisation der Polizei. Bevor diese geschildert werden, ist aber zunächst darauf hinzuweisen, dass es die Polizei nur bedingt vermag, ihr Viktimisierungsrisiko zu senken. Dies liegt vor allem daran, dass Merkmale der Bürger*innen (z. B. Sozialisationsgeschichte, Gewalteinstellungen) sowie deren situativer Zustand (z. B. alkoholisiert, frustriert) und Verhalten (z. B. provokativ) in einem Einsatzgeschehen gar nicht oder nur begrenzt von der Polizei beeinflusst werden können. Insofern lassen sich Gewaltübergriffe nicht immer vermeiden. Zugleich belegen Studien, dass Angriffe meist nicht unmittelbar erfolgen, sondern vorab eine Kommunikation stattfand (Ellrich et al. 2012; Ohlemacher et al. 2003). Gerade hier können durch eigenes Auftreten und Verhalten Impulse gesetzt werden, die den Verlauf der Einsatzsituation mitbestimmen. Polizist*innen müssen im Rahmen von Aus- und Fortbildung also befähigt werden, situationsangemessen flexibel zu handeln, um gefährliche Einsatzsituationen professionell bewältigen zu können. Dies umfasst sowohl Fertigkeiten und Kompetenzen, eskalierende Einsatzgeschehen zu vermeiden, als auch die Fähigkeiten, im Falle eines drohenden Übergriffs wehrfähig zu sein. Dadurch schützt der bzw. die Beamt*in letztlich nicht nur sich selbst, sondern alle am Einsatz beteiligten Personen, also auch Kolleg*innen und Bürger*innen.
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Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die Praxis
a) Entscheider*innen Die Folgerungen in Bezug auf Entscheider*innen bzw. die Polizeiorganisation insgesamt lassen sich in präventive und postventive Maßnahmen unterteilen. Prävention: • Entscheider*innen sollten sensibel für gewaltbegünstigende Risikofaktoren (z. B. autoritäres Polizeiverständnis, Risikobereitschaft, verbale Übergriffe) sein, Kolleg*innen (in nicht stigmatisierender Art und Weise) darauf ansprechen und ggf. geeignete Fortbildungsmaßnahmen anbieten. Auch die (in)formelle Kultur auf der Dienststelle (z. B. Sprachgebrauch, Stereotypisierung), welche Haltungen und Verhalten mitprägt, gilt es, kritisch zu reflektieren. Zudem erscheint es notwendig, Beamt*innen ausreichend Erholungsmöglichkeiten zu bieten, Ressourcen zu stärken (z. B. soziales Klima) und vermeidbare Stressoren zu reduzieren (z. B. Arbeitsabläufe optimieren), um aggressionsfördernden Erschöpfungszuständen entgegenzuwirken. • Generell sollte die Teilnahme an Fortbildungen nicht nur ermöglicht, sondern entsprechendes Engagement positiv verstärkt werden, spiegelt es doch die Bereitschaft der Polizist*innen wider, Kompetenzen weiterzuentwickeln und zu professionalisieren. Das Angebot regelmäßiger Supervisionen, in denen alltägliche Belastungen (bspw. durch nicht-tätliche Angriffe) und deren Folgen reflektiert werden können, dürften eine weitere wichtige Maßnahme darstellen. • Beamt*innen aus Dienststellen mit extremer Gewaltbelastung könnten in einem Rotationsverfahren planmäßig in weniger belastete Dienststellen versetzt werden (z. B. alle sieben Jahre). Postvention: • Je nach Übergriff kann es hilfreich sein, der betroffenen Person kurzfristig innerdienstliche Tätigkeiten (z. B. Wache) anzubieten. Dies sollte transparent kommuniziert und gemeinsam entschieden werden; eine sekundäre Viktimisierung (z. B. Zweifel an der Belastbarkeit) ist zwingend zu vermeiden. • Formelle Einsatznachbereitungen (ggf. unter Einbezug von psychosozialen Fachkräften) gilt es, insbesondere nach schwerwiegenden Gewaltübergriffen systematisch zu implementieren. Das erfahrene Leid wird dadurch anerkannt, ein Raum zur Bewältigung geschaffen und die Möglichkeit einer kritischen Reflexion des Einsatzverlaufs geboten. Obgleich auch mögliche Verhaltensfehler der Beteiligten thematisiert werden können, sollte dies stets mit Bedacht und ohne Schuldzuweisung erfolgen. Es muss vielmehr darum gehen, zukünftig problematische Si-
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tuationen rechtzeitig identifizieren und adäquat darauf reagieren zu können. In diesem Sinne sollten Führungspersonen generell zu einem offenen Ansprechen von Fehlern ermutigen, also eine Fehlerkultur implementieren und ein entsprechendes Vertrauensklima schaffen. • Gewalterfahrungen können die psychische Konstitution, aber auch Selbst- und Fremdbilder erschüttern; dies wird aber oft nicht sofort, sondern erst allmählich und in subtiler Form sichtbar. Vorgesetzte ebenso wie Kolleg*innen sollten daher achtsam für Veränderungen bei von Gewalt betroffenen Beamt*innen sein, diese unterstützen und ggf. dazu motivieren, sich Hilfe zu suchen. b) Einsatzkräfte Auch in Bezug auf die Einsatzkräfte kann zwischen präventiven und postventiven Maßnahmen unterschieden werden. Prävention: • Es liegt in der Verantwortung jeder Einsatzkraft, sich bestmöglich auf potenzielle Gefahrensituationen vorzubereiten. Einsatzkompetentes Teamverhalten stellt hierbei einen wichtigen Schutzfaktor dar. Dieses beginnt nicht erst in der konkreten Einsatzsituation; es gilt auch, sich im Vorfeld angemessen darauf vorzubereiten, sei es bspw. dadurch, das Geschehen mental zu antizipieren, Einsatztechniken, (deeskalative) Kommunikationsstrategien oder die korrekte Handhabung von Führungs- und Einsatzmitteln zu üben, sich physisch und psychisch fit zu halten und Fortbildungen regelmäßig zu besuchen. • Gewaltübergriffe sind meist das Resultat gegenseitiger Interaktion; d. h., dass auch das eigene Auftreten und das (non-)verbale Verhalten den Einsatzverlauf mitbestimmen. Dahinter stehen oft Haltungen (z. B. Autoritätsverständnis), persönliche Merkmale (z. B. Risikobereitschaft) oder aktuelle Belastungen (z. B. Erschöpfung). Solche potenziell gewaltfördernden Faktoren gilt es, sich bewusst zu machen und zu hinterfragen. Dabei kann es hilfreich sein, kritische, aber auch positive Einsatzverläufe aus einer Metaebene heraus regelmäßig zu analysieren. • Gewisse Automatismen sind für ein einsatzkompetentes Verhalten unerlässlich; zugleich bedürfen sie einer selbst- und teamkritischen Reflexion, um gefährliche Routinen (z. B. mangelnde Absprache, weniger Aufmerksamkeit, Unterschätzung von Gefahrensignalen bei eingespielten Einsatzteams) aufzubrechen. Regelmäßige personelle Wechsel in den Streifenteams könnten hier hilfreich sein. • Vertrauen in die Polizei konnte zudem als Schutzfaktor für Gewaltübergriffe nachgewiesen werden. Ein gerechter und respektvoller Umgang mit Bürger*innen wirkt vertrauensaufbauend für die Institution und ihre Vertreter*innen und erhöht zugleich die Wahrnehmung polizeilicher Legitimität.
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• Werden Erschöpfungszustände selbst erkannt, die mit erhöhter Reizbarkeit, reduzierter Perspektivübernahme, verringerter Affektkontrolle usw. einhergehen, kann bspw. der Dienst auf der Wache oder die Abgabe der Sprecherrolle (vor oder während eines Einsatzes) sinnvoll sein. Generell ist im Sinne der Selbstfürsorge auf den Aufbau und die Stabilisierung eigener Ressourcen (inklusive Stressbewältigung) zu achten. Postvention: • Gewalterfahrungen können eine starke Belastung darstellen. Einsatzkräfte sollten sich vorab über interne und externe Unterstützungsangebote informieren und diese bei Bedarf selbstverantwortlich aktiv in Anspruch nehmen. Auch ist darauf zu achten, ob sich (gerade nach mehrmaligem Gewalterleben) Welt- und Selbstbilder in negativer Weise ändern. Der Rückgriff auf professionelle Hilfe, aber auch der Wechsel in andere Organisationsbereiche könnten ratsame Schritte sein. • Soziale Unterstützung stellt eine wichtige Ressource bei der Bewältigung von Opfererfahrungen dar. Je besser der kollegiale Zusammenhalt in der Dienstgruppe ist, desto geringer ist die Hemmschwelle, Hilfe zu suchen oder anzubieten. Ein offenes Klima und gemeinsame Aktivitäten (z. B. Sport) können kollegiale Beziehungen fördern.
c) Einsatztrainer*innen Die Kritik vonseiten gewaltbetroffener Polizist*innen weist auf Optimierungsbedarf bisheriger Konzepte hin. Ein Anliegen sollte es daher sein, diese zu prüfen und unter Einbezug wissenschaftlicher Befunde (inhaltlich wie didaktisch) weiterzuent wickeln. • Als wichtiger Schutzfaktor vor Übergriffen erweist sich ein einsatzkompetentes Teamverhalten (hierbei insbesondere Distanzwahrung, Kommunikation, aktives Steuern der Situation). Dieses gilt es, den Teilnehmer*innen klar zu kommunizieren und noch intensiver zu trainieren, um entsprechende Handlungssicherheit auch in komplexen Situationen zu entwickeln. • Eine besondere Herausforderung stellen u. a. Familienstreitigkeiten sowie Interaktionen mit alkoholisierten oder psychisch erkrankten Bürger*innen dar. Fortbildungsangebote, die den speziellen Anforderungen der Situation Rechnung tragen, sind unter Einbezug entsprechender Fachexpertisen anzubieten (z. B. siehe Kap. „Der polizeiliche Umgang mit aggressiven Verhaltensweisen bei Menschen mit psychischen Störungen – Handlungskonzepte, Spannungsfelder und Notwendigkeiten der zukünftigen Beforschung“ in diesem Band).
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• Professionelles Handeln erfordert neben taktisch-technischen Fähigkeiten auch eine gewisse innere Haltung, die durch die Einsatztrainer*innen gemäß ihrer Vorbildfunktion zu vermitteln sind. Hierzu gehört, sich der eigenen Sprache, Einstellungen und Verhaltensweisen bewusst zu sein sowie Teilnehmer*innen auf gewaltbegünstigende Aspekte (z. B. abfällige Äußerungen, geringe Impulskontrolle, übermäßige Ängstlichkeit, Risikobereitschaft) anzusprechen. Zudem ist darauf zu achten, dass gerade bei jüngeren Polizist*innen, in deren Sozialisation Gewalt bislang keine Rolle spielte, Unsicherheiten und Hemmungen bzgl. der Ausübung von unmittelbaren Zwang durch Training abzubauen sind, um einen kontrollierten Einsatz von Zwangsmitteln in Gefahrensituationen zu gewährleisten. • Videoaufzeichnungen (z. B. von Body-Cams; Aufnahmen aus dem Einsatztraining) ermöglichen es, gewaltfördernde/-reduzierende Verhaltensweisen (z. B. respektloses Auftreten, Bürger*innenorientierung) oder Fehler in der Eigensicherung gemeinsam mit den Teilnehmer*innen zu analysieren. Entsprechendes Material sollte daher für die Aus- und Fortbildung zugänglich gemacht werden. • Durch die gezielte Konfrontation mit (non-)verbalen Provokationen (Nichtbeachtung bis hin zu Beschimpfungen) können Prozesse der Selbsterkenntnis gefördert („eigene rote Knöpfe“) und angemessene Reaktionen (inkl. Strategien zur Emotionsregulation) eingeübt werden. Dies dürfte gerade bei unerfahrenen Polizist*innen wichtig sein, um Sicherheit zu gewinnen und einen kühlen Kopf zu bewahren.
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Zwangsanwendung durch die Polizei – Der unmittelbare Zwang aus der Perspektive des Rechts Nils Neuwald
Inhaltsverzeichnis 1 2 3 4 5
er Staat, der Bürger und die Gewalt D Durchsetzung polizeilicher Maßnahmen mittels unmittelbaren Zwangs Zulässigkeit des präventiven Zwanges Zulässigkeit des repressiven Zwanges Arten des unmittelbaren Zwanges 5.1 Fesselung 5.2 Hilfsmittel und Waffen – Reizstoff, Schlagstock, Distanzelektroimpulsgerät 5.3 Schusswaffen 6 Folgen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Zwangsanwendung Literatur
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Zusammenfassung
Die erfolgreiche Bewältigung eines Einsatzes wird nicht nur an der Effektivität und Effizienz des polizeilichen Vorgehens bewertet, sondern auch an dessen Rechtmäßigkeit. So unterliegt jedes staatliche Handeln dem grundgesetzlich normierten Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes. An diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben hat sich polizeiliches Handeln auszurichten. Dies gilt besonders für die Ausübung des unmittelbaren Reviewer*innen: Sascha Kische, Detlef Oertel N. Neuwald (*) Fachgruppe Recht und Verwaltung, Bundespolizeiaus- und -fortbildungszentrum Neustrelitz, Neustrelitz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_28
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Zwanges, also der staatlich legitimierten Gewaltanwendung durch Polizeikräfte. Der Einsatz polizeilicher Gewalt gab in der jüngeren Vergangenheit vermehrt Anlass zur öffentlichen Diskussion. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich vorrangig aus der Perspektive des Rechts mit den Grundlagen und Besonderheiten der Zwangsanwendung durch die Polizei. Betrachtet werden unter anderem die Legitimation und Legalität des staatlichen Gewaltmonopols im Allgemeinen sowie die Zulässigkeit und Rechtmäßigkeit der konkreten Zwangsausübung im Besonderen. Im Fokus stehen die Hilfsmittel der körperlichen Gewalt sowie der Einsatz von Waffen. Speziell auf die Probleme bei der Anwendung der Schusswaffe wird umfänglich eingegangen und ferner Neuerungen in der diesbezüglichen Rechtsentwicklung dargestellt. Des Weiteren wird das Zwangsmittel Distanzelektroimpulsgerät („Taser“) betrachtet. Aus der Anwendung von unmittelbarem Zwang ergeben sich rechtliche Verpflichtungen und Handlungserfordernisse für die einschreitenden Beamten*innen. Diese werden gleichfalls in dem Beitrag erörtert.
Das Wissen um die rechtskonforme Anwendung des polizeilichen Zwanges ist von herausgehobener Bedeutung, denn fundierte Rechtssicherheit führt zu einer gesteigerten Handlungskompetenz und damit zu mehr Sicherheit im Handeln. Die theoretischen Grundlagen müssen hierfür bereits in der Ausbildung vermittelt werden. Die verantwortlichen Einsatztrainer*innen bauen in ihren späteren Trainings darauf auf und vertiefen die Kenntnisse in der praktischen Anwendung. Fundiertes Rechtswissen über die Voraussetzungen, also über die Zulässigkeit und Rechtmäßigkeit des Zwangseinsatzes ist jedoch nicht nur eine zwingende Notwendigkeit für reflektierte Praktiker*innen und deren Ausbilder*innen, sondern auch für die den Zwangseinsatz anordnenden Entscheider*innen. Diesen obliegt im Rahmen der beamtenrechtlichen Führsorgepflicht auch die hinreichende Qualifizierung und Ausstattung ihrer Mitarbeiter*innen.
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Der Staat, der Bürger und die Gewalt
Die Ausübung von polizeilicher Gewalt wird seit jeher kritisch betrachtet. Dies scheint ein globales Phänomen zu sein und gilt nicht nur für Deutschland. Dass in Deutschland fast alle Polizeieinsätze ohne die Anwendung von Zwang auskommen, wird im heftig geführten Diskurs oft negiert. Vielmehr haben die Tötung des farbigen George Floyd durch einen weißen Polizisten sowie weitere tragische, tödliche Vorfälle in der jüngeren Vergangenheit der USA zu massiver Kritik an der Polizei im Allgemeinen geführt. Diese Kritik bündelt sich unter anderem in der unter dem Motto „Black Lives Matter“ stehenden Bewegung gegen Polizeigewalt und Rassismus. Diese in den USA entstandene Initiative agiert
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eltweit und hat durch die Vorfälle in den USA neuen Aufschwung und Zulauf erfahren, w sodass es weltweit zu zahlreichen Protest- bzw. Sympathiebekundungen gekommen ist. Auch die deutsche Polizei sah sich in diesem Zusammenhang zahl- und umfangreicher Kritik von zivilen Organisationen, Interessenvertretungen und hochrangigen Bundespolitikern ausgesetzt. Die Pauschalkritik, betreffend den unrechtmäßigen Gewaltmissbrauch durch Polizeibeamte*innen in Deutschland, verkennt jedoch die realen Gegebenheiten und dient nicht der Aufarbeitung etwaigen polizeilichen Fehlverhaltens. Gleiches gilt für die gewerkschaftlichen Interessenvertreter der Polizei und Teile der Ministerialverwaltung, welche den Vorwurf polizeilichen Fehlverhaltens stets als abstrus, überzogen und haltlos entrüstet verneinen, ohne sich ein Bild von den tatsächlichen Ereignissen zu machen. Immer wieder gibt es auch in Deutschland Vorfälle, die für Bestürzung in der Bevölkerung und ein gesteigertes politisches und mediales Interesse sorgen. Erinnert sei hier unter anderem an die Vorfälle um die Räumung des Stuttgarter Schlossgartens („Stuttgart 21“), der Polizeieinsatz im Rahmen der „Blockupy-Demonstration“ in Frankfurt/Main, die Todesfälle nach zwangsweisem Brechmitteleinsatz in Hamburg und Bremen, tödliche Schuss abgaben gegen psychisch Gestörte sowie den Tod des gefesselten, in seiner Gewahrsamszelle verbrannten Oury Jalloh (Schreiber 2019; Neuwald 2019a; von Prondzinski 2017b). Zwar mögen dies Ausnahmen sein, die nicht den Alltag des Aufeinandertreffens von Polizei und Bevölkerung widerspiegeln, dennoch muss sich die Polizei immer ihres gesellschaftlichen Auftrages bewusst sein und verantwortlich handeln. Die Polizei hat das Gewaltmonopol des Staates inne, was sie deutlich von anderen Behörden unterscheidet (Kingreen und Poscher 2020; Ruthig 2019). Dies ist nicht nur legal, sondern auch legitim und als ein zivilisatorischer Gewinn im gesellschaftlichen Zusammenleben zu bewerten. Denn der Staat hat nicht nur das Gewaltmonopol inne, er soll es auch wahren, also die Ausübung der Gewalt nicht grundlos Dritten, wie z. B. privaten Sicherheitsfirmen, überlassen (Kingreen und Poscher 2020; Naplava 2020). Regeln, Normen und Werte bestimmen das Zusammenleben der Gemeinschaft. Ein Verstoß gegen diese Regeln bedarf unter Umständen polizeilichen Einschreitens. Dies jedoch nur in Ausnahmefällen. Als Inhaberin des Gewaltmonopols des Staates obliegt es der Polizei, ihre Maßnahmen notfalls auch mit Zwang durchzusetzen. Dies kann mittels körperlicher Gewalt, aber auch mittels technischer Hilfsmittel, Diensthunden und -pferden sowie des Schlagstocks und sonstiger Waffen bis hin zur Schusswaffe erfolgen. Die Ausübung polizeilicher Gewalt ist durch Framing überwiegend negativ belegt, sodass in der anschließenden Diskussion oft verkannt wird, dass es sich bei der polizeilichen Zwangsanwendung um eine legitime und notwendige Gewaltausübung in Form des rechtlich zulässigen unmittelbaren Zwanges gehandelt hat. Häufig wird die rechtmäßige polizeiliche Gewaltausübung mit der missbräuchlichen Polizei-Gewalt gleichgesetzt. Die im englischen Sprachraum praktizierte Differenzierung zwischen „police force“ (Polizeigewalt) und „police violence“ (Polizeibrutalität) (Walker 2005; Geller und Toch 1996) ist hier hilfreicher. Die Debatte um die (vermeintlich) missbräuchliche Gewaltausübung durch Polizeibeamte*innen dauert seit Jahrzehnten an. Ein neuer Aspekt in diesem Kontext ist, dass die
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Polizei nicht mehr nur Täter, sondern auch Opfer von Gewalt sein kann. Die diesbezügliche gesellschaftliche Debatte hat dazu geführt, dass es zu mehrfachen Anpassungen des Strafgesetzbuches (StGB) gekommen ist. So kam es zu Strafverschärfungen bzgl. des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) sowie zur Ausweitung der Strafbarkeit des tätlichen Angriffs und Ausgliederung als neue Deliktsnorm (nunmehr § 114 StGB) mit eigenständigem Tatbestand. Der strafrechtliche Schutz erstreckt sich dabei nicht nur auf Polizeibeamte*innen, sondern auch auf den Rettungsdienst, den Katastrophenschutz und die Feuerwehr (§ 115 Abs. 3 StGB). Ob es tatsächlich zu einer Zunahme der Gewalt gegen Polizeibeamte*innen gekommen ist, wird heftig diskutiert und ist im Ergebnis strittig, da in der gesellschaftlichen Diskussion der Begriff der Gewalt weit ausgelegt wird und jeder einfache Widerstand als Gewalt interpretiert wird und diese oft dem tätlichen Angriff gleichgesetzt wird (Hatz 2012; Radek 2012; Naplava 2020). Es bleibt festzuhalten, dass die Polizei zu den Organisationen des Staates gehört, welche zwar kritisch beobachtet wird, der aber grundsätzlich ein enormes Vertrauen entgegengebracht wird. Es obliegt dem Staat, für die Sicherheit und das friedliche Miteinander der Bürger*innen zu sorgen. Aus diesem Auftrag, das friedliche Zusammenleben zu garantieren, leitet sich das Gewaltmonopol ab (Neuwald 2018). So ist zwar eine soziale Ordnung „eine notwendige Bedingung der Eindämmung von Gewalt“, Gewalt aber wiederum „eine notwendige Bedingung zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnung“ (Popitz 1992, 63).
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urchsetzung polizeilicher Maßnahmen mittels D unmittelbaren Zwangs
Polizeiliche Maßnahmen verlangen vom Betroffenen ein Handeln, Dulden oder Unterlassen. Im Regelfall verhalten sich Bürger*innen rechtskonform und befolgen die staatlichen Anweisungen. Wird der Maßnahme jedoch keine Folge geleistet, so können die Anordnungen auch zwangsweise durchgesetzt werden (Kingreen und Poscher 2020). Dabei soll der entgegenstehende Willen des Betroffenen beeinflusst werden. Der Zwang stellt folglich keine Bestrafung dar, sondern ist ein Beugemittel zur Erreichung des polizeilichen Ziels. Rechtmäßig ist der Zwang, wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorgelegen haben und die wesentlichen Verfahrensvorschriften beachtet wurden. Jede Zwangsmaßnahme ist von einer Grundmaßnahme abhängig, dennoch wohnt ihr ein eigenständiger Eingriffscharakter inne. Die einzelnen Zwangsmittel können wiederholt eingesetzt und in ihrer Wirkung gesteigert werden (Neuwald und Rathmann 2019). Die Zulässigkeit und Rechtmäßigkeit der Zwangsanwendung richten sich nach den einschlägigen Gesetzen und Verwaltungsvorschriften des Bundes und der Länder. Für die Polizeien des Bundes sind dies das Gesetz über den unmittelbaren Zwang des Bundes (UZwG) sowie die allgemeine Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums des Innern über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwVwV-BMI). Ferner das Verwaltungsvollstreckungsgesetz des Bundes
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(VwVG) für präventive Maßnahmen. Für die Polizeien der Länder sind die Verwaltungsvollstreckungsgesetze ihres jeweiligen Bundeslandes einschlägig. Ferner die Landespolizeigesetze, welche den allgemeinen Landesverwaltungsvollstreckungsgesetzen vorgehen oder diese ergänzen (Wüstenbecker 2018). Bei strafprozessualen Maßnahmen ist hingegen die Strafprozessordnung einschlägig, sowohl bei Maßnahmen von Landes- als von Bundespolizeibeamten*innen.
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Zulässigkeit des präventiven Zwanges
Ob Zwang angewendet werden darf, richtet sich nach der sogenannten Zulässigkeit des Zwanges. Hierbei ist zu unterscheiden, ob es sich um präventiven oder repressiven Zwang handelt. Soll mit dem Zwang eine präventive/gefahrenabwehrende Maßnahme durchgesetzt werden, so kommt das Verwaltungsvollstreckungsgesetz (VwVG) zur Anwendung. Dabei wird unterschieden, ob es sich um eine Maßnahme im Normalvollzug nach § 6 Abs. 1 VwVG oder um eine Maßnahme im sofortigen Vollzug nach § 6 Abs. 2 VwVG handelt. Das Verwaltungsvollstreckungsrecht benennt in § 9 Abs. 1 VwVG auch die drei präventiven Zwangsmittel. So gibt es neben dem unmittelbaren Zwang nach § 12 VwVG noch die milderen Maßnahmen der Ersatzvornahme nach § 10 VwVG sowie das in § 11 geregelte Zwangsgeld. Bei der Auswahl des jeweiligen Zwangsmittels haben Polizeibeamte*innen gem. § 9 Abs. 2 VwVG den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Die Ersatzvornahme beispielsweise kommt bei der Öffnung einer Wohnungstür oder dem Wegfahren eines Autos zur Anwendung. Sie wird entweder durch die Beamt*innen selbst oder durch eine beauftragte Person vollzogen. So kann beispielsweise eine verschlossene Tür durch einen beauftragten Schlüsseldienst oder den herbeigerufenen Hausmeister geöffnet werden. Auch das Umsetzen eines störenden Kraftfahrzeuges durch ein Abschleppunternehmen oder das Einfangen eines frei laufenden Hundes durch einen Hundefänger zählt zu den Ersatzvornahmen (Pieper 2006; Neuwald und Rathmann 2019). Da bei den Ersatzvornahmen für gewöhnlich Kosten entstehen, ist vorher zu prüfen, ob die Maßnahme gegebenenfalls auch selbst durch die Polizei ausgeführt werden könnte (Pieper 2006). Beim Zwangsgeld handelt es sich um ein Zwangsmittel, mit dem der Betroffene zu einem Handeln oder Unterlassen bewegt werden soll. Kommt er seiner höchstpersönlichen Handlungspflicht nicht nach und verweigert die Zahlung des Zwangsgeldes, so kann dieses beigetrieben werden. Ferner wäre die Verhängung einer Ersatzzwangshaft möglich. Bei zahlreichen polizeilichen Anlässen handelt es sich um Sofortlagen, also um Anlässe, die eine zeitnahe Beseitigung der Störung oder der Gefahr durch die Beamten*innen erfordern. In diesen Fällen sind Ersatzvornahme und Zwangsgeld überwiegend untunlich. Es bedarf dann der Anwendung des unmittelbaren Zwanges. Die Anwendung des unmittelbaren Zwanges stellt somit die „Ultima Ratio“ (das letzte Mittel) des polizeilichen Einschreitens dar, da intensiv in Grundrechte des Bürgers
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eingegriffen wird. Vordergründig sind betroffen: das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit der Person sowie das Recht auf Eigentum. Das präventive Zwangsverfahren unterscheidet zwei Vollstreckungswege. Zum einen das gestreckte Verfahren nach § 6 Abs. 1 VwVG, bei dem ein polizeilicher Verwaltungsakt erlassen wird und nach Androhung und Festsetzung des Zwanges dieser bei Nichtbefolgung vollstreckt wird. Des Weiteren den Sofortvollzug bzw. sofortigen Vollzug nach § 6 Abs. 2 VwVG. Hierbei wird aufgrund der Eilbedürftigkeit/akuten Gefahrenlage auf den Erlass des polizeilichen Verwaltungsaktes verzichtet und die Maßnahme sofort vollstreckt. Im Normalvollzug bzw. gestreckten Verfahren wird ein Verwaltungsakt (z. B. eine Platzverweisung) als Grundverfügung erlassen. Hierbei handelt es sich formal um einen klassischen Verwaltungsakt (VA) im Sinne des § 35 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG). Ein solcher VA muss hinreichend bestimmt, wirksam und vollstreckungsfähig gewesen sein, damit er vollstreckt werden kann. Das heißt, die Maßnahme müsste dem/der Betroffenen gegenüber bekannt gegeben worden sein und er/sie müsste wissen, was von ihm/ihr verlangt wird. Die Vollstreckungsfähigkeit liegt vor, wenn der VA unanfechtbar ist (weil die Widerspruchsfrist abgelaufen ist), der sofortige Vollzug gem. § 80 Abs. 2 Nr. 4 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angeordnet wurde oder einem Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung zukommen würde. Die aufschiebende Wirkung eines Widerspruches entfällt bei polizeilichen Maßnahmen, da es sich meist um unaufschiebbare Maßnahmen gem. § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO handelt. Neben der Grundverfügung muss auch der Zwang selbst gegenüber dem/der Betroffenen hinreichend bestimmt angedroht worden sein. Beim Sofortvollzug kann aus Zeitgründen kein VA mehr durch die Polizei erlassen werden, es muss dennoch sofort durch diese gehandelt werden. Ziel des Handelns ist die Verhinderung einer rechtswidrigen Straftat, eines Bußgeldtatbestandes oder die Abwehr einer drohenden Gefahr. Hierbei fällt der Erlass der Grundverfügung, die Androhung und Festsetzung des Zwanges sowie seine Anwendung in einem Akt zusammen.
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Zulässigkeit des repressiven Zwanges
Für repressiv-polizeiliche Maßnahmen, also Maßnahmen der Strafverfolgung, findet das Verwaltungsrecht keine Anwendung, da es sich gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG nicht um Verwaltungsakte handelt. Somit ist auch das Verwaltungsvollstreckungsrecht hier nicht einschlägig. Die Zulässigkeit für Maßnahmen der Strafverfolgung ergibt sich konkludent aus der Strafprozessordnung (StPO) selbst (Ruthig 2019; Walter 2019; Neuwald und Röth 2021; Brenneisen 2015; Peilert 2012). In Teilen enthält die StPO Ausführungen, welche die Zwangsanwendung regeln. Ist dies bei der jeweiligen Maßnahme nicht der Fall, so lässt sich aus dem Umkehrschluss aus § 81c Abs. 6 StPO ableiten, dass die jeweilige Befugnis notfalls auch mittels Zwang durchgesetzt werden darf (Neuwald und Röth 2021).
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Arten des unmittelbaren Zwanges
Das Zwangsmittel unmittelbarer Zwang lässt sich gem. § 2 UZwG in drei Arten unterteilen. Polizeivollzugsbeamte*innen können demnach neben der einfachen körperlichen Gewalt auch auf Hilfsmittel und Waffen zurückgreifen, um ihre Maßnahmen durchzusetzen. Der § 2 Abs. 2 UZwG definiert die körperliche Gewalt als jede unmittelbare körperliche Einwirkung auf Personen oder Sachen. Hierzu zählen alle Techniken des Einsatztrainings wie beispielsweise Stoßen, Schlagen, Treten, Werfen, aber auch Transport- und Festlegetechniken wie Arm- und Fingerhebel (Neuwald und Rathmann 2019). Diese physische Gewaltentfaltung kann sich gegen Personen, aber auch gegen Sachen richten (z. B. Auftreten einer Tür oder Beiseitestoßen eines angreifenden Hundes). In § 2 Abs. 3 UZwG werden die Hilfsmittel der körperlichen Gewalt legal definiert. Demnach gehören hierzu insbesondere Fesseln, Wasserwerfer, technische Sperren, Diensthunde und -pferde sowie Dienstfahrzeuge. Die gesetzliche Aufzählung ist nicht abschließend. Sie führt nur Beispiele auf, was an dem Wort „insbesondere“ erkennbar ist. Somit können auch andere dienstliche und nicht dienstlich zugewiesene Ausrüstungsgegenstände Hilfsmittel der körperlichen Gewalt sein. Beispielsweise ein Schutzschild, welcher zum Abdrängen und Räumen gebraucht wird, oder eine Tasche oder Wasserflasche, welche zur Abwehr eines Schlagangriffes eingesetzt wird. Waffen sind gemäß § 2 Abs. 4 UZwG die dienstlich zugewiesenen Hieb- und Schusswaffen, Reizstoffe und Explosivmittel. Zu beachten ist hierbei, dass Reizstoffe bei den Polizeien der Länder mittlerweile überwiegend als Hilfsmittel eingestuft wurden. Zu den Waffen im Sinne des § 2 Abs. 4 UZwG gehören unter anderem die Dienstpistole, die Maschinenpistole und der Einsatzstock bzw. Schlagstock.
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Fesselung
Die Fesseln gehören zu den Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt. Neben den dienstlich zugewiesenen Stahlhandfesseln und Plastikhandfesseln ist ferner das Fesseln mit nicht dienstlich zugewiesenen Materialien wie Stricken, Klettbändern oder Schnürsenkeln zulässig. Zweck des Fesselns ist es, die Bewegungs- und Aktionsfreiheit des/der Betroffenen einzuschränken oder unmöglich zu machen (Neuwald und Rathmann 2019). Die Fesselung wird in der Praxis standardmäßig praktiziert. Dies jedoch oftmals ohne die gebotene Reflexion der gesetzlichen Voraussetzungen. Diese sind in § 8 UZwG geregelt. Als Fesselungsgründe werden dort die Angriffsgefahr und das Widerstandleisten, der Fluchtversuch und der Fluchtverdacht sowie die Selbstmordgefahr (eigentlich Selbsttötungsgefahr) abschließend aufgezählt. Die ersten der vier genannten Fesselungsgründe stellen meist kein praktisches Problem dar, sofern unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die tatsächlichen Gegebenheiten einer Gefahr bzw. Bedrohung vorlagen und nicht
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lediglich aus einer unreflektierten „haben-wir-schon-immer-so-gemacht“-Routine heraus gefesselt wird. Schwierigkeiten bereiten hingegen die Fälle, bei denen eine Fesselung erfolgt, um eine Selbstverletzung der Person zu verhindern. Eine Verhaltensweise, die in der Praxis unter anderem bei ausländerrechtlichen Rückführungen häufiger vorkommt. Eine Fesselung zur Verhinderung einer Selbstverletzung wäre nach dem Zwangsrecht des Bundes derzeit nicht zulässig (Ruthig 2019; Neuwald und Röth 2021; Peilert 2012; a. A. Walter 2019). In den gesetzlichen Regelungen der Länder ist die Selbstverletzung hingegen als zulässiger Fesselungsgrund überwiegend erfasst. Ebenfalls kritisch zu betrachten ist der Umgang mit der gesetzlichen Voraussetzung des amtlichen Gewahrsams, welcher neben dem Fesselungsgrund gleichfalls vorliegen muss. Dies wird oft übersehen und die Fesselung nur auf die Fesselungsgründe, überwiegend zur Eigensicherung, gestützt. Zum amtlichen Gewahrsam im Sinne des § 8 UZwG zählen alle Freiheitsentziehungen auf rechtlicher Grundlage, wie polizeiliche Gewahrsamnahmen, vorläufige Festnahmen, Verhaftungen oder Mitnahmen zur Dienststelle. Da all dies grundsätzlich Freiheitsentziehungen sind, müssten konsequenterweise auch der Richtervorbehalt des Art. 104 Grundgesetz beachtet werden sowie die konkretisierenden einfachgesetzlichen Regelungen zur Freiheitsentziehung. Diese sind in der StPO (z. B. § 163c) und den Polizeigesetzen sowie in den §§ 415 ff. des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) geregelt worden. Die Ignorierung dieser Verpflichtung kann den Tatbestand der Freiheitsberaubung nach § 239 Abs. 1 StGB erfüllen sowie disziplinare Konsequenzen zur Folge haben. Bei besonderer Gefährdung wäre eine Fesselung über die „Konstruktion“ eines Unterbindungsgewahrsams als freiheitsentziehende Maßnahme möglich, auf dessen Grundlage dann die Fesselung zur Eigensicherung erfolgen könnte (Martins 2005). Demnach würde man die Person zur Unterbindung einer bevorstehenden Straftat (hier tätlicher Angriff gem. § 114 StGB) in Gewahrsam nehmen und sie dann rechtmäßig aufgrund der Angriffsgefahr fesseln.
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ilfsmittel und Waffen – Reizstoff, H Schlagstock, Distanzelektroimpulsgerät
Neben der einfachen körperlichen Gewalt und dem Einsatz der Schusswaffe können sich handelnde Polizeibeamte*innen weiterer Hilfsmittel und Waffen bedienen. Regelmäßig in der Praxis eingesetzt werden Reizstoffsprühgeräte (RSG), umgangssprachlich auch als „Pfefferspray“ bezeichnet. Die Reizstoffe werden zwangsrechtlich unterschiedlich eingestuft. Je nach Bundesland handelt es sich um ein Hilfsmittel oder um eine Waffe. So sind Reizstoffsprühgeräte in Baden-Württemberg, Bremen, Hessen, dem Saarland sowie bei den Polizeien des Bundes als Waffen klassifiziert worden. Dies spielt vor allem bei Unterstützungseinsätzen in diesen Bundesländern durch andere Polizeikräfte eine Rolle, denn die Klassifizierung als Waffe stellt eine Bindung bzgl. der Prüfung der
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Verhältnismäßigkeit dar (Lambiase 2019). Trotz der gesetzlichen Einstufung kommt es beim Einsatz von RSG und Schlagstock auf die konkrete Verwendung an. Die Zuordnung zu einer Zwangsmittelgruppe (Hilfsmittel bzw. Waffen) für sich allein ist nur ein Anhalt. So ist besonders beim Einsatz des Schlagstockes auf die Einhaltung der Verhältnismäßigkeit zu achten. So verbieten sich Schläge gegen den Kopf und wichtige Organe von selbst. Vielmehr muss sich der Einsatz gemäß der UZwVwV-BMI gegen Arme und Beine richten, um langfristige Folgen und schwere Verletzungen zu vermeiden. Die Auswirkungen des Reizstoffes sind hingegen meist geringer und von vorübergehender Natur und verursachen keine Folgeschäden. Somit vermag die wesentliche Gleichstellung des RSG mit der Schusswaffe und dem Schlag- bzw. Einsatzstock in einzelnen Zwangsgesetzen nicht zu überzeugen, da diese „Waffen“ erheblichere Verletzungen hervorrufen können (Lambiase 2019). Wenn man ferner bedenkt, dass ein beißender Diensthund gleichfalls nur als Hilfsmittel der körperlichen Gewalt eingestuft wird, so verwundert es umso mehr, dass der Reizstoffeinsatz teilweise immer noch dem Einsatz von Waffen gleichgestellt wird (Neuwald 2019b). Mit dem Distanzelektroimpulsgerät (DEIG), dem sogenannten „TASER“ (engl. für „Thomas A. Swifts’s Electric Rifle“), steht ein weiteres Einsatzmittel für die Durchsetzung polizeilicher Maßnahmen zur Verfügung. Ähnlich dem Reizstoffsprühgerät soll mit diesem eine Lücke zwischen den Einsatzmitteln Schlagstock und Schusswaffe geschlossen werden (Ebert 2020; von Prondzinski 2017a). Ziel ist es, aus der Entfernung auf das Gegenüber einzuwirken, ohne es einem tödlichen Verletzungsrisiko auszusetzen, welches beim Schusswaffeneinsatz nie völlig auszuschließen ist. Das Distanzelektroimpulsgerät wird überwiegend als gesundheitlich unbedenklich eingestuft bzw. die Risiken im Vergleich zu anderen Zwangsmitteln als eher gering bewertet (Ebert 2020). Relevanter als die Wirkung der abgegebenen elektrischen Impulse ist hingegen die Gefahr, dass sich die Person anschließend beim unkontrollierten Sturz verletzen könnte. Für die Polizeibeamt*innen hat dieses Einsatzmittel den Vorteil, dass es im Gegensatz zum Reizstoffsprühgerät auch in geschlossenen Räumen eingesetzt werden kann (von Prondzinski 2017a). Ferner entfaltet es seine Wirkung auch bei Personen, deren Schmerzempfinden aufgrund von Alkoholkonsum oder Drogeneinfluss deutlich reduziert ist (Ebert 2020; von Prondzinski 2017a). Rechtlich bestehen gegen den Einsatz von DEIG keine Bedenken. In den meisten Polizeigesetzen werden sie zwangsrechtlich als Waffe eingestuft (Ebert 2020). An den Einsatz des DEIG sind somit die gleichen Maßstäbe anzulegen wie an das RSG und den Schlagstock. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit, seiner sofortigen Wirkung und zum Schutze der sicher aus der Distanz agierenden Einsatzkraft dürfte die Anwendung des DEIG in der Praxis die bessere Alternative zu den herkömmlichen Zwangsmitteln darstellen.
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Schusswaffen
Das eingriffsintensivste Zwangsmittel stellt die Schusswaffe dar (Brenneisen 2015). Sie gehört allgemein zur Gruppe der Waffen gem. § 2 Abs. 4 UZwG. Im polizeilichen Alltag ist ihr Gebrauch weiterhin die Ausnahme (von Prondzinski 2017b), jedoch scheint sich die Lage aufgrund zunehmender gewalttätiger Angriffe auf Polizeibeamte*innen sowie extremistischer und terroristischer Anschläge zu verändern. Der Schusswaffeneinsatz unterliegt gem. § 10 UZwG gesonderten Voraussetzungen. Demnach ist der Gebrauch zur Verhinderung und Verfolgung von Verbrechen grundsätzlich zulässig, bei Vergehen aber nur, sofern eine Schusswaffe oder Sprengstoff angewendet oder mitgeführt wird. Bei Beachtung der spezifischen Voraussetzungen ist ferner ein Einsatz zur Fluchtvereitelung oder Wiederergreifung eines Ausbrechers sowie zur Verhinderung einer gewaltsamen Befreiung eines Gefangenen möglich. Schusswaffen dürfen nur gebraucht werden, wenn andere Zwangsmaßnahmen erfolglos angewendet wurden oder offensichtlich nicht geeignet sind. Ferner geht der Einsatz gegen Sachen dem gegen Personen vor. Des Weiteren gilt gem. §§ 12 und 13 UZwG: Der Einsatz ist anzudrohen, Unbeteiligte dürfen nicht gefährdet werden und der Einsatz gegen Personen, die sich dem äußeren Eindruck nach im Kindesalter befinden, ist unzulässig. Weiterhin darf nur mit dem Ziel geschossen werden, eine Angriffs- oder Fluchtunfähigkeit zu erreichen. Aus diesen Restriktionen ergaben sich in der praktischen Anwendung jahrzehntelang zahlreiche Probleme. Im Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes aus dem Jahre 1976 bzw. 1977 (Heise und Riegel 1978) hatten sich die Innenminister des Bundes und der Länder bzgl. des Schusswaffengebrauchs zwar auf weniger einschneidende Vorgaben geeinigt, dieser Rahmen wurde durch die jeweiligen Gesetzgeber jedoch nicht ausgeschöpft. Erst durch die terroristischen Bedrohungslagen ist es in den letzten Jahren zu einem gesellschaftlichen Umdenken und zahlreichen Anpassungen durch den Gesetzgeber gekommen. Sofern diese legislativen Anpassungen noch nicht erfolgt sind, ist der Schusswaffengebrauch gegen bewaffnete Personen weiterhin problematisch. Denn dem Wortlaut nach wäre der Gebrauch der Schusswaffe gegen eine/n mit einem Messer oder einem gefährlichen Gegenstand bewaffneten Angreifer*in nur zulässig, sofern eine Tötungsabsicht unterstellt werden kann. Handelt die Person hingegen erkennbar nur mit Verletzungsabsicht, so würde kein Verbrechenstatbestand vorliegen, denn selbst eine gefährliche Körperverletzung nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB stellt „lediglich“ ein Vergehen dar. Ferner kann ein Messer rechtlich betrachtet zwar eine Waffe sein, aber eben keine Schusswaffe im Sinne des UZwG. Sofern es noch keine gesetzliche Grundlage für den Schusswaffengebrauch gegen eine/n (nicht mit einer Schusswaffe) bewaffnete/n Angreifer*in gibt, so wäre die Abwehr nur im Rahmen der Notwehr und Nothilfe (§ 32 StGB) zulässig (Neuwald 2019c). Da dies unbefriedigend ist, wurde mittlerweile in zahlreichen Landespolizeigesetzen die Regelung aufgenommen, dass der Schusswaffengebrauch nunmehr auch zulässig ist, um eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben abzuwehren.
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Die verpflichtend vorgeschriebene Androhung der Schusswaffe soll dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragen und dem Gegenüber ermöglichen, von seinem Tun Abstand zu nehmen. Dies ist grundsätzlich nachvollziehbar und begrüßenswert, jedoch ergeben sich hieraus zwei praktische Probleme, die rechtlich höchst umstritten sind (Borsdorff 2018b; Ruthig 2019; Walter 2019). Zum einen bei plötzlichen, unvorhersehbaren Angriffen und zum anderen bei Geisellagen. So könnte die Androhung der Schusswaffe gegenüber dem/der Geiselnehmer*in eine zusätzliche Gefährdung für die Geisel bedeuten sowie das taktische Vorgehen der Einsatzkräfte erschweren, da der/die Täter*in nun vorgewarnt ist. Oftmals versuchen Täter*innen, das Überraschungsmoment auszunutzen, und greifen die Beamten*innen unvermittelt an, sodass eine Androhung der Waffe zeitlich nicht mehr möglich ist. Anders als der Bund haben die meisten Landesgesetzgeber mittlerweile Ausnahmeregelungen von der Androhungsverpflichtung verabschiedet. Wo dies noch nicht der Fall ist, bleibt nur der rechtfertigende Rückgriff auf die Notwehr und Nothilfe (Borsdorff 2019; Neuwald 2019c). Viele Jahrzehnte war fraglich, ob ein gezielt tödlicher Schuss, der sogenannt „finale Rettungsschuss“ oder „Todesschuss“ zulässig wäre. Besonders bei Geisellagen oder Terrorist*innen spielt diese Frage eine wichtige Rolle, denn das Zwangsrecht ließ gewöhnlich nur den Einsatz der Schusswaffe zu, um den Täter angriffs- oder fluchtunfähig zu schießen (Borsdorff 2018a). Die teilweise vertretene Auffassung (u. a. von Peilert 2012), dass der tödlich wirkende Schuss die extremste Form der Angriffsunfähigkeit darstellt und im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung zulässig wäre, ist heftig umstritten (Borsdorff 2018a) und im Ergebnis abzulehnen (so auch Kingreen und Poscher 2020; Knape 2018; Ruthig 2019; Walter 2019; Borsdorff 2018a). Sofern man der ablehnenden Auffassung folgt, wäre ein solcher Schusswaffengebrauch lediglich im Rahmen der rechtfertigenden Notwehr bzw. Nothilfe möglich. Mittlerweile haben bis auf Berlin fast alle Gesetzgeber den „finalen Rettungsschuss“ normiert oder beabsichtigen, dies zeitnah zu tun. Demnach ist der tödlich wirkende Schuss nunmehr zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit darstellt. Der Schusswaffengebrauch gegen „Kinder“, also Personen, die sich dem äußeren Eindruck nach im Kindesalter (unter 14 Jahren) befinden, ist nach § 12 Abs. 3 UZwG für Polizeibeamt*innen des Bundes weiterhin unzulässig. Diese Regelung ist aufgrund der terroristischen Bedrohungslage nicht mehr zeitgemäß, wie der Tötungsversuch einer 15-Jährigen gegenüber einem Bundespolizisten in Hannover gezeigt hat. Je nach Schätzung des Alters wäre der dienstliche Gebrauch der Schusswaffe zulässig gewesen oder auch nicht (Neuwald 2019c). Viele, aber nicht alle Bundesländer haben deshalb Anpassungen vorgenommen. So ist seit Kurzem (sofern eingeführt) der Schusswaffengebrauch gegen „Kinder“ zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben ist. Auch wenn der Gesetzgeber in vielen Bereichen nachgebessert hat und Anpassungen bzgl. der Voraussetzungen des Schusswaffengebrauchs erfolgt sind, so bleibt es weiterhin eine extrem sensible Materie. Die Beherrschung der rechtlichen Voraussetzungen für den
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Einsatz der Dienstwaffe ist für Polizeibeamte*innen nach wie vor unabdingbar, denn nur so lässt sich Rechtssicherheit im Handeln in diesen Extremsituationen erreichen (von Prondzinski 2017b).
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olgen rechtmäßiger und F unrechtmäßiger Zwangsanwendung
Sofern es die Lage zulässt und es notwendig ist, ist der durch den Zwangseinsatz verletzten Person Hilfe zu leisten. Wird der Verpflichtung nicht nachgekommen, so kann dies straf- und dienstrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Dies hat zur Folge, dass im Einsatz Maßnahmen der Strafverfolgung gegenüber der Hilfeleistung zurückstehen müssen. Erforderlichenfalls müsste somit erst ein/e verletzte/r Täter*in versorgt werden, bevor die Verfolgung des/r zweiten, noch flüchtigen Täter*in fortgesetzt werden kann. Lediglich bei Bagatellverletzungen, wie Hautabschürfungen oder leichten Prellungen, kann auf eine umfängliche oder sofortige Hilfeleistung verzichtet werden. Sofern die Lage noch nicht „bereinigt“ ist, also eine erhebliche Gefahr für die Polizei weiterhin vorliegt, kann von einem helfenden Handeln abgesehen werden. Gleiches gilt, wenn Einsatzkräfte selbst nicht unerheblich verletzt wurden. Bei der Verpflichtung, einer verletzten Person zu helfen, handelt es sich um eine die Einsatzkräfte bindende Formvorschrift, mit weitreichenden Folgen. Dasselbe gilt für sämtliche anderen in förmlichen Gesetzen oder innerdienstlichen Weisungen festgelegten wesentlichen Formvorschriften. Verwaltungsvorschriften, Erlasse und Polizeidienstvorschriften binden nicht mehr nur die Mitarbeiter*innen der Behörden (sog. „Innenwirkung“), sondern haben eine mittlerweile anerkannte faktische Außenwirkung erlangt (Peilert 2012; Neuwald 2019b). Der unrechtmäßige Einsatz von Zwangsmitteln kann zivilrechtliche Schadensersatzund Schmerzensgeldansprüche zur Folge haben und zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit führen. Die Rechtsgrundlage für das das Schmerzensgeld ergibt sich aus § 253 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) sowie aus § 823 Abs. 1 BGB für den Schadensersatz. Aus strafrechtlicher Perspektive kämen vordergründig die (gefährliche) Körperverletzung (§ 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 StGB) sowie die Körperverletzung im Amt (§ 340 Abs. 1 und 3 StGB) in Betracht. Dies gilt nicht nur für die Einsatzkräfte, sondern auch für die Entscheidungsträger*innen. Erschwerend kommt hinzu, dass nach § 113 Abs. 3 StGB der/die gegen die Polizei Widerstandleistende nicht strafbar handeln würde, wenn eine unrechtmäßige Zwangsanwendung vorliegen sollte. Das Unterlassen der erforderlichen Hilfe wäre strafbar nach § 323c Abs. 1 StGB. Aufgrund der Garantenstellung der Einsatzkräfte droht ferner ein Strafbarkeitsrisiko nach §§ 212, 222, 223, 224, 13 StGB. Liegt ein schuldhaftes, rechtswidriges Verhalten eines Beamten oder einer Beamtin vor, so kommt eine Amtshaftung nach § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG in Betracht. In Fällen der Amtspflichtverletzung steht grundsätzlich der Dienstherr für den Schaden des Dritten ein. Sollte die Einsatzkraft allerdings vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt haben, so kann diese durch den Dienstherrn in Regress genommen werden.
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Nach wie vor nicht unumstritten ist der Einsatz von Body-Cams. Erste Erfahrungen lassen aber darauf schließen, dass solche technischen Einsatzmittel die Angriffe gegen Polizeibeamte*innen reduzieren können (Baier und Manzoni 2018; Arndt 2016). Ferner kann damit besser das rechtmäßige Vorgehen der Einsatzkräfte belegt sowie etwaigem tatsächlichen Fehlverhalten Einhalt geboten werden (Arndt 2016). Fazit Die Kenntnis der rechtlichen Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und Grenzen für die Anwendung des unmittelbaren Zwanges sind für Polizeivollzugsbeamte*innen essenziell notwendig, um rechtskonform zu handeln. Fundierte Grundlagen müssen bereits in der Ausbildung geschaffen werden und bedürfen eines stetigen Trainings, um sich an neue Herausforderungen anzupassen. Nur so können eine professionelle Praxis und ein hohes Niveau der Dienstausübung innerhalb der Polizei beibehalten werden. Eine Verzahnung von rechtlichem Wissen und technischen Fertigkeiten ist folglich unabdingbar für eine professionelle Berufsausübung. Nachfolgend werden für Einsatzkräfte, Trainer*innen und Entscheider*innen Hinweise und Tipps für die polizeiliche Praxis gegeben. Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Die Kenntnis von den Voraussetzungen und Grenzen des Zwangsrechts sind unabdingbar für das polizeiliche Handeln. Dies gilt nicht nur für die Einsatzkräfte, sondern auch für Vorgesetzte, denn diese sind rechtlich verantwortlich für das Handeln ihrer nachgeordneten Mitarbeiter*innen. Vor allem Zwangsanwendungen wie der Schusswaffengebrauch oder der Einsatz von Reizstoffen unterliegen in der Praxis bei besonderen Lagen oft dem Entscheidungsvorbehalt der Polizeiführer*innen. Die rechtlichen Voraussetzungen und Formvorschriften sind auch für sie bindend. Sofern die Rechtsgrundlagen noch nicht zufriedenstellend sind, ist aktiv auf eine Anpassung der gesetzlichen Regelungen hinzuwirken. Dies kann im Rahmen der beamtenrechtlichen Beratungs- und Unterstützungspflicht erfolgen, aber auch eigeninitiativ auf den Weg gebracht werden. Ferner muss im Rahmen der strategischen Aus- und Fortbildung der Thematik Zwang ein hoher Stellenwert eingeräumt werden. Dies muss sich konsequenterweise auch in der Bereitstellung der erforderlichen personellen, organisatorischen und materiellen Ressourcen ausdrücken. Dabei geht es nicht nur um den Aspekt des Trainings der eigentlichen Zwangsanwendung in Form des unmittelbaren Zwanges (Einsatztraining, Schießen etc.), sondern auch um Erste-Hilfe-Schulungen, die Vermittlung erforderlicher Rechtskenntnisse sowie die Entwicklung von taktischen Konzepten und des Trainings von besonderen Einsatzlagen in komplexen Übungen, aber auch in einzeldienstlichen Standardsituationen.
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Nicht nur Technik und Wissen sind Garant für einen erfolgreichen und verletzungsfreien Einsatz, sondern auch eine adäquate Ausrüstung. So ist die mittlerweile umfänglich beschaffte Schutzausrüstung, wie schusssichere Westen und Helme, mitzuführen und anzulegen. Gleiches gilt für Reservemagazine und sonstige technische Einsatzausstattung. Sollte dieses Equipment noch nicht umfänglich in den Dienststellen vorhanden sein, so ist im Rahmen der Fürsorgepflicht des Dienstherrn auf eine Beschaffung zu drängen. b) Einsatzkräfte Einsatzkräfte sollten ihre bestehenden Rechtskenntnisse kritisch hinterfragen. Befindet sich ihr Wissen bzgl. der Voraussetzungen der Zwangsanwendung auf dem aktuellen Stand? Kennen sie die Voraussetzungen für eine Fesselung und den Gebrauch der Schusswaffe? Neben rechtlichen Kenntnissen muss ferner die Erste Hilfe beherrscht sowie die benötigten Materialien mitgeführt werden, um verletzten Personen kompetent und umfassend medizinische Hilfe leisten zu können. Als Polizeibeamte*innen unterliegen sie einer besonderen Garantenpflicht, die es zu beachten gilt. Es gilt, das Bewusstsein für das eigene Handeln und die Verantwortlichkeit für andere zu schärfen. Erforderliche Einsatzmittel sind einsatzbereit mitzuführen. Der Umgang damit sollte beherrscht werden. Dies gilt nicht nur für die Zwangsmittel, sondern auch für die Erste-Hilfe-Ausstattung. Die Maßnahmen der Ersten Hilfe sollten regelmäßig geübt werden, um im Bedarfsfall auch unter Stress präsent zu sein. c) Einsatztrainer*innen Trotz der gesteigerten Gefährdungs- und Bedrohungslage sollten nicht nur Ex tremszenarien geübt, sondern auch der Normalfall trainiert werden. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit reichen meist mildere Zwangsmittel zur Erreichung des Zieles aus. Somit sollte neben dem einsatzmäßigen Schießen auch das Nicht-Schießen thematisiert und in Situationstrainings geübt werden. Neben den „handwerklichen“ Fähigkeiten der Zwangsanwendung müssen auch die rechtlichen Voraussetzungen umfänglich vermittelt werden. Dies schafft bei den Einsatzkräften Rechtssicherheit und damit Handlungssicherheit. Die gewonnene Sicherheit im Handeln führt nicht nur zu mehr Dienstzufriedenheit, sondern senkt das Risiko, Opfer eines Angriffes durch das polizeiliche Gegenüber zu werden.
Zwangsanwendung durch die Polizei – Der unmittelbare Zwang aus der Perspektive …
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Polizeilicher Schusswaffeneinsatz und Notwehrrecht (§§ 32, 33 StGB) Hinner Schütze und Sascha Kische
Inhaltsverzeichnis 1 E inleitung 540 2 Ausgangsfall 544 2.1 Tatbestand: Totschlag (§ 212 StGB)? 545 2.2 Rechtswidrigkeit: Rechtfertigung durch Notwehr und Nothilfe (§ 32 StGB)? 545 2.3 Zwischenergebnis 548 3 Weitere Fallkonstellationen und deren strafrechtliche Bewertung 548 3.1 Abwandlung 1: Stellen wir uns vor, dass der Angreifer seinen Mitbewohner als Schutzschild vor sich zieht und so drohend mit der Hantelstange auf die Beamten zugeht. Bei der Schussabgabe wird der Mitbewohner durch den Schuss des Beamten getötet. 549 3.2 Abwandlung 2: Der junge Mann war psychisch schwer krank und konnte die Tragweite seiner Entschlüsse nicht einschätzen, was die Beamten nicht erkennen konnten. 549 3.3 Abwandlung 3: Es handelte sich nicht um einen jungen Mann, sondern offensichtlich um ein Kind. Ein Rückzug aus dem Zimmer wäre möglich gewesen, aber die Lage
Reviewer*innen: Robert Hintereker, Nils Neuwald, Markus Thiel H. Schütze (*) Fakultät III, Hochschule für Polizei Baden-Württemberg, Villingen-Schwenningen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Kische Fachbereich Polizei, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Hagen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_29
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wäre damit nicht zeitnah vor Ort gelöst worden, sondern hätte längere Zeit die Kräfte gebunden. 550 3.4 Abwandlung 4: Der schießende Beamte handelt aufgrund extremer Angst vor dem erwarteten Angriff. Der erste Schuss hatte den Angreifer bereits erkennbar kampfunfähig gemacht. Wegen der Panik schießt der B noch einmal. 550 3.5 Abwandlung 5: Der junge Mann lässt die Hantelstange fallen, um der diesbezüglichen Aufforderung der Beamten nachzukommen. Dies wird irrtümlich von dem Beamten als eine Angriffsbewegung gedeutet und geschossen. Er handelte aus Furcht vor dem erwarteten Angriff des jungen Mannes. Die anderen Beamten sind überrascht, weil diesen der defensive Charakter der Bewegung offensichtlich schien. 550 3.6 Abwandlung 6: Der junge Mann hatte die Hantelstange fallen lassen und wollte sich selbst töten, indem er einen Sprung aus dem 10. Stockwerk ankündigte. Der Beamte verhinderte dies durch einen Schuss auf die Beine mit Verletzungen. 551 4 Der Komplexität „hoch drei“: Scheinangriff, Putativnotwehr, Überschreitung – was gilt? 552 Literatur 555
Zusammenfassung
Der Schusswaffengebrauch gehört unweigerlich zum Ausbildungskern des polizeilichen Einsatztrainings. Kein Herzenswunsch, aber doch reale Lebenswirklichkeit wird es sein, dass jede Beamtin und jeder Beamter im Dienstleben wohl einmal in einer tatsächlichen oder vorgestellten Notwehrsituation mit der Frage des Schusswaffeneinsatzes konfrontiert ist. Die Konsequenzen sind nicht nur für das Gegenüber erheblich, sondern gerade für den/die Polizist*in: Im Wege eines Ermittlungsverfahrens wird überprüft, ob und inwieweit das Handeln gerechtfertigt erscheint. Aktuell in den Fokus gerückte Ereignisse wie jüngst die obergerichtlich erzwungene Anklage gegen einen Bochumer Polizisten (Oberlandesgericht Hamm v. 27.10.2020 – III-2 Ws 20/20) offenbaren die zwingend notwendige, rechtliche Erläuterung des polizeilichen Schusswaffen einsatzes unter Notwehrgesichtspunkten. Notwehr lässt sich nicht trainieren; ein notwehrfähiges Handeln verlangt einem selbst ab, den präsumtiven Einsatz in dem Bewusstsein der eigenen strafrechtlichen Folgen einzuschätzen. Dem soll hier anhand kürzerer und typischer Polizeiszenarien nachgegangen werden. Bei der vorgestellten Lösung der Fälle wird in erster Linie die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs he rangezogen und weniger auf eine wissenschaftlich umfassende Darstellung der Literaturansätze Wert gelegt.
1
Einleitung
Jüngst veröffentlichte Studienergebnisse der beiden Herausgeber Swen Körner und Mario Staller legen nahe, dass das polizeiliche Einsatztraining betreffend den „scharfen“ und auch unscharfen Schusswaffengebrauch in der Ausbildung und Fortbildung zwar fester
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Bestandteil sei, aber doch ein Schattendasein friste. „Das Schießtraining im scharfen Schuss“ sei „grundsätzlich limitiert“ und „eine kontinuierliche Auseinandersetzung des Lerners mit der Umwelt hier nicht möglich“ (Staller und Körner, DIE POLIZEI 2020, S. 223). Mehr noch stellen sie im akademischen Einsatztraining ein Mehr an schlicht reproduktiven Übungsformen fest, „die darauf abzielen, eine vorgegebene Technik oder Taktik nachzumachen“, andererseits problemlösende Trainingsaktivitäten, die „vom Lerner gekoppelte ‚Was‘- und ‚Wie‘-Entscheidungen“ abverlangen, aber nur einen geringen Anteil der Trainingszeit ausmachen (Körner und Staller, DIE POLIZEI 2020, S. 165). Das entscheidende Problem wird überzeugend lokalisiert: Bei rein reproduktiven Übungsformen „fehlt das entscheidende ‚Was [zu tun ist]‘-Moment, das in der Wahrnehmung von Polizist*innen essenziell die Einsatzsituation kennzeichnet und sich in Form erlebter Überraschung, Unerwartetheit der Situation und hoher Entschlossenheit des polizeilichen Gegenübers darstellt“ (Körner und Staller DIE POLIZEI 2020, S. 165). Diese Defizite im Training drohen, sich in der späteren Berufspraxis der Polizist*innen zu rächen. Das lässt sich anhand einzelner, auch im Verlaufe des Jahres 2020 medial bekannt gewordener und bundesweiter Fälle eines polizeilichen Schusswaffengebrauchs feststellen. Statistisch fällt die Anzahl der durch Polizist*innen getöteten Menschen in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren sehr gering aus (vgl. Abb. 1).
Abb. 1 Abrufbar unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/706648/umfrage/durch-polizisten-getoetete-menschen-in-deutschland/ (Stand: 21.07.2020)
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Abb. 2 Abrufbar unter http://www.schusswaffeneinsatz.de/download/statistiken.pdf (Stand: 11.12.2020)
Bei genauerem Hinsehen ranken sich die Geschehnisse vermehrt um einen Schusswaffeneinsatz in bestehenden oder auch nur vermeintlichen, lediglich aus Sicht des/der handelnden Beamt*in für sich oder Dritte bestehenden Notwehrsituationen (vgl. Abb. 2 für das Jahr 2018). Einzelheiten drängen zwar weniger in die Öffentlichkeit, regelmäßig enden die gegen die Beamt*innen eingeleiteten Ermittlungsverfahren mit einer folgenlosen Einstellung durch die Staatsanwaltschaft. Dies mag den (bislang) nicht von der Notwendigkeit zur Abgabe letaler Schüsse betroffenen Beamt*innen eine trügerische Sicherheit vorgaukeln. Die persönlichen Belastungen von zeitweiligen Freistellungen bis hin zu einer vorübergehenden oder endgültigen Dienstunfähigkeit sind enorm. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die (straf-)rechtliche Auseinandersetzung zunehmend mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gelangt, bestärkt durch die gerade auch in diesem Jahr hervorgetretene „Black Lives Matter“-Bewegung in den europäischen Staaten. Wird dann doch einmal ein/e Polizeibeamt*in wie jüngst in Bochum angeklagt, ist das Unverständnis plötzlich groß und die Unsicherheit anscheinend noch viel größer. Einsatzrelevantes Schusswaffentraining und praktische (insbesondere strafrechtliche) Folgeneinschätzung müssen den Beamt*innen stets im Zusammenwirken bewusst sein. Das eine kann schlechterdings nicht ohne das andere betrachtet und jeweils auch nicht außer Acht gelassen werden. Diesen Umstand will der Beitrag unter den folgenden Prämissen aufgreifen:
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1. Es soll hier anerkannt sein, dass das Einsatztraining den zentralen Mechanismus zur Integration von Ausbildung und Beruf abbildet (Staller und Körner, DIE POLIZEI 2020, S. 223). Nichtsdestotrotz sind es aber die gesetzlichen und rechtlichen Regelungen, die den Schusswaffeneinsatz der Beamt*innen legitimieren. In diesem Beitrag soll es nicht um die Ermächtigungsgrundlagen für den Gebrauch gehen, sondern allein darum, ob hierdurch den Beamt*innen ein strafrechtlicher Vorwurf wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Tötungs- und Körperverletzungsdelikte droht. Maßgeblich wird das Handeln daher unter den Gesichtspunkten der rechtfertigenden Notwehr (§ 32 StGB) und des entschuldigenden Notwehrexzesses (§ 33 StGB) untersucht. Strafgesetzbuch (StGB)
§ 32 Notwehr (1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig. (2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden. § 33 Überschreitung der Notwehr Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft.
Leser, die weiterführende Informationen – insbesondere zu polizeirechtlichen Eingriffsgrundlagen – suchen, sei die instruktive Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe (Beschluss vom 10. Februar 2011 – 2 Ws 181/10) anempfohlen, verbunden mit dem Hinweis, dass die damalige Regelung in § 54 PolG BW sich seit 01.01.2021 in § 68 PolG BW findet. 2. Ganz bewusst soll auch nicht dazu Stellung genommen werden, ob das Handeln der Beamt*innen eher oder daneben unter polizeirechtlichen Gesichtspunkten zu legitimieren ist. Auch wenn bekanntlich das Spektrum der Meinungen zumindest zur Frage des „Notwehrrechts von Polizeibeamt*innen bei Eingreifen zugunsten Dritter“ in Rechtsprechung und Schrifttum noch immer auseinandergeht (Hillenkamp und Cornelius 2017, S. 43 ff.), wird hier dem vom Bundesgerichtshof (BGH) in Strafsachen vertretenen Standpunkt gefolgt: „Im Falle eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs auf Leib und Leben eines Polizeibeamten hängt die Frage, inwieweit dieser sich verteidigen darf, insbesondere nicht davon ab, welches Rechtsgut zuvor von dem Angreifer verletzt worden ist. Das zulässige Maß der erforderlichen Verteidigung im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB wird auch hier durch die konkreten Umstände des Angriffs bestimmt, insbesondere durch die Stärke und Gefährlichkeit des Angreifers und durch die dem Angegriffenen zur Verfügung stehenden Abwehrmittel“ (abgedruckt in Neue Zeitschrift für Strafrecht [NStZ] 2001, S. 31).
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3. Mit diesem Beitrag wird schlussendlich auch keine persönliche Würdigung für oder gegen den polizeilichen Schusswaffengebrauch und daraus resultierende persönliche Konsequenzen für Beamt*innen vorgenommen. Vielmehr geht es darum aufzuzeigen, dass das Training mit der Schusswaffe einen ganz wesentlichen Grundstein für das Einsatzhandeln der Beamt*innen legt, weitergehend aber auch – und zwar mit Blick auf die spätere individuelle Verteidigung in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren – in persönlichkeitsrelevanter Verantwortung steht. Je mehr und auch sorgfältiger das Einsatztraining hier die Besonderheiten und auch Tücken des Notwehrrechts begreift und in theoretischen wie praktischen Übungsformen anwendet, desto professioneller sind die Beamt*innen auf ihre spätere Verwendung vorbereitet. Die nachfolgend getätigten Erläuterungen und Darstellungen mögen daher verstanden werden als kollegiale und fachliche Unterstützung inmitten der gemeinsamen Vorstellung, unsere Beamt*innen in jeder Phase ihres Lebens (ob anfängliche Ausbildung oder Hochschulstudium, ob spätere Fort- oder Weiterbildung) bestmöglich für ihren dienstlichen Einsatz auszustatten. Inwieweit das hiernach gelingt, bleibt abzuwarten. Wir Autoren sind jedoch zuversichtlich angesichts eigener und guter Erfahrungen in der interdisziplinären Zusammenarbeit, die es aber sicherlich noch auszuweiten gilt!
2
Ausgangsfall
Diesen Prämissen folgend soll zunächst ein Ausgangsfall vorgestellt werden, der für die Untersuchung mit Abwandlungen modifiziert wird. Damit sollen die in der Praxis vorkommenden Konstellationen praktisch veranschaulicht und einer juristischen Bewertung zugeführt werden. Die Notwehr und Nothilfe als Rechtfertigungsgründe können bei unterschiedlichen Tatbeständen eingreifen (vgl. Erb 2012, mit Überblick zur Rechtsprechung). Beim Schusswaffeneinsatz durch Polizeibeamt*innen werden wir uns insbesondere auf Tötungs- und Körperverletzungsdelikte konzentrieren. Sachverhalt: Ein junger Mann (A) bedrohte zunächst einen Mitbewohner (M) und nachfolgend vier eingesetzte Polizeibeamte mit einer 1,20 m langen Hantelstange. Der junge Mann wurde aufgefordert, die Hantelstange fallen zu lassen. Zwei der zu Hilfe gerufenen Polizeibeamten gingen in den kleinen Raum. Pfefferspray zeigte keine Wirkung. Die Beamten hatten den Eindruck, der Mann inhaliere das Pfefferspray förmlich. Der junge Mann ging mit erhobener Hantelstange auf die Beamten in dem Raum zu. Er sagte dabei: „Schießt doch!“ Ein Beamter (B) schoss auf den Angreifer. Zwei Projektile steckten im Körper des jungen Mannes. Es kann nicht geklärt werden, ob der erste oder der zweite Schuss zu tödlichen Verletzungen geführt hat. Der vorstehend geschilderte Fall soll auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beamten hin untersucht werden. Auf andere Aspekte, etwa eine Staatshaftung, Disziplinarmaßnahmen oder vergleichbare Fragen kann dagegen nicht eingegangen werden.
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2.1
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Tatbestand: Totschlag (§ 212 StGB)?
Es wird vom Beamten der Tatbestand des Totschlags (§ 212 StGB) zum Nachteil des Angreifers verwirklicht. Es ist freilich unklar, ob der erste oder zweite Schuss zum Tode geführt hat. Wenn bereits der erste Schuss den Angreifer getötet haben sollte, hätte beim zweiten Schuss kein taugliches Tatobjekt mehr vorgelegen und der objektive Tatbestand entfiele für den zuletzt abgegebenen Schuss. Es käme bei Abgabe des zweiten Schusses aber ein (untauglicher) Versuch des Totschlags in Betracht, wenn nach der subjektiven Vorstellung des Beamten der A noch am Leben war, unabhängig vom objektiven Befund. Insbesondere in subjektiver Hinsicht wird dem Beamten die Möglichkeit einer tödlich wirkenden Verletzung infolge der Schussverletzungen bewusst gewesen sein. Auch in voluntativer Hinsicht hat er sich für den Fall des Todeseintritts damit abgefunden, da es ihm wichtiger war, den Kollegen und sich selbst vor dem Angreifer zu schützen, und er sich mindestens mit dem Tod abgefunden hat, wenn er diesen nicht sogar gezielt erreichen wollte, um den Angriff mit der Hantelstange endgültig zu beenden. Wenn man den Tötungsvorsatz ablehnen würde, wäre auf eine gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge (§§ 223, 224, 227 StGB) abzustellen. Umgekehrt läge auch bei Abgabe des ersten Schusses eine versuchte Tötung vor, wenn dieser zwar mangels Kausalität den objektiven Tatbestand nicht erfüllen würde, aber doch die subjektive Seite vorhanden war. Im Ergebnis läge dann mit dem zweiten Schuss ein vollendeter Totschlag vor.
2.2
echtswidrigkeit: Rechtfertigung durch Notwehr und Nothilfe R (§ 32 StGB)?
Es wird hier bei der Rechtswidrigkeit zu entscheiden sein, ob das Handeln rechtmäßig und damit straflos war. Eine Einwilligung ist unbeachtlich trotz der Aufforderung des Angreifers, auf ihn zu schießen. Das Rechtsgut Leben ist nicht einwilligungsfähig, wie § 216 StGB zeigt. Eine Tötung auf Verlangen liegt hier nicht vor, denn der Beamte ordnet sich nicht dem Willen des Angreifers unter (vgl. BGH NJW 2019, S. 3092). Es kommt als Rechtfertigungsgrund § 32 StGB in Betracht. Dabei sind zunächst objektiv eine Notwehrlage, eine Notwehrhandlung und die Gebotenheit festzustellen.
Notwehrlage Im Ausgangsfall ist deutlich, dass eine Notwehrlage vorlag, die allein nach den objektiven Umständen festzustellen ist: Gegenwärtig ist der Angriff, wenn eine bedrohliche Lage vorliegt, die jederzeit in eine Rechtsgutsverletzung umschlagen kann und ein Abwarten die Aussichten einer erfolgreichen Verteidigung vermindern würde (BGH NStZ 2020, S. 147). Der Angreifer nahm einen gegenwärtigen Angriff vor, indem er mit der Hantelstange auf die Beamten zuging. Mit dem Verhalten war bereits ein unmittelbares Ansetzen zum Versuch einer gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil der Beamten erreicht. Das
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Rechtsgut körperliche Integrität und sogar Leben der Beamten geriet in konkrete Gefahr und für den Angreifer war auch die Schwelle zum „Jetzt-geht-es-los“ überschritten. Dieser Angriff war auch rechtswidrig, da der A dafür keinen Rechtfertigungsgrund hatte. Unproblematisch ist nach den Regeln der Notwehr auch die Nothilfe (Fischer 2021, § 32, Rn. 11 m. w. N.) zu behandeln, da der B (auch) die Rechtsgüter seines Kollegen schützte.
Notwehrhandlung Die Notwehrhandlung bestand hier aus der Abgabe von zwei Schüssen. Unklar ist, welcher der Schüsse tödlich gewirkt hat. Dies ist nach dem Zweifelsgrundsatz zu klären. Wenn bereits der erste Schuss tödlich war und der Angreifer nicht mehr zu einer Verletzung der Beamten in der Lage gewesen wäre, würde in objektiver Hinsicht die Notwehr beim zweiten Schuss entfallen. Für den zweiten Schuss verbliebe dann – wie oben gezeigt – ein untauglicher Versuch des Totschlags zum Nachteil des Angreifers. Der Frage, ob ein Rücktritt (§ 24 StGB) in Betracht kommt, wenn die vollendete Tötung gerechtfertigt ist, kann aus Platzgründen nicht nachgegangen werden (vgl. zum Rücktritt in der Konstellation des Unterlassens bei nicht zurechenbarem Erfolg BGH NStZ 2012, S. 29 mit Anmerkung Mandla und weiteren Nachweisen). Eine Notwehrlage bestand dagegen fort, wenn der Angriff mit dem ersten Schuss noch nicht gestoppt war. Dann hätte bei Abgabe des zweiten Schusses eine Notwehrlage bestanden. Geeignetheit der Notwehrhandlung Weiter ist zu klären, ob die Notwehrhandlung geeignet war. Da man im Zweifel von einem Fortbestehen der Notwehrlage nach dem ersten Schuss auszugehen hat, wären beide Schüsse geeignet, den Angriff mit der Hantelstange endgültig zu stoppen. Es wäre dazu näher zu untersuchen, ob schon der erste Schuss den Angriff gestoppt hat in objektiver Hinsicht – auf die subjektive Wahrnehmung durch den Beamten wird bei dieser Prüfung (noch) nicht abgestellt. Durchaus vorstellbar ist es aber, dass der Angreifer trotz eines ersten Treffers noch in der Lage war, den Angriff weiterzuführen, sowohl bei einer nicht tödlichen Verletzung als auch bei einer Verletzung, die den Tod zwar verursacht hat, sofern diese Folge erst später eingetreten ist. Erforderlichkeit der Notwehrhandlung Von mehreren gleichermaßen geeigneten Mitteln hat der Verteidiger dasjenige zu wählen, welches aus objektiver Sicht des Verteidigers den Angriff endgültig abzuwehren verspricht, aber gleichzeitig die Rechtsgüter des Angreifers so weit als möglich schont (vgl. weiterführend Fahl 2020). Schutz- und Trutzwehr Es steht dem Angegriffenen im Rahmen der Notwehr die Schutzwehr, aber auch die Trutzwehr zur Verfügung (Fischer 2021 § 32, Rn. 23). Trutzwehr gibt die Möglichkeit, mit ei-
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nem Gegenangriff zu reagieren, und ist damit weitreichender als die bloße Schutzwehr. Plakativ wird formuliert: Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen! Deshalb war ein Rückzug nicht zu wählen, selbst wenn eine solche Option bestanden hätte; auch ein Gegenangriff kann eine erforderliche Verteidigungshandlung darstellen. Auf unsichere Verteidigungshandlungen muss der Angegriffene sich nicht verweisen lassen, insbesondere bei einem Angriff auf sein Leben bzw. das eines Dritten (BGH NStZ 1996, S. 29, 2002, S. 140, 2006, S. 152). Abgestufte Verteidigungsintensität Allerdings wird beim Einsatz tödlich wirkender Verteidigungsmittel eine abgestufte Verteidigungsintensität verlangt (BGHSt 26, 256, 258; NStZ 2019, S. 136). Hier wird sehr genau geprüft, ob nicht mildere Mittel vorhanden waren, bevor zur Abgabe von Schüssen übergegangen wurde. Vorliegend wurde zunächst versucht, durch das Pfefferspray den Angreifer zu stoppen, was aber nicht gelang. Folglich erwies sich dieses Mittel als ungeeignet zur Angriffsabwehr und weitreichendere Mittel waren erforderlich. Zu erwägen wäre, ob man – aus Sicht eines objektiven Dritten – mit mehreren Beamten den Angreifer hätte umreißen können. Hier war aber aufgrund der Enge mutmaßlich kein ausreichender Raum und zudem wegen der Aktualität des Angriffs keine zuverlässige Angriffsabwehr zu erwarten. Sollte in Fällen eines Angriffs mit einer Hantelstange eine solche Option bestehen mit der Folge, dass eine Rechtfertigung durch Notwehr entfiele, so bestünde in anderen Konstellationen mit einem Angriff mittels Messern, Schwertern oder Schusswaffen eine solche Option von vornherein nicht, da diese für die Verteidiger viel zu riskant wären. Weiter wäre der Schusswaffengebrauch grundsätzlich vorher anzudrohen (BGHSt 26, 256, 258; NStZ 2015, S. 151). Dies dürfte hier wegen der Aktualität des Angriffs gar nicht mehr möglich und zudem entbehrlich gewesen sein, weil dem Angreifer bekannt war, dass die Beamten bewaffnet waren, was sein Ausruf verdeutlicht hat. Zudem wird man in der Abgabe des ersten Schusses erst recht eine Androhung durch das Zücken der Waffe und zugleich einen Warnschuss sehen müssen. Einen Warnschuss in einem geschlossenen Raum abzugeben, dürfte zudem zu riskant sein für den Verteidiger oder Dritte, denen gegenüber keinerlei Notwehrrecht besteht. Somit wurde dem Grundsatz der abgestuften Verteidigungsintensität Genüge getan. Man kann überlegen, ob ein Schuss aus relativ kurzer Distanz gezielt auf die Extremitäten abgegeben werden könnte. Es besteht bei einem sich bewegenden Ziel aber die Schwierigkeit, ob man überhaupt zuverlässig die Extremitäten treffen kann. Insbesondere ist aber sehr zweifelhaft, ob überhaupt mit einem Treffer in Bein oder Arm ein sofortiger Stopp des Angriffs zuverlässig genug erreicht werden kann. Sofern diese Möglichkeit objektiv bestanden hätte, wäre sie zu nutzen und Schüsse auf den Kopf oder den Rumpf wären nicht erforderlich. Dies erscheint aber wenig praxisnah und bei Sachverhaltszweifeln ist die für den Beamten günstigere Sachlage anzunehmen. Ein für den Angreifer milderes Mittel als den Schusswaffeneinsatz wird man nicht annehmen können.
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Gebotenheit Die Notwehrhandlung muss auch geboten gewesen sein. Hier können sozialethische Einschränkungen des Notwehrrechts eingreifen, die üblicherweise in Fallgruppen entwickelt werden. In Betracht käme eine Notwehrprovokation (BGH, Urt. v. 20.11.2019 – 2 StR 554/18). Diese könnte man darin sehen, dass der Beamte durch sein Eingreifen zu einer Eskalation und nicht zu einer Deeskalation beigetragen hat. Hierbei handelte er aber als Repräsentant des Staates, der die Pflicht übernommen hat, dem Mitbewohner beizustehen und auch die öffentliche Sicherheit insofern wiederherzustellen, dass vom Angreifer weder für Dritte, aber auch nicht für diesen selbst Gefahr ausgeht. Fragen kann man insofern, ob überhaupt ein Notwehrrecht anzuerkennen ist, wenn ein Polizeibeamter im Dienst tätig wird. Für ihn gelten daneben die Eingriffsbefugnisse des Polizeigesetzes. Die Rechtsprechung wählt hierbei einen strafrechtsspezifischen Ansatz, sogar dann, wenn die Voraussetzungen des Schusswaffengebrauchs nach den Normen des Polizeigesetzes nicht vorliegen würden (Fischer 2021, § 32, Rn. 12 mit weiteren Nachweisen). ubjektive Elemente der Notwehr S In subjektiver Hinsicht sind die Kenntnis der Notwehrlage und der Verteidigungswille erforderlich (Fischer 2021, § 32, Rn. 25 ff.). Die Notwehrlage hat der Beamte erkannt. Hier ist sowohl davon auszugehen, dass der Beamte selbst einen Willen hatte, seine Rechtsgüter vor dem Angreifer zu schützen, als auch die Rechtsgüter seines Kollegen schützen wollte. Zudem ist davon auszugehen, dass auch der Kollege selbst den Willen hatte, vor dem Angreifer geschützt zu werden.
2.3
Zwischenergebnis
Der Beamte wäre gerechtfertigt, wenn er mit dem ersten Schuss den Angriff noch nicht endgültig stoppen konnte und erst der zweite tödliche Schuss den weiter andauernden Angriff beendet hätte. Eine Strafbarkeit käme in Betracht, wenn der zweite Schuss abgegeben worden wäre, obwohl objektiv der Angriff schon gestoppt war. Auch wenn mit Tötungsvorsatz beim zweiten Schuss auf einen Toten gefeuert worden wäre, käme eine Versuchsstrafbarkeit in Betracht. Es könnte aber bei einem Irrtum des Beamten über die Beendigung des Angriffs durch den Tod des Angreifers die Strafbarkeit wegen versuchten Totschlags entfallen, worauf nachfolgend einzugehen sein wird (Abschn. 3.2).
3
eitere Fallkonstellationen und deren W strafrechtliche Bewertung
In Ergänzung und Fortschreibung des Ausgangssachverhaltes wollen wir weitere Konstellationen untersuchen:
Polizeilicher Schusswaffeneinsatz und Notwehrrecht (§§ 32, 33 StGB)
3.1
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Abwandlung 1: Stellen wir uns vor, dass der Angreifer seinen Mitbewohner als Schutzschild vor sich zieht und so drohend mit der Hantelstange auf die Beamten zugeht. Bei der Schussabgabe wird der Mitbewohner durch den Schuss des Beamten getötet.
Hier liegt ein Totschlag zum Nachteil des Mitbewohners durch den Beamten vor. Dem B war erkennbar, dass der Schuss auf den M zu dessen Tod führen werde. Es fehlt an einem Angriff des Mitbewohners und damit an der Notwehrlage. Der Beamte hat keine Rechtfertigung durch Notwehr, da sich die Verteidigung nur gegen den Angreifer richten darf (Fischer 2021, § 32, Rn. 3). Auch ein rechtfertigender Notstand gemäß § 34 StGB kommt nicht in Betracht, da das Leben des Mitbewohners nicht gegen das Leben der Beamten abgewogen werden darf. Allenfalls eine Entschuldigung nach § 35 StGB käme in Betracht, wenn es dem Beamten nicht möglich war, sich zurückzuziehen.
3.2
Abwandlung 2: Der junge Mann war psychisch schwer krank und konnte die Tragweite seiner Entschlüsse nicht einschätzen, was die Beamten nicht erkennen konnten.
Auch in diesem Fall liegt der Tatbestand eines Totschlags vor. Bei der Prüfung der Notwehr ändert sich nichts an einem rechtswidrigen Angriff, da der A zwar schuldlos gehandelt hat, aber dies nichts an der Rechtswidrigkeit seines Verhaltens ändert. Nunmehr stellt sich die Frage, ob die Gebotenheit entfällt. Diese ist objektiv zu prüfen. Bei Angriffen von Kindern oder schuldlos Irrenden hat der Verteidiger sich vorrangig der Schutzwehr zu bedienen (BGHSt 3, 217; 5, 245). Es gilt dann nicht mehr der Grundsatz, dass das Recht dem Unrecht nicht zu weichen hat. Sofern ein Ausweichen möglich wäre, auch unter Inkaufnahme geringfügiger eigener Einbußen, hätte der Beamte sich zurückzuziehen gehabt oder hätte sich auf sonstige Formen der Schutzwehr, bspw. Ausweichen, Abfangbewegungen, zu beschränken gehabt. Wenn man diese Möglichkeit annehmen wollte, bliebe das Verhalten ohne Rechtfertigung. Wenn eine solche Möglichkeit nicht bestanden hat, bleibt aber das Recht erhalten, sich zu verteidigen, dann aber in erster Linie durch einen nicht tödlich wirkenden Gegenangriff. Nun stellt sich aber die Frage, wie es sein kann, dass der Beamte für einen nicht vermeidbaren Irrtum über den psychischen Zustand des Angreifers strafrechtlich haften soll. Dieser Irrtum betrifft die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes, den man auch als Erlaubnistatbestand bezeichnet. Diese Form des Irrtums wird üblicherweise unter dem Begriff des Erlaubnistatbestandsirrtums erörtert (Fischer 2021, § 32, Rn. 51). Umstritten ist, ob dies bei der Schuld erfolgen sollte, jedenfalls ist man sich einig, dass ähnlich wie in § 16 StGB für einen Tatbestandsirrtum die Strafbarkeit wegen einer Vorsatztat entfällt, in concreto also wegen § 212 oder § 223 und § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB keine Strafe verhängt werden kann. Wenn man nämlich das Vorstellungsbild des B heranzieht, stellt man fest, dass er unter den gleichen Bedingungen wie im Ausgangsfall ge-
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rechtfertigt wäre. Folglich entfiele in diesem Fall die Vorsatzstrafbarkeit. Zudem greift keine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit (§ 222 StGB) ein, weil der Irrtum schon nicht vermeidbar war.
3.3
Abwandlung 3: Es handelte sich nicht um einen jungen Mann, sondern offensichtlich um ein Kind. Ein Rückzug aus dem Zimmer wäre möglich gewesen, aber die Lage wäre damit nicht zeitnah vor Ort gelöst worden, sondern hätte längere Zeit die Kräfte gebunden.
Dieser Fall ist anders zu beurteilen als die Abwandlung 2: Das Kind war als solches erkennbar und ein Rückzug aus dem Raum war möglich. Folglich greift § 32 StGB nicht ein. Auch ein Irrtum ist nicht aufgetreten. Hier ist eine Strafbarkeit wegen vorsätzlichem Totschlags (§ 212 StGB) gegeben.
3.4
Abwandlung 4: Der schießende Beamte handelt aufgrund extremer Angst vor dem erwarteten Angriff. Der erste Schuss hatte den Angreifer bereits erkennbar kampfunfähig gemacht. Wegen der Panik schießt der B noch einmal.
In diesem Fall ist nur der erste Schuss durch Notwehr gerechtfertigt. Für den zweiten Schuss fehlt es bereits an der Notwehrlage. Fraglich ist, ob der sogenannte Notwehrexzess nach § 33 StGB eine entschuldigende Wirkung hat. Die Rechtsprechung unterscheidet zwischen dem intensiven und dem extensiven Notwehrexzess (Fischer 2021, § 33, Rn. 2, 5). Dabei soll nur bei Ersterem der Notwehrexzess Beachtung finden, da nur hier eine Notwehrlage vorliegt und der Verteidiger eine zu intensive, also nicht erforderliche Verteidigungshandlung vornimmt. In obigen Fall ist die Notwehrlage dagegen schon entfallen und der Verteidiger dehnt die Notwehr in zeitlicher Hinsicht zu weit (exzessiv) aus mit der Folge, dass § 33 StGB nicht anwendbar ist (BGH NStZ 2002, S. 141, 2003, S. 599). Der Beamte wäre daher weder gerechtfertigt noch entschuldigt bei der Abgabe des zweiten Schusses. Er hat sowohl einen vorsätzlichen Totschlag als auch eine vorsätzlich gefährliche Körperverletzung (im Amt) begangen. Auf einen anders gelagerten und rechtlich zu bewertenden Sachverhalt („Scheinangriff“ und mehrfache „Abwehr“-Handlungen) gehen wir unten unter Ziff. 4. nochmals gesondert ein.
3.5
Abwandlung 5: Der junge Mann lässt die Hantelstange fallen, um der diesbezüglichen Aufforderung der Beamten nachzukommen. Dies wird irrtümlich von dem Beamten als eine Angriffsbewegung gedeutet und geschossen. Er handelte aus Furcht vor dem
Polizeilicher Schusswaffeneinsatz und Notwehrrecht (§§ 32, 33 StGB)
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erwarteten Angriff des jungen Mannes. Die anderen Beamten sind überrascht, weil diesen der defensive Charakter der Bewegung offensichtlich schien. Es ist offensichtlich die Tötung nicht gerechtfertigt, da es an einer Notwehrlage fehlt – der A hatte nicht mehr angegriffen. Auch ein Notwehrexzess liegt nicht vor, da die Notwehrlage fehlt. Allerdings stellt sich der B vor, dass eine Notwehrlage noch vorläge. Wenn man seine Vorstellung zugrunde legt, er werde gerade angegriffen, läge eine Notwehrlage vor. Damit entfällt eine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Straftaten. Allerdings war der Irrtum vermeidbar, da dies den anderen Beobachtern offensichtlich war. Daraus kann sich eine strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen fahrlässiger Tötung des B (§ 222 StGB) ergeben, wobei § 33 StGB als denkbarer Entschuldigungsgrund („Furcht“) mangels bestandener Notwehrlage erst recht nicht anwendbar ist (BGH NStZ 2002, S. 141).
3.6
Abwandlung 6: Der junge Mann hatte die Hantelstange fallen lassen und wollte sich selbst töten, indem er einen Sprung aus dem 10. Stockwerk ankündigte. Der Beamte verhinderte dies durch einen Schuss auf die Beine mit Verletzungen.
Vorliegend wird eine gefährliche Körperverletzung vorsätzlich verwirklicht. Eine Rechtfertigung durch Notwehr greift nicht ein, weil nach dem Wegwerfen der Hantelstange die Notwehrlage entfällt. Der Sprung aus dem Fenster stellt keinen Angriff dar, da kein Hinweis auf einen Angriff auf den Beamten oder Dritte vorhanden ist. A würde nur seine eigenen Rechtsgüter beeinträchtigen durch einen Sprung. In Betracht kommt eine mutmaßliche Einwilligung. A wäre mutmaßlich mit der Verletzung einverstanden gewesen, um die höhere Gefahr einer tödlichen Verletzung zu verhindern, sofern eine mildere Maßnahme, etwa einfache körperliche Gewalt, nicht ausreichend war (BGHSt 35, 246). Dagegen könnte sprechen, dass er ausdrücklich eine anderslautende Erklärung abgegeben hat, nämlich sein Handeln auf eine Selbsttötung gerichtet war und deshalb kein Raum für eine mutmaßliche Einwilligung bleibt. Problematisch ist zudem, wenn man eine bewusste Entscheidung des A für eine Selbsttötung annehmen wollte. Hierzu hat er ein Recht, da Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben gewährleisten sollen (BVerfG Urteil vom 26.02.2020 – 2 BvR 2347/15). In der vorliegenden Situation ist es aber nicht möglich zu klären, ob der A sich in einem krankhaften Zustand befunden hat, bei dem ihm die Tragweite seiner Entscheidung unklar blieb. Es verbleibt in diesen Fällen bei einer Hilfeleistungspflicht, da die Erklärung des A unbeachtlich ist für den Beamten. Ähnliche Überlegungen stellt man teilweise auch im Rahmen von § 34 StGB an, der aber nach zutreffender Ansicht nur einen Konflikt von Rechtsgütern unterschiedlicher Personen regelt: Richtigerweise darf nicht der individuelle Wille des Betroffenen übergangen werden.
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Als Rechtfertigungsgrund kommt hier noch das Polizeigesetz in Betracht. Die Polizeigesetze sehen aber für den Schusswaffeneinsatz nur enge Grenzen vor, sodass in einem Fall wie dem vorliegenden nicht mit einer Schusswaffe gehandelt werden und nur mildere Formen des unmittelbaren Zwangs ergriffen werden durften (Deger NVwZ 2001, S. 1229). Somit bliebe allenfalls eine mutmaßliche Einwilligung oder die Anwendung von § 34 StGB zur Rechtfertigung. Vorzugswürdig ist nach allen in Betracht kommenden Regeln, andere Maßnahmen als den Einsatz von Schusswaffen zu wählen.
4
er Komplexität „hoch drei“: Scheinangriff, Putativnotwehr, D Überschreitung – was gilt?
Anders als in der obigen Fallabwandlung 4 (siehe unter Ziff. 3.4) ist es für Polizeibeamt*innen nicht sogleich erkennbar, dass der Angreifer mit dem ersten Schuss bereits kampfunfähig gemacht wurde. Ebenso wenig mag ersichtlich sein, ob der Angreifer überhaupt einen Verletzungsgegenstand (Hantel, s. oben) oder gar taugliches Tötungswerkzeug (Schusswaffe) in den Händen hält. Kommt alles zusammen – also nur ein scheinbarer Angriff, eine vorgestellte Notwehrlage und die Überschreitung derselben aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken –, ist das persönliche Strafbarkeitsrisiko immens. Eine solche Situation könnte(!) im Fall des im Abstract erwähnten, nun angeklagten Bochumer Polizisten vorliegen, wenn wir uns die nachfolgenden Berichterstattungen anschauen (und weil die konkreten Sachverhaltsabläufe und Urteilsgründe auf unsere Nachfrage noch bis zum für Frühjahr 2021 anvisierten Strafverfahrens vom Oberlandesgericht Hamm nicht öffentlich gemacht worden sind; zwischenzeitlich hat das Landgericht Bochum den Polizeibeamten freigesprochen) (Abb. 3):
Abb. 3 Online-Beitrag abrufbar unter https://www.express.de/nrw/bochum/notwehr%2D%2Dpolizisterschiesst-rentner%2D%2D-und-wird-wegen-totschlags-angeklagt-37776132?cb=1609331608823
Polizeilicher Schusswaffeneinsatz und Notwehrrecht (§§ 32, 33 StGB)
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Strafrechtliches Problem Nr. 1: Der Angriffsgegenstand entpuppt sich als Revolver- Attrappe. Ein objektiv zu bestimmender Angriff und mithin eine Notwehrlage scheidet für den Beamten aus. Angesichts seiner Vorstellungen über eine echte Schusswaffe billigt ihm die Rechtsprechung aber einen vorsatzausschließenden Irrtum über das Vorliegen des Rechtfertigungsgrundes der Notwehr zu. Dabei müsste der Beamte aber auch nach seiner Vorstellung die Grenzen der Notwehr beachtet haben. Dürfte er dagegen nicht einmal dann so handeln, wie er gehandelt hat, wenn die von ihm vorgestellte Situation vorliegt, kann er sich auf keinen sog. „Erlaubnistatbestandsirrtum“ berufen (vgl. instruktiv Kudlich 2014). Erforderlich waren hier offenbar nur die ersten beiden Schüsse bis zur Kampfunfähigkeit des Angreifers; dies muss auch gelten, soweit es an einer Notwehrlage fehlt. Strafrechtliches Problem Nr. 2: Wie also jetzt mit dem dritten Schuss (rechtlich) umgehen? Wenn nämlich nach dem vermeintlichen Obduktionsergebnis erst dieser Schuss tödlich gewesen sein soll und der Angreifer zuvor schon kampfunfähig gewesen sei, sodass der Beamte danach aus seiner Sicht keine Lebensbedrohung mehr zu fürchten brauchte, kann er sich nicht auf Notwehr berufen, auch wenn die vorgestellte Situation tatsächlich so vorgelegen hätte. Gut gemeinte Überlegungen, dass der Beamte bei Abgabe des dritten Schusses aus Furcht und Verwirrung handelte und er deshalb entschuldigt sein könnte, verfangen nicht. Wie bereits oben gezeigt (s. Ziff. 3.5), setzt die Anwendung von § 33 StGB eine objektiv bestehende Notwehrlage voraus (BGH NStZ 2002, S. 141). Daran fehlt es bei Abgabe des dritten Schusses. Strafrechtliches Problem Nr. 3: Fehlt es also an einem (tatsächlichen) Angriff des Gegenübers und scheidet eine direkte Berücksichtigung von § 33 StGB aus, da es tatsächlich an einer Notwehrlage fehlt, gehen die von der Rechtsprechung und im Schrifttum vertretenen Standpunkte schlussendlich sogar weit auseinander. Nach dem BGH kommt eine Strafbarkeit wegen einer vorsätzlichen Tötung nicht in Betracht, wenn der Beamte sich über das Vorliegen der Notwehrvoraussetzungen geirrt hätte. Das ist dem Beamten hier bei Abgabe der ersten beiden Schüsse zugutezuhalten. Allerdings soll eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung gem. § 222 StGB möglich bleiben (vgl. § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB). Danach müsse geprüft werden, ob der Beamte „trotz seines psychischen Zustandes in der Lage war zu erkennen, dass ihm von dem [scil. anderen] keine Gefahr mehr drohte“ (BGH NStZ 2002, S. 141). Anders als etwa in obiger Fallabwandlung 5 (s. Ziff. 3.5) stehen wohl keine weiteren (Polizei-)Zeugen parat, was die tatsächliche Beurteilung noch schwieriger macht. Es wird also darauf ankommen festzustellen, ob es dem Beamten möglich erschien, die tatsächliche Sachlage einer vermeintlichen Kampfunfähigkeit seines Gegenübers zutreffend einzuschätzen. Mutmaßlich und nur konsequent will das Oberlandesgericht Hamm durch die erzwungene Anklage diesen Umstand gerichtlich(!) aufgeklärt und eben nicht als von der Staatsanwaltschaft übergangen bzw. unbehandelt wissen, ohne hierbei eine obergerichtliche Bewertung für das Verfahren vorzugeben. Das hat nichts mit Misstrauen gegen die Polizei, sondern mit Rechtsstaatlichkeit zu tun!
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Abb. 4 Online-Beitrag abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/politik/stade-polizei-erschossen- gefluechteter-1.4945265
Fazit Die Beurteilung eines polizeilichen Schusswaffengebrauchs unter Notwehrgesichtspunkten (§§ 32, 33 StGB) erfordert stets eine Einzelfallbetrachtung! Verallgemeinerungen und pauschale Einschätzungen der Notwendigkeit von einem, zwei oder mehr Schüssen verbieten sich. Daher wird immer mit medialen Schlagzeilen (wie Abb. 2) zu rechnen sein, die durch die Öffentlichkeit anders und mitunter kontroverser bewertet werden als durch den polizeilichen Betrachter (Abb. 4). Ein (idealerweise interdisziplinär[!] begleitetes) Einsatztraining anhand lebenswirklicher Szenarien versetzt die Polizeibeamt*innen in die Lage, neben dem nur reproduktiven Training gerade das notwendige ‚Was [zu tun ist]-Moment‘ zu üben, und kann ihnen die erhofften Antworten geben. Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Angesichts der nahezu tagesaktuellen Medienberichterstattung über polizeiliche Schusswaffeneinsätze sollten sich Entscheider*innen auf verschiedenen Führungs ebenen innerhalb der polizeilichen Aus- und Fortbildung sowie Praxis zur belebteren Auseinandersetzung mit dieser gefühlt „unerträglichen Strafrechtsthematik“ ermuntert fühlen: • Die Polizeihochschulen sollten die curricularen und modularen Inhalte einer Kombination von Schusswaffeneinsatztraining mit dem Notwehrrecht intensivieren. Die praktischen Ausbildungszentren sollten ihre Trainingsaktivitäten hin zu mehr problemlösenden Übungsformen ausformen, soweit noch nicht geschehen. Polizeiliche Fortbildungen für „ältere Semester“ sollten theoretische und praktische Grundlagen unter Einbeziehung der strafgerichtlichen Rechtsprechung wiederholen und immer wieder erneuern. • In Dienstgruppen und mitunter auch ganzen Dienststellen sollten die zunehmend medial beachteten, polizeilichen Schusswaffeneinsätze gemeinsam besprochen und entsprechende „Lehren“ für die eigene Dienstverrichtung gezogen werden. Ratsam dürfte auch sein, hierbei psychologische und strafrechtswissenschaftli-
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che Expertise begleitend einzusetzen. Jedenfalls aber sollte die Scheu abgelegt werden, derartige Vorfälle aktuell ins Bewusstsein zu rufen und eher progressiv als schweigend den Entwicklungen und auch zunehmenden gesellschaftlichen Diskussionen um mögliche „Polizeigewalt“ entgegenzusteuern. • Und in der Sprache moderner Wirtschaftsunternehmen gesprochen: Wer als Entscheider*in die sorgfältig angestellten, „richtigen“ Einsatzvorgaben erteilt, der verhält sich „compliant“ (engl. für konform) und vermeidet so, selbst in den Straftatverdacht von vorsätzlichen und/oder möglichen fahrlässigen Tötungsund/oder Körperverletzungsverantwortlichkeiten zu geraten. b) Einsatzkräfte Alle Einsatzkräfte sollten sich vom Anbeginn ihres polizeilichen Diensteintritts der Problematik um die strafrechtlich und mithin persönlich drohenden Konsequenzen eines (gerade tödlichen) Schusswaffeneinsatzes bewusst sein. Hierzu gehören das positive Wissen um Vorliegen und Reichweite von strafrechtlichen Rechtfertigungsund Entschuldigungsgründen im Allgemeinen sowie die verfahrensrechtlichen Folgen im Besonderen. Dieses Risiko gehört nun mal zum Berufsverständnis. c) Einsatztrainer*innen Für Einsatztrainer*innen schließlich lohnt sich, die bekannt gewordenen, stets charakteristischen Einzelfälle des polizeilichen Schusswaffengebrauchs für das eigene Lehrfach aufzugreifen und auf diese Weise mit problemorientierten und praxistauglichen Übungsformen aufzuwarten. Sofern im Curriculum vorgesehen, bietet es sich zudem an, Kolleg*innen etwa aus den psychologischen bzw. rechtswissenschaftlichen Lehrfächern (Strafrecht/Polizeirecht) mit einzubeziehen. Diese Interdisziplinarität kommt sicher allen Beteiligten zugute!
Literatur Deger, J. (2001). Waffeneinsatz gegen Selbstmörder? Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), 11, 1229–1232. Erb, V. (2012). Die Rechtsprechung des BGH zur Notwehr seit 2012. Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ), 4, 194–200. Fahl, C. (2020). Der Warnschuss: Zwischen Erforderlichkeit und Gebotenheit. Juristische Arbeitsblätter (JA), 2, 102–105. Fischer, T. (2021). Strafgesetzbuch und Nebengesetze (68. Aufl.). München: C.H.Beck. Hillenkamp, T., & Cornelius, K. (2017). Erweitern strafrechtliche Rechtfertigungsgründe wie Notwehr und Notstand (§§ 32, 34 StGB) hoheitliche Eingriffsbefugnisse des Staates? In T. Hillenkamp & K. Cornelius (Hrsg.), 32 Probleme aus dem Strafrecht Allgemeiner Teil (S. 43–53). München: Franz Vahlen.
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Körner, S., & Staller, M. S. (2020). Training für den Einsatz I: Plädoyer für ein evidenzbasiertes polizeiliches Einsatztraining. Die Polizei, 111(5), 165–173. Kudlich, H. (2014). An den Grenzen der Notwehr. Juristische Arbeitsblätter (JA), 8, 587–591. Staller, M. S., & Körner, S. (2020). Training für den Einsatz II: Plädoyer gegen das Training isolierter Komponenten im polizeilichen Einsatztraining. Die Polizei, 111(6), 223–231.
Teil IV Prakademische Perspektive – Training
Was Einsatztrainer*innen tun: Professionelles Coaching Mario Staller und Swen Koerner
Inhaltsverzeichnis 1 W issensdimension 1: Verstehen des „Wer“ 2 Wissensdomäne 2: Verstehen des „Was“ 3 Wissensdimension 3: Verstehen des „Wie“ 3.1 Funktionale Beziehungen zwischen Einsatztrainer*in und Lerner*in 3.2 Erwartungen und Wahrnehmungen der Lerner*innen 3.3 Gestaltung effektiver Lernumgebungen im Einsatztraining 4 Wissensdimension 4: Verstehen des „Kontextes“ 5 Wissensdimension 5: Verstehen des „Selbst“ 6 Wissensdimension 6: Verstehen des „Prozesses“ Literatur
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Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag beantwortet die Frage danach, was Einsatztrainer*innen im Rahmen ihrer professionellen Praxis tun. In diesem Zusammenhang konzeptionalisieren
Reviewer*innen: Benedikt Heusler, Patrick Schreier M. Staller (*) Fachbereich Polizei, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Koerner Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research, Deutsche Sporthochschule, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_30
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wir Coaching als einen komplexen Prozess, der virtuos unterschiedliche Wissensbereiche miteinander kombiniert, um in der Trainingspraxis auftauchende Probleme zu lösen. Mit dem Professionellen Coaching-Modell stellen wir eine Struktur vor, die in sechs Dimensionen die benötigten Wissensstrukturen einer professionellen Praxis im Einsatztraining aufweist und so Anhaltspunkte für Entwicklung von Einsatztrainer*innen liefert.
Der/die Einsatztrainer*in ist eine zentrale Figur im Gesamtkontext des Einsatztrainings (Staller und Körner 2019; Staller und Zaiser 2015). Sie ist maßgeblich an der Strukturierung und Gestaltung des Lehr-Lern-Settings beteiligt und trägt somit dazu bei, dass angehende und erfahrene Polizist*innen die Fähigkeiten entwickeln und verfeinern, die zur Einsatzbewältigung notwendig sind. Einsatztrainer*innen werden als Trainer*innen, Ausbilder*innen, Fortbilder*innen, Instruktor*innen und Coaches bezeichnet. Die Begrifflichkeiten legen nahe, dass sie andere Personen trainieren, ausbilden, fortbilden, coachen und Inhalte anleiten und instruieren. Die Begriffe werden dabei meist synonym verwendet; sie beschreiben die Tätigkeit des/r Einsatztrainer*in. Was genau allerdings die Tätigkeit dieser Schlüsselrolle umfasst, ist oftmals nebulös. Neben Unklarheiten in Bezug auf die Begrifflichkeiten ist eine klare Konzeption der Tätigkeit von Einsatztrainer*innen wichtig, um diesen Personenkreis selbst systematisch aus- und fortzubilden; also professionell zu entwickeln (Abraham et al. 2010). Es stellt sich daher die Frage: Was ist das, was Einsatztrainer*innen tun? Die englischsprachige Literatur verwendet für das Handeln als Trainer*in (vor allem im sportlichen Kontext) den Begriff des (Sport) Coachings (Cushion und Lyle 2016; Lyle 2018). Wir verwenden bewusst den Begriff des Coachings, um diesen Begriff auch in der deutschsprachigen Diskussion zu stärken; gerade weil das akademische Feld des Handelns als Trainer*in als Sports Coaching bezeichnet wird. Wir verwenden die Begriffe Coaches und Trainer*innen synonym. In Bezug auf die Tätigkeit ist Coaching das, was Trainer*innen und damit auch Einsatztrainer*innen tun. Beim Coaching treffen Einsatztrainer*innen fortlaufende Entscheidungen, die sich auf makrostrategische Ziele, Meso-Planungsziele oder Mikro- Moment-zu-Moment-Ziele beziehen können (Abraham und Collins 2011). Beispiel
Die Einsatztrainerin Selina hat das strategische Ziele, die Zahl der durch körperlichen Einsatz verursachten Verletzungen durch die Polizei zu reduzieren. Um auf dieses Ziel hinzuarbeiten, entwickelt sie einen langfristigen Trainingsplan, um Polizeibeamte in der Selbstverteidigung zu schulen. Auf der Ebene des Tagesgeschäfts leiten diese strategischen und planerischen Ziele die Coaching-Aufgaben und Interaktionen an, um effektive Lernumgebungen zu schaffen. ◄
Was Einsatztrainer*innen tun: Professionelles Coaching
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So gesehen ist Coaching eine komplexe kognitive Aktivität, die die Fähigkeit zur Lösung zahlreicher miteinander verbundener Probleme erfordert. Eine derartige kognitive Fähigkeit erfordert fundiertes Wissen in einer Reihe von verschiedenen Bereichen. Darüber benötigen Trainer*innen die Fähigkeit, dieses Wissen durch Urteilsvermögen und Entscheidungsfindung einzusetzen, um damit Probleme im Trainer*innenalltag zu lösen. Die Konzeptionalisierung von Coaching als schwerpunktmäßig ein Prozess der Beurteilungsund Entscheidungsfindung nimmt auch in der wissenschaftlichen Literatur im Kontext des Sports (Abraham und Collins 2011; Lyle 2002, 2018) und im Bereich des zivilen und behördlichen Konfliktmanagements (Staller et al. 2020; Staller und Körner 2020b; Staller und Zaiser 2015) Fahrt auf. Basierend auf der aus dem Bereich des Sports Coachings stammenden Definition von Abraham et al. (2015) definieren wir Coaching im Einsatztraining wie folgt. cc Coaching im Einsatztraining ist ein zielgerichteter Prozess des professionellen Beurteilens und Entscheidens. Er erfordert die Anwendung von explizitem und implizitem Wissen bei der Entscheidungsfindung in Bezug auf die Festlegung und Erreichung von Lern-, Entwicklungs- und Leistungszielen von Polizist*innen. Dies geschieht unter Aushandlung und Berücksichtigung von Rahmenbedingungen und Anforderungen der Organisation. Die vorgenommenen Urteile und Entscheidungen sind eingebettet in langfristige strategische Ziele, die mit der täglichen Praxis verbunden sind. Das professionelle Beurteilen und Entscheiden ist ein dynamischer sowohl vorwärts- als auch rückwärtsgewandter Regelungsprozess, der kontinuierlich die Lern- und Entwicklungsschritte überwacht und diese entsprechend den gemachten Fortschritten und dem Entstehen neuer Lernziele anpasst. Coaching erfordert eine professionelle Wissens- und Könnensbasis, die das Verstehen, Wahrnehmen, Simulieren, Diagnostizieren, Lösen, Planen, Umgang mit Unsicherheit, Reflexion und Selbstregulation betont. Der Standpunkt dieser Konzeption erkennt an, dass Coaching als Entscheidungsprozess in komplexen, dynamischen und unvorhergesehenen Situationen stattfindet und dass Coaching kontextspezifisch ist (Staller und Körner 2020b; Turner et al. 2012). Was in der einen Situation gut funktioniert, muss nicht effektiv in einer anderen Situation sein (Abraham und Collins 2011; Côté et al. 2007). Ein/e gute/r Train*in im Judo oder im Thai- Boxen muss nicht zwangsweise ein/e gute/r Trainer*in im polizeilichen Einsatztraining sein; ein/e gute/r Trainer*in für SEK-Beamte muss nicht ein/e gute/r Trainer*in für reguläre Polizist*innen im Wach- und Wechseldienst sein. Um Trainer*innen bei ihrer Tätigkeit zu helfen, wurden in der Vergangenheit verschiedene Coaching-Modelle entwickelt und kontinuierlich verfeinert. Für das polizeiliche Einsatztraining wurde 2015 das Wer-Was-Wie-Modell des Coachings (Abraham et al. 2015) adaptiert. Als Coaching-Modell des polizeilichen Einsatztrainings (Staller und Zaiser 2015) stellte es drei unterschiedliche Wissensdimensionen in den Mittelpunkt: Wer, Was und Wie. Basierend auf empirischer Forschung (Staller 2021) und auf weiteren Arbeiten im Sport-Coaching-Kontext (Muir et al. 2015; Till et al. 2019), wurde das Modell in der Folge um drei weitere Wissensdomänen erweitert: das coachende Selbst, der Coaching- Kontext und die eigentliche Coaching-Praxis. Um dem professionellen Anspruch der
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M. Staller und S. Koerner
Coaching-Praxis Ausdruck zu verleihen, wurde das Modell Professionelles Coaching- Modell genannt. Das Professionelle Coaching-Modell des Einsatztrainings stellt dabei mehre Aspekte in den Vordergrund: • Zielgerichtetheit: Der Coaching-Prozess ist zielgerichtet. • Fundierung und Abwägung: Das Verhalten des/r Einsatztrainer*in basiert auf Entscheidungen, welche unter Einbezug und sorgfältiger Abwägung von Informationen der sechs Wissensdomänen getroffen werden. • Unterschiedlichkeit: Die sechs Wissensdomänen unterscheiden sich voneinander und bieten unter Umständen verschiedene Antworten für dasselbe Problem. • Wissenschaft: Die Wissenschaft des Coachings liegt im Wissen und Verstehen der Implikationen der einzelnen Wissensdomänen und deren Verschränkung miteinander. • Kunst: Die Kunst des Coachings liegt im Entwickeln, Verfeinern und Anwenden der Optimalen „Mischung“ aus diesen Wissensdomänen. Das Zentrum des Modells zeigt den sichtbaren Output dieses Entscheidungsprozesses. Aus praktischer Sicht kann der Coaching-Prozess daher als eine Reihe von Entscheidungen betrachtet werden. Diese werden durch ein Ziel initiiert und schließlich gegen dieses Ziel geprüft werden, um die jeweils beste Option für eine bestimmte Trainingssituation zu wählen (Abraham und Collins 2011). Dieser Prozess wird dann endlos wiederholt, um sich an Veränderungen in Situationen und über verschiedene Zeitspannen hinweg anzupassen (d. h. Mikro, Meso, Makro). Um gute Entscheidungen treffen zu können, benötigt der/die Einsatztrainer*in ein fundiertes Verständnis der sechs Wissensdomänen und ihrer gegenseitigen Wechselwirkungen, um Trainingseinheiten systematisch planen, durchführen und reflektieren zu können (Abb. 1).
1
Wissensdimension 1: Verstehen des „Wer“
Die Wissensdimension „Wer“ stellt die Frage nach dem trainierenden und lernenden Individuum. Wer wird trainiert? Was sind dessen Wünsche und Bedürfnisse? Was braucht die Person, um besonders motiviert zu sein; was demotiviert sie? Hintergrund dafür ist, dass das Trainieren und die Entwicklung von Menschen in Lehr- Lern-Settings ein komplexer bio-psycho-sozialer Prozess ist (Bailey et al. 2010; Collins et al. 2012; MacNamara et al. 2011). Im Zentrum steht dabei das Individuum – also der/ die Lerner*in. Ein tiefes Verständnis der Wünsche und Bedürfnisse der Lerner*innen ist daher essenziell, um optimale Lernumgebungen zu gestalten, die herausfordernd, motivierend und relevant sind (Abraham und Collins 2011). Inwieweit eine Person eine bestimmte Situation als herausfordernd und/oder motivierend erlebt oder einen Trainingsinhalt für sich als relevant einordnet, ist von der subjektiven Erlebniswelt der Person abhängig. Insofern die Wünsche und Bedürfnisse der Lerner*innen in Trainingssettings nicht bedient
Was
Verstehen der Lerner
Planung
Re exion
Verstehen von
Deine CoachingPraxis
Die Art und Weise, wie du Lernenden im Lernen und in ihrer Entwicklung durch deine Coaching-Praxis
Re exion
Verwenden von Bio-Psycho-Sozialen Theorien & Konzepten als „Denkwerkzeuge“ ,um Lerner*innen in ihren Wünschen und Bedürfnissen zu verstehen
Abb. 1 Das Professionelle Coaching-Modell (Staller 2021)
die Anforderungen des Feldes, um die Inhalte des Trainingsprogramms zu bestimmen.
Verwendung von Theorien und Konzepten zu Aggression, Gewaltdynamik, Kommunikation und des (nicht-)physischen Kon iktmanagements als
Verstehen der Inhalte
wird trainiert?
Werte & Verhalten
Dein CoachingSelbst
Wer wird trainiert?
Verwendung von Theorien und Konzepten des
Verstehen der Lernumgebung
wird trainiert?
Wie
Verstehen des Kontextes
n
Institution / Organisation / Verband, Gesetzgebung / Regularien, Kultur / Traditionen Lernende / Coaches / Vorgesetzte und andere
Dein CoachingKontext
Was Einsatztrainer*innen tun: Professionelles Coaching 563
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werden, besteht die Gefahr reduzierter Motivation (Honess 2016, 2020) mit den sich daran anschließenden negativen Konsequenzen für das Erlernen von neuen Fertigkeiten (Kanfer 1996). Einfach ausgedrückt: Wer nicht motiviert zum Lernen ist, lernt wenig. Einsatztrainer*innen benötigen dazu Wissensstrukturen, die zum einen (a) auf allgemeiner Ebene Erklärungsansätze über Motivation und Engagement im Training bieten und zum anderen (b) spezifische Wissensbestände über die Lerner*innen in den spezifischen Trainingsprogrammen des polizeilichen Einsatztrainings. Im Zentrum stehen dabei Theorien und Konzepte, die es ermöglichen, die subjektive Erlebniswelt der Lerner*innen zu verstehen und die Lernumgebung so zu gestalten, dass ein motivationsförderndes und positives Lernklima ermöglicht wird. Auf allgemeiner Ebene fallen hierunter beispielsweise Theorien zur Motivation (z. B. Selbstbestimmungstheorie), zu gruppendynamischen Prozessen oder den motivationalen Effekten von trainingspädagogischen Ansätzen; auf spezifischer Ebene sind beispielsweise der sozio-kulturelle Kontext polizeilicher Lern- Lehrsettings oder die individuellen Motivstrukturen von Polizist*innen von Bedeutung. Die Forschung im Bereich des Einsatztrainings liefert für beide Ebenen einige zentrale Befunde in Bezug auf die Wünsche und Bedürfnisse der Lerner*innen. Zum Beispiel wurde der Lerninhalt im Einsatztraining als nicht relevant empfunden, wenn Polizist*innen den Inhalt nicht in ihrer spezifischen Arbeitsumgebung einsetzen konnten (Honess 2016, 2020). Dies wurde auch von Polizeibeamt*innen im Studium bestätigt (Staller et al. 2021). In Bezug auf die unmittelbare Relevanz im Studium wiesen Polizist*innen auf die Bedeutung von Prüfungen hin. Die Motivation zur Beschäftigung mit Inhalten in der Freizeit stieg an, sofern die Inhalte prüfungsrelevant waren (Staller et al. 2021).
2
Wissensdomäne 2: Verstehen des „Was“
Einsatztrainer*innen benötigen Wissensstrukturen in Bezug auf die Inhalte des Einsatztrainings: Was soll gelernt und trainiert werden? Dies bezieht sich auf (a) Theorien und (Handlungs-)Konzepte zu Aggression, Gewalt- und Interaktionsdynamiken, Kommunikation und des (nicht-)physischen Konfliktmanagements und (b) die Anforderungen der Einsatzumgebungen der Lerner*innen. Basierend hierauf – und im Abgleich mit eventuell bestehenden Curricula – kann so der Inhalt des Einsatztrainings erstellt werden. Die Inhalte, die im Einsatztraining vermittelt werden, sind direkt mit dem Verständnis des „Wer“ verbunden. Die Relevanz eines jeden Inhalts sollte angesichts der als stets zu knapp empfundenen Zeit hoch sein (Jager et al. 2013; Renden et al. 2015). Relevant zum einen, als dass der Inhalt das widerspiegelt, was für Leistung im Einsatz erforderlich ist, und zum anderen relevant im Hinblick auf die Motivation, sich mit diesen Inhalten auseinanderzusetzen (Abraham und Collins 2011). Die Vielfalt der polizeilichen Aufgaben erfordert unterschiedliche Anforderungs- und Leistungsmodelle für verschiedene Nutzergruppen. Während also Polizist*innen im Wach- und Wechseldienst den Schwerpunkt auf bürger*innenorientierte Interaktionen zwischen Polizei und Zivilgesellschaft haben, verfolgen Spezialeinheiten oder verdeckte Ermittler*innen wiede-
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rum andere Ansätze in der Interaktion zwischen Polizei und Bürger*innen. Die inhaltliche Ausbildung sollte sich daher an den Anforderungen der Anwendungsumgebung orientieren und nicht an den verschiedenen Alternativen zur Bewältigung dieser Anforderungen (z. B. Schusswaffenausbildung, Selbstverteidigung, verbale Kommunikation). Expertise in Konfliktsituationen ist das Ergebnis individueller informationsbasierter Interaktion zwischen dem/der Lernenden und der Umgebung (Staller und Körner 2020b). Das Umfeld unterscheidet sich jedoch je nach Aufgabe. Die spezifischen Charakteristika des Polizeiauftrags (z. B. bürger*innenorientierte Polizeiarbeit im Streifendienst, Interventionen bei häuslicher Gewalt, taktische Interventionen bei Geiselnahmen) beeinflussen den Grad der Komplexität der Situation. Komplexität umfasst dabei verschiedene Ebenen und Dimensionen (Luhmann 2009). Der Komplexitätsgrad einer Situation hängt von der Art und Anzahl der Einflussvariablen mit sachlicher, zeitlicher und sozialer Relevanz ab (Staller und Körner 2020a). Hier wird deutlich, dass der Polizei- Bürger*innen-Kontakt per se komplex ist und eine Vielzahl an möglichen Handlungsoptionen und Interaktionen ermöglicht. Je komplexer die Situation ist, desto schwieriger wird es, „das“ richtige Handeln zu bestimmen. Auf pädagogischer Ebene bedeutet dies: je komplexer die Situation, desto prinzipienbasierter die Lösung. Für die Praxis des Einsatztrainings bedeutet dies, dass bei der Gestaltung von Lern- und Testumgebungen individuelles und situationsbezogenes „richtiges“ Handeln im Vordergrund stehen sollte (siehe adaptive Expertise im Kap. „Training für den Einsatz: Der Umfang des Einsatztrainings“). Für die gewählten Trainingsinhalte muss auch die für das Training zur Verfügung stehende Zeit betrachtet werden. Als Daumenregel gilt hier, dass, je weniger Trainingszeit zur Verfügung steht, vermittelte Techniken und Taktiken prinzipienbasierter sein sollten.
3
Wissensdimension 3: Verstehen des „Wie“
Die Wissensdimension „Wer“ stellt Fragen in den Mittelpunkt, welche sich auf die Gestaltung der Lernumgebung, also des Trainings beziehen. Welche Trainingsaktivitäten sollen ausgeführt werden und wie sollen diese gestaltet sein? Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es Wissensstrukturen zu trainingspädagogischen Theorien und Konzepten, um so die Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten für die Teilnehmer*innen optimal zu gestalten. Dabei erscheinen drei Aspekte besonders wichtig: (a) die Entwicklung einer funktionalen Beziehung zwischen Einsatztrainer*in und Lerner*in, (b) das Moderieren von Erwartungen und Wahrnehmungen, mit denen Lerner*innen in ein Trainingssetting eintreten, und (c) das Gestalten von effektiven Lernumgebungen für den Erwerb von einsatzrelevanten Fähigkeiten.
3.1
unktionale Beziehungen zwischen Einsatztrainer*in und F Lerner*in
Im Hinblick auf den Aufbau von funktionalen Beziehungen zwischen Lerner*innen und Einsatztrainer*innen gilt es sich so verhalten, dass Lerner*innen wissen, dass sich um sie
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gekümmert wird, dass sie respektiert werden und ihnen vertraut wird (Abraham et al. 2015; Sagar und Jowett 2012). Auf der anderen Seite scheint es für Einsatztrainer*innen wichtig zu sein, vertrauenswürdig, fleißig und sachkundig zu sein, da dies sich positiv auf die Bereitschaft von Menschen auswirkt, diese Person zu respektieren (Langdon 2007). Für Trainer*innen erscheint es daher wichtig, diese Eigenschaften zusammen mit Fürsorge, Gleichberechtigung im Umgang und in Bezug auf gemeinsame Ziele zu zeigen, um qualitativ hochwertige Beziehungen zu den Lerner*innen aufzubauen. Was speziell das Einsatztraining betrifft, so zeigen erste Studien, dass der/die Einsatztrainer*in für Polizeianwärter*innen eine Vorbildfunktion hat und diese einen Umgang auf Augenhöhe sehr schätzen (Staller et al. 2021).
3.2
Erwartungen und Wahrnehmungen der Lerner*innen
Die Gestaltung von Trainingsaktivitäten ist eng verknüpft mit den Erwartungen und Wahrnehmungen, mit denen Lerner*innen am Training teilnehmen. So können Lerner*innen spezifische Annahmen darüber haben, welches Training gerade am besten ist und was sie – subjektiv gesehen – gerade brauchen. So besteht beispielsweise das Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung in der Technikausführung auf der einen Seite im Kontrast zu chaotischeren Übungsformen, welche adaptives Verhalten und Variabilität fördern. Eine aktuelle Studie mit Polizeianwärter*innen im Hinblick auf das Training von Verteidigungshandlungen gegen Messerangriffe zeigte, dass ein nicht-lineares Training (mit vielen chaotischen Elementen) zu mehr adaptivem und situationsangepasstem Verhalten führte, die subjektive Wahrnehmung der Teilnehmer*innen sich davon aber unterschied (Koerner et al. 2020). Die subjektiv wahrgenommene Relevanz von Trainingsaktivitäten ist damit ein wichtiger Aspekt in der Planung und Reflexion von Coaching. In Bezug auf die wahrgenommene Relevanz der Trainingsinhalte zeigte eine Untersuchung aus Australien (Rajakaruna et al. 2017), dass Beamt*innen aus dem Streifendienst sich wünschten, dass mehr verbal-kommunikative und deeskalierende Fähigkeiten in die Polizeiausbildung integriert werden sollten. Darüber hinaus und im Zusammenhang mit dem letzten Aspekt der Gestaltung von effektiven Lernumgebungen berichteten die befragten Polizist*innen von der Notwendigkeit einer realistischeren Ausbildung.
3.3
Gestaltung effektiver Lernumgebungen im Einsatztraining
Trainingsprogramme müssen so gestaltet sein, dass das dort Gelernte und Trainierte in die Praxis transferiert wird – also dort anwendbar ist. Die Auswahl von trainingspädagogischen Strategien muss sich daran messen lassen. In der trainingspädagogischen und sportmotorischen Forschung existiert eine Reihe verschiedener Ansätze, deren situationsspezifische, gut reflektierte Auswahl ein wichtiger Aspekt professionellen Coachings ist (Collins und Collins 2020). Entsprechend bedarf es aufseiten der Trainer*innen an deklarativen Wissensstrukturen über verschiedene Ansätze und deren Wirkungsweise, um diese situa-
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tiv, adaptiv und effektiv einsetzen zu können (Staller et al. 2020). Ein wesentlicher Aspekt dabei scheinen Kenntnisse über die darunterliegenden Lerntheorien zu sein (Olson und Bruner 1996). Hier gilt es nicht, „die eine“ Lehr-Lern-Theorie zu verstehen und umzusetzen, sondern die Vor- und Nachteile verschiedener Theorien zu verstehen und diese situativ begründet in der Praxis anwendbar zu machen.
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Wissensdimension 4: Verstehen des „Kontextes“
Coaching im Einsatztraining ist in hohem Maße kontextabhängig (Staller und Körner 2020b). Der Kontext, in dem Coaches arbeiten, beeinflusst, begrenzt und ermöglicht das, was Coaches tun (Till et al. 2019). Dazu gehören der soziale, kulturelle und politische Kontext des Arbeitsumfeldes. Für das Einsatztraining umfasst dies Ressourcen, logistische und physische Zwänge, Werte der Organisation oder Institution, Gesetze und Vorschriften, akzeptierte Praktiken und Traditionen sowie die Erwartungen anderer (z. B. Nutzer*innengruppen, andere Einsatztrainer*innen, Lernende, Vorgesetzte usw.). Beispielsweise beeinflussen die zugewiesenen Lerner*innen mit ihrer spezifischen Verwendung (z. B. Streifenpolizist*in vs. Kriminaldienst), die vorgegebenen Vorschriften in Bezug auf die zu trainierenden Einsatzfähigkeiten und die dafür zur Verfügung stehenden Ressourcen das, was im Training möglich ist, erheblich. Darüber hinaus beeinflussen die aktuellen Werte der Polizeiorganisation selbst, die amtierende Leitung sowie die unmittelbaren Vorgesetzten den Kontext und die Kultur der täglichen Einsatztrainingspraxis. Beispielsweise kann die derzeit offiziell vermittelte Neigung zu einer robusteren Polizei in Deutschland (Behr 2018, 2019) Entscheidungen über die Lehrinhalte in der Polizeiausbildung beeinflussen. Ein tiefgreifendes Verständnis der Dynamik von Macht- und Dominanzverhältnissen zwischen Lernenden und Trainer*innen und der Einfluss von dominanten Traditionen im Einsatztraining sind eine wichtige Basis zur Überwindung problematischer Coaching-Ansätze. Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Coaching- Philosophie ermöglicht hier Professionalisierungsmöglichkeiten (North 2013). Hinzu kommt ein grundlegendes Verständnis von Theorien zur Sozialisation im Polizeikontext und im Einsatztraining, wie z. B. der Cop-Kultur (Myhill und Bradford 2013) und der Denkweise bezüglich der Durchführung von Polizeiarbeit (Li et al. 2021; McLean et al. 2019; Stoughton 2015). Das Wissen um diese kontextuellen Faktoren bildet die Grundlage für Reflexionen zu den beeinflussenden Faktoren der eigenen Handlungspraxis im Einsatztraining.
5
Wissensdimension 5: Verstehen des „Selbst“
Die Dimension, die sich mit der eigenen Person beschäftigt, nennen wir „Ich“ oder „Selbst“. Sie umfasst die Wissensbestände über das eigene Wissen, die eigenen Überzeugungen, Werte und das eigene Verhalten, welche als wesentlich für eine kontinuierliche persönliche Entwicklung und zur Sicherung der Qualität der eigenen Handlungspraxis angesehen werden (Buchheit 2017).
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Eine Unterteilung kann hier in interpersonelle und intrapersonelle Wissensstrukturen vorgenommen werden. Fähigkeiten und Fähigkeiten sowie Kenntnisse in diesen beiden Bereichen werden regelmäßig hervorgehoben (Abraham und Collins 2015; Gilbert und Baldis 2014). Das interpersonelle Wissen bezieht sich auf Wissensstrukturen, die es dem Coach ermöglichen, angemessen und effektiv mit den Lernenden, Gleichaltrigen, Vorgesetzten und anderen Personen zu kommunizieren (Bowes und Jones 2006). Gerade für das Einsatztraining weisen Ergebnisse darauf hin, dass eine effektive Kommunikation mit Vorgesetzten ein wesentlicher, wenn auch manchmal frustrierender Aspekt des Einsatztrainings ist (unveröffentlichte Daten aus (Körner et al. 2019a, b)). Daher kann sich die Entwicklung dieser zwischenmenschlichen Fähigkeiten als nützlich erweisen, wenn es darum geht, Ideen zu vermitteln, Probleme zu diskutieren oder Veränderungen innerhalb der Organisation auszuhandeln. Das intrapersonale Wissen von Einsatztrainer*innen bezieht sich auf das Selbstverständnis der eigenen Rolle und ermöglicht Introspektion und Reflexion (Côté und Gilbert 2009). Dazu gehören Aspekte wie die eigene Coaching-Philosophie und die eigenen Werte, Selbstreflexion und Selbstkontrolle, lebenslanges Lernen und Selbstregulierung (Till et al. 2019). Gerade die Coaching-Philosophie mit Blick auf die eigene Vision, die Perspektive auf Lerner*innen und die Umwelt wurde in der Arbeit von kontinuierlich erfolgreichen Coaches im Sport als zentraler Aspekt identifiziert (Lara-Bercial und Mallett 2016). Die Coaches hatten einen klaren philosophischen Standpunkt bezüglich ihrer Ziele, Werte und Überzeugungen. Dies vermittelte ihnen einen starken Sinn für Ziele und die Richtung ihres Vorgehens. Ihre Philosophie konzentrierte sich darauf, (a) eine lerner*innen- zentrierte Perspektive einzunehmen, (b) für hohe moralische Werte (z. B. Loyalität, Ehrlichkeit, Respekt) einzutreten und (c) eine Work-Life-Balance für Athlet*innen und Trainer*innen zu erreichen. Im Hinblick auf lebenslanges Lernen wurde das ständige Streben nach Wissen und Selbstverbesserung als wesentliches Merkmal von spezialisierten Trainer*innen im Sport identifiziert (DeMarco und Mccullick 1997; Grant und Dorgo 2014). Inwieweit diese Ergebnisse auch auf das Einsatztraining generalisiert werden können, muss an dieser Stelle noch unbeantwortet bleiben. Aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit des Berufes können diese Ergebnisse als erste Orientierungen dienen. In Bezug auf das Einsatztraining wurde postuliert, dass Selbstreflexion und die Suche nach Wissensquellen für kontinuierliches Lernen wesentliche Merkmale für den Erwerb von Fachkenntnissen im Coaching in der Polizeiausbildung sind (Staller und Zaiser 2015). Untersuchungen zu Merkmalen von Expertise im Einsatztrainingscoaching stehen noch aus.
6
Wissensdimension 6: Verstehen des „Prozesses“
Die fünf zuvor diskutierten Dimensionen (Wer, Was, Wie, Kontext, Selbst) liefern eine Reihe von Konzepten, Prinzipien und Theorien, die die tatsächliche Praxis des Coachings im Einsatztraining bestimmen. Einsatztrainer*innen schöpfen aus den Wissensstrukturen dieser interdependenten Dimensionen, um bei der Planung, Durchführung und Reflexion
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zu Entscheidungen zu gelangen (Abraham und Collins 2011). Ein Schlüsselaspekt bei der Planung ist es zu wissen, was die Lernenden als Ergebnis des Coaching-Prozesses wissen und tun können sollten (Abraham et al. 2015). Die beabsichtigten Lernziele ergeben sich aus der Analyse der Bedürfnisse der Lerner*innen in Bezug auf deren aktuellen Kontext und bilden die Grundlage für lang-, mittel- und kurzfristige Pläne mit spezifischen Ergebnis-, Leistungs- und Prozesszielen. Diese Ziele dienen als Referenzpunkte, von denen aus Einsatztrainer*innen ihre Planung, Durchführung und Reflexion evaluieren und anpassen können. Die Planung als solche bietet eine „vorläufige Landkarte“, der man folgen kann, und klärt Erwartungen, anhand derer die Entwicklung evaluiert werden kann und auf deren Grundlage alternative Coaching-Strategien beschlossen werden können, um den sich ändernden Bedürfnissen der Lerner*innen und/oder kontextuellen Veränderungen (z. B. Ressourcen) Rechnung zu tragen und darauf zu reagieren. Einsatztrainer*innen können nur dann eingreifen, wenn der Handlungsbedarf im Rahmen der lang-, mittel- oder kurzfristigen Planung oder im Rahmen der eigentlichen Ausbildungsaktivität festgestellt wird. Um den Handlungsbedarf zu erkennen, müssen Einsatztrainer*innen ständig auf wichtige Momente oder Störungen achten (Körner und Staller 2019). Eine bewusste und zielgerichtete Planung kann Einsatztrainer*innen helfen, Anomalien aufzudecken, indem klare Erwartungen formuliert werden, mit denen die aktuellen Beobachtungen der Realität verglichen werden können und die andernfalls übersehen werden könnten (Jones et al. 2013). Die Fähigkeit, auf diese Weise zu denken, während sich im Coaching-Prozess Ereignisse ereignen, wird auch als Reflexion in Aktion (reflection-in-action) bezeichnet (Martindale und Collins 2012; Schön 1983). Indem die Erwartungen vor einem Coaching-Ereignis klar formuliert sind, erhöhen sich die Möglichkeiten, in Aktion zu reflektieren und diesen Impuls als Reflexionsanlass nach dem Coaching-Ereignis heranzuziehen (d. h. reflection-on-action). Reflektierende Praxis wird im Allgemeinen als eine kontinuierliche Interaktion zwischen Planung und Durchführung angesehen, durch die die eigenen Erfahrungen gründlicher gewürdigt werden können, was wiederum zu einer professionelleren Praxis führt (Schön 1983). In Bezug auf das Einsatztraining wurde der/die reflektierende Praktiker*in als ein Ziel hervorgehoben, das in der Trainer*innenausbildung anzustreben ist (Körner und Staller 2018). Auf der Grundlage dieser Annahmen über den kontinuierlichen Planungs-, Durchführungs- und Reflexionsprozess von Coaching kann es keine festgelegte und starre Planungsstrategie für Einsatztrainer*innen geben. Eine Planungsstrategie muss vielmehr kontinuierlich, dynamisch und anpassungsfähig sein und den Coach befähigen, auf Veränderungen bei den Lernenden und in der Umgebung zu reagieren (Abraham et al. 2015; Kiely 2012). Um Einsatztrainer*innen bei der Bewältigung dieser komplexen und dynamischen Anforderung zu helfen, eigenen sich Planungs- und Reflexionsstrukturen, welche Trainer*innen helfen, die eigenen Erwartungen zu klären und Verbindungen zwischen den gewünschten Zielen und den damit verbundenen Coaching-Strategien zu fördern. Einen entsprechenden Planungs- und Reflexionsrahmen stellen wir in diesem Handbuch vor. In Bezug auf das polizeiliche Einsatztraining so ist der komplexe und fortlaufende Prozess der Planung, Durchführung und Reflexion als Herzstück des Coachings noch
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nicht vollständig anerkannt. Hintergrund scheinen hier veraltete Konzeptionen von Lernen und Lehren zu sein, welche sich nicht von heute auf morgen ändern lassen (Cushion 2020). Es zeichnen sich jedoch auch international erste Versuche ab, Coaching als einen komplexen und adaptiven Prozess zu begreifen (Nota und Huhta 2019). Fazit Die Konzeptionalisierung von Coaching im Einsatztraining als einen komplexen und adaptiven Prozess löst veraltete Vorstellung von dem, was Einsatztrainer*innen tun, ab. Die dargestellten sechs Wissensdimensionen machen deutlich, dass professionelles Coaching fundierter Wissensstrukturen und Virtuosität im Umgang damit generell sowie in der situativen Anwendung bedarf. Das Professionelle Coaching-Modell im Einsatztraining verdeutlicht das Idealbild des/der Einsatztrainer*in: ein/e reflektierende Praktiker*in, der/die basierend auf miteinander verwobenen Wissensstrukturen situative Lösungen für Pro bleme des Trainingspraxis findet und diese virtuos implementiert.
Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die Praxis
Die vorgenommene Konzeptionalisierung von Coaching im Einsatztraining hat Auswirkungen auf unterschiedliche Ebenen der Polizeiorganisation. Professionelles Handeln als Trainer*in bedarf der Mitwirkung und Unterstützung auf den unterschiedlichsten Ebenen. a) Entscheider*innen Coaching im Einsatztraining ist primär ein pädagogischer Prozess. Damit einher geht die Anerkennung, Förderung und Entwicklung von Denk- und Entscheidungsprozessen in Bezug auf das Coaching. Die Kompetenz zum eigenen Einsatzhandeln ist dabei ein nicht unwichtiger, aber dennoch kleinerer Aspekt im Gesamtbild der benötigten Wissensstrukturen eines/einer Trainer*in. Professionelles Handeln als Einsatztrainer*in benötigt die Strukturen innerhalb der Organisation, um eine Aneignung der im Professionellen Coaching-Modell beschriebenen sechs Wissensdimensionen zu ermöglichen, zu überprüfen und zu erweitern. Diese sind: • Trainer*innenausbildung: Eine fundierte Trainer*innenausbildung stellt die sechs Wissensdimensionen sowie deren Verbindung untereinander in den Mittelpunkt. Trainer*innen werden befähigt, durch Planungs- und Reflexionsprozesse ihr Handeln an den Erfordernissen der einzelnen Trainingssituation auszurichten. • Trainer*innenfortbildung: Trainer*innen müssen Strukturen zur Verfügung stehen, ihr Wissen (und die Anwendung) in den unterschiedlichen Dimensionen zu vertiefen, zu erweitern und auch zu re-evaluieren. Hierbei sollte sichergestellt werden, dass das Bedürfnis von Trainer*innen zur Vertiefung bestimmter Dimensionen mit den benötigten Dimensionen übereinstimmt.
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• Trainer*innensupervision: Der virtuose Umgang mit den Wissensdimensionen und die situative Abwägung von manchmal sich widersprechenden Lösungsmöglichkeiten für eine gegebene Trainingssituation bedürfen kontinuierlicher Reflexion. Supervisionen von Trainer*innen von dafür speziell geschultem Personal (z. B. coach developer, Exper-Trainer*innen etc.) könnten hier hilfreich sein. • Hoch qualifiziertes Aus-, Fortbildungs- und Supervisionspersonal: Sämtliche genannten strukturellen Voraussetzungen in Bezug auf die Trainer*innenbildung bedürfen der Schulung durch hoch qualifiziertes Personal. Derartige Personen bedienen sich wissenschaftlicher Evidenzen, fokussieren auf die im Gesamtblick relevanten Wissensstrukturen und passen diese an die Bedürfnisse der Trainer*innen an. Gerade im Hinblick auf die Zuwendung zu wissenschaftlichen Erkenntnissen und um den kontinuierlichen Transfer in die Polizeiorganisation sicherzustellen, erscheint es zielführend, hier externe coach developer oder entsprechendes Personal (z. B. Expert-Trainer*innen) regelmäßig extern fortzubilden und einzusetzen. Professionelles Trainer*innenhandeln ist adaptiv und nimmt die situativen Gegebenheiten (z. B. Kontext und Lerner*innen) ernst. Das heißt, kein Trainingsprozess gleicht dem anderen. Eine Standardisierung von Trainingsprozessen im Sinne von Vorgaben, was auf welche Art trainiert werden soll, erscheint hier nicht sinnvoll. Vielmehr sind die Einsatztrainer*innen zu befähigen, reflektiert mit den Anforderungen der aktuellen Trainingssituationen umzugehen und für die vorgegebenen Ziele individuell auf die Lernenden zugeschnittene Lösungsstrategien zu entwickeln. b) Einsatzkräfte Einsatzkräfte sind von der dargestellten Konzeptionalisierung von Coaching nicht direkt betroffen. Dennoch können Polizist*innen professionelles Einsatztrainer*innenhandeln unterstützen. Da Coaching ein primär pädagogischer Prozess ist, sollten hierauf auch die Erwartungen der Lerner*innen fokussieren. Einsatztrainer*innen müssen nicht zwingend selbst professionelle Einsatzkräfte sein – ihre Expertise liegt im Gestalten von Lernumgebungen, welche das Entwickeln von Einsatzexpertise ermöglichen. c) Einsatztrainer*innen Das Professionelle Coaching-Modell bietet Einsatztrainer*innen einen Orien tierungsrahmen für (a) die eigene Fort- und Weiterbildung und (b) die Handlungspraxis vor Ort. In Bezug auf die eigene Weiterbildung ermöglicht das selbst-
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reflektierte Identifizieren von Optimierungspotenzial in Bezug auf Wissensstrukturen eine systematische Weiterentwicklung als Trainer*in. In Bezug auf das Coaching-Handeln ermöglicht das Modell einen allgemeinen Überblick über die relevanten Wissensbereiche, welche bei der Beurteilung und Entscheidung von Coaching-Ereignissen Einfluss auf das Ergebnis haben. Folgende Fragen bezogen auf die einzelnen Wissensbereiche könnten hier sinnvoll sein: Bezogen auf die Wissensdimensionen heißt das: • Was weiß ich über meine Teilnehmer*innen? Welche bio-psycho-sozialen Theorien kenne ich, die wichtig für ein Verständnis der Teilnehmer*innen sind? Wie kann ich diese Theorien und Konzepte nutzen, um meine Coaching-Praxis zu verbessern? (Wer-Dimension) • Welche Möglichkeiten der Gestaltung von Lernaktivitäten kenne ich und welche Lerntheorien liegen darunter? Wie kann ich diese in welchen Situationen sinnvoll einsetzen, sodass nachhaltiges Lernen wahrscheinlich wird und die Leistung auch im Einsatzfall abrufbar ist? • Welche Möglichkeiten und Prinzipien der Konfliktlösung und der Einsatzgestaltung kenne ich? Bin ich ausreichend kompetent darin? Kenne ich die Inhalte und Begründungsstrukturen des Curriculums und stimmen diese mit den Anforderungen der Einsatzrealität überein? • Welche Werte, Einstellungen und Überzeugungen in Bezug auf das Coaching im Einsatztraining habe ich? Welche Bilder von Menschen, Lerner*innen, Polizist*innen und Bürger*innen habe ich? Welchen Verzerrungen unterliegt mein Denken hin und wieder? Welche blinden Flecken in meiner Perspektive habe ich möglicherweise übersehen? • Kenne ich den Arbeitskontext meiner Teilnehmer*innen? Wie genau weiß ich über die Rahmenbedingungen und Probleme im Einsatz meiner Lerner*innen Bescheid? Welche Gestaltungsmöglichkeiten für meinen Arbeitskontext kenne ich? Wie kann ich diesen mitgestalten und für mein Training nutzbar machen? • Wie strukturiert bin ich in meinen Planungen und Reflexionen bezüglich meiner Trainingseinheiten und der Einbettung in das große Ganze. An welchen Stellen reagiere ich flexibel, intuitiv und on-the-spot, an welchen Stellen plane und reflektiere ich analytisch? Nach welcher Struktur führe ich meine Planungen und Reflexionen durch?
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Was Einsatztrainer*innen tun: Professionelles Coaching
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Einsatztraining systematisch planen und reflektieren Mario Staller und Swen Koerner
Inhaltsverzeichnis 1 D er Forschungsstand zum Planen und Reflektieren im Einsatztraining 2 Die Planungs- und Reflexionsstruktur Einsatztraining (PR-ET) 2.1 Lernziele der Trainingseinheit 2.2 Lernaktivität 2.3 Verhalten als Einsatztrainer*in 2.4 Engagement der Lernenden 2.5 Gesundheit und Sicherheit Literatur
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Zusammenfassung
Das Handeln als Einsatztrainer*in ist ein komplexer Prozess, der von einer hohen Situativität geprägt ist. Um Einsatztrainer*innen bei ihrer täglichen Praxis zu unterstützen, legen wir im vorliegenden Beitrag eine Planungs- und Reflexionsstruktur vor, welche Reviewer*innen: Rüdiger Koch M. Staller (*) Fachbereich Polizei, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Koerner Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research, Deutsche Sporthochschule, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_31
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Trainer*innen als Denkhilfe für ihre Coaching-Tätigkeit nutzen können. Die Planungsund Reflexionsstruktur Einsatztraining (PR-ET) umfasst dabei fünf relevante Elemente sowie deren Einbettung in die kurz-, mittel- und langfristige Planung des Einsatztrainings. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Interdependenzen der einzelnen Elemente. Planungs- und Reflexionsfragen ermöglichen Einsatztrainer*innen, sich systematisch mit der eigenen Planung des Trainings auseinanderzusetzen und den Reflexionsprozess strukturiert zu gestalten.
Coaching im Einsatztraining ist ein kontinuierlicher Planungs-, Umsetzungs- und Reflexionsprozess. Um diese Aufgabe zu bewältigen, erweist es sich als nützlich für die Einsatztrainer*innen, in ihrer Planungsstrategie dynamisch und fortlaufend anpassungsfähig zu sein. Dies ermöglicht es, auf Veränderungen bei den Lernenden und in der Lernumgebung (Abraham et al. 2015; Kiely 2012; Staller et al. 2021a; Till et al. 2019) sowie auf entstehende Interventionsmöglichkeiten (Körner und Staller 2019) zu reagieren. Für das Coaching im polizeilichen Einsatztraining hat sich der komplexe und fortlaufende Prozess der Planung, Durchführung und Reflexion als Herzstück des Coachings noch nicht vollständig durchgesetzt, was sich in der aktuellen Handlungspraxis vielerorts zeigt. Es zeichnen sich jedoch erste Versuche ab, (a) Coaching als einen komplexen, anpassungsfähigen Prozess zu begreifen (Körner und Staller 2018; Nota und Huhta 2019) und (b) Modelle, Planungsund Reflexionsstrukturen zu liefern, die Trainer*innen in ihrer täglichen Handlungspraxis unterstützen. Der vorliegende Beitrag stellt eine dieser Planungs- und Reflexionsstrukturen dar. Wir erachten es hier als wichtig darauf hinzuweisen, dass es sich um eine Planungs- und Reflexionsstruktur im Kontext des polizeilichen Einsatztrainings handelt. Unterschiedliche Voraussetzungen der Coaching-Praxis (verschiedene Zielgruppen, zur Verfügung stehende Ressourcen etc.) weisen darauf hin, dass die Spezifika der eigenen Coaching-Praxis von essenzieller Bedeutung sind (Staller und Körner 2020). Dies schließt eine Anpassung des vorgestellten Planungs- und Reflexionsrahmens ein. Bevor wir das Planungs- und Reflexionswerkzeug genauer vorstellen und in seinen Details beschreiben, widmen wir uns zunächst dem Forschungsstand in Bezug auf die Planung und Reflexion zum Einsatztraining, um hier nochmals den Bedarf entsprechender Denkstrukturen zu untermauern.
1
er Forschungsstand zum Planen und Reflektieren D im Einsatztraining
Der Forschungsstand darüber, wie Trainer*innen das polizeiliche Einsatztraining planen, durchführen und reflektieren, ist limitiert. Zum aktuellen Zeitpunkt sind uns zwei Fallstudien bekannt, die sich der aktuellen Trainingspraxis des Einsatztrainings widmeten und
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hier die dazugehörigen Planungs- und Reflexionsstrukturen der handelnden Trainer*innen offenlegten (Cushion 2020; Staller et al. 2021a). Zum einen gibt uns das die ersten inhaltlichen Anhaltspunkte, wie Einsatztrainer*innen planen und reflektieren; zum anderen dokumentiert sich hier klar der Bedarf nach weiterer Forschung – insbesondere in Bezug die Generalisierung der Beobachtungen. Cushion (2020) konzentrierte sich in seiner Fallstudie auf das officer safety training in einer Polizeidienststelle im Vereinigten Königreich. Die Arbeit kommt zu dem Ergebnis, dass Einsatztrainer*innen nur begrenzte Zeit in Diskussionen über die Planung und Durchführung von Trainingsstunden investierten und keine expliziten Erfolgskriterien für die Durchführung des Trainings, wie z. B. Ergebnis-, Leistungs- oder Prozessziele, berücksichtigten. Cushion (2020) kommt zu dem Schluss, dass „die Ausbildung in einer sich selbst bestätigenden ‚Schleife‘ verlief“ (S. 7; aus dem Englischen übersetzt), in denen sich traditionelle Ausbildungsansätze manifestieren, die aus einer großen Menge lehrer*innenzentrierter Praktiken bestehen und die auf die isolierte Entwicklung von Fähigkeiten abzielen. Eine Reflexion in Bezug auf alternative Ansätze und abgewogene Planungsentscheidungen unter den Spezifika der Trainingssituation im Abgleich mit verschiedenen Ansätzen war nicht ersichtlich. Dieser Mangel an Selbstreflexion wurde kürzlich als eine der Hauptbarrieren in Bezug auf eine Optimierung der Praxis des Einsatztrainings bezeichnet (Staller et al. 2019). In einer weiteren Fallstudie im Einsatztraining in Deutschland (Staller et al. 2021a, b) wurden Einsatztrainer*innen im Vorfeld des Trainings und unmittelbar danach in Bezug auf ihre Planungen und Reflexionen befragt. Die Ergebnisse deuten dabei darauf hin, dass Einsatztrainer*innen zwei Hauptstrategien anwenden, um mit ihren Lerner*innen die Ziele des Trainings zu erreichen. Erstens konzentrieren sie sich darauf, dass die Lernerfahrung Spaß macht, und zweitens weisen sie auf die Relevanz der zu erlernenden Fertigkeiten hin. Dies geschieht dadurch, indem sie den Bedarf dafür kreieren, Inhalte zu lernen, Fehler aufzeigen und sich anschließend darauf konzentrieren, die benötigten Fertigkeiten in isolierten Kontexten zu entwickeln. Die Daten deuteten jedoch darauf hin, dass Einsatztrainer*innen im Allgemeinen nicht ausreichend in der Lage waren, die Ziele der Trainingsstunden festzulegen und die Durchführung des Trainings danach kohärent und effektiv zu gestalten. Darüber hinaus wurde die Durchführung des Trainings kaum reflektiert. Damit weisen die Ergebnisse dieser Studie auf einen Bedarf an beruflicher Weiterbildung für Einsatztrainer*innen in den Bereichen Planung und Reflexion hin. Die im Folgenden vorgestellte Planungs- und Reflexionsstruktur könnte hier helfen, Planungen und Reflexionen in Bezug auf das Einsatztraining systematisch zu gestalten. Zum einen könnten damit Trainingsaktivitäten in Abhängigkeit der vorliegenden Spezifika kohärent an den kurz-, mittel- und langfristigen Trainingszielen ausgerichtet werden. Zum andern würde sich damit auch eine systematische Weiterbildungsmöglichkeit im Rahmen der täglichen Praxis als Einsatztrainer*in eröffnen, wenn durchgeführte Trainings systematisch reflektiert und diskutiert (z. B. unter Kolleg*innen) werden (Staller und Zaiser 2015b).
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Die Planungs- und Reflexionsstruktur Einsatztraining (PR-ET)
Praktikable Werkzeuge, um Trainer*innen bei ihrer täglichen Praxis zu unterstützen, sind ein wichtiger Baustein, um den vielfältigen Planungs- und Reflexionsanforderungen gerecht zu werden. Trainer*innen müssen ihre Trainings so gestalten, dass die Lernziele sich optimal in den langfristigen Trainings- oder Lehrplan einfügen. Lernaktivitäten müssen so gestaltet werden, dass sie zum einen für viel Engagement bei den Teilnehmer*innen sorgen, aber auch die intendierte Fertigkeitsentwicklung vorantreiben. Gerade im Bereich des polizeilichen Einsatztrainings müssen hier auch Sicherheitsaspekte der Teilnehmer*innen in Betracht gezogen und entsprechend abgewogen werden (Staller et al. 2017). Schließlich stellt sich auch die Frage nach dem Verhalten des/r Trainer*in: Durch welches Verhalten kann die Motivation der Lerner*innen und damit hoffentlich das Engagement optimal gefördert werden? Durch welche Verhaltensweisen werden Verletzungen vorgebeugt? Welche Verhaltensweisen als Trainer*in erhöhen das Verletzungsrisiko? Hier wird deutlich, dass die Planungsfragen, die sich Einsatztrainer*innen stellen, miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen. Gleiches gilt für die Reflexion im Anschluss: Unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten für denselben beobachteten Aspekt sind möglich. Gerade hier lassen sich alleine, aber auch in Diskussion mit anderen Kolleg*innen wertvolle Wissensgewinne erzielen und die eigene Expertiseentwicklung vorantreiben (Fadde und Klein 2010; Staller und Körner 2020; Staller und Zaiser 2015b; Turner et al. 2012). Um Trainer*innen bei ihren Planungen und Reflexionen zu unterstützen, entwickelten Muir et al. für den Sportbereich das Coaching Practice Planning and Reflective Framework (Muir et al. 2011; Till et al. 2019). Die Idee dahinter ist simpel: Wichtige Planungsund Reflexionsaspekte einer Trainingseinheit werden systematisiert und ihre Verbindungen und Auswirkungen aufeinander in den Mittelpunkt gerückt. Leitfragen dienen dann der/dem Trainer*in dazu, sich systematisiert mit den Planungsentscheidungen der vorliegenden Trainingseinheit auseinanderzusetzen. Damit ist das Tool eine Art Denkhilfe, die es Trainer*innen ermöglicht, ihre spezifischen Erwartungen an das Training zu klären und Verbindungen zwischen den gewünschten Zielen und Coaching-Strategien transparent zu machen. Darüber hinaus werden Trainer*innen ermutigt zu überlegen, wie jede Coaching- Interaktion in die lang-, mittel- und kurzfristigen Ziele der Entwicklung der Lernenden eingebettet ist. Die Koordination zwischen den einzelnen Trainingseinheiten über einen bestimmten Zeitraum hinweg, um die Lerner*innen in Richtung der intendierten, übergreifenden Lernziele voranzubringen, ist dabei essenziell. Nur dann kann ein Trainingsprogramm als konstruktiv ausgerichtet bezeichnet werden (Biggs 1996). Das Coaching Practice Planning and Reflective Framework wurde initial für Trainer*innen im Sport entwickelt und wird seither in verschiedenen Sportarten sowie in der Trainer*innenentwicklung (u. a. Trainer*innenaus- und -fortbildung) eingesetzt (Muir et al. 2015; Till et al. 2019). Im Vergleich zum Sport beinhaltet das Coaching im Einsatztraining noch einen weiteren Aspekt, der in dieser Ausprägung im Sport nicht in gleicher
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Weise zum Tragen kommt: den Gesundheits- und Sicherheitsaspekt der am Training beteiligten Personen. Das Trainieren von körperlichen Konfliktsituationen, teilweise auch mit Schusswaffen, bedarf Trainingssimulationen, die auf der einen Seite so nah an der Realität sind wie möglich (ergo: repräsentativ gestaltet sind); auf der anderen Seite darf und sollte sich niemand verletzten (Körner und Staller 2018; Staller et al. 2017). Entsprechend ist der Aspekt der Gesundheit und Sicherheit ein weiterer Planungs- und Reflexionsaspekt im polizeilichen Einsatztraining. Die Planungs- und Reflexionsstruktur Einsatztraining (PR-ET) beinhaltet diesen Aspekt (siehe Abb. 1). Des Weiteren – und in Abgrenzung zum Coaching Practice Planning and Reflective Framework – beinhaltet die PR-ET spezifische, auf das Einsatztraining zugeschnittene Planungs- und Reflexionsfragen. Die PR-ET ermöglicht somit Einsatztrainer*innen eine systematische Planung bevorstehender Trainingsstunden und deren anschließender Reflexion. Im Folgenden stellen wir die einzelnen Planungs- und Reflexionskomponenten des PR-ET mit den dazugehörigen Leitfragen vor. Im Mittelpunkt des Planungs- und Planungs- und Re exionsrahmen: Training/Coaching
Verhalten als Coach
Engagement der Lernenden
Gesundheit & Sicherheit
Lernziele der Trainingseinheit
1
2
3
4
5
6
7
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9
Hypothetische Anzahl an Trainingseinheiten, die benötigt werden, um das Lernziel zu erreichen
Lernergebnis(se)
Abb. 1 Die Planungs- und Reflexionsstruktur Einsatztraining (PR-ET)
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eflexionsprozesses sollten dabei besonders die Verbindungen und die wechselseitigen R Beziehungen der einzelnen Elemente und die Ausrichtung an den Lernzielen stehen. Die Planungs- und Reflexionsfragen der einzelnen Elemente stellen wir dabei in der Vergangenheit (als Reflexionsfrage), z. B. Was waren deine Trainingsziele? Als Planungsfrage ist diese im Präsens zu stellen: Was sind deine Trainingsziele? Aus Gründen der besseren Lesbarkeit haben wir uns entschieden, die Fragen hier nur als Reflexionsfragen anzuführen. Das Umstellen in den anderen Tempus überantworten wir unseren Leser*innen.
2.1
Lernziele der Trainingseinheit
Unter Lernziele fallen sämtliche Planungen und Reflexionen, die die konkrete Trainingsstunde in „das große Ganze“ der Trainingsplanung einordnen. Es geht also um die Verbindung zwischen lang-, mittel-, und kurzfristigen Zielen und der beobachteten Trainingseinheit. Die lang-, mittel- und kurzfristigen Lernziele sollten dabei konstruktiv miteinander in Verbindung stehen (sog. constructive alignment, (Biggs 1996)) Von besonderer Bedeutung dabei sind dabei Abwägungsprozesse zwischen • einzelnen Personen und der Gruppe, • verschiedenen teilweise konkurrierenden Lernzielen und • die Einbettung in die Periodisierung des Trainings. Planungs- und Reflexionsfragen zu den Lernzielen
• Was waren deine Ziele für die Trainingseinheit? Wenn es mehr als eines gab: Hatte ein Ziel Priorität? • Woher kamen die Trainingsziele? Was war die Grundlage dafür? Was wolltest du lang-, mittel- und kurzfristig erreichen? • Welchen Bedürfnissen wolltest du nachkommen? Wie hast du die Bedürfnisse zwischen den einzelnen Trainierenden und der ganzen Gruppe ausbalanciert? • Inwieweit baut die Trainingseinheit auf vorige Einheiten auf und wie bereitet die Einheit deine Lerner*innen (einzeln/als Gruppe) auf Zukünftiges vor?
2.2
Lernaktivität
Der Planungs- und Reflexionsaspekt „Lernaktivität“ umfasst die Auswahl, die Struktur und die Gestaltung der Lernaktivitäten. Dies umfasst Simulationen, Übungsformen, Drills, Aufgaben und sonstige Tätigkeiten, welche seitens der Lerner*innen ausgeführt werden. Für das Einsatztraining geben die zwei erwähnten Fallstudien eine Übersicht über typische Trainingsaktivitäten (Cushion 2020; Staller et al. 2022). Von besonderer Bedeutung sind hierbei Abwägungsprozesse zur
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• Ausgestaltung der Lernaktivität, • der Einbettung in die Stundenstruktur sowie die Lernzielplanung (lang-, mittel- und kurzfristige Ziele) sowie • zur Repräsentativität.
Planungs- und Reflexionsfragen zur Lernaktivität (Abraham und Collins 2011; Staller et al. 2017; Staller und Zaiser 2015a)
• Wie waren die einzelnen Lernaktivitäten strukturiert, sodass jede/r Lernende Fortschritte in Richtung des Stundenziels machen konnte? • Wie würdest du die einzelnen Lernaktivitäten in Bezug auf die folgenden Kontinuen bewerten? –– Lerner*innen-geleitetes Lernen – versus – Trainer*innen-geleitetes Lehren –– problem-basiert – versus – Abschauen und Nachmachen –– wenig herausfordernd – versus – sehr herausfordernd –– wenige Entscheidungen – versus – viele Entscheidungen • Wie war die Struktur der Trainingseinheit? –– Stehen die einzelnen Lernaktivitäten miteinander und in Bezug auf das Stundenziel in Verbindung? Wenn ja, wie? –– Was ist dir in der Trainingseinheit aufgefallen in Bezug auf • den generellen Flow (Kontinuität)? • den Rhythmus (Start – Stopp) der einzelnen Trainingsaktivitäten? • die Intensität der einzelnen Trainingsaktivitäten? • Stellt die Übungsaufgabe ähnliche Anforderungen an den/die Lerner*in wie der Einsatz? (Funktionalität der Aufgabe) –– In Bezug auf die zu bewältigende Aufgabe? –– In Bezug auf grundlegende Charakteristika der Situation? –– In Bezug auf die mögliche Verfassung und Ausgangslage des/r Lerner*in? • Inwieweit darf der/die Lerner*in dieselben Handlungen ausführen wie im Einsatz? (Handlungstreue der Aufgabe) –– Entscheidungsfreiheit in Bezug auf Art und Weise der Aufgabenbewältigung? –– Variabilität in Bezug auf die Ausführung der einzelnen Handlungen? –– In Bezug auf die „Inneren Prozesse“ des/r Lerner*in (Wahrnehmungs-Hand lungs-Kopplung; Regulation von Aufregung etc.)? –– In Bezug auf die körperliche Ausführung?
2.3
Verhalten als Einsatztrainer*in
Das Verhalten als Einsatztrainer*in hat direkte Auswirkungen auf die Effektivität des Trainings. Hierunter fallen sowohl passive Verhaltensweisen („Man kann nicht nicht kommu-
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M. Staller und S. Koerner
nizieren!“ (Watzlawik et al. 2000) als auch aktive Interaktionen im Kontext des Trainings. Entsprechend gilt es, als professioneller Coach das eigene Verhalten anhand der folgenden Aspekte zu planen, zu reflektieren und abzuwägen: • Gestaltung von Instruktionen und Feedback • Umfang, Intensität und Gestaltung von Lob und Kritik • Respekt und Anerkennung (z. B. Ehrlichkeit, Transparenz, Lerner*in im Mittelpunkt)
Planungs- und Reflexionsfragen zum eigenen Verhalten als Einsatztrainer*in
• Wie hast du dich vor/während/nach den einzelnen Trainingsaktivitäten verhalten, um die Lerner*innen beim Erreichen der einzelnen Aufgabenziele und des Stundenziels zu unterstützen? • Denkst du, dass deine Verhaltensweisen dazu beigetragen haben, dass der/die Lerner*in mehr versteht? Wenn ja, wie? • Wie war die Balance zwischen „Probleme geben“ (du gibst den Lerner*innen ein Problem – und diese lösen es) im Vergleich zu „Problem lösen“ (du löst das Problem für die Lerner*innen durch Vormachen, Instruktion, Feedback)? • Wie war die Balance zwischen externalem („Triff die Pratze!“) und internalem Fokus („Versuche deinen Arm gerade ins Ziel zu bringen!“) bei deinen Instruktionen? Was waren die Gründe hierfür? • Welche Maßstäbe hast du für deine Rückmeldungen angesetzt und wie hast du diese durchgeführt? –– Inwieweit war eine technisch-taktische Ideallösung wichtig? –– Wie war deine Abwägung zwischen Punkt- und Bandbreitenfeedback? Punktfeedback umfasst die Korrektur von Handlungen jenseits eines bestimmten Punktes (z. B. Ideallösung). Bandbreitenfeedback umfasst lediglich die Korrekturen jenseits eines vorher bestimmten Korridors an Handlungen (Agethen und Krause 2016). –– Was waren die Bewertungskriterien im Rahmen des Bandbreitenfeedbacks? • Während deiner einzelnen Interaktionen mit einzelnen Lerner*innen, der Teilgruppe oder der ganzen Gruppe: Was ist dir aufgefallen in Bezug auf –– Balance und Mischung deiner Verhaltensweisen wie beispielsweise Fragen, Feedback, Demonstration, Instruktion, Anfeuern/Antreiben, Lob, Humor? –– das, was du getan hast/was die anderen getan haben/was andere Lerner*innen, die nicht Teil der Interaktion waren, getan haben? • Inwieweit, glaubst du, haben deine Verhaltensweisen dazu beitragen, den Respekt deiner Lerner*innen zu verdienen wie beispielsweise durch Ehrlichkeit, Transparenz, Autorität, Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft (Langdon 2007)? –– Wo hast du Respekt deiner Teilnehmer*innen gewonnen? Warum? –– Wo hast du Respekt deiner Teilnehmer*innen eingebüßt? Warum?
Einsatztraining systematisch planen und reflektieren
2.4
585
Engagement der Lernenden
Das Engagement der Lernenden, sich aktiv mit den Lerninhalten auseinanderzusetzen, ist ein wichtiger Indikator für die Effektivität von Lernprozessen und damit ein zentraler Aspekt der Planung und Reflexion des/r Einsatztrainer*in. Durch Auswahl und Strukturierung von Trainingsaktivitäten sowie durch die Interaktionen mit den Lernenden kann der/die Coach*in Einfluss auf die Motivation und damit auch das Engagement der Lernenden nehmen. In der Planung und Reflexion von Training sind hierbei die folgenden Aspekte von Interesse: • Aktive Lernzeit von Lernenden, • Planung und Reflexion der Lernenden in Bezug auf die zu bewältigende Aufgabe und • die Motivation der Lernenden.
Planungs- und Reflexionsfragen zum Engagement der Lernenden
• Inwieweit trug das Engagement der Lernenden dazu bei (vor/während/nach jeder Trainingsaktivität), dass diese Fortschritte in Richtung des Stundenziels machten? • Wie viel Trainingszeit verbrachten die Teilnehmer*innen mit Aktivitäten, welche für die Lernzielerreichung förderlich waren (sog. time-on-task, Cushion 2020): Was denkst du, wie viel Zeit haben deine Lerner*innen mit folgenden Aktivitäten verbracht? –– Körperliche Aktivitäten –– Reden/Zuhören –– Denken, Planen, Reflektieren –– Abgelenkt oder beschäftigt mit anderen Aktivitäten (off task) • Inwieweit hatten die Teilnehmer*innen Gelegenheit zur Übung? Was fiel dir auf in Bezug auf Gelegenheiten des/der Lerner*in, zu denken, zu diskutieren, sich mit anderen auszutauschen und besser zu werden? • Wenn du über das Engagement der Lerner*innen nachdenkst: Wie werden die Lerner*innen deine Trainingseinheit auf den nachfolgenden Skalen (1-2-3-4-5-) bewerten: –– Herausfordernd – versus – Leicht –– Spaß – versus – Langweilig –– Relevant für eigene Bedürfnisse – versus – Relevanter für andere • Wann und wie wurde Feedback für die Lerner*innen generiert? Wie spezifisch war es? Gab das Feedback Rückmeldung über Erreichtes und den Fortschritt des/r Lerner*in? Unterstützt das Feedback weiteres Lernen und weiteres Engagement? Wie wird das Verständnis des/r Lerner*in zum Feedback bewertet und exploriert? • An wie viele Dinge sollten die Lerner*innen denken? • Wie oft sollten Lerner*innen reflektieren?
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• Mussten die Lerner*innen Strategien und Taktiken planen? Mussten sie über Strategien und Taktiken reflektieren? • Wie hoch war die Qualität der Reflexion der Lerner*innen? Woran hast du das gemessen? • Wie oft mussten Lerner*innen ihre Reflexion in die Praxis überführen? • Wie oft mussten die Lerner*innen deine Denkprozesse in die Praxis überführen?
2.5
Gesundheit und Sicherheit
Gesundheits- und Sicherheitsaspekte sind gerade mit Blick auf den Bereich des körperlichen Konflikttrainings (auch unter Einsatz von Trainingswaffen) von enormer Bedeutung (Farkash et al. 2017; Schwering et al. 2019). Unter Gesundheit und Sicherheit fallen Planungen und Reflexionen des/der Coach*in, welche das Auftreten von Verletzungen und Überbelastungen reduzieren beziehungsweise verhindern. Insbesondere in der Abwägung zum Aspekt der Lernaktivität mit Blick auf die repräsentative Gestaltung von Lernaufgaben (Handlungstreue und Funktionalität) entsteht nicht selten ein Spannungsverhältnis, welches es durch informierte Abwägungsprozesse zu lösen gilt. Auch innerhalb des Gesundheits- und Sicherheitsaspektes sind konkurrierende Aspekte abzuwägen. Diese betreffen • • • •
die Simulationsregeln, die Belastungsdynamik, das eingesetzte Material und Equipment sowie die Kompetenz der Lerner*innen.
Planungs- und Reflexionsfragen zur Gesundheit und Sicherheit
• Welche Teilnehmer*innen können wie belastet werden? –– Wie sind die physischen Voraussetzungen der Lerner*innen (Kraft/Koordination)? –– Welche potenziellen (Vor-)Verletzungen haben Lerner*innen? • Welche Schutzausrüstung kommt zum Einsatz? –– Ist die Schutzausrüstung passend zur Trainingsform? Wie verhält sich hierbei das Spannungsverhältnis von Repräsentativität und Gesundheit/Sicherheit? –– Inwieweit sind Lerner*innen in der Lage, den Umfang des Schutzes der Ausrüstung richtig einzuschätzen? • Welche Waffen werden eingesetzt? –– Inwieweit werden Waffen im Training eingesetzt? Welche Eigenschaften haben diese?
Einsatztraining systematisch planen und reflektieren
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–– Ist der Einsatz der Waffe passend zur Trainingsform? Wie verhält sich hierbei das Spannungsverhältnis von Repräsentativität und Gesundheit/Sicherheit? –– Inwieweit sind Lerner*innen in der Lage, mit den Waffen umzugehen und diese sicher zu handhaben? • Wie sind die örtlichen Rahmenbedingungen? –– Weisen die Trainingsörtlichkeiten sicherheitsrelevante Besonderheiten auf? Können diese sich im Laufe des Trainings verändern? –– Wie gehst du mit den sicherheitsrelevanten Besonderheiten um? Welche Abwägungen triffst du in Bezug auf die Reduktion der sicherheitsrelevanten Besonderheiten im Vergleich zur Kompetenz der Lerner*innen, für die eigene Sicherheit zu sorgen? • Wie werden die Instruktionen und Regeln gestaltet und kommuniziert? –– Gibt es klare Regeln für die Trainingsaktivitäten? Unterscheiden sich Instruktionen/Regeln in Bezug auf die an einer Übungsform beteiligten Personen (Simulator vs. Player)? –– Sind die Lerner*innen in der Lage, die Instruktionen/Regeln (a) zu verstehen und (b) umzusetzen? –– Woran erkennst du, dass diese Regeln eingehalten und umgesetzt werden? • Eigenverantwortung –– Wie viel Eigenverantwortung kann welche/r Lerner*in tragen? –– Wie entwickelst du die Kompetenz zur Eigenverantwortung? Fazit Der Forschungsstand zur Planung und Reflexion der Trainingsprozesse im Einsatztraining weist darauf hin, dass die Planungs- und Reflexionsstrukturen von Einsatztrainer*innen ein wichtiger Aspekt für ein effektives Training sind. Entsprechend scheint es notwendig, dass Einsatztrainer*innenTrainings systematisch planen und reflektieren. Die PR-ET ermöglicht hierbei einen systematischen Prozess.
Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die Praxis
a) Entscheider*innen Planungen und Reflexionen für die Gestaltung des Einsatztrainings bedürfen zeitlicher Ressourcen der Trainer*innen, um diese durchführen zu können. Weiterhin wird die Fähigkeit von Einsatztrainer*innen benötigt, zwischen einzelnen – oft auch widerstreitenden – Elementen fundiert abwägen können. Entsprechend sollten Entscheider*innen dafür Sorge tragen, dass
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M. Staller und S. Koerner
• die zeitlichen Ressourcen von Einsatztrainer*innen zur Verfügung stehen und fundierte Planungen und Reflexionen der Trainingspraxis vorgenommen werden können, sowie • die Fähigkeit von Einsatztrainer*innen zur Planung und Reflexion entwickeln und optimieren. Aus- und Fortbildungsveranstaltungen mit einem entsprechenden Fokus erscheinen hier sinnvoll. b) Einsatzkräfte Einsatzkräfte haben einen entscheidenden Anteil an erfolgreichen Trainingsinterventionen. Dies betrifft zum einen das Abstimmen der kurz-, mittel- und langfristigen Trainingsziele mit dem/r Einsatztrainer*in und zum anderen die Kompetenz, „richtig trainieren zu können“ – also sicher und gleichzeitig „so wie in echt“ (repräsentativ). Beide Aspekte erscheinen vor dem Hintergrund eines effektiven Trainingssettings wichtig. Ein entsprechend aktives Einbringen der Teilnehmer*innen von Trainingssettings kann hier den Einsatztrainer*innen helfen. c) Einsatztrainer*innen Einsatztrainer*innen können die vorliegende Planungs- und Reflexionsstruktur Einsatztraining für die tägliche Praxis nutzen. Neben der Steigerung der Effektivität der Trainingsmaßnahmen bestehen im Nutzen der Struktur auch Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für ein learning on the job. Diskussionen mit weiteren Einsatztrainer*innen ermöglichen hier auch weitere Perspektiven auf bestimmte Aspekte des Trainings.
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Einsatztraining systematisch planen und reflektieren
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M. Staller und S. Koerner
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Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings I – Der Constraints-led Approach Swen Koerner und Mario Staller
Inhaltsverzeichnis 1 V ermittlungskompetenz als trainingspädagogische Anforderung 2 Constraints-led Approach 2.1 Leitende Annahmen 2.2 Trainingspädagogische Konsequenzen Literatur
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Zusammenfassung
Einsatztrainer*in sind im Kern Designer*innen von Lernumgebungen. Ihre Aufgabe besteht darin, im Training repräsentative Inhalte von Polizeieinsätzen mit den Voraussetzungen der Lerner*innen sinnvoll in Beziehung zu bringen. Dazu benötigen und nutzen Einsatztrainer*innen Methoden der Vermittlung. Mit dem Constraints-led Approach (CLA) stellt der Beitrag ein methodisch nutzbares Vermittlungsparadigma vor. Wir argumentieren, dass die konzeptionelle Architektur des CLA den spezifischen Reviewer*innen: Clemens Lorei, Rado Mollenhauer, Susanne vom Hau S. Koerner (*) Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research, Deutsche Sporthochschule, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Staller Fachbereich Polizei, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_32
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S. Koerner und M. Staller
Anforderungen und Zielen des Einsatztrainings in besonderer Weise entspricht. Einsatztrainer*innen bietet der CLA zum einen ein praktisches trainingspädagogisches Tool zur Gestaltung des Einsatztrainings. Zum anderen erfüllt der Ansatz Ansprüche an eine reflektierte pädagogisierte Praxis des Einsatztrainings, die ihre handlungsleitenden Annahmen begründen und ihre Folgen kontrollieren kann.
Beispiel
Lara ist seit Kurzem Einsatztrainer*in. Ihre eigene Ausbildung für den Polizeidienst liegt noch nicht lange zurück. Schon während dieser Zeit hat sie mit dem Gedanken gespielt, dass der Trainer*innenberuf genau das Richtige für sie sein könnte. Lara liebt die Arbeit der Polizei und hat Freude an der Vermittlung. Letztere wurde vor allem durch das Training geweckt, das sie im Rahmen der Ausbildung selber erleben durfte. Vor allem die Arbeit ihres früheren Einsatztrainers Stefan hat Lara nachhaltig beeindruckt. Bei Stefan, das zeigte sich bereits „draußen“ in den ersten Praxisphasen, lernte man Nützliches. Und ihr Trainer hatte es stets geschafft, dass man gerne ins Training kam. Auch Lara möchte so unterrichten. In der Ausbildung war zwar Pädagogik ein Thema, aber im Vergleich zu fachlichen Inhalten kam die Vermittlung eher kurz. ◄
1
Vermittlungskompetenz als trainingspädagogische Anforderung
Das Beispiel von Lara verdeutlicht die im Kern pädagogischen Anforderungen, die der Beruf des/der Einsatztrainer(s)*in mit sich bringt. Einsatztraining ist ein Lehr- und Lernsetting. Als solches zielt es auf die Vermittlung von Kompetenzen zur Einsatzbewältigung (Cushion 2018; Körner und Staller 2020; Staller und Körner 2020a). Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Vermittlungskompetenz von Einsatztrainer*innen ein zentraler Faktor. In trainingspädagogisch-praktischer Hinsicht umfasst Vermittlungskompetenz die Fähigkeit zur systematischen Entwicklung, Durchführung und Auswertung von auf Kompetenzerwerb hin ausgerichtetem Training (Körner und Staller 2020). Dabei sind a) sachliche Anforderungen (Was wird trainiert?), b) individuelle Voraussetzungen und Zustände der Lerner*innen (Wer wird trainiert?) sowie c) methodische Aspekte der Gestaltung von Lernumgebungen (Wie wird trainiert?) zu berücksichtigen, aufeinander abzustimmen und in einen sinnvollen Gesamtzusammenhang zu stellen (Abraham et al. 2006; Staller 2020). In trainingspädagogisch-reflexiver Hinsicht beinhaltet Vermittlungskompetenz zudem, jeweilige und übergreifende Entscheidungen in der Was-, Wer- und Wie-Dimension des Trainings auf der Grundlage bestmöglicher Informationen zu treffen und sich dabei der Voraussetzungen und möglichen Folgen des eigenen Handelns im Klaren zu sein (Abb. 1).
Verstehen der Lerner
Verwendung von Theorien und Konzepten des
Verwendung von Theorien und Konzepten als
Abb. 1 Vereinfachtes Modell professionellen Coachings. (Staller 2021)
des Feldes, um die Inhalte und Ziele des Trainings zu bestimmen.
wird trainiert?
Wie Verstehen der Lernumgebung
Verstehen von
TrainingsPraxis
wird trainiert?
Planung
Verwenden von Bio-Psycho-Sozialen Theorien &
Verstehen der Inhalte
Was
Wer wird trainiert?
Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings I – Der Constraints-led Approach 593
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S. Koerner und M. Staller
Für die trainingspädagogischen Anforderungen des Einsatztrainings bietet der Constraints-led Approach (CLA) eine vielversprechende Orientierung. Der Mitte der 1990er-Jahre entstandene Ansatz versteht sich als „principled approach to skill learning“ (Renshaw und Chow 2019, S. 104) und hat seine Wurzeln im Sport. Jüngere konzeptionelle Überlegungen argumentieren für eine Übertragbarkeit des CLA auch auf weitere „pedagogical settings“ (ebd.) außerhalb des Sports (Körner und Staller 2020). Effekte der Anwendung des CLA wurden aktuell bereits im Rahmen empirischer Studien für den schulischen Mathematikunterricht (Karsch 2019) und das polizeiliche Einsatztraining (Koerner et al. 2020) untersucht.
2
Constraints-led Approach
Das Konzept einer reflektierten pädagogisierten Praxis (siehe Beitrag „reflektierte Praxis“) verlangt von Einsatztrainer*innen, dass sie die Gründe ihres Handelns kennen, also wissen, warum sie tun, was sie tun. Für die Anwendung des CLA als Instrument zur Gestaltung des Einsatztrainings bedeutet dies, die Vorderbühne der Vermittlung aus der Perspektive der Hinterbühne zu betrachten und die Antwort vor allem auf diese Frage für sich selbst klar zu haben: cc
„What is your model of the learner and the learning process that underpins your pedagogical practice?“ (Chow et al. 2016). Als pädagogisch engagierte und reflektierte Einsatztrainer*in würde sich Lara somit fragen, welche Vorstellungen, Annahmen dem von ihr geplanten und durchgeführten Training zugrunde liegen: Welche Modellvorstellung hat sie vom Lernprozess? Und welche Modellvorstellung hat Lara vom Menschen als Lerner*in?
Im Einsatztraining als pädagogische Praxis geht es mithin darum, den CLA nicht einfach im Blindflug anzuwenden, etwa aus modischen Gründen oder Gründen didaktischer Abwechslung (siehe Beitrag „Wissen“), sondern ihn anzuwenden, weil seine leitenden Annahmen und zugrunde liegenden Prinzipien zu den Anforderungen und Zielen des intendierten Lehr- und Lernprozesses sowie zu den Voraussetzungen der Teilnehmer*innen passen.
2.1
Leitende Annahmen
Der CLA startet mit Annahmen über den Menschen, genauer mit einer zentralen Annahme über menschliches Verhalten: Das Verhalten von Menschen ist constraints-led, d. h. geführt und bedingt durch das Zusammenspiel einer Reihe interner und externer Faktoren (Renshaw und Chow 2019). Beispiel: Bei einer Fahrzeugkontrolle übergibt der Fahrer mit freundlichem Lächeln die Papiere. Die Polizistin lächelt und bedankt sich. Das Verhalten
Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings I – Der Constraints-led Approach
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der Polizistin erklärt sich aus der zu bewältigenden Aufgabe (Fahrzeugkontrolle) und dem Verhalten des Bürgers (freundliches Lächeln), ggf. spielen noch in unserem Beispiel unbekannte Faktoren eine Rolle, etwa situative Umstände wie Tageszeit und Ort, die eine gewisse „Normalität“ nahelegen, oder auch die Verfassung der Polizistin selbst, die ggf. ausgeschlafen ist und die Fahrzeugkontrolle gut gelaunt eingeleitet hatte. Constraints Die jeweils zu erfüllende Aufgabe, Umweltbedingungen sowie eigene innere Zustände – das sind aus Sicht des CLA die entscheidenden constraints, aus deren Zusammenspiel menschliches Verhalten resultiert. Der CLA beruft sich dabei auf Karl Newell (1986), der organismic, environmental und task constraints unterschieden hatte. • Organismic constraints beziehen sich auf sämtliche innere Voraussetzungen des Individuums, also auf relativ dauerhafte oder variable körperliche, motivationale, emotionale und kognitive Zustände. • Environmental constraints umfassen sämtliche Umweltfaktoren, die ebenfalls entweder variabler (Temperatur, Lichtverhältnisse, Bodenbeschaffenheit) oder stabiler (z. B. Erdanziehung) Natur sind. • Task constraints beinhalten die spezifische Sach- und Rahmenstruktur einer zu bewältigenden Aufgabe. Die drei Arten von constraints fungieren aus Sicht des CLA als verhaltensermöglichende Einschränkungen, wobei deutsche Übersetzungen als „Einschränkungen“, „Bedingungen“ oder „Voraussetzungen“ die begriffliche Bedeutung jeweils nur annähernd treffen, weshalb wir im Folgenden weiter die englische Bezeichnung nutzen. Constraints formen das Verhalten, je nach Beschaffenheit und Zustand schränken sie bestimmte Möglichkeiten ein und eröffnen dadurch andere (Torrents et al. 2020). Verändern sich con straints, verändert sich das Verhalten. Am obigen Beispiel der Fahrzeugkontrolle: Weniger Schlaf, eine andere Uhrzeit oder eine provokante Geste, ggf. wäre jeweils daraus schon ein anderes Verhalten hervorgegangen. Constraints haben keine Bedeutung an sich. Ihre Bedeutung ist immer relativ zum Kontext einer Aufgabenbewältigung, in und für den sie einen Unterschied machen. Für die Abwehr eines Messerangriffs z. B. spielt Rückenwind effektiv keine Rolle, die Lichtverhältnisse hingegen schon. Im Kontext des Weitsprungs im Sport z. B. liegen die Verhältnisse anders, hier beeinflusst Rückenwind die Sprungleistung und selbst minimale Veränderungen im Luftwiderstand und in der Erdanziehungskraft haben potenziell Einfluss (Araujo und Davids 2018). Eine herausgehobene Rolle für den Umgang mit umwelt- und aufgabenbezogenen constraints spielen die organismic constraints. Als individuelle Voraussetzungen bilden sie den entscheidenden Bezugsrahmen und Filter für die sensorische Aufnahme, Verarbeitung und Nutzung umwelt- und aufgabenbezogener constraints. Ist die Polizistin im obigen Beispiel getragen von einem positiven Menschenbild, könnte das genau der kognitive
596
S. Koerner und M. Staller
Filter für professionelle Freundlichkeit trotz provozierender Gesten sein. Verhaltensrelevant werden constraints erst dadurch, dass sie wahrgenommen werden. Fehlt der Polizistin bei der Fahrzeitkontrolle etwa situativ die Aufmerksamkeit für eine unbegründete Handbewegung des Fahrers, könnte ihr damit eine potenziell wichtige Information entgangen sein. Nicht wahrgenommen, bildet die Handbewegung hier und jetzt keinen con straint. Das kann im nächsten Moment ganz anders sein. Und das Verhalten ebenfalls. Wahrnehmungs-Handlungs-Koppelung Werden constraints wahrgenommen, liefern sie Informationen, aus denen Verhalten resultiert. Diesen Mechanismus legt der CLA auch dem menschlichen Bewegungshandeln zugrunde. Nimmt die Polizistin die Handbewegung des Fahrers als situativ relevante Information wahr, kann dies neben verbalem Verhalten auch körperliche Bewegungen einleiten, etwa eine Veränderung der Körperposition und die Bewegung der eigenen Hand zur Schusswaffe. Mit James Gibson (1979) geht der CLA davon aus, dass Bewegung und Wahrnehmung zirkulär gekoppelt sind (perception-action coupling) und sich gegenseitig hervorbringen. Wahrnehmung informiert Bewegung und Bewegung verändert die Wahrnehmung. Verändert die Polizistin ihre Körper- und Handposition, erzeugt dies eine neue Situation und eine neue Perspektive auf diese Situation, was zur nächsten Bewegungshandlung führt, die wiederum eine neue Situation hervorbringt etc. Gibson formuliert den rekursiven Zusammenhang von Wahrnehmung und Bewegung wie folgt: „So we must perceive in order to move, but we must also move in order to perceive“ (Gibson 1979, S. 223). Nichtlinearität und Nichtidentität Constraints fungieren aus Sicht der handelnden Person als einschränkende Informationsquellen. Diese erzeugen Handlungsgelegenheiten, sog. affordances (Renshaw und Chow 2019). Aus Sicht des CLA liegt der sich wechselseitig einschränkenden und ermöglichenden Beziehung zwischen Individuum und Umwelt keine strikt lineare Beziehung von Ursache und Wirkung zugrunde (Chow et al. 2016). Ihre Beziehung ist vielmehr nichtlinearer Art: Eine bestimmte Ursache kann je nach internen Zuständen (Wahrnehmung, emotionale Situation etc.) und externen Umständen zu ganz unterschiedlichen Effekten führen. Die Handbewegung des Fahrers kann von der Polizistin wahrgenommen werden oder nicht, als harmlos oder als Gefahr eingestuft werden, zum Ziehen der Schusswaffe führen oder zur aufmerksamen Sicherheitshaltung. Die Bewegung der eigenen Hand zur Waffe kann zudem auf unterschiedliche Weise ausgeführt werden. Letzteres begründet der CLA unter Berufung auf das Organisationsprinzip neurobiologischer degeneracy. Degeneracy besagt, dass der menschliche Körper funktional gleichwertige Handlungen und Handlungsziele durch die Koordination strukturell unterschiedlicher Komponenten des Bewegungssystems erreichen kann (Edelman und Gally 2001). So gibt es auf motorischer Ebene viele Möglichkeiten, ein Glas Wasser zu greifen, um daraus zu trinken. Dies wird deutlich, wenn man sich vorstellt, dass sich für unsere Bewegungen auf der Ebene von sechs Hauptgelenken (Sprung-, Knie-, Hüft-, Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenk,
Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings I – Der Constraints-led Approach
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jeweils 2x) allein bei angenommenen zwei Winkelstellungen pro Gelenk über 212 Variationsmöglichkeiten ergeben, die unter Einbezug der drei Bewegungsebenen (Sagittal-, Frontal-, Transversalebene) sowie der rhythmischen Abfolge auf (212)4, also 281 Billionen Möglichkeiten ansteigen (Schöllhorn 2011)Schon diese stark vereinfachende Annahme (wenige Gelenke, zwei Winkelstellungen) macht deutlich, dass die Variabilität von Bewegung eine empirische Tatsache ist. Der russische Motorikforscher Nikolai Bernstein hatte bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für einfache zyklische Bewegungen wie dem menschlichen Gang untersucht, dass es bei ein und derselben Person messbar keine identische Bewegungsausführung gibt (Bernstein 1967). Selbst im Fall vermeintlich gleicher Bewegungen ist keine Ausführung mit der vorherigen identisch. Was für sie gilt, gilt erst recht für komplexe Bewegungen: Jede einzelne Ausführung ist Wiederholung ohne Wiederholung. Die Körper- und Handbewegung der Polizistin im Beispiel der Fahrzeugkontrolle kann demnach motorisch auf unterschiedliche Weise realisiert werden. Darüber hinaus ist sie, etwa im Fall einer trainierten Bewegung, die zur aufmerksamen Sicherheitshaltung führt, niemals identisch mit der trainierten Bewegung. Aus Sicht des CLA ist das kein Problem, sondern mit Blick auf Prinzipien wie degeneracy, motorische Freiheitsgrade und „repetition without repetition“ (Bernstein 1967) die Lösung. Inwiefern die jeweilige Handlung funktional ist, also hier etwa eine Kontrolle der Situation herstellt, stellt sich in der Situation selbst heraus sowie natürlich in Betrachtung weiterer, vor allem normativer (u. a. Dienstvorschriften) Rahmenbedingungen der Aufgabenerfüllung.
2.2
Trainingspädagogische Konsequenzen
Aus den genannten Modellvorstellungen zum menschlichen Verhalten zieht der CLA seinen trainingspädagogischen Nektar. Für Einsatztrainer*innen, die den CLA zur Planung, Durchführung und Reflexion ihres Trainings nutzen wollen, ist eine gedankliche Ausei nandersetzung mit Grundlagen der Organisation menschlichen (Bewegungs-)Verhaltens der Schlüssel zur effektiven Nutzung des dem Ansatz innewohnenden Potenzials. Die aus der Annahme von constraints, der Wahrnehmungs-Handlungs-Koppelung sowie der Nichtlinearität und Nichtidentität resultierenden Konsequenzen für die Praxis des Lehrens und Lernens unterscheiden sich z. T. gravierend von tradierten Vermittlungsparadigmen, etwa einer linear-trainerzentrierten, an Lösungsvorgaben orientierten Trainingspraxis (Koerner und Staller 2020). Sich im Einsatztraining auf den CLA einzulassen, bedeutet zum einen, sich auf Individualisierung als Leitorientierung einzulassen. Die organismic constraints bilden nicht umsonst die Spitze des Dreiecks menschlicher Verhaltensorganisation (siehe Abb. 2). Zum anderen betont der CLA die Rolle der Anwendungsumgebung, die repräsentative Aufgaben und Umweltbedingungen der Einsatzbewältigung umfasst (siehe Abb. 2).
598
S. Koerner und M. Staller
Abb. 2 Constraints und repräsentative Trainingsumgebung. (Koerner und Staller 2020)
Repräsentative Trainingsumgebung Wie ihr Trainervorbild Stefan möchte Lara, dass die Teilnehmer*innen ihres Trainings Nützliches für den Einsatz lernen. Um den Fertigkeits- und Fähigkeitserwerb der Trainierenden in diese Richtung zu unterstützen, setzt sich Lara differenziert mit den Belastungsanforderungen im Einsatz auseinander. Sie reflektiert eigene Einsatzerfahrungen und die von Kolleg*innen (Koerner und Staller 2019), analysiert Untersuchungen zu Gewalt- und Konfliktmerkmalen von Polizeieinsätzen (Ellrich et al. 2011, 2014; Jager et al. 2013), sichtet verfügbares Material in Printmedien und Internet, gleicht die Ergebnisse mit Inhalten des Ausbildungscurriculums ab, bespricht sich mit Trainerkolleg*innen und reflektiert mögliche Verzerrungen, die aus ihrer eigenen Sozialisation stammen (seit dem 13. Lebensjahr betreibt sie Kampfsport: Lara weiß, dass dies ihren Blick auf mögliche Lösungen für Konflikte beeinflussen kann). Einsatztrainer*in Lara ist damit schon inmitten einer der zentralsten Aufgaben, die ihr der CLA auferlegt: der Identifikation von Schlüsselvariablen der Anwendungsumgebung, der Analyse dessen, was „draußen“ passiert. Indem der CLA die Rolle aufgaben- und umweltbezogener constraints betont, setzt er das Training als Lern- und Testumgebung in Beziehung zur Einsatzumgebung. Im Sinne eines repräsentativen Trainingsdesigns geht es darum, den Fähigkeits- und Fertigkeitserwerb der Teilnehmer*innen durch den Einbau exakt jener constraints im Training zu unterstützen, die charakteristisch sind für den Leistungsvollzug in der Einsatzumgebung (Staller et al. 2017). Für die Anwendung und den Transfer von im Training erlernten Fähigkeiten und Fertigkeiten in den Einsatz ist das die notwendige Bedingung (siehe Abb. 2).
Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings I – Der Constraints-led Approach
599
Spielen beispielsweise in polizeilichen Konflikt- und Gewaltlagen wiederkehrend Momente der Überraschung, der Aggression, hohen Dynamik und damit einhergehende Stressreaktionen eine zentrale Rolle (Jager et al. 2013; Renden et al. 2017), besteht die Aufgabe eines CLA-basierten Trainings darin, diese Momente als constraints wie an einem Mischpult in das Training einzuspielen (siehe Beitrag „Impulse für das Einsatztraining II“). Spielen im Polizeieinsatz Momente der Langeweile, der zwischenmenschlichen Freundlichkeit, des kognitiven Widerstands gegen angekündigte Maßnahmen oder emotionale Beeinträchtigungen wiederkehrend eine Rolle, sind auch diese constraints in das Einsatztraining einzuspielen. Schlagen „in der Realität“ diese oder jene Merkmale der Einsatzsituation plötzlich ineinander über, ist dieses Umschlagen im Einsatztraining ebenfalls zu repräsentieren. Am Beispiel unserer Einsatztrainerin: Lara könnte im Training die Fahrzeugkontrolle thematisieren und dabei durch die gezielte Veränderung einzelner constraints verschiedene Verhaltensweisen der Trainerenden in der Rolle der/des Polizist*in provozieren. Constraint werden könnte der zu erwartende Verlauf der Fahrzeugkontrolle: die Kooperation des Fahrers. Constraint werden könnte aber auch die Weigerung, das Äußern von Provokationen, uneindeutiges Verhalten oder das plötzliche Verlassen des Fahrzeugs mit einhergehender Aggression gegen die Polizist*in. Manipuliert1 werden könnte weiterhin die Anzahl der im Wagen befindlichen Personen, das Verhalten des sichernden Kollegen, die Lichtverhältnisse, der Geräuschpegel oder auch der Zustand der Polizist*in vor Eintritt in die Situation, etwa durch körperliche oder kognitive Belastungen oder Entspannungsübungen etc. Diese und weitere constraints können systematisch oder nach dem Zufallsprinzip ins Training eingestreut werden. Wichtig bei Nutzung des CLA
Wichtig für Einsatztrainer*innen wie Lara, die den CLA nutzen wollen, ist Folgendes: Der CLA sieht gerade nicht vor, dass Trainer*innen die jeweiligen Simulator-Rollen im Training übernehmen. Vielmehr schlüpfen die Trainerenden selbst in die Rolle der Bürger*innen. Indem sich Polizist*innen in die Rolle der Bürger*innen hineinversetzen, werden diese a) mit Schlüsselvariablen der Einsatzumgebung vertraut, erleben diese b) aus der Perspektive ihrer „realen“ Interaktionspartner*innen und ermöglichen den Kolleg*innen c) den Umgang mit validen Reizen und die Entwicklung lösungsbezogener Kompetenzen. Indem die Trainierenden füreinander die Simulatoren-Rolle übernehmen, hat das Training d) einen hohen Durchlauf qualitativ hochwertiger, an der Einsatzrealität ausgerichteter Interaktionen und Lernanlässe. Schließlich lassen sich auf diese Weise e) Ressourcen des/der Einsatztrainer*in effizient einsetzen. ◄
Wichtig zu betonen, dass manipulation (of constraints) hier nicht die negative Bedeutung einer Fremdsteuerung von außen hat, sondern die Fähigkeit von Trainer*innen meint, zielfunktionale und individuell lernförderliche „Einschränkungen“ zu identifizieren und in das Design von Trainingsumgebungen einzubeziehen. 1
600
S. Koerner und M. Staller
Die Kernidee des CLA besteht darin, als Trainer*in in einer sinnvollen Weise mit con straints wie an einem Mischpult zu „spielen“ (siehe Beitrag „Impulse für die Gestaltung des Einsatztraining II“), um Lerner*innen damit den Vollzug und das Erlernen funktionaler Handlungsweisen „wie im Einsatz“ zu ermöglichen (Renshaw und Chow 2019). Das Konzept der constraints liefert eine Blaupause für ein Training für den Einsatz. Eine wesentliche Aufgabe der Trainer*in besteht im repräsentativen Constrainen von Simulatoren-Skripten. Damit Trainingsteilnehmer*innen die Simulator*innen-Rolle übernehmen und ihre Rolle gut spielen können, müssen Skripte designt werden, etwa für die Rolle „freundlicher“, „besorgter“, „aggressiver“ oder „gewaltanwendender“ Bürger*innen. Die Skripte können z. B. per Karteikarte unkompliziert ins Training eingespielt werden. Sie informieren den/die Simulator*in kompakt zu Zielen, Hintergründen und konkreten Verhaltensweisen (Sprache, körperliches Verhalten etc.) und können gezielt verteilt, ausgetauscht oder nach dem Zufallsprinzip gezogen werden. Das Maß für die Bewertung funktionaler Handlungen ergibt sich aus der Anforderungsanalyse: Spielt Überraschung im Einsatz eine Rolle, sind Aufgaben im Training so zu constrainen, dass sie situative Aufmerksamkeit als Ressource zur Verminderung von Überraschungsreaktionen bei der/dem trainierenden Polizist*in geradezu provozieren. Neben der Manipulation der zu bewältigenden Aufgabe – etwa das plötzliche Umschlagen von „normaler“ Interaktion in eine Angriffshandlung des/der Simulator*in –, kann situative Aufmerksamkeit zudem durch die räumliche Gestaltung der Trainingsumgebung constraint werden, etwa durch nicht direkt einsehbare Bereiche, Winkel und Ecken der Einsatzumgebung. Zudem beeinflussen Geräusche oder Dunkelheit die Wahrnehmung der Lerner*innen, erhöhen deren Stresslevel und verändern damit den individuellen Bezugsrahmen für die Verarbeitung aufgabenspezifischer Informationen (siehe Tab. 1). Im CLA werden Einsatztrainer*innen zu verantwortungsvoll handelnden Designer*innen. Wie an einem Mischpult gestalten sie repräsentative Trainingsumgebungen, in denen eine aktive Auseinandersetzung mit den jeweils spezifischen perzeptuellen, motorischen, kognitiven und affektiven Anforderungen der Einsatzumgebung möglich und gefordert ist. Die Übungen sind dabei so zu gestalten, dass ein Fehlen der zu „provozierenden“ Verhaltens- bzw. Handlungsweise (siehe Tab. 1), also etwa situative Aufmerksamkeit, möglichst unmittelbar und übungsimmanent zurückgemeldet wird und die Konsequenzen erlebbar werden. Aufgabenimmanentes Feedback (Sigrist et al. 2012) kann z. B. dadurch erfolgen, dass ein überraschender Angriff von dem/der Simulator*in fortgesetzt wird – und so lange fortgesetzt wird, bis bei der/dem Polizist*in ein situativ angepasstes, funktionales Handeln entsteht. Inhalte des Curriculums, wissenschaftliche Daten und fachliche Expertisen bieten für die Bewertung funktionaler Handlungen weitere Orientierung. Neben dem Wissen um Merkmale der Anwendungsumgebung fordert der CLA von Einsatztrainer*innen wie Lara eine Orientierung am Individuum.
Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings I – Der Constraints-led Approach
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Tab. 1 Beispiel für das Constrainen von situativer Aufmerksamkeit von Polizist*innen im Einsatztraining als Ressource für den Umgang mit Überraschung. (Koerner und Staller 2020) Einsatzanforderung: Umgang mit Überraschung und schnelle Handlungsanpassung Constraints Was kann Beispiel Provozierte(s) manipuliert Handlung/Verhalten werden? Polizist*innen zeigen ein Design einer Bandbreite von Aufgabe Polizeiliche hohes Maß an situativer Simulatoren-Rollen/-skripten: Maßnahme; Aufmerksamkeit, die Interaktion mit kooperativen, Anforderungen der Situation und besorgten, konfusen, aggressiven ihnen ein situativ angepasstes funktionales Bürger*innen bis hin zu Interaktion körperlich angreifenden Personen Handeln ermöglicht Physische, Entspannungsübungen vor der Individuum emotionale, Simulation; intensive körperliche kognitive Zustände Übungen vor oder während der Simulation; Änderung der kognitiven Anforderung während der Simulation Raumgestaltung: schwer Umwelt Zugang zu einsehbare Ecken und Winkel wahrnehmbaren erzeugen; das Licht dimmen; Informationen; Eigenschaften des Geräuschkulisse variieren Raumes, des Lichts und der Akustik
Individualität Der CLA setzt das Individuum in den Mittelpunkt. Der Mensch als Organismus hat nicht zufällig eine prominente Position im Dreieck der constraints. Organismic constraints bündeln den zentralen individuellen Bezugsrahmen für die Aufnahme, Verarbeitung und Nutzung aufgaben- und umweltspezifischer Informationen und damit die Gestaltung von Wirklichkeit. Sind die Teilnehmer*innen im Einsatztraining nicht motiviert, limitiert dies den Lernprozess (Honess 2016). Steht der Double-leg Take-down als technische Option gegen massive Widerstandshandlungen auf dem Programm, bekommt es das Einsatztraining ebenfalls mit Individualität zu tun. Mit der Individualität jener, die aus dem Kampfsport kommen und oder die körperlich-biomechanischen Voraussetzungen für eine kämpferische Lösung mitbringen. Sie werden diese Lösung gerne üben. Bei hinreichender Heterogenität der Gruppe ist allerdings genauso mit der Individualität jener zu rechnen, die aufgrund ihrer biografischen und oder körperlichen Voraussetzungen mit dem Double- leg Take-down ihre praktischen und motivationalen Probleme haben werden – und ggf. ganz andere, evtl. nicht-körperliche Mittel und Lösungen für das Handling der Widerstandshandlung (Kommunizieren, Einsatz von FEM, kollegiale Hilfe holen etc.) benötigen. Die Betonung von Individualität im CLA hat u. a. zur Konsequenz, technische Ideallösungen als mögliche Beispiele zu betrachten, gerade weil ihre erfolgreiche Anwendung
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unter repräsentativen constraints (Überraschung, Aggressivität, Uneindeutigkeit etc.) von den besonderen individuellen und situativen Merkmalen abhängt. Dass etwas in komplexeren Lagen nicht mehr funktioniert, was zuvor noch in isolierten Settings für fast jede(n) funktioniert hat, liegt genau daran, dass komplexe Lagen das Individuum mit anderen Merkmalen der Situation konfrontieren. Am Beispiel der Messerverteidigung von Polizist*innen haben wir das gerade empirisch untersucht (Koerner et al. 2020): Wurden Polizist*innen überraschend mit dem Messer attackiert, verschwanden technische Ideallösungen. Die Relativierung von One size fits all-Lösungen im CLA ist im Umkehrschluss kein Plädoyer für ein trainingspädagogisches „Prinzip Hoffnung“. Im Gegenteil: Der CLA argumentiert mit Empirie, etwa für den Bereich des motorischen Handelns mit den Freiheitsgraden des Gelenksystems oder mit degeneracy als Eigenschaft des neurobiologischen Systems, gleiche Ziele durch die Koppelung unterschiedlicher Systemkomponenten zu erreichen. Die Evidenzen für funktionierende Nichtlinearität und Adaptivität in Leistungssituationen sind zahlreich (Barris et al. 2014; Hristovski et al. 2006; Orth et al. 2017; Seifert et al. 2014) und liefern auch gute Argumente für eine nichtlineare Pädagogik im Einsatztraining der Polizei (Boulton und Cole 2016; Koerner et al. 2020) Das Individuum im CLA in den Mittelpunkt zu stellen bedeutet auch nicht, dass der/die Einsatztrainer*in im Trainingsprozess nichts zu tun hätte. Neben der Gestaltung repräsentativer Aufgaben, an denen Teilnehmer*innen für sich einzatzrelevante Problemlösekompetenzen entwickeln können, verdienen im CLA Praxis und Stil des Aufgaben-stellens besonderes Augenmerk: Die Instruktion ist kurz, prägnant und stellt das Handlungsziel in den Mittelpunkt. Durch ihre Orientierung an Aufgabenzielen und der gezielten Ansteuerung der Aufmerksamkeit auf das Handlungsergebnis (external focus of attention, Moy et al. 2015; Wulf 2007) wirkt dieser Instruktionsstil in besonderer Weise autonomieunterstützend. Als Einsatztrainer*in mit dem externalen Stil zu arbeiten bedeutet, auf technische Ausführungshinweise und angeleitete Musterlösungen zu verzichten und stattdessen die Teilnehmer*innen selbst zur Erkundung und Testung von Lösungsmöglichkeiten aufzufordern. Dieser Instruktionsstil kommt dem Grundbedürfnis von Menschen entgegen, sich als selbstbestimmt erleben zu wollen (Ryan und Deci 2000). Das Erleben von Autonomie wiederum wirkt positiv auf die Motivation, was wiederum den Lernprozess positiv beeinflusst (Moy et al. 2015). Aus Sicht des CLA ist der externale Instruktionsstil nicht nur in motivationaler Hinsicht vorteilhaft, sondern entspricht zudem der biologischen Disposition von Menschen: Freiheitsgrade und degeneracy besagen letztlich, dass Konsistenz im Ergebnis keine Konsistenz in der Ausführung erfordert, also ein und dieselbe Person sowie verschiedene Personen vergleichbare Ergebnisse auf unterschiedliche Weise erzeugen können. Autonomie findet hier ihre biologische Begründung.
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Beispiel
Lara hatte es bislang nicht so begrifflich gefasst, aber tatsächlich sind das die zwei zentralen Instruktionsstile, die ihr bislang in Schule, Studium und Ausbildung begegnet sind: a) Internal-linear: Demonstration der auszuführenden Lösung und verbale Erläuterung wichtiger technischer Ausführungsmerkmale. Das Lernziel ist das Nachmachen einer ganz bestimmten idealen Lösung (diese und kein andere). Beispiel Messerstich: „Den Ellenbogen zwischen 90 und 120 beugen, Finger leicht abspreizen und anspannen, messerführenden Arm auf Angriffslinie blocken, seitliche Hüftrotation …“. b) External-nichtlinear: Betonung des Handlungsziels. Das Lernziel ist das Finden von Lösungen. Beispiel Messerstich: „Lass dich nicht treffen“. ◄ Mithilfe des CLA den Trainerenden das Finden und Testen eigener Lösungen zu ermöglichen bedeutet keineswegs, das „alles geht“. Ob die jeweils gefundene Lösung in der Sache funktional ist, also das Bezugsproblem (z. B. einen körperlichen Angriff) effektiv neutralisiert, zeigt sich in der Situation selbst. Dabei ist für das polizeiliche Einsatzhandeln zu beachten, dass sich die individuell gefundene Lösung, etwa gegen einen körperlichen Angriff, in einem überindividuellen rechtlich-normativen Bewertungsrahmen bewegt und von diesem entscheidend limitiert wird. Schließlich mag eine individuelle Lösung in der Sache funktional und rechtskonform sein, aber in gesundheitlicher Hinsicht für die Teilnehmer*in riskant und bedenklich. An dieser Stelle setzt im Training ein weiterer zentraler und bewusst gestalteter Mechanismus an: das Feedback. Die Rückmeldung über das Gelingen oder Misslingen z. B. einer Messerverteidigung im Training erfolgt im CLA zum einen über das Design der Aufgabe, das z. B. klare Simulationsregeln dafür vorsieht, wann und wie Erfolg oder Misserfolg angezeigt wird. Zum anderen kann auch hier die Einsatztrainer*in gefordert sein. Erkennt sie nämlich, dass dem Lösungsversuch der Teilnehmer*innen ein wichtiges Handlungsprinzip helfen könnte, kann sie dieses an die Hand geben, ebenfalls wieder im externalen Stil. Beispiel Messerangriff: „Bring(t) etwas zwischen dich und das Messer“, oder: „Erzeuge Distanz zwischen dir und dem Messer“. Auch hier wäre es wieder an den Teilnehmer*innen, jeweils eigene Lösungen für das Prinzip zu kreieren. Das Feedback zur Funktionalität von Lösungen bezieht dabei zusätzlich die oben genannten Gesundheits- und Sicherheitsaspekte („Ist das gesund?“ etc.) sowie dienstrechtlich-normative Vorgaben („Ist die Lösung rechtlich und ethisch angemessen?“ etc.) ein. Die Orientierung an Individualität im CLA adressiert weitere diagnostische Anforderungen an Einsatztrainer*innen. Für das sinnvolle Constrainen von Aufgaben müssen sie einen Blick dafür gewinnen, auf welche Informationsquellen sich ein(e) Lerner*in vorzugsweise bei der Aufgabenbewältigung bezieht bzw. nicht bezieht. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die individuellen „rate limiters“ (Correia et al. 2019), also diejenigen
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Eigenschaften eines lernenden Individuums, die bestimmten funktionalen Lösungen temporär im Weg stehen. Beispielsweise limitiert ein Koordinations- und Kraftdefizit in den Beinen das funktionale Einbringen von Tritttechniken bei der Verteidigung gegen einen Messerangriff. Gleiches gilt für Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsprozesse etc. Gerade der CLA betont, dass individuelle constraints als Voraussetzungen das Erlenen unterschiedlicher Aufgabenlösungen überhaupt erst ermöglichen (Boulton und Cole 2016). Fazit Einsatztraining ist eine pädagogische Praxis. In diesem wird gelehrt und gelernt. Verstanden als reflexive pädagogische Praxis muss es für Einsatztrainer*innen darum gehen, dass eigene Handeln kriteriengeleitet zu reflektieren. Der Constraints-led Approach (CLA) liefert einen fundierten Ansatz für die Pädagogisierung des Einsatztrainings. Neben praktischer Orientierung für das Trainingsdesign ermöglicht der CLA zugleich die Reflexion seiner Anwendung entlang jener Maßstäbe, aus denen er sich herleitet. Die zentrale Annahme des CLA lautet, dass menschliches Verhalten abhängig ist von constraints. Aus dieser Abhängigkeit zieht der CLA die trainingspädagogische Konsequenz, Lerner*innen durch die gezielte Manipulation aufgaben-, umwelt- und individuumbezogener Faktoren die Entdeckung und Nutzung verhaltensspezifizierender Informationen zu ermöglichen, an denen sich funktionale Handlungen ankoppeln können. Im CLA werden Einsatztrainer*innen zu Designern. Wie an einem Mischpult gestalten sie a) repräsentative Lernumgebungen, in denen b) eine aktive individualisierte Auseinandersetzung mit den jeweils spezifischen perzeptuellen, motorischen, kognitiven und affektiven Anforderungen der Anwendungsumgebung möglich und gefordert ist. Forschungen weisen darauf hin, dass durch den CLA die Fähigkeit zur individuellen Problemlösung entwickelt werden kann, dies nicht nur im Sport (Arias et al. 2012a, b; Hristovski et al. 2006, 2009; Maloney et al. 2018; Práxedes et al. 2018), sondern auch im Einsatztraining der Polizei (Koerner et al. 2020)
Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die Praxis
Der CLA gehört zu den praktischen Tools, die Einsatztrainer*innen für die Gestaltung ihrer Trainings nutzen können. Der Ansatz hegt keinen Anspruch auf Alleinstellung. Vielmehr spricht aus Sicht der Praxis vieles dafür, Vermittlungsmodelle variabel, abhängig von Lernzielen und Voraussetzungen von Teilnehmer*innen einzusetzen. a) Entscheider*innen Der Beruf der/des Einsatztrainer*in ist primär ein pädagogischer Beruf. Der Tatsache ist durch Entscheidungen auf der Organisationsebene Rechnung zu tragen, etwa indem die pädagogischen Anteile in der Aus- und Fortbildung von Einsatztrainer*in-
Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings I – Der Constraints-led Approach
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nen weiter gestärkt werden. Für die Qualität des Einsatztrainings ist ein curricular verankerter und institutionell gelebter Pluralismus der Vermittlungsmethoden und Reflexionsmodelle förderlich, insbesondere, wenn Entscheidungen für oder gegen ein Trainingsdesign eine reflexive Grundlage besitzen sollen (im Gegensatz zu Gründen der Mode oder Tradition). Mit dem im CLA betonten Prinzip „Individualität“ geht zudem die Herausforderung einher, bestehende Curricularisierungen des Einsatztrainings und hier insbesondere definierte Lernziele bzw. Kompetenzen zu überprüfen. Ein Technikcurriculum macht zwar die Ausführung einer technischen Lösung überprüfbar (sowie prüfungstechnisch rechtssicher): Aus Sicht des CLA bestehen allerdings berechtigte Zweifel an der Repräsentativität technischer Lernzieloperationalisierungen außerhalb der Prüfungsumgebung. Für ein Training, das beansprucht, repräsentativ für den Einsatz zu sein, wäre – zumindest graduell – von technischer Lernzieloperationalisierung auf Problemlösekompetenz umzustellen. Im Mittelpunkt stünde nicht die Reproduktion einer bestimmten vorgegebenen Lösung(sausführung), sondern verallgemeinerbare Lösungsprinzipien, die Raum für individuelle Gestaltung (im rechtlichen Rahmen) geben. b) Einsatzkräfte Der CLA setzt die einzelne Einsatzkraft in den Mittelpunkt. Für sie kreiert der CLA repräsentative, einsatznahe Aufgaben, die den Erwerb und den Transfer nützlicher Kompetenzen für den Einsatz ermöglichen und dabei den jeweils individuellen Bezugsrahmen als Handlungsgrundlage berücksichtigen. Ein am CLA ausgerichtetes Einsatztraining unterstützt durch die Art der Aufgabengestaltung und -stellung die Autonomie der Einsatzkraft, wirkt damit positiv auf die Motivation und unterstützt somit den Lernprozess. Einsatzkräfte finden eigenständig Lösungen und werden dabei von Einsatztrainer*innen in ihren Entwicklungspotenzialen (u. a. individualisierte Unterstützung bei „rate limiters“) unterstützt. c) Einsatztrainer*innen Der CLA bietet Einsatztrainer*innen wie Lara ein praktisches Instrument zur Gestaltung und Reflexion des Einsatztrainings. Der CLA verlangt von Einsatztrainer*innen 1) die Identifikation von Schlüsselvariablen bzw. Merkmalen des Einsatzes, 2) die Identifikation der individuellen Bezugsrahmen der Teilnehmer*innen, 3) die Gestaltung des Trainings (das Constrainen) nach Maßgabe der in den Bereichen 1) und 2) fortlaufend gewonnenen Erkenntnisse und 4) die Reflexion pädagogischer Entscheidungen zur Trainingsgestaltung an den Grundlagen des Ansatzes (Reflexivität). Der CLA versteht sich dabei als Alternative zu bestehenden Modellen und Methoden. Er löst sie nicht ab, er besteht neben ihnen.
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Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings II – Das Trainer*innen-Mischpult Swen Koerner und Mario Staller
„The map is not the territory.“ – Alfred Korzybksi
Inhaltsverzeichnis 1 Das Mischpult im Überblick 2 Ausgangspunkt: Konfliktpraxis 3 Simulator und Player 4 Interaktion und Aufgabe 5 Situative Faktoren 6 Umweltfaktoren 7 Individuelle Faktoren 8 Intensität und Geschwindigkeit 9 Output 10 Flow, Instruktion, Feedback und Pause-Taste Literatur
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Reviewer*innen: Sandra Adiarte, Patrick Schreier S. Koerner (*) Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research, Deutsche Sporthochschule, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Staller Fachbereich Polizei, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_33
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Zusammenfassung
Einsatz-Trainer*innen sind per Auftrag Designer*innen von Lernumwelten. Ihr Trainingsdesign soll Lerner*innen eine individualisierte Auseinandersetzung mit den jeweils spezifischen Anforderungen der Einsatzumgebung ermöglichen. Um die damit einhergehenden Herausforderungen und praktischen Handlungsmöglichkeiten für Einsatztrainer*innen darzustellen, nutzen wir im Folgenden die Analogie des Mischpults, dessen Regler und Reglergruppen wir im Einzelnen vorstellen. Während das Mischpult Technik ist, ist seine Bedienung Kunst. Durch virtuoses Spiel an den Reglern ermöglichen Einsatztrainer*innen Trainierenden ein hohes Maß an Freiheit zur selbsttätigen Erkundung und Aneignung individueller Lösungen, die den situativen und normativen Anforderungen der Aufgabenbewältigung entsprechen. Einsatztrainer*innen bietet das Mischpult eine Grundlage für systematische Entscheidungen in der Planungs-, Durchführungs- und Auswertungsphase ihrer Trainings und kann dabei auf einzelne Phasen oder auf die gesamte Einheit angewandt werden. Zudem sind die Regler kategorial so bestimmt, dass sie eine Anwendung auf die in vielen Polizeien Deutschlands vorherrschende Unterteilung des Trainings in Lösungsoptionen (Taktik, Selbstverteidigung/Sicherung, Schießen) ermöglichen. Das Konzept des Mischpults basiert auf den Grundlagen des Constraints-led Approachs und schließt an den Beitrag „Impulse für die Gestaltung des Einsatztrainings I“ in diesem Handbuch an.
Kaum jemand beschreibt das Lehren heutzutage noch als direkten, linearen Durchgriff auf das Lernen (Treml 2000). Natürlich ist direkte Interaktion nach wie vor ein zentraler Bestandteil des Vermittlungsprozesses, gerade im polizeilichen Einsatztraining: Die Trainer*in redet, die Trainierenden hören zu (Cushion 2018). Allerdings widerspricht u. a. die aktuelle Hirnforschung der Annahme, dass im Einsatztraining Informationen von A nach B wandern (Becker 2012). Was wir zunächst aus Sicht (bzw. Gehör) der Zuhörenden haben, sind Schalldruckwellen. Je nachdem, was Lerner*innen damit anzufangen wissen (und ob überhaupt), wird daraus Information. Information ist kein ausgetauschtes, sondern stets ein selbst gemachtes, ein autopoietisches Produkt (Luhmann 1995). Daraus ist allerdings keineswegs der Schluss zu ziehen, im Einsatztraining auf Dialog und Unterweisung zu verzichten. Was daraus folgt ist vielmehr, 1. dass Lernen – als Aneignungen von Information, die einen Unterschied macht – die Anerkennung von selbsttätigen Lerner*innen (und deren Lernvoraussetzungen) voraussetzt und 2. die Anlässe für individuelle Anschlüsse dabei variabel zu gestalten sind (Staller 2021). Mit Blick auf ihr zentrales Bezugsproblem, das Lernen zu ermöglichen, hat die Pädagogik der Moderne ihre große Aspiration von Anfang an auch als indirekten Eingriff durch Kontextsteuerung verstanden. In Emile oder über die Erziehung (Rousseau 1962, Orig. 1762) beschreibt Rousseau, einer der Gründungsväter der modernen Pädagogik,
Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings II – Das Trainer*innen-Mischpult
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wie er ein „träges und faules“, eher der Lust am Kuchen als der „Lust am Laufen“ (1962, S. 141) zugeneigtes Kind dazu bringt, zu laufen und daran sogar Freude zu entwickeln – nicht durch grundgelehrte Unterweisung, sondern durch das Arrangement einer Lernumwelt, in der körperliche Anstrengung und Freude daran wahrscheinlich (also möglich) werden. In der Sprache des Constraints-led Approachs (CLA, siehe Beitrag „Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings I“) hat der Pädagoge in Emile nichts anderes getan, als Constraints der Aufgabe und Umwelt in einer Weise zu manipulieren, sodass diese zum gewünschten Lernziel führen: dem Kind „Lust zum Laufen beibringen, ohne etwas zu sagen“ (ebd.). Dass die Macht der Erziehung gerade im gezielten Design „Emilscher Welten“ besteht, ist mithin „ein alter Hut“. Diese Idee des Lernens durch Kontextsteuerung übertragen wir im Folgenden auf das Einsatztraining der Polizei. Einsatztrainer*innen als Einsatz-Trainer*innen sind schon qua Auftrag Designer*innen von Lernumwelten, die Lerner*innen eine individualisierte Auseinandersetzung mit den jeweils spezifischen Anforderungen der Einsatzumgebung ermöglichen. Um die damit einhergehenden Herausforderungen und praktischen Handlungsmöglichkeiten für Einsatztrainer*innen zu illustrieren, nutzen wir im Folgenden die Analogie des Mischpults (Koerner und Staller 2020a), dessen Regler wir im Einzelnen vorstellen, auf die jeweils zugrunde liegende Hardware beziehen und beispielhaft in ihrem Wechselspiel beschreiben. Die Inhalte des Mischpults leiten sich aus unseren Forschungen der letzten Jahre zum Einsatztraining ab (Koerner et al. 2020a, b; Koerner und Staller 2017a, b, 2020a, b; Körner und Staller 2020; Staller 2020; Staller et al. 2017a, b; Staller und Koerner 2019, 2020a, b; Staller und Körner 2020).
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Das Mischpult im Überblick
Die Bedienoberfläche des von uns entwickelten Trainingsmischpults ist aufgeteilt in zwei Ebenen. Mit Blick auf die obere Ebene regelt der/die Einsatztrainer*in das Herzstück der jeweiligen Trainingssession bzw. Übungsphase: die Interaktion zwischen den Trainierenden, die im Moment der Begegnung entweder in der Funktionsrolle von Player*innen (Polizist*in) oder in der Rolle von Simulator*innen (Konfliktpartner*in) aufeinandertreffen, ihr Verhalten im Rahmen von (einsatzbezogenen) Aufgaben aufeinander beziehen und dabei jeweils in ihrer Intensität und Geschwindigkeit reguliert werden können (Abb. 1). Auf der unteren Ebene des Mischpults stehen dem/der Einsatztrainer*in zusätzliche Regler und Reglergruppen zur Verfügung, anhand derer sich die Interaktionsprozesse im Training weiter an realen Einsatzbedingungen ausrichten und gestalten lassen. So können etwa Faktoren der Umwelt wie Lärm oder räumliche Enge (orange Reglergruppe) und situative Parameter, die aus Sicht von Polizist*innen die Aufgabenerfüllung im Einsatz kennzeichnen (grüne Reglergruppe) graduell in die Interaktion „eingespielt“ oder „heraus-
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Abb. 1 Das Trainingsmischpult
geregelt“ sowie Zustände am und in den Player*innen und Simulator*innen gezielt manipuliert werden (lila Reglergruppe). Eine Tonspur, hier dargestellt als weiße Linie, trennt die beiden Ebenen. Die Spur indiziert die Interaktionsfrequenz sowie den Flow des Trainings insgesamt. Die Mikroprozesse des Trainings werden in einer Output-Anzeige abgetragen: Angezeigt werden 1. die Ergebnisse des Lernens, 2. die Sicherheit der Lernumgebung sowie 3. die Motivation der Trainierenden. Die drei Dimensionen verstehen wir als Schlüsselkriterien, anhand derer Einsatztrainer*innen die Qualität im Training gestalten und bewerten können. Inwiefern das Einsatztraining das Ziel möglichst vieler qualitativ hochwertiger Interaktionen pro Zeiteinheit erreicht, hängt nicht zuletzt ab vom Interaktionsverhalten der Einsatztrainer*innen, die im Wesentlichen 1. durch das Stellen von Aufgaben und 2. in Form von verbalem Feedback in den Trainingsprozess eingreifen (können). Inhaltlich werden durch Instruktion und Feedback vor allem technische Aspekte und/oder Prinzipien in das Training „eingespielt“. Im Gegenzug pausiert der interaktive Flow zwischen den Teilnehmer*innen. Im Folgenden stellen wir die Regler und Reglergruppen genauer vor.
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Ausgangspunkt: Konfliktpraxis
Ausgangspunkt des Mischpults ist der Ausgangspunkt des Einsatztrainings: der Polizeieinsatz. Aus den Aufgaben und Tätigkeitsfeldern der Polizei sowie aus dem Wissen darüber, was einsatzbezogene Polizeiarbeit kennzeichnet, ergeben sich – kontextspezifisch – prototypische Inhalte für das Einsatztraining. Verkehrskontrollen, Identitätsüberprüfungen, Veranstaltungsschutz, häusliche Lagen und viele weitere polizeiliche Aufgabenfelder bergen neben der Möglichkeit normaler, einvernehmlicher Interaktionsverläufe das Potenzial
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zum Konflikt (Ellrich et al. 2011; Jager et al. 2013). Das Umschlagen normaler Einsätze in konfliktuöse Dynamiken und umgekehrt sowie die Eskalation von Konflikten bis hin zum Ausbruch von Gewalt bilden die Konfliktpraxis, die Polizeieinsätze potenziell kennzeichnen. Diese Konfliktpraxis ist der Ausgangspunkt für das polizeiliche Einsatztraining. Als Training für den Einsatz zielt es darauf ab, Polizist*innen als Konflikt-Beteiligte im professionellen Umgang mit den damit einhergehenden Anforderungen zu schulen und dafür entsprechende Lernumgebungen zu schaffen (Koerner und Staller 2020a; Staller 2020).
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Simulator und Player
Einsatztraining ist nicht Einsatz, es repräsentiert den Einsatz (Staller et al. 2017b). Repräsentation bedeutet, dass das Training (als Bild) einzelne Merkmale (Pixel) und Merkmalsbündel (Pixelgruppen) aufweist, die die Einsatzrealität (Original) kennzeichnen, ohne diese jedoch 1:1 abzubilden: Die Merkmale können aus- oder eingeblendet, kombiniert oder isoliert, verkleinert oder vergrößert werden. Das Mischpult bietet einen didaktischen Lösungsansatz dafür, diese Repräsentation systematisch zu gestalten. Kernelement dazu ist die Unterscheidung der Funktionsrollen von Player*in und Simulator*in. Während die/ der Player*in im Training die Rolle der/des Polizist*in im Einsatz repräsentiert, übernimmt die/der Simulator*in die Rolle der/des Bürger*in. Grundidee dieser Rollenstruktur ist es, eine Trainingssession oder Übungseinheit als repräsentative Simulation zu sequenzieren: Simulator*innen verhalten sich so, wie sich Bürger*innen in Einsatzsituationen „draußen“ verhalten; Player*innen wiederum verhalten sich dazu, wie sie sich als Polizist*innen „draußen“ auftragsgemäß dazu zu verhalten hätten. Im Sinne des in diesem Handbuch vorgestellten Contraints-led Approachs (siehe Beitrag „Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings I“) bildet die systematische Strukturierung von Trainingsprozessen entlang jener Rollenfunktionen, die Realeinsätze kennzeichnen, den zentralen Constraint, an dem sich einsatzbezogenes Handeln im Training auszurichten hat. Die Rollenstruktur gilt nicht nur im Rahmen komplexer Szenarien, sondern auch für vergleichsweise isolierte Übungsformen, etwa bei Übungen zur empathischen Kommunikation, Partnerdrills mit Gelbwaffen oder Schlagübungen am Polster: Die/der Polsterhalter*in zeigt der/dem Player*in die Wirkung an, die der Schlag ohne Polster bei ihr/ihm gehabt hätte – z. B. durch Absinken des Körperschwerpunkts; die/der Simulator*in gibt der/dem Player*in einen Grund, die Gelbwaffe von der aufmerksamen in die entschlossene Sicherheitshaltung zu führen – z. B. durch aggressive Annäherung mit einem Messer; die/der Player*in erkennt durch aktives Zuhören, dass die Aggression beim/bei der Übungspartner*in gar nicht gegen sie/ihn als Polizist*in gerichtet ist, sondern auf ein traumatisches Erlebnis zurückgeht – die/der Simulator*in hatte in einem Halbsatz erwähnt, „gerade das Wichtigste im Leben verloren zu haben“. Die Grundkonstellation einer potenziellen Konfliktpraxis, auf die sich das Einsatztraining bezieht, ist am Mischpult durch die
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Gegenüberstellung der „Turntables“ von Player*in und Simulator*in repräsentiert. Die Aufgabe von Einsatztrainer*innen für eine Trainingssession besteht darin, die Beziehung zwischen beiden Funktionsrollen durch geschicktes „Turntabling“ abwechslungsreich zu gestalten und repräsentativ Merkmale „der Realität“ einzumischen. Das Mischpult bietet die Regler dazu.
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Interaktion und Aufgabe
Treffen Player*in und Simulator*in aufeinander, entsteht Interaktion. Je nach Zielen, Interessen und Zuständen und je nachdem, wie Player*in und Simulator*in diese wechselseitig wahrnehmen und daraufhin handeln, kann die Interaktion – am Mischpult repräsentiert durch den Interaktionspfeil – unterschiedliche Dynamiken annehmen. Z. B. kann Player*innen bei einer häuslichen Gewaltlage Einsicht und Folgebereitschaft, aber auch der Widerstand von Simulator*innen begegnen. Die Aufgabe der/des Player*in im Beispiel besteht darin, die Situation insgesamt unter Kontrolle zu bringen, die betroffene Person zu schützen und weitere Maßnahmen einzuleiten. Die Aufgabe kann je nach Verhalten der Simulator*innen und den dahinterbefindlichen Interessen, Zielen und Zuständen unterschiedliche Teilaufgaben beinhalten: Einschreiten, Sichern, Zuhören, Reden, Androhen, Einsatz von Zwangsmitteln u. Ä. m. Die Arbeit von Einsatztrainer*innen am Mischpult besteht darin, die Simulator*innen und Player*innen während einer Trainingssession mit einer Bandbreite repräsentativer Aufgaben zu versorgen. Neben dem Weg über direkte Instruktionen, im Trainingsprozess notwendig verbunden mit Zeitkosten zuungunsten aktiver Lernzeit für die Trainierenden (Cushion 2018; Koerner und Staller 2020b), können Einsatztrainer*innen Aufgaben-Skripte nutzen. Das Skripten von Aufgaben bildet ein Kernelement des Mischpults. In Form von Aufgaben-Tapes werden sie in der Planungsphase angefertigt und liegen zur Trainingssession vor. Das Generieren von Aufgaben-Skripten für Simulator*innen kann z. B. nach folgendem Muster erfolgen: ) Bestimmung der Situation: z. B. Kontrolle, häusliche Lage etc. 1 2) Bestimmung des Themas: z. B. Bürger*inneneinwände, Mental Health Crisis etc. 3) Beschreibung der Einstellung und Verhaltensoptionen der/des Simulator*in 4) Anweisung, wie auf Player*innen-Verhalten zu reagieren ist Angefertigte Aufgaben-Skripte können z. B. in Form von laminierten Karten ins Training „eingespielt“ werden. Während verbale Erläuterungen von Rollenskripten den Trainingsfluss unterbrechen, lässt sich mit vorbereiteten Skript-Karten das Betätigen der Pause-Taste für die Lernzeit der Trainierenden vermeiden. Die Zuteilung erfolgt entweder gezielt an einzelne Teilnehmer*innen oder über Zufallsmethoden (z. B. per Stapelziehen). Mithilfe der Karten finden sich die Simulator*innen schnell in ihrer Rolle zurecht: Situa-
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Abb. 2 Beispiel Aufgaben-Skript Simulator*in
tion, Thema, Verhaltensweisen und Hintergründe sind prägnant dargestellt und lassen sich leicht erfassen. Hier ein Beispiel (Abb. 2): Die Skripte sind in ihrer Einsatzrelevanz erweiterbar. Der Skripte-Generator kann optional u. a. auch mögliche Lösungen und Lösungstools (z. B. aktives Zuhören, Schusswaffengebrauch, taktisches Kreuzen etc.) sowie beispielhafte Vorgehensweisen umfassen, um das Simulator*innen-Verhalten noch besser auf das gezeigte Player*innenVerhalten abzustimmen. Nicht nur am Rande fördern (bzw. constrainen) die Player*innen-Skripte den Perspektivwechsel: Polizist*innen schlüpfen hier in die Rolle derer, denen sie ansonsten „draußen“ ausschließlich in der Person des/der anderen begegnen, inklusive der hier nur sehr bedingt verfügbaren internen Zustände (Wahrnehmungen, Motive, Interessen, Ziele). Das Skripten von Aufgaben bietet trainingspädagogisch weitere Vorteile. So können Trainingsinhalte an die Voraussetzungen der Teilnehmer*innen angeschlossen werden – ein zentraler Mechanismus professionellen Coachings (siehe Beitrag „Coaching im Einsatztraining“). Indem nicht nur die/der Einsatztrainer*in, sondern auch die Trainierenden aktiv in die Skripterstellung eingebunden werden, bekommen diese die Möglichkeit, eigene Erfahrungen aus Einsätzen im Training anzubringen, was insbesondere in motivationaler Hinsicht förderlich ist: Indem ihre Perspektiven anerkannt und maßgeblich in Gestaltungsprozesse eingebunden werden, erhöhen sich das Engagement und die wahrgenommene Usefulness von Maßnahmen aus Sicht der Trainierenden (Jones 2009). Der vorgestellte Skripte-Generator forciert zudem den reflexiven Umgang mit Erfahrungswissen (siehe Beitrag „Der/die reflektierte Praktiker*in“).
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Geladen mit einer Bandbreite repräsentativer Skripte (die im Sinne eines Fallarchivs weiterentwickelt werden können), kann die/der Einsatztrainer*in am Mischpult den Aufgabenregler abwechslungsreich betätigen. Dadurch ändert sich die Interaktions- bzw. Konfliktpraxis und die jeweils an ihre erfolgreiche Bewältigung gestellten Anforderungen. Bei den Player*innen wird adaptives Lösungsverhalten stimuliert und gewissermaßen ein eigener Sound der Konfliktlösung ermöglicht. Dieser Lernprozess kann durch weitere Regler unterstützt werden.
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Situative Faktoren
Eine zentrale Reglereinheit am Mischpult bildet die Gruppe situativer Faktoren (grüne Reglergruppe), die Realeinsätze der Polizei kennzeichnen und damit die polizeiliche Aufgabenbewältigung bedingen. Auf unserem Trainingsmischpult finden sich die Regler Dynamik, Aggressivität, Überraschung und Chaos, die sich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – aus Daten zahlreicher empirischer Untersuchungen zu Polizeieinsätzen herleiten. Einsatzsituationen können übersichtlich und geordnet oder chaotisch verlaufen, an Dynamik gewinnen oder verlieren, von jetzt auf gleich eine unerwartete Wendung nehmen und im Konfliktfall das Moment hoher Aggressivität enthalten (Ellrich et al. 2011, 2014; Jager et al. 2013; Koerner und Staller 2019a; Renden et al. 2015). Mit dem Mischpult haben Einsatztrainer*innen die Möglichkeit, durch das Betätigen einzelner oder mehrerer Regler dieser Gruppe konstitutive einsatzbezogene Merkmale der Situation in eine Übungsform einzuspielen oder auszublenden und damit für Lerner*innen die Anforderungen an die Aufgabenerfüllung graduell zu variieren. Die Situationsfaktoren können dabei einzeln oder in Verbindung behandelt werden, je nach Lernziel und Aufgabenbewältigung. Die Simulation einer Identitätsfeststellung kann am Mischpult z. B. so geregelt werden, dass der Aggressionsregler von Anfang an hoch eingestellt ist – damit ist die Situation so constraint (siehe Beitrag „Impulse für die Gestaltung des Einsatztrainings I“), dass Player*innen lernen, Bewältigungsstrategien im Umgang mit Aggression zu entwickeln und anzuwenden. Der Fokus läge allein darauf. Mischt die/der Trainer*in den Überraschungsregler ein, verschiebt sich der Fokus darauf, mit plötzlich auftretender Aggression während der Kontrolle klarzukommen; führt die/der Trainer*in noch weitere Variablen ein (z. B. weitere eingreifende Simulator*innen), erhöht sich der Chaosgehalt der Situation usw. Situative Einsatzmerkmale bilden ein Kernelement des Mischpults. Ihre Einspeisung kann z. B. über die oben vorgestellten Simulator*innen-Skripte in Form von Verhaltensattributen erfolgen („Wenn der/die Player*in x macht, kann Du sie/ihn anschreien/bedrängen/angreifen …“). Die Trainierenden werden dadurch mit typischen Belastungsfaktoren polizeilicher Einsätze wie Stressempfinden, Gefühlen der Überforderung und Entscheidungsdruck (Ellrich et al. 2014; Jager et al. 2013; Koerner und Staller 2019a) konfrontiert, an diese gewöhnt und erweitern damit das Handlungsrepertoire ihrer persönlichen Konfliktpraxis. Die situativen Regler können mit weiteren Reglern und Reglersets am Misch-
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pult kombiniert werden, wodurch sich die Repräsentativität des Trainings weiter senken oder erhöhen lässt.
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Umweltfaktoren
Die Interaktion zwischen Player*innen und Simulator*innen kann durch die gezielte Manipulation von Umweltfaktoren (gelbe Reglergruppe) an reale Einsatzgegebenheiten angepasst oder davon entkoppelt werden. Geregelt wird hier der Bereich ambienter Bedingungen, die gleichsam den „harten“ Kontext von Einsätzen bilden. Dieser Kontext wird am Mischpult gezielt manipuliert: Die/Der Einsatztrainer*in kann den Ort der Simulation einer Identitätsfeststellung verdunkeln oder erhellen, die Geräuschkulisse bei einem Polsterdrill variieren, Verkehrskontrollen unter den jeweils aktuellen Wetterbedingungen durchführen lassen oder bei einer taktischen Lage die Sicht- und Handlungsbedingungen durch räumliche Enge, uneinsehbare Winkel etc. manipulieren. U. a. Forschungen zum Contraints-led Approach legen nahe, dass Leistungserbringung beim Einzelnen und im Team aus der gelingenden Interaktion mit relevanten Umweltfaktoren resultiert (Araújo et al. 2017; Araujo und Davids 2018; Hristovski et al. 2006, 2009; Orth et al. 2017, 2019; Ramos et al. 2020), die das Handeln mit entscheidenden Informationen versorgt. Inwiefern Player*innen im Training dazu imstande sind, sich auf Faktoren der Umwelt hin auszurichten (attunement) und diese situativ als Informationsquelle für funktionales Handeln zu nutzen, ist wiederum abhängig von grundsätzlich vorhandenen und aktuell verfügbaren Ressourcen und Kapazitäten. Diese bilden als individuelle Faktoren ein weiteres Reglerset am Mischpult des Einsatztrainings.
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Individuelle Faktoren
Der zentrale Bezugsrahmen für das Einsatzhandeln von Polizist*innen sind die individuellen Voraussetzungen, Zustände und Begebenheiten. Sie entscheiden darüber, ob und wie Faktoren der Umwelt und der Situation wahrgenommen, verarbeitet und als handlungsleitende Informationen zur Aufgabenbewältigung genutzt werden. Am Mischpult ist dieser Reglertypus im lilafarbenen Reglerset repräsentiert und umfasst neben äußeren Bedingungen wie Kleidung und Ausrüstung die internen emotionalen, geistigen und körperlichen Voraussetzungen und Zustände. Aus Forschungen ist bekannt, dass das Tragen von Ausrüstung (load carriage, Orr 2012), eine hohe kognitive Belastung (Andersen et al. 2018; Bennell et al. 2007; Boulton und Cole 2016; Mugford et al. 2013) sowie physiologische und motorische Anforderungen (di Nota und Huhta 2019) die Leistungserbringung von Polizeivollzugsbeamt*innen maßgeblich bestimmen und limitieren. Durch Betätigen einzelner oder mehrerer dieser Regler können Trainingssessions und Übungsphasen diesem Umstand Rechnung tragen.
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An dieser Stelle des Trainingsdesigns bietet sich ebenfalls die Erstellung und Nutzung von Skripten an, diesmal für die Player*innen, die im unmittelbaren Vorfeld einer Simulation (Fahrzeugkontrolle, häusliche Gewaltlage etc.) z. B. in Form von laminierten Player*innen-Karten systematisch oder per Zufallsmethode geistig und/oder körperlich und/ oder emotional, mit oder ohne Ausrüstung manipuliert werden. Hierbei können wiederum einzelne oder mehrere Regler der Gruppe gleichzeitig oder sequenziell bedient werden, auch in Verbindung mit situativen und Umweltfaktoren. Da Polizist*innen im Einsatz mit einem plötzlichen Umschlagen der Situation konfrontiert sein können, kann die Manipulation gerade auch in einer gezielten vorherigen Entspannung der Player*innen liegen, aus der heraus dann mit der plötzlichen Veränderung umgegangen werden muss. Die repräsentative Gestaltung von Trainingssessions stellt hohe Anforderungen an die Trainerenden. Um ein Lernen-im-Kontext zu unterstützen, steht ein weiteres, in trainingspädagogischer Hinsicht wichtiges Reglerduo zur Verfügung.
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Intensität und Geschwindigkeit
Je mehr Regler im Einsatztraining in Richtung Einsatz-Repräsentativität bedient und hochgefahren werden, desto mehr gibt es aus Sicht der Trainerenden zu verarbeiten – und potenziell zu lernen. In trainingspädagogischer Hinsicht macht es dabei Sinn, die Regler der Geschwindigkeit und Intensität zu variieren. Werden z. B. Dynamik und Chaos im Rahmen der Simulation einer taktischen Lage hochgefahren und dabei zusätzlich ambiente Faktoren wie Lärm und diffuse Lichtverhältnisse eingespeist, bietet sich beim Einsatz von körperlichen Mitteln oder von Schusswaffen die Regelung der Kontakt-Intensität an. Dies kann durch Nutzung von Nerf- oder Air-soft-Pistolen geschehen, die eine hohe Dynamik der Interaktion ermöglichen und zugleich ein reduziertes, aber haptisch wahrnehmbares Feedback zum Handeln ermöglichen: Wird die/der Player*in getroffen, spürt sie/er dies. Für den Einsatz von körperlichen Mitteln, etwa mit dem Ziel einer „Gewaltgewöhnung“, können unterschiedliche Kontakt-Intensitäten definiert und eingestellt werden, von kontrolliertem Nicht-Kontakt über Skintouch (= leichter Hautkontakt) bis zu mittlerem und schwerem Kontakt. Je höher die Kontakt-Intensität, desto größer der Bedarf an Sicherheitsvorkehrungen, wie das Anlegen von Schutzausrüstung und weitere Regler- Anpassungen, die etwa die Dynamik, das Chaos und die Aggression aus der Simulation „heraus-faden“. Bei der Bewältigung motorisch und taktisch anspruchsvoller Aufgaben und Aufgabenteile macht es für die Player*innen Sinn, mit dem Geschwindigkeitsregler zu spielen. Eine schnelle Ausführung der Lösung geht gerade bei Noviz*innen auf Kosten der Funktionalität, funktionale Lösungen wiederum zahlen nicht selten den Preis der Langsamkeit (am Beispiel des speed-accuracy trade-off, Molina et al. 2019). Am Mischpult des Einsatztrainings kann der Ablauf technischer Vorgehensweisen und die Anwendung wichtiger Prinzipien in unterschiedlichen Tempi erfolgen: mal schnell, dann in Zeitlupe, dann mit 50 %, dann wieder schnell. Bei hoher Geschwindigkeit wird getestet (Effizienz), bei reduzier-
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tem Tempo wird gelernt (Bewusstmachung wichtiger Ausführungsprinzipien und Ankerpunkte). Die Kontakt- und Geschwindigkeitsregler ermöglichen zudem ein differenziertes „Beat matching“ zwichen den Plattentellern von Simulator*innen und Player*innen. So kann z. B. ein (körperlicher/oder auch verbaler) Angriff der/des Simulator*in auf Zeitlupengeschwindigkeit heruntergeregelt werden, während die Lösung (eine Verteidigung/eine deeskalierende Erwiderung) der/des Player*in in voller Geschwindigkeit erfolgt. Dass die Trainierenden im Einsatztraining einsatzrelevante Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernen, ist eine der zentralen Outputdimensionen.
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Output
Die Output-Anzeige des Mischpults enthält neben dem Lernen die Regler Motivation und Sicherheit. Die Lernanzeige erfasst, ob die Trainierenden im Training für repräsentative Aufgaben funktionale Problemlösungen erkunden und anwenden konnten: Hat die/der Player*in die simulierte Besorgnis einer/s Bürger*in trotz aufgeheizter Stimmung empathisch erkennen und kommunikativ beschwichtigen können? Hat das Streifenteam die Tür bei einer unklaren häuslichen Lage richtig „genommen“? Konnte der Schlagangriff pariert und die/der aufgebrachte Bürger*in erfolgreich festgesetzt werden? Wurden Lösungen erfolgreich wiederholt? Gab es wiederkehrende Strategien, Prinzipien oder Techniken? Bei welchen Durchläufen? Bei welchen nicht? Bei welchen anders? u. s. f. Das Kriterium für Funktionalität ist normativ und situativ bestimmt: Hat die individuell oder kollektiv vollzogene Handlung im konkreten Fall das Problem gelöst? Und bewegt sich die situativ passende Lösung auf dem normativen Boden bestehender Dienst- und Menschenrechte sowie prosozialer handlungsethischer Grundlagen? Uns ist bewusst, dass diese Bestimmung von Funktionalität aktuell gängigen Curricula der Polizei in Teilen nicht entspricht. Der Lernregler des Mischpults ist grundsätzlich offen für andere Programmierungen, etwa durch ein Technik-Curriculum. Die Lernanzeige schlägt dann aus, wenn die „richtige“ Technik bei den Player*innen zu sehen ist. Der Sicherheitsanzeige bietet ein Messinstrument für die Gestaltung und Bewertung von Simulationen unter dem Aspekt der Gesundheit und Sicherheit der Trainierenden. Die jeweilige Regelung ist u. a. abhängig von der Zielgruppe. Sind die Teilnehmer*innen des Einsatztrainings unverletzt geblieben. Gab es riskante Momente? Durch welche Regler kann die Sicherheit im Training unterstützt werden, z. B. gerade dann, wenn repräsentative Umwelt- und situative Faktoren hochgefahren wurden? Die Teilnehmer*innen polizeilicher Einsatztrainings haben ein hohes Bedürfnis nach Gesundheit und Sicherheit (Staller 2020). Inwiefern das Training diesen Bedürfnissen entspricht, dürfte unmittelbaren Einfluss auf das Engagement im Training und die Teilnahme daran haben. Der Pegel des Ausschlags auf der Sicherheitsanzeige ist daher beachtenswert. Gleiches gilt für die dritte Output-Dimension: die Motivation. Die Motivationsanzeige indiziert die Aktual-Motivation und macht am Mischpult ablesbar, wie einzelne Übungen
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und ganze Trainingssessions in motivationaler Hinsicht auf die Teilnehmer*innen wirken. Sind sie engagiert und fokussiert, mit hohem Einsatz und Freude bei der Sache? Motivation ist eine der zentralsten Bedingungen für das Lernen (Jones 2009). Das Mischpult erlaubt es Einsatztrainer*innen, selber zu erkunden, mit welchen Reglern, Einstellungen und Variationen sie in motivationaler Hinsicht das meiste bei ihren Teilnehmer*innen bewegen. Die drei Outputs bieten Einsatztrainier*innen handfeste Kriterien, an denen sie die Lernziele ihrer Trainingssessions im Vorfeld planen und gestalten können. Im Training ermöglicht eine Sensibilität für die jeweiligen Pegel-Ausschläge situative Anpassungen, etwa, wenn Übungen zu langweilig oder gefährlich sind oder aber vollzogene Lösungen zwar individuell passen, aber gegen Rechtsvorschriften verstoßen (oder umgekehrt) oder handlungsethische Fragen aufwerfen. Schließlich erlaubt die Output-Anzeige eine Ex-post-Bewertung der Trainingssessions. Lernen, Sicherheit und Motivation bilden die Qualitätsmaße für hochwertige Trainings-Interaktionen pro Zeiteinheit. Die Beziehung zur Zeiteinheit ist bewusst formuliert, denn zumindest aus Daten jüngerer Fallstudien geht das Verhältnis von für Training verfügbarer und tatsächlich genutzter Zeit als kritischer Faktor hervor (Cushion 2018; Staller 2020): Eine Trainingsstunde ist nicht gleichzusetzen mit einer Stunde Training (Koerner und Staller 2020b).
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Flow, Instruktion, Feedback und Pause-Taste
Beim DJing besteht das Ziel darin, die Menge im Takt der Musik zum Tanzen zu bringen. Der Schwerpunkt der DJ-Performance liegt im virtuosen Spiel an den Reglern. Das Mi krofon nutzt der oder die DJ*in nur in Ausnahmefällen, sehr bewusst und wohldosiert, denn durch das Drücken der Mikro-Taste interferiert die Stimme mit dem Track oder dominiert diesen sogar. Aus Sicht der Mischpult-Analogie verfolgt das Einsatztraining eine ähnliche Zielsetzung. Im Sinne der anvisierten Outputs möchte es den Teilnehmer*innen durch ein virtuoses Spiel an den Reglern eine maximale Anzahl an hochwertigen, d. h. funktionalen, motivierenden und dabei gleichzeitig sicheren (Konflikt-)Interaktionen pro Zeiteinheit ermöglichen. Um diesen Flow zu erzeugen, variieren Einsatztrainer*innen die Aufgaben und Rollen, das Handlungstempo, die Intensität, die situativen Faktoren und individuellen Voraussetzungen sowie die Bedingungen der Umgebung. Die Wirkung der eingesetzten Parameter zeigt sich auf der Tonspur in der Mitte des Mischpults. Die Peaks indizieren Belastungsspitzen des Trainings, die Täler verweisen auf ruhigere Phasen. Der Abstand dazwischen zeigt die Frequenz, in der Spitzen und Täler auftreten und sich abwechseln. Analog zum DJ im Club plädieren wir für Einsatztrainer*innen am Mischpult dafür, die Mikro-Taste sehr bewusst und dosiert zu bedienen, da mit jeder verbalen Instruktion und jedem direkten Feedback automatisch das Drücken der Pause-Taste einhergeht. Wenn der oder die Trainer*in redet, und (wenn) die Trainerenden zuhören, ist Lernen keineswegs ausgeschlossen. Es reduziert sich allerdings auf deklaratives Wissen über ein prozedurales Können, das selbst besser prozedural, also durch praktisches Tun, unterstützt von essenzi-
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ellen Informationen, erworben wird (Masters und Maxwell 2008; Newcombe et al. 2019; Sanders und Murray 2017). Vor allen Dingen stoppt langwieriges Aufgabenstellen und Feedbackgeben seitens der Trainer*innen den Flow der Interaktion. Talphasen einer Tonspur indizieren Phasen im Training, in denen für Lerner*innen das eigene aktive Erkunden von Lösungen für gestellte Aufgaben suspendiert ist. Der Track weicht der Stimme der/des Trainer*in, die Dynamik dem Stillstand. Die verbreitete Annahme, dass Lernen nur dann funktioniert, wenn Lehrende möglichst lange viel Richtiges erzählen, ist mindestens seit Rousseau diskutabel. Das Mischpult und die Verschaltung von Instruktion, Feedback und Pause-Taste verdeutlichen aber zunächst nur den Zusammenhang. Inhaltlich können die Regler für das Stellen von Aufgaben und das Geben von Rückmeldungen unterschiedlich programmiert werden. Im Kern lassen sich zwei Orientierungen und Vorgehensweisen unterscheiden. Bei der einen stehen Technik und Ausführung im Zentrum, bei der anderen Prinzipien und Ziele (Moy et al. 2015; Wulf 2007): 1. Internal focus of attention: Den internalen Aufmerksamkeitsfokus der Teilnehmer*innen adressieren Einsatztrainer*innen dadurch, dass sie wichtige technische Ausführungsmerkmale einer Lösung in den Mittelpunkt ihrer verbalen Aufgabenstellung oder Rückmeldungen stellen. Das Lernziel ist das Nachmachen einer ganz bestimmten idealen Lösung (diese und kein andere). Die Erläuterung ist ausführlich und lang. Beispiel Verteidigung gegen Messerstich: „Den Ellenbogen zwischen 90 und 120 beugen, Finger leicht abspreizen und anspannen, messerführenden Arm auf Angriffslinie blocken, seitliche Hüftrotation … “. 2. External focus of attention: Den externalen Aufmerksamkeitsfokus der Teilnehmer*innen adressieren Einsatztrainer*innen dadurch, dass sie das Ziel und Ergebnis einer Handlung sowie dafür nützliche Prinzipien in den Mittelpunkt ihrer Instruktion oder Rückmeldung stellen. Das Lernziel ist das Erkunden und Finden individuell umsetzbarer Lösungen. Die Erläuterung ist prägnant und kurz. Beispiel Verteidigung gegen Messerstich: „Bring etwas zwischen Dich und den Waffenarm“. Das Mischpult ermöglicht es Einsatztrainer*innen, die Wirkung des Einsatzes beider Strategien, etwa auf den Flow des Trainings, die Motivation und das Lernen der Teilnehmer*innen, selbst zu erkunden. Fazit Das Mischpult bildet eine Bedienoberfläche für die Gestaltung, Durchführung und Reflexion des Einsatztrainings, die sich primär an der Idee des Lernens durch Kontextsteuerung orientiert. Zwar beinhaltet das Mischpult auch den Regler der direkten Instruktion und Rückmeldung, ihr Einsatz erfolgt allerdings bewusst und wohldosiert, um den intendierten Flow qualitativ hochwertiger Interaktion pro Zeiteinheit für die Lerner*innen nur an den nötigsten Stellen zu unterbrechen. Entsprechend liegt der Fokus des Mischpults und die
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Anforderung für Einsatztrainer*innen in der indirekten Steuerung des Lernprozesses durch das virtuose Einmischen und Regulieren von Kontextvariablen. Der Bedienoberfläche zugrunde liegen empirische und theoretische Wissensstrukturen zur Konfliktpraxis polizeilicher Einsätze, deren Kontextspezifität, den Voraussetzungen und Bedürfnissen von Polizist*innen in der lernenden Auseinandersetzung mit den prototypischen Anforderungen dieser Konfliktpraxis im Setting des Einsatztrainings sowie zu Fragen der Vermittlung. Die Stränge laufen im Modell Professionellen Coachings (ProCM) zusammen und münden, aufeinander abgestimmt, in eine stringente Coaching-Praxis (siehe dazu ausführlich Beitrag „Coaching im Einsatztraining“). Das Trainingsmischpult vertieft die Orientierung innerhalb der Wie-Dimension der Vermittlung und konkretisiert dabei den Ansatz des Constraints-led Approachs (siehe Beitrag „Impulse für die Gestaltung des Einsatztrainings I“) zu einem plastischen Handlungstool für Trainer*innen: Die Regler operationalisieren u. a. Constraints der Aufgabe, der Umwelt und des Individuums.
Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die Praxis
Das Mischpult liefert der Praxis des Einsatztrainings und die beteiligten Akteure wichtige Impulse zur Gestaltung künftiger und zur Reflexion vergangener Einsatztrainings. a) Entscheider*innen Für Entscheider*innen bietet das Trainingsmischpult wichtige Orientierungen für die Ausrichtung und Auswahl zielgruppenspezifischer Aus- und Fortbildungsmaßnahmen sowie inhaltlicher Schwerpunktsetzungen. Einzelne Regler und Reglergruppen sowie der daraus trainingspädagogisch resultierende Vermittlungszu sammenhang („Wie können Einsatztrainer*innen das Mischpult anwenden?“) repräsentieren zentrale Wissensbereiche, für deren Aneignung und kompetente Nutzung Einsatztrainer*innen entsprechende Zugänge und Angebote zu schaffen sind. Weiterhin liefert das Mischpult für Entscheider*innen in Abstimmung mit Einsatztrainer*innen eine Matrix zur systematischen Revision und ggf. Modifikation bestehender Ausbildungscurricula. Dies umfasst nicht nur einzelne Inhaltsbereiche (z. B.: „Ist die Reglergruppe situativer Faktoren ausreichend repräsentiert?“), sondern auch bestehende Strukturierungen wie etwa die isolierte Aufsplittung der Ausbildung nach Lösungsoptionen (Schießen, Taktik und Selbstverteidigung), für die es in der komplexen Einsatzrealität von Polizist*innen keine isolierte Entsprechung gibt. b) Einsatzkräfte So technokratisch das aus Einzelreglern bestehende Mischpult anmutet, so ermöglicht seine Bedienung für die Trainierenden ein hohes Maß an Freiheit zur Erkundung und Aneignung individueller und zielfunktionaler Lösungen. Durch die Ausei-
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nandersetzung mit repräsentativen Aufgaben in Form von Skripten, deren gezielt oder mittels Zufallsmethode erfolgende Zuteilung, die Konfrontation mit repräsentativen Situations- und Umweltfaktoren, die Manipulation individueller Zustände, das Erleben der Perspektive der/des anderen durch die Differenzierung von Player*innen- und Simulator*innen-Rollen sowie das Einbringen eigener Praxiserfahrungen entsteht eine Trainingsumgebung, die für die Lerner*innen mehr ist als die Summe ihrer einzelnen Regler. Für Einsatzkräfte ist die am Mischpult designte Lernumgebung repräsentatives Training für den Einsatz, das zugleich motiviert und dem Bedürfnis nach Sicherheit und Gesundheit entspricht. c) Einsatztrainer*innen Auch für Einsatztrainer*innen ist das Mischpult mehr als die Summe einzelner Regler. Indem sie einzelne Regler und Reglergruppen gezielt nutzen und kunstvoll kombinieren, können Trainer*innen die Wirkung ihrer Einstellungen direkt beobachten, systematisch auf wahrscheinliche Lösungen ihrer Lerner*innen zusteuern, aus Wechselwirkungen zwischen einzelnen Reglereinstellungen neue Schlüsse ziehen (z. B. hohe Intensität beim Training im scharfen Schuss reduziert die Interaktionsdynamik und damit entscheidend die Repräsentativität der Aufgabe) oder sich von den emergenten, unerwarteten Wirkungen ihres virtuosen Spiels an den Reglern überraschen lassen. Einsatztrainer*innen liefert das vorgestellte Mischpult für alle Phasen der Didaktisierung ihrer Trainings wertvolle Orientierungen. Es eignet sich für eine an langfristigen Lernzielen ausgerichtete Trainingsplanung (Planungsdidaktik) ebenso wie für die heißen „on-spot“-Entscheidungen im Hier-und-Jetzt des Trainings (Gegenwartsdidaktik), mit denen Trainer*innen festlegen, wie es weitergeht, was als Nächstes kommt, und sich dafür „primär an variablen Faktoren, ja an Ereignissen orientieren“ (Luhmann und Schorr 1982, S. 27) Eine interessante Anwendung, mit der Trainer*innen ihre Fähigkeit zur Situativität im Coaching (Koerner und Staller 2019b) schulen können, besteht darin, das Mischpult als Trainer-Team zu nutzen. Während die/der erste Trainer*in eine Einstellung am Mischpult vornimmt, kann der oder die zweite Trainer*in deren Wirkung beobachten und sich die nächste sinnvolle Einstellung überlegen und vornehmen, während der oder die erste Kolleg*in beobachtet und den nächste Regulierung entscheidet usw. Schließlich liefert das Mischpult Kriterien für eine systematische Ex-post-Reflexion des Trainingsprozesses (Auswertungsdidaktik), deren Ergebnisse wiederum für künftige Planungs- und on-spot-Entscheidungen genutzt werden können. Ferner sind die Kategorien bzw. Regler auf einer Abstraktionsebene formuliert, die eine Anwendung auf die in vielen Polizeien Deutschlands vorherrschende Unterteilung des Einsatztrainings in Lösungsoptionen (Taktik, Selbstverteidigung/Sicherung, Schießen) ermöglicht.
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Überlegungen zur Anwendbarkeit der Cognitive Load Theory auf die Gestaltung polizeilicher Einsatztrainings: Braucht es eine kognitive Wende im Polizeitraining? Stefan Schade und Markus M. Thielgen
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 2 Gedächtnispsychologische Grundlagen 3 Cognitive Load Theory 4 CLT im Polizeitraining 5 Diskussion Literatur
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Zusammenfassung
Als eine empirisch gut untersuchte Theorie aus der Pädagogischen Psychologie liefert die Cognitive Load Theory (CLT) auf der Grundlage der kognitiven Architektur des Lernenden didaktische Empfehlungen für die Gestaltung von Lernmaterialien und -umgebungen („instructional design“). Für die Entwicklung von Expertise sind hierbei insbesondere das kapazitätsbegrenzte Arbeitsgedächtnis und das Langzeitgedächtnis mit Reviewer*innen: Thomas Meuser, Christian Pill S. Schade (*) Abteilung 1 – Studium, Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz, Hahn-Flughafen, Deutschland E-Mail: [email protected] M. M. Thielgen Abteilung 1 – Studium, Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz, Hahn-Flughafen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_34
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unbegrenzter Speicherkapazität zu berücksichtigen. Lernen besteht demnach darin, Wissen als Schemata im Langzeitgedächtnis anzulegen, um in der Folge den automatisierten Abruf gespeicherter Inhalte sowie deren Übersetzung in entsprechende Handlungsabläufe in einer gegebenen Situation zu ermöglichen. Wird das Arbeitsgedächtnis des Lernenden beim Lernen allerdings überlastet, kann der Lernprozess behindert werden. Im Polizeitraining sollen jene Handlungen, wie zum Beispiel das Schießen mit der Pistole oder die Anwendung einer Kampftechnik zur Selbstverteidigung, so gelernt werden, dass die kognitive Überlastung der Trainierenden beim Lernen vermieden wird und dass im realen Polizeieinsatz unter Stress und Lebensgefahr möglichst noch hinreichend funktional gehandelt werden kann. Angesichts dessen scheinen gerade Schema-Konstruktion und Automatisierung zentrale Prozesse des Lernens im Polizeitraining zu sein. Im vorliegenden Beitrag soll vor dem Hintergrund der kognitionspsychologischen Grundlagen der Gedächtnispsychologie die CLT in ihren Grundzügen dargestellt werden, um hiermit der Frage nachzugehen, inwiefern polizeiliches Einsatztraining von der Anwendung der CLT und dem darauf aufbauenden 4C/ID-Modell für Trainingsprogramme profitieren kann.
1
Einleitung
Die Durchführung polizeilicher Einsatzszenarien im Training und die spätere Bewältigung polizeilicher Einsätze können als komplexe kognitive Aufgaben verstanden werden. Beispiele für solche Aufgaben sind etwa Personenkontrollen, die Verkehrsunfallaufnahme, Festnahmen oder die polizeiliche Vernehmung. Zentrales Merkmal komplexer Aufgaben ist eine hohe kognitive Beanspruchung („cognitive load“). Nach der Cognitive Load Theory1 (CLT; Sweller 1988, 1994) gilt es, bei der Gestaltung der Anleitungen komplexer Aufgaben die kognitive Architektur der Lernenden zu berücksichtigen, um Lernerfolge überhaupt erst zu ermöglichen und schließlich maximieren zu können. Beim Anlernen solcher Aufgaben sollten die Instruktionen der Einsatztrainer*innen systematisch an die Architektur des ko gnitiven Systems der Lernenden, insbesondere an dessen kapazitätsbezogene Beschränkung, angepasst werden, damit Cognitive Load reduziert wird, um erfolgreiches Lernen zu fördern. Damit Lernende im polizeilichen Einsatztraining optimal vom Lernangebot profitieren können, müssen also das kognitive System der Lernenden (und auch der Lehrenden), die Lernumgebung, die Aufgabe sowie deren Interaktionen verstanden werden (Choi et al. 2014). Die Anleitung eines Einsatztrainings ist nach der CLT folglich so zu gestalten, dass Cognitive Load, der nicht für den Lernprozess beansprucht werden muss, reduziert wird (Kester et al. 2010). Durch das Training sollen (freie) Verarbeitungskapazitäten entstehen, In diesem Beitrag werden die englischen Begriffe Cognitive Load und Cognitive Load Theory (CLT) als Termini technici verwendet. 1
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die dann Polizeikräften im Einsatz helfen können, insbesondere in stressreichen Einsatzsituationen weiterhin kognitiv funktional zu bleiben und situationsadäquat zu handeln. Die Anwendbarkeit der CLT auf den Bereich polizeilicher Einsatztrainings fehlt bislang weitgehend und wurde zumindest in Deutschland im polizeilichen Kontext bisher nur marginal thematisiert (Blumberg et al. 2019; Mugford et al. 2013). Das Arbeitsgedächtnis hat in den letzten Jahrzehnten sowohl in der Grundlagenforschung der Kognitionspsychologie als auch in ihren anwendungsorientierten Disziplinen großes Interesse erfahren (Baddeley et al. 2014; Davies und Wright 2010; Pass und Ayres 2014; Perfect und Lindsay 2014). Es handelt sich gerade wegen seiner Ubiquität um ein zentrales Konstrukt der gegenwärtigen Kognitionspsychologie mit praktischer Bedeutung (Baddeley 2019). Es ist an vielen höheren kognitiven Fähigkeiten (Denken, Entscheiden, Problemlösen, Lernen, Sprachproduktion) beteiligt (Kyllonen und Christal 1990; Cowan 2014) und nimmt damit eine zentrale Stellung in der kognitiven Architektur des Menschen ein. Im Zusammenhang mit kriminalpolizeilichen Vernehmungen ist längst unumstritten, dass die Funktionsweise des Kurz- und Langzeitgedächtnisses bei Zeugenaussagen maßgeblich berücksichtigt werden muss (Wells und Loftus 2013). Gedächtnisinhalte werden nicht wie von einer Videokamera in Echtzeit mitgeschnitten, sondern unterliegen Prozessen des Erinnerns und Vergessens sowie zahlreichen Verzerrungen (Davis und Loftus 2009; Deffenbacher et al. 2004; Loftus 1993; Loftus et al. 1978; Loftus und Pickrell 1995; Loftus und Palmer 1974; Schacter und Loftus 2013; Wells et al. 2006; Wixted et al 2018). Das Ausmaß dieser mentalen Plastizität bedarf gerade vor dem Hintergrund, dass Zeugenaussagen als Beweismittel vor Gericht eine herausragende Bedeutung für die Verurteilung eines mutmaßlichen Straftäters haben, intensiver empirischer Forschung (Loftus 2018). Aber auch im Rahmen schutzpolizeilicher Einsätze sowie im Einsatztraining sind Arbeitsgedächtnisleistungen (unter Stress) von großer Wichtigkeit (Di Nota und Huhta 2019; McClure et al. 2019). Bei der operativen Einsatzbewältigung sowohl im realen Polizeieinsatz als auch im Trainingsszenario wird von allen Beteiligten gleichzeitig eine Fülle von (kognitiven) Aufgaben abverlangt. So müssen Polizist*innen zunächst in einem dynamischen Einsatzgeschehen stets die rechtlichen Grundlagen ihres Handelns situativ berücksichtigen und ggf. neu einschätzen. Hierin müssen der polizeiliche Auftrag und das Einsatzziel stets mental präsent sein. Parallel gehört die Eigensicherung zu den wichtigsten Aufgaben während eines Einsatzes. Dazu gilt es einerseits, das polizeiliche Gegenüber aufmerksam zu beobachten, mögliche Gefahrenquellen wahrzunehmen und entsprechend darauf zu reagieren. Gleichzeitig müssen ebenfalls die anwesenden Polizeikräfte aus taktischer Sicht berücksichtigt werden. Andererseits sind die eigenen Reaktionen und Handlungen situativ anzupassen und im besten Fall bewusst zu kontrollieren (zum Beispiel im Sinne des Stressmanagements und der Emotionsregulation; Gross 1998). Hinzu kommen kommunikative Herausforderungen, verbale und nonverbale Kommunikation inbegriffen. Zentral für die Bewältigung dieser Aufgaben und das Gelingen des Einsatzes ist der Umstand, dass die eingesetzten Polizeikräfte ein gewisses kognitives Funktionsniveau ohne gravierende Einschränkungen und Fehler unter Stress und Lebensgefahr aufrechterhalten müssen. Kognitionspsychologisch nimmt an dieser Stelle unter anderem das Arbeitsge-
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dächtnis unter den Bedingungen des Cognitive Load eine besondere Stellung ein (Kleider-Offutt et al. 2016; Shackman et al. 2006; Sporer 2016). Sowohl im Einsatz als auch im darauf vorbereitendem Training müssen die kognitiven Voraussetzungen der Polizist*innen berücksichtigt werden. Aber nicht nur Polizeikräfte, sondern auch das polizeiliche Gegenüber in einer Vernehmung zum Tathergang oder während einer Personenkontrolle zur Identitätsfeststellung steht ebenfalls vor kognitiven Herausforderungen unter Beteiligung des Arbeitsgedächtnisses. In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, welche zentrale Rolle und Bedeutung dem Arbeitsgedächtnis bei der polizeilichen Einsatzbewältigung und im Einsatztraining aus der Perspektive der eingreifenden Einsatzkraft zukommt. Im ersten Abschnitt sollen hierzu die gedächtnispsychologischen Grundlagen insbesondere zur Struktur und Funktionsweise des Arbeitsgedächtnisses gelegt werden. Gedächtnis ist dabei Voraussetzung, Begleiter und Ergebnis impliziter und expliziter Lernprozesse. Damit diese Lernvorgänge optimal ablaufen, können Einsatztrainer*innen durch die Gestaltung des Trainings Einfluss nehmen. Ziel bei der Gestaltung von Polizeitrainings ist es dabei, die Belastung des Arbeitsgedächtnisses (Cognitive Load) beim Lernen bzw. Lernenden zu reduzieren, um hierdurch effizientes Lernen zu ermöglichen. Nachfolgend werden hierfür die Grundannahmen der Cognitive Load Theory (CLT), in ursprünglicher Formulierung von Sweller (1988, 1994), dargestellt und empirische Befunde berichtet (Sweller et al. 1998, 2019). In Bezug auf die im Einsatztraining relevanten Lernprozesse soll der in der Kognitionspsychologie bedeutsame Begriff des (kognitiv-emotionalen) Schemas sowie die Rolle von Automatisierungsprozessen beim Fertigkeitserwerb vom Ausgangpunkt eines Novizen bis zum Expertenstatus diskutiert werden. Anhand eines auf der CLT basierenden Rahmenkonzeptes für Trainingsprogramme sollen Gestaltungsprinzipien für die Anleitung eines szenarien-basierten Polizeitrainings entworfen werden (Bennell et al. 2007; Mugford et al. 2013; Frerejean et al. 2019; Sweller et al. 2019; van Merriënboer und Kirschner 2018a, b). Es wird abschließend erörtert, inwiefern sich hieraus die Notwendigkeit einer „kognitiven Wende“ bei der Gestaltung polizeilicher Einsatztrainings ergibt oder ergeben sollte.
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Gedächtnispsychologische Grundlagen
Begriffsbestimmung und Bedeutung für die Polizei Dass Gedächtnisleistungen und andere kognitive Funktionen nicht nur für das alltägliche Leben von zentraler Bedeutung sind, sondern auch für Polizeiarbeit, macht ein Blick auf einen Polizeieinsatz sehr deutlich (vgl. Fallbeispiel). Die Speicherung von Wissen im Gedächtnis und dessen Aneignung durch Lernen machen einen zentralen Teil unserer mentalen Aktivität aus. Durch Gedächtnis können wir uns an Ereignisse erinnern, gegenwärtiges Geschehen verständnisvoll wahrnehmen, zielgerichtet handeln und Zukunft planen. Hierdurch konstituieren sich die eigene Biografie und die persönliche Identität. Pastötter, Oberauer und Bäuml (2018, S. 123) definieren Gedächtnis sodann als „die Menge aller Einflüsse vergangener Erfahrungen auf gegenwärtiges Erleben, Denken und Han-
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deln“. (vgl. Oberauer et al. 2006). Dass Menschen in der Lage sind, eigene Erfahrungen abzuspeichern und erworbenes Wissen abzurufen, stellt eine Voraussetzung für Lernprozesse und damit für jede Form von polizeilichem Einsatztraining dar (Di Nota und Huhta 2019; Park 2017). Dabei besteht durchaus eine Wechselwirkung zwischen Polizeieinsätzen und Polizeitraining. Im Polizeitraining erworbenes Wissen (zum Beispiel Rechtsgrundlage) und Können (zum Beispiel Festnahmegriff) sollten im Polizeieinsatz aufgerufen und angewendet werden können. Andererseits bilden die Erfahrungen im Polizeieinsatz ebenfalls eine Lerngrundlage und werden ins Polizeitraining miteingebracht. Gedächtnisleistungen sind dabei für gewöhnlich mit anderen sogenannten höheren kognitiven Fähigkeiten, wie Lernen, Denken und Problemlösen, verknüpft (Paas und Ayres 2014; Kyllonen und Christal 1990). Das Gedächtnis als Ergebnis von bewussten oder unbewussten Lernprozessen bildet demnach eine zentrale Grundlage von Polizeiarbeit und Polizeitraining. Ein Polizeieinsatz aus kognitiver Sicht
Zwei Polizisten sind als Streifenteam in ihrem Funkstreifenwagen im Stadtgebiet unterwegs. Einer der Kollegen fährt das Auto und bedient sich, ohne es bewusst zu merken, hoch trainierter Handlungsroutinen. Über die Bedienung des Fahrzeugs muss er nicht mehr nachdenken. Alle Handlungen (Lenken, Schalten, Bremsen etc.) laufen ganz automatisch ab. Währenddessen erhält der Streifenpartner einen Funkspruch von der Leitstelle. Bei mäßiger Tonqualität hört er eine Menge an Informationen über den nächsten Einsatz, unter anderem den Namen des Betroffenen und des Mitteilers, Wohnanschrift, Etage seiner Wohnung etc. Ein Mitteiler habe dem Polizeinotruf telefonisch berichtet, dass sein Nachbar in seiner Wohnung laut schreie. Der Nachbar sei schon mehrfach auffällig gewesen. Polizeilich sei bekannt, dass der Betroffene bislang wiederholt durch Körperverletzung in Erscheinung getreten sei. Er sei zudem bereits mehrfach akut in die Psychiatrie eingewiesen worden und leide an paranoider Schizophrenie. Die beiden Streifenkollegen fahren unter Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten („Blaulicht und Sirene“) ohne Umwege zur Adresse des Betroffenen. Sie können sich problemlos orientieren, da sie sich in ihrem Zuständigkeitsbereich örtlich sehr gut auskennen. Auf dem Weg rekapitulieren beide Polizisten einerseits ihr Wissen über das klinische Störungsbild der paranoiden Schizophrenie und rufen sich dabei ins Gedächtnis, dass Betroffene oftmals durch Wahnvorstellungen (zum Beispiel Verfolgungswahn) und Halluzinationen (zum Beispiel beleidigende Stimmen hören) starke Angst und Bedrohung erleben. Durch diese innere Not sei stets mit aggressiven Impuls ausbrüchen zu rechnen. Alkohol- und Drogenkonsum würden dazu verschärfend wirken. Andererseits diskutieren sie ihre Vorgehensweise und vereinbaren, dass ein Kollege versuchen soll, das Gespräch mit dem Betroffenen aufzunehmen, während der andere Kollege die Absicherung übernimmt. Sie machen sich klar, dass bei Eskalation der gestufte Einsatz von Pfefferspray, Distanzelektroimpulsgerät („Taser“) und auch der Schusswaffe möglich werden kann. Sie streben an, auf den Betroffenen deeskalierend ohne Gewaltanwendung einzuwirken. Zwischenzeitlich sprechen sie sich gegen-
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seitig Mut zu. Nachdem sie die Wohnung des Betroffenen in dem mehrstöckigen Wohnblock gefunden haben, hören sie durch die Wohnungstür aggressive Schreie. Es hat weiterhin den Anschein, dass der Betroffene in der Wohnung randaliert. Die Polizisten klingeln mehrfach und klopfen schließlich gegen die Tür, als der Betroffenen nicht reagiert. Der Betroffene reißt plötzlich die Tür auf und steht mit einem Messer in der Hand vor ihnen. Beide Kollegen drohen mit Pfefferspray. Sie beobachten aufmerksam das Verhalten des Gegenübers. Auf Ansprache reagiert der Betroffene nicht. Er beschimpft die Polizisten als Gesandte des Teufels und fuchtelt mit dem Messer in Richtung der Polizisten. Plötzlich rennt der Betroffenen schlagartig mit dem Messer auf den Kollegen zu. Der andere Kollege sieht eine unmittelbare Gefahr, greift automatisch ans Holster und zieht die Pistole, richtet diese auf den Angreifer, zielt und drückt dreimal den Abzug der Pistole, bis der Angreifer schließlich erkennbar ablässt und zu Boden sinkt. Der Betroffene wird daraufhin gesichert. Beide Polizisten leisten unmittelbar Erste Hilfe und alarmieren einen Notarzt. Dieses Fallbeispiel zeigt, dass in einer polizeilichen Einsatzsituation eine Vielzahl von kognitiven Aufgaben zu bewältigen ist. Dabei wird die Verarbeitung von Informationen durch den aufkommenden Hochstress zusätzlich erschwert. ◄
Gedächtnisprozesse und Gedächtnissysteme Nach Gruber (2018, S. 2) umfasst das Gedächtnis „Prozesse und Systeme, die für die Einspeicherung, die Aufbewahrung, den Abruf und die Anwendung von Informationen zuständig sind, sobald die ursprüngliche Quelle der Information nicht mehr verfügbar ist“. Nach der Aufnahme von Informationen aus der Umwelt über die Sinnesorgane erfolgt die Enkodierung („encoding“), das heißt die Übersetzung sensorischen Inputs in neuronale Aktivierung. Es folgt die Aufbewahrung über die Zeit („storage“) und schließlich der Abruf („retrieval“) der gespeicherten Information zu einem späteren Zeitpunkt (Atkinson und Shiffrin 1968). Die empirische Untersuchung von Gedächtnisprozessen reicht zurück bis ins Ende des 19. Jahrhunderts und ist eng verbunden mit den experimentellen Pionierarbeiten von Ebbinghaus (1885) zur Lern- und Vergessenskurve und von Bartlett (1932) zur Verformbarkeit von Erinnerungen durch die Bildung von Schemata. Die theoretische Vorstellung von der Funktionsweise des Gedächtnisses als einer zeitlich begrenzten Speicherung („primary memory“) einerseits und einer mehr oder weniger überdauernden Speicherung („secondary memory“) andererseits wurde bereits von James (1890) formuliert. Hebb (1949) spricht sodann von einem Kurzzeitgedächtnis („short term memory“) und einem Langzeitgedächtnis („long term memory“). Darüber hinaus können Gedächtnisleistungen neuroanatomisch bestimmten Gehirnarealen zugeordnet werden (Kandel 1976; Hebb 1949; Lashley 1929). Die Einteilung von Gedächtnisarten erfolgt in der Psychologie entweder über die Dauer der Speicherung oder über die Art des Gedächtnisinhaltes (Camina und Güell 2017). Konsens besteht über die Einteilung des Gedächtnisses nach einem ersten einflussreichen Modell von Atkinson und Shiffrin (1968). Das Modell beschreibt dabei die Informationsverarbeitung, nach der die in einem sensorischen Register mit unbegrenzter Kapazität
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eintreffenden Informationen über das kapazitätsbegrenzte Kurzzeitgedächtnis („bottle neck“) ins Langzeitgedächtnis ohne Kapazitätsbegrenzung gelangen (vgl. auch Broadbent 1958; Neisser 1967). In diesem Modell übernimmt der Kurzzeitspeicher noch typische Arbeitsgedächtnisleistungen (vgl. Abb. 1). Neuere Gedächtnismodelle differenzieren hingegen Komponenten für die Speicherung („short term memory“) oder für die Verarbeitung neuer Informationen („working memory“). Insbesondere das Arbeitsgedächtnis wird funktional weitaus komplexer angesehen und geht über die bloße kurzzeitige Speicherung von Informationen hinaus (Baddeley 2003a, b, 2012; Diamond 2013; Cowan 1995, 2005). Sensorische Register können als Schnittstelle zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis aufgefasst werden (Buchner und Brandt 2017). Die physikalische Reizumgebung wird dabei originalgetreu für sehr kurze Zeit sinnesspezifisch zwischengespeichert, bevor durch selektive Aufmerksamkeit ein kleiner Teil der Informationen in das Arbeitsgedächtnis gelangt (Di Lollo 1980; Sperling 1960). Sensorische Register können für alle Sinnesmodalitäten angenommen werden. Geläufig ist die Unterscheidung von visuellem (ikonischem) und auditivem (echoischem) Register (Neisser 1967). Insbesondere durch die experimentellen Arbeiten von Sperling (1960) zum ikonischen Gedächtnis können die Eigenschaften der sensorischen Register beschrieben werden (Averbach und Coriell 1961; Camina und Güell 2017; Coltheart 1983; Cowan 1984). Innerhalb des Langzeitgedächtnisses mit (theoretisch) unbegrenzter Speicherkapazität wird inhaltlich zunächst zwischen deklarativem (oder explizitem) und non-deklarativem (oder implizitem) Gedächtnis unterschieden (Cohen und Squire 1980; Schacter et al. 2000; Squire 2004). Das deklarative Gedächtnis bezieht sich auf die Speicherung von dem
Verarbeitung
Selektion
Organisation
Selektive Aufmerksamkeit Eingehende Informationen
Sensorisches Register
Integration
Enkodierung
Kurzzeitgedächtnis/ Arbeitsgedächtnis
Langzeitgedächtnis
Rehearsal
Abruf
„Vergessen“
Schneller Zerfall von unbeachteten Informationen
Interferenz durch neue Informationen und Spurenzerfall
Interferenz und Abrufschwierigkeiten
Abb. 1 Das Mehrspeichermodell der Informationsverarbeitung von Atkinson und Shiffrin (1968). (Quelle: modifiziert nach Atkinson und Shiffrin 1968)
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Bewusstsein zugänglichen Informationen und wird weiterhin in episodisches und semantisches Gedächtnis unterteilt (Tulving 1972, 1999). Das episodische Gedächtnis umfasst alle persönlichen Erlebnisse und Ereignisse der eigenen Biografie. Das semantische Gedächtnis bildet das Faktenwissen (zum Beispiel berufliche Kenntnisse, geschichtliche Daten, Gesetze). Das non-deklarative Gedächtnis speichert hingegen nicht-bewusst zugängliche Informationen. Hierunter werden verschiedene Phänomene subsumiert, wie prozedurales Gedächtnis, Priming, assoziatives und nicht-assoziatives Gedächtnis. Das prozedurale Gedächtnis speichert insbesondere Fertigkeiten, die in der Regel automatisch und ohne Nachdenken abgerufen und schließlich in motorische Abläufe (Autofahren, Schwimmen, Waffengebrauch, Schießen, Festnahmetechnik) umgesetzt werden (Becker-Carus und Wendt 2017; Buchner und Brandt 2017; Camina und Güell 2017; Gruber 2018; Oberauer et al 2006; Pastötter et al. 2018). Das Arbeitsgedächtnis Das Arbeitsgedächtnis umfasst allgemein sämtliche Subsysteme und Mechanismen der menschlichen Kognition zur kurzzeitigen Aktivierung zielrelevanter Informationen, Aufrechterhaltung der Aktivierung und Manipulation von Informationen während der Bearbeitung kognitiver Aufgaben (Adams et al. 2018; Baddeley 2012; Baddley und Logie 1999; Cowan 2005, 2008, 2017; Logie et al. 2021; Miyake und Shah 1999). Das Arbeitsgedächtnis ist demnach kapazitätsbegrenzt (Atkinson und Shiffrin 1968). Eine klassische Schätzung zur Kapazität des Kurzzeitspeichers wird von Miller (1956) mit „magical number seven, plus or minus two“ umschrieben. Bei einer einfachen Merkaufgabe zur Gedächtnisspanne („memory span“) konnten junge Erwachsene durchschnittlich sieben sog. Chunks (Informationseinheiten) richtig reproduzieren. Cowan (2001) geht bei der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses hingegen von vier Chunks aus. Die Verweildauer im Arbeitsgedächtnis wird auf ca. 30 Sekunden geschätzt (Cowan 1988; Peterson und Peterson 1959). Für die Kapazitätsbegrenzung werden verschiedene Gründe diskutiert. Die Begrenzung könne dadurch entstehen, dass eine gemeinsame kognitive Ressource gleichzeitig für Speicherung und Verarbeitung während der Aufgabenbewältigung beansprucht wird (Just und Carpenter 1992). Denkbar ist ebenfalls ein zeitlich schneller Zerfall („decay“) mentaler Repräsentationen im Arbeitsgedächtnis (Baddeley 1986; Brown 1956). Eine weitere Erklärung liefert die Interferenz-Hypothese, wonach sich mentale Repräsentationen überlagern und so nicht abgerufen werden können (Oberauer und Lewandowsky 2008). Zur theoretischen Bestimmung des Arbeitsgedächtnisses können im Wesentlichen zwei Theorieansätze unterschieden werden (vgl. Abb. 2). Das wohl einflussreichste Modell geht auf Baddeley und Hitch (1974) zurück (Adams et al. 2018; Buchner und Brandt 2017; Gruber 2018). Dieses theoretisch nur geringfügig veränderte Arbeitsgedächtnismodell hat seither zahlreiche empirische Untersuchungen hervorgebracht (Baddeley 1986, 1992, 2000, 2003a, b, 2007, 2012). Die modulare Gedächtniskonzeption bezieht sich auf die Struktur des Arbeitsgedächtnisses und geht in seiner aktuellen Formulierung von vier Komponenten aus (Baddeley 2012). Durch die phonologische Schleife („phonological loop“) werden auditorische und sprachliche Informationen verarbeitet. Visuell präsentierte
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Abb. 2 Das Mehrspeichermodell von Baddeley (2012) und das Embedded-Process-Modell von Cowan (2005). (Quelle: aus Ozimič 2020)
oder gesprochene Sprache wird in einen Speicher überführt und durch subvokales Wiederholen bereitgehalten. Wird diese Art des inneren Sprechens unterbrochen, beispielsweise durch eine visuelle Zusatzaufgabe, zerfällt die gespeicherte Information. Der visuell- räumliche Notizblock („visuo-spatial sketch-pad“) übernimmt die temporäre Speicherung für Objektmerkmale (wie Farbe oder Form) und räumliche Informationen als mentales Bild. Die zentrale Exekutive bildet die modalitätsunabhängige Kontrollinstanz zur Koordination sämtlicher Arbeitsgedächtnisprozesse. Diese Komponente des Modells ist bisher am wenigsten empirisch erforscht. Ihre Prozesse konnten bisher nur unzureichend charakterisiert werden. Der episodische Puffer („episodic buffer“) als Speicher für einheitliche Episoden aus unterschiedlichen Quellen unter Beteiligung des Langzeitgedächtnisses wurde später von Baddeley (2000) eingeführt, um bisher nicht zu erklärenden Befunde (Satzüberlegenheitseffekt beim „chunking“) integrieren zu können (Baddeley 2012). Das Embedded-Process-Modell (Cowan 1988, 1993, 1995, 1999, 2001, 2005) stellt die alternative Konzeption des Arbeitsgedächtnisses dar. Dieses Prozessmodell verzichtet dabei auf eine strikte Trennung zwischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis und betrachtet insbesondere jene Funktionen bzw. Prozesse des Arbeitsgedächtnisses, die zur aktiven Bereitstellung von Gedächtnisinhalten für kognitive Leistungen (wie Problemlösen und Entscheiden) und die aktuelle Handlungsregulation notwendig sind (Cowan 2017). Dieses Modell geht davon aus, dass Inhalte des Langzeitgedächtnisses unterschiedlich aktiviert vorliegen. Zur Bearbeitung einer kognitiven Aufgabe werden Inhalte des Langzeitgedächtnisses nach Eingang sensorischer Informationen über den sensorischen Speicher aktiviert. Ein Teil dieser Inhalte kann in den Aufmerksamkeitsfokus fallen. Arbeitsgedächtnis umfasst damit aktivierte Langzeitgedächtniselemente innerhalb und außerhalb des Aufmerksamkeitsfokus. Eine zentrale Exekutive bezieht sich hier auf willentliche Prozesse (zum Beispiel das Verschieben des Aufmerksamkeitsfokus). Das Modell kann bei-
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spielsweise Chunking erklären, indem es sich bei einem Chunk um ein aktiviertes Element im Aufmerksamkeitsfokus handelt, unabhängig von seiner Länge (Cowan 1997, 2005). Empirische Untersuchungen zur Bedeutung des Arbeitsgedächtnisses für Polizist*innen sind bisher vorwiegend experimenteller Art (Kleider-Offutt et al. 2016). Allerdings ist anzunehmen, dass kognitive Mechanismen im Einsatz und Training in ähnlicher Weise funktionieren. Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses stellt dabei eine wichtige Voraussetzung für kontrollierte Entscheidungen dar (Kane und Engle 2003; Engle und Kane, 2004. Kleider et al. (2010) konnten beispielsweise zeigen, dass eine geringe Arbeitsgedächtniskapazität (starke Belastung) zu mehr Fehlentscheidungen in einer computergestützten Schießaufgabe führt. Proband*innen mit starker Arbeitsgedächtnisbelastung erschießen hierbei häufiger unbewaffnete Personen als Proband*innen mit geringer Arbeitsgedächtnisbelastung. Es ist anzunehmen, dass die freie Verarbeitungskapazität für die Unterdrückung automatischer Schießreaktionen notwendig ist. Eine starke Belastung des Arbeitsgedächtnisses bedeutet also wenig freie Verarbeitungskapazität für situativ angemessenes Entscheidungsverhalten von Polizist*innen im Einsatz (Brewer et al. 2016). Die folgende Tabelle (vgl. Tab. 1) fasst noch mal die zentralen Konzepte im Zusammenhang mit der Cognitive Load Theory (CLT) zusammen.
Tab. 1 Zentrale Konzepte im Zusammenhang mit der CLT im Überblick (adaptiert nach: Khalil et al. 2005) Konzept Bedeutung Sensorisches Gedächtnis Kurzzeitige Speicherung sensorischer Informationen unterschiedlicher Sinnesmodalitäten Arbeitsgedächtnis Aktuelle bewusste Verarbeitung sensorischen Inputs (aus visuellen und auditorischen Informationen) mit begrenzter Kapazität und Dauer Langzeitgedächtnis Langzeitspeicher mit unbegrenzter Kapazität Schema Kognitive Struktur organisierten Wissens im Langzeitgedächtnis Automatisierung Prozess der Schema-Konstruktion durch intensives Training, um Informationsverarbeitung mit minimaler Arbeitsgedächtnisbelastung zu ermöglichen Kognitive Belastung Multidimensionales Konstrukt, das die Gesamtbelastung des („cognitive load“) kognitiven Systems des Lernenden bei der Bewältigung einer bestimmten Lernaufgabe widerspiegelt Mentale Belastung Kognitive Belastung, die von den Aufgabenanforderungen (Umwelt) („mental load“) ausgeht Mentale Anstrengung Ausmaß der kognitiven Ressourcen für die Bewältigung der („mental effort“) Aufgabenanforderungen Intrinsic cognitive load Kognitive Belastung durch den Inhalt der Aufgabe, abhängig von der Aufgabenkomplexität Extraneous cognitive (Überflüssige) kognitive Belastung durch (mangelhaft) gestaltete load Instruktionen, die keinen Beitrag zur Schema-Konstruktion liefern (mit der Folge ineffektiven Lernens) Germane cognitive load Kognitive Belastung für die Schema-Konstruktion und Automatisierung durch effektive Instruktionen
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Cognitive Load Theory
Modellannahmen Die Cognitive Load Theory (CLT) ist eine Theorie zur didaktischen Gestaltung von Lern umgebungen und Lernmaterialien („instructional design“) (Chandler und Sweller 1991; Plass et al. 2010; Sweller 1988,1994, 2010a, b; Sweller und Chandler, 1994; Sweller et al. 1998). Zentrales Konstrukt dieser Theorie ist Cognitive Load, der aufseiten des Lernenden während des Lernens entsteht. Des Weiteren erfolgt Lernen nach der Theorie über die Konstruktion von Schemata im Langzeitgedächtnis. Schemata sind organisierte Wissenseinheiten im Langzeitgedächtnis (Kalyuga 2010). Sie können über das Arbeitsgedächtnis während des Lernens aus dem Langzeitgedächtnis aktiviert oder neu angelegt werden. Der automatisierte Abruf von „alten“ Schemata schafft freie Arbeitsgedächtniskapazität beim aktuellen Lernen und unterstützt den Lernprozess neuer Schemata (Schneider und Shiffrin 1977; Shiffrin und Schneider 1977). Die Theorie unterscheidet aus evolutionspsychologischer Perspektive weiterhin zwischen biologisch primärem und sekundärem Wissen. Biologisch primäres Wissen umfasst alles Wissen, das unbewusst, ohne Anstrengung und ohne äußere Motivation erworben werden kann (zum Beispiel Gesichter erkennen, Muttersprache sprechen). Hierfür ist keine explizite Anleitung oder ein Anlernen notwendig. Vielmehr erwerben Menschen dieses Wissen schlicht durch ihre Angehörigkeit zu einer menschlichen Gesellschaft durch Beobachtung und Nachahmung. Biologisch sekundäres Wissen ist hingegen kulturabhängig (zum Beispiel Lesen und Schreiben lernen). Der Erwerb solchen Wissens erfolgt in der Regel bewusst und verlangt kognitive Anstrengung. Zu seiner expliziten Vermittlung sind Bildungseinrichtungen, wie Polizeihochschulen, geschaffen. Sweller (2010b, S. 31) betont: „Virtually everything taught in educational institutions consists of biologically secondary knowledge.“ Für das Erlernen biologisch sekundären Wissens bedarf es also der expliziten Anleitung und Instruktion. An dieser Stelle setzt die CLT an. Die Theorie hat zum Ziel, die Art und Weise des Lernens komplexer kognitiver Aufgaben dadurch zu optimieren, indem die Anleitung des Lernens an die ko gnitiven Voraussetzungen der Lernenden angepasst wird (Paas und Ayres 2014; Plass et al. 2010; Sweller et al. 2019). Ausgehend von der Kapazitätsbegrenzung des Arbeitsgedächtnisses unterscheidet die Theorie drei Arten von Cognitive Load: Intrinsic Load, Extraneous Load und Germane Load2 (Pass und van Merriënboer 2020; Sweller 2010b; Sweller et al. 2011; vgl. Abb. 3). Intrinsic Load bezieht sich auf die Komplexität (oder Schwierigkeit) der zu lernenden Aufgabe und entsteht durch die Verbundenheit der Aufgabenelemente („element interactivity“). Sind die Teile einer Aufgabe stark miteinander verwoben, ist der Intrinsic Load hoch. Stehen die Aufgabenteile eher unverbunden nebeneinander, beispielsweise beim Vokabellernen, ist der Intrinsic Load niedrig. Unter Beibehaltung der Lernaufgabe und der Expertise des/der Lernenden kann Intrinsic Load beim Lernen nicht vermieden werden. Er kann nur durch erfolgreiches Lernen, das heißt durch Erwerb von Expertise, reduziert 2
Diese drei Begriffe werden in diesem Beitrag ebenfalls als Termini technici verwendet.
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Arbeitsgedächtniskapazität Instrinsic Load
Extraneous Load
Arbeitsgedächtniskapazität Instrinsic Load
Extraneous Load
Freie Kapazität
Arbeitsgedächtniskapazität Instrinsic Load
Extraneous Load
Germane Load
Abb. 3 Oben: Die drei Arten des Cognitive Load im Rahmen der Cognitive Load Theory. Die mentale Belastung beim Lernen sollte die Arbeitsgedächtniskapazität nicht überschreiten. Andernfalls kommt es zum mentalen Overload, wenn Cognitive Load die Arbeitsgedächtniskapazität übersteigt (oben). Lernen kann hier verlangsamt, fehlerhaft oder gar nicht stattfinden. Lässt die mentale Belastung beim Lernen freie Verarbeitungskapazität im Arbeitsgedächtnis, kann die Aufgabe ohne Problem bearbeitet werden (Mitte). Freie Arbeitsgedächtniskapazität kann als Germane Load für die Bearbeitung der Aufgabe genutzt werden (unten). (Quelle: Eigene Darstellung, modifiziert nach. Orru und Longo 2019; Moreno und Park 2010)
werden. Extraneous Load entsteht durch die Art und Darbietung der Instruktionen und Lernmaterialien. Anders als der Intrinsic Load kann der Extraneous Load durch Anpassungen des Lerndesigns (Instruktion und Material) und durch Reduktion der Aufgabenkomplexität (wodurch aber die zu lernende Aufgabe verändert bzw. erleichtert wird) reduziert werden. Der Germane Load bezieht sich auf den notwendigen Lernaufwand des Lernenden, um die Aufgabe zu verstehen. Je mehr Arbeitsgedächtniskapazität durch Extraneous Load besetzt ist, desto weniger kann Intrinsic Load bzw. freie Kapazität als Germane Load für das Lernen, also die Schema-Konstruktion und -Automatisierung, genutzt werden. Die Didaktik ist also darauf auszurichten, den Germane Load zu fördern (Moreno und Park 2010; Sweller und Chandler, 1994; Sweller et al. 1998, 2011; vgl. Tab. 1). Mit der CLT konnte eine Reihe von empirischen Effekten erklärt werden (vgl. Sweller 2010b und Sweller et al. 2019, für einen Überblick). Beispielsweise konnte als „expertise reversal effect“ gezeigt werden, dass die Effektivität von Instruktionen an die Expertise der Lernenden anzupassen ist, um erfolgreich lernen zu können. Noviz*innen ohne Vorwissen benötigen intensive Anleitung für effektive Schema-Konstruktion, während Expert*innen hingegen von reduzierter Anleitung profitieren (Kalyuga 2007). Intensiv empirisch untersucht ist die Effektivität von Lösungsbeispielen beim Anlernen („worked example effect“). Umfasst die Instruktion das Problem und die Lösungsschritte bis zur
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Lösung, profitieren insbesondere Noviz*innen mit geringem Vorwissen beim Erlernen einer Aufgabe (Paas et al. 2003; Sweller 2006). Hierdurch wird effektiv Intrinsic Load reduziert. Werden die Lösungsschritte während des Lernens bereitgehalten, kann auch Extraneous Load reduziert werden. Der Germane Load kann gefördert werden, wenn die Selbstinstruktionen („Selbstgespräche“) des/der Lernenden während des Lernens aufgegriffen werden (Renkl 2005; Sweller 2006). Choi et al. (2014) schlagen ein Modell vor, das die Ursachen für Cognitive Load beim/ bei der Lernenden, der Lernaufgabe, der Lernumgebung sowie deren Interaktionen spezifiziert (vgl. Abb. 4; Pass und Van Merriënboer 1994, 2020). Sie beschreiben insbesondere die bislang theoretisch und empirisch vernachlässigte physische Umgebung des Lernens (zum Beispiel Lärm oder Hitze) als Ursache für Cognitive Load und damit als einflussreichen Faktor für die Effektivität von Instruktionen und damit für das Lernen und Handeln insgesamt (Pass und Ayres 2014). Polizeikräfte müssen durch Polizeitraining auf eine unvorhersehbare Situationsdynamik im Einsatz vorbereitet werden. Die Hervorhebung des Einflusses des situativen Kontextes (Dunkelheit, Enge, unwegsames Gelände, Menschenansammlungen etc.) auf das Lernen sowohl im Polizeitraining als auch auf das Einsatzhandeln selbst scheint dabei zielführend. Die physischen Gegebenheiten eines Polizeieinsatzes können eine enorme Wirkung auf die handelnden Polizist*innen entfalten (zum Beispiel die Anwesenheit von Waffen). Im Polizeitraining ist die Wirkung der physischen Umgebung bei der Trainingsgestaltung unter dem Aspekt der Reduktion von Cognitive
Abb. 4 Der Modellrahmen der Cognitive Load Theory mit dem zentralen Konstrukt Cognitive Load, welcher durch die physische Lernumgebung (E), die Lernaufgabe (T) und die/den Lernende/n selbst (L) sowie alle möglichen Interaktionen resultiert. (Quelle: aus Choi et al. 2014; vgl. auch Paas und van Merriënboer 1994)
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Load zu berücksichtigen. Choi et al. (2014) unterscheiden innerhalb der physischen Umgebung kognitive, affektive und physiologische Einflüsse auf den Cognitive Load des/der Lernenden und das Lernen. Zu den kognitiven Einflüssen der Umgebung zählen Lärm und störende Lichtverhältnisse. Beispielsweise konnte gezeigt werden, dass Augenzeugenberichte besser werden, wenn störende Umwelteinflüsse durch Augenschließen ausgeblendet werden und folglich das Arbeitsgedächtnis nicht belasten (Vredeveldt et al. 2011). Der Einfluss der Umgebung auf kognitive Leistungen zeigt sich auch im Zusammenhang mit kontextabhängigem Lernen. Die Erinnerungsleistung ist in der Regel besser, wenn die physische Lernumgebung und die Test- oder Prüfumgebung übereinstimmen (Godden und Baddeley 1980). Zu den physiologischen Faktoren gehört die arterielle Blutsauerstoffsättigung. Sauerstoffmangel durch schlechte Luftqualität oder Wärme hat dabei einen negativen Effekt auf die kognitive Leistung. So konnten Lan et al. (2011) beispielsweise zeigen, dass die Leistung durch geringe Blutsauerstoffsättigung in warmen Büroräumen (30 °C) schlechter ausfiel als in kühleren Büros (22 °C). Die physische Umgebung kann auch über affektive Faktoren auf das Lernen und die Leistung wirken. Widrige Umgebungsbedingungen können die Motivation, die Stimmung und die Emotionen des/der Lernenden derart beeinträchtigen, dass kognitive Ressourcen nicht für das Lernen aufgebracht werden und dadurch effektives Lernen verhindert wird (vgl. Abb. 4) (Fraser et al. 2012).
4
CLT im Polizeitraining
In der aktuellen Zusammenfassung der CLT liefern Sweller, van Merriënboer und Pass (2019) neben einer Darstellung der theoretischen Entwicklung und der empirischen Befundlage der letzten 20 Jahre auch eine Anwendung bzw. Erweiterung der CLT auf die Gestaltung von Lehrveranstaltungen und Curricula in Form der aktualisierten Version des 4C/ID-Modells („4 components/instructional design“) für Trainingsprogramme über längere Dauer. Hierzu heißt es bei Sweller, van Merriënboer und Pass (2019, S. 274): „The 4C/ID model exclusively deals with complex learning, which is characterised by high element interactivity in a learning process that is often aimed at the development of complex skills or professional competencies“ (vgl. auch van Merriënboer 1997, 2019). Das Modell ist unserer Kenntnis nach bislang nicht auf den Kontext des Polizeitrainings übertragen (Di Nota und Huhta 2019; Mugford et al. 2013). Nach dem 4C/ID-Modell bestehen komplexe Fertigkeiten (zum Beispiel polizeiliche Personenkontrolle zur Identitätsfeststellung) grundsätzlich aus wiederkehrenden und nicht-wiederkehrenden Bestandteilen. Wiederkehrende Bestandteile der komplexen Fertigkeit kommen in verschiedenen Aufgaben und Situationen immer wieder vor und können durch Training als Routinen entwickelt werden (zum Beispiel die Ansprache der Person). Nicht-wiederkehrende Bestandteile der Fertigkeit bedürfen der situativen Problemlösung und Entscheidung. Darüber hinaus gibt das Modell vor, dass Trainingsprogramme zur Entwicklung komplexer Fertigkeiten aus vier Komponenten aufzubauen sind (vgl. Abb. 5).
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(1) Lernaufgaben dienen dazu, wiederkehrende und nicht-wiederkehrende Bestandteile zu erlernen und zu koordinieren (Kreise in Abb. 5). Gemäß der CLT entsteht dabei Cognitive Load (Füllungen der Kreise in Abb. 5). Die Lernaufgaben sind nach steigender Komplexität oder Schwierigkeit (von leicht nach schwierig) zu staffeln (gestrichelte Kästen in
Skill Level 1
Skill Level 2
Lernaufgaben:
-
Lernende müssen wiederkehrende und nichtwiederkehrende Fertigkeiten koordinieren Komplexität der Lernaufgaben nimmt zu Anleitung durch Trainer nimmt mit Fertigkeitslevel ab Lernaufgaben sind inhaltlich variabel gestaltet
-
-
-
-
Deklarative Anleitung:
Instruktion vor und Feedback nach Übung der Lernaufgaben Instruierende Vorgabe bei nichtwiederkehrenden Fertigkeiten
Skill Level 3
-
-
Training von Teilaufgaben:
Einige Fertigkeiten werden über verschiedene Fertigkeitslevel immer wieder trainiert, cognitive load reduziert Lernende entwickeln so Automatisierungen von Handlungsabläufen
Prozedurale Anleitung:
„Führung“ oder „Formung“ (Guidance) bei wiederkehrenden Fertigkeiten Eingriff durch Trainer direkt in den Lernprozess, wenn notwendig Handlungswissen („knowing how“)
Abb. 5 Das 4C/ID-Modell für Trainingsprogramme (übersetzt und adaptiert nach: Sweller et al. 2019; van Merriënboer und Kirschner 2018a; van Merriënboer 2019): Die im Polizeitraining anzuvisierende Automatisierung von Handlungsabläufen erlaubt auch noch unter Stress und Lebensgefahr einen hinreichend funktionalen Abruf aus dem Langzeitgedächtnis.
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Abb. 5), um hierdurch den Intrinsic Load des Lernenden zu minimieren. Mit anwachsender Expertise des Lernenden kann die Komplexität der Lernaufgaben gesteigert werden. Innerhalb einer Schwierigkeitsstufe („skill level“) nimmt die Anleitung und Unterstützung durch den Trainer/die Trainerin graduell ab, bis der/die Lernende die Lernaufgabe alleine bewältigen kann. Erst dann wird die Komplexität der Lernaufgaben (und die Anleitung durch den Trainer/die Trainerin) wieder erhöht. Die Anleitung kann hier durch die Darbietung von Lösungsbeispielen („worked examples“) so gestaltet werden, dass Extraneous Load reduziert wird. Um den Germane Load zu fördern, sind die Lernaufgaben auf einer Komplexitätsstufe variabel zu gestalten, damit der/die Lernende angeregt wird, Aufgaben zu vergleichen und zu kontrastieren (kleine Dreiecke in den Kreisen in Abb. 5). (2) Die deklarative Unterstützung durch Trainer*innen ist in Form von Instruktionen vor und Feed back nach einer Lernaufgabe zu geben, wobei insbesondere nicht-wiederkehrende Bestandteile der Lernaufgabe zu adressieren sind (L-Formen in Abb. 5). Die gegebenen Informationen zur Lösung der Lernaufgabe sind dabei an das Fertigkeitslevel der Lernenden anzupassen. Noviz*innen benötigen anfangs mehr Unterstützung als Expert*innen. Komplexe Aufgaben verlangen üblicherweise mehr Anleitung als einfache Aufgaben. Die unterstützende Anleitung setzt also bestenfalls am Vorwissen der Lernenden an und ermöglicht die Lösung der aktuellen Lernaufgabe. Der/Die Lernende wird mithilfe einer Lernaufgabe passender Komplexität und abgestimmter Anleitung der Trainer*innen vor oder nach der Bewältigung der Lernaufgabe bei der Schema-Konstruktion unterstützt. Der automatisierte Abruf wird dann über mehrere Lernaufgaben hinweg trainiert und durch Feedback der Trainer*innen adjustiert. (3) Das wiederkehrende Training von Teilaufgaben (zum Beispiel Waffen laden und entladen) soll dazu dienen, den automatisierten Abruf der wiederkehrenden Bestandteile einer Fertigkeit zu trainieren. Über verschiedene Lernaufgaben und auch Fertigkeitslevel hinweg können diese Bestandteile einer Fertigkeit so automatisiert werden, dass deren Ausübung zunehmend weniger Cognitive Load verursacht und damit Arbeitsgedächtniskapazität für die Konstruktion neuer Schemata frei wird. (4) Durch prozedurale Anleitung begleiten Trainer*innen nun den Prozess der Schema- Konstruktion und Automatisierung direkt während des Lernens durch korrigierendes Feedback immer dann, wenn der/die Lernende Unterstützung bei der Aufgabenbewältigung benötigt. Können wiederkehrende Bestandteile einer Fertigkeit (zum Beispiel Magazinwechsel oder Beseitigung einer Ladehemmung) automatisiert abgerufen und umgesetzt werden, bleiben kognitive Ressourcen für nicht-wiederkehrende (oder unvorhersehbare) Bestandteile einer geforderten Fertigkeit in einer Situation (van Merriënboer und Kirschner 2018a, b; van Merriënboer 2019).
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Diskussion
Arbeitsgedächtnisfunktionen sind stets an Lernprozessen beteiligt. Ohne diese zentrale Schnittstelle zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis kann Lernen nicht funktionieren. Die CLT macht dabei deutlich, wie wichtig die kognitive Architektur der Lernenden ist
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und dass insbesondere die Kapazitätsbegrenzung des Arbeitsgedächtnisses für den Lernprozess zu berücksichtigen ist. Die Perspektive der CLT ist vorrangig die des/der Lernenden. Im Polizeitraining kann aber zudem die kognitive Perspektive der Trainier*innen eingenommen werden. Auch die Anleitung von Polizist*innen im Training bedeutet für die Trainer*innen das Bewältigen kognitiver Aufgaben. Auch das Unterrichten fordert kognitive Ressourcen der Lehrenden. Auch hier sind Arbeitsgedächtnisleistungen gefordert. Die praktische Ausführung von Anleitung und Rückmeldung lässt beim/bei der Lehrenden Cognitive Load entstehen. Doppelte Aufgabe der Trainer*innen besteht also darin, einerseits die kognitive Architektur der Lernenden zu berücksichtigen und andererseits gleichzeitig die eigene kognitive Architektur, inklusive der Belastung der Arbeitsgedächtniskapazität, zu kontrollieren. Eine kognitive Überlastung des Arbeitsgedächtnisses aufseiten der Trainer*innen unterbindet ebenfalls effektives Lernen aufseiten der Polizist*innen. Im Polizeieinsatz kann außerdem die kognitive Perspektive des polizeilichen Gegenübers eingenommen werden. Auch hier entsteht in der Interaktion mit der Polizei Cognitive Load. So kann es mitunter für Bürger*innen in einer Verkehrskontrolle schwierig werden (nicht aus Böswilligkeit), das Warndreieck und den Verbandskasten im Auto zu finden und vorzuzeigen. Bei einer polizeilichen Vernehmung kann beispielsweise die Induktion von Cognitive Load von Kriminalpolizist*innen bewusst als Strategie eingesetzt werden, um die/den zu Vernehmende/n keine freien kognitiven Ressourcen (beispielsweise für Lügen) zu lassen (Niegisch und Thielgen 2018; Sporer 2016). Gemäß der CLT kommt neben dem/der Lernenden und der Lernaufgabe der physischen Lernumgebung und der Interaktionen Bedeutung bei der Verursachung von Cognitive Load zu. Die Gestaltung der physischen Lernumgebung im Polizeitraining kann direkt auf effektives Lernen ausgerichtet werden. Als äußere Umstände des polizeilichen Lernens können beispielsweise Gruppengröße, Zeitrahmen, Örtlichkeit, Waffensysteme, Schussanzahl etc. diskutiert werden. Für die Gestaltung des Polizeitrainings insgesamt sollten die Wirkmechanismen einzelner Faktoren und deren Interaktionen mit Blick auf die kognitive Architektur der Lernenden und der Entstehung von Cognitive Load im Polizeitraining empirisch untersucht werden. Abschließend soll auf eine relevante Einschränkung der CLT eingegangen werden, die allerdings für Polizeitraining und -einsatz zentral wird. Die CLT stammt ursprünglich aus dem Bereich der Pädagogischen Psychologie. Dabei thematisiert sie primär die Bedeutung verschiedener Arten von Cognitive Load für das Lernverhalten. Die Rolle von akuten und chronischen Stresszuständen und deren Auswirkungen auf Leistung wird im Rahmen der CLT nicht explizit adressiert. Stress kann durch hormonelle Vermittlung (vor allem durch Adrenalin und Cortisol) unterschiedlichen Einfluss auf verschiedene Gedächtnissysteme ausüben (Abercrombie et al. 2005; Wolf et al. 2016; Wolf 2009). Gerade in polizeilichen Einsatzsituationen ist das Funktionieren des Gedächtnisses unter Einfluss von Stress lebenswichtig. Auf der anderen Seite ist Lernen im Polizeitraining nur mit einem moderaten Stresslevel effektiv, sodass sich die (negative) Wirkung von einsatzbezogenem Hochstress auf die Lernprozesse im Training in Grenzen halten sollte (Di Nota und Huhta 2019). Per-
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spektivisch kann daher im Rahmen einer theoretischen Erweiterung der CLT der Einfluss akuten Stresses auf die Schema-Konstruktion ausgearbeitet werden. Vor diesem Hintergrund ist die Stresswirkung auf die Prozesse der Enkodierung, der Speicherung und des Abrufs differenzierend zu diskutieren. Aber auch die protektive Funktion von Training gegenüber Stresserleben kann hier berücksichtigt werden (Page et al. 2016; Smith et al. 2016). Jede Form des Lernens, und damit auch Polizeitraining, basiert zentral auf Arbeitsgedächtnisleistungen der Lernenden. Durch die didaktische Gestaltung von Polizeitrainings, unabhängig davon, was sie vermitteln, ist zwingend eine kognitive Überlastung des Arbeitsgedächtnisses der Lernenden zu vermeiden, um Schema-Konstruktion und -Automatisierung zu ermöglichen. Insofern kann die im Titel gestellte Frage nach einer kognitiven Wende im Polizeitraining, im Sinne einer Genese eines Bewusstseins für die kognitive Architektur der Lernenden bei der Gestaltung von Polizeitrainings, bejaht werden. Fazit Polizeiliches Einsatztraining findet als Interaktion aus dem/der Lernenden und seinen/ihren (kognitiven) Voraussetzungen, der Art der Lernaufgabe und der Beschaffenheit der Lernumgebung einschließlich der Trainer*innen statt. Beim Lernen entsteht aufseiten des/der Lernenden Cognitive Load. Aufgrund der kapazitätsbezogenen Beschränkung des Arbeitsgedächtnisses ist die didaktische Gestaltung des Trainings durch Instruktionen der Einsatztrainer*innen und dem zur Verfügung gestellten Lernmaterial so an die kognitive Architektur des/der Lernenden anzupassen, dass ausreichend Arbeitsgedächtniskapazität für Schema-Konstruktion und -Automatisierung, also für effektives Lernen, verwendet werden kann.
Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Sowohl für die Entwicklung, Gestaltung als auch Implementierung von Polizeitrainings sind finanzielle, fachliche und zeitliche Ressourcen zu Verfügung zu stellen. Hierzu sind insbesondere die Auswahl geeigneten Trainer*innenpersonals (mit pädagogisch-psychologischer Eignung) und insbesondere dessen pädagogisch- psychologische bzw. kognitionspsychologische Qualifikation zu fördern. Für die strukturierte Gestaltung von Trainingsprogrammen kann die CLT einen inhaltlichen Rahmen liefern. Für die praktische Umsetzung bedarf es zudem eines organisationalen Rahmens innerhalb der Polizei. b) Einsatzkräfte Einsatzkräfte profitieren insbesondere in Einsätzen mit Hochstress und Lebensgefahr von der Automatisierung von Handlungsabläufen. Einsatzkräfte sollten ein Be-
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wusstsein dafür entwickeln, dass ihre kognitiven Ressourcen natürlicherweise und insbesondere unter Stress im Einsatz begrenzt sind. Die kognitive Verarbeitungskapazität setzt letztlich die Grenze der Handlungsfähigkeit im Einsatz und der Lernfähigkeit im Training. Intensives Training kann durch Schema-Konstruktion und Automatisierung Ffreie Verarbeitungskapazität im Arbeitsgedächtnis schaffen und somit situatives Entscheidungsverhalten (im Einsatz) verbessern. Einsatzkräfte sollten daher motiviert sein, möglichst intensiv zu trainieren, trotz organisationaler, zeitlicher oder finanzieller Einschränkungen. Ein Trockentraining zum Waffenhandling lässt sich beispielsweise ohne großen Aufwand individuell realisieren. c) Einsatztrainer*innen Einsatztrainer*innen bestimmen durch ihre Instruktionen im Training wesentlich die Ausprägung der kognitiven Belastung (Extraneous Load). Sie müssen bestrebt sein, die Präsentation ihres Lernmaterials (zum Beispiel auch das Zeigen einer Schlagtechnik) an die kognitiven Voraussetzungen (insbesondere die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses) anzupassen, um Lernprozesse der Lernenden zu fördern. Die Planung eines Trainings ist damit zuerst auf die kognitive Architektur der Trainierenden abzustellen.
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Übung oder Ernst? Von Stressinduktion im Polizeitraining zu Stressbewältigung im Einsatz Laura Giessing und Marie Ottilie Frenkel
Inhaltsverzeichnis 1 T raining unter Stress aus Sicht der ökologischen Dynamiken 2 Aus der Übung wird Ernst: Stressinduktionsmöglichkeiten im Einsatztraining 2.1 Manipulation der Umwelt 2.2 Manipulation der Aufgabe 2.3 Manipulation der individuellen Voraussetzungen 3 Herausforderungen im Training unter Stress Literatur
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Zusammenfassung
Um polizeiliche Einsatzkräfte angemessen auf kritische Einsätze im Dienst vorzubereiten, sollten sie im möglichst realitätsnahen Einsatztraining erleben, wie Stress ihre Kognition und ihr Verhalten beeinflusst. Vor dem Hintergrund des Rahmenmodells der ökologischen Dynamiken stellt dieser Beitrag vor, wie Einsatztrainer*innen die Aufgabe, die Umgebung und die individuellen Voraussetzungen des/der Trainierenden so gestalten können, dass der/die Trainierende individualisierte Bewältigungsstrategien und funktionale Problemlösungen zum Umgang mit Stressreaktionen entwickeln kann. Allerdings erschweren der Mangel an repräsentativen Einsatzdaten, die Individualität in der Stressreaktion und die Unkenntnis über das optimale Stressniveau im Training Reviewer*innen: Eric Haupt, Stefan Schade L. Giessing (*) · M. O. Frenkel Institut für Sport und Sportwissenschaft, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_35
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L. Giessing und M. O. Frenkel
die Gestaltung von Stress auslösenden Szenarien in der Praxis. Die Echtzeiterfassung von physiologischen Stressreaktionen hat das Potenzial für ein individualisiertes Einsatztraining unter Stress.
Das Einsatztraining zielt darauf ab, polizeiliche Einsatzkräfte bestmöglich auf die Anforderungen im Polizeidienst vorzubereiten. Im Dienst sind Einsatzkräfte mit der Aufgabe betraut, die persönliche Sicherheit der Bürger*innen zu schützen, wobei teilweise Gewaltanwendung erforderlich ist. Infolgedessen treffen Einsatzkräfte weitreichende Entscheidungen und handeln in der Regel in stressreichen, unvorhersehbaren, mehrdeutigen und sich schnell verändernden Situationen. Leistungsversagen in diesen Situationen kann enorme – im schlimmsten Fall sogar tödliche – Folgen für die Einsatzkräfte selbst, für Verdächtige oder für Unbeteiligte haben. Daher besteht die wesentliche Herausforderung für das Einsatztraining darin, den Einsatzkräften Fertigkeiten und Taktiken so zu vermitteln, dass sie auch in stark belastenden, stressigen Situationen abgerufen werden können. Es gibt wenig Grund zur Annahme, dass Einsatzkräfte immun gegen die automatischen Reaktionen des Körpers auf Bedrohung und Stress sind (Anderson et al. 2002; Baldwin et al. 2019; Giessing et al. 2020). In der Stressforschung wird unter Stress ein Ungleichgewicht zwischen den Anforderungen in der Umwelt und den individuellen Bewältigungsressourcen verstanden: Stress entsteht, wenn Letztere als unzureichend eingeschätzt werden, um den Anforderungen gerecht zu werden (Lazarus und Folkman 1984). Dies löst eine Reihe von Stressreaktionen in dem Individuum aus, einschließlich physiologischer Veränderungen (z. B. erhöhte Herzfrequenz), emotionaler Reaktionen (z. B. Angst, Besorgnis) und kognitiver Defizite (z. B. verengte Aufmerksamkeit, Grübeln; Dickerson und Kemeny 2004; Lazarus und Folkman 1984; Nater und Rohleder 2009). Zwar mobilisiert die „Fight-or-Flight“-Reaktion körperliche Ressourcen, um der Bedrohung aus der Umwelt zu begegnen (Cannon 1914), jedoch sind vor allem Aufgaben, die kognitive Kapazitäten erfordern, unter erhöhtem Stressniveau eine besondere Herausforderung. Auf theo retischer Ebene wird angenommen, dass Stress die Leistung bei kognitiven und perzeptuell-motorischen Aufgaben beeinträchtigt, indem die Aufmerksamkeit von aufgabenrelevanten auf aufgabenirrelevante, bedrohliche Informationen gelenkt wird (Eysenck et al. 2007; Nieuwenhuys und Oudejans 2012, 2017). Die angewandte Forschung mit Polizeistichproben dokumentiert negative Auswirkungen von Stress auf die polizeiliche Leistung in Einsätzen, einschließlich der Schießleistung (Giessing et al. 2019; Nieuwenhuys und Oudejans 2010; Nieuwenhuys et al. 2017; Taverniers und De Boeck 2014), Festnahme- und Eingriffstechniken (Renden et al. 2014, 2017), Proportionalität der angewandten Gewalt (Nieuwenhuys et al. 2012a, b; Renden et al. 2017), Kommunikationsfähigkeiten (Arble et al. 2019; Renden et al. 2017) und Gedächtnis (Di Nota et al. 2020; Hope 2016; für einen Überblick siehe Nieuwenhuys und Oudejans 2017). Auch wenn die Leistungserbringung unter Stress eine Herausforderung darstellt, gelingt es den meisten Einsatzkräften dennoch, selbst belastende Einsätze professionell und
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angemessen zu lösen. Offenbar sind Einsatzkräfte in der Lage und hoch motiviert, den nega tiven Auswirkungen von Stress entgegenzuwirken, indem sie zusätzliche mentale Anstrengung (engl. mental effort) aufbringen. Effektive Stressbewältigungsstrategien in solchen akuten Situationen der Leistungserbringung stellen sicher, dass die zusätzliche mentale Anstrengung für die Reduktion von Stressreaktionen, die Aufrechterhaltung einer zielgerichteten Informationsverarbeitung und/oder die Unterdrückung von automatischen Handlungsimpulsen aufgebracht wird (Eysenck et al. 2007; Nieuwenhuys und Oudejans 2012, 2017). Diese Fähigkeit, den vorherrschenden oder automatischen Aufmerksamkeitsfokus oder Handlungsimpuls zu übersteuern und zu verändern, wird auch Selbstkontrolle genannt (Baumeister et al. 2007). Somit sollte Selbstkontrolle vor Leistungseinbußen unter Stress schützen (Englert und Betrams 2015; Landman et al. 2016). Gleichzeitig ist aber auch klar geworden, dass ein bloßer Mehraufwand an mentaler Anstrengung nicht immer ausreicht, sondern dass es entscheidend ist, wie die zusätzliche Anstrengung investiert wird. In dieser Hinsicht haben mehrere Studien die Auswirkungen von Interventionen untersucht, die Menschen helfen, die entsprechende Selbstkontrolle zur Stressbewältigung aufzubringen, z. B. durch Aufmerksamkeits- (Ducrocq et al. 2016; Vine et al. 2014; siehe Kap. „Taktische Blickführung und Aufmerksamkeitsausrichtung in polizeilichen Hochstresssituationen“ in diesem Handbuch) oder Visualisierungstraining (Colin et al. 2014) – oft mit positiven Auswirkungen auf die Leistung. Angesichts der Komplexität und des inhärenten Stresses der Polizeiarbeit wird in jüngster Zeit gefordert, dass Einsatzkräfte zu kreativen Problemlöser*innen unter Stress ausgebildet werden (Blumberg et al. 2019; Staller und Zaiser 2015). Dabei soll vor allem dem Trainingsprinzip „train as you fight“ gefolgt werden: Das Training soll möglichst genau die Gegebenheiten des Einsatzes simulieren, um den Abruf der Leistung in den realen Stresssituationen zu verbessern. Der entscheidende Unterschied zwischen echten Polizeieinsätzen und Trainingssituationen ist häufig das Ausmaß an Bedrohung und Stress. Daher sollten in den Lernkontext situative Merkmale und Anforderungen, die Stress auslösen – sogenannte Stressoren – aus dem realen Dienst einbezogen werden, mit dem Ziel, die Trainerenden auch in der Simulation unter Stress zu setzen (Anderson et al. 2019; Di Nota und Huhta 2019). Infolgedessen bietet das Training den Einsatzkräften die Möglichkeit, psychophysiologische Stressreaktionen und ihre Auswirkungen zu erleben, wirksame Stressbewältigungsstrategien für Polizeieinsätze zu entwickeln und auszuprobieren und ihre verbalen, physischen, kognitiven und psychologischen Fähigkeiten zu integrieren, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen (Di Nota und Huhta 2019; Körner und Staller 2018, 2020b).
1
Training unter Stress aus Sicht der ökologischen Dynamiken
In der bisherigen Forschung zum Bewegungsverhalten wurden Ideen aus der dynamischen Systemtheorie mit Konzepten aus der Gibson’schen ökologischen Psychologie integriert und bilden das Rahmenmodell der ökologischen Dynamiken zum Verständnis von motori-
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scher Leistung und Lernen (Davids et al. 1994). Schließlich hielt es über das Konzept der nicht-linearen Pädagogik Einzug in die theoretischen Überlegungen zum polizeilichen Einsatztraining (Körner und Staller 2018, 2020a, b; Staller und Körner 2020; siehe Kap. „Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings I – Der Constraints-led Approach“ in diesem Handbuch). Nach dem Rahmenmodell der ökologischen Dynamiken (Araújo et al. 2006; Körner und Staller 2018, 2020b; Seifert et al. 2017; Staller und Körner 2020) erfordert das Erlernen von Fertigkeiten eine Anpassung an die Umwelt und ihre Gegebenheiten. Die individuelle Kompetenzentwicklung erfolgt dabei in Abhängigkeit von der Aufgabe, dem Individuum und der Umwelt: Die situativen Gegebenheiten bestimmen im Zusammenspiel mit den Handlungsmöglichkeiten der Person die Art und Weise der Problemlösung. Dabei muss der/die Trainierende lernen, Handlungsmöglichkeiten in der Umwelt (objektive Komponente) zu entdecken und anhand der eigenen Handlungsmöglichkeiten (subjektive Komponente) zu skalieren, um so zu funktionalen Problemlösungen zu kommen. Angesichts der unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen (z. B. Größe, Kraft, Gewicht, motorische Fähigkeiten) und des Einflusses selbst kleinster Veränderungen in der Umwelt (z. B. Dunkelheit, begrenzter Raum, Position) sind Variabilität und Flexibilität in den Problemlösungen ausdrücklich erwünscht. Durch Wiederholung und Erfahrung kann der/die Trainierende den Einsatz von Problemlösestrategien stabilisieren und wird so resistent gegenüber variablen Störungen aus der Umwelt. Im Training agiert der/die Einsatztrainer*in dabei als Gestalter*in der Lernumgebung, der/die die situativen Einschränkungen der Umwelt individuell auf die Fähigkeiten des/der Trainierenden abstimmt, um die bestmögliche Lernerfahrung für den/die Trainierenden zu schaffen (Staller und Körner 2020). Bislang liegt der Fokus des Einsatztrainings auf physischen, technischen und taktischen Leistungen, wobei die Effekte von Stress vernachlässigt werden (Blumberg et al. 2019). Der Lerntransfer von diesen Trainingsmethoden zu echten Einsätzen ist jedoch fragwürdig, da die entscheidenden Rahmenbedingungen im Training nicht adäquat oder unzureichend simuliert werden (Andersen et al. 2016; Körner und Staller 2018). Im Sinne des Rahmenmodells der ökologischen Dynamiken sollten daher physische, perzeptuell- kognitive und affektive Merkmale eines Einsatzszenarios simuliert werden (Headrick et al. 2015; Körner und Staller 2018). Die Integration von stressinduzierenden Merkmalen in die Lernumwelt löst psychophysiologische Stressreaktionen mit direkten Auswirkungen auf das kognitive, körperliche und emotionale Erleben aus und erhöht somit die affektive Repräsentativität der Lernumwelt (Körner und Staller 2018). Im Umgang mit den stressinduzierenden Elementen in der Lernumwelt kann der/die Trainierende die psychophysiologischen Stressreaktionen im Zusammenhang mit der spezifischen Aufgabe und deren Auswirkung auf die kognitive und motorische Leistung (Funktionalität) erfahren. Der/die Trainierende wird ermutigt, individualisierte Bewältigungsstrategien zum Umgang mit den Stressreaktionen zu erforschen und zu testen (Handlungstreue; Körner und Staller 2018, 2020b). Der Einsatz von effektiven Bewältigungsstrategien zur Reduktion von Stressreaktionen, Aufrechterhaltung der zielgerichteten Aufmerksamkeit und/oder Unter-
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drückung automatischer Handlungsimpulse (Nieuwenhuys und Oudejans 2012, 2017) trägt somit zur funktionalen Problemlösung bei. Training unter Stress – oder auch Training unter Druck (engl. pressure training) – kann als eine spezifische Version von motorischem Training vor dem Hintergrund der ökologischen Dynamiken betrachtet werden, die sich auf die Manipulation von affektiven Merkmalen fokussiert (Headrick et al. 2015). Dabei werden polizeirelevante Fertigkeiten (z. B. Eingriffstechniken, Kommunikation) unter simuliertem Stress trainiert mit dem Ziel, Strategien zur Stressbewältigung zu erlernen, um so die Leistung unter Stress zu stabilisieren und zu verbessern (Low et al. 2020). Training unter Stress erfordert also nicht notwendigerweise die Einführung von völlig neuen oder ungewohnten Übungen, sondern ergänzt das bestehende Training um Stressoren, die den emotionalen Zustand des/der Trainierenden verändern sollen. Dabei unterscheidet es sich vom Stresskonfrontationstraining, was darauf abzielt, durch allmähliche, kontrollierte und wiederholte Exposition maladaptive Stressreaktionen auf einen Stressor zu reduzieren (Wiederhold und Wiederhold 2008). Im Gegensatz dazu werden beim Training unter Stress die Stressreaktionen nicht notwendigerweise reduziert, sondern vielmehr soll die Nutzung mentaler Anstrengung für Stressbewältigungsstrategien trotz des Vorhandenseins von Stress verbessert werden (Nieuwenhuys und Oudejans 2011; Oudejans und Pijpers 2009, 2010). Entscheidend für die Auswahl von Stressoren im Einsatztraining ist das Prinzip der Repräsentativität (Pinder et al. 2011). Die Inhalte und Stressoren in den Szenarien sollten auf Ereignissen basieren, mit denen die Trainierenden typischerweise in ihrer täglichen Arbeit konfrontiert werden, um ähnliche Auftretenswahrscheinlichkeiten der Stressoren in der Lern- und Leistungsumgebung zu erreichen (Brunswik 1956; Pinder et al. 2011). Auch wenn das Einsatztraining natürlich auch auf Worst-Case-Szenarien vorbereitet, sollte die Vorbereitung auf solche seltenen Ereignisse nicht auf Kosten des Trainings der häufigsten Polizeiaufgaben gehen (Anderson et al. 2019). Ähnliches gilt für optimale Bedingungen: Seltene Bedingungen im realen Einsatz (z. B. ausreichend Licht und genügend Zeit für einen beidhändigen, statischen Schuss) sollten auch im Einsatztraining selten vorkommen (siehe auch Staller und Körner 2020).
2
us der Übung wird Ernst: Stressinduktionsmöglichkeiten A im Einsatztraining
Obwohl psychologisches Fachpersonal schon seit Jahrzehnten Stressbewältigungsprogramme für polizeiliche Einsatzkräfte anbietet, war es bislang schwierig, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in etwas Praktisches zu übersetzen, das im Polizeialltag tatsächlichAnwendung findet (Papazoglou et al. 2020). Häufig werden Stressbewältigungsprogramme (z. B. Entspannungsverfahren, Achtsamkeit; Arble und Arnetz 2019) in seminarbasierten Kursen angeboten und die Übertragbarkeit in den Polizeialltag ist (verständlicherweise) schwierig. Auch wenn Psychoedukation und deklarative Wissensvermittlung über Stress und Leistung für die Einsatzkräfte und in besonderem Maße für die Einsatztrainer*innen
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L. Giessing und M. O. Frenkel
eine wichtige Voraussetzung für das Training unter Stress sind, ist vielmehr die Vermittlung von pragmatischen Stressbewältigungsstrategien für akute Stresssituationen im Polizeidienst erstrebenswert. Das szenariobasierte Training unter Stress, das nach den Prinzipien der ökologischen Dynamiken gestaltet ist, bietet sich für die praxisnahe Vermittlung von solchen Stressbewältigungsstrategien zur Aufrechterhaltung der Leistung (Nieuwenhuys und Oudejans 2012, 2017) an. In diesem Zusammenhang kann das Stressbewältigungstraining auch als ein Training zur Verbesserung der Leistung, der mentalen Stärken und der kognitiven Fertigkeiten beworben werden, anstatt den Fokus auf die psychische Gesundheit, Schwäche oder Versagen zu legen (Papazoglou et al. 2020). Die ausgewählten Szenarien für das Training unter Stress müssen folglich Ereignisse enthalten, die Anlass für den Einsatz von Stressbewältigungsstrategien geben. Dafür schlagen aktuelle Empfehlungen einen ereignis- oder aufgabenorientierten Ansatz vor (Jenkins et al. 2021; Staller und Körner 2020). In diesen Ansätzen werden die Trainingsinhalte anhand der Problemstellungen und nicht anhand der Lösungen strukturiert (z. B. Bürger-PolizeiInteraktion, Terror-Intervention, Interventionen bei häuslicher Gewalt; Körner und Staller 2020a). Diese Strukturierung ermöglicht es, individuelle Lösungs- und Stressbewältigungsstrategien anhand einer spezifisch vorliegenden Situation auszubilden, und kann so Ausgangspunkt für eine routinemäßige Implementation der Stressbewältigungsstrategien in den dienstlichen Alltag sein. In der wissenschaftlichen Literatur zu Stressszenarien im polizeilichen Einsatztraining fällt die Überrepräsentativität von extremen Einsatzszenarien als größte Schwäche auf. Mit dem Ziel, möglichst zuverlässig in allen Einsatzkräften psychophysiologische Stressreaktionen zu provozieren, wurden Szenarien mit extremem Gewalteinsatz gewählt, die im realen Polizeidienst jedoch nur sehr selten auftreten. In den Studien finden sich besonders häufig Szenarien mit Geiselnahmen, Hausdurchsuchungen, Verkehrskontrollen, Raubüberfällen, häuslicher Gewalt und Messerattacken, die meistens mit Schusswechsel einhergingen (siehe Tab. 1). Dabei zeigen Untersuchungen im realen Polizeidienst, dass nur die wenigsten Polizeieinsätze die Präsenz von Waffen oder gar einen Schusswechsel beinhalten (Baldwin et al. 2019). Dennoch weisen polizeiliche Einsatzkräfte erhöhte Stressreaktionen während dieser Einsätze und generell im Dienst auf (Anderson et al. 2002; Baldwin et al. 2019; Giessing et al. 2020). Einige wenige Studien verzichteten in den simulierten Einsatzszenarien auf übermäßige Repräsentation von Gewalt und konnten dennoch Stressreaktionen bei den Einsatzkräften provozieren: Zum Beispiel wurden in einer Studie drei vergleichbare Verkehrskontrollen simuliert, von denen nur die letzte mit einem Schusswechsel endete (Lewinski et al. 2016). Auch wenn der Vorfall mit dem Schusswechsel die höchsten Stresslevel hervorrief, zeigten die Einsatzkräfte auch in den Vorfällen ohne Waffengewalt eine signifikante Stressreaktion (Lewinski et al. 2016). In einer anderen Studie verglichen Armstrong et al. (2014) vier Einsatzszenarien miteinander: In drei Szenarien wurde das Verhalten des Verdächtigen so manipuliert, dass der Einsatz von Zwang für die Festnahme erforderlich war. In einem Kontrollszenario war die betrunkene Zielperson kooperativ und es musste kein Zwang in der Festnahme angewandt werden. Dennoch unterschieden sich die Stressreaktionen der polizeilichen Einsatzkräfte im
Übung oder Ernst? Von Stressinduktion im Polizeitraining zu Stressbewältigung im Einsatz 659
Kontrollszenario nicht signifikant von den anderen Szenarien (Armstrong et al. 2014; siehe auch Renden et al. 2017). Somit scheint ein Training unter Stress auch für vermeintliche Routine-Einsätze ohne tödliche Gewalt (z. B. Ruhestörung, Amtshilfe, häusliche Gewalt; siehe Baldwin et al. 2019) angebracht. Gemäß dem Rahmenmodell der ökologischen Dynamiken (Körner und Staller 2018, 2020b; Staller und Körner 2020) können die Einsatztrainer*innen die Szenarien für das Training unter Stress durch die Manipulation der Aufgabe, der Umwelt und der individuellen Voraussetzungen des/der Trainierenden gestalten und an die Fähigkeiten des/der Trainierenden anpassen (siehe Kap. „Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings II – Das Trainer*innen-Mischpult“ in diesem Handbuch).
2.1
Manipulation der Umwelt
Die Manipulation der Umwelt beschreibt vor allem die sensorische Stimulation des/der Trainierenden. Als Resultat der Auswahl von extremen Szenarien in der Forschung ist die visuelle und auditive Umwelt in diesen Szenarien geprägt durch die Präsenz von Waffen (z. B. Schusswaffe, Messer, Werkzeug), Ausübung von körperlicher und psychischer Gewalt der Rollenspieler*innen (z. B. Geiselnahmen, Mord, Faustkampf) und verletzten Personen (siehe Tab. 1). Diese visuellen Stressoren können durch auditive Reize ergänzt werden, z. B. Schussgeräusche (Giessing et al. 2019; Sandvik et al. 2020) oder Schreie der verletzten Personen (McCraty und Atkinson 2012). Im Zuge von Waffengebrauch werden häufig auch tatsächliche Schmerzreize als negative Konsequenz für Verhaltensfehler im Szenario eingesetzt, z. B. durch Farbmarkierungsmunition (Arble et al. 2019; Colin et al. 2014; Lewinski et al. 2016; Liu et al. 2018; McCraty und Atkinson 2012; Meyerhoff et al. 2004; Nieuwenhuys und Oudejans 2010, 2011; Nieuwenhuys et al. 2012a, 2017; Strahler Tab. 1 Überblick über polizeiliche Einsatzzenarien in der Stressforschung Inhalt des Szenarios Geiselnahme
Ohne Schussabgabe Andersen et al. 2016; Andersen und Gustafsberg 2016; Bertilsson et al. 2019; Hope et al. 2016; Meyerhoff et al. 2004 Hausdurchsuchung Andersen et al. 2016; Andersen und Gustafsberg 2016; Brisinda et al. 2015 Verkehrskontrolle Armstrong et al. 2014; Brisinda et al. 2015; Groer et al. 2010; Lewinski et al. 2016; Renden et al. 2017 Raubüberfall Armstrong et al. 2014; Brisinda et al. 2015; Renden et al. 2017 Häusliche Gewalt Andersen und Gustafsberg 2016; Brisinda et al. 2015; Regehr et al. 2008 Messerattacke Renden et al. 2014
Mit Schussabgabe Liu et al. 2018; Sandvik et al. 2020; Strahler und Ziegert 2015 Giessing et al. 2019; Groer et al. 2010; McClure et al. 2019 Groer et al. 2010; Lewinski et al. 2016; McClure et al. 2019; McCraty und Atkinson 2012 Arble et al. 2019 McCraty und Atkinson 2012 Nieuwenhuys et al. 2012a
660
L. Giessing und M. O. Frenkel
und Ziegert 2015), elektrische Messer (im Gegensatz zu Plastikmessern; Nieuwenhuys et al. 2012b; Renden et al. 2014) oder Elektroschocks, die vor allem im Zuge von virtueller Realität diskutiert werden (Giessing 2021). Neuere Forschung experimentiert auch mit der Simulation von Gerüchen (z. B. starker Alkohol- oder Körpergeruch, Gas), um Stress zu erzeugen. Ziel der umfassenden sensorischen Simulation des Szenarios ist es, eine höchstmögliche Immersion, d. h. Eintauchen in die simulierte Umgebung, bei dem/der Trainierenden zu erreichen. An dieser Stelle soll allerdings nochmals betont werden, dass für die Erzeugung von Stress eine tatsächliche Ausübung von Gewalt mithilfe von Waffen für die Stresserzeugung nicht unbedingt notwendig ist. Nichtsdestotrotz kann die Integration von potenziell bedrohlichen Reizen in die Umwelt der Trainingsszenarien als Distraktoren, die automatisch Aufmerksamkeit des/der Trainierenden auf sich ziehen, sinnvoll sein. Es bietet dem/der Trainierenden die Chance, zu erlernen, wie er/sie eine zielgerichtete Aufmerksamkeit auf die aufgabenrelevanten Details auch unter Stress aufrechterhalten kann (vgl. Eysenck et al. 2007; Nieuwenhuys und Oudejans 2012, 2017; siehe Kap. „Taktische Blickführung und Aufmerksamkeitsausrichtung in polizeilichen Hochstresssituationen“ in diesem Handbuch.). Beispiel
Im Fall einer häuslichen Gewalt ist die sensible Kommunikation mit den Beteiligten zur Deeskalation unerlässlich. Daher sollte der/die Polizist*in seine/ihre Aufmerksamkeit auf die Gestik und Mimik der Beteiligten lenken, um auf wichtige Hinweisreize auf einen eskalierenden Gemütszustand einwirken zu können. Ein Messerblock, der in der Reichweite des/der Verursacher*in platziert wurde, kann aber die Aufmerksamkeit des/der Polizist*in als potenzielle Gefahrenquelle automatisch immer wieder ablenken. Daher bietet dies dem/der Polizist*in einen Lernanlass für Stressbewältigungsstrategien zur Aufrechterhaltung der zielgerichteten Aufmerksamkeit auf die Gestik und Mimik des/der Verursacher*in. ◄ Eine umfassende Wahrnehmung der Umwelt ist für die Leistung in einer Situation entscheidend (Nieuwenhuys und Oudejans 2012, 2017). Eine Beeinträchtigung der sensorischen Wahrnehmung kann somit in Situationen, in denen eine gute Leistung erforderlich ist, als stressig erlebt werden. Die visuelle Wahrnehmung kann zum Beispiel durch Dunkelheit (Andersen et al. 2016; McCraty und Atkinson 2012) oder Unübersichtlichkeit (z. B. Vorhänge oder verwinkelte Gänge; Regehr et al. 2008) beeinträchtigt werden. Alternativ kann Reizüberflutung zu einer Wahrnehmungsbeeinträchtigung führen und so Stress auslösend sein. Eine auditive Reizüberflutung wird meist durch dauerhaften Lärm wie laute Musik, ein weinendes Kind oder einen bellenden Hund (Wollert und Quail 2018) erzeugt, während in der visuellen Wahrnehmung als Distraktoren weitere beteiligte Personen oder Schaulustige (Arble et al. 2019; Armstrong et al. 2014; Bertilsson et al. 2019; Giessing et al. 2019; Hope et al. 2016; Hulse und Memon 2006; Regehr et al. 2008) eingesetzt werden.
Übung oder Ernst? Von Stressinduktion im Polizeitraining zu Stressbewältigung im Einsatz 661 Beispiel
Die Steuerung von auditiven Reizen kann auch genutzt werden, um dem/der Trainierenden ein unmittelbares Feedback zum Verhalten im Szenario zu geben. Bei einem Einsatz in einem Wohnhaus trifft eine Polizistin auf einen Hund, der durchgehend bellt. Zum einen ist er eine potenzielle Gefahrenquelle. Zum anderen kann er durch den dauerhaften Lärm auch zu einem Stressor für die Polizistin werden oder die Kommunikation mit dem Hausbewohner erschweren. Wenn die Polizistin diese Beeinträchtigung nun wahrnimmt und daraufhin den Hausbewohner bittet, seinen Hund nach draußen in den Garten zu schicken, sollte auch das Bellen des Hundes leiser werden und so zur Abschwächung des Stressors führen. ◄ Die Manipulation der Umwelt ermöglicht auch die Berücksichtigung von gesellschaftlichen Kontextfaktoren, die potenziell Stress auslösend sind. Eine aktuell anhaltende Debatte dreht sich um zunehmende Videoaufzeichnungen von polizeilichen Maßnahmen durch Schaulustige (Brown 2016; Jenkins et al. 2021). Videoaufzeichnungen als sozial- evaluativen Stressor einzusetzen, ist in der Stressforschung schon lange eine bewährtes Verfahren zur robusten Stressinduktion (z. B. Trier Social-Stress-Test; Kirschbaum et al. 1993). Auch wenn polizeiliche Einsatzkräfte natürlich schon immer ihr Vorgehen vor Vorgesetzten, der Dienstaufsicht und nicht zuletzt der Justiz rechtfertigen müssen, wird diese sozial-evaluative Komponente im Einsatz den Einsatzkräften durch die Handykameras sehr explizit vor Augen geführt. Daher bietet das Gefilmtwerden einen guten Anlass, um sowohl die polizeirelevanten Fertigkeiten (z. B. Rechtskenntnisse zu Interventionsmöglichkeiten gegen Schaulustige) als auch den Einsatz von Stressbewältigungsstrategien zu trainieren. Aktuell bietet auch die COVID-19-Pandemie einen Anlass, um die kontextuellen Faktoren im szenario-basierten Training zu variieren (Frenkel et al. 2021b). Natürlich ist es derzeit auch aus Gründen des Infektionsschutzes ratsam, im Training Masken zu tragen. Gleichzeitig lernt der/die Trainierende auch, sich an die eingeschränkte (visuelle) Wahrnehmung und die möglicherweise erschwerte Kommunikation mit dem Gegenüber zu gewöhnen und anzupassen. Ein viel entscheidenderer, neuer Kontextfaktor durch die Pandemie sind die sich dynamisch verändernden Rechtsverordnungen und eine damit verbundene Handlungsunsicherheit, die die Einsatzkräfte als stressig erleben (Frenkel et al. 2021a). Daher ist es notwendig, das Einsatztraining dahin gehend anzupassen und die Einsatzkräfte auf die Umsetzung und Vermittlung von ständigen Änderungen in den Rechtsverordnungen vorzubereiten (siehe Kap. „Die Verzahnung von Recht und Einsatzlehre im Kontext der polizeilichen Aufgabenerfüllung“ in diesem Handbuch).
2.2
Manipulation der Aufgabe
Stressoren liegen nicht nur in der Umwelt, sondern können auch Bestandteil der Aufgabe sein. Dazu zählen die Aufgabenbelastung und Aufgabenschwierigkeit. Beide zielen darauf
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L. Giessing und M. O. Frenkel
ab, mehr kognitive Ressourcen zu beanspruchen und somit weniger Ressourcen für den Einsatz von Stressbewältigungsstrategien zur Verfügung zu lassen. Bei der Erhöhung der Aufgabenbelastung führen mehrere Verdächtige im Szenario (Andersen und Gustafsberg 2016; Arble et al. 2019; Bertilsson et al. 2019; Hope et al. 2016; Sandvik et al. 2020) oder Doppelaufgaben (z. B. durch gleichzeitige Funkkommunikation; McCraty und Atkinson 2012; Sandvik et al. 2020) zu Ablenkungen von der eigentlichen Aufgabe. Somit bieten solche Manipulationen einen Anlass, Strategien zur Aufrechterhaltung der zielgerichteten Kontrolle zu trainieren (vgl. Nieuwenhuys und Oudejans 2012, 2017). Die Aufgabenschwierigkeit kann manipuliert werden, indem die Handlungsmöglichkeiten für effektive Interaktionen reduziert werden, z. B. in der Kommunikation durch Sprachbarrieren (Arble et al. 2019), schlechte Funkverbindung oder das Tragen von Masken. Außerdem zeigte eine Studie, dass auch das Vorgeben einer bestimmten (Schieß-) Strategie mehr Stress auslöste, als dieselbe Aufgabe mit einer präferierten Strategie auszuführen (Nieuwenhuys et al. 2017). Die Manipulation der Aufgabenschwierigkeit kann zwei positive Effekte auf das Lernen haben: Zum einen wird dadurch Stress ausgelöst, der über den Einsatz von effektiven Stressbewältigungsstrategien reguliert werden muss, zum anderen wird der/die Trainierende im Sinne der ökologischen Dynamiken auch zum Ausprobieren von neuen, variablen Lösungswegen angehalten (Staller und Körner 2020). Außerdem beeinflusst das Ausmaß der Interaktion des/der Trainierenden im Szenario die Stressreaktionen. Eine aktive Teilnahme am Szenario löst mehr Stress aus als eine passive, beobachtende Teilnahme (Hope et al. 2016). Auch die Notwendigkeit zur tatsächlichen Ausführung von motorischen Handlungen wird von Trainierenden als stressiger erlebt als eine verbale Beschreibung der Handlung: In einer simulierten Messerattacke mussten polizeiliche Einsatzkräfte entweder verbal angeben, zu welchem Zeitpunkt sie schießen würden, oder den Schuss auch tatsächlich abgeben. Auch wenn sich die selbstberichtete Angst der Einsatzkräfte in den beiden Bedingungen nicht signifikant voneinander unterschied, zeigten die Einsatzkräfte in der Bedingung mit dem realen Schuss eine höhere Herzrate (Nieuwenhuys et al. 2012a). Nichtsdestotrotz muss nicht zwingend eine Schussabgabe erfolgen, um eine Stressreaktion zu provozieren: In Szenarien mit Schießen-Nicht-Schießen-Entscheidungen unterschieden sich die physiologischen Stresslevel zwischen den Personen, die tatsächlich schossen, und denen, die nicht schossen, nicht signifikant voneinander (Hulse und Memon 2006). Entscheidend ist, dass eine tatsächliche Handlung im Zweifelsfall gefordert wäre, unabhängig davon, ob die Ausführung dann auch tatsächlich angemessen ist oder nicht. Auch die Rolle und damit wahrgenommene Verantwortlichkeit kann Einfluss auf das Stresserleben des/der Trainierenden im Szenario nehmen. In einem Amoktraining in Vierer- Formation berichteten die rückwärts laufenden Einsatzkräfte der hinteren Deckung die höchsten Stresslevel und fielen durch durchgehend hohe Cortisol-Werte auf. Die Einsatzkräfte an den Seiten zeigten die höchsten kardiovaskulären Stressreaktionen, während die Einsatzkräfte an der Front die höchsten autonomen Stressreaktionen zeigten (Strahler und Ziegert 2015). Somit erlebt der/die Trainierende in verschiedenen Rollen unterschiedliche Stressreaktionen und kann differenzierte Stressbewältigungsstrategien herausarbeiten.
Übung oder Ernst? Von Stressinduktion im Polizeitraining zu Stressbewältigung im Einsatz 663
2.3
Manipulation der individuellen Voraussetzungen
Viele der leistungsbestimmenden, individuellen Voraussetzungen können nicht akut durch den/die Einsatztrainer*in manipuliert werden, z. B. körperliche Voraussetzungen, Fertigkeitsniveau oder chronisches Stresslevel (Staller und Körner 2020). Allerdings können kurzfristige Interventionen die Verfügbarkeit von Kapazitäten zur Selbstkontrolle oder die Erwartungshaltung für das kommende Szenario beeinflussen. Wie bereits beschrieben, hängt die erfolgreiche Bewältigung von Stressoren auch von der Verfügbarkeit von mentalen Kapazitäten zur Selbstkontrolle ab (Nieuwenhuys und Oudejans 2012, 2017). Die Erschöpfung von solchen Ressourcen als Ergebnis vorangegangener kognitiver Aktivitäten kann ein entscheidender Faktor dafür sein, ob Individuen in der Lage sind, Ablenkungen oder stressinduziertem Grübeln zu widerstehen (Englert und Betrams 2015; Englert et al. 2015a, b; Staller et al. 2017). Daher kann das Stresslevel des/der Trainierenden auch beeinflusst werden, indem zuvor Ressourcen zur Selbstkontrolle bewusst erschöpft werden, z. B. durch körperliche Anstrengungen (Kniebeugen, Rennen zum Einsatzort; Andersen und Gustafsberg 2016; Sandvik et al. 2020) oder durch das Bewältigen von mehreren Einsätzen hintereinander, die entweder physisch anstrengend, stressreich oder emotional einnehmend sind (Arble et al. 2019; Lewinski et al. 2016; Sandvik et al. 2020). Eine bewusste Manipulation der Informationen vor dem Szenario kann die Erwartungshaltung hinsichtlich möglicher Gefahr und Stress im Szenario verändern. Typischerweise zeigen Einsatzkräfte bereits vor dem Szenario hohen antizipatorischen Stress (Andersen et al. 2016; Giessing et al. 2019; Strahler und Ziegert 2015). Der/die Einsatztrainer*in kann diesen Stress nun gezielt verstärken, indem er/sie bereits im Vorfeld des Szenarios entsprechende Informationen zur Verfügung stellt. Diese Informationen können die Umgebung des Einsatzortes (z. B. bekannter Gang-Club; Andersen und Gustafsberg 2016), das Verhalten oder den psychologischen Zustand des/der Verdächtigen (Armstrong et al. 2014; Hulse und Memon 2006) betreffen. Wenn das Szenario in seiner vollen Länge trainiert wird – also auch inklusive der Anfahrt zum Szenario (Jenkins et al. 2021) –, kann die Informationsweitergabe in den Handlungsstrang des Szenarios integriert werden (z. B. indem die Informationen über Funk von der Leitstelle weitergegeben werden). Diese Vorgehensweise bietet dem/der Trainierenden auch die Möglichkeit, Stressbewältigungsstrategien vor dem Eintreffen an einem Einsatzort zu erproben (z. B. Vorstellungstraining; Colin et al. 2014; Shipley und Baranski 2002). Im Gegensatz dazu können die hohen antizipatorischen Stresslevel aber auch bewusst gesenkt werden, indem keine Anzeichen für mögliche Bedrohungen oder Stresspotenzial zu Beginn des Szenarios geboten werden (Arble et al. 2019; Armstrong et al. 2014; Lewinski et al. 2016). Auch wenn solche Szenarien häufig in einem milden „Routine“-Einsatz enden (Jenkins et al. 2021), ermöglicht dieses Vorgehen in einigen Fällen auch ein überraschendes, unerwartetes Erscheinen von Stressoren (z. B. Armstrong et al. 2014; vgl. Frenkel et al. 2019b) und erfordert eine schnelle Anpassung der situationsangemessenen Bewältigungsstrategien.
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Letztlich ist ein Schlüsselfaktor für die Vorhersage optimaler Leistung von Einsatzkräften die Fähigkeit, schnell und situationsangemessen auf verschiedene Szenarien zu reagieren, indem sie ihre Emotionen, Gedanken und Verhalten im Einklang mit sich ändernden Anforderungen regulieren (Donner et al. 2016, 2017; Landman et al. 2016). Das Einsatztraining kann diese Fähigkeit bei dem/der Trainierenden entwickeln, indem es auch diese schnellen Wechsel von niedrigem zu hohem Stresslevel in den Szenarien simuliert.
3
Herausforderungen im Training unter Stress
Die Überrepräsentativität von extremen Szenarien in der Forschung erschwert die Ableitung von evidenzbasierten Empfehlungen für den Einsatz von repräsentativen Stressoren im polizeilichen Einsatztraining. Daher werden dringend systematische und repräsentative Daten aus dem Einsatz benötigt, um Stressoren zu identifizieren, die anschließend in ihrer Wirksamkeit überprüft werden (Körner und Staller 2020a). Optimalerweise würden mithilfe der Einsatzstatistiken der Behörden die häufigsten Einsatzarten (z. B. Ruhestörung, Drogendelikt), situative Faktoren (z. B. Beleuchtung, Innen- oder Außenbereich, involvierte Personen), Merkmale der involvierten Personen (z. B. Alter, Intoxikation) und gegebenenfalls angewandte Zwangsmittel (z. B. Festnahmetechniken, Pfefferspray, Schlagstock) bestimmt werden (Jenkins et al. 2021). Mit diesen Informationen könnte eine Reihe von Einsatzszenarien und Stressoren für das Einsatztraining entwickelt werden, die repräsentativ die operationale Realität widerspiegeln. Aber selbst mit einem bestehenden „Werkzeugkasten“, aus dem die Einsatztrainer*innen valide Stressoren zur Gestaltung der Szenarien auswählen könnten, bestehen in der praktischen Umsetzung einige Herausforderungen, die einer wissenschaftlichen Beantwortung bedürfen, um evidenzbasierte Trainingsempfehlungen ableiten zu können. Ein entscheidender Faktor, der auch als Wirkmechanismus des Trainings unter Stress diskutiert wird, ist das Ausmaß an Stressreaktionen, das induziert werden sollte. Auf der Grundlage der frühen Arbeit von Yerkes und Dodson (1908) wird ein umgekehrt U-förmiger Zusammenhang zwischen Stress und Lern- und Gedächtnisprozessen angenommen. Ein „mildes“ oder mittleres Stressniveau gilt im Training als leistungsförderlich für den Transfer der Fertigkeiten (Di Nota und Huhta 2019; Nieuwenhuys und Oudejans 2011; Oudejans und Pijpers 2009, 2010), weil Aufmerksamkeitsprozesse und die Kodierung neuartiger Informationen gefördert werden (Cahill und Alkire 2003; Cahill und McGaugh 1998; Payne et al. 2006) – allerdings nur bis ein optimales Stressniveau erreicht wird. Extremer Stress kann die Aufnahme neuer Informationen und den Abruf bekannter Gedächtnisinhalte blockieren (Shackman et al. 2006; siehe auch Davis und Loftus 2009; Di Nota et al. 2020; Hope 2016). In diesem Sinne sollten Stressoren im Training so gewählt werden, dass das Stressniveau das Lernen fördert, ohne die Schwelle zum maladaptiven Stress zu überschreiten, der die Kodierungs- und Abrufprozesse im Gedächtnis stört. Eine zuverlässige Identifikation dieses optimalen Stressniveaus ist allerdings schwer umsetzbar, da die Stressreaktion in hohem Maße situationsabhängig und individuell ist.
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Menschen unterscheiden sich in ihrer Reaktion auf ein und denselben Stressor aufgrund von Persönlichkeitseigenschaften, Bewertungsprozessen, verfügbaren Bewältigungsstrategien, sozialer Unterstützung und chronischen Stresses. Neuere Erkenntnisse zeigen zum Beispiel, dass polizeiliche Einsatzkräfte im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich höhere Cortisol-Grundwerte aufweisen (Planche et al. 2019), was zu einer abgeschwächten Reaktivität auf akute Stresssituationen führen könnte (Giessing et al. 2019, 2020; Strahler und Ziegert 2015). Darüber hinaus stimmen selbstberichtete Stressniveaus nicht unbedingt mit physiologisch gemessenen Stressniveaus überein (Campbell und Ehlert 2012; Frenkel et al. 2019a; Giessing et al. 2020). So kann die aktuelle Position eines/ einer Trainierenden auf dem Stress-Gedächtnis-Kontinuum durch die individuellen und beruflich vermittelten Unterschiede in den Stressreaktionen verfälscht werden (Di Nota und Huhta 2019). Außerdem werden die Trainierenden ihre individuellen Handlungsmöglichkeiten und Stresstoleranz mit zunehmender Trainings- und Diensterfahrung verändern und verbessern (Landman et al. 2016; Nieuwenhuys und Oudejans 2011; Oudejans 2008; Vickers und Lewinski 2012). Training unter Stress kann dabei auch schon in einem sehr frühen Stadium der Polizeiausbildung eingesetzt werden (Low et al. 2020), sollte allerdings zunehmend komplexe und anspruchsvolle Stressoren integrieren (Di Nota und Huhta 2019). Eine große Herausforderung des Einsatztrainings besteht also darin, in der Gestaltung der Einsatzszenarien diese Individualität des Stresserlebens zu berücksichtigen. Ein individualisierter und adaptiver Ansatz für das Polizeitraining ist auch deswegen entscheidend, weil Einsatzkräfte häufig nach dem Training bereits am nächsten Tag zurück im Dienst sind. Daher ist es wichtig, dass sie das Training mit dem Gefühl einer guten Leistung verlassen und so ihre Selbstwirksamkeit in Bezug auf kritische Einsatzlagen gestärkt wird. Um Einsatztrainer*innen bei der Überwachung und Einhaltung eines optimalen Stressniveaus und der Auswahl geeigneter Stressoren zu unterstützen, kann es hilfreich sein, physiologische Echtzeit-Messungen von Stressreaktionen zu implementieren, die nicht auf subjektiven Selbstberichten der Trainierenden oder Beobachtungen des/der Einsatztrainer*in beruhen. In der aktuellen Forschung gibt es bereits erste erfolgreiche Versuche, psychophysiologische Stressreaktionen und Trainingsfortschritte von polizeilichen Einsatzkräften in Echtzeit zu messen und zu verfolgen (Bertilsson et al. 2019; Brisinda et al. 2015; Muñoz et al. 2020; Thompson et al. 2015). Herzratenvariabilität (HRV) ist eine vielversprechende Methode, da sie es Forschenden und Praktizierenden ermöglicht zu verstehen, wie ein Individuum auf Stress reagiert, Emotionen reguliert und Leistungen unter Stress erbringt (Laborde et al. 2018). Gleichzeitig kann die HRV nicht-invasiv und mit relativ geringem Aufwand durch elektrokardiografische Geräte gemessen werden, die einfach und schnell anzulegen sind (z. B. Brustgurt). Während des Trainings unter Stress soll die HRV dem/der Trainierenden und den Einsatztrainer*innen eine aktuelle Einschätzung geben, wie effizient der/die Trainierende auf die im Einsatzszenario gestellten Aufgaben reagieren kann (Thayer et al. 2009). Ist der Abstand zwischen zwei Herzschlägen sehr variabel, kann flexibel auf neue oder zusätzliche Stressoren reagiert werden (Hansen et al. 2009; Mosley et al. 2017, 2018; Saus et al. 2012; Thompson et al. 2015). Ist die HRV ge-
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sunken, dann gibt er/sie bereits sein/ihr Bestes, um die aktuelle Aufgabe im Einsatzszenario zu bewältigen (Giessing et al. 2019; Morgan et al. 2007; Mosley et al. 2017). Somit bietet die Echtzeiterfassung der physiologischen Stressreaktionen den Einsatztrainer*innen eine Steuerungsmöglichkeit, die Komplexität und Schwierigkeit der Szenarien in Echtzeit an die Leistung des/der Trainierenden anzupassen. Neben der Beobachtung der kurzfristigen Stressreaktionen auf die Szenarien sollten auch die möglichen Langzeiteffekte einer häufigen Exposition gegenüber stressreichen Trainingsszenarien berücksichtigt werden. Eine Habituation an die Stressoren könnte das Training auf lange Sicht unwirksam machen. Habituation bezeichnet die allmähliche Desensibilisierung gegenüber einem Reiz. Das bedeutet, dass die wiederholte Exposition gegenüber einem Reiz im Laufe der Zeit zu einer verminderten physiologischen Reaktion führen kann (vgl. Giessing et al. 2020; Strahler und Ziegert 2015). Allerdings sind Stressreaktionen, die den Anforderungen der Situation entsprechen (nicht zu niedrig und nicht zu hoch), adaptiv und können die Leistung sogar verbessern (Regehr et al. 2008). Daher ist mehr Forschung über die optimale Intensität und Häufigkeit von Training unter Stress erforderlich, damit polizeiliche Einsatzkräfte im Training individuelle Bewältigungsstrategien zum Umgang mit stressreichen Polizeieinsätzen entwickeln können, ohne dass die adaptiven psychophysiologischen Reaktionen auf die Stressoren ausgelöscht werden. Fazit Das Training unter Stress ist essenziell für die Vorbereitung auf kritische Einsätze im Polizeidienst. Im Einsatztraining können die Aufgabe, die Umgebung und die individuellen Voraussetzungen so manipuliert werden, dass der/die Trainierende unterschiedliche Stressreaktionen und deren Auswirkungen auf das Verhalten erlebt und infolgedessen wirksame Stressbewältigungsstrategien entwickelt. Angesichts der erhöhten Stressreaktionen in Einsätzen ohne Waffen ist das Training unter Stress auch für vermeintliche Routine-Einsätze ohne exzessive Gewalt angebracht. Mithilfe einer Echtzeiterfassung von physiologischen Reaktionen (z. B. HRV) können E insatztrainer*innen die Komplexität und Schwierigkeit der Szenarien unmittelbar an das Stresslevel und die Leistung des/der Trainierenden anpassen und so einen individualisierten Trainingsansatz konsequent umsetzen.
Ableitungen/Handlungsempfehlungen für die Praxis
a) Entscheider*innen Das Training unter Stress ist eine wirksame Methode im polizeilichen Einsatztraining, die die Einsatzkräfte auf die Anforderungen im Polizeidienst vorbereitet. Daher sollten Entscheider*innen Strukturen fördern, die das Training unter Stress auf organisationaler Ebene begünstigen.
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• Psychoedukation über Stress und seine Wirkungen: Als ersten Schritt ist es notwendig, Einsatztrainer*innen und Einsatzkräfte über Stress, die Wirkungen auf Kognition und Verhalten sowie die kurz- und langfristigen Folgen auf theoretischer Ebene aufzuklären. Kostengünstige physiologische Geräte, wie z. B. Wearables und Apps zur Messung der Herzfrequenz und Herzratenvariabilität, können als ergänzende Trainingsmittel erworben werden, um dem/der Trainierenden während des Trainings die eigenen körperlichen Stressreaktionen vor Augen zu führen. Ebenso sollten auch die negativen Auswirkungen chronischer Stressreaktionen als Risiko für Gesundheitsprobleme hervorgehoben werden, wenn sie unbehandelt bleiben. Als Pädagog*innen sind die Einsatztrainer*innen für die Vermittlung dieses Wissens zuständig. Daher sollte die Aus- und Fortbildung die Einsatztrainer*innen mit den deklarativen Wissensstrukturen zu Stress und Training unter Stress (insbesondere der ökologischen Dynamiken) ausstatten. • Integration von Stressbewältigungsstrategien in das Einsatztraining und den Dienstalltag: Neben der Psychoedukation über Stress und seine Wirkungen in vorlesungs- oder seminarbasierten Kursen ist es entscheidend, das erlernte theoretische Wissen in praxisnahe Stressbewältigungsstrategien zu überführen. Die Vermittlung von Stressbewältigungsstrategien sollte daher während Einsatzszenarien im Training oder im Dienstalltag erfolgen. Das zeigt den Einsatzkräften, wie die Anwendung solcher Stressbewältigungsstrategien vor und nach kritischen Ereignissen ihnen helfen kann, den Umgang mit dem daraus resultierenden Stress – auch in zukünftigen Ereignissen – zu verbessern. Dies kann mit der Belegschaft vor einer Schicht und zwischen den Einsätzen im Dienst und Einsatztraining geschehen. Im Optimalfall werden sie dabei durch die routinemäßige Anwesenheit von psychologischem Fachpersonal oder Einsatztrainer*innen unterstützt. • Strukturen für Training unter Stress schaffen: Damit Stressbewältigungsstrategien ins Einsatztraining und in den Dienstalltag integriert werden können, müssen auf Lehrplanebene die entsprechenden Strukturen geschaffen werden. Zur Implementation von Training unter Stress scheint eine Strukturierung der Lehrplaninhalte nach aufgabenbezogenen Gesichtspunkten (z. B. Bürger-Polizei- Interaktion, Terror-Intervention, Interventionen bei häuslicher Gewalt etc.) unter Berücksichtigung der ökologischen Dynamiken zielführend. • Abbau von Stigmatisierung: Es wird immer wieder berichtet, dass Stressbewältigungstraining in Polizeiorganisationen auf Widerstand stößt, da das Beanspruchen von psychologischer Hilfe als stigmatisierend angesehen wird. Daher sollte Stressbewältigungstraining beworben werden als ein Training zur Verbesserung der (Arbeits-)Leistung, der mentalen Stärken und der kognitiven Fertigkeiten, anstatt den Fokus auf die psychische Gesundheit, Schwäche oder Versagen zu legen. Durch eine routinemäßige Implementation wird das Stressbewältigungstraining dann als natürlicher Bestandteil des regulären Trainingsprozesses und Teil des Polizeidienstes betrachtet. Ähnlich wie es bereits in der angewandten Sportpsychologie im Spitzensport umgesetzt wird.
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b) Einsatzkräfte Eine effektive Stressbewältigung fördert das professionelle Verhalten und die Sicherheit der Einsatzkräfte akut im Einsatz, erhält aber auch langfristig ihre psychische und körperliche Gesundheit. • Selbstwahrnehmung der eigenen Stressreaktionen: Eine Grundvoraussetzung für den wirksamen Einsatz von Stressbewältigungsstrategien ist die Fähigkeit, Stress sowie die Auswirkungen und Auslöser wahrzunehmen. Dafür ist eine engagierte Selbstbeobachtung der eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungsimpulse während des Einsatztrainings und während des Dienstalltags notwendig. Automatische Stressreaktionen können dann als Hinweisreize dienen, bestimmte Stressbewältigungsstrategien einzusetzen. Die Kenntnis über die individuellen Stressauslöser ermöglicht einen proaktiven, präventiven Umgang und kann so die Stressreaktion bereits vor der Entstehung reduzieren. • Tägliche Praxis: Das vorrangige Ziel des Trainings unter Stress als Bestandteil des Einsatztrainings ist der Transfer von Stressbewältigungsstrategien in den Dienstalltag und in reale Einsätze. Wir ermutigen die Einsatzkräfte, verschiedene Stressbewältigungsstrategien im Einsatztraining und Dienstalltag zu erproben. Die für die eigenen Bedürfnisse und Anforderungen passendsten Strategien können anschließend in die tägliche Praxis integriert werden. Ein regelmäßiges Training erleichtert die Anwendung der Stressbewältigungsstrategien auch unter schwierigen Umständen. Eine mentale Vor- und Nachbereitung von stressreichen Einsätzen (z. B. durch Visualierungstraining) ist dabei ein Ausdruck von Professionalität. • Reflexion über den Einsatz der Stressbewältigungsstrategien: Reflexion ist essenziell für die Weiterentwicklung von Expertise. Sie schärft das Bewusstsein für die eigenen Perspektiven, Umstände und Voreingenommenheiten. Dabei zeigt sie neue Handlungsmöglichkeiten auf, wie solche Voreingenommenheiten bearbeitet oder sogar genutzt werden können. Daher kann das regelmäßige reflexive Betrachten und Bearbeiten der eigenen Stressreaktionen, -auslöser und -bewältigung das Verhaltensrepertoire und die Kompetenz zur Stressbewältigung erweitern (für eine genauere Beschreibung der reflexiven Praxis siehe Kap. „Der/ die reflektierte Praktiker*in: Reflektieren als Polizist*in und Einsatztrainer*in“ in diesem Handbuch). c) Einsatztrainer*innen Für das Training unter Stress kommt den Einsatztrainer*innen die bedeutende Rolle als Architekt*innen des Lernkontextes zu: Ihre Ausgestaltung des Szenarios entscheidet über die Qualität der Lernerfahrung für den/die Trainierende*n.
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• Individualisiertes Training: Im Training unter Stress ist es erforderlich, den/die Trainierende*n nicht zu unter- oder überfordern, sondern ein optimales Stressniveau zu erzeugen. Daher sollten Einsatztrainer*innen die individuellen Stressreaktionen und das Fertigkeitsniveau des/der Trainierenden in der Gestaltung der Szenarien berücksichtigen. Ein und derselbe Stressor kann in mehreren Trainierenden oder an verschiedenen Tagen unterschiedliche Stresslevel hervorrufen. Einsatztrainer*innen sollten der Individualität und Variabilität bei der Stressbewältigung Raum geben. Das Szenario sollte so entwickelt werden, dass der/die Trainierende nicht nur eine gewünschte Reaktion ausführt, sondern stattdessen zahlreiche Umweltfaktoren berücksichtigen muss, um eine geeignete, individuelle Lösungsstrategie zu bestimmen. • Berücksichtigung der Repräsentativität und Auftretenswahrscheinlichkeit von Stressoren: Die Inhalte und Stressoren in den Szenarien sollten auf Ereignissen basieren, mit denen die Trainierenden typischerweise in ihrer täglichen Arbeit konfrontiert werden. Stressoren in der Lernumgebung sollten ähnliche Auftretenswahrscheinlichkeiten wie im realen Dienst erreichen. Sobald sich die Einsatztrainer*innen – gemäß der aufgabenorientierten Strukturierung der Lehrplaninhalte – für eine Problemstellung bzw. Aufgabe (z. B. Festnahme) entschieden haben, muss eine geeignete Umwelt festgelegt werden. Die Analyse der laufenden Einsatzstatistiken der Behörde oder Gespräche mit Einsatzkräften können helfen, häufige und gleichzeitig herausfordernde Umwelten für die spezifische Aufgabe zu identifizieren. Die Einsatztrainer*innen (idealerweise zusammen mit den Entscheider*innen) können dann frühere Einsatzberichte durchsehen, um die Details aus realen Einsätzen (z. B. Anzahl der beteiligten Personen im Innen- oder Außenbereich) als Grundlage für das Szenario-Skript zu verwenden. • Feedback zu Stressbewältigungsstrategien geben: In Nachbesprechungen im Anschluss an die Einsatzszenarien artikuliert der/die Trainierende den Entscheidungsprozess und die Einsatztrainer*innen geben Feedback zur Leistung des/der Trainierenden. Das Feedback sollte auf die Machbarkeit und Effektivität der individualisierten Lösungen und Stressbewältigung abzielen. Kostengünstige Geräte, wie z. B. ein Herzfrequenzmessgerät, können zur Messung von körperlichen Stressreaktionen während der Einsatzszenarien verwendet werden. Dieses Biofeedback kann dem/der Trainierenden helfen, sich der Veränderungen ihres Stressniveaus, ihrer Aufmerksamkeit und ihrer Interpretation bewusst zu werden. Den Einsatztrainer*innen hilft das Biofeedback, den Zusammenhang zwischen Stress und Leistung deutlicher zu machen. Durch Diskussionen und mentale Simulationen kann der/die Trainierende die eigenen Schwächen erkennen und lernen, wie er/sie das Verhalten anpassen und zukünftige Leistungen verbessern kann.
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Virtuelle Realität als vielversprechende Ergänzung im polizeilichen Einsatztraining – Chancen, Grenzen und Implementationsmöglichkeiten Laura Giessing und Marie Ottilie Frenkel
Inhaltsverzeichnis 1 Trainingsziele in VR 2 Lernen in VR 3 Die Rolle des/der Einsatztrainer*in 4 Ethische und legale Voraussetzung für die Nutzung von VR 5 Wissenschaft und Forschung in VR Literatur
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Zusammenfassung
Eine adäquate Vorbereitung auf kritische Einsatzsituationen erfordert häufiges und realitätsnahes Training. Dafür werden bislang Simulationsübungen eingesetzt, die jedoch aus logistischen und sicherheitstechnischen Gründen sehr schwierig, teuer und zeitaufwendig zu organisieren sind. Aufgrund der vielfältigen Manipulationsmöglichkeiten und des vergleichsweise geringen Organisationsaufwands wird aktuell die Implementation von Virtueller Realität (VR) in das Einsatztraining diskutiert. Ausführliche Stärken- Schwächen-Chancen-Risiken-Analysen betonen die besonderen Potenziale, verweisen aber auch auf mögliche Grenzen des VR-Trainings. Vor dem Hintergrund von theoretischen Überlegungen zu Trainingszielen, Lernkonzepten, der
Reviewer*innen: Eric Haupt, Stefan Schade L. Giessing (*) · M. O. Frenkel Institut für Sport und Sportwissenschaft, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_36
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Rolle des/der Einsatztrainer*in und ethisch-rechtlichen Voraussetzungen in VR stellt dieser Beitrag praktische Richtlinien zur Integration von VR in die Trainingscurricula zum Einsatztraining vor.
Die Komplexität der modernen Polizeiarbeit erfordert, dass Polizeibehörden die Art und Weise des Einsatztrainings erweitern. Es reicht nicht aus, wenn sich das Einsatztraining nur auf die Vermittlung von Gesetzen oder auf das Training von Fertigkeiten, wie z. B. Festnahme- oder Selbstverteidigungstechniken oder Umgang mit Schusswaffen konzentriert. Im Vordergrund sollte vielmehr die Integration verschiedenster Fertigkeiten stehen, um so die Einsatzkräfte zu kreativen Problemlöser*innen für jegliche Einsatzsituationen auszubilden (Blumberg et al. 2019; Staller und Zaiser 2015). Das Training, das für eine adäquate Vorbereitung auf kritische Einsatzsituationen erforderlich wäre, geht daher oft weit über das Training hinaus, das die Einsatzkräfte tatsächlich erhalten. Einsatzkräfte berichten, dass sie vor allem von mehr und realitätsnäherem Training profitieren würden (Frenkel et al. 2021a; Renden et al. 2015). Idealerweise sollten effektive Trainingsprogramme möglichst genau die Gegebenheiten des Einsatzes simulieren (siehe auch Kap. „Übung oder Ernst? Von Stressinduktion im Polizeitraining zu Stressbewältigung im Einsatz“ in diesem Handbuch). Häufig werden zu wenig Zeit, zu wenige Ressourcen oder logistische Hindernisse als Gründe für den geringen Trainingsumfang und die eingeschränkte Trainingsfrequenz angegeben. Groß angelegte, realistische Simulationsübungen sind logistisch sehr schwierig, teuer und zeitaufwendig zu organisieren und werfen darüber hinaus auch ethische und sicherheitstechnische Fragen auf (Giessing 2021; Murtinger et al. 2021). Aufgrund der vielversprechenden Eigenschaften der Virtuellen Realität (VR) diskutieren Polizeibehörden, Forschergruppen und Technologieunternehmen bereits ihre Implementation in die Trainingscurricula für das Einsatztraining. Dabei wird vor allem die Möglichkeit zum sicheren, immersiven, erfahrungsorientierten und kosteneffektiven Lernen in vielfältigen und komplexen Umgebungen hervorgehoben. VR erzeugt eine computergenerierte Simulation, in der sich der/die Trainierende durch eine künstliche dreidimensionale Umgebung bewegen, mit Objekten in diesem Raum interagieren oder mit Avataren kommunizieren kann. Durch VR-Brillen oder speziell gestaltete Räume mit mehreren großen Bildschirmen erzeugt die VR realistische Bilder, Geräusche und haptische Rückmeldungen, die dem/der Trainierenden das Gefühl geben, in der virtuellen Umgebung physisch anwesend zu sein. Die kontrollierten, leicht zu generierenden virtuellen Szenarien ermöglichen die Wiederholung und Abwechslung verschiedener Trainingssituationen, damit die Trainierenden lernen, die Vielzahl der erforderlichen Fertigkeiten auch unter herausfordernden Umständen zu integrieren (siehe Kap. „Übung oder Ernst? Von Stressinduktion im Polizeitraining zu Stressbewältigung im Einsatz“ in diesem Handbuch). Dabei ermöglicht die VR die Gestaltung einer fast unendlichen Anzahl komplexer und möglicherweise gefährlicher Szenarien, die in der realen Welt aus finanziellen, zeitlichen, personellen oder ethischen Gründen nur schwer oder gar nicht simuliert werden
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könnten (Düking et al. 2018; Engelbrecht et al. 2019; Giessing 2021), z. B. die Einbeziehung von gefährlichen Substanzen (z. B. explosiven Materialien) und von vulnerablen Personengruppen (z. B. Kinder, ältere Menschen, Tiere; Murtinger et al. 2021). Durch die schnelle Verfügbarkeit von einer Vielzahl an Szenarien bietet die VR das Potenzial für ein regelmäßigeres, ortsunabhängiges Training und damit die Erhöhung der persönlichen Trainingszeit sowie das Trainieren verschiedener Positionen oder Aufgaben (Giessing 2021; Murtinger et al. 2021). Gleichzeitig fördert VR-Training die aktive Interaktion des/ der Nutzer*in mit dem System: Sensoren erfassen die Bewegungen des/der Trainierenden, sodass er/sie mit der virtuellen Umgebung interagieren und/oder auf sie reagieren kann. Trotz dieser besonderen Potenziale von VR für das Einsatztraining von kritischen Situationen verweisen ausführliche Analysen auch auf die derzeitigen Schwächen und Risiken von VR-Training (Engelbrecht et al. 2019; Giessing 2021; Murtinger et al. 2021). Obwohl bereits erste Studien die Wirksamkeit von VR-Training für polizeiliche Einsatzsituationen untersucht haben (Bertram et al. 2015; Caserman et al. 2018; Moskaliuk et al. 2013; Muñoz et al. 2020), ist die Wirksamkeit von VR und der Transfer in reale Einsätze weiterhin fraglich (Anderson et al. 2019; Di Nota und Huhta 2019; Staller und Körner 2020). Derzeit werden vor allem technische Schwächen und die daraus resultierende geringe Simulationstreue kritisiert (Engelbrecht et al. 2019; Giessing 2021), insbesondere, weil eine zu geringe Bildwechselrate oder zu hohe Latenz als Ursachen für die sogenannte Cybersickness (d. h. Schwindelgefühle, Übelkeit oder allgemeines Unwohlsein bei der Verwendung von VR) diskutiert werden (Saredakis et al. 2020). Daher werden aktuell Anstrengungen und Investitionen in der Technologieentwicklung unternommen, um die Bildwechselrate, Tracking-Systeme, Latenz, Auflösung und multisensorische Stimulation zu verbessern (Cummings und Bailenson 2016). Eine Sorge bei der Anwendung von VR im polizeilichen Einsatztraining betrifft die mögliche Entwicklung unnatürlicher oder falscher Bewegungsmuster (z. B. in der Schusstechnik), teilweise aufgrund unpräziser Nachbildungen von Einsatzmitteln oder aufgrund der Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit durch die sperrige VR-Ausrüstung (Düking et al. 2018; Giessing 2021). Aus rechtlicher Sicht ist die große Datenmenge persönlicher Informationen (z. B. körperliche Merkmale, motorische Reaktionen), die bei der VR-Nutzung gesammelt wird, ein potenzielles Risiko für den Datenschutz (Spiegel 2018). Sowohl durch interne als auch Fremdzugriffe kann es zum Missbrauch der sensiblen persönlichen oder organisatorischen Informationen kommen. Obwohl der empirische Nachweis der Wirksamkeit von VR-Training im Polizeikontext noch aussteht, haben Polizeibehörden bereits damit begonnen, VR-Systeme für das Einsatztraining anzuschaffen. Daher besteht ein dringender Bedarf nach einer Definition von Anforderungen und praktischen Richtlinien für die Integration von VR in ihre aktuellen Trainingscurricula. Diese Richtlinien müssen auf dem Wissen über Trainingsziele, Lernkonzepte in VR, die Rolle des/der Einsatztrainer*in und ethisch-rechtlichen Voraussetzungen basieren. Auch wenn die empirische Forschung zur Nutzung von VR noch in den Anfängen steckt, bietet dieser Beitrag einen Ausgangspunkt für die Implementation von VR in Einsatztraining, auf dem Entscheider*innen, Einsatztrainer*innen, Einsatzkräfte sowie Forscher*innen aufbauen können.
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Trainingsziele in VR
Aufgrund der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten im VR-Training müssen die Trainingsziele in VR vor der Implementation in das Einsatztraining klar definiert werden. Anstatt die bestehenden Trainingsformen zu ersetzen, sollte es vielmehr eine Ergänzung darstellen, in der die Stärken der VR gewinnbringend für die Erreichung bestimmter Trainingsziele ausgeschöpft werden. In Experteninterviews gaben Einsatzkräfte, Einsatztrainer*innen sowie Entscheider*innen in Polizeiakademien an, dass VR für bestimmte Trainingsbereiche (z. B. taktisches Training, Kommunikation und Kooperation) ein sehr geeignetes Werkzeug sei, während sie für andere Bereiche aufgrund der derzeitigen Einschränkungen in der Technologie nicht geeignet sei (z. B. präzises Schießtraining, praktisches Kampftraining; Murtinger et al. 2021). Offensichtlich ist reales Training viel besser geeignet, um motorische Bewegungsabläufe wie Schieß- oder Interventionstechniken einzuüben. Allerdings besteht eine Schwäche des traditionellen Einsatztrainings derzeit in der mangelnden Repräsentation des vollen Kontextes, den der/die Trainierende benötigen würde, um die Situation angemessen beurteilen zu können. Oft ist es notwendig, dass der/ die Einsatztrainer*in den Kontext des simulierten Vorfalls auf der Grundlage eines Skripts verbal beschreibt. Allerdings ist dieses Vorgehen auf die Vorstellungskraft des/der Trainierenden angewiesen, was ein möglicher Störfaktor in der korrekten Beurteilung der Situation ist. Außerdem birgt es das Risiko, dass der/die Einsatztrainer*in die Aufmerksamkeit des/der Trainierenden auf entscheidende Details des Vorfalls lenkt, die der/die Trainierende selbst vielleicht nicht bemerkt hätte – und somit möglicherweise die kritische Lernerfahrung vorwegnimmt (Haskins et al. 2020). In VR können diese expliziten und subtilen Hinweise hingegen sehr detailliert in die audiovisuelle Umgebung integriert werden. Daher kann VR den Trainingszielen der Wahrnehmung von potenziellen Gefahrenquellen, der Beurteilung der Situation und dem Ergreifen geeigneter Maßnahmen (vgl. Nieuwenhuys und Oudejans 2012, 2017) dienen. Die VR sollte als Brücke dienen, um auf dem aufzubauen, was bereits als effektiv bekannt ist, und gleichzeitig die entsprechende virtuelle Umgebung bieten, um dieses Training zu verbessern (Haskins et al. 2020). Bestimmte Trainingsmethoden (z. B. Farbmunitionstraining mit voller Körperschutzausrüstung) implizieren bereits vor Beginn des Trainingsszenarios die Erwartung des Schusswaffengebrauchs und schränken damit die Anzahl der Entscheidungen ein, die der/ die Trainierende glaubt, treffen zu müssen. Um sicherzustellen, dass das VR-Training auch Entscheidungsprozesse für geeignete Polizeimaßnahmen trainiert, sollte die Verwendung einer großen Bandbreite von Einsatzmitteln ermöglicht werden. Dafür benötigt der/ die Trainierende die reguläre Ausrüstung (z. B. Kommunikationsgeräte, Schlagstock, Pfefferspray, Schusswaffe). Daher ist es unabdingbar, physische Replikate der virtuellen Gegenstücke zu entwickeln, um dem/der Trainierenden ein physisches Gefühl für die Handhabung der Geräte zu vermitteln (z. B. passive Haptik; Haskins et al. 2020; Murtinger et al. 2021). Eine möglichst realistische Anordnung der Replikate am Körper des/der Trainierenden (z. B. inklusive der Berücksichtigung der individuellen Gestaltung des Ein-
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satzgürtels) kann möglicherweise dem Training von falschen oder unnatürlichen Bewegungsabläufen entgegenwirken. Polizeiliche Einsatzkräfte agieren meist in Zweierteams, ggf. auch mit mehreren Personen und/oder mehreren Teams, potenziell sogar aus anderen sicherheitsrelevanten Behörden (z. B. Rettungsdienst, Feuerwehr). Daher ist es unerlässlich, dass mehrere Trainierende innerhalb eines Trainingsszenarios agieren und interagieren können, zusätzlich zur möglichen Einbindung von Avataren (engl. non-playing characters) durch Sprachbefehle. Da Koordination und Kommunikation bei Polizeieinsätzen entscheidend sind (siehe Kap. „Sprach-und Gewaltkompetenz im Einsatztraining“ in diesem Handbuch), sollten außerdem Kommunikationsmittel innerhalb des VR-Trainings für alle Trainierenden zur Verfügung stehen. Dabei sollten Trainierende die Möglichkeit erhalten, ihre Kommunikationsfertigkeiten sowohl im Umgang mit dem polizeilichen Gegenüber als auch im Umgang mit Kolleg*innen und der Leit-/Koordinationsstelle zu trainieren. Ein solches System mit verschiedenen Kommunikationskanälen hilft auch dem/der Einsatztrainer*in, mit jedem/jeder Trainierenden oder Team separat zu kommunizieren (Engelbrecht et al. 2019; Murtinger et al. 2021).
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Lernen in VR
Ein Vorteil des Trainings in VR ist die höhere Kontrolle über die Trainingsumwelt (z. B. Ablauf, Komplexitätsgrad, Risikominderung) im Vergleich zum traditionellen, szenariobasierten Training. Diese Möglichkeiten der VR sollten daher ausgenutzt werden, um dem/der Trainierenden eine Reihe von Beispielen und Variationen als Lernmöglichkeiten entsprechend der individuellen Bedürfnissen und Trainingszielen innerhalb einer einzigen Trainingssitzung anzubieten (siehe Kap. „Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings I – Der Constraints-led Approach“ und Kap. „Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings II – Das Trainer*innen-Mischpult“ in diesem Handbuch). Durch Wiederholung und Erfahrung kann der/die Trainierende den Einsatz von Problemlösungen stabilisieren. Durch Variabilität wird er/sie resistent gegenüber variablen Störungen. Anstatt wiederholt das gleiche Verfahren unter identischen Bedingungen zu trainieren, lernt der/die Trainierende, die Fertigkeiten flexibel an unterschiedliche Bedingungen anzupassen (Staller und Körner 2020). Damit bietet die VR eine besondere Möglichkeit zur Umsetzung des Konzepts der ökologischen Dynamiken und der nicht-linearen Pädagogik (Araújo und Davids 2011; Headrick et al. 2015), das zunehmend auch im polizeilichen Einsatztraining gefordert wird (Frenkel et al. 2021b; Körner und Staller 2018, 2020a, b; Staller und Körner 2020; siehe auch Kap. „Übung oder Ernst? Von Stressinduktion im Polizeitraining zu Stressbewältigung im Einsatz“ in diesem Handbuch). Caserman et al. (2018) setzten diesen Ansatz von variierenden Situationen bei gleicher Aufgabe in einem VR-Szenario einer Verkehrskontrolle um, indem der/die Trainierende verschiedene Dokumente überprüfen sollte und der Zustand des/der Fahrer*in (z. B. Alkohol- oder Drogeneinfluss) oder des Fahrzeugs (z. B. Licht, Reifen) variierte. Während VR die Umsetzung dieses Konzeptes
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ins polizeiliche Einsatztraining durch die vielfältigen Manipulationsmöglichkeiten erleichtern kann (Giessing 2021), sollten gleichzeitig die allgemeinen Empfehlungen und Handlungsrichtlinien für dieses Trainingskonzept berücksichtigt werden (Staller und Körner 2020; siehe Kap. „Übung oder Ernst? Von Stressinduktion im Polizeitraining zu Stressbewältigung im Einsatz“, „Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings I – Der Constraints-led Approach“ und „Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings II – Das Trainer*innen-Mischpult“ in diesem Handbuch). Das gilt insbesondere für die Forderung nach einem individualisierten Trainingskonzept: Die situativen Einschränkungen der Umwelt und der Aufgabe sollten bestmöglich auf die individuellen Fähigkeiten des/der Trainierenden abgestimmt sein, um so eine gewinnbringende Lernerfahrung für den/die Trainierenden zu schaffen (Staller und Körner 2020). Die Auswahl der Szenarien und Manipulationen innerhalb der Szenarien sollten immer im direkten Zusammenhang mit dem Erreichen der gewünschten Trainingsziele stehen (Murtinger et al. 2021). Im Sinne des Prinzips der Repräsentativität sollten die Inhalte der Szenarien auf realen Polizeieinsätzen basieren, damit bestimmte Ereignisse im Training eine ähnliche Auftretenshäufigkeit wie in realen Einsätzen haben (Pinder et al. 2011). Vor diesem Hintergrund sollte der/die Trainierende nicht unnötigerweise den ex tremsten, aber im realen Polizeidienst seltenen Situationen ausgesetzt werden, nur, weil es in VR möglich ist (siehe Kap. „Übung oder Ernst? Von Stressinduktion im Polizeitraining zu Stressbewältigung im Einsatz“ in diesem Handbuch). Zu hohe Stresslevel im Training können die Kodierungs- und Abrufprozesse im Gedächtnis stören (Di Nota und Huhta 2019; Di Nota et al. 2020; Hope 2016). Vielmehr gilt ein „mildes“ oder mittleres Stressniveau im Training als leistungsförderlich für den Transfer der Fertigkeiten (Di Nota und Huhta 2019; Nieuwenhuys und Oudejans 2011; Oudejans und Pijpers 2009, 2010). Da die Stressreaktion in hohem Maße situationsabhängig und individuell ist, besteht eine große Herausforderung des Einsatztrainings darin, in der Gestaltung der Einsatzszenarien diese Individualität des Stresserlebens zu berücksichtigen (siehe Kap. „Übung oder Ernst? Von Stressinduktion im Polizeitraining zu Stressbewältigung im Einsatz“ in diesem Handbuch). Auch wenn noch unklar ist, welche Stresslevel während des Trainings optimale Lernergebnisse erzielen, bietet die VR eben zur Beantwortung dieser Frage neue, vielversprechende Möglichkeiten für die Forschung (siehe Abschn. 5). Daher sollten die Flexibilität und die Möglichkeiten zu Echtzeitveränderungen in VR genutzt werden, um der Forderung nach einem individualisierten und adaptiven Ansatz für das Einsatztraining nachzukommen. Ein großer Vorteil der interaktiven VR ist, dass Fehler – selbst in extremen Szenarien mit tödlicher Gewalt – ohne negative Konsequenzen in der realen Welt gemacht werden können. Das anschließende Feedback und die Reflexion (siehe Kap. „Der/die reflektierte Praktiker*in: Reflektieren als Polizist*in und Einsatztrainer*in“ in diesem Handbuch) über die Fehler sind dennoch essenziell für den Lernerfolg. Die VR ermöglicht es, ein unmittelbares Feedback direkt in das laufende Trainingsszenario zu integrieren (Giessing 2021). Da Einsatztrainer*innen die volle Kontrolle über die präsentierte Umwelt in VR haben, können sie visuelle Hinweisreize und Sichtlinien an den relevanten Stellen einblen-
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den, um die Aufmerksamkeitsprozesse des/der Trainierenden bewusst zu lenken und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen (Craig 2014; siehe Kap. „Taktische Blickführung und Aufmerksamkeitsausrichtung in polizeilichen Hochstresssituationen“ in diesem Handbuch). Gleichzeitig könnte eine Datenerfassung von psychophysiologischen Stressmarkern in Echtzeit während des Trainings dem/der Trainierenden helfen, sich des eigenen Stresslevels und dessen Einfluss auf die Aufmerksamkeit, Interpretation und Motorik bewusst zu werden. In der neueren Literatur gibt es bereits erste (erfolgreiche) Versuche, psychophysiologische Stressreaktionen und Trainingsfortschritte von Einsatzkräften zu messen und zu verfolgen (Bertilsson et al. 2019; Brisinda et al. 2015; Muñoz et al. 2020; Thompson et al. 2015). Ein in die VR integriertes Biofeedback-Training kann den/die Trainierende für erfolgreiche Stressbewältigung unmittelbar im virtuellen Szenario belohnen oder bestrafen, indem die Möglichkeiten zur effizienten Interaktion bei hohem Stressniveau reduziert werden: zum Beispiel, indem das Blickfeld des/der Trainierenden mit steigendem Stressniveau schrittweise verkleinert wird oder störende Hintergrundmusik bei erfolgreicher Stressbewältigung leiser wird (Bouchard et al. 2012). Da ein unmittelbares Feedback häufig effektiver und zeitsparender ist als ein summatives Feedback nach dem Training (Jenkins et al. 2021), sollten diese Feedbackmöglichkeiten bei der Implementation von VR ins Einsatztraining ausgeschöpft werden.
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Die Rolle des/der Einsatztrainer*in
Durch die neuen Möglichkeiten in VR nimmt der/die Einsatztrainer*in eine besondere Rolle im Lernprozess des/der Trainierenden ein. Der/die Einsatztrainer*in ist Gestalter*in der virtuellen Lernumgebung (Staller und Körner 2020; siehe Kap. „Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings II – Das Trainer*innen-Mischpult“ in diesem Handbuch). Für die Umsetzung eines individuellen und personalisierten Trainings muss er/sie die Szenarien nach den Bedürfnissen des/der Trainierenden flexibel planen, konfigurieren und in Echtzeit Änderungen vornehmen können. Der/die Einsatztrainer*in sollte in dieser Aufgabe durch einen für diesen Zweck entwickelten Werkzeugkasten unterstützt werden (Murtinger et al. 2021). Abhängig von den Handlungen und der Leistung des/der Trainierenden kann der/die Einsatztrainer*in während des Trainings neue Ereignisse oder Stressoren einführen, neue Aufgaben hinzufügen und dadurch dynamisch den Schwierigkeitsgrad während des Trainings erhöhen oder senken. Dafür braucht der/die Einsatztrainer*in Informationen über den Fortlauf des Szenarios und die Erfahrungen des/der Trainierenden. Daher sollte der/die Einsatztrainer*in in der Lage sein, das Szenario in 2-D oder 3-D aus einer breiten Perspektive zu verfolgen oder in die Rolle eines Charakters im Szenario zu schlüpfen, der sich auf der gleichen Ebene wie der/die Trainierende befindet. Eine Echtzeiterfassung der psychophysiologischen Stressreaktionen kann – neben dem Biofeedback für den/die Trainierende*n – auch dem/der Einsatztrainer*in Einblicke in das momentane Erleben des/der Trainierenden geben und ermöglicht ihm/ihr, die Schwierigkeit der Aufgabe in Echtzeit an die Fähigkeiten des/der Trainierenden anzupassen (Gies-
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sing 2021; Haskins et al. 2020). Daher kann diese Funktion als eine sinnvolle Zusatzoption zum VR-Training angesehen werden, die bei der Implementation abgewogen werden sollte. Neben den Feedbackmöglichkeiten in laufenden Trainingsszenarien bietet die VR auch eine Plattform mit innovativen Werkzeugen für die Nachbesprechung nach dem Szenario (Bouchard et al. 2012; Giessing 2021). Der sogenannte After-Action Review (d. h. erneute Wiedergabe des Szenarios in 2-D oder VR) kann zur Reflexion, aktiven Teilnahme und Interaktion in der Nachbesprechung anregen (Bennell et al. 2020; Rajakaruma et al. 2017; siehe Kap. „Der/die reflektierte Praktiker*in: Reflektieren als Polizist*in und Einsatztrainer*in“ in diesem Handbuch), weil Erfahrungen visuell geteilt werden können. Bei realen Simulationsszenarien kann der/die Einsatztrainer*in für sein/ihr Feedback oft nur subjektive, manchmal begrenzte und potenziell durch das Gedächtnis verzerrte Beobachtungen nutzen. Daher ist ein solches Feedback oft ergebnisbasiert und allgemein gehalten (Bennell et al. 2020). VR erlaubt es, detailliertes Feedback über den tatsächlichen Prozess und die Leistung der einzelnen Trainierenden zu geben (Murtinger et al. 2021). Im After-Action Review können durch Perspektivwechsel, das Einblenden von leistungsbezogenen Parametern (z. B. Visierlinien, Laufwege, Blickfelder, Anzahl der abgegebenen Schüsse, Anzahl der Treffer, verstrichene Zeit bis zur Ausführung einer bestimmten Aktion) und Pause/ Schnellvorlauf/Zeitlupe/Rücklauf konkretere und objektivere Leistungsdiskussionen (Bennell et al. 2020) über z. B. taktische Bewegungen und Positionen entstehen (Craig 2014). Solche Funktionen können bei der Überprüfung von Fortschritten und Fehlern wichtig sein, um zu verstehen, warum Entscheidungen getroffen wurden und wie Handlungen ausgeführt wurden. Die Aufzeichnungen von erfolgreichen Szenarien können neuen Trainierenden als Best-Practice-Beispiele dienen. Die Feedbackmöglichkeiten in VR können einen Paradigmenwechsel im Trainingsprogramm hin zur reflektierten Praxis (siehe Kap. „Der/ die reflektierte Praktiker*in: Reflektieren als Polizist*in und Einsatztrainer*in“ in diesem Handbuch) einleiten. Daher ist eine gut konzipierte, fundierte Ansicht für den After-Action Review für den Praxiserfolg des VR-Trainings entscheidend (Murtinger et al. 2021). Die fachlichen, technischen und pädagogischen Anforderungen an den/die Einsatztrainer*in beim VR-Training sind hoch. Um die Vorteile der VR tatsächlich zu nutzen, ist eine umfassende, VR-spezifische Schulung neben der üblichen Ausbildung des/der Einsatztrainer*in unerlässlich (Murtinger et al. 2021). Es wird empfohlen, einen konkreten Schulungsplan und ein Handbuch mit allen erforderlichen Informationen zu entwickeln, um den/die Einsatztrainer*in gezielt darin zu schulen, die VR als Trainingstool optimal zu nutzen. Inhalte dieser Schulung könnten sein: Wie richtet man das System ein, wie entwickelt man neue VR-Szenarien bzw. nimmt Änderungen an bestehenden Szenarien vor, wie startet man ein Training, wie interpretiert man verschiedene Parameter, wie nutzt man die Möglichkeiten des After-Action Reviews zur Nachbesprechung und wie kann man bestimmte Fehlermeldungen beheben. Neben der Bereitstellung des expliziten Wissens über das VR-Training ist es auch ratsam, dem/der Einsatztrainer*in ausreichend Möglichkeit zu geben, die virtuelle Realität und die Trainingsumgebungen selbst zu erkunden, um ein Verständnis für die Technologie und die Erfahrung von VR zu bekommen (Murtinger et al. 2021).
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Ethische und legale Voraussetzung für die Nutzung von VR
Bei der Entwicklung eines VR-Trainingscurriculums ist eine gründliche Reflexion über ethische und rechtliche Fragen in Bezug auf den Trainingsinhalt, die Trainingsmethode und die Sicherheit des Trainingswerkzeugs wichtig (Murtinger et al. 2021; siehe auch Kap. „Ethische Reflexion für das Einsatztraining“ in diesem Handbuch). Auch wenn VR schnell mit Gaming assoziiert wird, ist das VR-basierte polizeiliche Einsatztraining kein Spiel und sollte immer darauf abzielen, angemessenes und verhältnismäßiges Verhalten in der jeweiligen Situation zu erlernen. Trainierende und Einsatztrainer*innen sollten davon abgehalten werden, absichtlich unethisches, illegales oder respektloses Verhalten in VR auszuführen. Insbesondere birgt die unendliche Vielfalt an Szenarien in VR das Risiko, absichtlich oder unabsichtlich bestimmte Gruppen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Kultur, ihrer Religion, ihres Geschlechts oder ihres Aussehens zu stigmatisieren oder zu stereotypisieren. Damit das Aussehen von Charakteren innerhalb von Trainingsszenarien ausreichend diversifiziert und variiert werden kann, sollte die Datenbank zur Konfiguration der Szenarien mit einer großen Vielfalt an Charakteren ausgestattet sein (Murtinger et al. 2021). Wenn das Trainingsziel nicht explizit den Umgang mit verschiedenen Zielgruppen und die Konfrontation mit den eigenen Stereotypen beinhaltet und somit eine bewusste Manipulation der Charaktere durch den/die Einsatztrainer*in erfordert, wäre es sogar denkbar, dass ein Algorithmus zufällig über die Auswahl der Charaktere und ihre Rolle im Szenario entscheidet. Aus rechtlicher Sicht ist die große Datenmenge persönlicher Informationen (z. B. körperliche Merkmale, motorische Reaktionen), die bei der VR-Nutzung gesammelt wird, ein potenzielles Risiko für den Datenschutz (Spiegel 2018). Polizeibehörden könnten die Informationen für Gesundheits- und Leistungsanalysen bei der Personalauswahl missbrauchen. Generell gibt es viele Optionen, wie die Trainingsdaten gespeichert werden können: 1) Speicherung der Daten, bis der/die Trainierende ein Feedback zum Trainingsszenario erhalten hat, und anschließende Löschung der Daten, 2) Speicherung der Daten für jede/n Trainierenden separat, um eine Überwachung des Trainings- und Leistungsfortschrittes für Trainierende und ggf. Einsatztrainer*innen zu ermöglichen, oder 3) Speicherung der Daten in einer allgemeinen, behördenweiten Datenbank zur weiteren Verwendung als Praxisbeispiele in anderen Unterrichtsformen (siehe Murtinger et al. 2021). Die Entscheidung für eine dieser Datenspeicherungsoptionen ist somit letztlich eine Abwägung von Datenschutz und erwünschten Trainingszielen, die abhängig von den geltenden Vorschriften innerhalb der Polizeibehörde getroffen werden muss. Unabhängig von der Entscheidung ist es im Anschluss notwendig, die Trainierenden (und Einsatztrainer*innen) vollständig darüber zu informieren, welche Daten gespeichert werden (und ggf. ein schriftliches Einverständnis einzuholen), wie lange sie gespeichert werden, wer darauf zugreifen kann, für welche Zwecke sie verwendet werden können und wie die Daten geschützt werden. Digitale Daten sind immer auch anfällig für Hackerangriffe, die sowohl sensible persönliche Informationen als auch organisatorische Informationen über Taktiken und Verfahren an
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die Öffentlichkeit bringen könnten. Daher braucht es neben internen Regelungen zum Umgang mit den Daten auch den Schutz vor Fremdzugriff und externem Missbrauch (Spiegel 2018).
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Wissenschaft und Forschung in VR
Insbesondere weil die VR-Systeme noch nicht ausgereift sind und in naher Zukunft sicherich Verbesserungen und Veränderungen zu erwarten sind, ist eine kontinuierliche und sorgfältige Überwachung der Implementation von VR ins Einsatztraining durch Wissenschaft und Forschung ratsam. Bereits mit der üblichen Hardware ist VR in der Lage, Daten zu Kopf-, Augen-, Körperbewegungen und Stimme in Raum und Zeit zu erfassen. Diese Verhaltensdaten – zusammen mit ggf. weiteren psychophysiologischen Daten – können hilfreiche Aufschlüsse über die Leistung und das Training von Einsatzkräften sowohl für die Theoriebildung in der Wissenschaft als auch für die Anwendung bei der Polizei bieten. VR bietet eine hohe experimentelle Kontrolle und erlaubt es, verschiedene situative Bedingungen und ihren Einfluss auf die Leistung von Einsatzkräften in ökologisch validen Umgebungen systematisch zu kontrollieren und zu testen. In VR können die meisten Faktoren konstant gehalten werden (z. B. das Verhalten des/der Verdächtigen, was bei Rollenspielen mit menschlichen Schauspieler*innen schwierig ist), während nur die interessierenden Faktoren (z. B. das Aussehen des/der Verdächtigen, die akustische Umgebung) verändert werden. Gerade im Kontext der Polizei, in dem es unmöglich und unethisch ist, kritische Ereignisse im realen Leben zu manipulieren (Giessing et al. 2019), können VR und ihre immersiven Kontexte die Forschung voranbringen (Düking et al. 2018; Giessing 2021). Auf diese Weise bereichert die VR-basierte Polizeiforschung umgekehrt auch wieder die Praxis: In innovativen Feldstudien können relevante menschliche und situative Einflussfaktoren auf die (polizeiliche) Leistung in herausfordernden Situationen untersucht und validiert werden, um darauf aufbauend Interventionsmöglichkeiten zur Aufrechterhaltung der Leistung in kritischen Einsatzsituationen zu entwickeln (z. B. die Identifikation von optimalen Stressniveaus in Einsatzsituationen und Training). Außerdem können Wissenschaft und Forschung die Polizeibehörden darin unterstützen, das virtuelle Einsatztraining an sich hinsichtlich der Wirksamkeit in Abhängigkeit von Intensität und Häufigkeit zu evaluieren. Eine solche Qualitätskontrolle sichert eine evidenzbasierte Praxis im Einsatztraining (Körner und Staller 2020a, b), indem sie die Erreichung der gewünschten Ziele der Implementation von VR ins Einsatztraining überprüft oder potenzielle Gründe für die Nichterreichung bestimmt. Fazit VR scheint ein vielversprechendes, ergänzendes Instrument zur Verbesserung bestimmter Aspekte des polizeilichen Einsatztrainings zu sein, insbesondere der Vorbereitung auf kritische, anforderungsreiche Einsatzsituationen und der Qualität der Nachbesprechungen von Trainingsszenarien. Die hohe Kontrolle über eine Vielzahl von individuell angepass-
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ten Trainingsszenarien und innovativen Feedbackoptionen bieten dem/der Trainierenden vielfältige Lernmöglichkeiten, in denen er/sie durch Wiederholung den Einsatz vielfältiger Einsatzkompetenzen unter variablen Bedingungen stabilisieren kann. Nichtsdestotrotz ist der empirische Nachweis für die Wirksamkeit von VR-Training im Polizeikontext noch ausstehend, und es sind weiterhin technologische Entwicklungen notwendig, um möglichen Schwächen und Risiken der VR zu begegnen (z. B. Erhöhung der Simulationstreue, Anfertigung von physischen Replikaten der Polizeiausrüstung). Eine enge Zusammenarbeit von Polizeibehörden, Technologieunternehmen und Forschungseinrichtungen kann helfen, den Forschungs- und Entwicklungsbedarf schnell zu identifizieren und zu erfüllen.
Ableitungen/Handlungsempfehlungen für die Praxis
a) Entscheider*innen Trotz bekannter Schwächen und Risiken erwägen Entscheider*innen bereits die Implementation von VR-Systemen in die Trainingscurricula des Einsatztrainings. Im Umsetzungsprozess ist es daher essenziell, dass Entscheider*innen organisationale Strukturen fördern, die das VR-Training an geeigneter Stelle begünstigen. • Vor der Implementierung sollten die Trainingsziele sowie ethische und rechtliche Richtlinien zur Verwendung der VR als Trainingswerkzeug erarbeitet und mithilfe der Einsatztrainer*innen und Einsatzkräfte umgesetzt werden. Dazu zählt unter anderem die Unterbindung (und ggf. Konsequenzen für) absichtlich illegalen, diskriminierenden, stigmatisierenden, respektlosen oder anderweitig unethischen Verhaltens sowie sicherheitsrelevante Einweisungen zum Verhalten während der Benutzung der VR. Aus rechtlicher Sicht müssen Entscheider*innen den Datenschutz durch geeignete Infrastruktur und Richtlinien sicherstellen und transparent über die Datennutzung und Datenschutz informieren (ggf. mit schriftlichem Einverständnis). • Die Einsatztrainer*innen müssen gezielt und umfassend für die Nutzung der VR als Trainingswerkzeug geschult werden. Insbesondere der Umgang mit dem Werkzeugkasten als zentrale Steuerungsfunktion des VR-Trainings erfordert eine entsprechende Qualifikation der Einsatztrainer*innen. Dazu empfiehlt sich ein konkreter Schulungsplan inklusive Lehrmaterialien, die das erforderliche explizite Wissen zur VR-Technologie und VR-Training zur Verfügung stellen. Ergänzend sollten den Einsatztrainer*innen ausreichend Möglichkeiten zur individuellen Erkundung der VR-Technologie eingeräumt werden. • Weiterhin sind technologische und wissenschaftliche Entwicklungen notwendig, um möglichen Schwächen und Risiken der VR zu begegnen (z. B. Erhöhung der Simulationstreue, Anfertigung von physischen Replikaten der Polizeiausrüs-
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tung). Durch eine enge Zusammenarbeit von Polizeibehörden, Technologieunternehmen und Forschungseinrichtungen kann dieser fortschreitende Entwicklungsprozess gewinnbringend vorangetrieben werden. Dafür müssen Entscheider*innen Entwicklungs- und Forschungsbedarf während der Nutzung von VR-Training ermitteln und offen an die Kooperationspartner*innen kommunizieren. • Im Einklang mit den rechtlichen Voraussetzungen können Entscheider*innen ein vernetztes Training auf struktureller Ebene ermöglichen, indem Einsatzkräfte verschiedener Dienstgruppen oder Einheiten innerhalb der Polizeibehörde oder behördenübergreifend mit Feuerwehr, Notfallmedizin oder Technischem Hilfswerk gemeinsam virtuell trainieren. b) Einsatzkräfte Das VR-Training fordert eine aktive Teilnahme am Szenario durch den/die Nutzer*in, indem er/sie durch Bewegungen mit der virtuellen Umgebung interagiert und/oder auf sie reagiert. • Durch die hohe Kontrolle und hohe Anzahl an Manipulationsmöglichkeiten kann das VR-Training den Einsatzkräften eine Reihe von Beispielen und Variationen als Lernmöglichkeiten innerhalb einer einzigen Trainingssitzung anbieten. Die Verantwortung der Einsatzkräfte ist es, durch aktive Teilnahme, Wiederholungen und das Ausprobieren variabler Problemlösestrategien diese Lernmöglichkeiten entsprechend der eigenen Bedürfnissen und Trainingszielen auszunutzen. • Dabei lassen virtuelle Umgebungen Fehler – selbst in extremen Szenarien mit tödlicher Gewalt – ohne negative Konsequenzen in der realen Welt zu. Diese Fehlertoleranz in VR können Einsatzkräfte durch eine reflektierte Praxis (siehe Kap. „Der/die reflektierte Praktiker*in: Reflektieren als Polizist*in und Einsatztrainer*in“ in diesem Handbuch) mithilfe der Feedbackoptionen während der VR-Szenarien und im After-Action Review ausnutzen. Einsatzkräfte sollten die technischen Möglichkeiten in VR nutzen, um die eigenen Perspektiven, Erfahrungen und Leistungen nachzuverfolgen, visuell zu teilen und in die Nachbesprechungen einzubringen. • Perspektivisch ist durch die VR auch ein eigenverantwortliches, selbstreguliertes Training außerhalb des institutionalisierten Einsatztrainings möglich. Bei entsprechender Ausstattung können die Einsatzkräfte orts- und zeitunabhängig individuell oder online mit anderen Einsatzkräften in VR trainieren. Die Einsatzkräfte haben dann die Verantwortung, Trainingsbedarf selbst zu erkennen und die Trainingsschwerpunkte selbst zu wählen, um so die eigenen Fertigkeiten zum Umgang mit kritischen Einsatzsituationen im Dienst zu erhöhen.
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c) Einsatztrainer*innen Durch die Nutzung von VR wird die bedeutende und verantwortungsvolle Rolle der Einsatztrainer*innen als Gestalter*innen der Lernumgebung verstärkt. Ihre Ausgestaltung des Szenarios entscheidet über die Qualität der Lernerfahrung für den/die Trainierende*n. • In der Konfiguration der Szenarien sollten die Einsatztrainer*innen die Trainingsziele, die ethischen und rechtlichen Richtlinien sowie die individuellen Voraussetzungen der Trainierenden berücksichtigen. Die Einsatztrainer*innen müssen mit der VR-Technologie und dem zugrunde liegenden Trainingskonzept bestens vertraut sein, um die technischen Möglichkeiten vollumfänglich ausschöpfen zu können. Die Einsatztrainer*innen müssen dem Fortlauf und Geschehnissen im Trainingsszenario aufmerksam folgen, um gegebenenfalls neue Ereignisse, Aufgaben oder Stressoren hinzuzufügen, um den Schwierigkeitsgrad dynamisch während des Trainings an die Fertigkeiten des/der Trainierenden anzupassen. • Im Sinne einer reflektierten Praxis (siehe Kap. „Der/die reflektierte Praktiker*in: Reflektieren als Polizist*in und Einsatztrainer*in“ in diesem Handbuch) können die Einsatztrainer*innen die Möglichkeiten im After-Action Review nutzen, um anregende, interaktive Leistungsdiskussionen über die Perspektiven, Erfahrungen und Leistungen der Trainierenden zu führen und so gemeinsam mit den Trainierenden Problemlösestrategien (z. B. zu taktischen Bewegungen und Positionen) zu erarbeiten. • Als Gestalter*innen der Trainingsszenarien und des After-Action Reviews haben die Einsatztrainer*innen die volle Verantwortung für die Inhalte des Trainings und des anschließenden Feedbacks, letztlich also für den Trainingserfolg. Diese Verantwortung sollte den Einsatztrainer*innen bewusst sein und ein ethisches, respektvolles und sicheres Training in VR für alle Einsatzkräfte ermöglichen.
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Ethische Reflexion für das Einsatztraining Peter Schröder-Bäck
Inhaltsverzeichnis 1 E inführung 1.1 Moral, Ethik und Recht 1.2 Polizeiliche Berufsethik 2 Gewissen und ethische Reflexion 3 Grundlegende ethische Kriterien 3.1 Konsequenzialismus 3.2 Deontologie 3.3 Tugenden 3.4 Gerechtigkeit 3.5 Verhältnismäßigkeit 4 Ethische Reflexion und Urteilsbildung Literatur
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Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag stellt den Wert der normativen Ethik für die Berufsausbildung der Polizei im Allgemeinen und das Einsatztraining im Besonderen dar. Normative Ethik ist die philosophische Disziplin, die sich im Kern mit der Frage „Was soll ich tun?“ beschäftigt und diese Frage mit einem systematischen Rekurs auf moralische
Reviewer*innen: Patrick Schreier, Benjamin Zaiser P. Schröder-Bäck (*) HSPV NRW, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_37
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Normen und Werte zu beantworten sucht. Zentrale Normen, Werte, Tugenden und Theorien der Ethik werden konzise präsentiert und ihre Relevanz für das vorliegende Thema unterstrichen. Es wird argumentiert, dass Ethik einen Mehrwert für die Reflexionsexpertise und -kompetenz des Einsatztrainings hat. Anleitende Fragen, die den reflektierten und intersubjektiv gültigen Urteilsbegründungen für Handeln und Unter lassen dienlich sein können, werden formuliert. Es wird empfohlen, dass sich Entscheider*innen, Einsatztrainer*innen und Einsatzkräfte mit Ethik für den Einsatz bzw. für das Einsatztraining auseinandersetzen und Ethik entsprechend in Curricula und im Einsatztraining angemessen berücksichtigen.
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Einführung
Ethische Reflexion kann essenziell der Vorbereitung oder Nachbereitung polizeilicher Einsätze dienen und während Einsätzen bedeutsam werden. Ethik ist folglich relevant für das Einsatztraining. In Anlehnung an Staller und Körner (2021; siehe Kap. „Training für den Einsatz: Der Umfang des Einsatztrainings“ in diesem Handbuch) geht es beim Einsatztraining um Schulungen von Polizeibeamt*innen, in denen spezielle Fähigkeiten entwickelt werden sollen. Diese Fähigkeiten sollen Polizeibeamt*innen helfen, mit Bürger*innen in Konfliktsituationen professionell – und möglichst gewaltreduziert (Staller et al. 2020) – zu agieren. Ziel der Ethiklehre in diesem Zusammenhang ist die Befähigung, reflektierte Werturteile zu treffen, um moralisch richtiges Handeln anzuleiten. Dazu müssen Handlungsoptionen eingeschätzt und abgewogen werden können. Zur Vermittlung ethischer Expertise gehört es, Theorie zu lernen und die Anwendung von Handlungsgrundsätzen in praktischen Trainingsformen kritisch zu reflektieren. Dass ethische Expertise und Kompetenz vermehrt in der Berufsausbildung und im Einsatztraining vermittelt werden, ist nicht nur eine Forderung aus neuerer Polizeiforschung und Einsatzkonzeptentwicklung; Ethik in Berufsausbildung und Einsatztraining zu inte grieren ist zugleich politisch gewollt. Als internationales Beispiel seien Forderungen des Europarats genannt. Der Europarat fördert die Zusammenarbeit seiner Mitgliedstaaten, zu denen auch Deutschland gehört, um sozialen Fortschritt zu fördern sowie Demokratie und die Einhaltung von Menschenrechten auf dem europäischen Kontinent zu unterstützen. Das Ministerkomitee des Europarats hat bereits 2001 einen Ethikkodex für die Polizei formuliert und angenommen. Darin wird explizit auf Polizeiausbildung und „praktische Trainings“ eingegangen. Diese sollen auf Basis von Menschenrechten und Demokratie inhaltlich ausgestaltet werden. Konkret soll die „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ vom Europarat dabei in den praktischen Trainings, die sich mit dem Gebrauch und den Grenzen von körperlichem Zwang und Gewalt im Einsatz beschäftigen (Artikel 29), eine Grundlage bilden. Explizit soll dabei auch die
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nvereinbarkeit von Rassismus und Xenophobie mit einer menschenrechtsbasierten PoliU zeiarbeit Gegenstand der Ausbildung sein (Art. 30). (Committee of Ministers 2001) In Deutschland werden die Inhalte des Einsatztrainings für die Länderpolizeien auf Länderebene erlassen. Trainingsinhalte sind beispielsweise in Nordrhein-Westfalen durch einen Runderlass (grob) umrissen (Ministerium für Inneres und Kommunales 2012). In diesem Runderlass wird festgelegt, dass das polizeiliche Einsatztraining „realitätsnah und bedarfsgerecht“ sein soll und „ethische Aspekte berücksichtigt“ werden sollen. Doch was sind „ethische Aspekte“? Warum sollten sich Polizeibeamt*innen dieser gewahr sein bzw. werden? Wie kann eine Reflexion des beruflichen Handelns sinnvoll ethische Perspektiven integrieren? Und welche Perspektiven wären dies? Um diese Fragen zu beantworten, wird in diesem Beitrag zuerst definiert, was Ethik und die ethische Perspektive (in Abgrenzung zum Recht) überhaupt sind. Ferner wird dargestellt, warum sich polizeiliche Arbeit an ethisch-normativen Gesichtspunkten orientiert bzw. explizit orientieren sollte. Dies ist auch Aufgabe einer Berufsethik, deren Ziele dargestellt werden. Danach werden ethisch-normative Grundorientierungen präsentiert. Es werden Hilfestellungen angeboten, wie man zu einer eigenen ethischen Urteilsbildung kommen kann. Letztlich werden konkrete Handlungsempfehlungen abgeleitet und formuliert.
1.1
Moral, Ethik und Recht
Der eingangs genannte Begriff der „Menschenrechte“ antizipiert schon eine zentral zu treffende Unterscheidung im Bereich der normativen Wissenschaften, nämlich der zwischen Recht, auf der einen Seite, und Moral bzw. Ethik, auf der anderen Seite. (Kühl, 2011) Menschenwürde und Menschenrechte, beispielsweise, finden sich als grundlegende normative Begriffe in beiden Disziplinen: als Normen im Recht (siehe bspw. Artikel 1 GG) und als moralische Normen in der philosophischen Ethik. Die Moral ist hier der Bereich des Sittlichen, der Gesamtheit von Normen, Verhaltensregeln, Werten und Überzeugungen einer Person oder Gruppe. Fremuth (2019, S. 7) definiert zur Abgrenzung von Recht und Moral, dass Rechtsnormen wie Gesetze oder Verordnungen „mit staatlichem Durchsetzungsanspruch ausgestattet sind, also auch einseitig und gegen den Willen des oder der Verpflichteten durchgesetzt werden können. Dies erfolgt in letzter Konsequenz auch mittels der Anwendung von Zwangsgewalt, die im Staat monopolisiert ist“. Hier besteht ein Unterschied zu moralischen Normen, die für sich genommen staatlich nicht durchgesetzt werden. Oftmals stimmen rechtliche und moralische Normen jedoch überein (Kühl 2011). Viele moralische Aspekte werden im Recht abgebildet (z. B. das Verbot zu morden). Eine Prävention oder Strafverfolgung solcher Norm-Verletzungen geschieht dann aufgrund ihres Rechts- Charakters. Natürlich gibt es aber auch moralische Normen, die nicht staatlich verfolgt werden, wie beispielsweise das Verbot, in alltäglicher Kommunikation aus reiner Prahlerei
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zu lügen (bei Meineid oder Lügen zum Zwecke eines Betrugs, um sich Vermögen anzueignen, wird Lügen wiederum strafrechtlich relevant). Recht und Moral schließen sich keineswegs aus – die hier genannte Abgrenzung bedeutet keine notwendige Entkopplung von Recht und Moral. Bielefeldt erklärt: „Die notwendige Differenzierung zwischen Recht und Moral meint nicht abstrakte Beziehungslosigkeit, sondern ist genau besehen ein Moment ihrer angemessenen Verknüpfung. Nur eine Moral, die den Sinn für die Eigenstruktur rechtlicher Normen oder Institutionen wahrt, kann ihre eigene freiheitliche Orientierung auf Dauer durchhalten, und nur ein Rechtsdenken, das für den moralischen Anspruch der Menschenwürde sensibel bleibt, kann die ‚Unveräußerlichkeit‘ der elementaren Freiheitsrechte innerjuristisch nachhaltig zur Geltung bringen“ (Bielefeldt 2011, S. 139). Rechtsphilosophische und ethische Überlegungen gehen zudem natürlich häufig rechtlicher Normbildung und Gesetzgebung voraus. Und in der Anwendung des Rechts spielen ethische Überlegungen ebenfalls eine Rolle, um Geltung und Spezifikation von Rechtsnormen festzulegen. Verweise auf Anstandsgefühl und Sittenverstöße innerhalb des Rechts machen dies besonders deutlich (Kühl 2011). Während sich Rechtswissenschaften (oder Jurisprudenz) mit dem Recht beschäftigen, ist Ethik also die philosophisch-systematische Reflexion auf Moral (Düwell et al. 2011), verstehbar auch als die Theorie der Moral und des richtigen Handelns (Werner 2009). Ethik lässt sich wiederum in deskriptive Ethik und normative Ethik aufteilen (Steigleder 2006). Deskriptive Ethik beschreibt mit sozial-, geschichts- oder naturwissenschaftlichen Methoden, wie sich Moral entwickelt (hat). Die normative Ethik „entwickelt Kriterien, systematisiert unsere normativen Überzeugungen und gibt Handlungsorientierung in Entscheidungssituationen, in denen wir uns auf unsere alltäglichen moralischen Intuitionen nicht verlassen können“ (Nida-Rümelin 2005, S. VI). Die normative Ethik will Handelnden helfen, moralische Urteile zu formulieren oder zu überprüfen. Das bedeutet, sie in Bezug auf „Verallgemeinerbarkeit, Einsichtigkeit, Triftigkeit und Vereinbarkeit mit unseren übrigen moralischen, aber auch sonstigen (z. B. wissenschaftlichen oder religiösen) Überzeugungen und Urteilsgründen zu untersuchen“ (Kettner 2011, S. 429). In der normativen Ethik spricht man wiederum von einer angewandten Ethik, wenn sich ethische Erörterungen auf konkrete Handlungsfragen bestimmter gesellschaftlicher Bereiche beziehen. So kann man die angewandte Ethik wiederum in verschiedene Bereichsethiken (Kaminsky 2005) differenzieren. Zu den Bereichsethiken gehören beispielsweise Medizinethik, Wirtschaftsethik oder eben auch Polizeiethik. In einer klassischen Einteilung wird zudem zwischen Individualethik und Sozialethik differenziert. Individualethik bezieht sich auf individuelles Handeln. Sozialethik setzt sich mit gesellschaftlichen, strukturellen und institutionellen moralischen Aspekten eines gelingenden Lebens auseinander. Eine polizeiliche Berufsethik, im hier vorliegenden Sinne mit Fokus auf Einsatztraining, wäre vor allem als normative, angewandte Individualethik zu verstehen.1 Trotz der gerade genannten individualethischen Ausrichtung polizeilicher Berufsethik, die gerade im Einsatztraining die zentrale Rolle spielt, kann man auch eine sozialethische Perspektive in den 1
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1.2
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Polizeiliche Berufsethik
Rutkowsky fragt rhetorisch, warum Polizeibeamt*innen, die sich an Recht und Gesetz orientieren, „noch eine Berufsethik“ (Rutkowsky 2017, S. 11) brauchen? Er beantwortet die Frage dahin gehend, dass sich Recht und Gesetz auf Moral gründen, die zu kennen sinnvoll sei, „um den Wesenskern der Gesetze zu verstehen“ (ebd.). Andererseits hänge sogar die „konkrete Anwendung der Gesetze in beträchtlichem Maße von den moralischen Überzeugungen des ausführenden Polizisten ab. Kein Paragraph kann alle Besonderheiten des Alltags erfassen“ (ebd.). Das ethische Verständnis dafür, warum bestimmte Rechtsnormen bestehen und wie diese begründet werden, kann einer angemesseneren und gewaltreduzierenden Rechtsauslegung dienen (siehe Kap. „Rechtswidrige polizeiliche Gewaltanwendung: Interaktionen, Risikofaktoren und Auslöser“ in diesem Handbuch). Wenn man mit seinen polizeilichen Handlungen in Grenzbereiche gelangt, es beispielsweise um die rechtfertigbare Anwendung von Gewalt geht oder auch um das Risiko, das eigene Leben zu verlieren, kommt man zu ethischen Konflikten, die in Vorschriften und Gesetzen nicht hinreichend erörtert werden (können), und vielleicht auch zu Sinnfragen. Die Frage nach einem Sinn – das heißt, nach dem moralisch Guten, dem gelingenden Leben, das Individuen und Kollektive als Ziel haben – wird auch im Kontext einer Berufsethik erörtert. Hierzu gehören Fragen wie: Wie weit muss ich gehen, auch wenn es für meinen Leib und mein Leben gefährlich wird? (Trappe 2019a) Zu ethischen Konflikten und Dilemmata gehören beispielsweise zudem die Fragen: Ist die geplante Gewaltanwendung legitim? Darf bei Gewaltanwendung das Maß der Gewalt gewählt werden nach der Frage, ob es das polizeiliche Gegenüber „verdient“ hat, etwas rauer angefasst zu werden? Darf ich ein „Auge zudrücken“, wenn mir mein Gegenüber leidtut? Wenn ich im Einsatz Verantwortung habe für Kolleginnen und Kollegen, wen schicke ich „rein“ in gefährliche Situationen? Wie gehe ich mit (vermeintlichen) Loyalitätskonflikten um, wenn ich beispielsweise mitbekomme, dass sich Kolleginnen oder Kollegen nicht korrekt verhalten haben? (Maiwald 2019) Diese Handlungen als illegitim zu erkennen, ist bereits herausfordernd – beispielsweise ist zu fragen, wann Korruption anfängt (schon beim angebotenen Kaffee?). Ethisch anspruchsvoll ist auch die Frage, wie man mit Regelverstößen bei Kolleg*innen umgeht: Sollen Regelverstöße immer gemeldet werden, oder soll man die Kolleg*innen bei nicht so schwerwiegenden Regelverstößen erst überzeugen, sein bzw. ihr Verhalten zu ändern oder selbst zu melden? Kontext einer Bereichsethik „Polizeiethik“ aufnehmen: Folgt man einer Analyse von vom Hau (2017, S. 3), so spielt eine zeitliche Knappheit – eine Form der Ressourcenknappheit – eine Rolle, warum Polizist*innen weniger Möglichkeiten haben, sich in „Diskurse“ mit Konfliktparteien zu begeben und Konflikte ohne Rückgriff auf das Gewaltmonopol zu lösen, wodurch eine Gewalteskalation unterstützt wird. Somit sind ethische Probleme im Kontext der Konfliktlösungen im Berufsalltag nicht nur ein Problem der Individualethik, sondern auch einer Sozialethik (oder politischen Ethik): Wie viel ist es uns als Gesellschaft wert, dass Konflikte möglichst gewaltfrei gelöst werden? Mehr Diskurs bedeutet mehr Polizeibeamt*innen, mehr Polizeibeamt*innen bedeutet mehr öffentliche Ressourcen, um Polizeibeamt*innen einzustellen.
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Polizeiliche Berufsethik ist für Wagener „Praxis-Reflexion“ (Wagener 2019, S. 187, Hervorhebung unterlassen). Praxis-Reflexion bedeutet ihres Erachtens, dass ein „(systematisches) Nachdenken über die alltägliche Praxis“ sowie Diskussionen über die normativen Grundlagen von Entscheidungen und Handeln stattfinden sollen. Diese Reflexion soll auf der Grundlage der philosophischen Ethik mit ihren Theorien und Methoden geschehen. Polizeibeamt*innen sollen lernen, was moralisches Handeln bedeutet, welche Verantwortung sie haben (und welche nicht). Moralische Integrität – die Übereinstimmung des persönlichen und beruflichen Handelns mit den der handelnden Person eigenen moralischen Normen und Werten – ist nicht aus Gesetzen ablesbar und doch ein Ziel beruflichen und persönlichen Handelns. Hierzu muss man Wissen und kritisches Auseinandersetzungsvermögen, kurz Expertise, betreffs moralischer Normen und Werten erlangen. Man muss wissen, warum man genau diesen Normen und Werten folgt – und nicht anderen. Und man muss überzeugt sein, sie sich zu eigen machen, daraus eine „Haltung“ entwickeln. Um in Übereinstimmung mit eigenen Überzeugungen zu leben, bedarf es der Fähigkeit der ethischen Reflexion. Ziel ist wirklich autonomes Handeln, selbstständiges Denken – eine integer gelebte (und nicht korrumpierte) Polizeiethik. Polizeibeamt*innen müssen verstehen, dass es darauf ankommt, ihre Freiheit und Verantwortung als Individuen zu erkennen, anzunehmen und entsprechend zu handeln. Dabei wird das Handeln an allgemeingültigen Normen und Werten (inkl. Gesetzen) ausgerichtet. Mögliche Konflikte zwischen Normen und Werte müssen rechtfertigbar aufgelöst werden. cc
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Eine polizeiliche Berufsethik bietet den Rahmen und leitet zu Methoden an, mit denen man das professionelle Einsatzhandeln kritisch und zugleich systematisch auf Grundlage moralischer Normen, Werte und Theorien reflektiert.
Gewissen und ethische Reflexion
Warum ist ethische Reflexion so relevant – warum reicht es nicht nur nicht, sich an Gesetze zu halten, sondern auch nicht, sich nur von seinem Gewissen wie von einem moralischen Kompass leiten zu lassen? Immerhin hat jeder schon einmal erfahren, dass das individuelle Gewissen als moralische Instanz Handelnden „Gewissensbisse“ verursacht. Mit Giersch (2015) kann hervorgehoben werden, dass das, was wir ein Gewissensurteil nennen, nicht unbedingt das ist, was ethisch richtig ist. Genauso wenig, wie die schon genannten moralischen Intuitionen für eine Orientierung am ethisch Richtigen ausreichen. Unser Gewissensurteil kann falsch sein, wie beispielsweise überzeugte religiös motivierte Attentäter zeigen. Das Gewissen, das sich individuell meldet („Gewissensbisse“), kann durchaus als Auslöser einer ethischen Überprüfung der Handlung(sabsicht) verstanden werden (bzw. retrospektiv anleiten, sein schon getätigtes Handeln oder Unterlassen zu überprüfen). Eine wirkliche Gewissensentscheidung, auf die es ankommt, bildet sich durch „rationale Reflexion“ (Giersch 2015, S. 112). Man muss Wertvorstellungen und
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erhaltensweisen durchdenken, um sich der Richtigkeit seines Verhaltens zu vergewissern V bzw. dieses anzupassen. Die Reflexion ist also ein zentraler Aspekt für moralisch richtiges und ethisch akzeptables Handeln. Aber was zeichnet Reflexion in ethischer Hinsicht aus? Hier sei auf die praktische Vernunft als zentralem Ort ethischer Reflexion verwiesen. Die Vernunft ist das geistige „Vermögen des Menschen, Einsichten zu gewinnen, Zusammenhänge zu erkennen, etwas zu überschauen, sich ein Urteil zu bilden und sich in seinem Handeln danach zu richten“ (Duden). Die „praktische Vernunft“ ist ein Begriff aus der philosophischen Ethik, die diesen Begriff noch genauer spezifiziert. Die „praktische Vernunft ist die menschliche Fähigkeit, reflexiv die Frage zu beantworten, was man tun soll“ (Wallace 2020; eigene Übersetzung). Eine reflexive Praxis, die ethische Dimensionen miteinschließt, ist also eine, die – mitunter ausgelöst durch ein Gewissensgefühl – vernünftiges Nachdenken über seine Handlungen und Unterlassungen unter Rückgriff auf moralische Normen und Werte im Zusammenhang mit ethischer Theorie und Systematik verbinden kann. Dabei geht es darum, in der Ethik durch systematische Reflexion, an objektiven moralischen Werten orientiert, ethische Verantwortung für Handeln zu übernehmen und zu akzeptieren, dass man Rechenschaft über sein Verhalten ablegen muss (Trappe 2019b). Dabei muss man über einen reinen Subjektivismus, der sich allein auf eine Aussage „Ich meine, dass …“ ohne ein „weil“ hinausgehen: Ethik ist nicht so sehr an subjektiven Befindlichkeiten oder Meinungen interessiert als vielmehr an Begründungen und Rechtfertigungen, die auf einer durch objektive Werte angeleiteten Reflexion beruhen. So kommt man zu intersubjektiv begründbaren Urteilen (Bohlken 2019).
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Grundlegende ethische Kriterien
Zur Einordnung von ethischen Normen und Werten werden nun grundlegende ethische Theorien konzise vorgestellt. Klassischerweise werden ethische Theorien in drei grobe Kategorien eingeteilt: Konsequenzialismus, Deontologie und Tugendethik. Ein Rekurs auf diese in der normativ-ethischen Reflexion verspricht eine komplexere Analyse und bessere Rechtfertigungen. Zudem ist es wichtig zu verstehen, dass ethische Theorien bestimmte Normen und Werte besonders zentral in den Vordergrund stellen wollen und dann eine Theorie darauf aufbauen wollen, um diese zu erklären, zu plausibilisieren, voneinander abzugrenzen oder zusammenzubringen – um so letztlich zu gut begründeten Kriterien zu kommen, an denen sich menschliches Handeln orientieren soll.
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Konsequenzialismus
Der Konsequenzialismus stellt eine erste Kategorie ethischen Denkens dar. Konsequenzialistisches Denken orientiert sich an den Handlungsfolgen (Konsequenzen) und stellt, wie
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das Suffix „-ismus“ deutlich macht, diese in den Mittelpunkt. Somit werden Handlungen (inkl. Unterlassungen) danach, und nur danach, beurteilt, ob sie gute (bzw. bessere) Konsequenzen mit sich bringen (als Alternativen) – oder schlechte(re). Mit dem Fokus auf die Handlungsfolgen werden andere Aspekte der Handlung moralisch als irrelevant betrachtet. Beispielsweise ist es moralisch bedeutungslos, ob eine Person eine Handlung vollzieht, die zu guten Handlungsfolgen führt, obwohl sie eigentlich keine lobenswerten Absichten hat. Konsequenzialist*innen wollen Handlungsfolgen bewerten und gehen dabei so vor, dass alle absehbaren – beabsichtigten und unbeabsichtigten – Handlungsfolgen in die Folgenabschätzung aufgenommen werden müssen (Birnbacher 2016). Hier spielen Wahrscheinlichkeiten eine große Rolle, da man zukünftige Handlungsfolgen nicht gänzlich abschätzen kann. Die zeitliche und räumliche Dimension beim Konsequenzialismus ist sehr zentral. Einerseits muss man sich darüber im Klaren sein, dass Handlungsfolgen erst in weiter Zukunft stattfinden können. Andererseits ist die räumliche Ausdehnung für Konsequenzialist*innen nicht zu eng zu sehen. Letztlich müssen gute Handlungsfolgen im Nahbereich mit Handlungsfolgen im weiteren Bereich verrechnet werden. Denn eine prinzipielle Bevorzugung des Nahbereichs ergibt sich nicht logisch zwingend in konsequenzialistischer Hinsicht. Das Verständnis, wie Handlungsfolgen zu bewerten sind, spielt eine besondere Rolle. Was ist der Wert, an dem sich die Folgen messen lassen? (Birnbacher 2016) Ist es – beispielsweise – Leben an sich oder ist es eine bestimmte Lebensqualität? Utilitarismus Der Utilitarismus ist eine Sonderform des Konsequenzialismus. Der Utilitarismus ist in seinen verschiedenen Spielformen besonders weit bekannt und diskutiert. Im Utilitarismus gibt es eine Verständigung auf die zugrunde liegenden Werte, die in den Blick genommen werden sollen, um Handlungen zu bewerten. Utilitas, der Nutzen, ist der Parameter, auf den man sich einigt, obwohl es natürlich verschiedene Definitionen und Herangehensweisen gibt, wie man diesen Nutzen zu definieren hat. In der Regel wird aber davon ausgegangen, dass es sich hier um eine Form des Wohlbefindens oder Glücks handelt. Dieses ist für Utilitarist*innen anzustreben, ja zu maximieren. Schmerz, Leiden, Frustration und Missbefinden gilt es entsprechend zu vermeiden bzw. zu minimieren (Birnbacher 2016). Und dabei geht es, der Begriff der Maximierung impliziert es, um das Glück möglichst vieler Menschen. Dies unterscheidet sich vom Egoismus, der die Glücksmaximierung allein des Handelnden selbst zum Ziel hat. Der Utilitarismus hat im Gegensatz dazu eine kollektivistische und altruistische Ausprägung. Einer der Gründerväter dieser Denkrichtung, Jeremy Bentham, der die utilitaristische Wertetheorie im Streben nach „pleasure“ und Vermeiden von „pain“ maßgeblich entwickelte, forderte als Prinzip das „größte Glück der größten Zahl“ (Birnbacher 2016). Bentham, der seine Theorie im ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelte und gesellschaftlich schlechtergestellte Zeitgenossen aufwerten wollte, betonte dabei, dass jede Person nur einfach zählt. Das heißt, der Bettler oder einfache Bauer (bzw. die Glückssumme, die er
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erfahren kann) zählt genauso viel wie der Fürst (bzw. dessen erfahrenes Glück). Jeder zählt nur einmal, auch der Handelnde. Die Essenz dieser Theorie ist, dass man die Folgen von Handlungen in den Blick nehmen muss und dass man dabei unparteiisch sein soll. Als Prinzip dieser Theorie könnte man formulieren: Eine Handlung ist einer anderen Handlung vorzuziehen, wenn sie mehr Nutzen (Wohlbefinden, Glück) als Schaden (Missbefinden) für alle jetzt oder zukünftig direkt oder indirekt betroffenen Menschen als Konsequenz hat. Dieses Prinzip und der Blick auf die Handlungsfolgen können auch für den/die einzelne Polizeibeamt*in relevant werden und seine/ihre Reflexion anleiten: Was passiert, wenn ich so handele? Wer nimmt welchen Schaden? Werden nicht-direkt Beteiligte ggf. indirekt in Mitleidenschaft gezogen? Welche Reaktionen werden hervorgerufen? Diese Denkrichtung ist besonders sensibel, um mögliche Gewaltreduktion bzw. Gewalteskalation abzuschätzen und in der Vermeidung von Gewalt (also Verletzungen und anderem Missbefinden, Gegenreaktionen, Auswirkungen auf Familienangehörige etc.) einen Wert zu sehen.
3.2
Deontologie
Die Deontologie, die sogenannte Pflichtethik, ist der Gegenentwurf zur konsequenzialistischen und utilitaristischen Ethik. Immanuel Kant, der in Königsberg wirkte und ein Zeitgenosse von Jeremy Bentham war, ist eine der zentralen Figuren dieser Denkschule. Kant misstraute der Möglichkeit, überhaupt Handlungsfolgen richtig abschätzen zu können. Einerseits kann man nicht absehen, was als Konsequenz einer Handlung wirklich passiert, andererseits kann die Bewertung dessen, was folgt, individuell verschieden sein. Allein das sind schon Gründe genug für Pflichtethiker, keinen konsequenzialistischen Ansätzen zu folgen. Für Kant war vielmehr plausibel, dass es Handlungen gibt, die an sich (intrinsisch) richtig oder falsch sind. Man kann wissen, welche Handlungen richtig oder falsch sind, indem man subjektive Handlungsgrundsätze (bei Kant Maximen genannt) verallgemeinert und dann sieht, ob sie für jeden jederzeit gelten können: Dieser Test durch den sogenannten Kategorischen Imperativ wird von Kant unter anderem in der folgenden Formulierung angeboten: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant 1983). Dadurch, dass der intrinsische Wert einer Handlung erkannt und bewertet werden soll, gibt es für Deontolog*innen absolut verbotene (bzw. gebotene) Handlungen: Es stellen sich Verbote (bzw. Gebote) dar, die immer und jederzeit gelten. Während für Konsequenzialist*innen und besonders für Utilitarist*innen der Zweck die Mittel heiligen kann, ist dies in der Pflichtethik nicht möglich. Ein absolutes Verbot, das in vielen deontologischen Theorien zentral steht, ist die Menschenwürdeverletzung.
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Menschenwürde In Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland steht: „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Diese Rechtsnormen sind zugleich ethisch objektive Normen, die – und das interessiert in diesem Beitrag – ethisch fundiert sind und Handlungen leiten sollen. Sie sollen unabhängig von ihrem rechtlichen Charakter auch moralisch gelten. Was also ist die sogenannte Menschenwürde in ethischer Perspektive? Das Gebot, die menschliche Würde zu beachten, bedeutet, einer Person nicht die Grundlage ihrer Selbstachtung (durch Demütigung) zu nehmen. Das beinhaltet, dass jedem Menschen unabhängig von seinen äußerlichen – also letztlich kontingenten – Merkmalen ein absoluter Wert zukommt, der niemals verletzt werden darf (Geier und Schröder 2003). Die wohl einflussreichste Würdekonzeption geht wieder auf Immanuel Kant zurück, der Würdeverletzungen dann gegeben sieht, wenn man Personen instrumentalisiert. Dies wird in einer anderen als der schon genannten Formulierung des Kategorischen Imperativs deutlich: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (Kant 1983). Menschen dürfen niemals nur als Objekte für andere Menschen gelten (wie beispielsweise Sklaven), sie müssen immer auch in ihrer Würde geachtet werden (indem sie beispielsweise unter fairen Bedingungen und gegen Entlohnung freiwillig arbeiten). Die Achtung vor der Menschenwürde findet sich nicht nur in radikalen Beispielen wie der (Rettungs-)Folter verletzt. „Schon die einfache Höflichkeit eines Polizeibeamten kann zum Beispiel Ausdruck jener universalen Achtung sein, die dem ‚polizeilichen Gegenüber‘ die oft zutiefst demütigende Erfahrung der eigenen Bedeutungslosigkeit und ‚Unsichtbarkeit‘ (Axel Honneth) erspart; umgekehrt kann eine ‚kleine‘ Ohrfeige, mit der ein Polizeibeamter einem Menschen im Polizeigewahrsam ins Gesicht schlägt […], durchaus verletzender sein, als vielleicht der eine oder die andere innerhalb der Polizei wahrhaben will“ (Trappe 2019c, S. 51). Die Anerkennung der Menschenwürde und die Respektierung des Achtungsanspruchs derselben ist ein unhintergehbarer ethischer Imperativ. Diese Anerkennung und Achtung gilt für jede Person und steht mitunter, wie aktuelle Forschung zeigt (Gau und Paoline III 2021; Soares et al. 2018), im Konflikt mit der in der Praxis vorgefundenen Auffassung einzelner Polizist*innen, dass für die Polizei andere oder besondere ethische Regeln gelten, da man ja „auf der guten Seite“ stehe und das polizeiliche Gegenüber durch seine unrechtmäßigen Handlungen, wegen derer man polizeilich aktiv wird, bestimmte Rechte und Ansprüche verloren hat. Menschenrechte Die Anerkennung der Menschenwürde wird auch als Fundament der Menschenrechte gesehen, wie oben genannt. Generell sind Menschenrechte „die allen Menschen kraft Geburt zustehenden, egalitären und vorstaatlichen Rechte, die auf Achtung, Schutz und Erfüllung
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an staatliche oder überstaatliche Hoheitsgewalt gerichtet sind. Sie beanspruchen universelle Geltung, sind unveräußerlich, unteilbar und interdependent“ (Fremuth 2019, S. 7). In der für Deutschland gültigen „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ des Europarats steht in Artikel 3: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ Weitere Menschenrechte, die besonders im Zusammenhang der Polizei eine zentrale Rolle spielen, sind – nach der Menschenrechtskonvention des Europarats – das Recht auf Leben (außer beispielsweise in Notwehr), Recht auf Freiheit und Sicherheit (wieder natürlich unter gewissen Ausnahmen, die eben auch die Polizeiarbeit betreffen, wie bei rechtmäßigen Festnahmen, denen aber gewisse Rechte auf ein faires Verfahren folgen). Das Recht auf Achtung des Privatlebens, in das die Polizei nur eingreifen darf, „soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“. Recht auf Meinungsfreiheit, ohne beleidigend oder hetzerisch zu sein, und Versammlungsfreiheit, die natürlich – das zeigt beispielsweise auch die Situation in Pandemien – Grenzen haben kann. Artikel 14 schreibt zudem vor: „Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.“ Diese – und andere – Menschenrechte sind ethisch begründete Rechte (Nickel 2019; Brieskorn 2011), an denen man sich aus rechtlicher und ethischer Perspektive orientiert.
3.3
Tugenden
Neben Normen (wie etwas sein soll) und Werten (was wir schätzen und woran wir uns orientieren) sind Tugenden (gute und bewährte persönliche Charaktereigenschaften) in der Ethik ein zentrales Konzept (Hähnle 2016). Tugendhafte Einsatztrainer*innen können durch ihre Haltung und Charakter Vorbildfunktionen einnehmen. Doch was sind relevante ethische Tugenden im Einsatztraining? Eine klassische Tugend ist die Tapferkeit. Aristoteles’ „Nikomachische Ethik“ spricht von Tugenden als „goldener Mitte“ im Kontinuum zwischen Mangel (einem „Zuwenig“) und Übermaß (einem „Zuviel“). Tapferkeit wäre dann das richtige Mittelmaß zwischen den Charaktereigenschaften Feigheit und Tollkühnheit. Allein schon das Kontinuum an Eigenschaften zu verdeutlichen, kann hilfreich sein zu vermitteln, dass ein richtiges Maß an Eigenschaften und Verhalten essenziell für professionelles Verhalten ist. In diesem Beispiel: Tollkühnheit kann für alle Beteiligten gefährlich werden, führt vielleicht zu wei terer Eskalation oder Schaden. Feigheit, wiederum, kann darin resultieren, dass einer
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onfliktsituation aus dem Weg gegangen wird und unrechtmäßiges Verhalten entspreK chend nicht unterbunden oder geahndet wird. Auch für Trappe ist Tapferkeit eine Kardinaltugend für die Polizei. Er deutet sie aber etwas anders, nämlich als besondere Kraft: „Die Permanenz der Gewalt ebenso wie die gewaltige Gleichgültigkeit seiner Arbeit gegenüber – beides muss jeder Polizist ertragen; er muss es ertragen, ohne selbst gewalttätig und ohne selbst gleichgültig zu werden“ (Trappe 2012, S. 70). Eine andere Tugend ist die Besonnenheit. Sie ist die Mitte zwischen Stumpfsinn/Gefühllosigkeit und Zügellosigkeit. Bei der Option, Gewalt anzuwenden, kann Empathie helfen und wäre Exzessivität unangebracht. Auch Höflichkeit – die schon aus deontologischer Sicht als Wert herausgestellt wurde – kann eine Tugend sein. Sie beschreibt den res pektvollen Umgang miteinander. Als Tugend der Person befindet sich diese Charaktereinstellung zwischen Kriecherei oder Unterwürfigkeit und Arroganz oder Schroffheit. Höflichkeit ist auch bei Einsätzen relevant, um auf Augenhöhe zu kommunizieren und Gewalt zu vermeiden (Staller et al. 2020). Ahlf – in einem frühen Werk der Polizeiethik – nannte neben der Tapferkeit noch Gerechtigkeit und Wahrheitsliebe als Tugenden, ohne sie als aristotelische Mittelwerte zu definieren: „Wahrheitsliebe gewährleistet den Fortbestand des Vertrauens der Bevölkerung in die Polizei. Ohne Wahrheitsliebe der Polizeibeamten ließe sich eine Vertrauensbeziehung zwischen der Polizei und der Bevölkerung nicht aufbauen. Dabei verstehen sich die Bürger in zunehmendem Maße als ,Interaktionspartner staatlichen Handelns‘ und fordern neben der Rechtmäßigkeit der Regelung (z. B. eines polizeilichen Eingriffs) verstärkt einen sozial angemessenen Vermittlungsprozess.“ Auf der anderen Seite verlangt Gerechtigkeit, „dass das sogenannte polizeiliche Gegenüber nach seinem Handeln und nicht nach seiner Beschwerdemacht beurteilt wird, und dabei einheitliche, sachliche Maßstäbe fair angewandt werden“ (Ahlf 2000, S. 181).
3.4
Gerechtigkeit
Gerechtigkeit wird also teilweise als Tugend, teilweise als Norm gesehen. Im Amtseid in Nordrhein-Westfalen heißt es, dass man „Gerechtigkeit gegen jedermann“ walten lassen müsse. In diesem Ausspruch verbinden sich durchaus konsequenzialistische und deontologische Perspektiven (und wenn man Gerechtigkeit verinnerlicht und zur Verhaltensdisposition macht, erhält man diese als Tugend). Dass jeder Person Recht widerfahren muss, dass ihre Menschenwürde nicht verletzt wird und Menschenrechte gelten, unbesehen ihrer Eigenschaften wie sozialem Status, Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Nationalität etc., sind Ansprüche, die pflichtethische Vorgaben resonieren. Der Wert der Gerechtigkeit stützt diese Forderung nach Gleichbehandlung explizit und untermauert die Gleichheit jeder Person vor dem Gesetz (und der Exekutive). Auch für Regel-Utilitarist*innen kann Ge-
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rechtigkeit ein wichtiger instrumenteller Wert sein, da Ungerechtigkeit und Ungleichheit in der Gesellschaft dem allgemeinen Wohlergehen abträglich sein können (Atkinson 2016). In Gesellschaften mit weniger Gerechtigkeit und Gleichheit herrschen beispielsweise mehr Kriminalität und Gewalt (Wilkinson & Pickett 2010). Ungerechte und ungleiche Behandlungen in polizeilichen Einsatzkontexten sind einerseits Ausdruck ungleicher und ungerechter Zustände und befördern andererseits soziale Unzufriedenheit.
3.5
Verhältnismäßigkeit
In der Zeit der Corona-Pandemie ist kaum ein normativer Begriff so sehr in aller Munde wie der der Verhältnismäßigkeit. Verhältnismäßigkeit gebietet, nicht mit „Kanonen auf Spatzen“ zu schießen (Schröder-Bäck 2014). Oder, konkret für den Kontext des Einsatztrainings, nicht mehr Gewalt anzuwenden, als nötig ist; nicht mehr Freiheitsrechte einzuschränken, als erforderlich ist, um einen Konflikt zu lösen. Im Bereich der Polizei sind auch solche Menschenrechte relevant, die – anders als Folter- oder Sklavereiverbote – bei legitimen staatlichen Zwecken abwägbar und einschränkbar sind: „In solchen Fällen ist es ein durchgängiges Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes, dass Eingriffe dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu genügen haben, das heißt, sie müssen im Hinblick auf den angestrebten Zweck geeignet, erforderlich und angemessen sein“ (Alleweldt 2019, S. 29). Diese Menschenrechte werden verletzt, wenn die Polizei ihre Befugnisse „zu tiefgreifend, willkürlich oder diskriminierend ausübt“ (Alleweldt 2019, S. 29). Polizeibeamt*innen müssen also immer eine richtige Balance finden und diese muss – auch im Einsatztraining – theoretisch durchdrungen, vermittelt und eingeübt werden. Trappe nennt dies eine Balance zwischen „Invasion“ und „Protektion“. Verhältnismäßigkeit hält dazu an, sich zuerst überhaupt der Notwendigkeit von Gewaltanwendung bewusst zu werden – oder sich eben gegen Gewaltanwendung zu entscheiden. Bei Gewaltanwendung erinnert der Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit daran, nicht exzessiv zu sein, sondern Gewalt möglichst zu vermeiden und beispielsweise verbal zu kommunizieren und Konflikte zu lösen oder ansonsten so reduziert wie eben möglich einzusetzen (Trappe 2019c; Staller und Körner 2021). cc
Die hier vorgestellten ethischen Grundorientierungen sind Normen und Werte, an denen Polizeibeamt*innen ihr Handeln orientieren sollen. Dazu gehören (die absolut geltende) Menschenwürde, aber auch Menschenrechte und Gerechtigkeit. Handlungsfolgen in den Blick zu nehmen, die auch über den Nahbereich hinausgehen, erscheint moralisch wichtig. Tugenden erinnern die Polizeibeamt*innen daran, dass sie vorbildlich, tapfer und besonnen sein können und sollen. Die Verhältnismäßigkeit ist im Kontext des Gewaltmonopols eine ständige Mahnung.
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Ethische Reflexion und Urteilsbildung
Ethische Reflexion gründet sich also auf Normen und Werte. Reflektieren, im ursprünglichen Sinne, heißt, etwas „zurückzuwerfen“. Beispielsweise werden die Lichtstrahlen von einem Spiegel zurückgeworfen. Im übertragenen Sinne heißt es zu reflektieren, wenn man sich zwischen Allgemeinem und Besonderen hin- und herbewegt. So bildet man bei der ethischen Reflexion Urteile zwischen besonderen, konkreten Situationen und allgemeineren Handlungsanleitungen (in Form von Normen, Werten, Tugenden, Theorien). Für Rutkowsky lässt sich jedoch keine Theorie oder ethisches Prinzip der genannten Ethiken immer „lupenrein anwenden“ (also auf die Situation zur Konfliktlösung „zurückwerfen“). (Rutkowsky 2017, S. 59). Erstens ist es schwierig, „Theorien“ direkt und einfach anzuwenden. Eine direkte „Anwendung“ einer Theorie – wie die Anwendung eines Algorithmus, dem Daten vorgesetzt werden und der bestimmte Muster erkennt und entsprechende Musterlösungen benennt – wäre auch missverständlich gegenüber dem, was „Reflexion“ bedeuten würde. Reflexion ist immer so situativ und kontextabhängig, dass es schwer vorstellbar ist, dass Musterlösungen immer passen bzw. in den Daten für den Algorithmus alle relevanten Informationen enthalten sein können. Zweitens ist keine Theorie für sich genommen hinreichend plausibel. Jede Theorie arbeitet „wichtige Aspekte heraus“, lässt aber auch Fragen offen (ebd.). Für gute Rechtfertigungen in einer wertepluralen Gesellschaft kann und sollte man auf „gemischte Begründungen“ (ebd.) zurückgreifen. Das bedeutet, dass man Normen und Werte auch aus verschiedenen Denkrichtungen und Theorien gemeinsam berücksichtigen kann. Dabei kann es durchaus zu Konflikten zwischen verschiedenen Normen oder Werten kommen. Für eine ethische Beurteilung ist es deswegen unerlässlich, die relevanten ethischen Normen und Werte und die möglichen Konflikte zwischen ihnen zu erkennen. Je mehr Informationen zu den in einer gegebenen Situation tangierten Normen und Werten eingeholt werden können, umso spezifischer lässt sich das komplexe ethische Problem erfassen. Die Normen und Werte können dann für ihren Bedeutungszusammenhang spezifischer formuliert und „gemischt“ werden (Beispielsweise: „Man soll Menschen keine Gewalt antun, außer in Situationen, in denen man dadurch anderen unschuldigen Menschen ihre Rechte auf Unversehrtheit gewährt und ihr Wohlergehen erhält.“). Eine genaue normative Analyse und Spezifizierung von Normen kann also dazu beitragen, dass ein Konflikt sich auflösen lässt (Richardson 2000, Beauchamp 2003). Im Falle unauflösbar einander widerstreitender Normen und Werte muss allerdings eine Abwägung und Entscheidung herbeigeführt werden: Welche Norm und welcher Wert wiegt schwerer, zugunsten welcher Norm und welchen Wertes wird der ethische Konflikt entschieden? (Schröder-Bäck et al. 2020) Menschenwürde als absolute Norm ist jedoch mit anderen Werten (wie Glücksmaximierung) nicht abwägbar. Sollte Menschenwürde gegen Menschenwürde stehen, akzeptieren selbst ausgewiesene Deontologen, dass in Extremfällen „tatsächlich utilitaristische Kategorien zur Anwendung [kommen], aber […] nur in subsidiärer Weise“ (Schweidler 2010, S. 77). Muss ein/e Einsatzleiter*in beispiels-
Ethische Reflexion für das Einsatztraining
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weise überlegen, welche/n Kolleg*in in eine gefährliche Situation geschickt wird, könnte überlegt werden, welche Entscheidung das meiste Wohlergehen fördert. Wie kann eine ethische Reflexion konkret vonstattengehen? Die folgenden Schritte sollen das Gesagte zusammentragen und praktisch für Lehrende sowie für Einsatzkräfte als Leitfaden zu einer differenzierten Urteilsbildung hilfreich sein. Dabei sind die Schritte nicht unbedingt chronologisch zu verfolgen, Zwischenschritte und individuelle Anpassung sind ebenfalls möglich (Schröder-Bäck et al. 2014). 1. Was ist das (moralische) Problem, was ist der ethische Konflikt? a. Wie formuliere ich in eigenen Worten, worin das Problem besteht? b. Habe ich alle relevanten Informationen in diesem Kontext, um das Problem wirklich zu verstehen und zu durchdringen? c. Wie umschreibe ich mithilfe ethischer Begriffe, worin das Problem liegt? i. Welche moralischen Normen und Werte scheinen tangiert zu werden? ii. Zwischen welchen Normen und Werten treten Spannungen hervor? 2. Welche Handlungsoptionen bestehen? a. Bestehen vielleicht noch alternative Handlungsmöglichkeiten, die das Problem gänzlich umgehen? b. Welche Handlungsalternativen haben welche Handlungsfolgen für wen? i. Welche absehbaren Auswirkungen sind gut, welche schlecht? ii. Welche Lösung ist die nachhaltig effektivste und verspricht den wenigsten Schaden für alle (direkt und indirekt) Betroffenen? Oder positiv ausgedrückt: Wie kommen alle „am glücklichsten“ aus der Situation? iii. Was sind Auswirkung auf das Einsatzteam, die Polizei-Organisationen, die Institution Polizei, die Angehörigen aller Akteure, die weitere Gesellschaft? c. Was gebieten Menschenwürde, Menschenrechte, Verallgemeinerbarkeit, Verhältnismäßigkeit und Gerechtigkeit? i. Bleibt die Würde aller Personen gewahrt? ii. Werden keine Personen (inkl. meiner selbst) gedemütigt? iii. Behandele ich alle angemessen und diskriminiere ich mein Gegenüber nicht (bspw. kontrolliere ich sie/ihn nicht aus nicht-kriminalistischen Gründen wie mir erscheinender Fremdheit, die sich aus Hautfarbe, Nationalität, sozialem Status, Geschlecht, Alter o. Ä. ergibt)? iv. Ist der geplante Einsatz von Gewalt notwendig, verhältnismäßig und vertretbar? 3. Komme ich zu einem überzeugenden Urteil, das auch andere Personen nachvollziehen und überzeugend finden können? a. Spezifiziere ich alle relevanten Normen und Werte und verknüpfe sie miteinander zu einem differenzierten und unparteiischen Urteil? b. Kurzum: „Kann ich mein Handeln gut begründen?“ (Trappe, 2019b, S. 12, Hervorhebung unterlassen) 4. Was bedeuten mein Urteil und die folgende Handlung für mich persönlich? a. War ich besonnen?
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b. Habe ich meine Grenzen erkannt und klug entschieden? c. Kann ich mit dem Ergebnis meiner Abwägung leben? d. Bin ich durch diese Handlung die Person, die ich sein möchte? (Wagener 2019, S. 216) e. Ist meine Entscheidung mit meiner Integrität als Person und meiner Selbstachtung vereinbar?
Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
Abschließend sollen noch einige Empfehlungen und Hinweise für die Praxis gegeben werden: a) Entscheider*innen Ethische Reflexion ist eine wichtige Expertise und Kompetenz, um professionelles Handeln, auch im Bereich der Einsätze der Polizei, zu ermöglichen. Dazu gehört es, Handlungsstrategien zu erarbeiten und zu lernen, reflektierte Entscheidungen im Einsatz treffen zu können sowie kompetent sein Handeln zu beurteilen. Diese Rolle für Ethik in der Polizei und im Einsatztraining wird allgemein anerkannt und gewünscht, bedarf aber weiterer Förderung, um Strukturen und Lehrkompetenzen entsprechend aufzubauen. Dass Ethik als Disziplin bei allen Akteuren anerkannt wird, bedarf zudem weiterer Unterstützung. Deswegen sollte Ethik als Fach im Einsatztraining weiter und besser gefördert und etabliert werden. Dazu braucht es Mitwirkungen von höchsten Stellen innerhalb der Polizei und einer Akzeptanz und Förderung der Trainerinnen und Trainer in diesem Kontext. Es muss überprüft werden, ob der Ethik im Kanon der gelehrten Disziplinen der Platz eingeräumt wird, der sinnvoll ist. Dazu muss man überprüfen, ob moralische Normen, Werte, Theorien und Tugenden in ethischer Perspektive kritisch und fundiert gelehrt werden, wozu es qualifiziertes, das heißt ethisch akademisch geschultes Personal geben muss. Dazu müssen – interdisziplinär und an der Schnittstelle von ethischer Theorie und erfahrener Einsatzpraxis – Konzepte entwickelt werden, wie ethische Reflexion für die Polizei gelehrt und in Einsatztrainings effektiv implementiert werden kann. b) Einsatzkräfte Reflexion vor, während und nach dem Einsatz erhöht die persönliche Professionalität und kooperatives Konfliktlösungsverhalten (Staller et al. 2021). Einsatzkräfte
Ethische Reflexion für das Einsatztraining
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sollten sich regelmäßig – vor und nach Einsätzen – fragen, welche Normen, Werte und Tugenden ihren Handlungen zugrunde liegen. Einsatzkräfte können ihr Handeln anhand objektiver Normen und Werte begründen, Urteile bilden und streben neben einer gesetzlichen Absicherung (Sichtwort „Rechtssicherheit“) auch ethische Begründungen an. Die ethische Perspektive hilft, individuelles Handeln – wenn nötig öffentlich bzw. in den Hierarchien – zu rechtfertigen. Bei dieser ethischen Reflexion kann das oben dargestellte Urteilsbildungsschema hilfreich sein. In komplexen Lagen ist es sicherlich oft herausfordernd, ethisch differenziert anhand eines komplexen Schemas zu reflektieren. Differenzierte, intensive ethische Reflexion – die im Einsatztraining gelehrt wird, also ex ante – findet folglich in der Praxis vor allem retrospektiv, ex post, statt. (Selbst-)Kritische ethisch-normative Einsichten einer ex post-Beurteilung eigenen Handelns und einer Urteilsbildung können und sollen jedoch wiederum zur Folge haben, dass man zukünftig in komplexen, vergleichbaren Lagen besser handelt als zuvor. Hier trägt die differenzierte ethische Urteilsbildung auch zu einer positiven Fehlerkultur in der Polizei bei. c) Einsatztrainer*innen Die meisten Einsatztrainer*innen haben vermutlich in ihrer eigenen Ausbildung nur wenige Berührungspunkte mit ethischen Inhalten gehabt. Dass und wie ethische Reflexion zur allgemeinen Reflexion des Einsatzhandelns beitragen und die Professionalität unterstützen kann, muss zuerst selbst gelernt werden, um unterrichtet und vorgelebt zu werden. Eine ausgewiesene ethische Reflexionsfähigkeit könnte auch ein Entscheidungskriterium bei der Auswahl von Einsatztrainer*innen sein. Ethische (Basis-)Kompetenz kann, wie oben gefordert, interdisziplinär gelehrt werden, muss aber auch von Einsatztrainer*innen resoniert werden. Hier sollte eine Kompetenz – ggf. durch eigene Fortbildungen – und eine Teambildung mit Personen, die in Ethik kompetent sind, angestrebt werden. Im eigenen Trainieren ihrer Studierenden müssen sich Einsatztrainer*innen fragen, ob sie genug Raum lassen, um kritische Distanz zum Handeln zu schaffen, um dieses objektiv anhand moralischer Standards evaluieren zu können. Auch die Bezugnahme auf (moralische) Normen und Werte muss explizit im Training und in den Reflexionen erfolgen. Dabei sollten verschiedene normative Perspektiven, die zusammen genommen eine komplexere Beurteilung und Rechtfertigung erlauben – ohne dass der grundlegende Wert der Menschenwürde unterminiert wird – eingebracht werden. Letztlich müssen sich Trainer*innen ihrer Vorbildfunktion bewusst sein. Sie müssen verantwortungsvoll und kritisch handeln und dazu anleiten, dass Handlungen objektiv rechtfertigbar sein sollen.
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P. Schröder-Bäck
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Ethische Reflexion für das Einsatztraining
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Sprach- und Gewaltkompetenz im Einsatztraining Jan Beek, André Kecke und Marcel Müller
Inhaltsverzeichnis 1 Methoden 715 2 Herausforderung Mehrsprachigkeit – das Register Gewalt 716 3 Herausforderung Mehrsprachigkeit – das Register Sprache 721 4 Die Register Gewalt und Sprache im Einsatztraining – Umschalten in beide Richtungen 723 Literatur 730
Zusammenfassung
Polizeiliches Handeln beinhaltet Sprach- und Gewalthandlungen, zwischen denen Polizist*innen dynamisch wechseln müssen und die in Spannung zueinander stehen. Insbesondere in mehrsprachigen Situationen wird sichtbar, dass eine nicht situationsangepasste Auswahl beider Register zu Missverständnissen bei Bürger*innen führen kann.
Reviewer*innen: Buc Consten, Deborah Ryszka J. Beek (*) · M. Müller Institut für Ethnologie und Afrikastudien, Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] A. Kecke Fachbereich Polizei, Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung (HfPV), Mühlheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_38
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J. Beek et al.
Im polizeilichen Einsatztraining sollte die Vermittlung von Gewaltkompetenz noch stärker durch die Vermittlung von sprachlicher Kompetenz ergänzt werden.
Das polizeiliche Einsatztraining ist eine hochgradig alltagsorientierte Form der Wissensvermittlung. Während sich Universitäten und Fachhochschulen solch innovative Formen von „enskilment“ nur langsam erschließen (Ingold 2000), haben die Hochschulen der Polizei in Deutschland sie fest in ihren Lehrplan integriert. Aufgrund der Priorisierung der Sicherung des eigenen Lebens und der knappen Ausbildungszeit wird im Einsatztraining schwerpunktmäßig Gewaltkompetenz vermittelt (Staller et al. 2019). Gewaltkompetenz verstehen wir als Abwehr und Anwendung physischer Gewalt, in der sozioprofessionellen Sprache der Polizei „Eigensicherung“ und „die Anwendung körperlichen Zwangs“. In polizeilicher Arbeit sind gewaltförmige Interaktionen jedoch die Ausnahme (Alpert und Dunham 2004, S. 4; Bittner 1978, S. 36; Beek und Göpfert 2013, S. 486), der Alltag ist vor allem durch sprachliches Handeln bestimmt. Unser Beitrag erforscht, auf Grundlage von inszenierten Szenarien und ethnografischer Feldforschung im Einsatztraining, Sprache und Gewalt als zwei unterschiedliche Register polizeilichen Handelns. Polizist*innen benutzen unterschiedliche Choreografien, Werkzeuge und Sprachvarietäten, die als unterschiedliche Register konzeptionalisiert werden können, die parallel gezogen werden können und zwischen denen sie in Einsätzen dynamisch hin- und herschalten (Beek 2016, S. 100). Die Register Sprache und Gewalt stehen in Spannung zueinander und kreieren unauflösliche Dilemmata für Polizist*innen, weil Abwehr und Anwendung physischer Gewalt die sprachliche Kommunikation be- oder verhindern und zu Missverständnissen führen können. Für die Untersuchung der Fragestellung haben wir mehrsprachige Szenarien durchgespielt, bei denen Anwärter*innen bei Verkehrskontrollen und Ruhestörungen mit Bürger*innen konfrontiert sind, die kein oder kaum Deutsch sprechen.1,2 Das grundsätzliche Dilemma zwischen Gewalt – ihrer Antizipation, Anwendung und Androhung – und dialogischer Kommunikation – das Verständlichmachen polizeilichen Handelns und seine Einbettung in moralische Diskurse – wird in mehrsprachigen Situationen besonders deutlich sichtbar. Einige Anwärter*innen lösten das Szenario durch die Anwendung körperlichen Zwangs. In der Perspektive des Gegenübers
Wir danken insbesondere Thomas Bierschenk, Cassis Kilian, Annalena Kolloch, Bernd Meyer und Theresa Radermacher. Unser Dank gilt auch der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung (HfPV), hier insbesondere Clemens Lorei und Björn Gutzeit, ohne deren Kooperation und Unterstützung diese Studie nicht möglich gewesen wäre. Ferner möchten wir uns ausdrücklich bei den Einsatztrainer*innen, Polizeianwärter*innen und Statist*innen bedanken, die sich alle freiwillig und engagiert an der Studie beteiligt haben. Zudem danken wir Karl-Heinz Reinstädt und Henning Schwethelm, die Marcel Müller bereitwillig dienstliche Freiräume zur Teilnahme an dieser Forschung ermöglichten. Die Forschung ist Teil des Projekts „Polizei-Translationen – Mehrsprachigkeit und die Konstruktion kultureller Differenz im polizeilichen Alltag“ und wird von der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) gefördert (BE 6695/1-1). 2 Teile dieses Beitrags basieren auf einer Monografie über den Umgang mit Differenz in Verkehrskontrollen (Müller 2021). 1
Sprach- und Gewaltkompetenz im Einsatztraining
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wurden dabei sprachliche Missverständnisse zu grundsätzlichem Nichtverstehen polizeilichen Handelns, das sie in Kriminalisierung- und Rassismusvorwürfen artikulierten. Andere Anwärter*innen schalteten schnell auf das Register Sprache um und passten ihr Handeln der Situation an. Bei empirischer Forschung im regulären Einsatztraining zeigte sich, dass dort – aus guten Gründen – der Schwerpunkt auf die Ausbildung von Gewaltkompetenz gelegt wird. Auch Sprache wird als Einsatzmittel vermittelt und von vielen Anwärter*innen reflektiert angewendet, aber nicht in systematischer Weise. Im Anschluss entwickeln wir Konzepte, wie die Vermittlung sprachlicher Kompetenzen besser ins Einsatztraining eingebunden werden kann. Gerade weil es sich bei der selektiven Anwendung beider Register um ein Dilemma handelt, das immer nur situativ und aufgrund persönlichen Erfahrungswissens beantwortet werden kann, müssen Einsatztrainer*innen nicht-lineare, dynamische Formate weiterentwickeln, bei denen nicht Rezeptwissen, sondern individuelle Routinen angeeignet werden können. Besondere Herausforderung ist dabei, Sprache als Erfolg bringende und spannende Lösungsstrategie einzubauen.
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Methoden
Für die Ethnologen im Autorenteam sind Studien auf Grundlage von Experimenten oder Rollenspielen – also inszenierten Wirklichkeiten – keine übliche Methode, da diese in der Ethnologie untypischer ist als in anderen Sozialwissenschaften. Wir verstehen die von uns gewählte Methode sowie das von uns gewählte Szenario auch nicht als Experiment im klassischen Sinne, wie beispielsweise bei Experimenten aus der Psychologie, bei denen es primär um die Erhebung statistischer Daten geht. Vielmehr produziert die inszenierte Realität im Einsatztraining ethnografisches Material, das uns Aufschluss darüber geben kann, wie die Polizeibeamt*innen mit sprachlichen Herausforderungen im Rahmen der Verkehrskontrolle umgehen und wie alle Beteiligten die Interaktion wahrnehmen. Methodologisch können Szenarien im Einsatztraining als Reenactments (Nachstellung oder Wiederaufführung) verstanden werden. Diese Methode, die häufig zur Rekonstruktion von kulturhistorischen Ereignissen verwendet wird, etwa das Nachspielen von Schlachten während des Amerikanischen Bürgerkrieges, soll dazu beitragen, dass die nachgestellten Ereignisse für die Darsteller*innen sowie für die Zuschauer*innen gleichermaßen nahbar, erfahrbar und spürbar werden (Hinz 2011). Doch findet die Methode gleichfalls Einzug in andere Disziplinen, so etwa auch in die Sozialforschung beziehungsweise in die ethnografische Forschung (Pink und Leder Mackley 2014, S. 147; Hogan und Pink 2012). Pink und Leder Mackley (2014, S. 247) sind der Ansicht, dass mithilfe des Reenactments wesentliche Merkmale der untersuchten Situation oder des untersuchten Ereignisses offengelegt werden können, die den Forscher*innen sowie den Teilnehmer*innen ansonsten gegebenenfalls verborgen geblieben wären. In diesem Sinne betrachteten wir das von uns ausgewählte Szenario. Zudem beobachteten wir die Anwärter*innen praktisch bei dem, was sie im Rahmen ihrer Ausbildung nahezu täglich tun: Sie durchlaufen Einsatzszenarien. Denn es gehört grundlegend zum Polizist*in-Werden dazu, die berufliche Sozialisation mittels solcher (Rollen-)Spiele zu erfahren und zu erlernen (Stahlke 2001, S. 58).
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J. Beek et al.
Wir fokussieren in diesem Beitrag auf die inszenierte Verkehrskontrolle, da diese – vor allem im Vergleich zu dynamischen Szenarien wie etwa dem Betreten und Durchsuchen von Räumlichkeiten – verhältnismäßig statisch abläuft. Dies sollte zum einem die Erfassung der Daten sowie deren Vergleichbarkeit erleichtern und zum anderen das Verletzungsrisiko für unsere Statist*innen, bei denen es sich um Schauspieler*innen und studentische Hilfskräfte handelte, die keine Erfahrungen mit polizeilichen Eingriffstechniken hatten, minimieren. Die Durchführung von Verkehrs- und Personenkontrollen gehört zudem für Polizeibeamt*innen zum Arbeitsalltag und erfordert von diesen stets eine routinemäßige wie gleichermaßen zielführende Kommunikation, bei der emotionale Intelligenz und taktisches Verständnis gefragt sind. Darüber hinaus ist die Durchsetzung von körperlichem Zwang bis hin zum Einsatz der Schusswaffe (Körner und Staller 2018) ebenso denkbar, weshalb uns die Durchführung einer Kontrolle im Rahmen unserer Forschung als besonders geeignet zur Beobachtung des Kommunikationsverhaltens der Anwärter*innen schien. Im Anschluss an das Szenario führten wir mit den Anwärter*innen sowie den Statist*innen fragebogenbasierte Interviews. Hierzu wurden die Streifenpartner*innen sowie die Statist*innen räumlich voneinander getrennt, um eine gegenseitige Beeinflussung der Aussagen zu verhindern. An fünf Tagen beobachteten wir die Szenarien von insgesamt 32 Streifenteams, d. h., 64 Anwärter*innen nahmen an unserer Studie teil. Hiervon gehörten zwölf Beamt*innen der Kriminalpolizei und 52 Beamt*innen der Schutzpolizei an. Von den Teilnehmer*innen waren 39 Personen männlich und 25 Personen weiblich. Das Durchschnittsalter der Anwärter*innen lag bei 26 Jahren. Alle der vorgenannten Anwärter*innen befanden sich im 6. Semester des Studiums für den gehobenen Polizeivollzugsdienst und verfügten über eine etwa neunmonatige Praxiserfahrung in Form von Praktika. Einige der Anwärter*innen betonten im Anschluss an die Szenarien, dass sie in den Praktika zumeist auf die Unterstützung und das Wissen der erfahreneren Streifenpartner*innen zurückgegriffen haben, was ihnen Handlungssicherheit gegeben habe (vgl. auch Sauerbaum 2009, S. 88). Parallel zu den inszenierten Szenarien haben wir eine mehrmonatige Feldforschung durchgeführt, bei der das Einsatztraining einer Studiengruppe im 6. Semesters teilnehmend beobachtet wurde, um die reguläre Vermittlung von Sprach- und Gewaltkompetenz in der Polizei zu untersuchen. Schwerpunkt dieser Untersuchung waren informelle Gespräche mit Einsatztrainer*innen über das Lernen durch Handeln und die spezifischen Herausforderungen und Möglichkeiten der Einsatzlehre.
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Herausforderung Mehrsprachigkeit – das Register Gewalt
Die Anwärter*innen durchliefen die von uns gestellten Szenarien innerhalb des Einsatztrainings an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung. Die Statist*innen hatten die Anweisung, während der Kontrolle lediglich in der vorgegebenen Sprache – Französisch, Russisch, Griechisch oder Igbo – mit den Beamt*innen zu kommunizieren.
Sprach- und Gewaltkompetenz im Einsatztraining
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Zusätzlich erhielten sie den Auftrag, auf Anordnungen in deutscher oder englischer Sprache nicht zu reagieren und vorzugeben, diese nicht zu verstehen. Vor Beginn eines jeden Szenarios erhielten die Streifenteams eine kurze Einweisung, in deren Rahmen sie darauf hingewiesen wurden, dass es im Szenario um eine Alltagsinteraktion und keine Ausnahmesituation geht. Hierdurch wollten wir dem impliziten Fokus auf Eigensicherung im Einsatztraining entgegenwirken: Beispiel
Das Streifenteam besteht aus einer Beamtin und einem Beamten. Der Anwärter ist fast zwei Meter groß und athletisch gebaut, mit einem osteuropäischen Familiennamen. Die Anwärterin ist kleiner und wirkt jünger. Der Beamte übernimmt die Rolle des Kontrollierenden. Er macht die Fahrertür auf und spricht den Fahrer auf Deutsch an; als dieser auf Griechisch antwortet, fragt er: „Sprechen Sie kein Deutsch?“. […] Nun fragt der Beamte „No English? Polska? Český?“, ausgesprochen in der jeweiligen Landessprache. Der Beamte fragt die Kollegin nun, ob sie wisse, welche Sprache der Fahrer spricht; ihre Idee, mithilfe von Google zu übersetzen, wird von beiden nicht weiterverfolgt. Als der Fahrer äußert, dass er aus „Hellas“ kommt und somit Griechisch spricht, reagiert der Beamte irritiert und fragt: „Was für ein Erlass?“ Die Beamtin hält nun ihr Funkgerät in der Hand und fragt den Kollegen: „Also spricht er doch Griechisch, oder?“; sie möchte vermutlich über Funk eine/n griechisch-sprachige*n Kolleg*in anfragen, was der Beamte jedoch unterbindet, indem er sagt: „Wir durchsuchen ihn jetzt erst mal!“. Als Nächstes spricht der Beamte den Fahrer auf Deutsch an: „Steigen Sie bitte aus.“ Hierbei macht er einen Schritt nach hinten und winkt den Fahrer zu sich, welcher der Aufforderung unvermittelt nachkommt. Die Beamtin fragt nun doch per Funk an, ob ggf. eine griechisch-sprachige Kollegin oder ein griechisch-sprachiger Kollege im Dienst ist. Während die Streife auf die Rückmeldung der Leitstelle wartet, versucht es die Kollegin auf Englisch mit „ID-Card?“, woraufhin der Fahrer auf das Fahrzeug zeigt. Als der Fahrer sodann zum Fahrzeug gehen möchte, um die dort liegenden Ausweispapiere zu holen, unterbindet der Beamte dies mit den Worten: „Bleiben Sie stehen!“ Nachdem die Leitstelle der Streife rückmeldet, dass keine griechisch-sprachige Kollegin und kein griechisch-sprachiger Kollege im Dienst ist, beginnt der Beamte, den Fahrer nach Ausweispapieren zu durchsuchen. Anordnungen wie „Ruhig stehen bleiben.“ erfolgen auf Deutsch; weitere, ausführlichere Erklärungen der Maßnahme erfolgen nicht. Als der Beamte bei der Personendurchsuchung keine Ausweispapiere finden kann, sagt er zur Kollegin, dass er den Fahrer zwecks erkennungsdienstlicher Behandlung mit auf die Dienststelle nehmen möchte. Der Beamtin ist deutlich anzusehen, dass sie mit dem Vorhaben nicht einverstanden ist; sie versucht kurz, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, aber am Ende setzt sich der Kollege durch (Feldforschungsnotizen, Oktober 2019, ETZ in Hessen). ◄
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Jede Verkehrskontrolle ist, wegen der Eigensicherung der Polizeibeamt*innen durch plötzliches Türöffnen, die Präsenz der Waffe und den Befehlston, von Anfang an durch die Antizipation der Gewalt des Gegenübers und das Potenzial unmittelbaren Zwangs geprägt. Im Alltag wird das Register Gewalt von Polizist*innen meist schnell sprachlich kompensiert und erfolgreich verschleiert. Weil die Polizeibeamt*innen im mehrsprachigen Szenario für das Fehlen einer gemeinsamen Sprache keine Lösung finden, gibt es jedoch keinen Wechsel zum Register Sprache, sondern sie agieren weiter im Modus von Körperlichkeit und Zwang. Das Register Gewalt, vor allem des Beamten, steht fortan im Vordergrund der gesamten Kontrolle, das heißt, die Möglichkeit der Anwendung von unmittelbarem Zwang ist durchgängig präsent. Das geringe Maß an Kommunikation kann – wie für polizeiliche Kontrollen typisch – als asymmetrisch beschrieben werden (Shon 2005, S. 838): Der Beamte äußert eine polizeiliche Anordnung (z. B. „Your driver’s license, please!“), welcher der Verkehrsteilnehmer zu folgen hat. „Die Kontrolle erhält infolge der gescheiterten Kommunikation zudem einen absurden Charakter, d. h., die Beamt*innen ziehen mechanisch“ ihre Maßnahmen durch, welche das polizeiliche Gegenüber mehr oder minder über sich ergehen lässt. Das nicht vorhandene Verständnis des polizeilichen Gegenübers sowie die damit einhergehenden (oder ausbleibenden) Reaktionen können von den Beamt*innen als negativ, unkooperativ oder gar Provokation gedeutet werden – dieser Effekt verstärkt sich zumeist bei kritischen, frustrierenden oder stressgeladenen Situationen (Bornewasser 2009, S. 29). Verbale Erklärungsversuche durch das Gegenüber werden durch die Beamt*innen nicht verstanden und infolgedessen ignoriert, die dann an der Durchsuchung der Person festhalten. Die Streife entschließt sich folglich dazu, den Fahrer mit zur Dienststelle zu nehmen, da es ihr nicht gelingt, wesentliche Informationen über die Person oder die vorliegenden Umstände zu erlangen. Die Mitnahme des Fahrers zur Dienststelle ohne die Durchsuchung des Fahrzeugs, in dem man zumindest die Ausweispapiere und den Fahrzeugschein problemlos hätte vorfinden können, ist in Bezug auf Verhältnismäßigkeit bzw. Rechtmäßigkeit fragwürdig. Bis zum Ende orientieren sich die Anwärter*innen an der Logik des Zwangs. Multiple Perspektiven Obwohl der Polizeianwärter seine „Hilflosigkeit“ angesichts der Sprachprobleme im späteren Interview einräumte, war er doch insgesamt zufrieden. Die Kontrolle sei „normal“ verlaufen, das Gegenüber schätzte er als „ruhig“ und „kooperativ“ ein. Die Tonalität, die Durchsuchung und die erkennungsdienstliche Behandlung wurden von ihm nicht problematisiert. Der Verkehrsteilnehmer hatte diese (und andere) Verkehrskontrollen-Szenarien, trotz seiner Rolle als Schauspieler, völlig anders wahrgenommen: Zeugenaussage
Die haben direkt meine Tür aufgerissen. Der Polizist hat nicht einmal gelächelt; er hatte auch ständig die Hand an seiner Waffe. […] Ich bin enttäuscht, die haben mich behandelt wie einen Kriminellen. Das war kein schönes Gefühl (Gesprächsnotiz, Oktober 2019, ETZ in Hessen). ◄
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Aus Sicht der Polizeibeamt*innen wird eine Interaktion, die vor allem entlang des Registers Gewalt abläuft, scheinbar nicht zwangsläufig als problematisch erachtet. Das polizeiliche Gegenüber hat jedoch seinerseits eine Rollenerwartung an das Verhalten der Polizist*innen, welches vorliegend – wie die Äußerungen des Verkehrsteilnehmers zeigen – nicht erfüllt wurde. Zu solchen völlig unterschiedlichen Wahrnehmungen kam es im Szenario immer wieder. Beispielsweise wurden der abrupte Abbruch eines geplanten Pupillen- Reaktionstestes, ohne begleitende Erläuterung oder Erklärung, sowie das genervte und gleichermaßen gereizte Auftreten der kontrollierenden Beamtin von der Igbo-Sprecherin sogar als rassistisch motiviert bewertet. Oft fühlten sich die Verkehrsteilnehmer*innen im Rahmen der Kontrolle ungerecht behandelt oder gar schikaniert; auch, wenn diese im Hinblick auf Eigensicherung und Rechtmäßigkeit nicht zu beanstanden war. Ein solches Auftreten kann beim polizeilichen Gegenüber Reaktionen fördern, die von den Beamt*innen als mangelnder Respekt oder Kooperationsbereitschaft gedeutet werden, was seinerseits wiederum Reaktionen der Beamt*innen begünstigen kann, die einer Deeskalation der Kontrollsituation wenig dienlich sind (Hermanutz 2015; Füllgrabe 2017). Darüber hinaus kann ein solches Auftreten der Polizist*innen dazu beitragen, dass das polizeiliche Gegenüber die Legitimität des polizeilichen Handelns infrage stellt, was den reibungslosen Ablauf der Kontrolle möglicherweise ebenso gefährden könnte (Beek 2019, S. 106). Diese Empfindung deckt sich mit den Ergebnissen einer Umfrage zur Akzeptanz von polizeilichen Kontroll- und Eigensicherungsmaßnahmen von Lorei, die ergab, dass Anordnungen bzw. Kommandos wie „Legen Sie die Hände aufs Lenkrad!“ oder „Steigen Sie aus dem Fahrzeug aus!“ sowie körperliche Durchsuchungen (verbunden mit der hierbei einzunehmenden Position der oder des Durchsuchten) überwiegend als übertrieben wahrgenommen und abgelehnt werden. Dies gilt auch für Personen, die der Polizei gegenüber grundsätzlich positiv gestimmt sind und prinzipiell Verständnis für die Durchsetzung von polizeilichen Eigensicherungsmaßnahmen aufbringen (Lorei 2001, S. 263). Darüber hinaus wird ein vermeintliches Negativerlebnis mit der Polizei häufig auch zur Belastung für künftige Begegnungen mit eben dieser (Schmalzl 2001, S. 38), denn der/die Bürger*in erwartet von Polizeibeamt*innen in der Regel ein freundliches, korrektes und kompetentes Auftreten (ebd., S. 42). Aus verschiedenen Umfragen zum Bürger-Polizei-Verhältnis geht in diesem Kontext hervor, dass Aggressivität, Unhöflichkeit, Ironie, Sarkasmus oder emotionale Kühle vom polizeilichen Gegenüber besonders missbilligt wird (Hermanutz und Spöcker 2007, S. 35; Bärsch und Rohde 2011, S. 38). Anhand der unterschiedlichen Wahrnehmungen beider Seiten über die gleiche Einsatzsituation zeigt sich, dass beide Seiten einen unterschiedlichen Erwartungshorizont an Verkehrskontrollen haben. Dabei geht es im Kern um eine unterschiedliche Einschätzung, wie stark das Register Gewalt in dieser Situation von den Polizist*innen gezogen werden soll. Während die Polizist*innen das plötzliche Aufreißen der Tür, einen Befehlston und eine Durchsuchung als unproblematische professionelle Routinen wahrnehmen, gibt es von den Bürger*innen die Erwartungshaltung, dass Polizist*innen sich zurückhalten, nach kommunikativen Lösungen suchen oder sich zumindest erklären sollen.
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Spannenderweise hatten auch die beteiligten Polizeianwärter*innen sehr unterschiedliche Einschätzungen davon, welche Praktiken in dieser Situation angemessen und professionell sind. Die Polizeianwärterin im oben beschriebenen Szenario machte dies durch ihre Gestik deutlich, äußerte sich jedoch im späteren Interview nicht dazu. Nach einem weiteren Verkehrskontrollen-Szenario, das ähnlich abgelaufen war, erklärte eine andere Polizeianwärterin offen: Zeugenaussage
Ich hab’ schon öfter mit dem Kollegen Kontrollen durchgeführt, auch draußen. Für meine Begriffe steigt er oft zu hoch ein [Anm.: Beamtin zeigt mit der Hand über ihren Kopf], obwohl man auch niedriger einsteigen könnte. […] Ich hätte ihn [den Fahrer] auch nicht ans Fahrzeug gestellt [Anm.: zwecks Durchsuchung]. Das war total unverhältnismäßig. Der wusste ja gar nicht, was los ist, das war einfach nur einschüchternd für ihn und unnötig (Gesprächsnotiz, Oktober 2019, ETZ in Hessen). ◄ Die Beamtin kritisiert das Handeln ihres Kollegen in Bezug auf den offensichtlichen Zwangscharakter („hoch einsteigen“), Rechtmäßigkeit („unverhältnismäßig“) und moralischer Hinsicht („einschüchternd“). Als größte Herausforderung in dem vorgenannten Szenario beschrieb sie ihren Versuch, ihren Kollegen „zu bändigen“, ohne diesem in die Maßnahme „zu grätschen“. Nicht nur im Verhältnis zum polizeilichen Gegenüber, sondern auch innerhalb des Streifenteams gibt es einen unterschiedlichen Erwartungs- und Bewertungshorizont (Behr 2008). Bei anderen Streifenteams, die ebenfalls doppelte Kommunikationsschwierigkeiten – sowohl nach innen als auch nach außen – aufwiesen, ließen sich ähnliche Feststellungen machen. Meist kam es zu Missverständnissen und Kommunikationsschwierigkeiten unter den Beamt*innen, wenn diese ein anderes Rollenverständnis aufwiesen (Halla-Heißen 2017, S. 3); teilweise verliefen diese Differenzen entlang klassischer Gender-Normen. Mehrsprachige Situationen machen ein grundsätzliches Dilemma polizeilichen Handelns besonders sichtbar, das nicht einfach aufgelöst werden kann, sondern von Beamt*innen situationsangepasst, aufgrund von Erfahrungswissen und individuellem Rollenverständnis beantwortet werden muss. Das Register Gewalt schwingt bei polizeilichen Kontrollen zwar prinzipiell als notwendige und mögliche Rahmung der Interaktion mit, ist jedoch nicht stets in gleichem Maße präsent. Das Ziehen dieses Registers kann zu einem Missverstehen durch Bürger*innen führen, von denen die rechtlich und taktisch geformten Praktiken der Polizist*innen teilweise als Formen von Diskriminierung, in Bezug auf kulturelle Differenz oder als Kriminalisierung, verstanden wurden. Durch das von uns kreierte mehrsprachige Szenario über Differenz wurde dieses Dilemma – wenn nicht gar das Dilemma – einer jeden Polizei-Bürger-Interaktion überbetont und damit fokussiert: die Frage, inwieweit und in welcher Form die Beamt*innen die Register Gewalt und Sprache austarieren sollen.
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Herausforderung Mehrsprachigkeit – das Register Sprache Beispiel
Das Streifenteam besteht aus einer Beamtin und einem Beamten. Die junge Beamtin hat eine türkische Migrationsgeschichte. Die Beamtin spricht die Fahrerin zunächst auf Deutsch an: „Hallo, hier ist die Polizei.“ und öffnet die Fahrertür. Als die Fahrzeugführerin auf Französisch antwortet, fragt die Anwärterin auf Englisch, ob diese ggf. Deutsch oder Englisch spreche: „Deutsch? German? English? Do you speak English?“ Dies wird von der Fahrerin verneint, dennoch spricht die Anwärterin zunächst Englisch und fragt nach der „ID-Card“. Als die Fahrerin nun auf Französisch fragt „Carte d’identité?“, wiederholt die Anwärterin „D’identité“ und nickt unterstützend bzw. zustimmend mit dem Kopf. Darauffolgend spricht die Anwärterin Deutsch mit der Fahrerin und unterstreicht das Gesagte mit passender Mimik und Gestik, z. B. als diese nach dem Führerschein fragt: Sie zeigt auf die ihr vorliegende Identitätskarte und macht mit den Händen eine Lenkbewegung, um zu verdeutlichen, dass sie die Fahrerlaubnis braucht. Als die Fahrerin auf Französisch fragt, ob sie die Fahrzeugpapiere brauche, und unvermittelt anfängt, in ihrer Handtasche zu suchen, versucht die Anwärterin, hastige Bewegungen der Fahrerin mit den Worten „Stopp! Stopp!“ zu unterbinden, bis der Kollege ihr das Zeichen gibt, dass er alles im Blick und unter Kontrolle hat. Nun nickt die Beamtin der Frau zu und ermutigt diese, weiter nach ihren Papieren zu suchen. Im übrigen Verlauf der Kontrolle spricht die Anwärterin konsequent weiter Deutsch: „So, der Kollege wird die Papiere jetzt kontrollieren und wir warten jetzt hier.“ Nach der Überprüfung der Papiere fordert sie die Fahrerin auf, aus dem Pkw auszusteigen: Dies macht sie ebenfalls auf Deutsch; sie wiederholt das Gesagte zudem zweimal und arbeitet unterstützend mit Handzeichen, um zu suggerieren, dass die Fahrerin aussteigen soll. Nun geht die Anwärterin zum Kofferraum und bittet die Fahrerin, die ihr gefolgt ist, den Kofferraum zu öffnen: „Machen Sie bitte den Kofferraum auf; Kofferraum, aufmachen.“ Das Gesagte unterstreicht sie, indem sie pantomimisch das Öffnen des Kofferraums nachspielt. Die Fahrerin, welche die Anweisungen der Beamtin zumindest aus dem Kontext heraus – trotz der vorhandenen Sprachbarriere – zu verstehen scheint, kommt dieser unvermittelt nach. Als die Anwärterin nun die Papiere der Fahrerin überprüfen möchte, realisiert sie, dass ihr der Führerschein immer noch nicht vorliegt. Sie erklärt, dass sie drei Dokumente benötige: Sie zeigt die „ID-Card“ hoch, nickt mit dem Kopf und zählt sodann mit Unterstützung des Daumens laut „eins“; dann zeigt sie den Fahrzeugschein hoch, nickt erneut mit dem Kopf und zählt unter Vorzeigen von zwei Fingern laut „zwei“; anschließend sagt sie „Führerschein“ und zählt unter Vorzeigen eines weiteren Fingers laut „drei“. Nun geht die Fahrerin wieder zum vorderen Teil des Fahrzeugs, setzt sich auf den Fahrersitz und fragt auf Französisch, ob sie weiterfahren dürfe. Dies verneint die Anwärterin mit Kopfschütteln und sagt: „Nein, nein, Sie fahren jetzt noch nicht weg.“
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Die Beamtin leiht sich dann das Handy ihres Kollegen, benutzt Google-Translator, woraufhin aus dem Handy die Worte „Permis de conduire“ ertönen. Die Fahrerin, die dies versteht, beginnt unvermittelt, in ihrer Handtasche nach ihrem Führerschein zu suchen […] (Feldforschungsnotizen, November 2019, ETZ in Hessen). ◄ Die Dauer der Kontrolle beträgt ca. sieben Minuten. Während der kompletten Verkehrskon trolle spricht und agiert die Anwärterin auf empathische Weise, in angenehmer Tonlage und mit offener Körpersprache. Darüber hinaus spricht sie stets langsam, wiederholt das Gesagte mindestens einmal und unterstützt dieses mittels Mimik und Gestik, welche sie ebenfalls im Regelfall wiederholt. Später benutzt sie auch digitale Übersetzungsprogramme, um komplexere Begriffe zu kommunizieren. Obwohl sie anfangs klar an Eigensicherung orientiert war, wechselt sie allmählich zum Register Sprache, oder, in den Worten aus dem Interview mit einer anderen Polizeianwärter*in, in den „Kommunikationsmodus“. Die Eigensicherung bleibt trotzdem gewahrt, weil der sichernde Beamte sich durchgehend auf diesen Aspekt polizeilichen Handelns konzentriert und der Anwärter*in dadurch ermöglicht, sich fast ausschließlich auf die Kommunikation einzulassen. Trotz der Asymmetrie von Polizei-Bürger-Gesprächen gelingt es der Beamtin, der Fahrerin Wertschätzung, Geduld und Verständnis entgegenzubringen, welche eher für sozial gerahmte Konversationen üblich sind als für institutionell gerahmte Gespräche (Shon 2005, S. 834). Dies ist nicht selbstverständlich, da Polizeibeamt*innen in der Regel eine deutliche Präferenz für „institutional talk“ anstatt für „social talk“ aufweisen (ebd., S. 835): „The ordinary and routine speech acts that police officers make, such as requesting, advising, warning, and threatening […] are not ‚exchanged‘ but ‚delivered‘“ (ebd., S. 830). Die Beamtin setzt vorliegend auf das Register Sprache, ohne jedoch in dieser Situation an Autorität einzubüßen. Muir argumentiert, dass Sprachkompetenz und Eloquenz eine der wichtigsten Schlüsselkompetenzen von Polizeibeamt*innen darstellt: „The crux of police work is that ability to talk to people […]. There were many uses of eloquence – it was the key to taking charge in public.“ (1977, S. 227). Die Bereitschaft, sich kommunikativ auf das polizeiliche Gegenüber einzulassen, ist nach Muir maßgeblich für eine erfolgreiche Polizistin oder einen erfolgreichen Polizisten und mit ihr bzw. mit ihm für ein erfolgreiches polizeiliches Einschreiten. Dies erfordert einen Ausgleich zwischen dem körperlichen Zwang und empathischer Sprache (ebd.: S. 225). Für Muir, der im Rahmen seiner Studie vor allem junge Polizeibeamte bei ihrer Arbeit teilnehmend beobachtete, ist die professionelle Ausbildung eine Freude am Sprechen von essenzieller Bedeutung für Polizeiarbeit: Empathisch sprechen
Achieving a tragic sense and a moral claim under the threatening circumstances of patrol work depends in part upon developing an enjoyment of talk. Eloquence enriches his repertoire of potential responses to violence and permits him to touch the citizen’s souls – their hopes, their fears, their needs to be something worthwhile […] (1977, S. 4). ◄ Wenig überraschend wird die Interaktion von der Fahrerin anders wahrgenommen als im vorherigen Szenario:
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Zeugenaussage
„Das war wirklich eine angenehme Kontrolle. Sie [die Beamtin] war wirklich einfühlsam und empathisch; ich hab’ mich bei ihr gut aufgehoben gefühlt. Sie hat zwar nur Deutsch gesprochen, aber da sie Ruhe, Gelassenheit ausgestrahlt hat, hatte ich [Verkehrsteilnehmerin] das Gefühl, eine andere Basis zu ihr zu haben. Das hat sie gut gemacht, da wollte ich ihr natürlich helfen, es ihr nicht so schwermachen.“ (Feldnotiz vom 27.09.2019). (Feldforschungsnotizen, November 2019, ETZ in Hessen). ◄ Trotz der asymmetrischen Machtverhältnisse sind auch Polizeikontrollen letztlich Interaktionen, bei denen Polizist*innen auf die Kooperation der Bürger*innen angewiesen sind, wenn sie reibungslos verlaufen sollen. Der Erfolg polizeilicher Maßnahmen wird maßgeblich von der Mitwirkung, Hilfe und Kooperationsbereitschaft der Bürger*innen bestimmt (Waddington 1999, S. 8). Hiermit wollen wir nicht implizieren, dass die Handlungen der Beamtin als ideales Muster für jede/n Beamt*in und jede Situation gelten können. Wie Polizist*innen beide Register gewichten und wie sie kommunizieren – empathisch, autoritativ, sachlich –, ist abhängig von der spezifischen Situation, ihrem Charakter und ihrem Rollenverständnis, wie es auch im Beitrag dieses Bandes zu „Kontakt-Kompetenz“ beschrieben wird (Siehe Kap. „Kontakt-Kompetenz im polizeilichen Dienstalltag“). Muir schreibt dazu: Analyse
They [the police officers] differed in their vision of reality and, more particularly, in their views of human nature. […] Moreover, they were dissimilar in their feelings about the propriety of power. Some accepted the use of coercion in human affairs; others felt extremely uncomfortable about the employment of threats and reacted to power as a bad and unfortunate phenomenon. These […] men had dissimilar notions of „the police role“, of what they expected of themselves in doing their police work (1977, S. 14–15). ◄ Das Entscheidende ist jedoch, dass die Vermittlung von Sprachkompetenz die Möglichkeiten von Polizist*innen erweitert, Aufgaben situationsangepasst und im Sinne ihres spezifischen Rollenverständnisses zu begegnen. Im nächsten Abschnitt entwickeln wir, dass auch die Vermittlung von Gewaltkompetenz notwendig ist, um Register dynamisch wechseln zu können, also letztlich auch fundamental für gelungene Kommunikation bei polizeilicher Arbeit ist.
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ie Register Gewalt und Sprache im Einsatztraining – D Umschalten in beide Richtungen
Neben den von uns inszenierten Verkehrskontrollen haben wir auch eine teilnehmende Beobachtung im regulären Einsatztraining durchgeführt, um den Alltag – vor allem unter dem Aspekt der Vermittlung von sprachlichen Kompetenzen – des normalen Einsatztrai-
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nings zu erforschen. Die Szenarien im klassischen Einsatztraining sind fast ausschließlich darauf ausgerichtet, mit den Mitteln des körperlichen Zwangs gelöst zu werden. Beispiel
Zwei Polizeianwärter, ausgerüstet mit Rotwaffen, gehen vorsichtig zur Hausattrappe im Einsatztrainingszentrum. Gemeldet war eine Ruhestörung. Ein komplexes Szenario mit zwei Gegenübern entwickelt sich, die Polizeianwärter teilen sich auf. Gegenüber Nr. 2 reagiert nicht auf Ansprache. Als der Polizeianwärter es mit anderen Sprachen versucht („Do you speak English“), aber seine Aufmerksamkeit weiter auf Gegenüber Nr. 1 fokussiert, zieht Gegenüber Nr. 2 blitzschnell eine Rotwaffe und erschießt den Polizeianwärter (Feldforschungsnotizen, November 2019, ETZ in Hessen). ◄ Während in unserem Verkehrskontrollen-Szenario die Herausforderung das Umschalten auf Sprache als Einsatzmittel war, ist in diesem Szenario die Herausforderung die kontinuierliche Antizipation potenzieller Gewalt. Der Versuch des Polizeianwärters, das Szenario sprachlich zu lösen, wird vom Einsatztrainer dazu genutzt, ihm zu zeigen, dass er seine Aufmerksamkeit nicht sinnvoll fokussiert und seine Eigensicherung vernachlässigt. Diese Schwerpunktsetzung im Einsatztraining auf Eigensicherung und Gewaltkompetenz entspricht dem Lehrplan und auch der Rolle der Polizei als Gewaltspezialist der Gesellschaft (Waddington 1999, S. 15; Bittner 1978, S. 34). Wegen der kurzen Ausbildungszeit steht die Sicherung des eigenen Lebens im Vordergrund (Staller et al. 2019), vermittelt werden vorrangig Eigensicherung, Einsatztaktik, der rechtliche Kontext sowie die richtige Anwendung und Handhabung von Eingriffstechniken, Zwangs-, Führungsund Einsatzmitteln. Aus der Sicht vieler Einsatztrainer*innen ist nicht das Umschalten zum Register Sprache, sondern das „Umschalten zum Überleben“ das wichtigste Lernziel. Ein Einsatztrainer erklärte: „Das haben wir in unserer Gesellschaft verlernt … einen Amok läufer angreifen, während er das Magazin wechselt. Letztens hatten wir Messertraining, und die Anwärter haben sich abschlachten lassen. Sobald sie getroffen waren, haben die aufgegeben“ (Gesprächsnotiz, Februar 2020, ETZ Hessen). Aufgrund von langfristigen historischen Prozessen wird Gewalteinsatz in europäischen Ländern immer weitgehender als illegitim und inakzeptabel wahrgenommen (Schwerhoff 2004). Heutige Polizeianwärter haben, auch wegen der Anforderung eines hohen Bildungsabschlusses, oft wenig Gewalterfahrungen in ihrer Jugend gemacht und wenig Gewaltkompetenz entwickelt. Die vorrangige Herausforderung für Einsatztrainer ist es deshalb, das Potenzial von Gewalt gegen sie und Gewalt als Einsatzmittel zu normalisieren, also Gewalt zu einer professionellen Routine zu machen. Interessanterweise entspricht diese Konzeptionalisierung von Gewalt auch interaktionistischen und phänomenologischen Ansätzen in der Sozialwissenschaft, die – entgegen der zunehmenden gesellschaftlichen Mystifizierung und Moralisierung – Gewalt nicht normativ als eine spezifische körperliche Praxis beschreiben (Collins 2008, S. 24; Reemtsma 2008, S. 104). Der routinierte Umgang mit Gewalt wird im Einsatztraining über das körperliche Handeln vermittelt, ähnlich wie Tim Ingold Lehrmetho-
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den in vielen nichtwestlichen Gesellschaften beschreibt: „‚Understanding in practice‘, by contrast [to learning as knowledge aquisition], is a process of enskilment, in which learning is inseparable from doing, and in which both are embedded in the context of a practical engagement in the world“ (Ingold 2000, S. 416). Auch narrativ wird Gewalt im Einsatztraining als common-sense des polizeilichen Selbstverständnisses vermittelt: Polizeianwärter*innen sollen zu „Kämpfern“ werden, die Welt „draußen“ wird als gefährlich und unvorhersehbar dargestellt. Diese Vorstellungen werden von einigen Einsatztrainer*innen auch verkörpert, die teilweise aus Spezialeinheiten kommen und klassische maskuline Rollen einnehmen (siehe Behr 2008, S. 27). Andere Einsatztrainer*innen reflektieren den polizeilichen Gewaltgebrauch zunehmend selbstkritischer (siehe Kapitel [16] in diesem Band). Ziel der Routinisierung beim Umgang mit Gewalt ist es, dass Polizist*innen gefährlichen Ausnahmesituationen gewachsen sind. Gewalthandeln wird gleichzeitig als Praxis vermittelt, die rechtlich determiniert ist (für einen umfassenden Überblick siehe Kap. „Zwangsanwendung durch die Polizei – Der unmittelbare Zwang aus der Perspektive des Rechts“ in diesem Band). Im polizeilichen Jargon wird Gewalt in juristischen Begrifflichkeiten versprachlicht, als „Gefahr“ (durchs Gegenüber) und „körperlicher Zwang“ (als Einsatzmittel). Die Fähigkeit, Handlungen rechtskonform zu wählen und später anhand juristischer Kriterien (Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit) begründen zu können, wird in späteren Videonachbesprechungen und durch die Einbeziehung von Jurist*innen genauso detailliert eingeübt wie die Gewaltpraxis selbst. Sprachkompetenz in Interaktionen mit Bürger*innen wird in diesem Kontext gelehrt und eingeübt; Polizeianwärter*innen lernen spezifische Androhungen von Gewalt und Ansprache, die bei einer möglichen juristischen Aufarbeitung Rechtssicherheit herstellen sollen. Oder Sprache wird nicht als eigenständige, funktionierende Strategie zur Lösung von Situationen – wie es im Polizeialltag die Regel ist –, sondern als unterstützende taktische Handlung gesehen. Sprache wird dabei analog zur Gewaltanwendung gesehen: Ein Einsatztrainer erklärte: „Sprechen ist unsere stärkste Waffe. Wer spricht, kann einen nicht angreifen“ (Gesprächsnotiz, Dezember 2019, ETZ Hessen). Sprache im Einsatztraining ist also oft von taktischen und rechtlichen Logiken überformt und bestimmt. Orientierung für das Dilemma lehren Aber auch im Einsatztraining gibt es ein Bewusstsein für die Wichtigkeit eines kreativen Umgangs mit dem Register Sprache im Polizeialltag: Beispiel
Zwei Polizeianwärter halten vor dem Einsatztrainingszentrum einen Wagen an. Gegenüber Nr. 1 spielt einen Psychotiker, Gegenüber Nr. 2 seinen aufgeregten Bruder. Der Polizeianwärter nimmt Nr. 1 zur Seite, spricht sehr ruhig und aufmerksam mit ihm, behält aber gleichzeitig die Gesamtsituation im Auge und hält Abstände ein. Die Einsatztrainer ermöglichen die sprachliche Lösung des Szenarios. Bei der Nachbesprechung wird das „Runtersprechen“ als besondere Fähigkeit herausgehoben („auch noch
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eine gute B-Note“). Der Anwärter ist sichtlich stolz, die Situation auf diese Weise gemeistert zu haben, und erzählt von ähnlichen Erlebnissen im Praktikum (Feldforschungsnotizen, November 2019, ETZ in Hessen). ◄ Obwohl mit dem Begriff „B-Note“ auch deutlich gemacht wird, dass die sprachliche Kompetenz nur sekundär relevant ist, ermöglichen die Einsatztrainer*innen hier einen alternativen und alltagsnäheren Lösungsweg. Die in der Forschung schon länger geforderte Öffnung des Einsatztrainings für die Vermittlung solcher Kompetenzen wird in Ansätzen schon umgesetzt (Staller et al. 2019). Es werden beispielsweise Szenarien durchgespielt, bei denen die Erwartungen der Polizeianwärter*innen unterlaufen werden, indem statt eines Einbrechers ein kooperativer Obdachloser im durchsuchten Objekt auftaucht. Zentral ist dabei das Konzept „Overpacen“, das eigentlich aus der Sportpädagogik kommt, aber im Einsatztraining oft verwendet wird, um Polizeianwärter*innen darauf hinzuweisen, dass sie durch ihre Überbetonung von Eigensicherung und Zwang – also des Registers Gewalt – die Gefahr von gewalttätigen Auseinandersetzungen und rechtlichen Folgen erst hervorrufen. Auch Polizeisoziologen beschreiben, dass Polizist*innen im Alltag die Vermeidung von Gewalt durch soziale Fähigkeiten und Kreativität als spezifische Kompetenz professionellen Polizeihandelns verstehen (Lofthouse 1996, S. 45) Aus der Sicht vieler Einsatztrainer*innen ist jedoch die Gewaltkompetenz selbst eine wichtige Grundlage für sprachliche Praktiken, weil Polizist*innen nur auf dem Fundament dieser Kompetenz selbstsicher auftreten könnten. Gerade das nicht-lineare und dynamische Einsatztraining hat das Potenzial, individuelle Lösungsstrategien für das von uns beschriebene Dilemma zwischen den Registern Gewalt und Sprache angemessen zu vermitteln. Grundlegendes Element des Konzepts ist es, dass es nicht eine Schubladenlösung gibt, sondern dass jede/r Polizeianwärter*in in offenen Szenarien für sie/ihn passende Praktiken entwickelt (Körner und Staller 2018). Auch bei der Gewichtung und Auswahl beider Register gibt es für alle Polizist*innen dasselbe Dilemma, aber ein Kontinuum von Antworten. Diskursive Selbst- und Fremdbeschreibungen reichen von Schutzpolizist*innen, die aus Karrieregründen oder Bequemlichkeit jedem Konflikt ausweichen, bis zu Beamten*innen der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten, die „Probleme lösen“. Im polizeilichen Alltag gibt es jedoch für alle Polizist*innen die Notwendigkeit, zwischen den Registern Gewalt und Sprache rechtskonform und situationsangepasst zu wechseln und sie sinnvoll auszutarieren. Ziel im Einsatztraining sollte es sein, zusätzlich zu den bisherigen Einsatzmitteln auch Kommunikation als wirksame Praxis zur Lösung von Einsätzen zu vermitteln, wie auch andere Beitragende in diesem Band überzeugend zeigen (siehe Kap. „Kommunikation in der Anwendung“ und Kap. „Polizeiliche Kommunikationsfähigkeit und deeskalative Handlungskompetenz – Grundlagen und Potential des Einsatztrainings“). Wichtig ist dabei, Anwärter*innen erstes Erfahrungswissen zu individuell funktionierenden Praktiken im Umgang mit dem grundsätzlichen Dilemma mitzugeben. Die spezifische Herausforderung ist, für diese Kompetenz auch spannende Vermittlungsformen zu finden und dabei die Nichtlinearität, Offenheit und Alltagsnähe weiter zu erhöhen.
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Fazit Im polizeilichen Alltag müssen Polizist*innen mit dem Dilemma umgehen, dass Eigensicherung und körperlicher Zwang die sprachliche Kommunikation be- oder verhindern und zu Missverständnissen führen können. Nichtlineares Einsatztraining, das neben gewaltförmigen auch sprachliche Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten beinhaltet, ermöglicht es den Anwärter*innen, ihre Handlungsrepertoires zu erweitern und auf Grundlage ihres individuellen Rollenverständnisses weiterzuentwickeln. Dies kann Polizist*innen dabei unterstützen, rechtskonform und situationsangepasst zwischen beiden Aspekten ihrer Arbeit umzuschalten und beide sinnvoll auszutarieren. Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Aus den Ergebnissen der Studie lassen sich Handlungsempfehlungen für die Ausbildung von Einsatztrainer*innen, das Einsatztraining im Rahmen der Aus- und Fortbildung sowie die Bewältigung realer Einsatzlagen ableiten. • Aufgrund der Tatsache, dass das Einsatztraining erst in den letzten Jahren verstärkt wissenschaftliches Interesse aus verschiedensten Richtungen erfährt, wurden bisher im Einsatztraining folglich Handlungsformen unterrichtet, denen wenig Evidenz zugrunde lag. Vielmehr basierten Priorisierungen der Themenbereiche und Methoden auf Bauchentscheidungen und historisch gewachsenen Selbstverständlichkeiten. Handlungsmuster für Problemlösungen wurden durch die Lebensläufe und Erfahrungen der Einsatztrainer geprägt, welche meist aus spezialisierten Bereichen (Spezialeinheit, Ju-Jutsu, Schießsport) kamen und versuchten, diese auf jeden Trainierenden zu übertragen (Staller et al. 2019). Einen großen Einfluss auf gelehrte Taktiken und Techniken hatte sicherlich die in den 1990er-Jahren aufkommende Einsatztrainerbewegung, hier wurden durch die deutschen Polizeitrainer*innen unreflektiert Handlungsmuster aus den USA übernommen, obwohl die Sicherheitslage nie vergleichbar war und Gewalttaten in Deutschland mittlerweile sogar rückläufig sind.3 Auch heute noch wird ein großer Teil des Einsatztrainer*innenwissens durch das Internet, z. B. über YouTube, erworben (Staller et al. 2019). Alle Institutionen, die sich mit dem Themenbereich Einsatztraining beschäftigen, sollten regelmäßig einer objektiven Analyse unterzogen werden. Die Fragestellung sollte sein: „Entsprechen die gelehrten Inhalte noch den gegenwärtigen gesellschaftlichen Normen und der rechtlich herrschenden Meinung?“
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BKA (2019), PKS.
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• In den Lizenzlehrgängen und der Ausbildung von Einsatztrainer*innen sollte vermehrt Wert auf Kommunikation, Konfliktlösung, pädagogische Grundkenntnisse und interkulturelle Kompetenzen gelegt werden. Ein Durchbrechen der bisherigen Auswahlmodalitäten und Erwartungshaltungen an neue Einsatztrainer*innen ist unumgänglich. Einsatztrainer*innen müssen die Themengebiete (Selbstverteidigung, Taktik usw.) des Einsatztrainings selbst nicht perfekt beherrschen, jedoch in der Lage sein, in den Trainingssettings die Kompetenzen zielführend und gewinnbringend zu vermitteln. Der Schwerpunkt im Einsatztrainer*innenlehrgang sollte eine Veränderung erfahren. Die Schießausbildung steht hier bisher im Vordergrund und nimmt einen enormen Raum ein, hingegen kommen erfolgreiche Kommunikationsstrategien nicht vor.4 Die Ausbildung von Einsatztrainer*innen sollte vermehrt mit anderen Fachgebieten kombiniert werden – insbesondere der Psychologie und den Sozialwissenschaften. • Eine Betreuung der Studierenden durch Einsatztrainer*innen oder besonders versierte Praxisausbilder*innen während der Praktika, d. h. in realen Einsatzlagen, ermöglicht ein realistisches und direktes Feedback und trägt zum unmittelbaren Kompetenzerwerb in der repräsentativen Einsatzumgebung bei. Dazu müssen die Praxisausbilder*innen stetig auf dem Gebiet Konfliktlösung und Einsatztraining weitergebildet werden. • Den sprachlichen Barrieren kann durch eine Vermittlung von nonverbalen Verständigungsmethoden sowie die Bereitstellung von Hilfsmitteln (Übersetzer, visuelle Unterstützung) entgegengewirkt werden. Zusätzlich sollten die Fremdsprachenangebote in der Aus- und Fortbildung ausgebaut werden. b) Einsatzkräfte Eine Umsetzung dieser – zugegebenermaßen nur langfristig verwirklichbaren – Handlungsempfehlungen professionalisiert polizeiliches Handeln, minimiert gewaltgeprägte Konfliktsituationen und würde somit gleichzeitig das Ansehen und die Akzeptanz einer „neuen kommunikativen Polizei“ in der Bevölkerung steigern. c) Einsatztrainer*innen • Viele Lehr- und Lernsettings sollten auch durch Kommunikation lösbar sein und eine sofortige Gewaltanwendung sollte sich verbieten. Der/Die Trainierende muss auch die Erfahrung machen, mit guter Gesprächsstrategie zum Erfolg zu kommen. Gleichzeitig sollte aber durch plötzliche Lageänderungen (Angriff) eine automatisierte Gewaltanwendung abgerufen werden können.
4
HPA (2017). Neukonzeption der Einsatztrainer-Aus- und Fortbildung Polizei Hessen.
Sprach- und Gewaltkompetenz im Einsatztraining
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Beispielsetting: Im Rahmen einer gemeldeten Ruhestörung wird eine verwirrte und augenscheinlich psychisch kranke Person angetroffen, welche offensichtlich mit einem Messer hantiert, von der jedoch im Moment keine konkrete Gefahr ausgeht. Die wiederkehrende Integration von mehrsprachigen Settings ins Einsatztraining, das bedeutet die Darstellung von nicht Deutsch oder Englisch sprechenden Bürgern*innen. Dies fördert die nonverbale Verständigung und führt zur Ideenvielfalt in solchen Situationen. Beispielsetting: In einer Bedrohungslage soll eine verletzte Person aus dem Treppenhaus vor der Wohnung des Gefährders gerettet werden. In dem Treppenhaus wird aber nicht nur die verletzte Person aufgefunden, sondern auch eine offensichtlich Japanisch sprechende Person (oder jede andere imitierbare Sprache, die von den Trainierenden nicht gesprochen wird), welche nicht auf deutsche oder englische Ansprachen reagiert, aber immer wieder versucht, sich mitzuteilen. Regelmäßige Perspektivenwechsel der Trainierenden in die Rolle der Darsteller*in/Simulator*in, um selbst zu empfinden, wie abwertend das Abspulen restriktiver polizeilicher Handlungsmuster sein kann, wenn der Wille zu einem kommunikativen Handeln auf Polizeiseite nicht vorhanden ist, oder wie positiv sich eine gute Kommunikation anfühlt (Füllgrabe 2017). Beispielsetting: Die Lage „Einbrecher am Werk“ wird in vielen abgeänderten Szenarien geübt. Die/der Einbrecher*in ist ein/e Mittrainierende/r, die/der vorher eine Einweisung mit Setting-Karten (Feedback geben, Anweisungen folgen, schauspielerische Vorgaben) erhält. Im Verlauf des Trainings stellt die/der Darsteller*in eine wenig Deutsch sprechende Putzkraft/Hausmeister*in (Besen usw.) dar. Durch Vorprägungen im bisherigen Einsatztraining wird dieses fast ausschließlich mit Gewaltanwendung assoziiert. Variierende und nicht vorhersehbare Szenario-Lösungen können das verändern; hierzu muss das Einsatztraining interdisziplinär verknüpft werden. So könnten andere Fächer (Psychologie, Englisch) gewalthaltige Inhalte aufweisen. Der Bereich „Gewalt“ würde somit nicht mehr automatisch dem Einsatztraining zugeordnet werden. Hierzu bedarf es sowohl einer Umstrukturierung des Curriculums als auch der Fortbildungskonzepte im Einsatztraining – weg von isolierten Trainingsformen zu nicht-linearen, und somit das ganze Handlungsspektrum umfassenden, Trainingssettings. Um das gesetzte Lernziel zu erreichen, muss „der Weg“ zum Lernziel offen gestaltet sein, Raum für verschiedene Lösungsmöglichkeiten bieten und darf nicht (überproportional) durch die Handlungsmuster der Einsatztrainer*innen beeinflusst werden. Beispielsetting: Während einer simulierten Verkehrskontrolle im Englischunterricht zieht die/der Fahrer*in unvermittelt eine Schusswaffe (Blanks).
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J. Beek et al.
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Sprach- und Gewaltkompetenz im Einsatztraining
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Zur Vorbereitung auf Gewalt im Einsatz Clemens Lorei
Inhaltsverzeichnis 1 E inführung 2 Ziele der Vorbereitung auf Gewalt 3 Polizei & Gewalt 3.1 Polizei als Zeuge von Gewalt 3.2 Polizei als Opfer von Gewalt 3.3 Polizei als Gewalt-Ausübende 4 Gewaltbereitschaft 4.1 Gewalt & Gesellschaft 4.2 Gewalthemmung bei Polizeibeamt*innen 4.3 Polizeianwärter*innen als Mensch 5 Vorbereitung auf den Einsatz von Gewalt 5.1 Prävention 5.2 Realistisches Lagebild 5.3 Reflexion, mentales Training, intellektuelle Beschäftigung 6 Handlungsfähigkeit vorbereiten 6.1 Realistisches Einsatztraining 6.2 Taktische Stressbewältigung 6.3 Realitätstaugliches Wissen Literatur
734 735 736 736 737 738 738 738 740 741 741 741 742 743 744 745 746 746 749
Reviewer: Eric Haupt, Valentina Heil, Henning Staar C. Lorei (*) Fachbereich Polizei, Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung, Wiesbaden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_39
733
734
C. Lorei
Zusammenfassung
Der Arbeitsalltag der Polizei ist untrennbar mit Gewalt verbunden. So kommen Polizeibeamt*innen zu Tatorten, an denen Gewalt zwischen Bürger*innen ausgeübt wurde oder sogar noch stattfindet. Hier nehmen sie gewalttätige Handlungen und deren Folgen wahr. Andererseits erfahren Polizeibeamt*innen auch selbst Gewalt. Die aktuelle öffentliche Diskussion thematisiert diese Form der Gewalterfahrung intensiv. Beide Arten von Erlebnissen muss ein/e Polizist*in bewältigen. Damit beschäftigt man sich in Wissenschaft und Praxis bereits eingehend. Weniger Aufmerksamkeit wird einem dritten Bereich geschenkt, in dem Polizeibeamt*innen mit Gewalt umgehen müssen: dem Ausüben von Gewalt. Hier müssen eine professionelle Gewaltbereitschaft, ein reales Bild von unterschiedlichen Gewalteinsätzen und eine hohe Handlungskompetenz geschaffen werden. Dies kann u. a. im Sinne einer Traumaprävention verstanden werden. Der Beitrag skizziert Aspekte dieser Thematik. Zunächst wird die Ausgangsposition von angehenden Polizeibeamt*innen beschrieben. Hier wird vor allem auf eine allgemeine Hemmung, Gewalt auszuüben, sowie auf Spezifika von Berufsanfänger*innen eingegangen. Ergänzend werden wissenschaftliche Erkenntnisse zur Gewaltbereitschaft von Polizeibeamt*innen angeführt. Anschließend werden unterschiedliche Ansätze beschrieben, die eine professionelle Auseinandersetzung und Vorbereitung mit einem eigenen Gewalteinsatz initiieren sollen. Neben klassischer Psychoedukation und dem Einsatztraining mit unterschiedlichen psychologischen Inhalten und Aspekten, sind dies vor allem eine mentale Vorbereitung sowie der Aufbau von Wissen am Beispiel des Schusswaffengebrauchs.
1
Einführung
Der Arbeitsalltag der Polizei ist mit Gewalt verbunden. Diese Berufsgruppe ist die Exekutive des staatlichen Gewaltmonopols, sie interveniert, wenn Gewalt illegitim ausgeübt wird oder wurde und ist nach sogenannten Polizeigesetzen selbst legitimiert, Gewalt auszuüben (z. B. Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung – HSOG, vierter Abschnitt Zwang oder z. B. Polizeigesetz des Landes Nordrhein-Westfalen – PolG NRW, vierter Abschnitt Zwang). Somit beinhaltet – und das nicht nur randständig, sondern zentral – Polizeiarbeit drei Erfahrungsperspektiven von Gewalt. Polizeibeamt*innen sind Zeug*innen von Gewalt und deren Folgen. Polizeibeamt*innen sind Personen, gegen die sich Gewalt richtet, und Polizeibeamt*innen sind eine Berufsgruppe, die nach Polizeigesetzen professionell Gewalt gegen Bürger*innen ausüben darf, um unter gewissen Umständen und Bedingungen Handlung, Duldung oder Unterlassung zu erzwingen (z. B. § 47, Abs. 1 HSOG). Dies macht ihr „Alleinstellungsmerkmal“ aus (Groß 2019). Gewalt ist also unstrittig ein wesentlicher Teil des Arbeitsalltages von rund 250.000 Vollzugsbeamtinnen und -beamten in Deutschland (Groß 2019). Eine Vorbereitung darauf ist zwingend zu leisten.
Zur Vorbereitung auf Gewalt im Einsatz
2
735
Ziele der Vorbereitung auf Gewalt
Gewalterlebnisse unterschiedlicher Art (erleben, erfahren und ausüben) im Rahmen der Polizeiarbeit stellen für Polizeibeamt*innen hohe Belastungen dar und werden in Untersuchungen regelmäßig als sehr bedeutsame Stressoren genannt (Violanti und Aron 1994; Wössner und Binninger 1997; Klemisch et al. 2005). Diese hohen Belastungen müssen von Polizist*innen adäquat bewältigt werden, um gesund zu bleiben (Neugebauer und Latscha 2009). Eine Vorbereitung auf Gewalt ist also als Prävention zu verstehen. Darüber hinaus muss Polizei auch professionell arbeiten. Dies erfordert, dass der Einsatz von Gewalt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt. Er muss somit ein legitimes Ziel verfolgen und geeignet, erforderlich sowie dem Zweck der Maßnahme angemessen sein. Die Polizei als Exekutive des staatlichen Gewaltmonopols muss notwendige Gewalt als unmittelbaren Zwang professionell einsetzen. Dies bedeutet, sie muss gewaltbereit sein und diesen Zwang nach rationaler Entscheidung verhältnismäßig (im rechtlichen Sinne) anwenden. Sie soll also Gewalt nur einsetzen, wenn dies sein „muss“, also erforderlich ist; nur solche Gewalt, derer es zwingend bedarf, und davon nur so viel, wie notwendig ist, und nur so lange diese ausüben, wie es erforderlich ist. Der professionelle Gewalteinsatz ist also eine polizeiliche Verhaltensoption, die rational gewählt werden soll und nicht auf emotionalen Ursachen wie Angst oder einer Hilflosigkeit basieren darf. Doch Handeln in solchen Situationen scheint, insbesondere im fortgeschrittenen Eskalationsverlauf, häufig mehr emotionalen Aspekten denn rationalen Abwägungen zu folgen (Ohlemacher et al. 2008). Solche Überlagerungen des rationalen Vorgehens durch subjektives Empfinden können dann fatale Folgen haben (Feltes 2011). Wie häufig dies vorkommt, ist relativ unklar, denn „gesicherte Erkenntnisse zu Formen und Verbreitung illegitimer Gewalt durch Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamte“ sind in Deutschland nur einzeln, wie zum Beispiel die Studie von Abdul-Rahman, Espín Grau und Singelnstein (2020), vorhanden (Görgen und Hunold, 14.12.2020). In der Polizeilichen Kriminalstatistik verzeichnet das Bundeskriminalamt für 2019 insgesamt 1500 Fälle von Körperverletzung im Amt gemäß § 340 StGB (BKA, Juni 2020), welche jedoch nicht die faktische Lage von polizeilichen Gewaltübergriffen widerspiegelt, sondern eher eine Tendenz darstellt, die dieser Art von Statistik immanent ist (Görgen und Hunold, 14.12.2020). Ein objektives und umfassendes Bild übermäßiger Polizeigewalt und von Missbrauchsfällen in Deutschland zu zeichnen, erscheint nach Angaben von Amnesty International (Juli 2010) aber nicht möglich, da in Deutschland die Ermittlungsmethoden und -abläufe in solchen Fällen dies nicht zuverlässig zuließen. Grundlage für rationales Handeln sind ein realistisches Bild von unterschiedlichen Gewalteinsätzen, eine hohe Handlungskompetenz und eine professionelle Gewaltbereitschaft. Die Vorbereitung auf den Einsatz von Gewalt erfolgt dann mit dem Ziel, genau das richtige Maß an Gewalt einzusetzen. Diese stellt dabei eine Gratwanderung dar zwischen übertriebenem, exzessivem Gewalteinsatz, der aus der Beeinträchtigung der Rationalität durch Emotionalität herrühren kann (Feltes 2011), und einem Nicht-Handeln (Paralyse).
736
C. Lorei
Beide Extreme entsprechen nicht einem professionellen polizeilichen Handeln und sind zu vermeiden. Dieser Gratwanderung muss man sich bewusst sein, da es ein Leichtes ist, angehende Polizeibeamt*innen in die eine oder andere extreme Richtung zu führen (Grossman 1996). Anspruchsvoll hingegen erscheint die professionelle Gewaltbereitschaft. Sie umfasst neben motorischen (z. B. Fertigkeiten des Schießens und der Selbstverteidigung) vor allem psychologische Aspekte.
3
Polizei & Gewalt
3.1
Polizei als Zeuge von Gewalt
Polizei wird regelmäßig Zeuge von Gewalt und seinen Folgen, wenn sie z. B. zu Tatorten von Gewaltverbrechen kommt, in Fällen von häuslicher Gewalt interveniert oder auch Anzeigen von Opfern aufnimmt. Dies ist hoch belastend (Violanti und Aron 1994; Wössner und Binninger 1997; Klemisch et al. 2005) und kann hat gesundheitliche Folgen haben (Arndt und Beerlage 2014). Das Erleben von Gewalt gehört in allen Studien zu den am meisten genannten Stressoren und somit ist die Rolle der Zeug*in von Gewalt eine Hauptquelle des operativen Stresses der Polizeiarbeit (Lorei et al. 2014). Sie kann unter Umständen zu einer klinisch relevanten Traumatisierung führen, da das Beobachten von Gewalt ein potenzieller Faktor und Kriterium einer Posttraumatischen Belastungsstörung ist (Falkai und Wittchen 2020). Vage Schätzungen gehen davon aus, dass insgesamt zwischen 1 und 35 % der Polizistinnen und Polizisten traumatisiert werden (Arndt und Beerlage 2014). Ein Aspekt ist auch, dass Polizei mitunter erst nach der Tat zum Tatort kommt und diese somit nicht verhindern kann. In anderen Fällen kann sie Gewalt nur temporär unterbinden, aber womöglich nicht dauerhaft verhindern. Auch kann sie die Folgen von Gewalt nicht beheben. Polizei kann also mitunter nicht umfassend helfen, sondern nur in Teilen. Da Helfen aber ein Aspekt der Berufsmotivation von Polizeianwärter*innen ist (Liebl 2003), kann diese Erfahrung „nicht-Helfen-zu-können“ sehr belastend sein. Aber auch ohne eine pathologische Ausprägung als Folge hat das Erleben von Gewalt Konsequenzen. Das Weltbild eines/r Polizeibeamt*in kann sich verdunkeln, Feindbilder und Stereotype werden eventuell entwickelt, es kann zu einer Spaltung in „die“ und „wir“ kommen sowie zu einem allgemeinen Vertrauensverlust in andere Menschen (Ellrich und Baier 2017). Als Folge sind Unzufriedenheit, aber auch ein wenig bürger*innenorientieres Handeln, Zynismus (auch als Teil von Burn-outs), Diskriminierung und Fehlverhalten möglich. Mitunter werden Gewalterlebnisse im Dienst im Sinne des sozialen Lernens als ein Aspekt für eine erhöhte Rate von häuslicher Gewalt bei amerikanischen Polizist*innen (Anderson und Lo 2011) angeführt. Auch Polizeisuizide können mit den dienstlichen Erfahrungen in Verbindung gebracht werden (Stein 2004).
Zur Vorbereitung auf Gewalt im Einsatz
3.2
737
Polizei als Opfer von Gewalt
Opfer von Gewalt zu werden ist regelmäßig eine wesentliche Ursache für Belastungen und Traumatisierungen. Entsprechendes gilt selbstverständlich auch für die Polizei (Arndt und Beerlage 2014). Die Thematik Polizeibeamt*innen als Opfer von Gewalt ist dabei aktuell, aber nicht neu. Die Forschung auf diesem Gebiet in Deutschland ist zwar nicht sehr ausgeprägt, wird aber bereits mindestens 40 Jahre betrieben. Sessar et al. (1980) beschäftigten sich mit den Umständen der Tötung von Polizist*innen. Jäger (1994) betrachtete das Phänomen eher allgemein. Studien des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachen (Ohlemacher et al. 2003; Ellrich et al. 2012; Ellrich und Baier 2014) folgten. Mitunter bezogen sich die Analysen nur auf einzelne Bundesländer (Jager et al. 2013 für Nordrhein- Westfalen; Elsner und Laumer 2015 für Bayern). Letztlich zeichnet das Bundeskriminalamt ein Bundeslagebild der Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamte (BKA 2019) aufgrund der Polizeilichen Kriminalstatistik. Trotz der hohen Bedeutung, der intensiven emotionalen Diskussion und mittlerweile schon langen Zeit der Thematik, existiert keine systematische, detaillierte, übergreifende, kontinuierliche und transparente Statistik. Liebl (2016) sieht entsprechend „weiße Flecken“ auf diesem Forschungsfeld in Deutschland. Dabei ist eine Vernachlässigung der situativen Aspekte von Angriffen auf Polizist*innen (Puschke 2014) sowie der Interaktion (Liebl 2016) festzustellen, während die Interaktion in der internationalen Forschung ausführlich thematisiert wird (Görgen und Hunold, 14.12.2020). Gewalt gegen Polizeibeamt*innen ist alles andere als wissenschaftlich durchdrungen. Dabei stellt Behr (2019) für Gewalt allgemein fest, dass Gewaltwahrnehmung und Gewaltvorkommen auseinanderdriften. Betrachtet man Medienberichte sowie die öffentliche und polizeiliche Diskussion Gewalt gegen Einsatzkräfte allgemein und gegen Polizeibeamt*innen insbesondere, scheint sich die Lage zu verschärfen. Neben einer möglichen Eskalation der Situation der Einsatzkräfte können unterschiedliche Gründe herangezogen werden, warum sich die Lage subjektiv verschlimmert. Unter anderem spielt ein massives Medieninteresse eine Rolle, welche das Thema dauerhaft sehr präsent hält. Neben der regelmäßig dort propagierten Gewaltzunahme, welche wissenschaftlich als nicht ausreichend belegt angesehen wird (Puschke 2014), führt auch die damit einhergehende mögliche Überrepräsentation in den Medien zu einem „Zunahmegefühl“ im Sinne der Verfügbarkeitsheuristik (Tversky und Kahnemann 1973). Zu Verzerrungen können unterschiedliche, mitunter gegenläufige Trends der verschiedenen Aspekte von Gewalt gegen Polizeibeamten*innen führen. Während also vielleicht massivere Gewaltformen wie Arten der Körperverletzung in ihrer Häufigkeit abnehmen, könnten sie durch einen erheblichen Anstieg milderer Gewalt in Form von Beleidigungen in Summe „Gewalt“ überlagert werden (vgl. Liebl 2016). Wenn man dann dabei noch den Anstieg von Beleidigungen als gesellschaftliche Entwicklung mit eventuell eher geringem Bezug zur Polizei ansieht (vgl. Liebl 2016), so stellt sich der Anstieg von Gewalt gegen Polizeibeamt*innen womöglich anders dar, als er spontan nahelegen würde. Alles in allem führt die emotionale Diskussion neben den unmittelbaren und mittelbaren psychischen Folgen von Gewalt aber auch möglicherweise zu Einstellungen
738
C. Lorei
und Annahmen, die ein professionelles Einsetzen von Gewalt gegen polizeiliches Gegenüber beeinträchtigen. Hermanutz (2015) konnte entsprechend in seiner Untersuchung zu Gewalt gegen Polizeibeamt*innen zeigen, dass eine Gefahr von sich selbst erfüllender Prophezeiung (Merton 1968) besteht. Wenn Polizeibeamte von vornherein eine Gewaltbereitschaft voraussetzen, so laufen sie Gefahr, durch ihr eigenes Verhalten einen nicht unerheblichen Beitrag zur Eskalation von Gewalt zu leisten, indem sie entsprechend rigide an die betreffenden Personen herantreten. Entsprechend muss eine Vorbereitung auf einen professionellen Gewalteinsatz auch ein realistisches Bild der Realität in diesem Bereich zeichnen.
3.3
Polizei als Gewalt-Ausübende
Polizei ist eine Berufsgruppe, die legal Gewalt ausüben darf und soll. Auch dies ist Forschungsgegenstand (z. B. Binder und Scharf 1980; Scharf und Binder 1983; Bosold 2006; Abdul-Rahman et al. 2019). Dabei kann auch das eigene Ausüben von Gewalt belasten, wie Polizeibeamt*innen in Befragungen immer wieder angeben (Lorei et al. 2014), und auch Traumatisierungen von Einsatzkräften hervorrufen. In einer Gesellschaft, in der Gewaltfreiheit propagiert wird, ist das Ausüben von Gewalt eben nicht trivial. Vielmehr muss das Anwenden von professioneller Gewalt sowohl körperlich als auch psychisch gelernt werden. Dies umfasst die Rahmenbedingungen wie das Recht, die unterschiedlichen motorischen Ausführungen, aber auch psychologische Aspekte. Letztere scheinen noch mitunter weniger elaboriert. Insgesamt scheinen aber alle Aspekte in den Curricula der Polizeistudiengänge angeführt (Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung, 20.09.2016). Nachfolgend sollen einiger diese Aspekte angesprochen werden.
4
Gewaltbereitschaft
In der Polizeiausbildung werden waffenlose Fertigkeiten wie auch der Umgang mit Waffen motorisch und taktisch sowie rechtlich geschult (z. B. Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung, 20.09.2016). Dabei wird scheinbar wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass es für eine entsprechende Anwendung im Einsatzfall vor allem auf diese Aspekte ankommt. Jedoch setzt dies die Bereitschaft voraus, Gewalt anzuwenden. Diese ist nicht selbstverständlich vorhanden oder im professionellen Ausmaß ausgeprägt.
4.1
Gewalt & Gesellschaft
Medien vermitteln unentwegt den Eindruck, dass Gewalt ubiquitär und alltäglich sei. Häufig werden dabei auch zunehmende und intensivierende Tendenzen propagiert, welche bei der Betrachtung der „Fakten“ im Hell- und Dunkelfeld nicht so eindeutig bestätigt werden
Zur Vorbereitung auf Gewalt im Einsatz
739
(vgl. Kury 2010). Das Bundeskriminalamt (BKA) stellt in seiner Polizeilichen Krimi nalstatistik (PKS) (Juni 2020, S. 166) fest, dass der Rückgang der Gewaltkriminalität sich auch 2019 wieder fortgesetzt hat (siehe Abb. 1). Über Entwicklungen in der PKS hinaus wird Gewalt in der Gesellschaft allgemein negativ gesehen und dagegen aus unterschiedlichen Perspektiven präventiv wie auch mittels Interventionen vorgegangen. Für entsprechend sozialisierte Polizeibeamt*innen ergibt sich eine paradoxe Situation: Sie sollen unter Umständen Gewalt einsetzen, um eine gewaltfreie oder -arme Gesellschaft zu schützen. Also genau im Dienste des Staates das tun, was die Gesellschaft ablehnt und verpönt. Womöglich kann dabei aber die rechtliche Erlaubnis die moralischen Bedenken kaum übertönen. Dann können Hemmungen vorhanden sein, Gewalt auszuüben (Nolting 2005). Entsprechend finden sich für die extremste Form des Gewalteinsatzes – die Tötung eines anderen Menschen – verschiedene fördernde und hindernde Faktoren (vgl. Lorei 2003). Ein wesentlicher Faktor, der Menschen an der Tötung eines anderen Menschen hindert, könnte die Existenz einer Tötungshemmung sein. Unabhängig, ob diese angeboren oder sozial erworben ist, scheint eine Vielzahl der Menschen in der Gegenwart und auch nicht so alten Vergangenheit diese hindernden Tendenzen zu besitzen. Grossmann (1996) führt dafür zahlreiche militärhistorische Belege an.
Abb. 1 Entwicklung ausgewählter Delikte der Gewaltkriminalität (BKA, Juni 2020, S. 167)
740
4.2
C. Lorei
Gewalthemmung bei Polizeibeamt*innen
Weil der Polizeiberuf wie oben dargelegt selbstverständlich mit Gewalt verbunden ist und die Forschung auch Entsprechendes diskutiert (z. B. Bosold 2006; Abdul-Rahman et al. 2019), überrascht viele die Frage, ob eine Hemmung, Gewalt in extremer oder auch milderer Form einzusetzen, auch bei Polizeibeamt*innen vorhanden sein kann. Ausgehend davon, dass Polizeibeamt*innen der „Normalbevölkerung“ entstammen und damit regelmäßig die allgemeine ablehnende Haltung gegenüber Gewalt mitbringen, erfolgt die Formung der Gewaltbereitschaft durch Ausbildung, Sozialisation und Erfahrung. Dies allerdings wenig entsprechend curricularen Plänen, sondern eher beiläufig und mitunter wenig zielgerichtet. Dabei zeigt die Forschung, dass das Absolvieren eines Studiums, um Polizeibeamt*in zu werden, dazu führt, dass die Wahrscheinlichkeit eines Gewalteinsatzes durch die studierte Person sinkt (Rydberg und Terrill 2010). Unklar ist in dieser Forschung, ob Konflikte im Polizeieinsatz durch die Anwendung alternativer Lösungswege wie Kommunikation bewältigt werden oder dies durch eine Modifikation der Hemmung erzielt wird. Für Letzteres spricht, dass sich nach dem Polizeistudium in der ersten Zeit der Praxis eine Abnahme ethischer Standards finden lässt (Alain und Grégoire 2008). Es finden sich auch empirische Ergebnisse, dass Polizeibeamt*innen keineswegs immer Gewalt einsetzen, wenn dies möglich oder sogar erforderlich ist. Binder und Scharf (1980) bzw. Scharf und Binder (1983) untersuchten Polizeieinsätze, in denen ein polizeilicher Schusswaffengebrauch möglich war, aber nicht stattfand. Dies deutet darauf hin, dass Polizeibeamt*innen in Situationen, in denen sie durchaus schießen dürfen, nicht schießen und damit vermeiden, eine intensive Form von Gewalt einzusetzen. Pinizotto et al. (2012) berichten noch einschlägigere Daten. Hier wurde in 1102 Fällen, in denen – rechtlich gesehen – ein Schusswaffengebrauch für Polizeibeamt*innen möglich gewesen wäre, nur in 7 % der Fälle auch geschossen. Dies zeigt, dass es keineswegs selbstverständlich ist, massive Gewalt einzusetzen, wenn dies möglich ist. Ellrich et al. (2011) berichten von angegriffenen Polizeibeamt*innen, welche meinten, dass sie Führungs- und Einsatzmittel hätten einsetzen sollen, um damit einen Angriff auf sie abzuwehren, was sie aber in der Situation nicht taten. Warum sie das nicht taten, ist aber nicht bekannt. Auch die jährliche Statistik zum polizeilichen Schusswaffengebrauch der Innenministerkonferenz (IMK) für Gesamtdeutschland kann als Hinweis für eine Hemmung dienen. Hier finden sich zahlreiche Warnschüsse in Situationen, in denen es quasi „um Leben und Tod“ ging. Im Jahr 2019 sind dies 39 Fälle (Mitteilung der IMK vom 09.07.2020). Da für einen Warnschuss dieselben rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sein müssen wie für eine Schussabgabe auf die Person, stellt sich die Frage, warum beim Vorhandensein einer derart gefährlichen Situation mit Lebens- und Leibesgefahr nicht unmittelbar auf den/die Angreifer*in geschossen wurde, obwohl dies in diesem Fall rechtlich zulässig ist (z. B. § 85, Abs. 2 HSOG). Sicherlich gibt es hierfür verschiedene Gründe. Nicht auszuschließen ist aber auch, dass einige Polizeibeamt*innen eben nicht auf die Person schießen wollten und eine entsprechende Hemmung vorlag.
Zur Vorbereitung auf Gewalt im Einsatz
4.3
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Polizeianwärter*innen als Mensch
Wie schon dargestellt, gelten gesellschaftliche Eigenschaften wie eine Haltung gegenüber Gewalt natürlich auch für Personen, die am Anfang ihrer Polizeikarriere stehen. Daneben besitzen diese auch persönliche Eigenschaften, die sie für diesen Beruf motivieren und nach denen sie im Auswahlverfahren selektiert werden. Als Qualifikationsvoraussetzungen sind häufig das Abitur, die Fachhochschulreife, eine Meisterprüfung oder ein entsprechender Bildungsabschluss zu finden (z. B. Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW – LAFP NRW o. J.), welche eher mit einem gewaltarmen Lebenslauf assoziiert sind. Daneben steht die Forderung nach Vorstrafenfreiheit (z. B. Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW – LAFP NRW o. J.), welche impliziert, dass keine Auffälligkeiten u. a. durch Ausübung illegitimer Gewalt zu finden sind. Eines der zentralen Themen der Berufswahl von angehenden Polizeibeamt*innen ist die Gewährleistung beruflich-sozialer Absicherung (Liebl 2003; Groß 2003, 2011; Groß und Schmidt 2010; Löbbecke 2004). Die in der Forschung gefundenen zentralen Motive beinhalten nicht die Thematik Gewalt, sondern erscheinen sogar eher gegenläufig zu sein. So finden sich eine Risikovermeidungstendenz als Ausdruck des Wunsches nach sozialer Absicherung und eine sozial helfende Intention. Alles in allem finden sich hier kaum Ansatzpunkte, die einer Vorbereitung auf einen professionellen Gewalteinsatz dienlich erscheinen. Dies potenzieren auch regelmäßig die Strategien der Nachwuchswerbung, die (meistens) keinerlei Aspekte von Gewalt beinhalten. Es finden sich hier eher Themen wie die finanzielle Versorgung von Beginn an (Studieren mit Gehalt), den Beamtenstatus sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Zweifelsohne Aspekte, die dieser Beruf mit sich bringt und welche auch der Motivation der Bewerber*innen entsprechen. Aber es fehlt (meist) die Thematik der Gewalt.
5
Vorbereitung auf den Einsatz von Gewalt
Im Folgenden werden einige Ansatzpunkte der Vorbereitung auf einen professionellen Einsatz von Gewalt angerissen sowie verschiedene Ansätze und Möglichkeiten skizziert. Dies geschieht jedoch weder vollständig noch empirisch evaluiert.
5.1
Prävention
Prävention sind alle Interventionen, die zur Vermeidung oder Verringerung des Auftretens (Ausschaltung von Krankheitsursachen), der Ausbreitung (Früherkennung und Frühbehandlung) und der negativen Auswirkungen von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen (Vermeidung des Fortschreitens einer bestehenden Krankheit) beitragen (Franzkowiak, 03.11.2010). Entsprechend unterscheidet man in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention (Caplan 1964):
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• Primärprävention: Verhinderung der Entstehung einer Krankheit • sekundäre Prävention: Früherkennung und frühzeitige Behandlung/Intervention • tertiäre Prävention: Vermeiden des Voranschreitens und Chronifizierens sowie indirekter Folgeschäden Für psychische Erkrankungen wie den Depressionen und den Angststörungen – hierunter fällt auch die posttraumatische Belastungsstörung – empfehlen die deutschen Spitzenverbände der Krankenkassen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV- Spitzenverband 2010) die präventive Intervention durch Förderung individueller Kompetenzen der Belastungsverarbeitung. Eine Empfehlung, die entsprechend auch bei der Vorbereitung von Polizeibeamt*innen auf Gewalt berücksichtigt werden kann. Die (veraltete) Definition einer posttraumatischen Belastungsstörung nach DSM IV führt das Kriterium A2 an, das intensive Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen beim Erlebnis umfasst (American Psychiatric Association 2000). Auch wenn im DSM V dieses Kriterium nicht mehr enthalten ist, kann man es für Präventionsansätze nutzen. Hilflosigkeit beinhaltet nämlich die Unkenntnis, was in der vorliegenden Situation zu tun ist. Entsetzen zeugt von einer Überraschung, also Erwartungen, die sich im Lichte der Realität als falsch erweisen. Entsprechend können Präventionsansätze hier verschiedene Angebote machen, damit dieses Gefühl der Hilflosigkeit nicht aufkommt und die Person handlungsfähig bleibt oder schnell wieder wird. Dem Entsetzen kann präventiv begegnet werden, indem man die Erwartungen in Richtung Realität formt. Im Studium werden ähnlich der Psychoedukation Informationen zu entsprechenden relevanten Aspekten geschult, um eventuell ihr Auftreten durch geeignete primäre Präventionsmaßnahmen (z. B. Schutzfaktoren bei einer PTSD) unwahrscheinlicher zu machen oder im Sinne der sekundären und tertiären Prävention eine frühzeitige Erkennung und Behandlung zu unterstützen. Auch kann so eine Psychoedukation im Krankheitsfall unterstützt werden, da die Inhalte bereits bekannt sind und im Falle der Notwendigkeit nur wieder „präsent“ gemacht werden müssen.
5.2
Realistisches Lagebild
Zwingend notwendig für einen professionellen Gewalteinsatz ist ein realistisches Lagebild von entsprechenden polizeilichen Einsatzsituationen. Dieses Lagebild stellt eine Zusammenführung polizeilich bedeutsamer Erkenntnisse dar, die zur Bewältigung von polizeilichen Ereignissen beitragen sollen. Dies ist wichtig, um einerseits Gefahren zu antizipieren und bei ihrem Auftreten schnell wahrzunehmen. Andererseits ist dies aber auch bedeutsam, um Gefahren nicht zu überschätzen und dann eventuell einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung (Merton 1968) entsprechend zu handeln. Wenn Polizei beamt*innen von vornherein eine Gewaltbereitschaft beim Gegenüber voraussetzen, so laufen sie Gefahr, durch ihr eigenes Verhalten einen Beitrag zur Eskalation von Gewalt zu leisten, indem sie entsprechend rigide an die betreffenden Personen herantreten. Dies
Zur Vorbereitung auf Gewalt im Einsatz
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meint nicht, die Eigensicherung zu vernachlässigen, sondern offen für und interessiert an gewaltfreien Lösungen zu sein. Neben diesem durch Fehleinschätzungen hervorgerufenen nicht professionellen Handeln wirkt auch eine die Angst fördernde Lehre kontraproduktiv. Hier wird versucht, durch Angst Personen zu einem bestimmten, meist vorsichtigen Verhalten zu motivieren. Dies ist aber nicht zwingend der Fall. Eine solche ängstigende Pädagogik kann auch Bumerangeffekte und andere hinderliche Effekte erzielen (Lorei et al. 2006). Denn, um die erzeugte Angst zu bewältigen, kann auch das Phänomen, das Angst auslöst, ignoriert und verdrängt werden, die Quelle, welche die Angst hervorruft, abgewertet werden, und ein Verhalten, das durch das Angstmachen verhindert werden sollte, wird nun sogar eher gezeigt. Mit der Realität nicht unbedingt übereinstimmende Gefahrenannahmen sind auch aus dem Bereich des subjektiven Sicherheitsgefühls bekannt, welches nicht allein auf die eigenen Übergriffserfahrungen zurückgeht. Andere Faktoren müssen hier ebenfalls berücksichtigt werden. Hirtenlehner und Hummelsheim-Doss (2016) vermuten, dass hier auch Berichte von Kollegen zu Gewaltopfererfahrungen sowie die politische und mediale Diskussion (Sozialen-Problem-Perspektive) eine wichtige Rolle spielen. Nach Boers (2002) reichen die eigenen und fremden Erfahrung sowie die mediale Diskussion zur Erklärung der Furcht vor Gewalt allerdings auch nicht aus. Vielmehr ist das subjektive Kompetenzgefühl, dieser Gefahr adäquat begegnen zu können, entscheidend. Sieht der Akteur für die subjektive Bedrohung bei sich keine entsprechenden Bewältigungsmöglichkeiten, entsteht diese Kriminalitätsfurcht. Somit muss nicht nur ein korrektes Lagebild gelehrt werden, sondern zwingend auch eine umfassende Kompetenz zur Bewältigung aufgebaut werden. Damit können Lagen doppelt professionell gehandhabt werden. Einerseits wird nicht aus Angst Gewalt falsch eingesetzt und andererseits ermöglichen kompetente Handlungsmuster gute Lösungen. Auch im Zusammenhang mit der Vorbereitung auf einen Schusswaffeneinsatz ist ein realistisches Lagebild erforderlich, um Situationen realistisch einzuschätzen und Entscheidungen diesbezüglich optimal treffen zu können. Hier müssen u. a. Aspekte zur Wirkung von Warnschüssen (vgl. Lorei 2012a), Trefferquoten allgemein (vgl. Aveni 2004; Lorei und Balaneskovic 2020) wie im Besonderen z. B. beim Schießen auf Flüchtende (vgl. Lorei 2014b), beim Schießen in der Dynamik, im Dunkeln usw. thematisiert werden. So verlangt die Entscheidung zu schießen oder nicht (mitunter) eine Abwägung der Verhältnismäßigkeit, die von einer Trefferwahrscheinlichkeit abhängen kann. Oder eine Abschätzung der Gefährdung Unbeteiligter ist vorzunehmen oder die Möglichkeit einer unbeabsichtigten Schussabgabe ist ins Kalkül einzubeziehen.
5.3
Reflexion, mentales Training, intellektuelle Beschäftigung
Vorbereitung kann auf einer grundlegenden intellektuellen Ebene dadurch geschehen, dass über eigene Gewaltausübung gesprochen und zum Nachdenken angeregt wird, wenn im Studium allgemein die Themen Aggression, Trauma, Stress und Eigensicherung be-
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C. Lorei
handelt werden. Hier kann u. a. von einer theoretisch, abstrakten Ebene auf eine konkrete persönliche gewechselt werden, in der eigene Erfahrungen, Vorstellungen, Hintergründe und Absichten thematisiert werden und die angehenden Polizeibeamt*innen Anstöße zur eigenen Reflexion erhalten. Selbstverständlich sind auch eigene Lehrveranstaltungen zu diesem Themenbereich möglich. Diese können auch interdisziplinär, z. B. Psychologie und Berufsethik, angelegt werden. Dies wird mitunter in Curricula vorgesehen (Freitag und Schophaus 2017). Erfolgreiches Handeln allgemein setzt mitunter das Setzen von geeigneten Zielen voraus. Dies gilt für verschiedene Leistungen allgemein wie auch für die Bewältigung eines polizeilichen Einsatzes. Denn auch polizeiliches Handeln wird von Zielen und Handlungsplänen bestimmt. So konnte Lorei (2012b) zum Beispiel zeigen, dass je nach Zielsetzung unterschiedliches Handeln in einer Einsatztrainingssituation erfolgte. Achtziger und Gollwitzer (2010) definieren Zielvorstellungen als grundlegend für Handlungen. Locke (1968) bzw. Locke und Latham (1984) bestimmten in ihrer Goal-Setting-Theory, wie solche Ziele zu formulieren sind, damit sie besonders leistungsfördernd wirken. Sie sollen spezifisch formuliert werden und konkret die Handlungen nahelegen. In der Eigensicherung kann ein solches Ziel z. B. eine mentale Grenzziehung sein. Hier bestimmt man Ereignisse, Verhaltensweisen, Distanzen oder Ähnliches, die aus einer diffusen Vorstellung (z. B. „ich werde mich schon wehren, wenn es nötig ist“) herausführen, hin zu einem konkreten Handlungsplan (z. B. „wenn die Distanz von 1,20 Meter unterschritten wird, werde ich ‚STOPP, gehen Sie einen Schritt zurück‘ sagen“). Gefahren der Bahnung von Fehl verhalten müssen selbstverständlich beachtet und thematisiert werden (vgl. Lorei und Heim 2012). Die Soziale Unterstützung hat sich als eine der effektivsten Bewältigungsmechanismen gerade auch für Polizeibeamt*innen bei Belastung und Stress erwiesen (vgl. Lorei et al. 2014). Dies gilt auch nach Hochstresserlebnissen und traumatisierenden Ereignissen. Zentral ist hier vor allem der/die Lebenspartner*in. Neben seiner Bewältigungsfunktion können sich durch das Ereignis selbst oder Folgen davon aber auch für die Beziehung schwerwiegende Konsequenzen ergeben. Aus diesen beiden Gründen ist es angeraten, als Polizeibeamt*in sich mit ihrem/seiner Partner*in über mögliche Ereignisse bereits im Vorfeld zu verständigen und diese Lebenswegbegleiter*in vorzubereiten auf das Mögliche, was da kommen kann.
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Handlungsfähigkeit vorbereiten
Wie bereits oben erwähnt, bestand nach DSM IV (American Psychiatric Association 2000) für die posttraumatische Belastungsstörung ein Kriterium darin, dass die Person sich in einer Situation hilflos gefühlt hat. Um Hilflosigkeit zu begegnen, ist das Schulen von Handlungsmöglichkeiten und Maßnahmen zum Erhalt der Handlungsfähigkeit sinnvoll. Entsprechende Ansatzpunkte und Aspekte werden im Folgenden skizziert.
Zur Vorbereitung auf Gewalt im Einsatz
6.1
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Realistisches Einsatztraining
Polizeiliches Einsatztraining zielt auf eine Handlungsfähigkeit in Gewaltsituationen ab und ist entsprechend konzipiert. Hier werden taktische Maßnahmen sowie motorische Verhaltensweisen trainiert. Ebenso wird ein Teil der Einsatzkompetenz erworben und erweitert, die viele psychologische Aspekte umfasst (vgl. Schmalzl 2008). Es ist damit unmittelbar relevant für die Vorbereitung auf den Einsatz von Gewalt und muss deshalb hier nicht weiter ausgeführt werden. Realistisches Einsatztraining ist unbedingt erforderlich. Gut gelerntes Verhalten und ein breites Verhaltensrepertoire sowie Vertrauen in die eigene Fähigkeit sind wesentlich für die Handlungsfähigkeit und den Einsatz von Gewalt (Gehrmann und Kreim 2003). Auch bewirkt Vertrauen in die eigenen Kompetenzen, dass weniger Stress und Angst entstehen, da Angst aufkommt „wenn eine Situation als gefährlich erlebt wird, ohne dass momentan angemessen reagiert werden kann“ (Krohne 2010, S. 27). bzw. Stress von der Bewertung der eigenen Bewältigungsressourcen abhängt (sekundäre Bewertung in der Stresstheorie von Lazarus und Folkman 1984). Die beiden Zustände bzw. Emotionen Angst und Stress hängen von einer Bewertung der eigenen Handlungsmöglichkeiten ab und damit auch vom Vertrauen in die eigenen Kompetenzen. Kommt keine oder weniger Angst und nur ein geringer Stress auf, kann auch Gewalt weniger emotional und gelassener eingesetzt werden. Dies ist auch der Fall, da man sich selbst sicher über die Fähigkeiten im Falle weiterer Eskalation ist. Dies lässt Gewalt rationaler und dosierter einsetzen. Wichtig ist, dass das Training realistisch ist (Lorei 2000). Wenn auch Training häufig sehr realistisch erscheint, so kann es in Teilaspekten der Realität massiv widersprechen und damit nicht adäquat darauf vorbereiten. Falsch vorbereitet, kann dies zu zeitlichen Verzögerungen in der Realsituation oder auch zu falschen Entscheidungen führen. Der Kontrast zwischen Übung und Realität ist massiv, wenn man nicht mehr in einer Raumschießanlage unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen schießen muss, sondern plötzlich in einem Wohnzimmer. Dabei befinden sich dann auch noch mehrere Personen nicht hinter oder maximal neben dem Schützen, wie dies in einer Schießübung in einer Raumschießanlage üblich ist, sondern diese füllen den Raum aus. Alleine dieser Kontrast wird Bewältigungsanstrengungen erfordern und kann Reaktionen und Entscheidungen verzögern oder beeinflussen. Hinzu kommt eine neue sensorische Erfahrung durch den Schussknall, der ohne Kopfhörer erfahren wird, was durchaus irritierend sein kann (vgl. Lorei 2012a). Man vergleiche dazu die Realitätsnähe der Ausbildung von Elite-Soldaten, deren Gewalteinsatz als sicher gelten kann (Gehrmann und Kreim 2003). Auch sollte zu Überlegungen führen, welche Nebenwirkungen das ausschließliche Training mit Schutzausrüstung haben kann oder ohne die Option, dass auf die Übenden entsprechend eingewirkt wird. Nieuwenhuys und Oudejans (2011) fanden für den Fall, dass ein/e Gegner*in auf den/die Übende/n einwirken konnte, massive Unterschiede zu den Personen, für die diese Möglichkeit nicht bestand. Ähnliches kann gelten, wenn Feuergefechte im Training nicht mehr als Situationen mit Todesgefahr wahrgenommen werden, sondern sich sportlich- spielerisch entwickeln. Wenn Personen sich dann realitätsfremd verhalten, um zu gewinnen, dieses Verhalten aber so in echten Situationen keine Option für sie wäre.
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6.2
C. Lorei
Taktische Stressbewältigung
Stress und Stressbewältigung haben bei der Polizeiforschung eine lange Tradition (Lorei et al. 2014). Meist liegt der Schwerpunkt aber auf der Bewältigung chronisch- ar beitsbedingten Stresses oder der kurz- und mittelfristigen Folgen nach einem belastenden Einsatz. Selten werden sehr kurzfristig wirkende Copingstrategien im Sinne einer Stresskontrolle für die unmittelbare Bewältigung einer Situation thematisiert. Deshalb soll hier die Formulierung „taktische Stressbewältigung“ verwendet werden, um die explizite Einsatzbezogenheit hervorzuheben. Ihre Wirkung kann dazu beitragen, durch Moderation und Kontrolle des Stresslevels handlungsfähig zu bleiben und damit auch im Zusammenhang mit dem Einsatz von Gewalt optimal zu handeln (Lorei 2014a). Insbesondere sei dabei auch an die deeskalierende Wirkung der Stresskontrolle im Einsatz zu erwähnen (Lorei 2021). Entsprechend ist zur Vorbereitung auf den professionellen Gewalteinsatz das Einüben unterschiedlicher Stresskontrolltechniken mit Einsatzbezug zu empfehlen.
6.3
Realitätstaugliches Wissen
Wie bei einem realistischen Lagebild, so ist es auch für andere Bereiche des Gewalteinsatzes notwendig, zu wissen, wie die Realität wirklich aussieht. Die Realität ist in vielen Bereichen anders, als man sie sich vorstellt oder durch cineastische und unterhaltungsrelevante Mediendarstellungen geprägt erwartet wird. Entsprechend irritiert sie dann im Einsatz, wenn ein Feuergefecht sich völlig anderes gestaltet (vgl. Smeets 2014). Ähnliches dürfte auch für körperliche Kämpfe gelten. Um dabei realistisch auf ein polizeiliches Feuergefecht vorzubereiten, muss man sich zunächst bewusst machen, dass die Vorstellung von solchen Ereignissen durch den Konsum von Medien mit mehreren Tausend Schießereien geprägt ist. So trügen dort oft sowohl die Darstellung der „Treffer“ als auch die Schnelligkeit und Art der Reaktion auf diese. Während in Filmen zwar nur selten noch Personen durch Treffer buchstäblich von den Beinen gerissen werden, so wird dennoch versucht, einen Treffer durch einen Schuss für den Zuschauer erkennbar zu gestalten: Person zuckt eindrucksvoll, fällt von einer Erhöhung um, weist große und sofort blutende Wunden auf oder zeigt sonstige sehr schnelle Reaktionen, die dem/der Zuschauer*in sehr offensichtlich signalisieren, dass hier diese Person getroffen wurde. In der Art stellen sich Treffer aber in der Realität häufig nicht dar (vgl. Smeets 2014). Weder sind Treffer als Einschlusslöcher meist visuell zu identifizieren (Rothschild 2006; Pokojewski 2006; Lorei und Balaneskovic 2020), noch reißt es Personen von den Beinen oder zeigen sie merkliche Bewegungen aufgrund der eintreffenden Energie eines Projektils aus einer Polizei kurzwaffe (vgl. physikalische Ausführungen Bundeskriminalamt KI 24-3 Ballistik, 16.06.2005). Auch die Reaktionen der Personen sind mitunter völlig verschieden von dem, wie es aus der Unterhaltungswelt bekannt ist. Sofort gestoppt, d. h. handlungsunfähig oder Ähnliches, werden sie nämlich mitunter von einem Schuss nicht (Rothschild und Kneubuehl 2012). Hier kann die Suggestivität des Begriff „Mann-Stopp-Wirkung“ (der Muni-
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tion), dass ein Schuss eine Person („Mann“) stoppt und ein abruptes wie sofortiges Anhalten des Angriffes zu erwarten ist, dramatisch fehlleiten. Ein beeindruckendes Beispiel erscheint ein bayerischer Fall aus dem Jahr 2008, bei dem ein Angreifer von der Polizei 5-mal in die Brust (handtellergroßes Trefferbild im Bereich des Brustbeines) getroffen wird, anschließend von der Polizeistreife wegläuft, auf diese nochmals schießt und ein paar Straßen weiter sich anschließend suizidiert (Die Welt, 27.05.2008). Handlungsfähigkeit in solchen Situationen hängt also auch davon ab, wie realistisch die Erwartung der handelnden Polizeibeamt*innen ist und wie wenig sie von der Realität überrascht werden. Das Wissen um realistische Verhältnisse lässt Polizeibeamt*innen in der Situation handeln, weil sie sich nicht mit den sie überraschenden, weil falsch erwarteten Bildern und Reaktionen auseinandersetzen müssen, sondern sich auf ihre Aufgabe konzentrieren können. Dies stellt einen Aspekt der Handlungsfähigkeit dar, welcher über Leben und Tod (von allen Beteiligten) entscheiden kann. Fazit Als Fazit aus den oben stehenden Ausführungen soll festgehalten werden, dass die Bewältigung von Einsatzlagen insbesondere unter dem Aspekt eines eigenen Gewalteinsatzes vielfältige psychologische und sonstige Aspekte hat und sich nicht nur auf sekundäre oder tertiäre Prävention beschränkt. Vielmehr können zahlreiche unterschiedliche Aspekte und Perspektiven im Rahmen einer Primärprävention einbezogen werden. Die Psychologie kann dabei einen Anteil durch verschiedene Maßnahmen und Informationen leisten. Sie wird ihre volle Leistungsfähigkeit für diese Thematik aber nur dann erreichen können, wenn sie deutlich über offensichtlich zentrale Themen und Schulungen wie Trauma und Stressbewältigung hinausgeht und ihr Augenmerk auch auf andere Bereiche, wie zum Beispiel Berufsmotivation und Themen der Eigensicherung wie Wundballistik, legt. Grundlegend ist ein umfassendes realistisches Lagebild von Gewalteinsätzen.
Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Der professionelle Einsatz von Gewalt durch Polizeibeamt*innen ist keine banale Maßnahme, die nur auf körperlichen Fähigkeiten beruht. Vielmehr umfasst sie auch vielfältige psychologische Aspekte. Damit Polizeibeamt*innen weder handlungsunfähig sind, noch Gewalt im Übermaß einsetzen, muss der unmittelbare Zwang umfassend vorbereitet, begleitet und nachbereitet werden. Entscheider*innen haben also dieser Vorbereitung Aufmerksamkeit zu schenken und Möglichkeiten dafür zu bieten. Führungsverantwortung bedeutet auch, diesen Aspekt von Einsätzen mit im Blick zu behalten. Des Weiteren haben Entscheider*innen dafür zu sorgen, dass Einsatzkräften ein möglichst realistisches Bild und wirklichkeitsnahe Informationen zu
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ihrer Einsatzsituation zur Verfügung gestellt werden. Hier ist kein Ängstigen oder Verharmlosen angebracht. Transparentes Analysieren von Einsatzverläufen ist hierbei grundlegend. b) Einsatzkräfte Es ist wichtig, als Einsatzkraft zu wissen, dass Gewalt einzusetzen – vor allem nicht in den Anfängen – nicht trivial ist und emotionslos vonstattengeht. Eine Vorbereitung erfordert aktive Beschäftigung und reflektierende Auseinandersetzung damit. Ein motiviertes Trainieren umfasst sowohl körperliche als auch mentale Übungen. Eine optimale Vorbereitung verlangt von einer Einsatzkraft auch, dass sie sich ein umfassendes und korrektes Lagebild verschafft. Ziel einer Einsatzkraft sollte es sein, weder völlig handlungsgehemmt noch hemmungslos exzessiv Gewalt einzusetzen. Deshalb ist die mentale Beschäftigung mit dem Einsatz von Gewalt vor und nach entsprechenden Einsätzen essenziell. Einsatzkräfte sollen wissenshungrig sein für die unterschiedlichen Bereiche dieses Gebietes. Sie sollten ihre eigenen Erwartungen, Meinungen und Erlebnisse hinterfragen und diese mit Kolleg*innen austauschen. c) Einsatztrainer*innen Einsatztrainer*innen haben immer den schmalen Grat zwischen Ohnmacht und Gewaltexzess der Trainierenden zu beachten. Dabei müssen sie die mitunter sehr großen individuellen Unterschiede von Trainingsteilnehmer*innen in der Gewaltbereitschaft berücksichtigen. Nachbereitung von Trainingsszenarien müssen taktische, rechtliche und motorische Aspekte, aber auch psychologische und ethische Aspekte angemessen berücksichtigen. Einsatztrainer*innen müssen versuchen, Training realitätsnah zu gestalten und dort, wo eine Übung nicht realistisch ist, dies durch entsprechende Thematisierung oder auch weitere Übungen, die diesen Aspekt fokussieren, kompensieren. Trainer*innen müssen selbst über ein umfassendes Lagebild der Situationen und Einsatzverläufe verfügen, für die sie ausbilden. So darf sich ihr Wissen nicht nur auf Taktik und Kampftechniken beschränken, sondern muss mindestens ebenso gut in der Kriminologie im Bereich Gewalt von und gegen Polizei sein. Auch müssen sie den Forschungsstand bezüglich des Schießens und anderer Aspekte der Eigensicherung kennen und selbst daran beteiligt sein, diesen zu erweitern. Trainingssysteme, in denen Lernende massenhaft trainiert werden und kaum eine persönliche Beziehung zu ihnen aufgebaut werden kann, scheinen psychologische Aspekte, deren Diskussion und Reflexion eine gewisse Vertrautheit und Vertrauen erfordern, nur wenig Gelegenheit zu bieten. Solch eine Nähe erscheint aber für einige Aspekte der Vorbereitung auf den Einsatz von Gewalt aber erforderlich.
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Die Verzahnung von Recht und Einsatzlehre im Kontext der polizeilichen Aufgabenerfüllung Markus Thiel
Inhaltsverzeichnis 1 Z usammenhänge zwischen Einsatzlehre und Recht – Beispiele 2 Disziplinspezifische Rationalitäten und Begrifflichkeiten – Unterschiede und Gemeinsamkeiten 3 Vorschläge für eine „Verzahnung“ von Recht und Einsatzlehre Literatur
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Zusammenfassung
Einsatzlehre und Rechtsfächer werden häufig als klar zu unterscheidende Disziplinen verstanden, gehandhabt und gelehrt. Dabei sind sie sehr eng miteinander verzahnt: Jegliches Einsatzhandeln wird durch rechtliche Vorgaben bis ins Detail gesteuert oder jedenfalls „überlagert“, und die gesetzlichen Grundlagen werden (mitunter deutlich zu wenig) vor dem Hintergrund des polizeilichen Erfahrungswissens gestaltet. In diesem Beitrag werden die enge Verzahnung von Recht und Einsatzlehre verdeutlicht und Vorschläge für eine Neukonzeption der Lehre und auch des Einsatztrainings (für das Einsatzlehre wie Recht von besonderer Bedeutung sind) unter Berücksichtigung dieses untrennbaren Konnexes unterbreitet.
Reviewer*innen: Oliver Bertram, Hinner Schütze M. Thiel (*) FG III.4 – Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Polizeirecht, Deutsche Hochschule der Polizei, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_40
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Im Rahmen der polizeilichen Aufgabenerfüllung werden rechtliche Vorgaben oftmals als Hindernis für die einsatztaktische Bewältigung allgemeiner und besonderer Einsatzlagen empfunden. Schon bei der Beurteilung der Situation im Rahmen der Planungs- und Entscheidungsprozesse sind häufig rechtliche Vorgaben, z. B. für die Informationsgewinnung und -weiterverarbeitung, zu beachten. Das Eingriffsrecht (Bialon und Springer 2020; Nimtz und Thiel 2020; Basten 2016) beeinflusst sodann sowohl das „Ob“ der zu treffenden Maßnahmen als auch das „Wie“ – nicht jeder für sinnvoll, zweckmäßig und zielführend erachtete Eingriff ist auch rechtlich zulässig, und bei den meisten Eingriffsermächtigungen sind teilweise sehr komplexe und umfangreiche Anordnungskompetenzen und Durchführungsbestimmungen zu beachten – etwa vorgelagerte Richtervorbehalte, Unterrichtungs- bzw. Belehrungspflichten oder Datenspeicherungs- und Löschungsvorgaben. Die Festlegung taktischer Ziele und die Aufgabenverteilung sind damit ebenso gesetzlich gesteuert wie Entschluss und Einsatzbefehl – genau genommen generiert das Recht letztlich erst die Lage, weil die Polizei aufgrund der gesetzlichen Aufgabenzuweisungen und Zuständigkeiten tätig zu werden hat, und stellt sie in den einschlägigen normativen Kontext. Die rechtliche Situation wird daher in der Einsatzlehre häufig als „Lagefeld Recht“ der „sachlichen Dimension“ der Lagebewertung zugeordnet (Barthel 2012), andere sehen diese Einordnung deshalb kritisch, weil auch in anderen Lagefeldern Rechtsfragen zu berücksichtigen seien (Kleinschmidt und Rückheim 2009, S. 8). Auch unter allgemeinerem Blickwinkel erschiene es bedenklich, das Recht gewissermaßen als eine von mehreren „Hilfsdisziplinen“ der Einsatzlehre einzuordnen, zumal damit rechtswissenschaftliche Aspekte in den Hintergrund gedrängt zu werden drohen. Umgekehrt ist festzustellen, dass die einsatzpraktische Perspektive bei der Schaffung sicherheitsrechtlicher Vorschriften durch die Gesetzgeber in Bund und Ländern (bzw. bei der vorgelagerten Erarbeitung entsprechender Gesetzentwürfe in den zuständigen In nenressorts) nicht selten „unterbelichtet“ bleibt (zur Bedeutung der Gesetzesfolgenabschätzung in der Sicherheitsgesetzgebung Thiel 2019). Verfassungsrechtliche Direktiven einschließlich der teilweise diffizilen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung müssen zwar bei der Normsetzung beachtet und effektuiert werden, sie lassen indes meist größere Spielräume, die der Gesetzgeber im Rahmen seiner politischen Entscheidungsfreiheit ausfüllen kann und muss – und zwar zwingend auch unter Heranziehung polizeilicher Expertise.1 Die Instrumente und Methoden der „Gesetzesfolgenabschätzung“ werden dabei indes oftmals vernachlässigt; dies gilt namentlich für Analysen und Prognosen der polizeipraktischen Auswirkungen gesetzgeberischer Entscheidungen. Und auch in der polizeilichen Aus- und Fortbildung (einschließlich des Einsatztrainings) stehen die Fächer „Einsatzlehre“ und „Eingriffsrecht“ (das gemeinsam vor allem mit dem Staatsrecht, dem Strafrecht, dem Verkehrsrecht und dem öffentlichen Dienstrecht den zentralen „Kanon“ der Rechtsfächer bildet) trotz ihrer Bedeutung als „Kernfächer“ der polizeilichen Ausbildung (Behr 2006, S. 70 Fn. 52) vergleichsweise unverbunden nebeneinander. So ver1
Dieser Aspekt kann in diesem Beitrag nicht weiter vertieft werden.
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wundert es nicht, dass seitens der Einsatzlehre vor allem die normativen Regelungen der Polizeidienstvorschriften (bzw. der Verwaltungsvorschriften zu den jeweiligen Polizeigesetzen) als handlungsleitend wahrgenommen und entsprechend gelehrt werden. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass die Polizeidienstvorschriften jenseits aller föderaler Unterschiede der Rechtsgrundlagen eine erhebliche vereinheitlichende Wirkung entfalten (Aden und Fährmann 2018, S. 14). Wünschenswert wäre indes eine engere Anbindung des Einsatzgeschehens auch an die gesetzlichen Rahmenbedingungen im Sinne der Schaffung eines insoweit „ganzheitlicheren“ Bewusstseins, um die derzeit noch eher getrennten „Säulen“ des Rechts und der Einsatzlehre funktional miteinander zu verbinden. Dies gilt auch und zumal deshalb, weil die Verzögerungen bei der Umsetzung von Gesetzesänderungen in die polizeiliche Einsatzpraxis so kurz wie möglich zu halten sind, um die Ausprägung problematischer Vollzugsdefizite zu vermeiden und das für die Einsatzlehre so wichtige polizeiliche Erfahrungswissen „auf Stand“ zu halten. Dieser Beitrag soll verdeutlichen und dafür werben, dass sowohl in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit einer „Polizeiwissenschaft“ als polizeispezifische Ausprägung der Verwaltungswissenschaften als auch im Rahmen der polizeilichen Aus- und Fortbildung und des Einsatztrainings die „Verzahnung“ von Einsatzlehre und Recht in weitaus intensiverer Weise Berücksichtigung finden sollte als bislang. Dazu sollen
(1) die Zusammenhänge zwischen den beiden Bereichen anhand einiger Beispiele herausgestellt werden (u. Abschn. 1), (2) ihr Verhältnis im Kontext des wissenschaftlichen Zugangs und unter Herausarbeiten und Abgleich der jeweils disziplineigenen Rationalitäten und Begrifflichkeiten näher konturiert (u. Abschn. 2) und (3) Vorschläge für ihre praxisnahe und didaktisch sachgerechte Verknüpfung im Rahmen der polizeilichen Aus- und Fortbildung und des Einsatztrainings unterbreitet werden – das Recht sollte nicht als theoretischer Ballast für die praktische Einsatzlehre verstanden werden, sondern als „Kollege in Paragrafenform“ (u. Abschn. 3).
Begrifflich wird dabei die Einsatzlehre als Lehre über den planvollen, zielgerichteten, rechtlich zulässigen, taktisch und psychologisch richtigen Einsatz und die Führung von Kräften verstanden (vgl. Zeitner 2021, S. 31 ff.; Averdiek-Gröner et al. 2015; Schmidt und Neutzler 2010; Kuhleber 2001). Einsatztraining bezeichnet – in einem weit gefassten Verständnis – ein „Training für den Einsatz“ (siehe Kap. „Die Verantwortung des Einsatztrainings: Die Welt besser machen“ in diesem Handbuch); die Lernenden sollen „sich das, was nötig ist, aneignen, um Einsatzsituationen professionell zu meistern“ (siehe Kap. „Training für den Einsatz: Der Umfang des Einsatztrainings“ in diesem Handbuch). „Das (polizeiliche) Einsatztraining soll zielgerichtet und systematisch Fähig- und Fertigkeiten entwickeln, um (a) Bürgerkontakte, besonders (aber nicht nur) in Konfliktsituationen und (b) Einsatzsituationen professionell zu bewältigen“ (siehe Kap. „Training für den Einsatz: Der Umfang des Einsatztrainings“ in diesem Handbuch). Die Einsatzlehre, aber auch das Recht bilden, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, wesentliche und eng miteinander verzahnte Bausteine – auch für das (polizeiliche) Einsatztraining.
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usammenhänge zwischen Einsatzlehre und Recht – Z Beispiele
Die folgenden drei Beispiele dienen dazu, die enge Verknüpfung des aus den Erkenntnissen der Einsatzlehre gespeisten faktischen Einsatzgeschehens mit den (teilweise äußerst komplexen) rechtlichen Vorgaben unter ausgewählten Gesichtspunkten zu veranschaulichen sowie zu verdeutlichen, dass auch der Kommunikation der Rechtsgrundlagen des Einsatzgeschehens in Bezug zum polizeilichen Gegenüber und zur Öffentlichkeit eine besondere Bedeutung zukommt. Beispiel 1: Identitätsfeststellung
Die Polizeibeamten P und Q treffen bei einem Streifengang an einem polizeibekannten Drogenumschlagsplatz, dem innerstädtischen und tagsüber recht belebten P-Platz, auf den A, der sich – nachdem er die Beamten erblickt – verdächtig verhält, in seine Kleidung greift und auffallend nach Ausweichmöglichkeiten Ausschau hält. P spricht ihn an und fordert ihn auf, Angaben zu seiner Person zu machen und sich auszuweisen. Als A sich weigert, kündigt ihm Q an, dass er nunmehr durchsucht werde. Die Beamten wollen ihn dazu zum Schutz seiner Persönlichkeitsrechte in eine nicht einzusehende Ecke des Platzes führen. A ruft daraufhin laut um Hilfe, schreit „Polizeigewalt“ und wehrt sich körperlich massiv. Es nähern sich mehrere weitere Personen, von denen einige ihre Handys zücken und die Situation filmen. Fünf männliche Personen – offenkundig Freunde oder Verwandte des A – treten an P und Q heran, versuchen, den A wegzuziehen, und stellen sich den Beamten in den Weg. Aus der das Geschehen umstehenden, inzwischen ungefähr 30 Personen umfassenden Menschengruppe werden P und Q lautstark angeschrien, zum Teil mit den Worten „unverhältnismäßig“, „Rassisten“, „Nazis“, „Drecksbullen“ und „Polizeistaat“. ◄ In einer Situation wie im Beispiel 1 liegt es nahe, vor der Ergreifung weiterer Maßnahmen (auch gegen die den Einsatz störenden bzw. umstehenden Personen) zunächst Verstärkung anzufordern. Je nach weiterer Entwicklung der Lage kann es jedoch gleichwohl zu einer weiteren Ansammlung kritischer und teilweise aggressiver Personen kommen, sodass die Einsatzleitung den Einsatz beenden oder aber die Anwendung unmittelbaren Zwangs (dazu Kap. „Zwangsanwendung durch die Polizei – Der unmittelbare Zwang aus der Perspektive des Rechts“ in diesem Handbuch), ggf. bis hin zur Androhung und Anwendung des Schusswaffengebrauchs, anordnen muss. Die Einsatzlehre hat für derartige Konstellationen verschiedene Modelle entwickelt, z. B. das „Deeskalierende Einsatzmodell“ (dazu Bernt und Kuhleber 1991) oder das „Gewaltreduzierende Einsatzmodell – GeredE“ (Staller et al. 2021; siehe Kap. „Professionelles Einsatzverhalten: Das Gewaltreduzierende Einsatzmodell“ in diesem Handbuch). Derartige Konzeptionen beziehen zwar rechtliche Aspekte ein, allerdings häufig nur „am Rande“, in abstrakt-genereller Form oder als verfassungsnormatives „Hintergrundrauschen“. Bei
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Bernt und Kuhleber (1991) ist die Rede von einer „verfassungsorientierten neuen Polizeiphilosophie“ (S. 233) unter Orientierung an der Vorstellung von einer „bürgernahen“ Polizeiarbeit. „Bürgernähe“, „Kundenorientierung“ und „Deeskalation“ eignen sich als Leitlinien indes nicht für jegliche Lage; zudem werden derartige Konzepte den gerade in neuerer Zeit erheblich veränderten faktischen Rahmenbedingungen polizeilichen Einsatzhandelns nicht (mehr) gerecht. Das Spektrum problematischer Verhaltensweisen, denen sich die Polizei bei ihrer Aufgabenerfüllung in stetig wachsendem Maße gegenübersieht, reicht von Respektlosigkeiten bis zu verbalen oder gar körperlichen Angriffen. Unabhängig von der komplexen Frage, wie die Einstellung der Bevölkerung (bzw. bestimmter Bevölkerungsteile) der Polizei und anderen Einsatzkräften gegenüber verbessert werden kann, bleibt die jeweilige konkrete Einsatzlage auch unter den dargestellten erschwerten Bedingungen zu bewältigen. Eine zentrale Erkenntnis ist dabei, dass die Rechtsordnung für das polizeiliche Einsatzhandeln nicht etwa nur einen (mehr oder weniger eng gesteckten) „Rahmen“ errichtet, innerhalb dessen sich die Polizei bei ihrem Einsatzhandeln völlig flexibel bewegen kann. Keineswegs ist etwa nur das „Ob“ hinsichtlich einer bestimmten Maßnahme rechtlich determiniert und das „Wie“ in das freie Ermessen der handelnden Beamten*innen gestellt. Vielmehr unterliegt jede Entscheidung, jede Auswahl eines Mittels, ja sogar die Wortwahl bei der Kommunikation mit dem polizeilichen Gegenüber rechtlichen Bindungen. Letztere muss etwa diskriminierungsfrei und – mit Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – situationsadäquat sein. Dies bedeutet nicht, dass die Akteure*innen lediglich „Subsumtionsautomaten“ wären oder es in jeder Situation nur eine einzige rechtlich tragfähige Verhaltensweise gäbe. Die handelnden Beamten*innen sollten sich aber zu jedem Zeitpunkt eines Einsatzes darüber im Klaren sein, dass sie nicht lediglich tatsächliche Handlungsentscheidungen, sondern durchgängig auch – mitunter sehr „kleinteilige“ – rechtliche Entscheidungen treffen. Das Bild vom „rechtlichen Rahmen“ für polizeiliches Einsatzhandeln ist daher jedenfalls unpräzise – die rechtlichen Vorgaben legen sich gewissermaßen in mehreren „Schichten“ über das Agieren. So wäre im Beispielfall 1 z. B. die Entscheidung darüber zu treffen, ob überhaupt Maßnahmen getroffen werden. Diese Entscheidung ist eine Ermessensentscheidung (sog. „Entschließungsermessen“), die sich zum einen nach den Bestimmungen über die polizeilichen Aufgaben, zum anderen nach den Vorgaben des jeweiligen Polizeigesetzes für die Ermessensausübung (vgl. § 3 Abs. 1 PolG NRW i. V. m. § 40 VwVfG NRW) richtet und – sofern die Beamten den Anfangsverdacht einer Straftat annehmen – aufgrund des Legalitätsgrundsatzes in eine Handlungspflicht münden kann (§ 152 Abs. 2 StPO). So wären beispielsweise Äußerungen mit Beleidigungscharakter nach Maßgabe der §§ 185 ff. StGB, Widerstandshandlungen und tätliche Angriffe nach §§ 113 f. StGB zu verfolgen. Im Beispiel 1 gäbe es dazu genügend Anhaltspunkte. Eine Pflicht zum Einschreiten kann sich aber auch im Handlungsfeld der Gefahrenabwehr ergeben, wenn etwa die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer (erheblichen) Rechtsgutgefährdung besteht – hier wirken etwa die grundrechtlichen Schutzpflichten (grundlegend Dietlein 1992/2005; Szczekalla 2002). Die Beamten haben zu entscheiden,
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ob sie eine Identitätsfeststellung vornehmen wollen oder nicht (sog. „Entschließungsermessen“); sind Gefahren abzuwehren, wird das Ermessen insoweit regelmäßig auf den Entschluss zum Einschreiten verengt sein. Sie müssen entscheiden, wer den A mit welchen Worten anspricht und was konkret von ihm gefordert wird. Derartige Entscheidungen unterliegen ebenfalls den Bestimmungen für eine pflichtgemäße Ermessensausübung (sog. „Handlungsauswahlermessen“). Die Beamten müssen sodann im weiteren Verlauf der Geschehnisse erwägen, ob und welche Maßnahmen gegenüber den „Störern“ der Maßnahme getroffen werden; ferner, wie weiter in Bezug auf A vorgegangen wird – soll er mit zur Dienststelle genommen werden? Soll man mit ihm nach Hause fahren, um sich dort einen Ausweis vorzeigen zu lassen? Hierbei ist jede einzelne Handlung letztlich mit den rechtlichen Bestimmungen abzugleichen, wobei namentlich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besondere Bedeutung zukommt (vgl. etwa § 2 PolG NRW). Zu keinem Zeitpunkt ist, wie das Beispiel 1 verdeutlichen soll, das Verhalten der Beamten rechtlich „ungebunden“; stets gelten insbesondere auch verfassungsrechtliche Vorgaben wie etwa der absolute Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), das Rechtsstaatsprinzip und der Vorbehalt des Gesetzes (etwa Art. 20 Abs. 3 GG), das Gebot der Verhältnismäßigkeit (das ebenfalls dem Rechtsstaatsprinzip entnommen wird) und die Grundrechtsbindung der vollziehenden Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG). Das Tätigwerden im Einsatz ist mithin „lückenlos“ verfassungs- und einfachgesetzlich gesteuert und determiniert. Die im Einsatzgeschehen zu beachtenden und zu befolgenden Rechtsnormen sind zahlreich und müssen den Beamten*innen geläufig sein. Dabei ist es erforderlich, die rechtlichen Vorgaben stets im Bezug zum jeweiligen Einsatz und zu den zu treffenden Maßnahmen zu setzen. Einsatzentscheidungen auf jeder Ebene lassen sich nicht ohne Kenntnis der normativen Vorgaben treffen. Beispiel 2: Versammlungslage
Für einen Samstagnachmittag ist im Innenstadtbereich einer kleineren Stadt eine Versammlung einer rechtsextremen Vereinigung angemeldet. Erwartet werden ca. 500 Teilnehmer*innen, die vom Bahnhof der Stadt durch die Innenstadt ziehen sollen. Am Tag vor der geplanten Versammlung ruft ein Veranstalter zu einer Gegendemonstration auf und meldet diese ebenfalls an; erwartet werden ca. 200 Gegendemonstranten*innen, die vor allem den Weg der anderen Versammlung blockieren sollen, aber auch eigene Inhalte vermitteln wollen. Am Tag der Versammlung stellen die Einsatzkräfte fest, dass ca. 2000 Teilnehmer*innen zu der Versammlung der rechtsextremen Vereinigung und ca. 3000 Teilnehmer*innen zu der Gegendemonstration anreisen. Von beiden Seiten wird im Vorfeld zu unnachsichtiger Gewalt aufgefordert. ◄ Eine Situation wie im Beispiel 2 ist aus einsatztaktischen Gründen schwierig zu bewerten und zu lösen. In rechtlicher Hinsicht ist die Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG grundsätzlich zugunsten beider Versammlungen zu beachten; die besondere Bedeutung dieses Grundrechts für die demokratische Kommunikation und Meinungs-
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bildung ist zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 69, 315 – Brokdorf; Brenneisen et al. 2020, S. 51 ff.; Schwäble 1975). Art. 8 GG lautet: „(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. (2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“
Gleichwohl wird es nicht möglich sein, beide Versammlungen einschränkungslos zu ermöglichen. Denkbar (und als sog. beschränkende Verfügung bzw. Auflage versammlungsrechtlich zulässig) wäre es, die beiden Versammlungen räumlich voneinander getrennt stattfinden zu lassen. Ein Verbot einer oder beider Versammlungen hätte hoch gesteckte rechtliche Hürden zu nehmen; die Versammlungsgesetze stellen hierfür aufgrund der besonderen Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG hohe Anforderungen. Für eine wirksame Trennung und „Lenkung“ der beiden Versammlungen wäre demgegenüber ein sehr großes Aufgebot an Polizeikräften, regelmäßig auch die Anforderung von Unterstützung aus anderen Bundesländern erforderlich. Rechtslage und Einsatztaktik sind in solchen Fällen oftmals nur schwerlich in Einklang zu bringen. Auch in komplexen Versammlungslagen gelten die anhand des Beispiels 1 aufgestellten Grundsätze einer durchgängigen rechtlichen Steuerung polizeilichen Eingriffshandelns. Zudem lassen sich am Beispiel 2 weitere Aspekte verdeutlichen: Das Versammlungsrecht ist ein aus Sicht der polizeilichen Praxis durchaus problematisches Rechtsgebiet. Zum einen schlagen die Nachteile des Sicherheitsföderalismus gerade bei Großversammlungen in besonderer Weise durch: In den Ländern gelten aufgrund der erst mit der Föderalismusreform II zu ihnen erfolgten Zuweisung der Gesetzgebungszuständigkeit für das Versammlungswesen teilweise sehr divergente versammlungsrechtliche Vorgaben, sodass der Einsatz von Polizeiverbänden aus anderen Ländern Koordinierungsschwierigkeiten mit sich bringt. Zum anderen ist das Versammlungsrecht mehr als andere Handlungsfelder von einer kaum überschaubaren Rechtsprechung geprägt. Der Blick ins Gesetz hilft in der konkreten Einsatzlage häufig wenig. So muss man schlichtweg wissen, dass etwa nach dem eindeutigen Wortlaut des § 15 Abs. 3 VersG (Bund) eine Versammlung unter freiem Himmel aufgelöst werden darf, wenn sie z. B. nicht angemeldet ist, dass das Bundesverfassungsgericht diese Vorschrift aber wegen Art. 8 Abs. 1 GG restriktiv auslegt, sodass eine fehlende Anmeldung allein eine Auflösung nicht rechtfertigt (BVerfGE 69, 315 – Brokdorf II). Auch ein Verbot einer Versammlung einzig wegen einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung darf entgegen § 15 Abs. 1 VersG (Bund) lediglich unter zusätzlichen Voraussetzungen erfolgen. Nur wenn Gefahren nicht aus dem Inhalt, sondern aus der Art und Weise der Durchführung der Versammlung drohen, und wenn Auflagen zur Gefahrenabwehr nicht ausreichen, können Gründe der öffentlichen Ordnung zu einem Versammlungsverbot berechtigen (BVerfG NVwZ 2014, 883; BVerfGE 111, 147). § 15 VersG (Bund) hat den folgenden Wortlaut, der allerdings – wie soeben dargelegt – in erheblichem Umfang restriktiv auszulegen ist:
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„(1) Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. (…) (3) Sie kann eine Versammlung oder einen Aufzug auflösen, wenn sie nicht angemeldet sind, wenn von den Angaben der Anmeldung abgewichen oder den Auflagen zuwidergehandelt wird oder wenn die Voraussetzungen zu einem Verbot nach Absatz 1 oder 2 gegeben sind. (4) Eine verbotene Veranstaltung ist aufzulösen.“
Die Aufzählung schwieriger (Versammlungs-)Rechtsfragen ließe sich beliebig fortsetzen; diese spielen sich auch nicht nur auf einer allgemeinen Ebene ab, sondern reichen tief in die Detailebene hinein, z. B. bei der Entscheidung über beschränkende Verfügungen (bzw. Auflagen). Das Versammlungsrecht erweist sich damit als äußerst diffizile Materie; zudem sind häufig vielfältige Rechte und Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen und in Einklang zu bringen. Die vorstehenden Erwägungen zum Beispiel 2 sollen exemplarisch verdeutlichen, dass die rechtliche Beurteilung polizeilichen Handelns – unabhängig davon, ob sie von den Einsatzkräften oder Polizeiführern*innen bzw. vom Planungsstab zu treffen sind – im Einzelfall häufig hochkomplex ist. Auch wird es gerade unter Zeitdruck oftmals nicht möglich sein, Rechtsfragen vorab „in Ruhe“ durch rechtlich besonders geschulte Kollegen*innen abklären zu lassen und so gewissermaßen auf Fachleute „auszulagern“. Ist letztlich jede (Detail-)Entscheidung rechtlich relevant und determiniert, sind im Einsatzgeschehen laufend Einschätzungen der Rechtslage von nahezu jedem*r Beamten*in auf allen Ebenen zu treffen. Selbst bei der Anordnung der Anwendung unmittelbaren Zwangs (etwa des Schusswaffengebrauchs, dazu Kap. „Polizeilicher Schusswaffengebrauch und psychisch erkrankte Angreifer“, Kap. „Polizeilicher Schusswaffeneinsatz und Notwehrrecht (§§ 32, 33 StGB)“, Kap. „Der polizeiliche Schusswaffengebrauch als Hochstressereignis – Potenziale im Schieß-/Nichtschießtraining am Beispiel der Polizei Nordrhein- Westfalen“ in diesem Handbuch) sind die Anordnungsempfänger*innen zur eigenständigen Klärung von Rechtsfragen verpflichtet. Die Polizeigesetze enthalten hierzu entsprechende Regelungen, z. B. § 59 Abs. 1 und 2 PolG NRW: „(1) Die Polizeivollzugsbeamten sind verpflichtet, unmittelbaren Zwang anzuwenden, der von einem Weisungsberechtigten angeordnet wird. Das gilt nicht, wenn die Anordnung die Menschenwürde verletzt oder nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt worden ist. (2) Eine Anordnung darf nicht befolgt werden, wenn dadurch eine Straftat begangen würde. Befolgt der Polizeivollzugsbeamte die Anordnung trotzdem, so trifft ihn eine Schuld nur, wenn er erkennt oder wenn es nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist, dass dadurch eine Straftat begangen wird. (3) Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Anordnung hat der Polizeivollzugsbeamte dem Anordnenden gegenüber vorzubringen, soweit das nach den Umständen möglich ist. (…)“
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Damit ist eine Einschätzung erforderlich, ob die Anordnung die Menschenwürde verletzt, nicht aus dienstlichen Gründen erteilt wurde, zur Begehung einer Straftat führt oder aus anderen Gründen rechtswidrig ist. Das Beispiel 2 verdeutlicht nach alldem, dass – unbeschadet der konkreten Verantwortungsverteilung – teilweise ausgesprochen komplizierte rechtliche Bewertungen vor, während und nach einem Einsatz auf allen Ebenen zu treffen sind. Damit sind Rechtskenntnisse nicht nur „in der Breite“ (s. Beispiel 1), sondern auch „in der Tiefe“ von erheblicher Bedeutung. Beispiel 3: Wald-„Besetzung“
Der F-Forst ist die verbleibende Fläche eines Waldes, der nach und nach für den Abbau von Braunkohle und den Bau von Infrastruktureinrichtungen abgeholzt worden ist. Seit einigen Jahren haben „Klimaaktivisten“ den Forst zur Verhinderung seiner endgültigen Abholzung „besetzt“, ein Camp und Baumhäuser errichtet sowie Barrikaden und „Fallen“ aufgebaut. Häufiger werden Anlagen im bzw. in der Nähe des Forstes sabotiert und zivile Mitarbeiter der für den Abbau verantwortlichen Firma angegriffen. Einige der „Aktivisten*innen“ sind polizeibekannte und international gesuchte Straftäter*innen. Als die zuständige Bauaufsichtsbehörde die Räumung der Baumhäuser aufgrund baupolizeilicher Mängel anordnet, erfolgt ein Polizeieinsatz. Dabei werden die Polizeibeamten*innen mit Zwillen beschlossen und mit Fäkalien beworfen; einige der „Bewohner*innen“ ketten sich mit sog. „Lock-ons“ an Schienenwegen oder in Erdlöchern fest. Zudem befinden sich zum Zeitpunkt der Räumung ca. 200 Personen im Forst, die für den Klimaschutz, gegen den Braunkohletagebau und gegen die Abholzung des Waldes demonstrieren und teilweise Widerstandshandlungen gegen die Räumungshandlungen der Polizei begehen. ◄ In derartigen Fallkonstellationen besteht häufig die Problematik, dass die verschiedenen Ebenen der Diskussion nicht hinreichend klar voneinander unterschieden werden. Man kann ein Befürworter des Klimaschutzes und erneuerbarer Energien sein und auch die Abholzung eines Waldstücks ablehnen, ohne sich in Konflikt mit der Rechtslage zu setzen. Viele unter den Einsatzkräften teilen diese Sichtweise. Davon zu unterscheiden sind aber die Bewertung der „Besetzung“ des Forstes, die rechtlich unanfechtbare Anordnung der Räumung (die inzwischen allerdings erstinstanzlich aufgrund ihrer Begründung mit baurechtlichen Aspekten für rechtswidrig erklärt worden ist) und die Pflicht zur Befolgung polizeilicher Anordnungen. Müssen Personen etwa von der Polizei unter Anwendung unmittelbaren Zwangs aus den Baumhäusern entfernt werden, bedeutet dies nicht, dass „der Staat“ oder „die Polizei“ sich angesichts des bedrohlichen Klimawandels rechtswidrig verhält, und ihr Handeln aktiviert auch nicht etwa ein Recht auf zivilen Ungehorsam oder gar ein aktives Widerstandsrecht (Sommermann 2015; Arndt 1993), die durch die klimatische Situation und den Wunsch gerechtfertigt sind, zu einer Verbesserung der Situation beizutragen. Bei diesbezüglich klarer Rechtslage sind (sofern nicht eine Entscheidung für den
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Abbruch des Einsatzes zum Zwecke der Eigensicherung fällt) an die Einsatztaktik wiederum besondere Herausforderungen gestellt, namentlich im Hinblick auf die Kommunikation der Einsatzmaßnahmen. Es erscheint damit als ein wesentlicher Erfolgsfaktor im Hinblick auf die Akzeptanz polizeilicher Einsatzmaßnahmen, dass (auch) die rechtlichen Grundlagen dem polizeilichen Gegenüber und der Öffentlichkeit vor, während und nach ihrer Anwendung differenziert und transparent dargelegt werden können. Auch dies erfordert vertiefte Rechtskenntnisse und deren „Verknüpfung“ mit Aspekten der Einsatzlehre. Die zentrale Bedeutung nicht nur der Kenntnis, sondern auch der Befähigung zu einer nachvollziehbaren und überzeugenden Kommunikation rechtlicher Rahmenbedingungen des polizeilichen Eingriffshandelns zeigt sich auch in einem weiter gefassten Kontext. Unter dem Eindruck verschiedener Ereignisse in den Vereinigten Staaten von Amerika, der Aufdeckung rechtsextremistischer, rassistischer und volksverhetzender Äußerungen von Polizeibeamten*innen in Chat-Gruppen und sozialen Medien und der Veröffentlichung von Videoaufnahmen von Polizeieinsätzen, die von vielen (nicht selten zu Unrecht) als unverhältnismäßige und damit rechtswidrige „Polizeigewalt“ wahrgenommen werden, lassen sich auch in Deutschland inzwischen häufiger Rufe nach „disarm“, „defund“ und „abolish the police“ vernehmen – also nach einer Entwaffnung der Polizei, nach einer massiven Kürzung ihrer Budgets oder gar nach einer Abschaffung und Ersetzung der Polizei durch Einrichtungen und Handlungsformen des „Community Policing“ (vgl. Frevel 2001; Kersten 2002) oder auch durch Sozialarbeiter*innen. Der Eindruck, Deutschland habe ein „#Polizeiproblem“, verfestigt sich inzwischen jenseits der traditionell in Fundamentalopposition zur Staatsgewalt stehenden linksgerichteten Bevölkerungsteile. Dies ist deshalb eine große Gefahr, weil (auch) für sich genommen rechtmäßige polizeiliche Maßnahmen aufgrund einer gesteigerten Abneigung gegenüber der Polizei oftmals als rechtswidrig, „menschenunwürdig“ usw. qualifiziert werden. Das wiederum erschwert das polizeiliche Einsatzhandeln teilweise ganz erheblich. Das Beispiel 3 soll zum einen verdeutlichen, dass es im Verhältnis zwischen Einsatzlehre und Recht künftig immer häufiger auch um Kommunikation und Vermittlung der rechtlichen Grundlagen des polizeilichen Handelns gehen muss (zur „Fairness in Interaktionen“ als Grundlage für Vertrauen in die Polizei vgl. Kap. „Vertrauen in die Polizei im 21. Jahrhundert: Fairness in Interaktionen als Grundlage“ in diesem Handbuch; zur Bedeutung der Kommunikation siehe Kap. „Kommunikation in der Anwendung“ und Kap. „Polizeiliche Kommunikationsfähigkeit und deeskalative Handlungskompetenz – Grundlagen und Potenzial des Einsatztrainings“ in diesem Handbuch). Hier wirken nicht nur Einsatzlehre und Recht zusammen, vielmehr sind auch Aspekte der Öffentlichkeitsarbeit von Bedeutung. In Zukunft wird es vermutlich häufiger erforderlich werden, nicht nur das faktische Handeln und seine Hintergründe Presse und Öffentlichkeit gegenüber zu erläutern und zu „recht“-fertigen, sondern auch Ausführungen zur rechtlichen Bewertung des polizeilichen Handelns zu machen. Inwieweit Einsatzkommunikation künftig auch verstärkt „Rechts(grundlagen)kommunikation“ sein muss, und in welchem Umfang alle Beamten*innen hierzu befähigt werden müssen, ist im Einzelfall zu beurteilen (zur „Kontakt-Kompetenz“ siehe Kap. „Kontakt- Kompetenz im polizeilichen Dienstalltag“ in diesem Handbuch). Zum anderen lässt sich am Beispiel 3 ein weiterer Gesichtspunkt verdeutlichen: Auch die interne Kommunikation der rechtlichen Grundlagen muss gegenüber den Einsatz-
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kräften gestärkt werden. Insbesondere dann, wenn bestimmte Maßnahmen von einer breiten Öffentlichkeit hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit in Zweifel gezogen werden, erscheinen juristische „Selbstvergewisserungen“ der Beamten*innen unerlässlich. Es geht einerseits darum, bei der Einsatzvorbereitung, gegebenenfalls auch einsatzbegleitend, jedenfalls aber im Rahmen einer Nachbereitung die Rechtsgrundlagen zu erläutern, um die Beamten*innen in die Lage zu versetzen, ihrem jeweiligen Gegenüber die rechtliche Situation darlegen zu können. Andererseits wird man mitunter auch zweifelnde Beamten*innen von der Rechtmäßigkeit ihres Handelns überzeugen müssen.
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isziplinspezifische Rationalitäten und Begrifflichkeiten – D Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Die drei Beispiele sollten verdeutlichen, 1. dass Einsatzlehre und Recht enger miteinander „verzahnt“ sind, als dies den Anschein haben mag, 2. dass die rechtlichen Rahmenbedingungen häufig hochkomplex sind und 3. dass die Kommunikation der rechtlichen Grundlagen des Einsatzgeschehens von besonderer Bedeutung ist. Diese Befunde freilich führen zu praktischen Schwierigkeiten, weil beide Disziplinen teilweise sehr unterschiedlichen Rationalitäten und Begrifflichkeiten folgen. Das „Recht“ soll hier nicht einschränkend im Sinne einer Gesamtheit der (polizeirelevanten) Normen verstanden werden. Denn auch in der Praxis genügt die Kenntnis der geschriebenen Rechtsgrundlagen regelmäßig nicht. Vielmehr sind die für das polizeiliche Handeln entscheidenden Bestimmungen „nahtlos“ in den Rahmen der Rechtswissenschaften eingebunden. Sicherlich mögen Erkenntnisse aus Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Rechtspolitik für die Einsatzpraxis eher von untergeordnetem Interesse sein – gleichwohl unterliegen auch die Vorschriften des „Rechts der bzw. für die Polizei“ im weiteren Sinne (also etwa unter Einschluss des öffentlichen Dienstrechts oder des Rechts der europäischen polizeilichen Zusammenarbeit) ohne Einschränkung den juristischen Methoden der Auslegung und Anwendung. So stellen sich beispielsweise bei verschiedenen Ermächtigungsgrundlagen für polizeiliche Eingriffsmaßnahmen rechtliche Fragen, die mitunter in Rechtsprechung und rechtswissenschaftlichem Schrifttum kontrovers beantwortet werden. Derartige „Meinungsstreitigkeiten“ sind aus rechtswissenschaftlicher Sicht von Interesse, im polizeilichen Einsatzgeschehen aber beeinträchtigend, ohne indes ohne Weiteres vernachlässigbar zu sein. Dies führt vor allem zu der didaktisch relevanten Überlegung, in welcher Breite und Tiefe juristische Detailfragen in der Lehre und im Einsatztraining vermittelt werden sollten. Zudem mag auch das rechtswissenschaftliche Denken vielen Beamten*innen fremd sein. Dies ist schon bei der Klausurbearbeitung etwa in den Fächern Staatsrecht, Strafrecht und Eingriffsrecht zu beobachten – die Arbeit an Sachverhalt und Normen, der „Gut-
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achtenstil“ und die systematische „Abarbeitung“ von Voraussetzungen und Detailbestimmungen fallen vielen Lernenden schwer. Nicht selten vernimmt man nach der ersten Praxisphase, dass dies oder jenes „auf der Straße“ völlig anders gehandhabt werde. Dieses Phänomen suggeriert tiefgreifende Inkongruenzen zwischen Recht und praktizierter Einsatzlehre, die angesichts des zu den Beispielfällen Gesagten nicht existieren dürfen. Auch die juristischen Begrifflichkeiten sind nicht immer einfach zu handhaben. Das Recht verlangt in hohem Maße Akribie und Präzision; in vielen Fällen lösen sich zudem die gesetzgeberischen Differenzierungsüberlegungen im Zusammenwirken mit unge schickter Rechtsetzungspraxis in nachteiliger Weise von den Einsatzrealitäten. Wer z. B. einmal mühselig die gesetzlichen Vorgaben zur Belehrung zur Beschuldigtenvernehmung aus der StPO und ergänzenden Regelwerken (wie etwa dem JGG) zusammengesucht hat, kann die Skepsis, die seitens der Einsatzpraxis der Rechtslehre gegenüber besteht, ohne Weiteres nachvollziehen. All dies führt zu der Neigung, die Rechtswissenschaften für die polizeiliche Praxis handhabbar zu machen, indem sie beherzt zu einer Art „Hilfsdisziplin“ zurechtgestutzt werden. Nicht selten werden rechtliche Vorgaben in Checklisten, Formularen o. Ä. zusammengeführt, die „abgearbeitet“ werden. Dies kann durchaus sachgerecht sein; allerdings erscheint es unerlässlich, dass die Einsatzkräfte die rechtlichen Vorgaben in ihrem Kontext kennen, nicht nur zur Kenntnis nehmen. Der Mittelweg zwischen dem Abwerfen eines „rechtswissenschaftlichen Überhangs“, z. B. längst höchstgerichtlich geklärter und nicht im Zuge eines Wandels der Rechtsprechung bzw. der normativen Bestimmungen wieder aufzugreifender Meinungsstreitigkeiten, und der Reduktion des Rechts auf ein unreflektiertes Handlungsprogramm muss gefunden werden. Bei näherer Betrachtung wäre es allerdings verfehlt, die Rechtswissenschaften nach Johann Wolfgang von Goethe als „graue Theorie“, die Einsatzlehre aber als „grün des Lebens goldner Baum“ zu bewerten. Denn auch die Einsatzlehre ist nicht nur verschriftlichtes und als solches perpetuierbares fall- bzw. lageorientiertes Erfahrungswissen in der Tradition der „Polizeiverwendungslehre“, sondern weist ebenfalls zahlreiche Elemente einer Wissenschaft auf (vgl. Averdiek-Gröner et al. 2015; Zeitner 2021). Es finden sich Theoriebildung und Modellgestaltung, eine differenzierte Methodologie und Meinungsstreitigkeiten. Der Unterschied zu den Rechtswissenschaften liegt etwa darin, dass die Einsatzlehre nicht auf eine Jahrhunderte alte, tradierte Wissenschaftsarchitektur zurückgreifen kann, sowie in der erheblich intensiveren Praxis- bzw. Anwendungsnähe für die Lebenswelt von Polizeibeamten*innen.
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orschläge für eine „Verzahnung“ von Recht V und Einsatzlehre
Ist damit anhand der Beispielfälle und der ergänzenden Erwägungen aufgezeigt, wie eng Recht und Einsatzlehre miteinander verzahnt sind und dass sie zwar unterschiedlichen Rationalitäten folgen, beide aber Elemente einer Wissenschaft aufweisen, stellt sich die Frage nach den Folgen für die Lehre in Aus- und Fortbildung und für das Einsatztraining.
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Für die Aus- und Fortbildung und die (akademische) Lehre ist kritisch zu hinterfragen, ob die Aufteilung von Rechtsdisziplinen und Einsatzlehre als jeweils eigene Lehrfächer künftig noch sachgerecht ist. Es erschiene sinnvoller, nach der Durchführung von Einführungs- bzw. Grundlagenveranstaltungen zum Recht insgesamt (verfassungsrechtliche Grundlagen, rechtliche Grundbegriffe, Methodik etc.) vorrangig am Modell der Einsatzlage zu arbeiten und zu lehren. So könnten etwa nach der Erörterung des Sachverhalts verschiedene mögliche Entscheidungs- und Handlungsverläufe, jeweils unter Darstellung der rechtlichen Vorgaben, vorgestellt und diskutiert werden. Damit könnte z. B. die im Eingriffsrecht zwar für ein „abgegrenztes“ Fach erforderliche und gängige, aber nicht optimal praxisnahe Darstellung anhand der einzelnen polizeilichen Eingriffsmaßnahmen (z. B. bei Bialon und Springer 2020; Nimtz und Thiel 2020) ersetzt werden zugunsten einer Erörterung eines typischen „Maßnahmenbündels“ bzw. einer „Handlungsabfolge“ in gängigen Einsatzsituationen. Letztere wären freilich so auszuwählen und zusammenzustellen, dass das Spektrum der Ermächtigungsgrundlagen möglichst vollständig abgedeckt wäre – zumindest diejenigen, die in der polizeilichen Praxis gebräuchlich sind und nicht ausschließlich von Spezialisten*innen anzuwenden sind. Umgekehrt würde in der Einsatzlehre verstärkt Wert auf eine auch rechtliche Fundierung des vorgeschlagenen Handelns gelegt. Dies verspricht durch eine engere Verbindung praktischer und rechtlicher Aspekte letztlich eine verbesserte Handlungssicherheit in der Praxis. Es bietet sich an, zur Erreichung dieser Ziele die entsprechenden Curricula insgesamt interdisziplinärer auszurichten. Die Umsetzung dieser Vorschläge bietet sich auch für das Einsatztraining bei der Kombination von Einsatzlehre und rechtlichen Grundlagen an. Denkbar wären z. B. die Schaltung einer (instruierenden bzw. reflektierenden) „Rechts“-Einheit vor und nach dem Einsatztraining sowie ein begleitendes juristisches „Monitoring“ der jeweils erprobten Tätigkeiten. Dies verbessert die Fähigkeit zu einer stetigen rechtlichen Bewertung des eigenen (Einsatz-)Handelns und stärkt auch hier die Sicherheit bei der späteren Umsetzung in der Einsatzpraxis. Die vorstehenden Vorschläge stellen an die eingesetzten Lehrkräfte und Einsatztrainer*innen gesteigerte Anforderungen. So müssen die Lehrenden in den „Rechtsfächern“ vertieft auch in der Einsatzlehre geschult sein und umgekehrt. Dies ließe sich beispielsweise durch eine entsprechende ergänzende „Crossover“-Schulung und -Fortbildung, aber auch durch Behördenhospitationen von Rechtsdozenten*innen bewerkstelligen. Eine sinnvolle Alternative dürfte die Nutzung didaktischer Modelle wie etwa des „Team-Teachings“ darstellen, bei dem Vertreter*innen beider Disziplinen beteiligt sind und Einsatzsituationen gemeinsam aus Sicht der Einsatzlehre und des Eingriffsrechts beleuchten und aufbereiten. Fazit Die gängige Trennung von Einsatzlehre und Rechtsfächern in der polizeilichen Aus- und Fortbildung und im Bereich des Einsatztrainings weist angesichts der äußerst engen Verzahnung der Disziplinen durchaus beachtliche Defizite auf. Es bietet sich an, das Zusammenwirken normativer Vorgaben und praktischer Erkenntnisse und Konzepte auch in
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der Aus- und Fortbildung stärker in den Vordergrund zu stellen und – etwa im Wege des „Team-Teachings“ oder einer entsprechenden „Crossover“-Schulung der Lehrkräfte – rechtliche und einsatztaktische Aspekte lage- bzw. situationsbezogen zu behandeln. Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis
a) Entscheider*innen Die enge Verzahnung von Rechtsfächern und Einsatzlehre ist für die Entscheider*innen insoweit von erheblicher Bedeutung, als sowohl im Bereich der Ausund Fortbildung als auch im konkreten Einsatzgeschehen die Wechselwirkungen der Disziplinen verstärkte Berücksichtigung finden sollten. Die Einsatzkräfte sind dazu anzuleiten und anzuhalten, ihr konkretes Handeln auch im Detail sowohl unter rechtlichem als auch unter einsatztaktischem Blickwinkel zu bewerten. Dazu bieten sich regelmäßige Fortbildungsveranstaltungen und Trainings an; insbesondere dann, wenn sich die rechtlichen Rahmenbedingungen durch Gesetzesnovellen oder eine sich wandelnde Rechtsprechung verändern. b) Einsatzkräfte Auch die Einsatzkräfte profitieren von einer intensiveren Verdeutlichung der engen Verzahnung zwischen Rechtsfächern und Einsatzlehre. Die rechtlichen Vorgaben sollten auch im Bewusstsein der Beamten*innen nicht als „Hemmschuh“ oder Hindernis für praktikables Tätigwerden wahrgenommen werden, sondern gewissermaßen als „Kollegen in Paragrafenform“. Eine entsprechende verstärkte Berücksichtigung beider Disziplinen in ihren Wechselwirkungen bei der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung erhöht die (Rechts-)Sicherheit des Handelns, dient der (Selbst-)Vergewisserung und versetzt die Beamten*innen in die Lage, auch ihrem Gegenüber bzw. der Öffentlichkeit die Rechtmäßigkeit ihrer Vorgehensweise nachvollziehbar, transparent und überzeugend darzulegen. c) Einsatztrainer*innen Für Lehrende und Einsatztrainer*innen ist ein intensiverer „Blick über den Tellerrand“ von großer Bedeutung. So sollten Lehrende mit einem Schwerpunkt in der Einsatzlehre, aber auch Einsatztrainer*innen nicht nur grob die rechtlichen Grundlagen kennen, sondern jede Einzelentscheidung, jeden „Schritt“ juristisch bewerten können. Umgekehrt ist für die Lehrenden der Rechtsfächer eine eingehende Befassung mit der Einsatzlehre unerlässlich, um einen hinreichenden Praxisbezug herstellen zu können. Gut geeignet sind Modelle des „Team-Teachings“ im Rahmen des konkreten Einsatztrainings – so besteht zu jeder Zeit die Möglichkeit der Teilnehmer*innen, das Trainierte auch einer rechtlichen Kontrolle zu unterziehen und im Zweifel bestehende Rechtsfragen zu klären.
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Teil V Reflektierte Praxis – Einsatz
Gewalt gegen den Zoll: Kommunikation als zentrales Einsatzmittel in der Konfliktbearbeitung Torsten Porsch und Christian Pill
Inhaltsverzeichnis 1 2 3 4
ewalt gegen Einsatzkräfte G Gewalt gegen den Zoll Training in der Ausbildung Training in der Fortbildung 4.1 Lehrende im Training 4.2 Eigensicherung mittels Reizstoffsprühgerät (RSG) 4.3 Eigensicherung und Bewaffnung (ESB) 4.4 Sonstige Fortbildungen 5 Das Zolltraining 5.1 Dienst begleitender theoretischer Unterricht (DbtU) 5.2 Dienstsport 5.3 Waffentraining und Schießtest 5.4 Zollhundetraining 5.5 Einsatztraining 6 Nachsorge 7 Ausblick Literatur
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Reviewer*innen: Thomas Feltes, Uwe Füllgrabe T. Porsch (*) · C. Pill Fachbereich Finanzen, Hochschule des Bundes, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_41
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Zusammenfassung
Die Konfrontation mit Gewalt ist für die mehr als 43.000 Bediensteten der Zollverwaltung eine quantitativ eher seltene, dennoch besonders relevante Situation. Seit mehreren Jahren werden Gewalt und Bedrohung gegen Bedienstete systematisch erfasst und ausgewertet. Um dem Phänomen der Gewalt zu begegnen, hat der Zoll eine Reihe von Maßnahmen ausgestaltet und entwickelt diese fortlaufend weiter, die bereits in der Ausbildung beginnen, Einsatztrainings in der Praxis betreffen, in der Fort- und Weiterbildung adressiert werden und Gegenstand der Nachbereitung sind. Ziel ist es dabei, auf Grundlage der Rechtsstaatlichkeit alles zu tun, um der Gewalt gegen Einsatzkräfte vorzubeugen, ihr zu begegnen und die Gesundheit der Bediensteten sicherzustellen. Beginnend mit der Beschreibung der Ausgangslage (Besonderheiten der Aufgabenerfüllung innerhalb der Organisation, Gewaltaufkommen, Maßnahmen der Prävention, Intervention und Nachsorge beim Zoll), soll besonders auf den Aspekt der Kommunikation in Einsatzsituationen und konfliktbeladenen Bürger*innenkontakten eingegangen werden. Dabei sollen neben dem Schwerpunkt auf den waffentragenden Bereich des Zolls auch Konfliktsituation beleuchtet werden, die im Verwaltungskontext z. B. an Kfz-Steuer-Stellen entstehen. Auf Basis der in Aus- und Fortbildung des Zolls vermittelten Ansätze soll dargestellt werden, wie Kommunikation in der Gestaltung von Einsatztraining ständig mitgedacht werden muss, Gegenstand von theoretischem Unterricht, Verhaltenstraining und der unmittelbaren Weiterbildung im Dienst sein kann. Zwischen den grundlegenden Vorschriften von Polizei und Zoll zur Eigensicherung ergibt sich eine große Schnittmenge, allerdings findet sich darin nur ein sehr grober Rahmen zur Ausgestaltung der Kommunikation in Einsatzsituationen. Daraus ergibt sich ein eher heterogenes Konzeptspektrum, das teilweise unsystematisch durch Erfahrungswissen angereichert ist. Auf Grundlage der aktuellen Forschungslage soll ein Trainingsansatz aufgezeigt werden, der insbesondere empirisch fundierte Wirkmechanismen für Einsatzkräfte nutzbar macht. Des Weiteren soll dargestellt werden, wie die Auswertung von Ereignissen in der Berufspraxis, die Gestaltung von Aus- und Fortbildung und die Einsatznachsorge verzahnt sein müssen, um möglichst effektiv Einsatzkräften Handlungswissen zu vermitteln.
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Gewalt gegen Einsatzkräfte „Gewalt ist der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen oder Deprivation führt“ (WHO 2003, S. 6).
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Gewalt ist Teil des Verhaltensrepertoires vieler Menschen. Als in der Forschung allgemein akzeptierte Definition gilt Gewalt als die Verhaltensmanifestation von Aggression (Suris et al. 2004). Dabei geht es nicht um eine juristische Beschreibung des Begriffs, sondern um die Genese von Gewalt, die von Menschen ausgeübt wird. Die Entstehung von Gewalt ist ein komplexer Prozess, bei dem biologische, psychologische, soziologische, kulturelle und kontextbezogene Faktoren bestimmen, welches Verhalten aus der Aggression entsteht (Helfgott 2015). Das Entstehen von Gewalt kann als Prozess beschrieben werden, auf dem Merkmale der beteiligten Personen (Dispositionen wie auch vorübergehende physische und psychische Zustände) Merkmale der Situation (situativer, Mikro-, Meso- und Makrokontext) in Wechselwirkungen zueinander stehen (Sticher 2016). Dieses wechselwirkende Zusammenspiel der Merkmale kann zu einer dynamischen Entwicklung der Situation bis hin zu physisch-gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Beispielhaft zeigt sich dies in der unterschiedlichen Aggressionsmanifestation bei Männern und Frauen. Physische Gewaltformen werden im Allgemeinen häufiger von Männern ausgeübt (Campbell 1994). In einigen kulturellen Kontexten wird die Ausübung von physischer Gewalt durch Frauen allerdings belohnt und bestärkt, wodurch sie häufiger auftritt (Campbell 1994; Day et al. 2003). Darüber hinaus können strukturelle und organisationale Rahmenbedingungen gewalttätiges Verhalten befördern (Zimbardo 2007). Neben gesellschaftlichen und systemischen Faktoren, entscheiden auch intraindividuelle Dispositionen über das Auftreten von Gewalt. Es gibt deutliche Hinweise auf den Zusammenhang von Verhaltensproblemen und negativen Emotionen in der Kindheit mit Gewaltverbrechen im Erwachsenenalter (Lynam et al. 2004). Allerdings sind bei Weitem nicht alle gewaltausübenden Personen auch psychopathologisch auffällig. Vielmehr zeigt sich, dass gewaltausübende Personen dieses Verhalten auch in ihren alltäglichen Interaktionen zum Beispiel im Umgang mit Familienmitgliedern und Arbeitskolleg*innen einsetzen, damit erfolgreich sind bzw. nicht sanktioniert werden (Canter 2000). Gewalt wird damit zum Mittel, um andere Personen zu kon trollieren oder zu benutzen, einen emotionalen Zustand auszuleben oder eine Beziehung zu anderen Menschen zu gestalten. Diese Befunde verdeutlichen, dass Gewalt immer auch als Ergebnis von interagierenden Faktoren verstanden werden muss. Das Zusammenspiel von psychologischen Wirkkräften bei der gewaltausübenden Person, zwischenmenschlichen Beziehungen und Kontextfaktoren bestimmt das Auftreten von Gewalt. Somit tritt Gewalt nicht einfach auf, sondern entsteht im Verhalten aus situationsimmanentem Unmittelbaren und längerfristig Erlernten. Einsatzkräfte von Polizei, Zoll, Justiz, aber auch Feuerwehr und Rettungsdiensten können Opfer von Gewalt werden, erleben Gewalt und deren Folgen gegen Dritte mit und können gezwungen sein, Gewalt auszuüben, um sich zu verteidigen oder – im Falle von Vollzugsbediensteten – Maßnahmen durchzusetzen. Das Handeln von Einsatzkräften geschieht häufig in emotional aufgeladenen Situationen, mit intoxikierten oder gewalttätigen Verhalten prädisponierten Personen und birgt für die beteiligten Bürger*innen Momente der Frustration und Handlungsunterbrechung, aus denen Aggressionen entstehen können. Die Forschung zur Gewalt gegen Einsatzkräfte, insbesondere Polizeibedienstete, zeigt die Gefährlichkeit dieser Berufstätigkeit auf (Fürmetz 2011; Violanti et al. 2020), die auch für
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den Bereich von Feuerwehr und Rettungskräften zuzunehmen scheint (Dressler 2017). Einsatzkräfte werden durch Aus- und Fortbildung auf Gefahrensituationen vorbereitet. Für den Bereich der Zollverwaltung liegt bisher noch keine systematische Betrachtung vor, obwohl deren Bediensteten sich häufig in den Aufgabenfeldern anderer Behörden ähnelnden Konfrontationssituationen befinden (Porsch 2020). Die Gefahrenlagen beim Zoll unterscheiden sich insofern von denen der Polizei, als dass Polizeikräfte regelmäßig in bereits laufende Lagen hineingerufen werden, während Zollkräfte im Schwerpunkt die Kontakt- und Kontrollsituationen selbst einleiten. Beide anlassgebende Situationen bringen aber auch Gewaltpotenzial mit sich. Im folgenden Abschnitt soll auf die Gewalt gegen Zollbedienstete eingegangen werden. Reisenden-Kontrolle am Flughafen
Beim Verlassen des Ankunftsbereiches durch den grünen Ausgang (als konkludente Zollerklärung für anmeldefreie Waren) wird ein Reisender durch Kontrollbeamte angesprochen und aufgefordert, seinen Koffer auf das Gepäckband des Röntgenkontrollgeräts zu legen. Der Reisende reagiert direkt aggressiv und stellt die Maßnahmen der Kontrollbeamten laut infrage. Weiter weigert er sich, seinen Koffer auf das Gepäckband zu legen. Er droht den Kontrollbeamten mit körperlicher Gewalt, sollten sie ihm sich weiter nähern und ihm seinen Koffer wegnehmen. Im Verlauf der Gesprächssituation zwischen Kontrollbeamten und Reisenden beschimpft dieser die Beamten als „Wegelagerer“ und unterstellt rassistische Motive als Begründung für die Kontrolle. Die Situation lässt sich durch deeskalierende Gesprächsführung seitens der Kontrollbeamten und Eingreifen der Partnerin des Reisenden beruhigen. Diese überzeugt ihren Partner, den Koffer zur Kontrolle zu übergeben. Letztendlich fügt sich der Reisende und duldet die Kontrolle. Er beschimpft an mehreren Zeitpunkten weiter die Kontrollbeamten. Die Kontrolle endet schließlich ohne Aufgriff. Der Reisende verlässt sichtlich gereizt und lautstark den Kontrollbereich. ◄
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Gewalt gegen den Zoll
Grundlegende Aufgabe der bundesweit ca. 43.000 Zöllner*innen ist die Sicherung der Leistungsfähigkeit unseres Gemeinwesens. Die Aufgaben sind im Detail vielfältig: Neben dem Schutz von Bürger*innen, der Wirtschaft sowie der Umwelt nimmt der Zoll aktuell in etwa die Hälfte der dem Bund zufließenden Steuern ein. Daraus ergibt sich eine praktische Erfüllung dieser zahlreichen Aufgaben auch im direkten Kontakt mit Bürger*innen u. a. in den Dienststellen, in Firmen und an Baustellen, Flughäfen und anderen Reiseverkehrswegen. Im Rahmen dieser Aufgabenerfüllung müssen Personen angehalten, kontrolliert, befragt und auch durchsucht werden. Der Zoll unterbindet die Ein- und Ausfuhr bestimmter Güter, beschlagnahmt, erhebt Zölle, Steuern und Abgaben bis hin zur Pfändung von Sachwerten, die durch Vollziehungsbeamt*innen im Außendienst veranlasst wird. Bei der Be-
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trachtung von potenziell gewalttätigen Situationen muss der Blick deutlich über den Vollzugsbereich der Zollverwaltung mit Kontrollen im Rahmen von Einsatzgeschehen, wie es aus polizeilichen Kontexten und Abläufen allgemein bekannt ist, hinaus geweitet werden. Nur knapp 12.000 Beschäftigte in der Zollverwaltung sind im Dienst bewaffnet. In der Mehrzahl der Tätigkeitsbereiche werden Beamt*innen eingesetzt, die in einem reinen Verwaltungskontext, fern eines praktischen Einsatzgeschehens, handeln und entsprechend ausgebildet und ausgestattet sind. Im Dienstalltag ergeben sich aber auch in diesen Umfeldern Situationen, die für die Bürger*innen folgenreich und emotional besetzt sein können und in aggressivem Verhalten münden können. Das Verhalten und im Speziellen die Kommunikation aller Beteiligten in solchen Situationen, vorangegangene und aktuelle Wahrnehmungen wie auch die allgemeinen Begleitumstände können zu einer Eskalation im Sinne von Gewalt führen (Hermanutz 2015). Aus den Aufgaben der Zollverwaltung ergeben sich zahlreiche Anlässe mit Gewaltpotenzial, wie zum Beispiel die Verweigerung der Einfuhr und Beschlagnahme eines unter Artenschutz stehendenden Urlaubsmitbringsels, die bevorstehende Strafzahlung, zusammen auftretend mit situativen Merkmalen, wie die Erschöpfung durch die mehrstündige Flugreise, sowie der Neigung des/der Reisenden, in frustrierenden Kontexten aggressives Verhalten zu zeigen. Eine Näherung an die Beschreibung der Ausgangslage ist durch den Blick auf die Vorkommnisse in der Zollpraxis möglich. Es ist dabei allerdings einschränkend zu beachten, dass eine solche Betrachtung niemals ohne Einbeziehung von gesellschaftlichen und politischen Aspekten sinnvoll scheint (Gibbs 2019). Die Zollverwaltung klassifiziert Angriffe sowie Gefährdungslagen ohne eine Einbeziehung soziologischer oder politischer Randbedingungen. Angriffe (im Sinne des Verdachts einer Straftat gegen Zollbedienstete) werden dabei als durch menschliche Handlung, drohende oder tatsächliche Verletzung rechtlich geschützter individueller Güter oder Interessen (z. B. Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit, Eigentum, Ehre, sexuelle Selbstbestimmung) definiert und u. a. in Beleidigungen, körperlicher Gewalt, Angriffe mittels Waffe oder anderer Hilfsmittel statistisch erfasst. Eine Gefährdungslage ist in dieser formellen Erfassung als eine Sachlage definiert, in der bei ungehindertem Ablauf des zu erwartenden Geschehens in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden für eines der Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung eintreten wird. Diese negative Auswirkung einer Gefährdung kann Personen, Sachen, Sachverhalte, Umwelt oder Tiere betreffen. Statistisch klassifiziert werden u. a. direkte und indirekte Bedrohungen und aggressives Verhalten. Auf Angriffe und Gefährdungslagen soll im Folgenden eingegangen werden. Ereignismeldungen über Angriffe gegen Zollbedienstete und Gefährdungslagen im Zolldienst werden durch die Generalzolldirektion gesammelt und ausgewertet. Die absolute Mehrzahl von Kontaktsituationen mit Bürger*innen verläuft – trotz des in den Aufgaben liegenden Gewaltpotenzials – gewaltfrei (Porsch 2020). Dennoch kommt es immer wieder zu besonderen Vorkommnissen, die in Verbindung mit Gewalt stehen. In 2018 wurden bundesweit im Bereich des Vollzugs Angriffe im unteren dreistelligen Bereich statistisch erfasst. Auf jeden Angriff kommen mehr als zwei erfasste Gefährdungslagen. Betroffen waren vor allem Kontrollsituationen an Grenzen, Flughäfen, auf der Straße, in
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Firmen, Wohnungen, Baustellen und an allgemein öffentlichen Orten. Angriffe erfolgten am häufigsten durch körperliche, waffenlose Gewalt, Gefährdungslagen entstanden vor allem durch körperliche und verbale Bedrohungen. Gelöst wurden die Situationen in der Mehrzahl bei Angriffen durch physisches Einschreiten und in Gefährdungssituationen durch deeskalierende Kommunikation. In den Tätigkeitsbereichen außerhalb des Vollzugs wurden Angriffe im unteren zweistelligen Bereich erfasst, von denen die Mehrzahl in den Zollämtern stattfand und bei denen es sich hauptsächlich um Beleidigungen und Bedrohungen handelte. Körperliche Gewalt trat in diesem Bereich gar nicht auf. Die häufigste Maßnahme im Umgang mit Angriffen außerhalb des Vollzugsbereichs war die deeskalierende Kommunikation. Kontrollsituationen, und damit die Tätigkeitsbereiche, die ganz besonders polizeilichem Einschreiten und Handeln gleichen, bringen hier das höchste Gewaltpotenzial mit sich. Es gilt dabei zu bedenken, dass es sich bei Kontrollen in der Regel nicht um anlassbzw. deliktbezogenes Reagieren, sondern um eine aktive Personen- und Warenselektion durch die Zöllner*innen handelt. Neben der zufälligen Kontrolle wird aufgrund einer bestimmten Anscheins- und Verhaltenskonstellation eine Kontrollsituation herbeigeführt. Hierbei bleibt zu vermuten, dass Personen mit entsprechenden Merkmalen (wie z. B. nach Einnahme von Drogen oder bewusstseinsbeeinflussenden Medikamenten) wie auch unter bestimmten Situationsfaktoren (wie z. B. Tageszeit, Ort, Fortbewegungsmittel, Fahrstil) nicht nur eher aggressives Verhalten zeigen, sondern auch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit kontrolliert werden. Ebenso ist anzunehmen, dass Personen in einem ungünstigen Makrokontext (z. B. wirtschaftliche Gesamtlage) und Mesokontext (z. B. problematisches soziales Umfeld) auch häufiger in Bereichen auffällig werden, die für das Aufgabenfeld der Zollverwaltung relevant sind (z. B. durch Schmuggel). Auf Aspekte dieser Vorabselektion und Grundquote haben die handelnden Beamt*innen keinen bis geringen Einfluss bzw. keinen rechtlich vertretbaren Handlungsspielraum, sondern nutzen ihren Ermessensspielraum zur Einleitung der konkreten Kontrollsituation. Situativ lassen sich allerdings eine Vielzahl von Komponenten der Kommunikation, Einstellung und Haltung, Si cherungsverhalten, Wahl von Einsatztechniken und -mitteln aktiv beeinflussen und sind daher Gegenstand von Aus- und Fortbildung. Sollte es dennoch zu aggressivem Verhalten und daraus resultierenden Belastungen für die Beamt*innen kommen, finden sich in der Zollverwaltung angepasste Interventionsangebote. Auf Trainingsmaßnahmen der Prävention in der zentralen Aus- und Fortbildung (siehe Abschn. 1.3 und 1.4), der dezentralen Dienststellen (siehe Abschn. 1.5) sowie der Intervention zum Umgang mit dem Erleben von Gewalt (siehe Abschn. 1.6) soll im Folgenden eingegangen werden.
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Training in der Ausbildung
Grundlagen des professionellen Handelns in der Zollverwaltung sind die theoretische sowie berufspraktische Ausbildung. Praktische Ausbildungs- bzw. Studienabschnitte wechseln sich mit Praktika in den Zolldienststellen der Ausbildungshauptzollämter ab.
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Für die Laufbahn im mittleren Dienst über einen Zeitraum von zwei Jahren, im gehobenen Dienst für drei Jahre. Schwerpunkt der Laufbahnausbildung ist neben der Vermittlung von rechtlichen sowie finanz- und betriebswirtschaftlichen Inhalten das Handeln in verwaltungspsychologischen Kontexten (Porsch und Werdes 2019). Der Umgang mit aggressiven Verhalten wird dabei in verschiedenen Abschnitten adressiert. Neben den Grundlagen von Kommunikation, Motivation und Handeln in Verwaltungskontexten wird in Form von verhaltensorientierten Trainings deeskalative Kommunikation eingeübt. Ziel ist es dabei, ausgewählte kommunikative Techniken in Passung zum individuellen kommunikativen Ansatz, den Situationsbedingungen und den Erfordernissen des dienstlichen Handelns im Rahmen der Regelungs- und Eingriffskompetenz für die angehenden Zöllner*innen nutzbar zu machen. Die Ausbildung ist dreigeteilt und besteht aus einem Vorlesungsabschnitt im Umfang von 40 Lehrstunden im Verlauf des Grundstudiums sowie zwei praktischen Trainingsblöcken im Umfang von 18 und 30 Stunden im Verlauf des Hauptstudiums (zu den Inhalten siehe Tab. 1: Feinziele und Themen der Trainings in der Ausbildung g. D.). Diese Abschnitte werden durch Lehrende aus den Fachgebieten Psychologie und Pädagogik begleitet, die regelmäßig auch in der Zollpraxis eingesetzt werden und über umfangreiche Erfahrungen im Einsatzgeschehen verfügen. Zwischen jedem der drei Trainings finden für die Anwärter*innen mehrmonatige Praxisaufenthalte an den Zollämtern statt. Die angehenden Zöllner*innen werden dabei von erfahrenen Berufspraktikerinnen und -praktikern betreut. Zentraler Ansatz ist dabei, aufbauend auf Wissen zu theoretischen Grundlagen Handlungswissen zu generieren, das leicht in wechselnden Situationen des beruflichen Handelns transferiert werden kann. Beispielhaft ist das Wissen um die menschliche Wahrnehmung und Urteilsbildung. Die angehenden Zöllner*innen sollen verstehen, wie sich Wahrnehmung und Urteilsbildung in sozialen Situationen wechselseitig beeinflussen können. Beim Einsatz von Gesprächstechniken wird dieses Wissen genutzt, um die Wirkung des eigenen Handelns zu reflektieren. Zunehmend werden Verknüpfungen zu weiteren, rollenrelevanten Themen (zum Beispiel Führungshandeln) erarbeitet. Im weiteren Verlauf werden – fortlaufend komplexere – Szenarien eingesetzt, um den Transfer in die Praxis zu erleichtern. Dabei wird insbesondere darauf geachtet, dass die Situationen weiterhin variabel genug bleiben, um eine möglichst große Passung zu Praxissituationen zu ermöglichen. In den jedem Training folgenden Praxisaufenthalten soll das eigene Handeln in die Zollpraxis übertragen werden. Dort gewonnene Erfahrungen werden vor dem jeweils folgenden Training abgefragt, systematisch ausgewertet und für den Einsatz in Szenarien genutzt. In regelmäßigen Abständen werden die Ausbildungsinhalte und deren Durchführung evaluiert. Lehrende haben dazu jährlich die Möglichkeit, Inhalte der Ausbildung zur Anpassung oder Aktualisierung vorzuschlagen. Teilnehmende geben zu der konkreten Umsetzung, der Didaktik und ihrem Lernerfolg Rückmeldungen.
Ausbildungsabschnitt Grundstudium
Die Studierenden sollen wichtige Motivationstheorien und -modelle wiedergeben können. Die Studierenden sollen Bezugsgründe für die eigene Berufswahl und das eigene berufliche Handeln realistisch erläutern können.
Die Studierenden sollen in ausgewählten Situationen Kommunikationsprozesse effizient gestalten können.
Die Studierenden sollen Grundlagen gemeinsamer Arbeitsorganisation und zielgerichteter Kooperation an Beispielen erläutern können. Die Studierenden sollen zwischen verschiedenen Führungsstilen unterscheiden können. Die Studierenden sollen Bedingungen beschreiben können, an die erfolgreiche Kommunikationsprozesse gebunden sind.
Die Studierenden sollen Einstellungen erläutern und erklären können, die den Kontakt zum Bürger bestimmen. Die Studierenden sollen Einstellungen erläutern und erklären können, die innerdienstliche Kontakte beeinflussen.
Feinziel Die Studierenden sollen die Bedeutung des Leitbilds für die öffentliche Verwaltung beschreiben können. Die Studierenden sollen die eigene Rolle im Rahmen der öffentlichen Verwaltung darstellen können.
Tab. 1 Feinziele und Themen der Trainings in der Ausbildung g. D.
- Kommunikationsmodelle - Nonverbale Kommunikation - Informationsmedien - Präsentationsmedien - Informationen rezitieren und zusammentragen - Informationen adressatengerecht strukturieren und weitergeben - Störungen - Motivationstheorien - Motivation und Demotivation - Motive der Berufswahl - Berufliche Ziele
- Führung und Zusammenarbeit
Themen - Öffentliche Verwaltung aus psychosozialer Sicht - Selbstverständnis der Behörde - Anforderungen im gehobenen Dienst (Kompetenzen) - Soziale Strukturen und Prozesse - Wahrnehmung und Urteilsbildung - Vorurteile, Stereotype - Soziale Rollen - Funktion, Entstehung und Änderung von Einstellungen - Gruppenstrukturen, -prozesse - Störung und Dysfunktion
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Hauptstudium
Die Studierenden sollen in vorgegebenen Kommunikationsverläufen Probleme benennen und unter Anwendung der bei gelungener Kommunikation zu beachtenden Aspekte konkrete Verbesserungsvorschläge entwickeln können.
Die Studierenden sollen die wesentlichen Elemente einer gelungenen Gesprächsvorbereitung erklären und einen situationsadäquaten Gesprächsaufbau je nach Anlass und Ziel erläutern und auf Rollenspielsituationen übertragen können. Die Studierenden sollen wesentliche Elemente für die erfolgreiche Gestaltung von Gesprächen erläutern und die Elemente in Rollenspielsituationen anwenden können.
Die Studierenden sollen den Einfluss von Wahrnehmung auf Kommunikation erklären können.
Die Studierenden sollen relevante Regeln und Modelle der Kommunikation und Gesprächsführung darstellen und wiedergeben können.
- Sender-/Empfängermodell - Axiome nach Watzlawick - Nachrichtenquadrat nach Schulz von Thun - Nonverbale Aspekte von Kommunikation - Soziale Wahrnehmung - Beeinflussung durch Wahrnehmungsverzerrungen, z. B. Stereotype - Gesprächsvorbereitung/Rahmenbedingungen - Gesprächsaufbau - Adressatenorientierung/Rolle (z. B. als Führungskraft) - Gestaltung der verschiedenen Gesprächsebenen der Kommunikation - Strategien zur Vermeidung von Informationsverlusten - Aktives Zuhören - Ich-Botschaften - Einsatz von Fragen als Gestaltungselemente von Gesprächen - Konfliktdefinition - Konfliktbearbeitung - Kommunikative Handlungsmöglichkeiten in Konflikten
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Gesprächstechniken zur Deeskalation
Im Rahmen des Verhaltenstrainings im Hauptstudium erfolgen Rollenübungen zu deeskalierenden Gesprächsstrategien. Dabei sollen die angehenden Zöllner*innen auf verschiedene Situationen aus der Praxis reagieren. Gerade in Konfliktgesprächen kann die Kommunikation der Gesprächspartner*innen unsachlich und eskalierend werden. Um Gespräche wieder zu deeskalieren, dienen daher verschiedene Gesprächstechniken. Hierzu gehören beispielsweise: • Verlangsamung: Gespräche können verlangsamt werden, indem konkretisierende Nachfragen gestellt werden. • Zielführende Fragen nutzen: Gespräche können deeskaliert werden, indem „zielführende“ Fragen gestellt werden, • d. h. Fragen nach dem Ziel/Nutzen oder dem Interesse hinter den Aussagen. • Metakommunikation: Eine wichtige Deeskalationsmethode ist es, die Metaperspektive im Gespräch einzunehmen und über das Gespräch zu sprechen, z. B. über den Tonfall des Gesprächs. ◄ Zukünftige Vollzugskräfte durchlaufen zusätzlich eine intensive Schulung zum Erreichen einer angemessenen Situationseinschätzung, Gesprächsführung und Eigensicherung (angelehnt an die PDV 100 und den Leitfaden Eigensicherung)1. Neben dem Training im Rahmen der Ausbildung liegt der zweite Schwerpunkt des Trainings beim Zoll in der Fortbildung.
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Training in der Fortbildung
Im Rahmen von regelmäßigen Fortbildungsmaßnahmen in den Dienststellen sowie an den zentralen Ausbildungsstätten der Zollverwaltung werden der Umgang mit aggressiven Verhalten, die persönliche Emotions- und Verhaltenssteuerung sowie das angemessene Verhalten fortlaufend aufgegriffen und in unterschiedlichen Formaten trainiert. In den folgenden Abschnitten wird auf die Qualifikation der Trainer*innen sowie die einzelnen Lehrgangsformen zusammenfassend eingegangen.
4.1
Lehrende im Training
Die Lehrenden sind Zollbeamt*innen mit speziellen Fortbildungen.
VS-NfD Dokumente: Polizeidienstvorschrift 100 – Führung und Einsatz der Polizei; Leitfaden 371 – Eigensicherung. 1
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Die Beauftragten für die Eigensicherung (BfE) sind an den jeweiligen Hauptzollämtern und Zollfahndungsämtern u. a. zuständig für die Überwachung und Umsetzung der in den Trainingsvorschriften des Zolls enthaltenen Bestimmungen mit dem Ziel, die Fähigkeiten der Zollvollzugsbediensteten und anderer Zollbediensteter im Bereich der Eigensicherung zu verbessern. Die Beauftragten für Eigensicherung erhalten an neun Tagen (63 Zeitstunden Unterricht) eine Grundschulung zu Fachkenntnissen in Bezug auf die Führungsaufgaben in ihrem Bereich und Qualitätssicherung der Zolltrainings, sowie alle zwei Jahre eine Vertiefungsschulung im Umfang von fünf Tagen. Weiter werden Kenntnisse auf dem Gebiet der Eigensicherung, der Rechts- und Dienstvorschriften und des Arbeits- und Gesundheitsschutzes (z. B. Sicherheit auf Raumschießanlagen) vertieft. Das Erkennen und Beheben von Sicherheitsmängel im Dienstbetrieb, im Zusammenhang mit der Eigensicherung, gehören ebenso zu den Zielen der Fortbildung, wie Fertigkeiten und Kenntnisse auf dem Gebiet der Steuerung, Überwachung und Umsetzung der Zolltrainings. Für die BfE wird ferner noch eine didaktische Schulung im Umfang von zehn Tagen angeboten, die zur Weitervermittlung von Inhalten zur Eigensicherung an die Bediensteten in den lokalen Dienststellen unter pädagogisch-didaktischen Gesichtspunkten befähigt. Schießtrainer*innen erlangen im Rahmen einer 51-tägigen Fortbildung (360 Zeitstunden Unterricht) Kenntnisse und Fähigkeiten im Umgang mit Waffen, Vorschriften, Durchführung von Trainings, Einsatztechniken und Umgang mit Folgen. Sie können die Schießfortbildung unter Berücksichtigung der örtlichen Begebenheiten planen und durchführen. Die Teilnehmenden können eine teilnehmer*innenorientierte Auswahl der Medien und Lehrmethoden treffen und kennen die fachdidaktischen Besonderheiten ihres Trainingsgebietes. Weiter kennen sie die pädagogischen Grundsätze und können diese in ihren durchzuführenden Schulungen und Trainings im Bereich der Schießaus- und -fortbildung anwenden. Die Teilnehmenden sind nach Abschluss der Veranstaltung in der Lage, Unterweisungen und fachbezogene Unterrichtseinheiten als eigenverantwortliche und verantwortungsbewusste Trainer*innen selbstständig zu planen, durchzuführen und nachzubereiten. Sie können eine teilnehmer*innenorientierte Auswahl der Medien und Lehrmethoden treffen und Tests auf ihrem Trainingsgebiet durchführen. Sporttrainer*innen erlangen in einer 61-tägigen Fortbildung (428 Zeitstunden Unterricht) Kenntnisse und Fertigkeiten für die Aufgabenerfüllung als Sporttrainer*innen über die vorbildliche Ausführung der Grundtechniken der einsatzorientierten Selbstverteidigung und Einsatztechniken sowie das erforderliche Wissen über die Zwangs- und Notrechte. Sie können Grundtechniken der Selbstverteidigung, Waffenschutz und Einsatztechniken selbst vorbildlich ausführen und didaktisch vermitteln. Weiter können sie den Dienstsport unter Beachtung der Grundsätze der Unfallprävention und des Leistungsvermögens der zu trainierenden Teilnehmenden selbstständig und eigenverantwortlich vorbereiten, durchführen und nachbereiten. Sie erkennen Defizite im Dienstsport der Zollvollzugsbediensteten und können diese zielgerichtet korrigieren. Die Teilnehmenden können eine teilnehmerorientierte Auswahl der Medien und Lehrmethoden treffen und kennen die fachdidaktischen Besonderheiten ihres Trainingsgebietes. Die Teilnehmenden kennen die pädagogischen Grundsätze und können diese in ihren durchzuführenden Schulungen und
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Trainings im Bereich des Dienstsports anwenden. Die Teilnehmenden sind nach Abschluss des Lehrgangs in der Lage, Trainings und fachbezogene Unterrichtseinheiten als Trainer*innen eigenverantwortlich zu planen, durchzuführen und nachzubereiten. Sie können eine teilnehmer*innenorientierte Auswahl der Medien und Lehrmethoden treffen und Tests im Dienstsport durchführen. Spätestens nach fünf Jahren muss die Fortbildung in einer 10-tägigen Schulung aufgefrischt werden. Die Fortbildung zum Einsatztrainer*innen baut auf die Fortbildung zum/r Schießtrainer*in oder Sporttrainer*in auf und findet an 14 Tagen (98 Zeitstunden Unterricht) statt und qualifiziert die Teilnehmenden dazu, die einzelnen Zolltrainings unter den Aspekten der Eigensicherung, Einsatztaktik, der Anwendung von Führungs- und Einsatzmitteln und der Gesetzeskonformität vermitteln und bewerten zu können. Sie stellt eine weitergehende fachübergreifende und verzahnende Vertiefung des Wissens und Kompetenzerweiterung für Schieß- und Sporttrainer*innen dar.
4.2
Eigensicherung mittels Reizstoffsprühgerät (RSG)
Zollbeamt*innen im Vollzugsdienst stehen unterschiedliche Trainings und Schulungen im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit zur Verfügung. Ein Zweig an Trainingsangeboten richtet sich an Vollzugsbeamt*innen, die für die Erfüllung der dienstlichen Aufgaben bewaffnet werden sollen. Bereits während der Ausbildungszeit besteht die Möglichkeit, einen Lehrgang zur Eigensicherung mittels Reizstoffsprühgerät (RSG) zu absolvieren. Die Teilnahme im Rahmen der Ausbildung ist allerdings nicht obligatorisch. Die Lehrgangsdauer unterscheidet sich nach Laufbahn und Vorwissen zu den Rechtsgrundlagen des Waffeneinsatzes. Im mittleren Dienst sind es sechs Zeitstunden, im gehobenen Dienst variiert der Lehrgang vorkenntnisabhängig zwischen zwei bis fünf Tagen. Dieser Lehrgang qualifiziert Bedienstete zum Einsatz des RSG im Rahmen der Wahrnehmung von Notrechten. Neben einer rechtlichen Unterweisung zum Einsatz des RSG werden technische und taktische Inhalte zum Einsatz des RSG vermittelt. Mittels Trainingsspray wird der Einsatz praktisch erprobt, um Handhabungssicherheit zu erlangen. Anschließend werden in zunehmend praktischeren Verhaltensübungen Situationen eingespielt. Dabei steht nicht allein der RSG-Einsatz im Mittelpunkt, sondern die Teilnehmenden sollen unter Berücksichtigung der rechtlichen Grundlagen deeskalierende Verhaltensweisen und Kommunikationsstrategien einsetzen. Insbesondere wird dabei auf die Arbeit im Team wie auch auf die Wahrnehmung und Beurteilung der Gesamtsituation durch die Teilnehmenden geachtet.
4.3
Eigensicherung und Bewaffnung (ESB)
Darauf aufbauend vermittelt das Einsatztraining Eigensicherung und Bewaffnung (ESB) mit einem Trainingsumfang von 39 Tagen (306 Zeitstunden Unterricht) neben dem siche-
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ren Umgang mit Dienstwaffen und deren Einsatz Handlungskompetenzen zu deeskalativem Verhalten und Kommunikation im Rahmen der praktischen Einsatzbewältigung. Voraussetzung für die Teilnahme sind das erfolgreiche Ablegen eines physischen Fitnesstests, die erfolgreiche Teilnahme an einer Grundschulung in Erster Hilfe (Einsatzersthelferschulung A, Auffrischung alle zwei Jahre) sowie einer (Wiederholungs-)Schulung zu den Grundlagen des Vollzugsrechts (wenn nicht durch die Ausbildung vermittelt). Im Fokus des Trainings ESB stehen das Erkennen von aggressiven Verhalten und Gewaltbereitschaft (Aufmerksamkeitslenkung auf Situation und Personen/Gefahrenradar) und ein angemessener Umgang mit der Situation. Der Lehrgang ist aufgeteilt in theoretische Unterrichtseinheiten und praktisches Verhaltenstraining sowie technische Unterweisungen. Ziel dieses Trainings ist der sichere Umgang mit Dienstwaffen. Liegen die persönlichen, physischen und psychischen Voraussetzungen zum Führen einer Waffe vor, werden hier Verhalten und Einsatz nach der Dienstvorschrift des Bundesministeriums der Finanzen über die Bewaffnung und das Waffentraining in der Zollverwaltung (WaffDV-Zoll) vermittelt. Weiter müssen die Vorschriften über die Anwendung des unmittelbaren Zwangs, Notrechte und Einsatzregeln zum Waffengebrauch bekannt sein und auf Situationen im dienstlichen Alltag angewendet werden können. Neben der kompetenten Anwendung von Selbstverteidigungs- und Einsatztechniken, insbesondere auch zum Waffenschutz, soll auch eine ausreichende Handlungskompetenz im Rahmen der praktischen Einsatzbewältigung bei korrekter Rechtsanwendung trainiert werden. cc
Unter dem Motto „Der beste Kampf ist der, der nicht stattfindet“ werden Fähigkeiten zur Deeskalation vermittelt. Eine ausgeprägte Sensibilität für Beteiligte und Kolleg*innen unter Beachtung von kulturellen, ethischen und sozialen Werten wird als besonders wichtig erachtet. Ein initial grundsätzlich freundliches und kooperatives Auftreten bei Wahrung der eigenen Souveränität ist anzustreben.
Dieses wird durch gezieltes Üben von praxisnahen Situationen erreicht. Dabei finden mehrere Methoden Anwendung. Fächerübergreifendes Teamteaching wird neben Lehrvorträgen und-gesprächen genutzt. Die Teilnehmenden erarbeiten Inhalte in Gruppenarbeiten und es finden themenspezifische Einsatzübungen statt. Die Deeskalation durch Kommunikation und Einsatzverhalten steht dabei genauso im Mittelpunkt wie der taktische Einsatz der Dienstwaffen. Die persönliche Sicherheit auf Grundlage des Leitfadens Eigensicherung Zoll bildet dabei die Grundlage für jegliches Handeln.
4.4
Sonstige Fortbildungen
Die zuvor beschriebenen Zolltrainings richten sich primär an Zollvollzugsbedienstet*innen, die im Dienst bewaffnet sind. Neben diesen Waffenträger*innen gibt es eine deutlich höhere Anzahl an Zöllner*innen, die ohne Waffen ihren Dienst in Dienstbekleidung oder
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in Zivil versehen (ca. 31.000). Auch diese Bediensteten sind zum großen Teil in Kontakt mit Bürger*innen und mit Aggressionen und Gewalt konfrontiert. Über die Fortbildungsabteilung des Bildungs- und Wissenschaftszentrums der Bundesfinanzverwaltung (BWZ) werden weitere interne Fortbildungslehrgänge und Trainings zu speziellen Situationen angeboten. Diese werden teilweise auf eng definierte Zielgruppen (Führungskräfte, Vollzugsbeamt*innen oder spezielle Aufgabenbereiche wie die Kfz-Steuerstellen) zugeschnitten. Das Portfolio reicht von Grundlagen der Kommunikation und Konfliktmanagement über Lehrgänge zu gewaltfreier Kommunikation und interkulturelle Kompetenzschulungen, bis hin zu Einsatzlehre für Führungskräfte oder Konfliktbewältigung in der Außenprüfung. Abgerundet wird das Portfolio durch die Möglichkeit, auch an Lehrgängen teilzunehmen, die im eigenen Hause durch externe Anbieter durchgeführt werden. Zu nennen sind hier exemplarisch Lehrgänge zur Prävention und zum Umgang mit Gewalt im öffentlichen Dienst.2
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Das Zolltraining
Um die erworbenen Kompetenzen des Lehrganges Eigensicherung und Bewaffnung (siehe Abschn. 1.4.3) zu erhalten, zu aktualisieren und auszubauen, werden kontinuierliche Trainingsangebote für die Zollvollzugsbediensteten angeboten. Die Regelungen für das Zolltraining ergeben sich aus der Dienstvorschrift über das Training der Waffen führenden Bediensteten der Zollverwaltung (DV Zolltraining), der Dienstvorschrift des Bundesministeriums der Finanzen über die Bewaffnung und das Waffentraining in der Zollverwaltung (WaffDV-Zoll) und der Dienstvorschrift über den Ankauf, den Einsatz, die Haltung und die Ausbildung von Diensthunden der Zollverwaltung (DV ZH). Das Zolltraining umfasst den Dienstsport (DSp), das Einsatztraining (ETr), den Dienst begleitenden theoretischen Unterricht (DbtU), das Waffentraining sowie das Zollhundetraining. Die Maßnahmen werden hinsichtlich der Didaktik und des Lernerfolges evaluiert und nach Maßgabe durch Lehrende in der Konzeption der Trainings aktualisiert. Ziel dieser Trainingsangebote ist es, den Zollvollzugsbediensteten ein kompetentes Einsatzverhalten für Aufgabenwahrnehmung zu vermitteln und auf einem hohen Niveau zu halten, um ihre eigene Gesundheit und die Dritter erfolgreich schützen können. Ausbleibende Teilnahme oder mangelhafte Leistungen können zum Verlust der persönlichen Voraussetzungen zum Führen der Waffe führen. Die auf Ebene der Hauptzollämter benannten Beauftragten für Eigensicherung (BfE) sichern die Durchführung der Trainings und beraten die Leitung der Hauptzollämter auch in allen Belangen des Zolltrainings. Folgende Zolltrainings werden angeboten.
Trainingsbeschreibung aus dem Lernportal Zoll.
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Dienst begleitender theoretischer Unterricht (DbtU)
Der DbtU wird im Rahmen von Dienstunterrichten vor Ort durch die/den Beauftragte/n für Eigensicherung zu den Themenbereichen Eigensicherung, unmittelbarer Zwang, Wahrnehmung von Notrechten, rechtliche Befugnisse zur Aufgabenwahrnehmung, Eilkompetenzen und deeskalierende Einsatzmodelle im Arbeitsbereich durchgeführt. Es herrscht eine halbjährliche Teilnahmepflicht von zwei Zeitstunden für die Zollvollzugsbediensteten.
5.2
Dienstsport
Der Dienstsport umfasst die Bereiche des Allgemeinen Dienstsportes, die einsatzorientierte Selbstverteidigung sowie die Einsatztechniken. Die GZD legt im Übungskatalog Dienstsport die Sportarten und Übungen sowie die Grundtechniken der einsatzorientierten Selbstverteidigung und der Einsatztechniken fest. Die Zollvollzugsbediensteten haben nach Beurteilung der Gefährdungslage durch die Dienststellenleitung zwölf- bis 18-mal für jeweils mindestens 120 Minuten bis höchstens 135 Minuten an diesem Training teilzunehmen. Die Durchführung wird durch gesondert qualifizierte Sporttrainer*innen auf Ebene der bundesweit dislozierten Dienststellen organisiert und angeleitet.
5.3
Waffentraining und Schießtest
Das Waffentraining und der Schießtest sind, neben anderen Bedingungen, zentrale Bausteine für die Zollvollzugsbediensteten, um die persönlichen Voraussetzungen für das Führen von Waffen zu erhalten. Das Training sichert und erweitert die Kompetenzen im Umgang mit Waffen. Dieses Training muss mindestens sechsmal im Jahr absolviert werden. Einmal jährlich erfolgen der Schießtest Pistole und ein RSG-Anwendungstraining. Zollvollzugsbedienstete, die lediglich mit dem Reizstoffsprühgerät (RSG) ausgestattet sind, müssen einmal im Jahr an einem einsatzorientierten Training teilnehmen, bei dem die Kompetenzen für diese Waffe gefestigt und vertieft werden. Die Durchführung wird durch gesondert qualifizierte Schießtrainer*innen auf Ebene der bundesweit dislozierten Dienststellen organisiert und angeleitet.
5.4
Zollhundetraining
Das Zollhundetraining dient den Zollhundeteams (Zollhundeführer*inund Zollhund) zum Erhalt und zur Förderung ihres Leistungsstandes, den sie in ihrer Ausbildung für die Aufgabenwahrnehmung erlangt haben. Aufgrund der unterschiedlichen Ausbildungsvarianten bei den Zollhunden müssen unterschiedliche Trainingsinhalte und Trainingsumfänge trai-
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niert werden. Kombiniert ausgebildete Zollhunde (Spür- und Schutzhundeeigenschaft) müssen einmal im Monat zum Schutzhundetraining und einmal im Monat zum Spürhundetraining. Reine Spürhunde müssen einmal im Monat verpflichtend an einem Spürhundetraining teilnehmen. Das Gehorsamstraining erfolgt im täglichen Umgang mit dem Zollhund.
5.5
Einsatztraining
Das Einsatztraining umfasst die realitätsnahe Darstellung und Simulation von aufgabenspezifischen Einsatzlagen. Alle vorher beschriebenen Trainings werden im Rahmen des Einsatztrainings miteinander kombiniert. Dies soll Zollvollzugsbediensteten die notwendige Handlungssicherheit, die sie im täglichen Dienstalltag unter rechtlichen, psychischen und taktischen Aspekten benötigen, geben. Die Zollvollzugsbediensteten müssen viermal im Jahr für mindestens drei Stunden an diesen Trainings teilnehmen. Die Durchführung wird durch gesondert qualifizierte Einsatztrainer*innen und Leiter*innen Einsatztraining auf Ebene der bundesweit dislozierten Dienststellen organisiert und angeleitet.3
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Nachsorge
Kommt es zu belastenden Situationen für die Zöllner*innen, steht im Rahmen der Intervention seit 2012 das sogenannte Nachsorge-Einsatzteams-Zoll (NETZ) als flächendeckendes, bundeseinheitliches Netzwerk zur Betreuung und Beratung zur Verfügung. Das NETZ besteht aus geschulten Helfer*innen aus dem kollegialen Umfeld, die teamweise von psychosozialen Fachkräften unterstützt, beraten und betreut werden. Das Unterstützungsangebot besteht auch für die Angehörigen der unmittelbar Betroffenen. Es erfolgt ein Austausch mit den Einsatznachsorgeteams anderer Behörden mit dem Ziel, die Betreuung weiterzuentwickeln. Aus dem NETZ heraus werden regelmäßig eine Reihe von präventiven Schulungen angeboten, um Einsatzkräfte auf psychisch belastende Einsatzsituationen und deren Bewältigung im Sinne der psychischen Resilienz vorzubereiten.
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Ausblick
Die Angehörigen der Zollverwaltung werden im Rahmen von Aus- und Fortbildungen auf den Umgang mit aggressivem Verhalten des Gegenübers vorbereitet. Dabei nimmt die deeskalative Kommunikation einen wesentlichen Bestandteil ein. Vorkommnisse in der Praxis werden gesammelt und ausgewertet. Über das NETZ steht ein niederschwelliges und effektives Interventionsinstrument zur Verfügung. Allerdings sind gerade in den 3
Trainingsbeschreibung aus dem Mitarbeiterportal Zoll (MAPZ).
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Schnittstellen der Maßnahmen weitere Verzahnungsmöglichkeiten erkennbar. Dazu zählen die systematischere gegenseitige Ergänzung von Ereignismeldungen mit der Aus- und Fortbildung, die stärkere Einbindung des NETZ in die Prävention und Einsatznachbereitung sowie die stärkere methodische Verzahnung von Einsatzkommunikation und -taktik. Dabei muss eine ausgewogene Steuerung zwischen empirischer Begründung der Inhalte (Körner und Staller 2020) und aktueller Praxisanforderung gewährleistet werden. Inhaltlich scheint hier ein holistischer Einsatzkommunikationsansatz wünschenswert, der professionelle Haltung und Werte mit kommunikativem Handeln vor, in und nach Einsätzen verbindet. Internationale Ansätze zur Verbindung von soziologischen und politischen Ansätzen (Gibbs 2019) sowie gesamtorganisatorischem Gesundheitsmanagement (Precious und Lindsay 2019) mit dem Einsatzhandeln könnten dabei zielführende Ansatzpunkte liefern. Aus den Einschränkungen im Rahmen der COVID-19-Pandemie hinsichtlich der Durchführung von Präsenzveranstaltungen ist auch die Notwendigkeit der Digitalisierung von Trainingsinhalten noch stärker in den Fokus gerückt. Während einige ver haltensorientierte Inhalte nur sehr schwer ohne direkte persönliche Interaktion oder die Nutzung von entsprechenden Räumlichkeiten oder (Schieß-)Anlangen vermittelt werden können, liegt dennoch ein sehr großes Potenzial in der Nutzung von digitalen Angeboten. Für eine Behörde mit Dienstsitzen über das gesamte Bundesgebiet verteilt erlaubt die Digitalisierung eine stärkere Form der Standardisierung der Trainings, eine ökonomische Durchführung sowie eine niederschwellige und adressat*innenorientierte Umsetzung. Es bietet sich die Chance, dass ressourcenintensive zentrale Training zunehmend in kleinerer Inhalts- und Zeitstückelung dezentral und ggf. nach den Zeitkapazitäten der Adressat*innen durchgeführt werden können. Ein grundsätzlicher Ansatz könnte es sein, Fortbildungsinhalte on demand anzubieten. Denkbar wäre ein konstruktivistischer Ansatz. Der/Die Lerner*in meldet über eine Schnittstelle Bedarf an Fort-/Weiterbildung und beschreibt die Situation bzw. den Grund für seinen/ihren Bedarf. Daraufhin wird dem/der Lerner*in zeitnah die Möglichkeit geschaffen, sich zu seinem/ihrem Bedarf fortzubilden. Diese Angebote stellen Micro- Fortbildungen von circa einer Zeitstunde Dauer dar, welche begleitend während des normalen Dienstes digital genutzt werden könnten und in einem hybriden Ansatz durch praktische Inhalte durch die Trainer*innen in den dezentralen Dienststellen praktisch ergänzt werden könnten. Dem/der Lerner*in würde gezielt die Teilnahme an Modulen zu seinen/ihren Themen über Lernplattformen ermöglicht oder durch einen Video-Chat mit Expert*innen ergänzt. Dieses Vorgehen hätte mehrere Vorteile. Zum einem kämen Erkenntnisse und Bedarfe aus der Praxis viel schneller in den Bereich Fortbildung. Ein aktuelleres Bild der unterschiedlichen Bedürfnisse der Zollverwaltung würde entstehen. Angebote könnten vorbereitet werden und dem/der Lerner*in dann bei Bedarf oder Interesse Zugriff auf eine große Auswahl digitaler Module gegeben werden. Diese könnte der/die Lerner*in dann eigenständig automatisiert durcharbeiten. Weiter ist, neben asynchronem Feedback, auch eine synchrone Interaktion mit Expert*innen an bestimmten Zeitpunkten im Training möglich. So käme über die Zeit eine große Sammlung an Inhalten und Wissen zusammen, auf die alle Lerner*innen innerhalb der Organisation Zugriff hätten.
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T. Porsch und C. Pill
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich innerhalb der Zollverwaltung eine große Breite von Trainingsangeboten findet, die Zöllner*innen auf ihre dienstlichen Aufgaben vorbereiten und sie bei diesen begleiten. Die fortschreitende Digitalisierung von Trainingsangeboten bietet die Chance, dass Trainings in den unterschiedlichen Themenfeldern noch vernetzter und niederschwelliger durchgeführt werden können.
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Die Einsatz-Kompetenz Strategie: Eine Verhaltensanweisung für Polizeikräfte im Einsatz Wolfgang Moos
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 1.1 Acht Einsatzkompetenzen der EIKO-Strategie 1.2 Kooperationsbereitschaft mit der Polizei fördern 1.3 Aus „Kriegerinnen und Kriegern“ sollen „Beschützerinnen und Beschützer“ werden 1.4 Erkenntnisse aus der Forschung zu Kommunikation und Eigensicherung 2 Die EIKO-Strategie 2.1 Vor dem Einsatz 2.2 Während des Einsatzes 2.3 Aufteilung zwischen Handeln und Sichern 2.4 Nach dem Einsatz 3 Reflexion und Weiterentwicklung der EIKO-Strategie 3.1 Aus EIKO wird EIKO 3.2 Empfehlung zur Einführung der EIKO-Strategie 3.3 Weiterentwicklung und Wissenschaftlichkeit des Modells 3.4 Die EIKO-Strategie als Kultur-„Projekt“ Literatur
792 793 794 795 796 797 797 798 801 803 804 804 805 805 806 806
Reviewer*innen: Michael Alex, Buc Consten, Anne Dörner
W Moos (*) Chef Kommandoabteilung, Zuger Polizei, Zug, Schweiz E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_42
791
W. Moos
792 Zusammenfassung
Die Arbeit von Polizeikräften geht heute mit dem Anspruch einher, bürgernah und kundenorientiert zu kommunizieren und gleichzeitig den gestiegenen Anforderungen der Eigensicherung gerecht zu werden. Dieser vermeintliche Widerspruch zeigt sich immer wieder. Psychologie und Polizeitaktik werden oft als gegensätzliche Aspekte betrachtet. Mit der Einsatz-Kompetenz-Strategie (EIKO) wurde bei der Stadtpolizei Zürich ein Konzept entwickelt, welches diese beiden beruflichen Anforderungen an Polizeikräfte miteinander verbindet. Mit der EIKO-Strategie werden Handlungsanweisungen für das Verhalten auf der Straße definiert mit dem Fokus, dass Einsatzkräfte Situationen proaktiv steuern und frühzeitig Einfluss auf abweichendes Verhalten nehmen. Im Zentrum der EIKO-Strategie steht eine empathische, aber klare Kommunikation, welche dadurch gekennzeichnet ist, dass auf „Machtspiele“ verzichtet wird, dem Gegenüber aber deutliche Grenzen aufgezeigt werden, sollten die polizeilichen Anweisungen nicht eingehalten werden.
1
Einleitung
Was ist „gute“ Polizeiarbeit? Was würden Polizeikräfte auf diese Frage antworten? Bürgernähe und hohe Kundenorientierung? Oder resolute Eigensicherung und Reaktionsbereitschaft? Wie lange soll der Dialog mit dem Gegenüber gesucht werden? Und wann ist eine direkte Intervention angezeigt? Die Frage nach „guter“ Polizeiarbeit lässt sich nur schwer beantworten und zeigt auf, wie vielfältig die Anforderungen an den Beruf von Polizeikräften sind. Ein Spannungsfeld zeigt sich besonders deutlich bei den beiden Themen Kommunikation und Eigensicherung. Auf den ersten Blick scheinen sich diese beiden beruflichen Anforderungen gegenseitig auszuschließen. Intensive Kommunikation vernachlässigt die Eigensicherung. Der starke Fokus auf die eigene Sicherheit verunmöglicht eine offene und vertrauensbildende Kontaktaufnahme mit Bürgerinnen und Bürgern. Auf der einen Seite betonen Psychologinnen und Psychologen die Wichtigkeit der Kommunikation, währenddessen die Polizei-Taktikerinnen und -Taktiker auf das Primat der Sicherheit hinweisen. Grundsätzlich geht es also um die Frage, wie Polizeikräfte eine wirksame Kommunikation gestalten können, ohne dabei die eigene Sicherheit zu vernachlässigen. Dieses Spannungsfeld bildete die Grundlage für einen Entwicklungsprozess, welcher die vernetzte Ausbildung bei der Stadtpolizei Zürich in den letzten Jahren prägte. Aufbauend auf Forschungen aus Deutschland (Schmalzl 2008; Hermanutz 2013, 2015; Füllgrabe 2016) und in gemeinsamer Arbeit zwischen Psychologinnen und Psychologen sowie Polizeitaktikerinnen und Polizeitaktikern wurden entscheidende Einsatzkom petenzen definiert und anschließend in der sogenannten EIKO-Strategie (Einsatz-Kom petenz) vereint. Mit der EIKO-Strategie werden Techniken aufgezeigt, die für eine erfolgreiche Arbeit auf der Straße wichtig sind. In der Anwendung der EIKO-Strategie
Die Einsatz-Kompetenz Strategie: Eine Verhaltensanweisung für Polizeikräfte im Einsatz
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wird deutlich, dass Kommunikation und Eigensicherung keine gegensätzlichen Verhaltensweisen sind, sondern sich in einer „erfolgreichen“ Polizeiarbeit ergänzen.
1.1
Acht Einsatzkompetenzen der EIKO-Strategie
Generell ist mit Einsatz-Kompetenz die Fähigkeit gemeint, verschiedene Situationen im Einsatz zu analysieren und zielführendes Verhalten anzuwenden. Diese Fähigkeit besteht aus der Summe verschiedener Teil-Kompetenzen. Es sind Kompetenzen, welche zur Einsatzbewältigung aktualisiert werden (Schmalzl 2008, S. 35). Die Einsatz-Kompetenzen sind zentral, weil sie den kritischen Einsatz auf der Straße in der direkten Begegnung mit Bürgerinnen und Bürgern beeinflussen und steuern. Psychischer Druck und wenig Zeit machen die Aufgabe der Polizeikräfte zusätzlich anspruchsvoll. Die Kompetenzen müssen alle gleichzeitig in einer der Situation angepassten Ausprägung umgesetzt werden, was Begabung, Training, Erfahrung und Analyse voraussetzt. Jede Situation erfordert einen neuen „Kompetenzen-Mix“. Dieser muss intuitiv und augenblicklich eingesetzt werden können. In der Entwicklung der EIKO-Strategie wurden acht Einsatz-Kompetenzen definiert, welche für eine professionelle Bewältigung „der kritischen Lage“ notwendig sind. Diese Kompetenzen bilden sowohl fachliche als auch soziale Fähigkeiten ab. Die acht Einsatz-Kompetenzen sind: Kommunikation, Wissen betreffend Verhalten, Sicherheit in Rechtsfragen, Blaulicht-Fahren, Fitness, Schießen, Persönliche Sicherheit und Taktisches Wissen. Die meisten dieser Kompetenzen sind selbsterklärend. Zu drei der acht Kompetenzen folgt eine Beschreibung. • Bei der Einsatz-Kompetenz „Kommunikation“ geht es vor allem um die Fähigkeit, offen, vertrauensbildend und deeskalierend mit dem Gegenüber zu reden sowie emotionale Signale richtig interpretieren zu können. Diese Fähigkeiten spiegeln auch eine innere Haltung von Polizeikräften wider. Auch geht es darum, klare Stopp-Signale zu senden und dem Gegenüber zu signalisieren, dass man sich Gewaltanwendung – in welcher Form auch immer – nicht gefallen lassen wird. • Mit „Wissen betreffend Verhalten“ ist das fachlich richtige Vorgehen in ganz konkreten Situationen gemeint. Zum Beispiel der Umgang mit alkoholisierten Menschen oder mit Personen, die unter Drogeneinfluss stehen. Mit Menschen aus anderen Kulturkreisen oder sozialen Schichten, welche uns im Verhalten fremd sind. Füllgrabe (2016, S. 211) nennt es „Streetwise“. Er schreibt: „Es ist für einen Polizisten notwendig, die Normen, Denk- und Verhaltensweisen von Personen aus verschiedenen Subkulturen zu kennen.“ • Sicherheit in Rechtsfragen: Die Regeldichte von Gesetzen und Vorschriften wird immer größer. Für Polizeikräfte ist kaum mehr möglich, alle Paragrafen und Bußenvorgaben auswendig zu kennen. Viele Bürgerinnen und Bürger konfrontieren Polizeikräfte mit der Richtigkeit ihrer Aussagen und hinterfragen diese. Solche Situationen erzeugen Stress und verleiteten zu rigidem Verhalten und verfrühten Behauptungen. Die Er-
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fahrung zeigt, dass Rechtssicherheit und Freundlichkeit zusammenhängen. Dem Thema der Rechtssicherheit muss immer wieder genügend Platz eingeräumt werden. Es müssen elektronische Nachschlagewerke bereitgestellt werden, welche es Polizeikräften vor Ort erlauben, rechtliche Fragestellungen zu klären. Die acht Einsatz-Kompetenzen werden in der Basis-Ausbildung einzeln trainiert und im vernetzten Training in steigender Schwierigkeit miteinander verbunden und situativ angewendet. Polizeikräfte müssen diese Kompetenzen im Ernstfall alle gleichzeitig anwenden und individuell gewichten können. Uwe Füllgrabe schreibt: „Das konsequente und sachgerechte Vorgehen, verbunden mit Erklärungen für die zu treffenden Maßnahmen, löst den Eindruck von Professionalität aus“ (Füllgrabe 2016, S. 87). Professionalität ist das Ziel aller Trainings mit der EIKO-Strategie.
1.2
Kooperationsbereitschaft mit der Polizei fördern
Grundlegend stellt sich die Frage, was Bürgerinnen und Bürger bewegt, mit Polizeikräften zu kooperieren und deren Anweisungen zu befolgen. Meike Hecker (Kriminalistik 10/2016, S. 591–595) beschreibt drei Verhaltensweisen, welche für die Akzeptanz einer polizeilichen Intervention von Bedeutung sind: soziale Anerkennung, Neutralität und Vertrauen. Gelingt es Polizeikräften, diesen Anforderungen gerecht zu werden, ist die Chance groß, dass polizeiliche Handlungen sich in einem positiven Kontext abspielen und eine Eskalation vermieden werden kann. Durch die persönliche Auseinandersetzung mit diesen Grundanforderungen wird das emotionale Fundament der Strategie gelegt. Im Training werden daher auch Werte-Fragen angesprochen, wodurch sich die Beteiligten mit ihrem eigenen Selbstbild auseinandersetzen müssen. Diese Fähigkeit zur Selbstreflexion hat auch Auswirkungen auf die Auswahl von Polizeikräften. Schon bei der Selektion gilt es, auf wünschenswerte Persönlichkeitsmerkmale zu achten, welche eine kooperative Arbeitsweise ermöglichen. Entsprechend werden im Auswahlverfahren bewusst Bewerbende gesucht, welche durch eine hohe Ausprägung in den Bereichen: Reflektierte Einstellung, situative Intelligenz, angemessenes Auftreten und Belastbarkeit (Capeder 2018, S. 55) auffallen. Ein weiterer zentraler Aspekt bei der Bildung der EIKO-Strategie ist die Unternehmenskultur innerhalb der Polizei. Es geht um das Selbstverständnis der Organisation mit den beiden Dimensionen Polizeikultur und Cop Culture (Behr 2008, S. 250). Die Cop Culture definiert die gelebten Handlungsmuster der Mitarbeitenden und die Polizeikultur präsentiert die offizielle Seite der Organisation mit Leitbildern und Weisungen. Die Handlungsmuster der Praktikerinnen und Praktiker müssen mit den Normen des Managements übereinstimmen, welche in der Praxis aber oft in gegenseitiger Konkurrenz stehen. Es braucht eine Kultur der Offenheit, Fehlerreflexion und Freundlichkeit, die zulässt, dass Polizeikräfte Bürgerinnen und Bürgern mit Neutralität und sozialer Anerkennung begegnen. Aus Umfragen
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weiß man, dass es Bürgerinnen und Bürger besonders ärgert, wenn sie mit Unfreundlichkeit, Ironie, emotionaler Kälte und mit Aggressivität angesprochen werden (Schmalzl 2008, S. 38). Eine positive Organisations-Kultur ist unbestritten die wichtigste Grundlage bei der Erarbeitung und der Anwendung der EIKO-Strategie. Dies zeigt aber auch, dass es sich nicht bloß um eine Verhaltensstrategie handelt, sondern um ein zentrales Projekt der Organisations-Entwicklung. Entsprechend genügt es nicht, wenn die Strategie nur in den Bereichen des Einsatztrainings geschult und thematisiert wird. Erfahrungen zeigen, dass die Strategie ihre volle Wirkung entfaltet, wenn die Polizeiführung und Identifikationsfiguren der Basis diese mittragen und das Verhalten selber vorleben und konsequent einfordern.
1.3
us „Kriegerinnen und Kriegern“ sollen „Beschützerinnen und A Beschützer“ werden
Das Selbstbild von Polizeikräften und die vermittelte Rolle der Einsatz-Trainer und Einsatz-Trainerinnen ist meist die der „Kriegerin“ oder des „Kriegers“, einer gut trainierten Person, welche auf der Straße für Recht und Ordnung sorgt und sofort intervenieren kann. Die Rolle einer Zuhörerin oder eines Zuhörers will nicht so recht in dieses Selbstverständnis passen. Dabei scheint es wichtig, dass beide Ausprägungen, die der Repression und auch der Prävention im Einsatzverständnis der Polizeiarbeit von gleicher Bedeutung sind. Vergleicht man die Ausbildungszeit bei der Schweizer Polizei zwischen Fächern der Einsatztaktik und Kommunikation, so zeigt sich ein überaus klares Bild. Für Themen des Durchsetzens werden 280 Stunden verwendet, wogegen der Bereich des Dialogs mit lediglich 59 Stunden geschult wird (Bildungsplan IPH 2020). Spannend ist auch die Tatsache, dass bei internen Umfragen nach Weiterbildungswünschen Schießen und Taktik immer weit oben rangieren, während das kommunikative Training kaum erwähnt wird. In der Betrachtung von Bürgerinnen und Bürgern, aber auch in der Wahrnehmung von Polizeikräften entscheiden aber vor allem kommunikativen Fähigkeiten darüber, ob eine Kontrolle als „gut“ wahrgenommen wird und wie sich der weitere Verlauf der Interaktion entwickelt (Hermanutz et al. 2005, S. 13). In den USA gibt es bereits große Bestrebungen, die Aufgabe des Beschützens im Berufsbild des Polizisten und der Polizistin zu festigen (NZZ, 31. Oktober 2015). Die Bevölkerung wünscht sich vor allem die Polizei als „Freund und Helfer“. Soll dies gelingen, muss der Anteil der bürgernahen Polizeiarbeit in Zukunft stärker gewichtet werden.
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1.4
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rkenntnisse aus der Forschung zu Kommunikation E und Eigensicherung
Verschiedene Forschungen zeigen auf, dass zielgerichtete Kommunikation in einem frühen Stadium von Begegnungen hilft, Situationen zu klären, eine positive Atmosphäre zu schaffen und eine partnerschaftliche Sichtweise herbeizuführen. Die unten erwähnten Bücher und Forschungen haben die EIKO-Strategie maßgeblich beeinflusst. • Schmalzl (2008). Einsatzkompetenz. In dieser Forschung wird die positive Wirkung von Einsatztrainings auf das Einsatzhandeln untersucht. Die Ideen und Ansichten von H.-P. Schmalzl über das polizeiliche Handeln haben die EIKO-Strategie in der Entstehung maßgeblich beeinflusst. • Füllgrabe (2016), Psychologie der Eigensicherung – Überleben ist kein Zufall. Obwohl Füllgrabe ein Psychologe ist, schafft er es, die Sichtweise und das Denken der Polizeibasis (Street Cops) gut abzubilden. Dadurch entsteht eine hohe Akzeptanz für die Inhalte und deren Botschaften. Die beiden Hauptelemente aus dem Buch für die EIKO-Strategie sind: –– Die „Tit-for-Tat“-Strategie soll als effiziente Steuerung sozialer Systeme verstanden werden. Die zwischenmenschliche Spieltheorie ist für den Polizeieinsatz von großer Bedeutung. –– Der Gefahrenradar – zur Erkennung potenziell gefährlicher Situationen muss jeder Polizist/jede Polizistin eine gelassene Wachsamkeit entwickeln. • Max Hermanutz (2013) beschreibt in seinem Buch: Polizeiliches Auftreten – Respekt und Gewalt eindrücklich, wie wichtig eine klare und verbindende Kommunikation sein kann. Es geht um die Erkenntnis, dass durch Kommunikation eine Beziehung zwischen den Beteiligten etabliert wird, welche sich deeskalierend auf die Situation auswirken kann: –– Polizeibeamt*innen, die im Vorfeld eines Angriffs mit dem Täter kommuniziert haben, werden seltener verletzt. –– Ein/e schlampig gekleidete/r Polizist*in provoziert aggressives Verhalten, unabhängig davon, was er/sie sagt. –– Herablassende und unfreundliche verbale Kommunikation seitens der Polizei steigert die Gewaltbereitschaft der Gegenseite. • In einer weiteren Studie betreffend Gewalt gegen die Polizei beschreibt Hermanutz (2015), dass nebst einer guten Kommunikation auch die taktischen Fähigkeiten und die Aufmerksamkeit eine große Rolle spielen. Die wichtigsten Erkenntnisse aus der Studie können mit den folgenden Eckpunkten beschrieben werden: –– In Kontroll- und Festnahmesituationen ist das Gewaltpotenzial am höchsten. Allgemein wird das Verletzen der Privatsphäre als „heikel“ betrachtet. –– Rechtssicherheit schafft Freundlichkeit – den Rechtsfächern muss eine hohe Priorität eingeräumt werden.
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–– Professionelle Kommunikation erhöht den Respekt und vermindert die Gefahr, angegriffen zu werden.
2
Die EIKO-Strategie
Die EIKO-Strategie wird in einem einfachen Modell dargestellt. Dieses reduziert die Komplexität und gibt vor, auf welche Aspekte man sich im Einsatz konzentrieren soll. Menschliche Interaktionen sind nahezu unendlich vielschichtig und sind schwierig zu analysieren. Situativ handeln setzt voraus, Aspekte gezielt zu vernachlässigen, um damit Komplexität zu reduzieren (Rüegg-Stürm 2003, S. 12). Der Polizei-Einsatz ist genau eine solche komplexe Situation. Nur eine Reduktion der Komplexität ermöglicht ein situatives und erfolgreiches Reagieren. Daher ist die Strategie einfach und ermöglicht den Polizeikräften, rasch Handlungsentscheidungen zu treffen, auch wenn die Situation unklar und diffus ist (Sticher 2020, S. 339). Ergänzend lässt sich die Strategie in einer einfachen Checkliste zusammenfassen. Die Checkliste beschreibt und fokussiert auf die Kernpunkte der Strategie, hilft, in komplexen Situationen die wichtigsten Handlungen einzuleiten, und gibt durch den Ritual-Charakter Sicherheit in der Anwendung. Eine ideale Checkliste umfasst maximal neun Punkte, die auf einer Seite Platz haben sollten. Sie muss insbesondere die Schlüssel-Punkte umfassen, deren Auslassung die größten Folgen haben (Weibel 2015, S. 95). Im Training und auch im Einsatz sollten sich die Phasen der EIKO-Strategie im Verhalten beobachten und beurteilen lassen. Insofern kann das Modell auch als Ausbildungsund Feedbackinstrument eingesetzt werden. Erfahrungen zeigen, dass der konsequente Einsatz der EIKO-Strategie durch Mentoren*innen und Ausbilder*innen zu großer Sicherheit im Einsatz führt. Daher wird empfohlen, EIKO zu Beginn der Ausbildung der Polizeikräfte einzuführen und in den spezifischen Fachausbildungen immer wieder den Bezug zu der Strategie herzustellen. Der Psychologie-Unterricht wird praxisnaher, wenn er im Kontext des Einsatzes reflektiert wird, und der Rechtsunterricht wird lebendig, wenn er mit gesteigerter Sicherheit im Einsatz in Verbindung gebracht wird. Die EIKO-Strategie gliedert sich in drei Phasen: vor dem Einsatz, während des Einsatzes und nach dem Einsatz. Sie lässt sich gut auf einer einfachen Handkarte darstellen.
2.1
Vor dem Einsatz
Zur ersten Phase gehören die Einsatzbesprechung und die mentale Vorbereitung. Durch eine gegenseitige Begrüßung und strukturierte Einsatzbesprechung wird ein klares Startsignal gegeben – „jetzt geht es los!“. Mehrere Studien zeigen, dass Unfälle dann passieren, wenn Polizeikräfte gedanklich nicht bereit sind oder von einer Situation überrascht werden (Füllgrabe 2016, S. 58). Daher ist es wichtig, sich über die aktuelle Lage zu informieren und sich bewusst auf die kommende Arbeit einzustellen. Mit der persönlichen
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Begrüßung und dem Handschlag wird signalisiert, dass gegenseitig Verantwortung übernommen wird. Der Handschlag kommt einem Vertrag gleich, bei welchem zwei Menschen sich gegenseitige Unterstützung versprechen. Mit mentaler Vorbereitung sind – militärisch gesprochen – die vorbehaltenen Entschlüsse gemeint. Wer sich geistig immer wieder auf unterschiedliche Situationen einstellt, verfügt über Handlungsalternativen und kann diese im Ernstfall schneller abrufen. Wer sich aber selten die Frage stellt: „Was mache ich, wenn …?“, wird in Extremsituationen blockiert sein, da die gedanklichen Verhaltensalternativen fehlen. Forschungen zeigen (Schmalzl 2008, S. 119), dass Polizeikräfte, die sich gedanklich auf die Aufgaben vorbereiten, im Training besser agieren als diejenigen, die dies nicht tun. Zur Vorbereitung gehört außerdem die Absprache mit der Einsatz-Partnerin oder dem Einsatz-Partner. Oft lautet der Auftrag der Einsatz-Zentrale: „Geht mal hin und schaut.“ Um Nachlässigkeit und eine mögliche Fehleinschätzung der Situation zu vermeiden, sollten gemeinsam verschiedene Fragen besprochen werden: „Was könnte uns erwarten?“, „Was wäre das schlimmste Szenario?“, „Was machen wir, wenn wir am Einsatzort ankommen?“, „Wer übernimmt die Rolle der handelnden Person und wer die Rolle des Person, die sichert?“. Solche Fragen werden in der Praxis oft belächelt, aber nur durch diese sind Polizeikräfte offen für unerwartete Situationen und werden nicht durch eine unbekannte Wendung überrascht. Mittels der EIKO-Strategie wird darauf hingewiesen, dass Eigensicherung bereits mit einer seriösen Vorbereitung auf den Einsatz beginnt.
2.2
Während des Einsatzes
Der zentrale Bestandteil der zweiten Phase bildet das 3D-Modell, welches durch die Strategie der Bedingten Freundlichkeit, den Gefahrenradar und die Aufgabenorientierung ergänzt wird. Die Aufteilung der Rollen zwischen der handelnden und der sichernden Person ist für die EIKO-Strategie ebenfalls von großer Bedeutung. Das 3D-Modell Mit dem 3D-Modell werden drei Ebenen der Einsatz-Bewältigung vom Dialog über die Deeskalation hin zum Durchgreifen beschrieben. Es dient dazu, das Verhalten auf der Straße zu steuern (Moos, 2011, S. 48). Seit dem Ordnungsdienst bei der Fußball-EURO 08 ist das 3D-Modell allen Polizeikräften der Stadtpolizei Zürich bekannt (siehe Abb. 1). Es wäre jedoch schade, dieses Modell bloß auf den Ordnungsdienst zu reduzieren, denn es eignet sich hervorragend, um die tägliche Arbeit der Polizeikräfte auf der Straße zu steuern. Es gilt der Grundsatz, dass Polizeikräfte sich als zuverlässige, freundliche und hilfsbereite Partner*innen anbieten sollen und dass Probleme möglichst im Dialog gelöst werden (siehe Abschn. 1.2). Ist ein Dialog nicht möglich, folgt die Phase der Deeskalation, in der Polizeikräfte durch Beruhigung und direktives Handeln versuchen, die Lage zu entschärfen. Ist auch das nicht möglich, wird in die Phase des Durchgreifens gewechselt.
Die Einsatz-Kompetenz Strategie: Eine Verhaltensanweisung für Polizeikräfte im Einsatz
Während
Nach
Briefing & mentale Vorbereitung
Gefahrenradar
Durchgreifen Deeskalation
Dialog Strategie der Bedingten Freundlichkeit
Handeln = Konfliktlösung
Aufgabenorientierung
Einsatz-Nachbesprechung Dokumentation
Vor
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Sichern = Gewalteskalation
Abb. 1 Darstellung der EIKO-Strategie (Eigene Darstellung)
Strategie der Bedingten Freundlichkeit (Schmalzl 2008, S. 97) Mit der Strategie der Bedingten Freundlichkeit (SBF) – auch bekannt als „Tit-for-Tat“ – wird das Verhalten gegenüber Bürgerinnen und Bürgern adressiert. Mit der SBF wird eine Grundfrage der Verhaltensforschung beschrieben: „Wie reagiert mein/e Partner*in, mein/e Konkurrent*in oder mein Gegenüber auf mein Verhalten? Wie kann ich sein/ihr Verhalten positiv beeinflussen und steuern?“ Die Begegnung mit einem anderen Menschen ist kein statischer, starrer Zustand, sondern eine Kette von sprachlichen und nicht-sprachlichen Ereignissen. Zwei Personen reagieren immer aufeinander (Füllgrabe 2016, S. 88). Wenn wir uns bewusst machen, dass der Ausgang einer Begegnung zwischen zwei Menschen in den ersten zehn Sekunden maßgeblich gesteuert wird, dann kommt der SBF eine große Bedeutung zu. In der Praxis zeigt sich, dass durch den Einsatz der SBF Gewalt dadurch vermeiden werden kann, dass man dem Gegenüber sprachlich oder durch nicht-sprachliche Signale andeutet, dass der Konflikt positiv gelöst werden kann, dass feindseliges Verhalten aber nicht geduldet wird. Durch die SBF wird deutlich signalisiert: „Ich bin freundlich, kann mich aber wehren.“ Dadurch wird vermieden, dass unkooperative Personen freundliches Verhalten als Schwäche und fehlende Reaktionsbereitschaft deuten könnten. Die SBF basiert auf zwei Signalen:
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• „Ich bin freundlich. Du bist willkommen.“ • „Wenn Du unkooperativ bist, reagiere ich sofort und setzte klare Stopp-Signale.“ Konsequente Anwendung der SBF bedeutet, dass ein neutrales und sachorientiertes Verhalten im Vordergrund steht. Nonverbale Signale der Ruhe und Besonnenheit zeigen dem Gegenüber, dass Polizeikräfte die Lage im Griff haben. Letztendlich braucht es aber auch die Reaktionsbereitschaft, entschlossen, aber verhältnismäßig zu handeln. Gefahrenradar Der Gefahrenradar soll Polizeikräfte auf der Straße frühzeitig auf gefährliche Aspekte hinweisen. Genaues Wahrnehmen und Hinsehen, richtiges Interpretieren der Signale durch Austausch mit Kolleginnen und Kollegen und anschließendes Analysieren der Situation mit entsprechender Entschlussfassung ermöglichen es Polizeikräften, die Situation umfassend wahrzunehmen und entsprechende Handlungen einzuleiten. Auch hier zeigen die Studien aus Deutschland, dass viele Unfälle hätten vermieden werden können, wenn Polizeikräfte immer wieder auf „ihren Gefahrenradar“ geschaut und sich ausgetauscht hätten (Füllgrabe 2016, S. 113). Natürlich ist es nicht möglich, das Umfeld mit 100 % Wachsamkeit zu beobachten. Im Wissen um diese Unmöglichkeit spricht Füllgrabe von einer „gelassenen Wachsamkeit“, welche es ermöglicht, auf lange Dauer die Sensibilität für Gefahren aufrechtzuhalten. Ein ähnliches Konstrukt der Aufmerksamkeits-Beschreibung entwickelte der amerikanische Soldat Jeff Cooper, welcher vier verschiedene Farben für die Wachsamkeit definierte. Die Stufe Gelb entspricht der Haltung, wie sie im Gefahrenradar gefordert wird (Rosenberg 2011, S. 52). Von Cooper stammt auch das Zitat: „Your mindset is your primary weapon“, welches die Idee des Gefahrenradars gut widerspiegelt. Aufgabenorientierung Im Ernstfall sind diejenigen Polizeikräfte erfolgreich, die genau wissen, was sie zu tun haben, welche Mittel sie anwenden können und wie diese einzusetzen sind. Sie sind „Herr der Lage“ (Füllgrabe 2016, S. 67). Daher lauten die zentralen Fragen in der Aufgabenorientierung: • Auftrag: „Was muss ich tun?“ • Rechtslage: „Was darf ich tun?“ • Taktik: „Wie muss ich es tun?“ Diese Fragen scheinen auf den ersten Blick banal. In der Praxis zeigt sich aber, dass viele Polizeikräfte im Bereich der Rechtslage und Taktik große Wissenslücken aufweisen, sich unsicher fühlen und daher oft falsch reagieren. Diese Unsicherheit wird vom Gegenüber registriert und bedeutet daher für Polizeikräfte ein Sicherheitsrisiko.
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2.3
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Aufteilung zwischen Handeln und Sichern
Polizeikräfte, die allein unterwegs sind, müssen die Rollen der Kommunikation und der Eigensicherung ohne Unterstützung anderer Kolleginnen oder Kollegen wahrnehmen. Da dies kaum möglich ist, werden sich Polizeikräfte wahrscheinlich auf Eigensicherung konzentrieren und die Kommunikation vernachlässigen. In solch einem Kontext ist die Umsetzung der EIKO-Strategie fast unmöglich. cc
Um den Anforderungen der Eigensicherung wie auch der Kommunikation gerecht zu werden, ist es entscheidend, dass die Rollen des Sicherns und des Handelns aufgeteilt und konsequent getrennt werden. Daher sollte, wenn immer möglich, im 2er-Team gearbeitet werden. Die Person, die sichert, übernimmt die Umfeld- Überwachung, beachtet verstärkt den Gefahrenradar und die Gewalteskalation. Ihre Kollegin oder ihr Kollege kann sich ganz auf die Kommunikation und Konfliktlösung mit dem Gegenüber einlassen. Vertrauen, Offenheit und Neutralität ist von feinen verbalen und nonverbalen Signalen abhängig und kann nur zufriedenstellend ausgeführt werden, wenn man sich ganz darauf einlassen kann.
Kooperative Konfliktbewältigung Die handelnde Person geht bei der Bewältigung einer schwierigen Situation gemäß dem Schema der Kooperativen Konfliktbewältigung vor (Abb. 2; Berkel 2020, S. 120). Im ersten Schritt geht es darum, die eigene Erregung zu kontrollieren. Viele Konflikte beginnen bereits in der ersten Phase aus dem Ruder zu laufen, weil die Emotionen hochsteigen und ein kontrolliertes Handeln unmöglich wird. Der zweite Schritt umfasst das Bilden von Vertrauen mit dem Gegenüber. Dies erfolgt durch das Senden von Ich-Botschaften, aktives Zuhören und nonverbale, positive Signalen. Ist dies erfolgt, wird im dritten Schritt offen und transparent kommuniziert. Dabei wird auf die Sachebene fokussiert und Vorwürfe vermieden. Es werden klärende Rückfragen gestellt. Im vierten Schritt folgt die Problemlösung, welche nach Möglichkeit die Sichtweisen beider Seiten berücksichtigt. Hier entsteht oft der Einwand, dass dies in der polizeilichen Situation nicht möglich sei. Beim genauem Betrachten der Konflikte wird oft deutlich, dass eine Win-Win-Lösung durchaus möglich gewesen wäre und sei es auch nur, dass dem Gegenüber ein Gesichtsverlust erspart bleibt. Insbesondere im Kontakt mit Jugendlichen zeigt sich, dass eine akzeptierte Lösung auch „verhandelt“ werden kann. Im fünften Schritt geht es um das Treffen von Vereinbarungen und die Frage, wie das Verhalten in Zukunft aussehen soll: „Was macht ihr und was machen wir?“ Am Schluss soll eine persönliche Reflexion stattfinden: „Was hat gut funktioniert? Was werde ich das nächste Mal anders machen?“ Phasen der Gewalteskalation. Auch die Person, die sichert, geht nach einem konkreten Handlungsschema vor (Abb. 3). Mittels des Modells der Gewalteskalation (Breakwell 1998, S. 56) wird laufend die Ge-
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Abb. 2 Schema der Kooperativen Konfliktlösung. (Berkel 2020, S. 120)
Abb. 3 Phasen der Gewalteskalation nach Breakwell in Verknüpfung mit der 3D-Strategie (eigene Darstellung)
fährdung der aktuellen Situation beurteilt. Die Person, die sichert, ist bereit, situativ zu intervenieren, wenn die Sicherheit nicht mehr gewährleistet ist. Entscheidend ist, dass die Person, die sichert, sich nicht aktiv an der Kommunikation und Lösungsfindung beteiligt, sondern im Hintergrund bleibt. In einer Auseinandersetzung steigt die Emotionalität. Dies kann sich bis zu einer Krise steigern. In der sogenannten
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Auslösephase (Abb. 3) kann noch gut diskutiert werden und eine Eskalation ist kaum gegeben, sodass der/die Handler*in im Dialog agieren kann. In der Eskalationsphase wendet die handelnde Person deeskalierende Strategien an, wobei die Gefahr einer körperlichen oder verbalen Gewaltanwendung deutlich höher ist. Die Person, die sichert, beobachtet und interpretiert die Situation und ist bereit, jederzeit einzugreifen. In der „Krise“ (Abb. 3) gilt es, besonnen durchzugreifen und die Lage „einzufrieren“. Ist die Situation stabilisiert, übernimmt die handelnde Person wieder die Initiative und versucht in der Phase der „Erholung“, durch vertrauensfördernde Maßnahmen zu beruhigen und zu klären. Somit ist die Person, die sichert, ganz auf die Intervention fokussiert und ermöglicht der handelnden Person, sich „ungedeckt“ auf die Kommunikation einzulassen.
2.4
Nach dem Einsatz
Nach Einsätzen wird oft zu wenig Zeit in die Nachbesprechung investiert. Aber eine Nachbesprechung ist wichtig für gemeinsames Lernen und für das Bilden von Vertrauen in einer Gruppe. Gute Teams zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Einsätze offen und selbstkritisch hinterfragen und Erkenntnisse in ihr weiteres Handeln integrieren. Dabei sind Vorgesetzte besonders gefordert, damit die Einsatznachbesprechung seriös und strukturiert durchgeführt wird. Vertrauen und Offenheit spielen eine wichtige Rolle, denn nur dadurch sind Menschen bereit, sich zu öffnen und auch persönliche Aspekte anzusprechen. So kann ein emotional schwieriger Einsatz einfacher in einem vertrauensvollen Umfeld reflektiert werden, als wenn eine Kultur der „Härte“ gepflegt wird. Die Fragen der Einsatznachbesprechung lauten: • • • • •
Was war gut? Wie habe ich mich gefühlt? Was hat nicht funktioniert? Was machen wir das nächste Mal besser? Was lernen wir?
Die Checkliste Die EIKO-Strategie kann zusammenfassend in einer einfachen Checkliste dargestellt werden (vgl. Abb. 4). Die Aufteilung zwischen dem Handeln und Sichern wird dabei gut erkennbar. Die Checkliste kann ausgedruckt bereitliegen, sodass sie jederzeit hinzugezogen werden kann. Sie kann in der Vorbereitung, beim Einsatz als auch der Nachbesprechung als Gesprächsleitfaden genutzt werden. Die Fragen der Einsatzbesprechung können auf Bedürfnisse des jeweiligen Teams angepasst werden, solange sich die Elemente der EIKO-Strategie in den Fragen wiederfinden. Zusammenfassend
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Abb. 4 Checkliste EIKO-Strategie (Eigene Darstellung)
Fazit Mit der EIKO-Strategie werden die grundlegenden Verhaltensmaßnahmen und die Aufgabenteilung im Einsatz definiert. Die EIKO-Phasen können im Training und auch auf der Straße beobachtet und anschließend besprochen werden. Viele Elemente der EIKO- Strategie werden in Polizeikorps der Schweiz bereits umgesetzt. Wenn Polizeikräfte konsequent gemäß der EIKO-Strategie handeln, respektvoll mit Bürgerinnen und Bürgern umgehen und auch deren Respekt einfordern, dann bedeutet dies gelebte und präventive Eigensicherung. Insofern soll die EIKO-Strategie als wirkungsvolles Einsatzmittel verstanden und eingesetzt werden und kann Trainerinnen und Trainern als Ausbildungs- und Vorgesetzten als Führungsinstrument dienen.
3
Reflexion und Weiterentwicklung der EIKO-Strategie
3.1
Aus EIKO wird EIKO
Die heutige EIKO-Strategie basiert auf einer früheren Version, welche ursprünglich „Eigensicherung durch Kommunikation“ hieß. Schon die erste Form der EIKO-Strategie wurde in enger Zusammenarbeit mit Einsatz-Trainerinnen und -Trainern durch Polizeipsychologinnen und Polizeipsychologen entwickelt. Von Beginn an wurde die EIKO- Strategie durch Polizeikräfte auf der rationalen Ebene sehr gut verstanden. Auf der emotionalen Seite blieb stets eine latente Ablehnung gegen die EIKO-Strategie, weil die
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Kommunikation so stark gewichtet wurde und dies mit dem Selbstbild der Polizeikräfte als „Kämpferinnen und Kämpfer“ nicht so ganz passen wollte. Bei der Weiterentwicklung der Strategie richtete sich das Augenmerk immer stärker auf die acht Einsatz-Kompetenzen. So entstand der Anspruch, diese in die bestehende Strategie zu integrieren. Das Dilemma bestand darin, dass die Strategie unter dem Namen EIKO bereits gut bekannt war und eine Namensänderung mit viel Aufwand hätte kommuniziert werden müssen. Die Lösung verbarg sich ganz einfach im Umstand, dass die Abkürzung EIKO auch im Wort: Einsatz-Kompetenz zu finden ist. Also konnte die Strategie verändert werden, ohne dabei die wichtige Abkürzung zu verlieren. Spannend war vor allem die Wirkung, welche diese Namensänderung herbeiführte. Polizeikräfte fühlten sich mit dem Namen Einsatz-Kompetenz viel besser abgeholt und verstanden, was die Akzeptanz der EIKO-Strategie innerhalb kürzester Zeit massiv erhöhte. Nun steht nicht mehr die psychologische Wirkung der Kommunikation im Zentrum, sondern der polizeiliche Einsatz, in welchem die Kommunikation eine wichtige Rolle spielt. Interessant ist auch die Feststellung, dass die Betonung der Kommunikation bei nicht-polizeilichen Organisationen nie eine Rolle gespielt hat. So wurde „Eigensicherung durch Kommunikation“ auch im Strafvollzug oder im Sanitätswesen geschult und fand dort sofort eine gute Akzeptanz.
3.2
Empfehlung zur Einführung der EIKO-Strategie
Bei der Schulung der EIKO-Strategie zeigt sich, dass die besten Multiplikator*innen aus den Bereichen Fahndung und Intervention kommen und im Vollzugsdienst eingeteilt sind. Daher wurden geeignete Personen aus der Zielfahndung oder den Spezialeinheiten gesucht, welche die positive Wirkung der Kommunikation bereits in ihrer angestammten Tätigkeit bewusst anwenden. Es ist wichtig, solche Integrations-Figuren in der Organisation zu identifizieren und diese für die Strategie zu gewinnen. Insbesondere bei Auszubildenden macht es großen Eindruck, wenn erfahrener Fahnder*innen, welche in ihrer Polizeitätigkeit nach gewalttätigen Menschen suchen, vorzeigen, wie sie mit der EIKOStrategie zum Ziel gelangen können. Eine weitere Personengruppe, welche zur Akzeptanz der Strategie beiträgt, sind die Mentoren*innen und Ausbilder*innen der Grundausbildung, denn in der Reflexion des Verhaltens kann die Strategie hervorragend beigezogen werden. Durch das Beurteilen der Arbeit auf der Straße mittels EIKO-Strategie wird eine Struktur geschaffen, welche zu Klarheit und Einheitlichkeit führt. Die Ausbilder*innen haben einen großen Einfluss auf die Auszubildenden.
3.3
Weiterentwicklung und Wissenschaftlichkeit des Modells
Die EIKO-Strategie basiert auf Forschungen und theoretischen Überlegungen (Ab schn. 1.4). Weiterentwicklungen wurden im Laufe der Zeit meist durch Diskussionen
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innerhalb des Instruktionskaders und durch wissenschaftliche Berichte angestoßen. Eine wissenschaftliche Überprüfung der EIKO-Strategie hat bisher nicht stattgefunden. Es wäre spannend zu sehen, ob Polizeikräfte, welche mit der EIKO-Strategie geschult wurden, auch wirklich deeskalativer arbeiten und weniger Opfer von Anfeindungen auf der Straße werden. Einzelne Rückmeldungen von Polizeikräften, welche die EIKO-Strategie konsequent anwenden, lassen diesen Rückschluss zu. Im Wissen, dass ein erfolgreicher Polizei-Einsatz von verschiedenen Faktoren abhängig ist, wäre eine wissenschaftliche Überprüfung der EIKO-Strategie wünschenswert und spannend.
3.4
Die EIKO-Strategie als Kultur-„Projekt“
Eine erfolgreiche Umsetzung der EIKO-Strategie ist letztlich von der gelebten Kultur in den verschiedenen Polizeikorps und Dienstgruppen abhängig. In Teams, in welchen eine Kultur der Wertschätzung, Offenheit und Neugier herrscht, wird die EIKO-Strategie oft unbewusst gelebt. Diese Gruppen haben vermutlich noch nie etwas von der EIKO-Strategie gehört, wenden diese aber intuitiv an und verzeichnen seltener verbale und auch körperliche Gewalt. Polizeipräsidenten*innen und Amts-Vorsteher*innen, welche sich persönlich zu den Inhalten und Werten von EIKO bekennen, signalisieren damit ihr Kultur verständnis und tragen maßgeblich zum Erfolg bei. Von der Strategie überzeugte Einsatztrainerinnen und Einsatztrainer zeigen auf, wie die Arbeit auf der Straße zu erfolgen hat. Eine positive Einstellung zur EIKO-Strategie und das gemeinsame Ziehen an einem Strang über verschiedene Organisationsstufen hinweg machen die EIKO-Strategie wirksam.
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Teil VI Reflektierte Praxis – Training
Versuch einer Ist-Soll-Analyse am Beispiel eines integrativen Schießtrainings für polizeiliche Spezialeinheiten aus der „ecological dynamics“-Perspektive Christian Beck, Theobald Trapp und Stefan Schade
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 2 Ein typischer SEK-Einsatz – Was wird den Einsatzkräften abverlangt? 3 Der „ecological dynamics“-Ansatz für Polizeitraining 4 Aufbau und Ablauf des integrativen Schießtrainings im Ist-Zustand 5 Repräsentativität als Soll-Zustand im Polizeitraining 6 Diskussion Literatur
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Zusammenfassung
Das polizeiliche Schießen gehört zu den Kernkompetenzen der Polizei im Allgemeinen und der polizeilichen Spezialeinheiten im Besonderen. Insbesondere das Spezialeinsatzkommando (SEK) ist für die Bekämpfung von gefährlichen und vor allem Reviewer*innen: Clemens Lorei, Michael Hauck C. Beck (*) · T. Trapp Abteilung Spezialeinheiten Polizeipräsidium Einsatz, Logistik, Technik, Zentrale Ausbildungstelle der Spezialeinheiten Polizei Rheinland-Pfalz, Enkenbach-Alsenborn, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] S. Schade Abteilung 1 – Studium, Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz, Hahn-Flughafen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_43
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b ewaffneten Täter*innen vorgesehen. Hierfür stehen den Einsatzkräften unterschiedliche Waffensysteme zur Verfügung. Zum Zwecke des passiven Schutzes trägt die Einsatzkraft eine ballistische Schutzausrüstung unter anderem bestehend aus Helm und Plattenträger. Bei Täterkontakt muss die Einsatzkraft unter Lebensgefahr und Hochstress in der Situationsdynamik vom Gegenüber ausgehende Gefahrenmomente wahrnehmen und einschätzen, bewusst oder unbewusst über Reaktionen entscheiden und dementsprechend gemäß Verhältnismäßigkeit handeln. Das Zusammenspiel der perzeptuell-kognitiven Prozesse (Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Denken, Urteilen, Entscheiden) und der Bewegungsabläufe (Waffen- und Magazinwechsel, Zielen, Schießen, Laufen) muss in diesen dynamischen Einsatzsituationen hinreichend funktional bleiben. Um die Einsatzkräfte optimal auf ihr Einsatzgeschehen vorzubereiten, stellt sich die Frage, wie das Schieß- und Einsatztraining zu gestalten ist, um maximalen Lerneffekt zu erzielen. Der „ecological dynamics“-Ansatz fordert dazu, die Einsatzanforderungen möglichst repräsentativ im Training abzubilden. Im vorliegenden Beitrag wollen wir eine aktuelle Schießübung der SEK Rheinland-Pfalz vor dem Hintergrund der Repräsentativität des Lerndesigns analysieren. Im Sinne einer Ist-SollAnalyse sollen aus der Perspektive des „ecological dynamics“-Ansatzes Herausforderungen und Probleme hinsichtlich der einsatzrepräsentativen Gestaltung von Trainingsumgebungen diskutiert werden. Unsere Hoffnung besteht darin, den Mut zur kritischen Reflexion eigener Trainingsgestaltung zu stärken.
1
Einleitung
Das Training mit Waffen ist ein zentraler Bestandteil der Aus- und Fortbildung von Polizist*innen in Deutschland. Mit Abschluss der Polizeiausbildung bzw. des Polizeistudiums sollen die Absolvent*innen befähigt sein, sämtliche Führungs- und Einsatzmittel, einschließlich der Schusswaffe, rechtlich, technisch und taktisch richtig einzusetzen. Das Schieß- und Einsatztraining wird dann anschließend in Abhängigkeit von der dienstlichen Verwendung in unterschiedlicher Intensität (und Qualität) im Rahmen von Fortbildungen weitergeführt. Im Einsatz werden Polizist*innen dann allgemein in realistischer Weise durch sich bewegende Personen, eventuell mit Waffen, in einer dynamischen Situation mit unvorhersehbaren Einflussfaktoren angegriffen. Zum Schusswaffengebrauch kommt es in der Regel dann aus Notwehr oder Nothilfe, wenn unmittelbare Lebensgefahr für den Schützen selbst oder andere Personen besteht (Lorei 2020). In diesen dynamischen und unvorhersehbaren Einsatzsituationen ist nicht nur die Rechtmäßigkeit der Anwendung des unmittelbaren Zwanges einzuschätzen, sondern auch dementsprechend das Führungs- und Einsatzmittel auszuwählen und unter permanenter Beachtung möglicher Gefahrenquellen technisch wie taktisch korrekt anzuwenden. Ist die Gefährlichkeit eines Einsatzes im Vorhinein einschätzbar, beispielsweise bei gewalttätigen Personen mit Schusswaffen, kann
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die Polizei intern auf das Spezialeinsatzkommando (SEK) oder andere polizeiliche Spezialeinheiten zurückgreifen (Schade und Wimmer 2019). Um diese Einsätze erfolgreich zu bewältigen, muss der Gebrauch der Schusswaffen bzw. das Zusammenspiel aller zur Verfügung stehenden Führungs- und Einsatzmittel möglichst reibungslos funktionieren. Der einsatzbezogene Umgang mit Waffen gehört bei den polizeilichen Spezialeinheiten zu den Kernkompetenzen. Zum Erwerb und Erhalt dieser Kompetenz ist es notwendig, die Frequenz, Intensität und Qualität des Schieß- und Einsatztrainings auf professionellem Niveau hoch zu halten, damit eine optimale Vorbereitung auf den Einsatz gelingen kann. Es stellt sich hierbei die Frage, wie das Einsatztraining für polizeiliche Spezialeinheiten gestaltet werden soll. Grundlegende Hinweise liefert der „ecological dynamics“-Ansatz, in dem die Repräsentativität der Trainingsbedingungen ein wichtiges Element für erfolgreiches Training darstellt (Körner und Staller 2021; Pinder et al. 2011). Im vorliegenden Beitrag fokussieren wir aufgrund der beruflichen Herkunft der beiden Erstautoren als operative Einsatzkräfte der Spezialeinheiten auf eine typische Einsatzsituation des Spezialeinsatzkommandos der Polizei. Hierzu wird im folgenden Abschnitt zunächst ein typischer SEK-Einsatz beschrieben, um hierdurch die relevanten Anforderungen an die Einsatzkräfte zu verdeutlichen. Die Beschreibung typischer bzw. kritischer Einsatzsituationen liefert im Sinne einer intuitiven Anforderungsanalyse Hinweise darauf, welche Bedingungen für den Einsatz repräsentativ und im Training abzubilden sind. Die möglichst repräsentative Darstellung von realistischen Einsatzbedingungen im Training soll den Transfer des Gelernten in den Einsatz und damit eine hohe Lerneffizienz ermöglichen. Umgekehrt gilt es, all jene Lernbedingungen zu meiden, die Einsatzrealitäten nur unzureichend abbilden und ggf. „falsches“ Lernen zur Folge haben können. Das Training eines Dublette-Schusses könnte zum Beispiel im Einsatz dahin gehend fatale Folgen haben, als dass nach dem zweiten Schuss eine Schießpause und somit ein Zeitverzug folgt, durch den es einer angreifenden Person gelingt, ihren Angriff fortzusetzen (wovon realistischerweise auszugehen ist). Folglich ist zu empfehlen, das Schießen „bis Wirkung“ zu trainieren. Grundsätzlich aber gelten die folgenden Überlegungen für sämtliche Polizeieinsätze der Schutzpolizei. Nach einer kurzen Einführung zum „ecological dynamics“-Ansatz wollen wir im darauffolgenden Abschnitt zuerst eine aktuelle Trainingsvariante eines Schießtrainings der Spezialeinheiten der Polizei Rheinland-Pfalz vorstellen. Im Anschluss versuchen wir, vor dem Hintergrund des „ecological dynamics“-Ansatzes, eine kritische Ist-Soll-Analyse des Schießtrainings mit Blick auf die Repräsentativität der Trainingsbedingungen vorzunehmen. Dabei werden Herausforderungen und Probleme angesprochen. Hieraus resultierend sollen Anpassungen des Trainings diskutiert werden, die die Repräsentativität des Lerndesigns und damit die Lerneffizienz des Trainings erhöhen können. Durch diesen Beitrag möchten wir eine Blaupause der prakademischen Reflexion für Einsatztrainer*innen liefern und laden alle Interessierten zur Diskussion erfolgreichen Einsatztrainings ein.
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in typischer SEK-Einsatz – Was wird den E Einsatzkräften abverlangt?
Die Festnahme eines bewaffneten Straftäters beginnt mit der vorherigen Aufklärung des Aufenthaltsortes. Es folgen die Annäherung an ein Zielgebäude und das Eindringen in die Wohnung der Zielperson. Alle eingesetzten SEK-Beamt*innen sind hier bereits vollständig ausgerüstet und bewaffnet. Ihre ballistische Schutzausrüstung und die mitgeführte Bewaffnung bedeuten je nach Aufgabenzuweisung im Einsatztrupp zusätzlich ein Gewicht von etwa 20 kg. Schon hier müssen die Einsatzkräfte die körperliche Grundkonstitution für ihre Aufgabe mitbringen. Ihre Fitness muss aufgabenspezifisch entwickelt sein, um so die konkreten Belastungen des Einsatzes geeignet kompensieren zu können. Das Vorgehen und die Handhabung aller Führungs- und Einsatzmittel müssen stets vor dem Hintergrund ständiger Bedrohung so geschehen, dass die Gefahren für die eingesetzten Kräfte und das polizeiliche Gegenüber möglichst minimal ausfallen. Nach Täterkontakt erfolgt die Festnahme unter möglichem Einsatz von Schusswaffen. Viele dieser Schritte sind oftmals trainiert und laufen weitgehend automatisiert ab. Bei der gegebenen Gefahrensituation eines solchen Einsatzes hilft eine weitgehende Automatisierung von Handlungsabläufen dabei, möglichst viel kognitive Kapazität für die situationsadäquate Handlungsflexibilität frei zu halten. Die erfolgreiche Einsatzbewältigung macht es notwendig, dass die Informationsverarbeitung der Einsatzkräfte unter Stress weitgehend funktional bleibt. Das taktische Vorgehen hängt dabei maßgeblich einerseits von der physischen und psychischen Funktionsweise jeder einzelnen Einsatzkraft ab. Andererseits ist gleichzeitig die Funktionsweise als Team entscheidend. Das SEK ist stets als Gruppenformation im Einsatz. Im Handlungsplan aller Teammitglieder muss daher stets das Handeln als Gruppe repräsentiert und (bestmöglich) automatisiert sein. Von den einzelnen Einsatzkräften selbst wird ständig gefordert, ihre Aufmerksamkeit und Wahrnehmung aufrechtzuerhalten. Bei ständiger Unsicherheit gilt es, in einer unbekannten Umgebung möglichst früh jegliche Form von Gefahr zu erkennen. Gleichzeitig müssen das polizeiliche Gegenüber, die eigenen Kolleg*innen im Team und ggf. unbeteiligte Dritte beachtet werden. Die Kommunikation (vereinfacht sprechen und hören) ist funktional zu halten. Ständig muss die Lageentwicklung eingeschätzt und beurteilt werden. Besonders kritisch sind dabei Entscheidungen, die Schusswaffe einzusetzen oder nicht zu schießen. Ist die visuomotorische Koordination mit schwerer Schutzausstattung und Bewaffnung unter dem Einfluss von Stress (Lebensgefahr) an dieser Stelle untrainiert, das heißt nicht automatisiert, kann die kognitive Leistungsfähigkeit enorm beeinträchtigt werden und gravierende Fehler entstehen. Muss zum Beispiel die Bedienung der Waffen und sonstiger Führungs- und Einsatzmitteln noch aktiv mental begleitet werden, steht möglicherweise nicht ausreichend Verarbeitungskapazität (im Arbeitsgedächtnis) für die gegenwärtige Lagebeurteilung zur Verfügung. Aber nur so kann das Handeln der Einsatzkräfte gemäß Einsatzsituation flexibel bleiben. Hinzu kommt, dass auch die Abläufe innerhalb der Gruppe mental berücksichtigt werden müssen und kognitive Kapazität beanspruchen. Zusätzlich sind Störeinflüsse (z. B. Lärm) nicht auszuschließen (siehe Kasten).
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Die Gefahr als Aufgabe im Einsatz
Zentrale Aufgabe eines SEK besteht in der Festnahme von gefährlichen und bewaffneten Straftäter*innen bzw. Beschuldigten im jeweiligen Bundesland der Bundesrepublik Deutschland. Sie werden intern von der Polizei bei besonderen Bedrohungslagen hinzugezogen, zum Beispiel bei Geiselnahmen, Banküberfällen, Entführungen und Erpressungen. Aber auch die Bekämpfung jeder Form von Amok oder Terror gehört (im Rahmen der Einsatzkonzeption „Lebensbedrohliche Einsatzlagen“) zu ihren Kernaufgaben. Wie gefährlich ein SEK-Einsatz ist, zeigen die Fälle aus der jüngeren Vergangenheit, bei denen SEK-Beamt*innen in Ausübung ihres Dienstes getötet wurden. In einem Bericht des SPIEGEL heißt es zu einem SEK-Einsatz in Gelsenkirchen am 27.04.2020: „Das SEK öffnete zunächst die Haustür des Mehrfamilienhauses mit technischem Gerät. Dann schlichen die Spezialkräfte ins Dachgeschoss vor die Wohnung des Verdächtigen. Der getötete 28-jährige Beamte sollte die Wohnungstür des Mannes mit einer Türramme öffnen. Da er zu diesem Zweck offenbar seitlich zur Tür stand, konnte ihn eine schusssichere Weste nicht schützen, als der mutmaßliche Drogendealer in der Wohnung durch das Türblatt feuerte. Ersten Erkenntnissen zufolge traf eine Kugel den SEK-Beamten mit der Ramme an der Achsel“ (Lehberger und Ziegler 2020). Im rheinland-pfälzischen Anhausen wurde 2010 ebenfalls ein SEK-Beamter durch die geschlossene Wohnungstür von einem Mitglied eines Rockerclubs ohne Vorankündigung erschossen. Im Vorfeld war in beiden Fällen polizeilich bekannt, dass die Beschuldigten im Besitz von Schusswaffen waren. ◄ Die spezifischen Bedingungen eines typischen SEK-Einsatzes machen es erforderlich, dass SEK-Kräfte die einsatztypischen Tätigkeiten mit einer hohen Intensität und Frequenz im Training absolvieren. Dabei fällt auf, dass das isolierte Training einzelner Fertigkeiten (zum Beispiel Zielen mit der Waffe im Stand ohne Schutzausrüstung) den Einsatz nur unzureichend realistisch abbildet. Vielmehr ist ein dynamisches Zusammenspiel des gesamten psychomotorischen und perzeptuell-kognitiven Apparates erforderlich (zum Beispiel das zielgerichtete Bewegen in Schutzausrüstung mit der Waffe bei gleichzeitiger mentaler Beanspruchung während des Zielens), um im Einsatz erfolgreich sein zu können. Mit der Beschreibung eines typischen SEK-Einsatzes stellt sich die Frage, wie die Einsatzkräfte durch Training optimal auf die Einsatzbewältigung vorbereitet werden können. Was sollte also ein Training beinhalten, worauf sollte man verzichten? Die Anforderungen im Einsatzgeschehen sollten dabei, gemäß dem militärischen „train as you fight“-Ansatz (Rietjens et al. 2013), die inhaltliche Ausrichtung des Polizeitrainings bestimmen. Um Polizeitraining optimal auf die erfolgreiche Einsatzbewältigung auszurichten, gilt es zu verstehen, welche leistungsbezogenen Faktoren sowie deren Interaktionen hierfür notwendig sind. Intuitives Expertenwissen über jene leistungsrelevanten Faktoren der polizeilichen Leistung stellt einen ersten möglichen Zugang dar. Allerdings hängen Expertenurteile über „richtiges“ Training in erster Linie vom Experten ab und unterliegen (noch) keiner Validierung an Außenkriterien.
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Der „ecological dynamics“-Ansatz für Polizeitraining
Betrachtet man Polizeieinsätze aus psychologischer Perspektive, kann festgestellt werden, dass polizeiliches Einsatzhandeln die Integration perzeptuell-kognitiver Funktionen und motorischer Prozesse erfordert, um in der situativen Einsatzdynamik unter Stress und Lebensgefahr richtige Entscheidungen treffen und Gelerntes zuverlässig abrufen zu können. Im Polizeitraining gilt es daher, visuomotorisches Lernen spezifischer polizeilicher Fertigkeiten, wie zum Beispiel Waffengebrauch und Schießen, prozedural unter optimalen Lern-Lehr-Bedingungen so abzubilden, dass Einsatzkräfte in der Lage sind, die gelernten Fertigkeiten im Einsatz auch anzuwenden (Broadbent et al. 2015; Di Nota und Huhta 2019; Staller und Körner 2019) Beim motorischen Fertigkeitserwerb hilft das Einteilen einer komplexen Bewegung (zum Beispiel Schießen mit wechselnden Waffensystemen) in kleinere Komponenten („chunks“, Miller 1956; zum Beispiel Ergreifen der Waffe, Zielen, Holstern etc.). Die motorischen Chunks erlauben eine schnelle (automatische) Ausführung einer konkreten Bewegungssequenz. Nach dem Lernen einzelner Chunks kann durch sukzessive Verkettung ein komplexes Bewegungsmuster repräsentiert und abgerufen werden (Gallistel 1980; Meinel und Schnabel 2018). Durch fortlaufendes Training wird Expertise erworben, indem längere Bewegungssequenzen ohne mentale Belastung abgerufen und ausgeführt werden können (Ericsson et al. 2018; Ericsson et al. 1980, 1993; Ericsson und Smith 1991). Um optimale Lernbedingungen für den Fertigkeitserwerb im polizeilichen Schieß- und Einsatztraining zu schaffen, kann der „ecological dynamics“-Ansatz zur Trainingsgestaltung aus dem Bereich der Sport- und Trainingswissenschaften herangezogen werden (Araújo et al. 2017; Araújo et al. 2006; Brunswik 1956; Davids et al. 2015; Gibson 1966, 1979; Hristovski et al. 2009; Körner und Staller 2018, 2021). Hiernach ist (sportliches) Handeln aus der aktiven Auseinandersetzung des Organismus mit seiner spezifischen Umwelt zu verstehen, wobei durch das ganzheitliche Zusammenspiel perzeptuell-kognitiver Funktionen (wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Denken, Entscheiden) und motorischer Prozesse (Bewegungen) eine funktionale Adaptation an die Umgebungsbedingungen angestrebt wird. Für effektives Training bedeutet dies, dass einzelne psychologische Prozesse nicht isoliert trainiert werden sollten (Staller und Körner 2020; Chow et al. 2016; Chow et al. 2011). Die realen Einsatzbedingungen eines Polizeieinsatzes sind im Training möglichst repräsentativ abzubilden, um einen Transfer des Gelernten in den Polizeieinsatz zu ermöglichen (Körner und Staller 2020; Renshaw et al. 2019; Woods et al. 2020; vgl. Abb. 1). Bei einem neueren Ansatz in der Psychologie, der auch an den „ecological dynamics“-Ansatz anknüpft, spielt ebenfalls die Wechselwirkung von Wahrnehmung, Kognition und Bewegung eine zentrale Rolle. Im „embodied cognition“-Ansatz werden Denkprozesse nicht unabhängig von Wahrnehmung und Bewegungsprozessen betrachtet, sondern sind untrennbar voneinander ganzheitlich zu verstehen (Löffler et al. 2020). Hier kommt dem Körper in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt eine wesentliche Rolle in der
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gering
Repräsentativität Umweltanforderungen (Anpassungsdruck)
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groß gering
gering
groß
Freiheitsgrade
Einschränkungen
groß
groß
Individueller Handlungsspielraum
gering
Abb. 1 Repräsentativität und Handlungsspielraum: Durch Erhöhung der Repräsentativität des Lerndesigns steigt der Anpassungsdruck an die gestiegenen Umweltanforderungen (und damit das Stressniveau). Die Handlungsmöglichkeiten (insbesondere von Noviz*innen) werden hierdurch eingeschränkt. Effizientes Training sorgt dafür, dass bei erhöhter Repräsentativität der Trainingsumgebung der individuelle Handlungsspielraum zur Bewältigung der Umweltanforderungen vergrößert wird (= rot schraffierter Bereich). (Quelle: Eigene Darstellung angelehnt und modifiziert nach Araújo et al. 2009)
kognitiven Verarbeitung zu (Bermeitinger und Kiefer 2012; Varela et al. 1991; Wilson 2002).
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ufbau und Ablauf des integrativen Schießtrainings im A Ist-Zustand
Die Gestaltung des hier präsentierten Schießtrainings für polizeiliche Spezialeinheiten soll sich an einem typischen Einsatz eines Spezialeinsatzkommandos der Polizei orientieren und damit, gemäß dem „ecological dynamics“-Ansatz, die spezifischen Bedingungen des Polizeieinsatzes aufgreifen und die Integration perzeptuell-kognitiver sowie motorischer Prozesse abbilden und auf deren isoliertes Training verzichten. Die Darstellungen beziehen sich auf die bislang von den Erstautoren durchgeführten Varianten der Übung in einer 180-Grad-Schießanlage mit Echtschussbetrieb der Polizei Rheinland-Pfalz (vgl. Abb. 2, oben). Ziel der Übung ist es, eine statische Laborsituation beim Schießen aufzugeben und stückweit realistische Einsatzbedingungen zu adaptieren. Reale Einsatzbedingungen sind in der Regel dynamisch, multisensorisch und interaktiv. Eine Einsatzkraft muss aus der Bewegung heraus verschiedene Führungs- und Einsatzmittel störungsfrei b edienen
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Abb. 2 Blick in die in Indoor-Schießstätte (oben). Trainierende Einsatzkraft des SEK mit Kurzwaffe im Anschlag in der „alten“ (unten links) und in der „neuen“ Übungsanordnung (unten rechts). In der letzteren Version hat der Schütze die Aufgabe, bewaffnete Täter zu identifizieren und bis zur finalen Wirkung zu bekämpfen. Hier ist also zunächst Wahrnehmen der Personen und deren mögliche Bewaffnung erforderlich. Anschließend muss die Entscheidung, zu schießen oder nicht zu schießen, getroffen werden, bevor das Schießen letztlich motorisch ausgeführt wird. Zusätzlich kann der Auftrag sein, sich Informationen der gezeigten Personen oder von fiktiven Nachfolgeaufträgen zu merken. Das Training findet stets in vollständiger Einsatzausrüstung statt, bestehend aus ballistischem Schutzhelm mit Hörsprechgarnitur (Funk) und Schutzbrille, Plattenträger, Einsatzgürtel einschließlich Ersatzmagazinen und zusätzlichen Utensilien sowie Einsatzstiefel und -bekleidung. (Quelle: Foto Christian Beck®)
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können und währenddessen die Umgebung aufmerksam wahrnehmen und situations angemessene Entscheidungen treffen. Ständig ist sie angehalten, Informationen unterschiedlicher Art aufzunehmen und zu verarbeiten und adäquat zu reagieren. Wie in einem realen Einsatzszenario geht es in dieser Übung darum, sämtliche Verarbeitungskanäle der menschlichen Informationsverarbeitung zu adressieren. Durch die zeitgleiche Beanspruchung verschiedener Verarbeitungskanäle wird die im realen Einsatz notwendige Integration perzeptuell-kognitiver Leistungen und koordinierter Bewegungen trainiert. Die Einsatzkraft im Training kann sich nicht isoliert auf die Bedienung der Waffe und das Schießen an sich konzentrieren (wie beim statischen Schießen auf der Schießbahn), sondern muss ständig ihre Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Urteilen, Entscheiden und Psychomotorik aufeinander abstimmen. Angestrebt wird dabei, die Handlungsabläufe so zu automatisieren, dass sie im Einsatz unter Stress und Lebensgefahr noch abgerufen werden können. Die Übung versucht, Einsatzkräften eine Lernumgebung zu schaffen, die dazu zwingt, sich aktiv mit dieser Umgebung auseinanderzusetzen. Die aktuelle Schießübung (= Ist-Zustand A) findet aktuell in einer Indoor-Schießanlage der Polizei Rheinland-Pfalz statt. Die Schießhalle verfügt über drei Geschossfangseiten. Auf diesen drei Geschossfangseiten der Anlage (rechts, links, front) sind auf jeder Seite verschiedene Zielmedien positioniert (Abb. 2, oben). Die Zielmedien bestehen aus drei Teilen: einer Trefferfläche unterschiedlicher Größe, Form und Farbe, einer Nummer des Zielmediums oberhalb der Trefferfläche und einer Angabe der Anzahl der auf die Trefferfläche abzugebenden Schüsse unterhalb der Trefferfläche. Die Art, die Anzahl und die Reihenfolge der Zielmedien können beliebig variiert werden. Zielnummern können im Gesamtübungsaufbau auch mehrfach vorhanden sein. Die Zielnummer und die angegebene Anzahl der auf die Zielfläche abzugebenden Schüsse eines Zielmediums stimmen in der Regel nicht überein. Laufwege und Schießpositionen können auf dem Boden markiert werden (vgl. Abb. 2). Die Einsatzkraft befindet sich in einem markierten Aktionsraum. Der Einsatztrainer/die Einsatztrainerin befindet sich auf der Schießbahn in der Nähe der Einsatzkraft. Die Einsatzkraft trägt ihre vollständige Einsatzausrüstung. Sie führt ihre Kurzwaffe, eine Mitteldistanzwaffe und das Distanz-Elektroimpulsgerät (Taser) mit sich (vgl. Abb. 2). Die Herstellung der Einsatzbereitschaft obliegt vor Übungsbeginn der Einsatzkraft („combat ready“). Nach Aufstellung in Ausgangsposition ruft (oder funkt) der Einatztrainer/die Einsatztrainerin die Aufgabenstellung für den kommenden Übungsdurchgang und gibt die Art der Bewaffnung (Pistole, Mitteldistanzwaffe oder Taser) und die Reihenfolge der zu beschießenden Zielmedien an (Beispiel: „Pistole 4,2,5“). Die Einsatzkraft greift oder wechselt zur Pistole, läuft nun in angesagter Reihenfolge die genannten Zielmedien an, regis triert jeweils die auf dem Zielmedium angezeigte Schussanzahl und beschießt schließlich die Trefferfläche des Zielmediums mit dieser Schussanzahl. Im Beispiel muss die Einsatzkraft also zuerst das Zielmedium mit der Nummer 4 mit einem Schuss, danach zwei Zielmedien mit der Nummer 2 mit drei bzw. mit zwei Schüssen und schließlich das Ziel medium mit Nummer 5 mit vier Schüssen bekämpfen (vgl. Abb. 2). Die Einsatzkraft muss sich unter Berücksichtigung der sicheren Waffenhandhabung, insbesondere der Mündungs- und Abzugsdisziplin, im Aktionsraum bewegen und die entsprechenden
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ielnummern suchen. Nach der visuellen Selektion des Zielmediums muss sie die auf die Z Trefferfläche abzugebende Schussanzahl dekodieren. Hiernach erfolgen das Richten und Zielen der Waffe sowie das Schießen selbst. Die Kommandos der Einsatztrainer*innen variieren stetig. Sie werden auch in den laufenden Schießbetrieb der Einsatzkraft gerufen oder gefunkt. Dadurch muss die Einsatzkraft häufig die mitgeführten Waffensysteme wechseln und befindet sich durchgängig in Bewegung. Das Zusammenspiel zwischen Wahrnehmung und selektiver Aufmerksamkeit, Entscheiden und motorischer Ausführung soll auf diese Weise adressiert werden. Das Distanz-Elektroimpulsgerät wird durch das Kommando „Taser (links, rechts oder front)“ angesagt. Um den Tasereinsatz zu simulieren, werden hier sogenannte „inert-sim“-Kartuschen verwendet, welche keine Pfeile verschießen. Die Ziellaser des „Tasers“ werden bei der „inert-sim“-Nutzung aktiviert. Ebenfalls fließt hörbar Strom bei der Abzugsbetätigung durch die Einsatzkraft. Hierdurch können Einsatztrainer*innen feststellen, ob die Einsatzkraft den korrekten Halteraum bezüglich der Taseranwendung nutzt und wie weit eine korrekte Bedienung des Gerätes gegeben ist. Auch kombinierte Kommandos kommen zum Einsatz, zum Beispiel „Mitteldistanzwaffe 4, Taser rechts, Kurzwaffe 2“. Magazinwechsel, Störungsbeseitigungen und andere Waffenmanipulationen werden bei Bedarf selbstständig durch die Einsatzkraft durchgeführt, sobald diese Bedienungen gefordert sind. Die Übung ist beendet, wenn die Einsatztrainer*innen abbrechen oder die Waffen leer geschossen sind.
5
Repräsentativität als Soll-Zustand im Polizeitraining
Im folgenden Abschnitt soll die beschriebene Schießübung hinsichtlich des „ecological dynamics“-Ansatzes dahin gehend untersucht werden, inwiefern realistische Einsatzbedingungen eines typischen SEK-Einsatzes bisher in der Übung abgebildet sind. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Es besteht hinsichtlich der Umsetzung einsatzrepräsentativer Trainingsumgebung Optimierungsbedarf. Die aktuelle Übung ist sicher geeignet, die Handhabung verschiedener Waffensysteme und die Koordination unter Stress bis zum sicheren Umgang mit Waffen und mit dem eigenen Körper zu trainieren. Das Trainerpersonal kann dabei überprüfen, inwiefern bereits Automatismen von Handlungsabläufen vorhanden sind. Insofern wird die Integration von Wahrnehmung, Kognition und Handeln schon adressiert und gefördert. Unter der Perspektive des „ecological dynamics“-Ansatzes ist allerdings die bisherige Einsatzrepräsentativität der Übung jedoch fraglich (vgl. Abschn. 2 „Ein typischer SEK-Einsatz – Was wird den Einsatzkräften abverlangt?“). Grundsätzlich lässt sich die abzugebende Schussanzahl auf ein Ziel vor einem Einsatz nicht festlegen. Vielmehr wird die Einsatzkraft vor Ort unter den rechtlichen Voraussetzungen schießen, bis eine Wirkung beim angreifenden Gegenüber wahrnehmbar und sicher eingetreten ist, das heißt Angreifende angriffsunfähig sind und die Gefahr beseitigt ist. Die Entscheidung, überhaupt zu schießen, liegt nach eigener Wahrnehmung einer Gefahrensituation und der entsprechenden Bewertung im Ermessen der handelnden Einsatzkraft selbst. Hinzu kommt, dass in Gefahrenmomenten unter dem Eindruck von Lebensgefahr
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schnell reagiert werden muss. Stress durch Lebensgefahr und Zeitdruck ist damit zentrales Element des Einsatzes. Lebensgefahr wird aus Sicherheitsgründen nicht einsatzrepräsentativ umzusetzen sein. Zeitdruck bei der Entscheidung, zu schießen oder nicht zu schießen, kann aber im Training umgesetzt werden. Das hierdurch zu erwartende (moderatere) Stresslevel sollte jedenfalls den eigentlichen Lernprozessen nicht abträglich sein (Di Nota und Huhta 2019). Um die Einsatzrepräsentativität der Übung zu erhöhen, sollen nachfolgend Änderungsvorschläge dargestellt werden. Der Grundaufbau der präsentierten Übung lässt dabei an verschiedenen Stellen vielfältige Variationsmöglichkeiten in diesem Sinne zu (vgl. Abb. 3). Die Zielmedien und damit verbundenen Aufgaben sollten im Sinne der Repräsentativität gänzlich anders gestaltet werden, um hierdurch Schießentscheidung (Schießen versus nicht Schießen) und Schießen bis Wirkung einsatznah abzubilden. In der „neuen“ Übungsvariante wird hierzu ein interaktives Dreh-Klapp-Scheibensystem verwendet (Abb. 2, unten rechts). Jedes Zielmedium hat eine Vorder- und Rückseite. Hierauf sind fotorealistische Personen abgebildet. Die Seiten können Personen mit oder ohne Bewaffnung bzw. mit oder ohne neutrale Gegenstände zeigen. Das von uns genutzte Dreh-Klapp- Scheibensystem wird über ein Computerprogramm aus dem Regieraum der Schießanlage oder durch die Trainer*innen auf der Schießbahn mittels Tablet gesteuert. Das Umklappen der Ziele kann damit situativ erfolgen. Auch die Schussanzahl bis zum Umklappen der Ziele, da heißt also bis Wirkung eingetreten ist, kann variiert werden. Auch die Dauer, für
Repräsentativität hoch SOLL-Zustand (B)
gering IST-Zustand (A)
gering
Lerneffizienz
hoch
Abb. 3 Der Lerneffizienz-Repräsentativitäts-Gradient für polizeiliches Einsatztraining: Gemäß dem „ecological dynamics“-Ansatz ist die Lernumgebung repräsentativ für den Einsatz zu gestalten. Werden reale Einsatzbedingungen im Training nicht (genügend) abgebildet, sind der Trainingstransfer und damit der Lernerfolg eher gering (aktueller Ist-Zustand). Bei hoher Repräsentativität des Lerndesigns kann Lernen effizient gelingen (zukünftiger Soll-Zustand). Der Lerneffizienz- Repräsentativitäts-Gradient soll den Einsatztrainer*innen eine Orientierungshilfe für die Trainingsgestaltung gemäß dem „ecological dynamics“-Ansatz liefern. (Quelle: Eigene Darstellung)
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die die Ziele sichtbar sind, kann computergesteuert variiert werden, um Zeitdruck zu erzeugen. Des Weiteren sollte die Instruktion (für Expert*innen) lediglich den Auftrag, auf bewaffnete Personen polizeilich adäquat zu reagieren, umfassen. Das psychische System der Einsatzkraft muss in diesem Fall ständig neu konfiguriert und an die Lagebedingungen angepasst werden. Hierdurch wird ein wesentliches Merkmal eines Einsatzes eingefangen. Zusätzlich kann die kognitive Beanspruchung erhöht werden, indem eine Merkaufgabe zu einem fiktiven Nachfolgeauftrag gestellt wird oder die Einsatzkräfte zusätzliche Informationen aus der Trainingssituation behalten müssen und nach der Übung berichten sollen (zum Beispiel Gesichter oder Bewaffnungen erkennen und berichten). Die Übung kann zudem dadurch erschwert und realistischer werden, dass unterschiedliche Beleuchtungen und Störlichter („Stobo“) oder Geräuschkulissen zugeschaltet werden. Stellwände können Unwegsamkeiten in engen Gebäuden simulieren. Mit der Nutzung von Simulationswaffen (zum Beispiel Farbmarkierungssysteme) kann diese Übung auch an polizeilichen Trainingsstätten ohne die für den Echtschussbetrieb notwendigen Voraussetzungen oder im freien Gelände eingesetzt werden. Auch kann so die Sicherheit für Einsatztrainer*innen und Trainierende gerade auf Anfänger*innenniveau gewährleistet werden. Bei Verwendung von Simulationswaffen ist es zudem möglich, real angreifende Personen als zu bekämpfende Zielmedien einzusetzen. Auch Schießroboter ermöglichen dynamische Ziele, auf die dann sogar mit Echtschuss reagiert werden kann. Die Übung ist sodann als Teamaufgabe durchzuführen. Taktisches Vorgehen in Gruppenformation stellt ebenfalls ein wesentliches Merkmal für repräsentative Einsätze dar.
6
Diskussion
Fazit Polizeiliches Schieß- und Einsatztraining zielt realistischerweise auf die Integration perzeptuell-kognitiver und motorischer Prozesse, welche zur erfolgreichen Bewältigung der polizeilichen Einsatzanforderungen notwendig sind, um damit die situative Handlungskompetenz der Einsatzkräfte zu stärken. Hierfür stellt sich bei der Gestaltung von Trainings die Frage nach der einsatzbezogenen Repräsentativität der Lernbedingungen. Im Sinne des „ecological dynamics“-Ansatzes kommt hierbei der Repräsentativität der Lern- und Trainingsumgebung eine zentrale Bedeutung zu. Durch die Umsetzung von einsatzrealistischen Lernbedingungen im Polizeitraining wird hiernach effizientes Lernen möglich. Eine kritische Analyse bestehender Trainings und Übungen hinsichtlich ihrer Repräsentativität kann helfen, die Lerneffizienz zu erhöhen. Als aktiv Gestaltende kann ein eigener Anspruch der Einsatztrainer*innen darin bestehen, das eigene Trainingshandeln kritisch zu analysieren, Fehler einzugestehen und (evidenzbasiert) zu korrigieren. Einsatzkräfte können auf der Grundlage ihrer operativen Einsatzerfahrung eine Orientierung und Korrektiv bei der Gestaltung von Polizeitrainings hinsichtlich der Einsatzrepräsentativität sein und sollten zum Abgleich des Trainings mit den realistischen Einsatzbedingungen in die Trainingsgestaltung einbezogen werden.
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Der polizeiliche Schusswaffengebrauch als Hochstressereignis – Potenziale im Schieß-/ Nichtschießtraining am Beispiel der Polizei Nordrhein-Westfalen Maximilian Haendschke
Inhaltsverzeichnis 1 E inleitung 2 Schieß- bzw. Nichtschießtraining im ET NRW 3 Zu den situativen und langfristigen Auswirkungen von Stress im Kontext polizeilicher Schusswaffengebräuche 4 Stressresistenz durch Training 5 Optimierungspotenziale Literatur
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Zusammenfassung
Der polizeiliche Schusswaffengebrauch gegen Personen stellt sowohl rechtlich als auch ethisch die Ultima Ratio polizeilicher Intervention dar. Folgt man der Grundannahme, dass im Regelfall im Rahmen der gesetzlichen Befugnisse von der Dienstwaffe Gebrauch gemacht wird, liegt in diesen Situationen regelmäßig eine Gefahr für die Gesundheit oder gar das Leben der handelnden Polizeivollzugsbeamt*innen oder Dritten vor. Kann diese Gefahr nur durch den Einsatz der Dienstwaffe abgewendet werden, stehen die Beamt*innen einem komplexen Anforderungsszenario im Kontext eigener Vulnerabilität gegenüber, welches teils in Sekundenbruchteilen eine Entscheidung über Leben und Tod erfordern kann. Der hohe Stresspegel, der zweifelsohne anzunehmen ist, kann dabei die Handlungsfähigkeit (auch im Sinne einer professionellen Reviewer*innen: Anne Dörner, Michael Hauck, Benedikt Heusler M. Haendschke (*) Nordrhein-Westfalen, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_44
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ngemessenheit) eklatant beeinträchtigen und so gravierende Folgen für den Verlauf A der Einsatzsituation haben. Das rückblickende Empfinden von Hilflosigkeit in Verbindung mit der Manifestation von Angstempfindungen kann sich langfristig auswirken und psychische Belastungsstörungen hervorrufen. Um Schusswaffengebräuchen als Hochstressereignissen optimal begegnen zu können, ist eine umfassende Trainingsvorbereitung erforderlich. Dazu ist neben motorisch repetitiven Handlungsabläufen und Simulationen möglichst repräsentativer Stressbelastung auch die ethische Einordnung und Reflexion der eigenen Handlungsoptionen unbedingt erforderlich, um die Trainierenden Schritt für Schritt an die zu erwartenden Schwierigkeiten und Herausforderungen heranführen zu können.
1
Einleitung
Ein Schusswaffengebrauch gegen Personen durch Polizeivollzugsbeamt*innen (PVB) stellt sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene in Nordrhein-Westfalen (NRW) statistisch betrachtet einen relativ seltenen Einzelfall dar (Landtag NRW 2017). Umso drastischer werden ebendiese Einsatzsituationen wahrgenommen, die aus Sicht der betroffenen PVB nur durch einen Schusswaffengebrauch zu bewältigen sind.1 Handlungsdruck, Stress, Todesangst und die potenzielle Entscheidung über Leben und Tod beteiligter Personen – um nur einige Elemente aufzuführen – formieren sich zu einem dynamischen Szenario, welches den Akteuren meist in kürzester Zeit eine Reaktion abverlangt (Lorei und Balaneskovic 2020). Neben der immanenten Verletzungs- bzw. Lebensgefahr für alle Beteiligten besteht für die betroffenen PVB eine nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit, nach einem Schusswaffengebrauch gegen Personen psychische Folgeerscheinungen davonzutragen. Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) und andere Belastungsreaktionen können dabei gravierende Folgen bis hin zur Dienstunfähigkeit entfalten (Latscha 2005, 2012). Es ist also zugunsten von Handlungssicherheit, Verhältnismäßigkeit, Professionalität und Fürsorgepflicht von Interesse, die PVB auf den Einsatz der Dienstwaffe im Kontext von Stress und dynamischen Anforderungen bestmöglich vorzubereiten. Die folgende Abhandlung reflektiert den Status quo im Einsatztraining der Polizei NRW (ET NRW) und beschreibt vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse Ansätze für potenzielle Optimierungen.
Auch in Situationen, die nur durch das Androhen des Schusswaffengebrauchs zu bewältigen sind, ist im Regelfall ein gegenwärtiges Bedrohungsszenario und damit eine nahezu vergleichbare Stresssituation anzunehmen. Die Quantität erfolgter Androhungen wird aber nicht offiziell erhoben, außer wenn die Androhung mit der Abgabe eines Warnschusses einhergeht (siehe dazu Lorei und Balaneskovic 2020). Insofern ist ein beträchtliches Dunkelfeld für Einsatzsituationen, die kurz vor dem Schusswaffengebrauch standen, anzunehmen. 1
Der polizeiliche Schusswaffengebrauch als Hochstressereignis – Potenziale im …
2
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Schieß- bzw. Nichtschießtraining im ET NRW
Die Aus- und Fortbildung an den Dienstwaffen wird in der Polizei NRW als Schieß- bzw. Nichtschießtraining bezeichnet (MIK NRW 2012). Dies impliziert bereits, dass nicht ausschließlich Bewegungs- und Handlungsmuster zur Verbesserung der Handhabungs- bzw. Treffsicherheit trainiert werden. Vielmehr umfasst der Begriff des Nichtschießens „einsatzkompetentes Lageschießen“ (MIK NRW 2012), das über die sichere Handhabung der Dienstwaffe hinausgehende Kompetenzen vermitteln soll. Dies wird auch als sogenanntes „Combatschießen“ (Spöcker 2001) bezeichnet. Dieses einsatzmäßige Schieß-/Nichtschießtraining soll nach der Polizeidienstvorschrift 211 (PDV 211) „Schießtraining in der Aus- und Fortbildung“ gewährleisten, dass PVB im Ernstfall stressstabil und handlungssicher agieren können (Lorei 1999; Spöcker 2001). Für das ET NRW werden darüber hinaus in der entsprechenden Erlasslage des Ministeriums für Inneres und Kommunales NRW2 weitere Ziele des ET NRW definiert. Das ET NRW soll demnach als ein „(…) am konkreten polizeilichen Einsatzanlass orientiertes, integratives und ganzheitliches Training (…)“ (MIK NRW 2012) angelegt sein. Für das Schieß-/Nichtschießtraining werden als Kernziele das Gewährleisten der Handhabungs- und Treffsicherheit sowie die Verbesserung der Einsatzkompetenz innerhalb von Lagetrainings definiert (MIK NRW 2012). Die organisatorischen Rahmenbedingungen für das Schieß-/Nichtschießtraining ergeben sich ebenfalls aus der grundlegenden Erlasslage zum ET NRW (MIK NRW 2012), die z. B. den Zeitansatz in Höhe von sechs Stunden jährlich sowie die Teilnahme an mindestens einem Training pro Halbjahr vorgibt.3 De facto ist dieser Zeitrahmen jedoch als Rahmenvorgabe zu bewerten, die in der Praxis durch zahlreiche organisatorische und ablaufbedingte Einschränkungen deutlich limitiert wird (Staller und Körner 2019). Aus eigener Erfahrung in mehrjähriger Verwendung als Einsatztrainer wirken sich z. B. Wartezeiten, Feedbackgespräche, Transferzeiten zu Trainingsörtlichkeiten, Moderationsanteile der Einsatztrainer*innen oder logistische Tätigkeiten (z. B. das „Aufmunitionieren“ von Magazinen, das Übergeben oder das Reinigen der Waffen sowie das An- und Ablegen erforderlicher Schutzausstattung) deutlich auf die Nettoanteile des Trainings aus. Safety First – zur Dosierung von Stressoren im Schieß-/Nichtschießtraining der Polizei NRW Die Einsatztrainer*innen sind verantwortlich für die Sicherheit auf dem Schießstand, also auch dafür, dass individuelle Handhabungsdefizite bei Trainierenden rechtzeitig erkannt und entsprechende Maßnahmen (bis hin zu Einzeltrainings) ergriffen werden. Unterschiedlichste Faktoren, wie z. B. Stress, Ablenkung oder Nervosität können beim Training Seit dem Jahr 2017 gilt die Bezeichnung „Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen“. Ausgenommen davon sind Angehörige der sogenannten Zielgruppe PDV 211, die lediglich einmal pro Jahr einen Nachweis über die Handhabung und Treffsicherheit erbringen müssen. Hierzu zählen Angehörige des Innendienstes, die z. B. Dienst auf der Einsatzleitstelle, auf Führungsstellen oder in Stabsfunktionen versehen. 2 3
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mit scharfen Schusswaffen zu erheblichen Sicherheitsrisiken führen. Regelmäßig zu beobachten sind auch körperlich bedingte Risikopotenziale wie z. B. eine griffkraftbedingte Instabilität der Waffenhaltung oder Sturzgeschehen bei Vorerkrankungen des Gelenkapparates und dem Aufrichten aus dem Kniestand. Im theoretischen Vorgespräch wird den Teilnehmenden detailliert dargestellt, welche Übungen geschossen werden und wo etwaige Problemstellungen auftreten können. Körperliche Einschränkungen sind den Schütz*innen i. d. R. selbst bekannt, sodass diese vor Trainingsbeginn mit den Einsatztrainer*innen besprochen werden können, um das Training daran anzupassen. Diffiziler ist der Umgang mit Faktoren, die dem Trainierenden selbst nicht bewusst sind und daher nicht geäußert werden, wie z. B. sicherheitsrelevante Handhabungsdefizite. Daher ist vor dem Training mit den scharfen Schusswaffen ein Training mit nicht schießfähigen Trainingswaffen vorgesehen. Zur klaren Unterscheidung von scharfen Waffen sind diese komplett rot lackiert und tragen daher den Beinamen „Rotwaffen“. Ansonsten sind diese Trainingswaffen nahezu baugleich zu den Dienstwaffen (P99 bzw. MP5) und eignen sich daher für motorische Vorübungen (sog. Handlings) und eine erste Teilnehmeranalyse durch die Einsatztrainer*innen. Zu Beginn werden die Bewegungsabläufe von den Einsatztrainer*innen segmentiert vorgestellt, d. h., jeder einzelne Handlungsschritt wird anmoderiert, vorgeführt und erläutert. Anschließend wiederholen die Trainierenden kleinschrittig die einzelnen Handlungsmuster (z. B. das richtige Greifen des Griffstücks beim Ziehen aus dem Holster). Erst wenn nach individuellem Coaching im Prozess aus Sicht der Einsatztrainer*innen die einzelnen Segmente sicher beherrscht werden, erfolgt das Training als flüssiger Ablauf aufeinanderfolgender Handlungen. Je nach Leistungsstand ist bereits beim eigenständigen Abarbeiten komplexer Abläufe (vor allem bei der MP5) hektisches bzw. gestresst wirkendes Verhalten zu beobachten. Aus Trainer*innenperspektive steigt mit dem Stresspegel der Trainierenden gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, dass einzelne Handlungsschritte nicht mehr technisch einwandfrei ausgeführt werden und damit ein Sicherheitsrisiko einhergeht. Erst nachdem diese automatisierten „Drills“ fehlerfrei reproduziert werden, können weitere (künstliche) Stressoren einfließen. Dabei beschränkt sich die Vorgabe von Handlungsstandards als Teilziel nicht nur auf sicherheitsrelevante Aspekte, sondern auch auf Bewegungsmuster, deren Befolgen aus der Perspektive der Teilnehmenden mehr der Vereinheitlichung als der Erhöhung der Handlungssicherheit dient. Entsprechen die Fähigkeiten den Erwartungen der Trainer*innen, werden weitere Handlungsdimensionen mit eingebunden. So müssen die Trainierenden dann z. B. spontan auf Anweisungen der Einsatztrainer*innen reagieren, also z. B. mit einem Deutschuss starten und dann auf Zuruf entweder eine Waffenstörung oder einen Magazinwechsel abarbeiten. Abstraktionsebenen, wie z. B. das Vergeben von Nummern für die einzelnen Handlings, sollen die Trainierenden zusätzlich kognitiv in Anspruch nehmen und so eine motorisch einwandfreie Waffenhandhabung in stressbelastetem Kontext simulieren. Auch wenn die zusätzlichen Anforderungen nur eine generelle kognitive Beanspruchung ohne Realitätsbezug darstellen, gilt es, die Dosierung eng an die Trainierenden bzw. deren Fertigkeiten anzupassen. Wie komplex bereits grundlegende Handlungs-
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Abb. 1 Skizze segmentierter Handlungsschritte
abläufe durch die Einsatztrainer*innen zu analysieren sind, ist in Abb. 1 beispielhaft dargestellt.4 Die Dienstwaffe als Stressfaktor Nach dem Training mit dem Rotwaffen5 erfolgt der Übergang zum Training mit scharfen Waffen. Um die Handhabung der Dienstwaffe zunächst ohne weitere Stressoren analysieren zu können, kann dieser Übergang beispielsweise in Form eines Vorbereitungsschießens („Einschießens“) angelegt werden. Die Trainierenden erhalten damit die Gelegen Das Schaubild umfasst (bewusst) nicht abschließend beispielhafte Handlungsschritte von Trainierenden sowie zusätzliche Handlungsmerkmale aus Sicht von Einsatztrainer*innen. 5 Bei Bedarf ist in Einzelfällen auch ein weiteres Vortraining mit sogenannten „Grünwaffen“ möglich, die ebenfalls nicht schießfähig sind, aber mittels Laserstrahl potenzielle Visier- oder Abzugsfehler besser erkennen lassen. 4
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heit, zunächst ohne spezifische Übungsanweisungen einige Schüsse in eigenem Tempo absolvieren zu können. Auch wenn sich die erforderlichen Abläufe im Vergleich zum Rotwaffentraining nicht verändern, stellt nicht nur die dann erforderliche Schutzausstattung (Gehörschutzbügel und Schutzbrille) eine gewöhnungsbedürftige Umstellung dar. Auch der Geräuschpegel beim scharfen Schuss und die dann erstmalig überprüfbare Treffsicherheit führen oft zu merklicher Anspannung der Trainierenden. Für manche PVB ist bereits der bloße Wechsel von Übungs- auf Dienstwaffe mit weiteren Stressfaktoren verknüpft. Generell mit Stress assoziierte Symptome wie zittrige Hände, Transpiration oder eine verkrampfte Körperhaltung (Birr 2014) sind genauso zu beobachten wie Veränderungen in der Waffenhandhabung (z. B. hektischeres Abzugsverhalten mit der scharfen Waffe im Vergleich zur Rotwaffe).6 Um eine Internalisierung vorher trainierter Abläufe zu verifizieren, ist auch das (unbemerkte) Präparieren der Magazine mit Dummypatronen7 gängige Praxis. Dadurch wird beim Betätigen des Abzugs eine Waffenstörung simuliert, sodass es eigentlich „nur“ das mit den Rotwaffen vorher immer wieder geübte entsprechende Handlungsmuster zum Beseitigen einer Waffenstörung abzurufen gälte. Dieses Stressereignis (die Waffe funktioniert nicht so wie erwartet) hemmt regelmäßig den Transfer des Handlings von Rot- auf Dienstwaffe, sodass immer wieder Ratlosigkeit oder kontraproduktive Handlungen (z. B. das Auswerfen des Magazins) festzustellen sind. Interessant ist auch die Beobachtung, dass insbesondere lebens- und dienstältere PVB beim Aufkommen von Stress mit der Dienstwaffe Handlungsmuster abrufen, die längst überholt sind, aber jahrelang trainiert wurden. So ist vereinzelt auch noch die Suche nach Bedienelementen zu beobachten, die es bei der P99 nicht gibt (oder gab), die aber bei der Vorgängerwaffe P6 vorhanden waren und deren Handhabung jahrelang konditioniert wurde.8 Es ist also festzuhalten, dass der Umgang mit der scharfen Schusswaffe mit sehr individuellen Stressreaktionen verknüpft ist, die als Summe von Einzelfällen aber weitverbreitet scheinen. Prüfungsstress im Schieß-/Nichtschießtraining Neben diesem Phänomen waffenspezifischer Stressbelastung kann die Abnahme der sogenannten landeseinheitlichen Übung zur Handhabungs- und Treffsicherheit (LÜHT) als weitere Stresssituation im Schieß-/Nichtschießtraining angeführt werden (MIK NRW 2012). Entsprechend der Zielvorgabe, die Handhabungs- und Treffsicherheit zu gewährleisten, muss die LÜHT jährlich von jeder/m PVB für die geführten Waffensysteme9 sepa-
Bei identischen technischen Merkmalen wie dem Abzugsgewicht oder der Größe des Griffstücks. Auch als „Pufferpatrone“ bezeichnet; bei diesen Patronen bricht kein Schuss, sodass vom Schützen eine Waffenstörung angenommen werden muss, die es dann in der Folge zu beseitigen gilt. 8 Anzumerken ist, dass dieses Phänomen bis November 2019 in eigener Tätigkeit beobachtet werden konnte, obwohl seit 2005/2006 die P99 DAO als Dienstwaffe die P6 flächendeckend in NRW abgelöst hat. 9 In NRW sind dies für den Wach- und Wechseldienst aktuell die Dienstpistole Walther P99 DAO bzw. die Maschinenpistole Heckler und Koch MP5. 6 7
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rat absolviert werden, um die Berechtigung zum Führen der entsprechenden Dienstwaffe zu behalten. Dazu muss der/die Schütz*in mit begrenzter Munitionsmenge eine vorgegebene Anzahl von Zielen in einer festen Reihenfolge beschießen (und treffen). Neben visiertem Beschuss, u. a. aus einer Deckung heraus, und Deutschüssen (Lorei 1999) müssen verschiedene waffenspezifische Problemstellungen, z. B. ein Magazinwechsel oder eine Waffenstörung, abgearbeitet werden (Buchbauer 2018). Eklatante Handhabungsfehler oder Sicherheitsverstöße führen zum Nichtbestehen. Wird die LÜHT nicht einmal im Kalenderjahr erfolgreich absolviert, erlischt die Berechtigung zum Führen der Dienstwaffe. Beim Nichtbestehen gibt es die Möglichkeit der Wiederholung, verbunden mit weiteren Trainingsmöglichkeiten (z. B. Einzeltraining). Die Grobziele in Form der Überprüfung bzw. Verbesserung von Handhabungs- und Treffsicherheit werden mit dem Bestehen der LÜHT als erfüllt angesehen. Über die Vorgaben zur Waffenhandhabung und dem Beschuss der vorgegebenen Zieldarstellungen mit der zur Verfügung stehenden Munition hinaus fließen in die LÜHT keinerlei zusätzliche Belastungs- bzw. Stressfaktoren (z. B. Zeitdruck) ein. Dennoch wird die LÜHT von Trainierenden in Teilen als stressbelastet empfunden, was meist mit dem Prüfungscharakter sowie „Lampenfieber“ begründet wird. Im Regelfall wird die LÜHT einzeln auf dem Schießstand absolviert,10 während die anderen (bis zu elf) Mitglieder der Trainingsgruppe im Vorraum warten. Es liegt nahe, dass sich einige Teilnehmer*innen auch ohne offizielles Zeitlimit unter Druck gesetzt fühlen, schließlich sollen die Kolleg*innen nicht warten müssen oder gar mitbekommen, dass man die LÜHT aufgrund eines Fehlversuchs mehrfach absolvieren musste. Wiederholungen der LÜHT sind zwar prinzipiell möglich, begrenzen den ohnehin bereits knapp bemessenen Zeitrahmen (s. o.) aber zusätzlich. Darüber hinaus hätte ein mehrfaches Nichtbestehen schlussendlich das zumindest temporäre Verbot zum Führen der Dienstwaffe zur Folge, welches den Einsatz im Außendienst verhindert und damit eine Beschneidung der eigenen Tätigkeit zur Folge hätte. Auch die prognostizierte Wahrnehmung innerhalb der Kollegenschaft dürfte dazu beitragen, dass die LÜHT insbesondere wegen ihrer potenziellen innerdienstlichen Folgen Stress bei PVB erzeugt. Zudem ist die weitere Teilnahme an dynamischen Schießübungen für Trainierende, die in der LÜHT sicherheitsrelevante Handhabungsdefizite offenbart haben, im Regelfall nicht möglich. Dynamisches Schießen-/Nichtschießen – Simulation einsatznaher Stresskontexte auf dem Schießstand Im einsatzkompetenten Lageschießen durchlaufen die Trainierenden in Zweier-Teams (analog zum Streifenteam) dynamische Sequenzen, in denen Stressoren in Form zusätzli Um die Abläufe zu optimieren, sprich die Wartezeiten im Training zu verkürzen, werden mittlerweile auch in einigen Behörden die LÜHTen parallel abgenommen, wobei beide Schütz*innen im Vorfeld zu ihrer Bereitschaft, dass die LÜHT in Anwesenheit eines weiteren Trainierenden abgenommen wird, befragt werden sollten. 10
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cher Anforderungen und Handlungsfelder auf die Trainierenden wirken. Dazu zählen Wahrnehmung, Einsatzkommunikation, das Agieren aus der Bewegung heraus sowie die Berücksichtigung einsatztaktischer Grundsätze für das jeweilige Szenario.11 Überwiegend wird auf animierte Zieldarstellungen geschossen,12 die teilweise durch die Einsatztrainer*innen individuell gesteuert werden können. Auf Leinwand projizierte Darstellungen von Personen können so unterschiedliche Bedrohungssituationen darstellen oder sich bewegen. Aufgrund des bereits thematisierten Gefahrenpotenzials im Training mit scharfen Schusswaffen wird den Trainierenden zunächst transparent dargestellt, worauf innerhalb der anstehenden Übungssequenz der Schwerpunkt zu legen ist. Auch hier wird dem didaktischen Grundsatz „vom Leichten zum Schweren“ (Lehner 2019) Rechnung getragen, sodass zusätzliche Handlungsebenen erst dann in das Training einfließen, wenn der/die Teilnehmende die vorherige Aufgabenstellung bewältigen konnte. Das erste Element dynamischer Übungslagen ist die Wahrnehmung des Gegenübers und potenzieller Gefahrenmomente. Zieldarstellungen, die auf Knopfdruck verschiedene Bedrohungsszenarien darstellen können (z. B. mit Schusswaffe in der Hand, Hände hinter dem Rücken etc.), erfordern eine bewusste Wahlentscheidung bzgl. des potenziellen Schusswaffengebrauchs oder der Option des Nichtschießens. Dabei werden nicht nur Anforderungen an die visuelle Wahrnehmung gestellt, sondern auch an die Fähigkeit, das Wahrgenommene umgehend hinsichtlich des vorliegenden Gefahrenpotenzials zu bewerten. Trotz entsprechender Übungsanleitung zeigt sich immer wieder, dass auf dem Schießstand der Einsatz der Schusswaffe entkontextualisiert durch die Trainierenden erwartet wird. Sobald eine Übungssequenz beginnt und beispielsweise die erste Person auf der Leinwand erscheint, ist immer wieder bei den Trainierenden zu beobachten, dass umgehend die Dienstwaffe gezogen wird, bevor ein Angriffs- oder Gefahrenszenario erkannt wurde. Umso wichtiger ist es, dass die Einsatztrainer*innen bei der Nachbesprechung offen thematisieren, warum z. B. die Waffe beim Einsatzanlass „Ruhestörung“ in einer Tiefgarage gezogen wurde, sobald eine unbewaffnete Person hinter einem Pkw stehend erkannt wurde. Hilfreich ist hier der Transfer zum täglichen Dienst („Würdest du das draußen auch so machen?“), der den Trainierenden dann verdeutlicht, dass es nicht um eine sterile Überprüfung der motorischen Fähigkeiten beim Schusswaffengebrauch geht, sondern in erster Linie um das Bewerten der Situation und das Verständnis vom Schusswaffengebrauch als Ultima Ratio. Grundsätzlich sollen im einsatzkompetenten Lagetraining neben Situationen, in denen die PVB ihre Waffe einsetzen müssen, auch Szenarien trainiert werden, in denen der Schusswaffengebrauch nicht erforderlich ist. Dies gilt z. B. für Zieldarstellungen, die keinerlei Bewaffnung oder gefährliche Gegenstände für den/die Trainierende/n wahrnehmbar in den Händen oder am Körper tragen. So unterscheidet sich beispielsweise das Vorgehen bei Anschlagslagen mit der MP5 grundlegend vom Vorgehen bei einem Messerangreifer innerhalb einer Wohnung. 12 Vereinzelt werden auch noch klassische Pappscheiben als Zieldarstellungen genutzt; dies aber i. d. R. nur als Rückfallebene oder wenn die technischen Voraussetzungen in Form einer Videoleinwand nicht gegeben sind. 11
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Einher mit dem wahrgenommenen Gefahrenmoment geht die Einsatzkommunikation. Je nach Teilnehmeranalyse wird die Kommunikation mit der/dem Trainingspartner*in sowie mit dem polizeilichen Gegenüber zeitgleich mit der Wahrnehmung als zusätzliche Trainingsdimension in die Lagen integriert. Für den weiteren Verlauf der simulierten Einsatzsituation ist es wichtig, dass die Trainierenden über den gleichen Kenntnisstand verfügen, um aufeinander abgestimmt agieren zu können. Denkbar ungünstig sind Situationen, in denen ein/e Angehörige/r eines Trainingsteams beispielsweise ein Messer erkannt hat und bereits damit beginnt, die Waffe zu ziehen und sich rückwärts von der Person wegzubewegen, während der/die Streifenpartner*in verharrt. Durch kurze Signalworte wie „Waffe“ oder „Messer“ wird die wahrgenommene Gefahr mitgeteilt, sodass auch individuelle Wahrnehmungsdefizite (oder Ablenkung durch andere Personen, Geräusche etc.) im Optimalfall ausgeglichen werden können. Wenn möglich, soll auch kommunikativ auf das Gegenüber in Form klarer Handlungsanweisungen eingewirkt werden, um den Schusswaffengebrauch z. B. beim Erkennen einer Waffe im Hosenbund des Gegenübers bereits anzudrohen oder die Person zur Vorbereitung weiterer Maßnahmen auf den Boden zu sprechen. Über das Erkennen und Kommunizieren der Gefahrenlage hinaus geht eine angepasste Bewegungsroutine, d. h. eine Distanzvergrößerung oder Meid-Bewegung aus dem Gefahrenkorridor heraus. Unabhängig von der Tatsache, ob von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden muss oder nicht, wird z. B. bei mit Messer bewaffneten Personen grundsätzlich eine Distanzvergrößerung als erforderlich angesehen. Muss geschossen werden, gilt es (wenn technisch darstellbar), bis zum Wirkungserfolg (d. h. der Aufgabe oder Angriffsunfähigkeit des Gegenübers) zu schießen. Ein visiertes (gezieltes) Schießen auf einzelne Körperteile wie z. B. Arme oder Beine wird entgegen früheren Trainingsannahmen nicht mehr als zielführend erachtet (Hermanutz und Spöcker 2001). Im Regelfall schießen Angehörige des Wach- und Wechseldienstes in hoch dynamischen Situationen mit geringer Distanz zum Angreifer (Lorei und Balaneskovic 2020), sodass weder zeitlich noch taktisch der gezielte Beschuss einzelner Körperteile geeignet ist, die bestehende (Lebens-) Gefahr abzuwenden. Obwohl ethische Aspekte in jedem Schieß-/Nichtschießtraining mit Blick auf die eigene Lebensgefahr und die potenziellen Folgen des eigenen Schusswaffengebrauchs thematisiert werden, scheint der Beschuss der animierten Zieldarstellungen keiner besonderen Hemmschwelle im Vergleich zu abstrakten Zielsymbolen (z. B. farbige Rechtecke) zu unterliegen.13 Dies könnte dafür sprechen, dass die Trainierenden die Übungsszenarien nicht als ganzheitliches Anforderungsszenario wahrnehmen, was sich auch im Holstern direkt nach dem Schusswaffengebrauch immer wieder andeutet. Obwohl es nach einem Schusswaffengebrauch auch geboten wäre, Kontakt zur Streifenpartnerin/zum Streifen Hierzu liegen zwar keine empirischen Befunde vor, allerdings wurde in einer mehrjährigen Verwendung als Einsatztrainer und der Betreuung einer vierstelligen Zahl von Trainierenden beim Schießen/Nichtschießen in keinem Fall der Beschuss der entsprechenden Zieldarstellungen problematisiert oder Hemmungen geäußert. 13
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partner aufzunehmen, sich selbst auf Verletzungen zu überprüfen oder den Zustand der eigenen Waffe zu erfassen (und unter diesen Gesichtspunkten in Anlehnung an das „Wyatt Protokoll“14 (Stanford 2016) auch trainiert wird), zeigen sich Trainierende immer wieder eindimensional fokussiert auf die animierten Zieldarstellungen. Es kommt immer wieder vor, dass z. B. nicht bemerkt wird, wenn die eigene Dienstwaffe leergeschossen ist (und der Verschluss dabei in offener Position automatisch arretiert wird) oder der/die Trainingspartner*in wiederholt Nachfragen zum weiteren Vorgehen stellt. Zwar könnte man dies sowohl als Anzeichen für eine stressbedingte Wahrnehmungstrübung interpretieren, denkbar wäre aber auch eine durch das Setting hervorgerufene eindimensionale Wahrnehmungsfixierung auf die Leinwand, die den/der Trainierende/n sein/ihr Umfeld, seine/ihre eigene Waffe und die Trainingspartner*innen teilweise ausblenden und nach dem visuellen „Erfolg“ das Szenario unmittelbar verlassen lässt. Der Transfer zur Einsatzwahrnehmung in Echt-Lagen aus Sicht der Teilnehmenden gestaltet sich auch deshalb problematisch, weil auf den Schießständen nicht flächendeckend andere Übungsgegenstände (wie z. B. Übungs-Reizstoffsprühgeräte [RSG]) zur Verfügung stehen. Den Trainierenden bleibt also oft, in Kontrast zur Einsatzwirklichkeit, nur die Entscheidung zwischen Einsatzkommunikation und Schusswaffengebrauch. Die übrigen (De-)Eskalationsstufen werden somit nicht umfänglich als Handlungsoption integriert. Dazu kommt die mangelnde Interaktionsmöglichkeit mit der Zieldarstellung, sodass i. d. R. nach erfolgter Personenansprache die Sequenz beendet wird. Ein umfassendes Abarbeiten der Situation, wie es z. B. in anderen Lagetrainings beispielhaft in Form von Ansprechen, Durchsuchen, Fixieren und Abtransportieren der Person der Fall sein könnte, kann auf dem Schießstand nicht dargestellt werden. Die Simulation komplexer und möglichst realitätsnaher Anforderungsszenarien aus Wahrnehmung, Kommunikation, Bewegung und Handhabung der Schusswaffe wird also sowohl durch die sicherheitsrelevanten Einschränkungen im Trainingsbetrieb als auch durch die technischen Simulationsmöglichkeiten begrenzt. Interaktives Training mit Farbmarkierungswaffen Relativiert wird das Spannungsfeld zwischen Trainingssicherheit und realitätsnahen Trainingsszenarien im ET NRW beim Training mit Farbmarkierungswaffen. Dabei handelt es sich, ähnlich den bereits beschriebenen Rotwaffen, um Übungswaffen, die in ihren Grundfunktionen identisch zu den Dienstwaffen sind. Allerdings ist durch bauliche Veränderung ein Verschießen von scharfer Munition ausgeschlossen, stattdessen wird spezielle Farbmarkierungsmunition geladen. Zur deutlichen Unterscheidung trägt die Lackierung der Waffen in der Farbe Blau bei. Die Verwendung dieser Waffen innerhalb des ET NRW ist klar geregelt und nur in Kombination mit landeseinheitlich erprobter Schutzausstattung (z. B. Helmen mit Gesichtsschutz, Halsschutz etc.) zulässig. Dabei handelt es sich um eine militärisch geprägte taktische Abfolge von Handlungen, die es nach einem Schusswaffengebrauch systematisch abzuarbeiten gilt und die auch als „FASTTTT Protokoll“ bezeichnet wird. 14
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In Kontrast zu den sicherheitstechnischen und baulichen Beschränkungen der Schießstände kann mit Markierungssystemen (MaSy) auch an anderen Örtlichkeiten trainiert werden. Besonders hervorzuheben sind die landesweit eingerichteten regionalen Trainingszentren (RTZ), in denen verschiedenste Einsatzsituationen im Freien oder in Gebäuden simuliert werden können. In den RTZ ist aufgrund aufwendig gestalteter Straßenzüge und Kulissen beispielsweise die Wahrnehmung deutlich mehr gefordert, das Bewegen mit Hindernissen stellt sich komplexer und anspruchsvoller dar und durch visuelle und akustische Reize kann zusätzlich Stress erzeugt werden. Diese Objekte ermöglichen auch das zeitgleiche Agieren mehrerer Rollenspieler*innen sowie mehrerer Streifenteams, welches bezogen auf das Training von Schieß-/Nichtschießsituationen von Vorteil ist. So können mehrere Rollenspieler*innen als Zeugen*innen, Passant*innen oder Täter*innen auftreten, sodass die Trainierenden nicht davon ausgehen können, jede Person entspräche automatisch dem potenziellen Ziel. Das Agieren mit mehreren Streifenteams (z. B. beim Training von Anschlagslagen in urbanem Gelände) verdeutlicht zudem aufkommende Gefahren (z. B. der versehentliche Beschuss von Kolleg*innen, „friendly fire“ genannt). Neben den Farbmarkierungswaffen können in den RTZ (bzw. anderen abgenommenen Trainingsstätten) sämtliche Führungs- und Einsatzmittel genutzt werden, die den Trainierenden auch im täglichen Dienst zur Verfügung stehen. Anders als beim Schieß-/Nichtschießtraining auf dem Schießstand können so unterschiedliche (De-)Eskalationsstufen im Training durchlaufen werden. Außerdem können mit den Farbmarkierungswaffen Erfahrungswerte generiert werden, die beim Training mit scharfen Waffen zusätzlich risikobehaftet wären. Dazu zählt z. B. die Kombination aus Taschenlampe und Dienstpistole, das Schießen mit behandschuhten Händen oder das Ziehen der Waffe aus einer verdeckten Trageweise heraus. Zwar können diese besonderen Handhabungsformen auch auf dem Schießstand trainiert werden, sind aber für die Mehrheit der Trainierenden aufgrund der erhöhten Schwierigkeit nicht im Rahmen der Regeltrainingszeit darstellbar. Durch die Nutzung von Funk sowie die Simulation von Nachfragen seitens der fiktiven Leitstelle entstehen zusätzliche Aufgaben, die die Trainierenden fordern und so möglichst nah an die Anforderungen realer Einsatzlagen herankommen sollen. Die Wahrnehmung von (simulierten) eigenen oder fremden Verletzungen durch die Farbmarkierungsgeschosse ermöglicht zusätzlich das Training von Wundversorgungsroutinen, die seit 2016 fester Bestandteil des ET NRW sind. Im Gegensatz zu den beschriebenen Beobachtungen auf dem Schießstand werden komplexe Übungsszenarien an realistischeren Trainingsörtlichkeiten näher an der Realität abgearbeitet. Das Anfordern von Verstärkung oder Rettungskräften, das Leisten von Erster Hilfe bei Verletzten oder das Absetzen von Lagemeldungen an die fiktive Leitstelle sind nur einige Beispiele für wichtige Maßnahmen, die es im Zusammenhang mit Schusswaffengebräuchen durch PVB zu leisten gilt und die als komplexes Anforderungsportfolio mit MaSy simuliert werden können. Das Verschießen farbgefüllter Projektile (auch durch den/die Rollenspieler*in, also das polizeiliche Gegenüber) bewirkt darüber hinaus, dass trotz der getragenen Schutzausstattung die Trainierenden eher versuchen, bei einem Schusswechsel tatsächlich aus dem Gefahrenkorridor herauszukommen als bei der Videosimulation auf der Leinwand. Insbeson-
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dere wenn ungeschützte Körperstellen getroffen werden, kann es zu unangenehmen Blutergüssen kommen, die je nach Körperregion die Trainierenden unmittelbar damit konfrontieren, dass es sich in einer Echt-Lage um eine ernsthafte bzw. lebensgefährliche Verletzung handeln würde. Das bewusste Auseinandersetzen mit der eigenen Vulnerabilität findet auch in den Nachbesprechungen zu den Trainingssequenzen Berücksichtigung. Analog dazu ist auch der Beschuss von Personen durch die Trainierenden selbst zu sehen. In Kontrast zu dem generell eher ungehemmten Schießverhalten auf dem Schießstand ist beim Beschuss der Rollenspieler*innen hin und wieder zu beobachten, dass Trainierende z. B. bei der Simulation eines dynamischen Messerangriffs verharren und den/die Rollenspieler*in entgegen den vorher erarbeiteten und trainierten Handlungsmustern bzgl. sicheren Distanzen (siehe dazu Beitrag Nr. 19 in diesem Band) deutlich zu nah an sich herankommen lassen. Bei den anschließenden Feedbackgesprächen wurde zumindest vereinzelt die Hemmung, auf Personen zu schießen, von den Teilnehmenden selbst erkannt und reflektiert. Auch wenn diese Beobachtungen der persönlichen Erfahrung aus Trainer*innenperspektive entstammen und nicht empirisch belegt sind, weisen sie doch im Ansatz auf eine unterschiedliche Bewertung durch die Trainierenden hin.
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u den situativen und langfristigen Auswirkungen von Z Stress im Kontext polizeilicher Schusswaffengebräuche
Der Erhalt von Handlungsfähigkeit unter dem Einfluss von Stress, auch als Stressstabilität bezeichnet, wird sowohl in der PDV 211 als auch im Rahmenerlass zum ET NRW als Trainingsgrundlage bzw. Trainingsziel beschrieben (MIK NRW 2012). Eine einheitliche Definition von Stress existiert nicht (Birr 2014). Für den polizeilichen Handlungskontext wird in der Literatur zwischen strukturell organisatorischen Stressoren (Schichtdienst, Arbeitsbelastung etc.) und einer situationsbezogenen physisch-psychischen Störung des physiologischen Gleichgewichts unterschieden (Klemisch 2006). Letztere wird auch, vereinfacht dargestellt, als situativer Stress infolge einer Diskrepanz zwischen bestehenden Anforderungen und der Beurteilung der eigenen Fähigkeiten zur Erfüllung dieser Anforderungen beschrieben (McGrath 1981). Stressempfinden ist also individuell geprägt und hängt sowohl von den eigenen Fähigkeiten als auch von der Selbsteinschätzung derselben ab. Personen mit ausgeprägtem Selbstvertrauen werden möglicherweise später eine Situation als potenziell überfordernd wahrnehmen als Personen, die weniger Vertrauen in sich selbst und ihre Fähigkeiten haben. Das eigene Mindset als Prädiktor für Stressempfindungen muss dabei nicht mit den tatsächlichen Fähigkeiten einhergehen. Diese Diskrepanz zwischen Anforderungen und eigenen Lösungsstrategien als un spezifischer Stressor (Birr 2014) wird im polizeilichen Alltag durch bedrohliche oder konfliktbelastete Kontexte verstärkt (Latscha 2005; Klemisch 2006). Eine besondere Stressexposition des Polizeiberufs ist in dieser Hinsicht aufgrund des regelmäßigen Konfrontations- und Konflikterlebens im täglichen Dienst naheliegend (Scheler 1982; Schmalzl 2012; Birr 2014). Schusswaffengebräuche gelten als besonders bedrohliche Ein-
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satzsituationen, weil das Erleben einer lebensgefährlichen Situation durch die beteiligten Polizeivollzugsbeamt*innen mit lang anhaltenden affektiven Angstempfindungen (Todesangst etc.) verknüpft sein kann (Sendera und Sendera 2013). In Bezug auf die Abwägung zwischen Anforderungen und Bewältigungsstrategien als grundlegende Stresscharakteristik gelten Situationen als besonders stressbelastet, wenn ein antizipiertes Scheitern direkt in Verbindung mit dem Eintreten gravierender Folgen gesetzt wird (McGrath 1981; Füllgrabe 2017). Dass Schusswaffengebräuche daher als Hochstresslagen identifiziert werden können, liegt bei der Annahme akuter Bedrohungssituationen für die eingesetzten Polizeivollzugsbeamt*innen also nahe (Latscha 2005). Es wird angenommen, dass während der akuten Phase des Schusswaffengebrauchs die PVB einen hohen Stresspegel haben, der die Wahrnehmung einschränkt und insbesondere optische und akustische Reize des Umfeldes überlagert (Schmalzl 2012). Dies wird als sogenannter „Tunnelblick“ (Lorei und Balaneskovic 2020) bezeichnet. Damit einher geht die Ausschüttung von Adrenalin, die z. B. kurzzeitig Schmerzempfinden und damit das Erkennen eigener Verletzungen (z. B. bei einem Schusswechsel) überlagern kann (Schmalzl 2012). Speziell auf den Einsatz der Schusswaffe bezogen liegen Befunde darüber vor, dass die Treffgenauigkeit unter Stress und wahrgenommenen Bedrohungen abnimmt (Nieuwenhuys und Oudejans 2010). Affektive Dimensionen wie Angst oder Hilflosigkeit können Stresseffekte noch verstärken (Füllgrabe 2017). Dazu gehören z. B. physiologische Stressreaktionen (wie z. B. eine deutliche Aktivierung des Metabolismus in Form erhöhter Pulsfrequenz), die sich hemmend bzw. einschränkend auf die Handelnden auswirken können (Schmalzl 2012). So werden eingeschränkte Sinneswahrnehmungen wie der bereits beschriebene Tunnelblick oder eine Beeinträchtigung des Gehörs sowie die Automatisierung der eigenen Handlungen von PVB, die in Schusswaffengebräuche involviert waren, im Rahmen von Befragungen geschildert (Lorei und Balaneskovic 2020). Als besonders ungünstig und gefährlich müssen aus polizeipraktischer Sicht Angstreaktionen angesehen werden, die bei den Betroffenen eine Handlungshemmnis („Starre“) hervorrufen und so Verteidigungsimpulse erschweren (Schmalzl 2012). Auch panische Fluchtimpulse oder Überreaktionen (z. B. das Leerschießen des gesamten Magazins, Schussabgaben ohne objektive Veranlassung) sind stressbedingte Phänomene, die im Zusammenhang mit polizeilichen Schusswaffengebräuchen als „Hypererregung“ beschrieben werden (Schmalzl 2012). Bei Schusswaffengebräuchen wird über die bereits geschilderten Stressoren hinausgehend zudem vermutet, dass auch dienstliche Rahmenbedingungen, wie z. B. die rechtlichen Konsequenzen eines irrtümlichen Schusswaffengebrauchs, die individuellen Abwägungsprozesse über die eigenen Handlungsoptionen beeinflussen können (Sendera und Sendera 2013). Auch über die konkrete Einsatzsituation hinaus können sich Schusswaffengebräuche und damit verbundene Stress- und Angstreaktionen gravierend auf die betroffenen PVB auswirken. Bereits in den 1980er-Jahren wurden Zusammenhänge zwischen dem Auftreten psychischer Folgereaktionen (z. B. Traumata) und Stresssituationen erforscht (Loo 1986; Klemisch 2006). Im polizeilichen Kontext dokumentiert sind vor allem posttraumatische
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Belastungsstörungen (PTBS), die insbesondere mit dem Erfahren von Todesangst und Angriffen auf die eigene Person sowie Kolleg*innen korrelieren (Bär et al. 2004; Latscha 2005, 2012; Sendera und Sendera 2013). Als Folge von PTBS treten regelmäßig Symptome wie das unkontrollierte Wiedererleben der belastenden Situation, sogenannte „Flashbacks“, Vermeidungsverhalten analoger Situationskonstellationen oder emotionale Überreaktionen auf (Latscha 2005, 2012). Die Schwere von psychischen Folgeerscheinungen nach belastenden Einsatzsituationen kann dabei in Verbindung zur Beurteilung des eigenen Handlungserfolgs gesetzt werden. Wenn PVB sich selbst in einer Bedrohungssituation als hilflos und handlungsunfähig wahrnehmen, kann sich dies also nicht nur auf die unmittelbaren Fähigkeiten zur Bewältigung der akuten Einsatzsituation, sondern auch langfristig auf das eigene Vulnerabilitätsempfinden und die Handlungssicherheit in ihrer Rolle als Polizist*in auswirken (Schmalzl 2012). Das ausgeprägte Rollenverständnis, als Garant für Sicherheit und Ordnung auch in Extremsituationen funktionieren zu müssen, könnte sich sogar noch potenziell verstärkend auf die Traumatisierung auswirken (Sendera und Sendera 2013). Ob PVB nach einem Schusswaffengebrauch und entsprechenden Stressempfindungen auch langfristige Folgen davontragen, hängt im weiteren Verlauf zudem von der individuellen Resilienz und der Exposition gegenüber weiteren belastenden Ereignissen ab (Kleim und Kalisch 2018).
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Stressresistenz durch Training
Das auf motorische Wiederholungen ausgelegte Trainingskonzept zur Verbesserung der grundlegenden Handhabungssicherheit mit den Dienstwaffen im ET NRW kann als „linear reproduktiv“ bezeichnet werden (Körner und Staller 2017). Wie bereits dargestellt wurde, besteht die Grundannahme darin, dass durch das segmentierte Wiederholen einzelner motorischer Handlungsschritte und dem daran anschließenden repetitiven Training des Gesamtablaufs Automatismen verinnerlicht werden, die im Bedarfsfall abgerufen werden können. Insbesondere mit Blick auf die affektive Stressdimension, die sich auf Wahrnehmung und Handlungsfähigkeit auswirken kann (Biedermann 2017), wird die Konditionierung automatisierter Handlungen als unabdingbar angesehen, um bei einer stressbedingten Beeinträchtigung der situativen Handlungskompetenzen überhaupt noch aktionsfähig zu bleiben (Hermanutz und Spöcker 2001). Die Konditionierung fest definierter Bewegungsabläufe im Falle eines Schusswaffengebrauchs wird auch durch die Annahme gestützt, dass es bei der grundlegenden Waffenhandhabung wenig bis gar keinen Spielraum gibt. Sicherheitsrelevante Handhabungsschritte sind in großen Teilen deswegen unveränderlich, weil sie im Regelfall alternativlos sind.15 Es gibt am Maßstab der Eigensicherung gemessen beispielsweise keine sinnvolle
Legt man einen anderen Trainingsansatz oder andere Ausrüstung zugrunde, wie z. B. bei Spezialeinheiten, könnte man natürlich zu einem anderen Ergebnis kommen. 15
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Gegenposition zur Vorgabe, beim Ziehen der Waffe keine eigenen Körperteile vor die Mündung kommen zu lassen. Für die einsatznah angelegten dynamischen Übungssequenzen sind hingegen zahlreiche Befunde heranzuziehen, die als Gegenentwurf zu linearer Konditionierung bezeichnet werden können. Das Konzept nicht linearer Pädagogik sieht entgegen der aktuellen methodisch-didaktischen Ausrichtung in Form idealtypischer Handlungsabläufe eine Orientierung an der Aufgaben-/Problemstellung vor (Körner und Staller 2017; Körner et al. 2018; Staller und Körner 2020a, b). Im Fokus steht dazu das Simulieren möglichst realitätskonformer Szenarien, in denen die Trainierenden weniger eng definierte Handlungsformen abrufen müssen, sondern individuell geprägte Lösungsstrategien anwenden können, solange das vorgegebene Ergebnis damit erreicht werden kann. Dass für das ET NRW zum Training eines Schusswaffengebrauchs sowohl das Handeln innerhalb der rechtlichen Befugnisse als auch der Erhalt körperlicher Unversehrtheit möglichst aller Beteiligter Teil einer unveränderlichen Zieldefinition sein müssen, liegt auf der Hand. Die kurze Beschreibung einiger beispielhafter Trainingssituationen hat gezeigt, dass Stressreaktionen als limitierende Faktoren ebenso individuell ausgeprägt sind wie die verschiedenen Fähigkeiten bei der Handhabung der Dienstwaffen. Um diese individuellen Parameter mit einbeziehen zu können, müssen die Trainierenden in den Übungslagen einem möglichst wirklichkeitsgetreuen Stresspegel ausgesetzt werden. Dabei scheint es ratsam, Erfahrungen des täglichen Dienstes im Sinne „repräsentativ gestalteter Interaktionen“ (Staller und Körner 2020a, b) zu berücksichtigen. Schusswaffengebräuche entstehen oft aus anderen als den idealtypischen Konstellationen heraus. So wird z. B. nicht immer aus einer aufmerksamen oder entschlossenen Sicherungshaltung (Lorei 1999) heraus agiert, sondern z. B. ad hoc einhändig geschossen, weil die Angriffshandlung überraschend erfolgt und Gegenstände (stressbedingt) reflexartig festgehalten werden. Auch die Handhabung der Dienstwaffe in Kombination mit Handschuhen oder der Taschenlampe wird nicht standardmäßig trainiert, ist aber eine für den täglichen Dienst nicht unwahrscheinliche Konstellation. Zudem ist die auf dem Schießstand durch die technischen Gegebenheiten limitierte Simulationskomplexität mit der Problematik „eindimensionaler Reiz-Reaktions-Verbindungen“ (Staller und Körner 2020b) bereits als kontraproduktives Setting identifiziert worden. Als vielversprechende Alternative, die bereits durch die Einrichtung der RTZ deutlich gefördert wurde, ist das Training mit alternativen Trainingsmedien, vor allem mit MaSy, hervorzuheben. Die Erkenntnis, dass das Training mit Farbmarkierungsmunition keine Verminderung der von den Trainierenden empfundenen Repräsentativität (im Sinne realitätsnaher Situationsdarstellung) zur Folge hat (Körner et al. 2017), geht einher mit den zahlreichen Vorteilen der ganzheitlichen Lagedarstellung.
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Optimierungspotenziale
Die vorstehende Betrachtung hat gezeigt, dass Schusswaffengebräuche komplexe Hochstressszenarien für die betroffenen PVB darstellen. Dabei kann sich Stress bzw. der Umgang mit Stress sowohl einschränkend auf die situative Handlungskompetenz als auch verstärkend auf psychische Folgeerscheinungen auswirken. Tatsächlich legen die wissenschaftlichen Befunde nahe, dass es vor allem zur Prävention psychischer Folgeerscheinungen nach Schusswaffengebräuchen geboten erscheint, das Schieß-/Nichtschießtraining anzupassen. Denn in kausalem Zusammenhang zur Entwicklung von PTBS steht das Empfinden einer Einsatzsituation als „nicht zu bewältigen“. Bereits 2013 wurde in der Studie zur Gewalt gegen PVB in NRW dargestellt, dass das ET NRW in Teilen als nicht umfangreich genug empfunden wird (Jager et al. 2013). Der Umstand, dass Trainings- bzw. Fortbildungsstand von PVB als wichtige Komponente der eigenen Handlungskompetenz verstanden wird, verstärkt diese Feststellung noch (Jager et al. 2013; Haendschke 2019). Der Umgang mit der Dienstwaffe konnte dazu im Training immer wieder als eigener Stressor beobachtet werden – ein Umstand, dem ebenfalls durch die Ausweitung von Handhabungs- und Trainingsroutine begegnet werden könnte. Die tatsächlich für die/den einzelnen PVB zur Verfügung stehende Trainingszeit ist dabei als Rahmenbedingung für das ET NRW bereits mehrfach als optimierungsbedürftig identifiziert worden (Jager et al. 2013; Staller und Körner 2019). Umso wichtiger ist es, den zur Verfügung stehenden Zeitansatz optimal mit möglichst ganzheitlichen Trainingssequenzen ausfüllen zu können. Dass die aktuelle Praxis sich anders darstellt, konnte sowohl aus Trainer*innen- als auch aus wissenschaftlicher Perspektive bestätigt werden (Staller und Körner 2019). Auch wenn sich das zur Verfügung stehende Zeitbudget nicht ohne Wechselwirkung mit Personalstunden, Personalverfügbarkeit und Dienstplanung anpassen lässt, muss hier letztlich die Überzeugung handlungsleitend sein, dass mehr Training früher oder später den entscheidenden Unterschied in kritischen Einsatzsituationen darstellen kann. Die LÜHT, die als letztes Überbleibsel einer sportlich ausgerichteten Schießausbildung in NRW bezeichnet werden kann, weist weder vom Ablauf noch von den Zieldarstellungen her Schnittmengen zu einsatznahen Schusswaffengebräuchen auf und wird den generellen Anforderungen an eine zeitgemäße Schießausbildung nicht mehr gerecht. Gerade weil die LÜHTen in NRW verpflichtend für die PVB abzulegen sind, bietet sich hier die Gelegenheit, bereits grundlegende Elemente wie Wahrnehmung, Kommunikation und Bewegung mit einfließen zu lassen. Allein schon die Einbindung von Nichtschießreizen sowie menschenähnlichen Zieldarstellungen würde ein deutliches Mehr an Komplexität generieren. Analog dazu zu sehen ist die Kontrollübung gemäß der PDV 211, die immer noch als Standardüberprüfung in zahlreichen Bundesländern herangezogen wird (Krämer 2009; Hochschule für Polizei Baden-Württemberg 2015; Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburg 2017).
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Auch der Einsatz steriler und abstrakter Stressfaktoren scheint weniger geeignet, die Handlungsfähigkeit in Reallagen zu fördern, als die Arbeit mit möglichst repräsentativen Stressbedingungen (Staller und Körner 2020a, b). Rein mechanisch-lineare Drills sollten also auf das für die Trainings- und Handlungssicherheit unbedingt erforderliche Maß reduziert werden (Staller und Körner 2020b). Zur Umsetzung dieser Stresssimulationen scheint es sinnvoll, den bereits erprobten Trainingsansatz mit Farbmarkierungssystemen weiter auszubauen. Insbesondere die Erkenntnis, dass sich der Stresspegel nicht messbar zwischen dem Schießtraining mit scharfen Schusswaffen und Farbmarkierungswaffen unterscheidet (Staller et al. 2017), ist ein Argument dafür, diese Trainingsform weiter zu intensivieren. Die vielfältigen Teilbereiche eines möglichst repräsentativen Einsatzszenarios können, wie beschrieben, optimal im MaSy-Training aufgegriffen werden. Damit einher geht auch ein modernes Verständnis von Trainingszielen, die nicht das Erfüllen und Nachahmen vereinheitlichter Handlungsstandards in den Vordergrund stellen, sondern das Erreichen von Handlungssicherheit im Zusammenspiel individueller Fähigkeiten und situativer Dynamiken. Dass bei der Simulation repräsentativer Szenarien Einsatztrainer*innen als Trainingsbeobachter*innen und Rollenspieler*innen zugleich agieren, muss kritisch hinterfragt werden. Neben potenziell lückenhafter Trainingsbeobachtung (vor allem im Bereich von Trainingssequenzen mit mehreren agierenden Teams) könnte sich auch das Verhältnis von Einsatztrainer*in zu Teilnehmer*in kontraproduktiv auf die Repräsentativität der Trainingshandlungen auswirken. Dass es anders geht, zeigt das polizeiliche Studium in NRW bereits seit Jahren, in dem PVB im Nebenamt als Rollenspieler*innen agieren, sodass zwischen den trainierenden Student*innen und den Rollenspieler*innen keinerlei Vorbeziehung besteht. Natürlich ist dabei zu gewährleisten, dass die Rollenspieler*innen nicht autark, sondern (z. B. via Funkabsprache) genau nach Anweisung der Trainer*innen agieren. Positiv hervorzuheben ist abschließend, dass in den letzten Jahren wichtige Weichen für ein möglichst repräsentatives und zukunftsfähiges Einsatztraining im Bereich Schießen-/Nichtschießen gestellt wurden. Die Errichtung von RTZ, die Implementierung taktischer Erster Hilfe sowie kontinuierliche Anpassungen für die Einsatztrainer*innen sind wichtige Impulse gewesen, die es konsequent weiter auszubauen gilt.
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Die Implementierung nonlinearer Pädagogik in das Einsatztraining – Beschreibung einer Entwicklung Patrick Schreier und Rado Mollenhauer
Inhaltsverzeichnis 1 E inleitung 2 Definitionen und lerntheoretische Annahmen der Autoren 2.1 Definitionen 2.2 Kompetenzen und Lernerfolg 2.3 Lerntheorien und Feedback 2.4 Trainer 3 Vergleich linearer und nonlinearer Trainingsformen 3.1 Methodisches Vorgehen 3.2 Selbstverteidigungskompetenzen 3.3 Festnahmekompetenzen 4 Beobachtungen 4.1 Kreativität und Fehlerkultur 4.2 Retrospektive Betrachtung 5 Ableitungen und Handlungsempfehlungen 5.1 Chancen und Gefahren 6 Übungsbeispiele Literatur
846 848 848 849 850 851 853 853 854 858 863 863 864 866 866 868 870
Reviewer*innen: Rüdiger Koch, Markus Thielgen P. Schreier (*) · R. Mollenhauer HfPV Mühlheim, Mühlheim am Main, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_45
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P. Schreier und R. Mollenhauer
Zusammenfassung
Einsatztraining bedient sich traditionell eher linearer Vermittlungsmethoden. Neuere Forschungen und lerntheoretische Modelle (vgl. Staller & Körner, Helmke, Fauth & Leuders) legen nahe, dass dies keineswegs die einzig mögliche und wahrscheinlich in vielen Fällen auch nicht die erfolgversprechendste Herangehensweise ist. Folglich unterliegt das Einsatztraining vielerorts derzeit einem Wandel, der wiederum bei nicht wenigen Einsatztrainern zu Unsicherheiten führt und kontrovers diskutiert wird. Beide Autoren sind in diesen Prozess eingebunden und an ihrem Standort maßgeblich an der Umsetzung pädagogischer Modelle in neue Trainingsformen beteiligt. Über diesen Prozess, seine Wirkungen, Gefahren und Chancen soll anhand praktischer Erfahrung der Autoren berichtet werden. Reflektiert werden sollen neben den Ergebnissen der veränderten Herangehensweise in Form von Kompetenzerwerb seitens der Studierenden auch praktische Erfahrungen mit möglichen Gefahren einer solchen Veränderung. Ferner sollen die Prozesse der Entwicklung neuer Trainingsformen beschrieben und mit vormals üblichen Trainingsformen verglichen werden. Hierbei sollen insbesondere Beispiele aus dem Bereich der Selbstverteidigungs- und Festnahmekompetenzen herangezogen werden, da hier erfahrungsgemäß besonders häufig Zweifel an der Umsetzbarkeit vorgebracht werden.
1
Einleitung
Die Vermittlung von Selbstverteidigungs- und Festnahmekompetenzen im polizeilichen Einsatztraining erfolgt zumeist linear.1 Dabei zeigt ein Trainer für ein bestimmtes Problem eine als „ideal“ definierte Lösungsmöglichkeit (zum Beispiel einen Armstreckhebel, um eine Person zu Boden zu bringen) vor, erläutert die wesentlichen Details der Ausführung und die Trainierenden ahmen diese Lösung zumeist am passiv-kooperativen Partner nach. Der Lernerfolg wird dabei zumeist anhand optischer Kriterien bewertet. Je näher die replizierte Lösung der Teilnehmer der als ideal definierten vorgezeigten Lösung visuell kommt, desto höher wird der Lernerfolg in der ersten Phase eingeschätzt. In späteren Phasen soll diese Lösung dann in einer Anwendungsumgebung appliziert werden können. Lineare Vermittlung wird im schulischen Kontext gemeinhin als veraltet angesehen (vgl. Trautwein et al. 2018; Fauth und Leuders 2018; Sliwka et al. 2019; Baumert und Kunter 2006; Helmke 2015). Auch im Einsatztraining wird das Modell linearer Vermittlung von Wissenschaftlern zunehmend infrage gestellt und andere Herangehensweisen erforscht (z. B. Staller und Körner). Definition „lineares bzw. nonlineares Lehren und Lehren“ im Kapitel „Definitionen und lerntheoretische Annahmen der Autoren“. 1
Die Implementierung nonlinearer Pädagogik in das Einsatztraining – Beschreibung …
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Praktiker hingegen halten zumeist an linearer Vermittlung fest. Im folgenden Beitrag soll der Wandel von „klassisch“ linearer Vermittlung hin zu nonlinearen Methoden im Einsatztraining der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung (HfPV) am Standort Mühlheim seit 2018 im Wirkungsbereich der beiden Autoren anhand praktischer Beispiele dargelegt werden. Der Fokus wird dabei auf den Themengebieten Selbstverteidigungsund Festnahmekompetenzen liegen, dies allein, da beide Autoren seit 2018 hauptverantwortlich für die Gestaltung dieses Bereiches am Standort zeichnen, hier die einschneidendsten Veränderungen stattgefunden haben und mit dem enormen Wachstum des Standortes2 auch die größte Zahl an Erfahrungen und Beobachtungen zur Verfügung steht. Die Autoren haben ihren Weg an die Hochschule über den Einzeldienst im Frankfurter Stadtgebiet gefunden und dort langjährige Erfahrungen sammeln können. Rado Mollenhauer ist sportlich im Judo und Ju-Jutsu Fighting beheimatet und war Mitglied der Sportfördergruppe der Polizei Hessen. Ferner ist er aktives Mitglied im Bundeskader Ju-Jutsu Fighting, Landestrainer Ju-Jutsu der U21 und Senioren in Hessen und leitet eine Wettkampftrainingsgruppe in Hanau. Patrick Schreier hat sportlich zunächst mit Thaiboxen, Kickboxen und Boxen begonnen und dann später seinen Weg zum Ju-Jutsu und hier insbesondere zum Brazilian Jiu-Jitsu (BJJ) gefunden. Dort hat er sich in den letzten Jahren stark auf die Bereiche Takedowns (Ringen) und Submission Wrestling verlegt. Er ist Landestrainer Hessen im Ju-Jutsu NeWaza/BJJ im Hessischen Ju-Jutsu Verband und leitet eine BJJ-Gruppe im Turnverein Dillenburg. Beide Autoren sind im Laufe ihrer kampfsportlichen Ausbildung im Wesentlichen „klassisch“ linear unterrichtet worden und haben diese Unterrichtsweise auch zunächst im Bereich des Breiten- und Leistungssportes sowie des Einsatztrainings angewandt. Ab 2018 kamen aus verschiedenen Quellen Informationen über andere, vordringlich nonlineare, Unterrichts- und Herangehensweisen hinzu, die bis dahin bekannte Strukturen infrage stellten. Hier sind insbesondere die Arbeiten von Staller und Körner zu nennen, aber auch die Lehrgänge der Hessischen Polizeiakademie und der BJJ Globetrotters, hier vor allem Christian Graugart, Priit Mihkelson und Jorgen Matsi. Einen weiteren Einfluss hat der Austausch und die Zusammenarbeit mit Aron Schirmacher, der als Student des Sportes auf Lehramt und passionierter Kampfsportler seine Sicht auf den Unterricht im Einsatztraining mit einbrachte und die Autoren mit weiteren pädagogischen Arbeiten und Konzepten vertraut machte. Diese Informationen dienten als Grundlage der Überlegungen der Autoren, die letztlich zu den hier dargestellten Veränderungen führten. Dabei handelte es sich nicht um einen schnellen Bruch mit alten Trainingskonzepten, sondern vielmehr um ein Infragestellen bisheriger Denkstrukturen und Bewertungskriterien für Training und in der Folge um Experimentieren mit neuen Trainingskreationen.
Der Studienjahrgang 2/20 umfasst allein am Standort Mühlheim zwölf Studiengruppen mit im Schnitt 24 Studierenden pro Studiengruppe. 2
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P. Schreier und R. Mollenhauer
2
Definitionen und lerntheoretische Annahmen der Autoren
2.1
Definitionen
Im Folgenden sollen zentrale Begriffe dieses Beitrages definiert werden, soweit dies für den Beitrag wichtig erscheint. Im Einsatztraining vermitteln Trainer (Abschn. 2.4) Inhalte linear (Abschn. 2.1) oder nonlinear (Abschn. 2.1). Beim Trainierenden soll der Lernvorgang zu einem Kompetenzerwerb und somit zu einem Lernerfolg (Abschn. 1.1.2) führen. Um Grad und Richtung des Kompetenzerwerbes selbst bestimmen zu können, benötigen Trainierende ein entsprechend verwertbares Feedback (Abschn. 2.3). Zur besseren Verständlichkeit wird hier das Beispiel „Takedown“,3 also das Zubodenbringen einer Person, verwendet.
ineares Lehren und Lernen L Somit ist lineares Lehren das in festgelegten Etappen erfolgende Vermitteln von definierten Ideallösungen für bekannte oder auch nur vermutete Probleme, wobei die akzeptable Annäherung des Ist- an den Sollwert einer Etappe als Voraussetzung zur Vermittlung der nächsten Etappe gesehen wird. Das Überprüfen der Annäherung von Ist- an Sollwert wird dabei zumeist anhand optischer Kriterien bemessen. Bsp.: Der Trainer führt eine konkrete Takedown-Technik vor, die entweder er selbst als wichtig empfindet oder die in einem Curriculum festgeschrieben ist. Hier gibt es verschiedene Arten (wie z. B. Beinstellen), welche wiederum in bestimmte Ausführungsvarianten (z. B. „O Soto Gari“) unterteilt sind. Dabei erläutert er, was konkret zur als korrekt definierten Ausführung zu tun ist, und die Trainierenden reproduzieren dies am zumeist passiv-kooperativen Partner so lange, bis der Trainer anhand einer optischen Bewertung entscheidet, dass die Trainierenden die technische Ausführung des O Soto Gari ausreichend beherrschen. Dabei wird der Trainer im Bedarfsfall die Trainierenden immer wieder auf mögliche Mängel in den Ausübungsmerkmalen hinweisen (wo der eigene Fuß zu platzieren ist, wie an welchen Bereichen Druck auf den Körper des Gegners auszuüben ist etc.) und gegebenenfalls die Technik erneut vormachen. Diese Trainingsweise wird in der Folge oftmals durch sogenannte „Drills“4 ergänzt, in denen die Trainierenden diese Übung in schneller und häufiger Folge ausüben.
Der Begriff „Takedown“ wird in diesem Beitrag für alle Arten des Zubodenbringens verwendet. Der Begriff „Drills“ entstammt dem Englischen und meint u. a. militärisches Exerzieren, das Ausführen spezifischer Bewegung mit einer Waffe, eine physische oder mentale Übung mit dem Ziel des Fähigkeitsgewinns durch regelmäßiges Wiederholen. In der Erziehungswissenschaft sind damit Änderungen der Geisteshaltung oder des Verhaltens durch repetitive Anleitung gemeint (https://www. merriam-webster.com/dictionary/drill, letztmals abgerufen Zusammenfassung durch die Autoren). 3 4
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onlineares Lehren und Lernen N Beim nonlinearen Lehren werden hingegen Ziele definiert, die auf nicht zuvor definierten Wegen vom Lernenden erreicht werden können. Somit bedarf Konsistenz in der Wirkung nicht Konsistenz in Ursache und Verlauf (Körner et al. 2020), Die individuelle und variable Lösung gestellter Probleme liegt im Mittelpunkt (Körner und Staller 2017; Chow et al. 2016). Dem Trainer kommt dabei die Aufgabe zu, entsprechende Settings zu entwerfen (Staller et al. 2020; Körner und Staller 2017). Die Lernenden sollen dabei durch gezielte Manipulation der Aufgaben sowie umwelt- und individuumspezifischer Faktoren in der Trainingsumgebung so handeln können, wie es die Anwendungsumgebung verlangt (Körner et al. 2020; Pinder et al. 2011; Körner und Staller 2017). Dazu werden strukturiert oder chaotisch (Pinder und Renshaw 2019) Merkmale und Anforderungen der Anwendungsumgebung in das Training mit einbezogen, die vom Lernenden situativ funktionale Entscheidungen im Kontext der Aufgabenstellung erfordern, somit eine Ausrichtung auf die Entdeckung verhaltensspezifischer Informationen ermöglichen und dadurch adaptive Flexibilität und funktionale Variabilität provozieren (Körner et al. 2020; Araujo et al. 2006). Beispiel
Der Trainer gibt das Ziel vor, eine Person zu Boden zu bringen. Die Art und Weise, wie die Trainierenden dies tun, ist den Trainierenden grundsätzlich freigestellt und lediglich durch verletzungspräventive und im polizeilichen Kontext durch rechtliche Vorgaben beschränkt. Aufgabe des Trainers ist es hierbei, die Trainierenden in ihrem kreativen Problemlösungsprozess zu unterstützen, also Hinweise zu geben, warum ein Versuch zum Erfolg oder Misserfolg geführt hat. ◄
2.2
Kompetenzen und Lernerfolg
Weinert definiert Kompetenzen als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen5 und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2001). Kompetenzen sind folglich die Verknüpfung von Können, Wissen und Wollen (Weinert 2001). An der Erlangung dieser Kompetenzen bemessen die Autoren den Lernerfolg der Studierenden an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung (HfPV) Mühlheim.
5
Willentliche Steuerung von Handlungen und Handlungsabsichten.
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P. Schreier und R. Mollenhauer
Beispiel
Schafft es ein Trainierender, eine Person zu Boden zu bringen, so wäre der Lernerfolg bei linearem Training nur dann gegeben, wenn er dies mittels des zuvor vorgezeigten Takedowns (O Soto Gari) tut und dabei die wesentlichen technischen Ausführungsmerkmale (Fuß korrekt platziert, Zug und Druck an den korrekten Stellen appliziert etc.) in akzeptablem Maße angewendet hat. Bei nonlinearem Training wäre der Lernerfolg immer dann gegeben, wenn die Person zu Boden gebracht wurde und dabei die Vorgaben (verhältnismäßig, verletzungsfrei) erfüllt wären. Die Art des Takedowns spielt dabei keine Rolle, ebenso wenig technische Ausführungsmerkmale. ◄
2.3
Lerntheorien und Feedback
Die Autoren folgen dabei im Wesentlichen konstruktivistischen Lerntheorien, gehen also davon aus, dass Lernen ein individueller, aktiver Konstruktionsprozess ist, der vom Vorwissen des Lernenden sowie der konkreten Lernsituation abhängt und von außen lediglich bedingt beeinflussbar ist (Fauth und Leuders 2018). Lernen kann dabei als Adaption des Gehirns begriffen werden. Das Gehirn gleicht dabei ständig aufgrund von bestehenden Erfahrungen und Hypothesen vorhergesagte Daten mit neu hinzukommenden Daten ab. Kommt es dabei zu Vorhersagefehlern, werden die nachfolgenden Prognosen unter Berücksichtigung der Zuverlässigkeit der neu gewonnenen Daten entsprechend korrigiert (Seth 2020). Selbstverständlich können diese neuen Daten auch durch kommunikative Informationsübertragung, z. B. durch Ratschlag eines Trainers, erworben werden. Da vieles dafürspricht, dass die Zuverlässigkeit der durch eigene sensorische Erfahrung gewonnenen Daten vom Gehirn regelmäßig höher bewertet wird als diejenige der durch kommunikative Informationsübertragung gewonnenen, legen die Autoren bei der Erstellung neuer Trainingssettings großen Wert auf ein sensorisch erfahrbares Feedback und verzichten weitestgehend auf verbale Feedbacks seitens der Trainer. Die Trainierenden sollen so unmittelbar ihre „intuitive Expertise“ (Kahneman und Klein 2009) überprüfen, korrigieren und erweitern können. Beispiel
Bringt der Trainierende eine Person zu Boden, so erfährt er hierdurch ein sensorisches Feedback. Er kann den Erfolg seiner Aktion sehen und fühlen. Ein rein verbales Feedback hingegen würde die Angabe seitens des Trainers oder der Person, sie wäre bei weiterer Durchführung der Aktion zu Boden gegangen, beinhalten. ◄ Der objektive Wahrheitsgehalt des jeweiligen Feedbacks ist wesentliche Voraussetzung für die Verwertbarkeit seitens des Trainierenden und bestimmt dadurch in hohem Maße
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die Erreichbarkeit des Lernziels, wobei die Bedeutung zunimmt, je unerfahrener die Trainierenden sind (Halperin et al. 2019).
alsch positives Feedback F Bei einem falsch positiven Feedback bekommt der Trainierende ein positives Feedback (z. B. die Person geht zu Boden; verbales Feedback, dass dies erfolgt wäre), obwohl unter objektiven Gesichtspunkten kein solches hätte erfolgen können (die Person hätte ohne Mühe stehen bleiben können, das verbale Feedback ist falsch). Bei der Vergabe falsch positiver Feedbacks spielen häufig soziale Faktoren eine Rolle, z. B. lässt sich eine Person absichtlich fallen, um sich nicht (mit-)schuldig am Misserfolg des Trainierenden fühlen zu müssen. Die Gefahr falsch positiver Feedbacks erhöht sich zudem immer dann, wenn beide Trainierende entsprechend ergänzende Übungsziele erhalten (Person A bringt zu Boden, Person B lässt sich zu Boden bringen). alsch negatives Feedback F Hingegen bekommen Trainierende falsch negative Feedbacks, wenn sie im Sinne des Lernsettings alle objektiven Ausführungsmerkmale erfüllen, aufgrund äußerer, durch sie nicht beeinflussbarer Faktoren aber nicht den gewünschten Erfolg erhalten. Die Wahrscheinlichkeit falsch negativer Feedbacks erhöht sich umso mehr, je enger die jeweilige Übung gefasst ist. So wäre es ein falsch negatives Feedback, wenn der Trainierende die Vorgabe erhält, eine Person mittels eines Beinstellens zu Boden zu bringen, diese Vorgabe aber aufgrund bestimmter Parameter nicht ausführen kann. So kann der Trainierende beispielsweise aufgrund eines Größenunterschiedes keinen Druck auf den Oberkörper der anderen Person ausüben, wodurch diese nicht über das gestellte Bein fällt. Je freier eine Übung gestaltet ist und je größer die Optionsvielfalt für Lösungsmöglichkeiten ist, desto unwahrscheinlicher werden falsch negative Feedbacks. Die Gefahr falsch positiver und falsch negativer Feedbacks erhöht sich hingegen immer mehr, je stärker das Feedback an subjektive Faktoren (z. B. Bewertung anhand eines optischen Eindrucks) gebunden ist.
2.4
Trainer
Geeignete Einsatztrainer benötigen neben fachwissenschaftlichem Wissen auch pädago gisches Wissen. Die funktionale Verbindung beider Wissensbereiche ergibt das fachdidaktische Wissen (Shulman 1987), pädagogisches und fachdidaktisches Wissen bleiben dabei differenzierbar (König et al. 2018). Fachwissenschaftliches, fachdidaktisches und pädagogisches Wissen bilden das „professionelle Wissen“ (Bromme 1992). Professionelles Wissen wird dabei einerseits in einer formalen Ausbildung, andererseits durch reflexive Berufspraxis6 erworben (Ball und Bass 2000; Grossman und Schoenfeld 2005). Zur akti Im Kontext Einsatztraining ist hier reflexive Berufspraxis sowohl als Einsatz- als auch als Lehrkraft gemeint. 6
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ven Gestaltung des Lernprozesses ist spezifisches professionelles Fachwissen zwingend notwendig (Leinhardt 2002) und somit Voraussetzung für professionelles lernorientiertes Training. Bereits bei schulischem Lernen ist in der Literatur kaum ausgemacht, was genau fachwissenschaftliches Wissen ist und welches Wissensniveau von Lehrkräften vorausgesetzt werden kann. Gemeinhin wird damit die sichere Beherrschung des jeweiligen Schulstoffes angenommen (Baumert und Kunter 2006). Es finden sich indes aber kaum Angaben, was genau unter „sicherer Beherrschung“ zu verstehen ist. Bezogen auf das Einsatztraining muss die Frage daher gestellt werden, ob in fachwissenschaftlicher Hinsicht bereits das erfolgreiche Absolvieren des Studiums zum Einsatztrainer befähigt oder ob weitergehende Bildung unabdingbar ist. Genügt es, wenn Einsatztrainer wissen, wie z. B. eine Festnahme gegen Widerstand in der Theorie technisch durchzuführen wäre, oder müssen sie sie zumindest im geschützten Bereich selbst ausreichend sicher beherrschen? Werden darüber hinaus auch praktische Erfahrungen im (späteren) Anwendungsumfeld der Trainierenden benötigt oder sind diese verzichtbar? Fachwissenschaftliches Wissen hat wesentlichen Einfluss auf das curriculare Niveau der Aufgaben (Baumert et al. 2010), es beeinflusst allerdings weder die kognitive Aktivierung der Lernenden noch die individuelle Unterstützung bei Schwierigkeiten. Für beides wird fachdidaktisches Wissen benötigt. Fachdidaktisches Wissen hat selbst in logisch- theoretischen Fächern wie Mathematik größere Vorhersagekraft auf den Lernfortschritt der Lernenden als fachwissenschaftliches Wissen, ist also maßgeblich für die Qualität von Unterricht (ebd.). Untersuchungen im Bereich des polizeilichen Einsatztrainings kommen zu ähnlichen Ergebnissen (Staller und Körner 2020). Baumert zufolge ist fachdidaktisches Wissen ohne fachwissenschaftliches Wissen nicht denkbar. Die Frage, wie fachwissenschaftliches Wissen im Einsatztraining zu definieren ist, gewinnt vor allem dann an Bedeutung, wenn man bedenkt, dass Einsatztrainer dazu neigen, Lösungen, die eine Form des unmittelbaren Zwanges beinhalten, zu präferieren (Staller et al. 2020), während aktive Einsatzbeamte eher deeskalierende Lösungsmodelle suchen (Mangels et al. 2020). Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass Einsatztrainer biografisch auffallend häufig Affinitäten zu körperlicher Gewalt und/oder Schusswaffen aufweisen (Körner et al. 2019). Eine andere mögliche Erklärung ist, dass kommunikative, deeskalierende Lösungen im fachwissenschaftlichen Wissen der Einsatztrainer eine deutliche geringere Rolle spielen als Formen des unmittelbaren Zwanges. Hier liegt nahe, dass kommunikative, deeskalierende Lösungen insbesondere bei Einsatztrainern aus hoch spezialisierten (Festnahme-)Einheiten im aktiven Dienst eine geringere Rolle gespielt haben, als dies im gesamtpolizeilichen Mittel der Fall sein dürfte. Um Trainierenden ein möglichst wertvolles Training zu ermöglichen, muss also fachwissenschaftliches Wissen nicht nur in entsprechender Tiefe, sondern auch in a ngemessener Breite (körperlicher Zwang, Waffengebrauch, Kommunikation etc.) vorhanden sein, damit Lösungen in voller Tiefe und Breite nicht nur erkannt, sondern auch akzeptiert werden können. Nonlineare Pädagogik stellt hier größere Anforderungen an Trainer als lineare, da die Wahrscheinlichkeit vom Trainer unvorhergesehener Lösungen mit der Zahl einerseits
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und der biografischen Diversität der Trainierenden andererseits steigt. Es spricht vieles dafür, dass die Akzeptanz von Lösungen bei Trainern steigt, wenn in der eigenen beruflichen Praxis Lösungen aus diesen Feldern erfolgreich angewendet werden konnten. Beispiel
Bei linearer Vermittlung eines Beinstellens reicht es aus, dass der Trainer diese Technik und ihre Ausführungsmerkmale replizieren und erläutern kann. Er muss sie weder in einem unkooperativen Setting selbst anwenden können, noch muss er ihre Wirkmechanismen und -prinzipien verstehen. Andere Lösungen sind nicht vorgesehen, müssen also vom Trainer nicht berücksichtigt werden. ◄ Im Falle des nonlinearen Lehrens wird hingegen ein Trainer benötigt, der ebendiese Wirkmechanismen und -prinzipien in Gänze durchdrungen hat und dadurch nicht nur entsprechende Settings kreieren kann, sondern auch bei einer zuvor nicht überschaubaren Anzahl an unterschiedlichen Lösungsansätzen ad hoc erkennen kann, welche Wirkmechanismen und -prinzipien nicht ausreichend beachtet wurden, um entsprechende Hilfestellung geben zu können. Werden die Aufgaben komplexer (z. B. in Szenarien), steigt die Zahl möglicher (auch kommunikativer) Lösungsmöglichkeiten und mit ihnen die Anforderungen an das Fachwissen der Trainer. Zudem kann ein Trainer in einem linearen kooperativen Setting darauf vertrauen, dass falsch positive Feedbacks die Motivation der Teilnehmer zu einem gewissen Grad stützen, während nonlineare Settings die Gefahr bergen, dass Teilnehmer, die häufig scheitern und keine eigenen erfolgreichen Lösungen finden, frustriert sind. Hier muss ein geeigneter Trainer sowohl durch Fachwissen diejenigen Elemente eines Lösungsansatzes, die den Erfolg hemmen, identifizieren können als auch Settings durch fachdidaktisches Wissen entsprechend gestalten können, sodass leistungsstärkere und leistungsschwächere Trainierende in ihrem individuellen Trainingsbereich7 gefordert werden.
3
Vergleich linearer und nonlinearer Trainingsformen
3.1
Methodisches Vorgehen
Es wird nun die Veränderung in der Vermittlung von Selbstverteidigungs- und Festnahmekompetenzen am Standort Mühlheim dargestellt. Dazu wird zunächst die Gestaltung der Trainings vor der Veränderung („vorher“) beschrieben, sodann folgt eine Beschreibung der neuen Trainings („nachher“). Im Nachgang sollen die beiden Trainingsformen einander gegenübergestellt und miteinander verglichen werden. Im letzten Schritt werden Thesen abgeleitet. Trainingsbereich meint den Bereich, in dem Trainierende im Setting gerade so bestehen oder gerade so nicht bestehen. Oberhalb und unterhalb dieses Bereiches neigen Trainierende zu Langweile oder Frustration. Lerneffekte verringern sich. 7
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Im weiteren Verlauf des Beitrags werden dann Erfahrungen der Autoren geschildert. Die Erhebung objektiver Daten im Bereich Selbstverteidigungs- und Festnahmekompe tenzen war seitens der Autoren angedacht, musste aber angesichts der andauernden Corona-Pandemie auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Daher muss sich dieser Beitrag auf die Beschreibung der sicherlich subjektiven Eindrücke und Überlegungen der Autoren beschränken. Es wurden verschiedentlich auch vergleichende gemeinsame Trainings von stärker linear und stärker nonlinear unterrichteten Gruppen durchgeführt. Hierzu liegen allerdings lediglich Beobachtungen und keine „harten“ Daten vor.
3.2
Selbstverteidigungskompetenzen
Selbstverteidigungskompetenzen im polizeilichen Kontext können als diejenigen Kompetenzen definiert werden, die benötigt werden, um einen unmittelbaren Angriff auf sich oder einen Dritten ausreichend zuverlässig abwehren zu können, ohne dabei das Maß des rechtlich Zulässigen zu überschreiten. Im Falle der Erstsemester begrenzt sich das Training mangels vorhandener Führungsund Einsatzmittel meist auf die Abwehr mit rein körperlichen Mitteln. In späteren Semestern werden Führungs- und Einsatzmittel mit einbezogen, so ihr Einsatz rechtmäßig und in Anbetracht von Zeit und Distanz überhaupt infrage kommt.
Lineare Trainingsform – „vorher“ Die lineare Form beinhaltete am Standort Mühlheim das Erlernen der Techniken des Ju- Jutsu Gelbgurtprogramms (vgl. Dykow 2015), teilweise auch diverser weiterer Techniken. Dies beinhaltet: Bewegungsformen:
Verteidigungsstellung, Auslagenwechsel (vorne, hinten, auf der Stelle), Auspendeln (nach hinten und zur Seite), Abducken, Abtauchen, Gleiten (vorwärts, rückwärts, zur Seite), Körperabdrehen, Schrittdrehung (90 und 180 Grad, vorwärts und rückwärts) Falltechniken: Sturz (seitwärts und nach hinten) Bodentechniken: Haltetechnik (seitliche, Kreuz- und Reitposition) Abwehrtechniken: Passivblock (am Kopf, außen, innen), Abwehrtechnik mit der Hand in zwei Ausführungen, Grifflösen, Griffsprengen Atemtechniken: Handballentechnik, Fausttechnik, Knietechnik, Stoppfußstoß, Lowkick Sicherungstechniken: Kreuzfesselgriff, Handgelenkshebel Hebeltechniken: Armstreckhebel bei Bodenlage des Gegners, Körperabbiegen Wurftechniken: Beinstellen, Doubleleg Takedown
Diese wurden vorgezeigt, die Ausführungsmerkmale erläutert und in einen kämpferischen Kontext eingebunden. Die Studierenden haben diese dann am passiv-kooperativen Partner geübt und später in diversen freien Anwendungsformen (Sparringsformen) versucht anzuwenden. Dabei wurde analog zum Prüfungsprogramm auch auf kooperatives Partnerverhalten geachtet.
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Insofern Techniken und freie Anwendungsformen Teil einer Prüfung waren, wurde die optische Annäherung an den Sollwert als Maßstab genommen. Freie Anwendungsformen wurden zur Verletzungsprävention stets im Leichtkontakt durchgeführt, sodass auch hier die optische Annäherung an den Sollwert maßgeblich war.
Nonlineare Trainingsform – „nachher“ Die nonlineare Form beinhaltet möglichst häufig vorkommende Problemstellungen in hoher Quantität, um eigene Lösungsansätze testen und Erfahrungen damit sammeln zu können. Der Fokus liegt dabei auf dem Treffen von Entscheidungen in einer chaotischen Angriffssituation. Ziel ist es, die Trainierenden möglichst oft in die Situation zu bringen, in einer chaotischen Angriffssituation schnell sinnvolle Entscheidungen unter Einbe ziehung der eigenen, aber auch der (vermuteten) gegnerischen Fähigkeiten zu treffen und diese umzusetzen. In den von den Autoren kreierten „Bingo-Formen“8 wurden aus Gründen der Ökonomie verschiedene Formen der „freien Anwendung“ (Sparring) gewählt. Im Anfängerbereich wird dabei in Trainierende und Simulatoren9 unterschieden, während bei Fortgeschrittenen der Wechsel situationsbezogen stattfindet. Im Mittelpunkt steht die Vorgabe unterschiedlicher Aufgaben10 in einem freien oder festgelegten Gegnerpool. Der Trainierende erhält Aufgabenblätter mit verschiedenen objektiv feststellbaren Kriterien, die es in definierten Rahmenbedingungen zu erfüllen gilt. Dabei ist möglichst jeder Aufgabe eine andere Aufgabe diametral entgegengestellt. So kann bspw. durch Vermeiden oder Kontern eines Takedownversuchs eine andere Aufgabe auf dem (gegnerischen) Aufgabenblatt erfüllt werden. Durch diese Vorgehensweise werden falsch positive Feedbacks vermieden und gleichzeitig erhalten defensive Handlungsweisen positives Feedback. Diese Aufgaben sind dann in mehreren Kämpfen gegen verschiedene Gegner abzuarbeiten. Dabei bestehen keine Vorgaben hinsichtlich Abfolge oder Zahl der pro Kampf zu erfüllenden oder erfüllbaren Aufgaben. Gewinner ist derjenige Teilnehmer, der als Erster alle Aufgaben erfüllt hat. Die Trainierenden müssen hierzu vor jedem Kampf eine Einschätzung der eigenen, aber auch der gegnerischen Fähigkeiten vornehmen und auf dieser Grundlage eine Strategie wählen, die es ermöglicht, eine möglichst große Zahl an Aufgaben erfüllen zu können. Der Aufgabenpool ist beliebig veränderbar. Die Aufgaben sollten hierbei objektiv feststellbar und erfolgsorientiert, nicht technikorientiert sein. Die Ergebnisse dieses Ent Die Autoren benannten diese Übungsformen zur spielerischen Umrahmung, Unterstreichung des Wettkampfcharakters und leichteren Verständlichkeit „Bingoformen“, wenngleich das Abstreichen der einzelnen Felder des Aufgabenblattes weniger mit einer Lotterieziehung als mit der erfolgreichen Erfüllung der Aufgabe zu tun hatte. Die Übung wird je nach Freiheitsgrad „Box-Bingo“, „Kickbox-Bingo“, „Ringer-Bingo“, „Sanda-Bingo“, „BJJ-Bingo“ oder als finale Form „MMA- Bingo“ bezeichnet. 9 Vgl. Staller und Körner in diesem Buch: Kap. Impulse zur Gestaltung des Einsatztrainings II – Das Trainer*innen-Mischpult. 10 Vgl. Tab. 1. 8
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scheidungstrainings können als Leistungsstandfeststellung für individuelle Problemfelder in der Trainingsphase verwendet werden. Im Wirkungsbereich der Autoren ist das „MMA- Bingo“ mittlerweile Bestandteil der Modulprüfung. Dabei bestimmt allein die Zahl der erfüllten Aufgaben über die Teilnote (vgl. Tab. 1).
ergleich und Diskussion V Die lineare Form des Reproduzierens vorausgewählter Techniken und Technikabfolgen am passiv-kooperativen Partner vernachlässigt aus Sicht der Autoren die Dynamik einer Selbstverteidigungssituation. Selbst wenn hier das Vorhandensein einer für alle Trainierenden idealen Technikfolge unterstellt würde, ist alleine in Anbetracht der sehr begrenzten Trainingsdauer von Studierenden die mit dieser Trainingsform angestrebte Perfektion realistisch nicht erreichbar. Gleichzeitig klammert sie wesentliche Aspekte eines körperlichen Zweikampfes aus – Fähigkeiten wie Antizipation, Selbst- und Fremdeinschätzung, Gefährdungseinschätzungen, Beurteilung des Raumes und der Lage und vieles mehr werden bei dieser Form mindestens vernachlässigt oft sogar gänzlich ausgeklammert. So konnten beispielsweise in einer Nachprüfung zuvor verletzter Studierender zwei Prüflinge beobachtet werden, die im damaligen ersten Prüfungsteil während eines Pratzendrills11 gleichzeitig arbeiteten. Bei Prüfling A waren die Schläge abgehackt, teilweise geschoben, die Distanz passte selten und der gesamte Bewegungsablauf wirkte insgesamt disharmonisch. Anders bei Prüfling B: Hier war deutlich zu sehen, dass der Prüfling viel Zeit mit vergleichbaren Pratzendrills verbracht hatte. Es zeigten sich eine gute körperliche Ökonomie, flüssige Bewegungen und stimmige Schlag- und Trittkombinationen. Tab. 1 Mögliche Aufgaben MMA-Bingo Bringe eine(n) Gegner*in zu Boden und erlange unmittelbar die Oberlage Verhindere die Bodenlage, nachdem die Nahdistanz eingenommen wurde
Halte eine(n) Gegner*in 15 Sekunden in der Unterlage am Boden Befreie dich am Boden aus der Unterlage und gelange in die Oberlage/ stehe auf
Halte eine Kopfarmkontrolle im Stand für 10 s
Bleibe während eines kompletten Kampfes auf Distanz/Abstand (max. Nahdistanzdauer = 3 s) Entziehe dich einer Gelange in den Kopfarmkontrolle in Rücken und halte weniger als 10 s diesen für 10 s
Quelle: Eigene Darstellung
Die Prüflinge schlugen bzw. traten hierbei gegen von Helfern gehaltene Pratzen.
11
5 Kopftreffer oder 10 Kicks in einem Kampf
3 x Schlag-, Tritt- oder Wurfkonter in allen 3 Kämpfen
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Als beide Prüflinge dann im „MMA-Bingo“ miteinander kämpften, kehrte sich dieses Bild in das Gegenteil um – während Prüfling B zwar nach wie vor „schöner“ kämpfte, tat er sich schwer damit, Erfolge gegen Prüfling A zu erzielen, wohingegen dieser in allen Distanzen dominierte. Prüfling A konnte in 90 Sekunden Kampfzeit mehrere Aufgaben erfüllen, während Prüfling B mit allen Versuchen scheiterte. Bei genauer Nachschau zeigte sich, dass Prüfling A in den Bereichen Timing, Antizipation, Distanzgefühl und Entscheidungsfreude stets ein bisschen besser abschnitt als Prüfling B. Dies wurde erst in einer Zeitlupenaufnahme sichtbar, summierte sich aber zu einer kämpferischen Dominanz. Ähnliche Beobachtungen konnten in gemeinsamen Trainings stärker linear und stärker nonlinear unterrichteter Studiengruppen gemacht werden. Eine diese Eindrücke überprüfende Studie wurde angedacht, musste aber aufgrund der Hygieneauflagen im Zuge der Corona-Pandemie verschoben werden. Derzeit scheinen aber weitere Versuche der Autoren im Bereich anderer Kompetenzen die Annahmen zu bestätigen. Auch hier scheinen die nonlinear unterrichteten Studierenden in objektiv überprüfbaren Kriterien den linear unterrichteten Studierenden überlegen zu sein. Limitierende Sparringsformen wie (Kick-)Boxsparrings, Ringersparrings und andere beziehen zwar Fähigkeiten wie Antizipation und Beurteilung von Raum und Lage zumindest teilweise mit ein, limitieren aber gleichzeitig den Entscheidungsprozess und mögliche Lösungsstrategien. Aus Sicht der Autoren gibt es schlicht keinen vernünftigen Grund, einen Trainierenden, der beispielsweise sehr gut darin ist, andere Personen zu Boden zu bringen, diese Lösung zu versagen. Derartige Formen sollten daher lediglich zur Heranführung an komplexere Sparringsformen verwendet werden und schnellstmöglich diesen weichen. Die Vorteile einer nonlinearen Form wie dem „MMA-Bingo“ sind die reine Zielorientierung, das Einbeziehen unterschiedlicher Lösungsmöglichkeiten, die Schulung von Selbst- und Fremdeinschätzung sowie Antizipationsfähigkeiten. Aufgrund der Optionenvielfalt wird der eigenständige Entscheidungsprozess gefördert. Unterstellt man als Kompetenzziel eines Selbstverteidigungstrainings die Entwicklung eines individuellen Verteidigungskonzepts, so erscheinen Optionsvielfalt und Entscheidungskompetenz wesentliche Lernziele. Der Trainer nimmt dabei eine beratende Rolle ein. Es kann dazu auch ein separater Trainingsbereich genutzt werden, um individuell aufgetretene Probleme mit den Trainierenden zu bearbeiten. Die Autoren machten dabei die Erfahrung, dass die Trainierenden die ursächlichen Probleme ihres Scheiterns auffallend häufig selbst benennen konnten. Es bedurfte nur selten einer gemeinsamen Analyse oder gar der Präsentation einer Gesamtlösung, vielmehr genügte es häufig, auf Wirkprinzipien des Lösungsansatzes des Trainierenden hinzuweisen. Dadurch gelang meist dem Trainierenden selbst die notwendige Adaption. Gelingt dies nicht, spricht aus Sicht der Autoren in diesem Stadium auch nichts gegen die Präsentation einer Lösungsmöglichkeit. Dies sollte aber als Angebot begriffen werden und wertende Urteile unterbleiben.
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Problematisch ist in beiden Trainingsformen die enge Anbindung an Sparringsformen, da diese vor allem kampfsportorientiertes Verhalten fördern. So neigen Studierende, die ausschließlich mit Sparringsformen trainiert wurden, dazu, von wild und unkoordiniert agierenden Angreifern überrascht zu werden und Zweikämpfe durch im sportlichen Sinne allzu taktisches Verhalten unnötig in die Länge zu ziehen. Hier hat es sich als sinnvoll herausgestellt, die Trainierenden ergänzend in unerwarteten Situationen, also auch während Sparringsformen oder in Pausen, von einer wild und unkoordiniert agierenden Person zwar in leichtem Kontakt, aber unablässig angreifen zu lassen. Der Angriff erfolgt dabei so lange, bis es dem Trainierenden gelungen ist, durch entsprechende Abwehrmaßnahmen weitere Angriffe zu unterbinden (z. B. durch eigene Schläge oder Tritte, Fixierung an Boden oder Wand oder durch Distanz und Einsatz entsprechender Führungs- und Einsatzmittel). Aufgrund der immanenten Gefahr falsch positiver Feedbacks durch einander ergänzend festgelegten Aufgabenbereich („Trainierender und Simulator“) sollte diese Form die Bingoform ergänzen, aber nicht ersetzen. Zunächst bestehende Bedenken, dass der Verzicht auf eine ausgiebige lineare Technikschulung „grundlegender“ Techniken (in der Diskussion häufig als „Basics“ bezeichnet) nachteilige Effekte mit sich bringen würde, haben sich nicht bestätigt, sodass die Klassifizierung als „grundlegend“ in Zweifel gezogen werden muss. Vergleichende gemeinsame Trainings mit stark linear und stark nonlinear unterrichteten Gruppen ergaben gerade keine Hinweise auf Vorteile derjenigen Trainierenden, die ausgiebig in „grundlegenden“ Techniken geschult wurden. Von allgemeinen verletzungspräventiven Hinweisen abge sehen kann sich hier aus Sicht der Autoren auf individuelle Hilfestellungen beschränkt werden.
Thesen 1. Selbstverteidigungskompetenzen müssen sich am Erfolg der Selbstverteidigungshandlung messen lassen, nicht an technischer Perfektion. 2. Fähigkeiten wie Antizipation, Beurteilung von Raum und Lage, zutreffende Ein schätzung der eigenen Fähigkeiten, möglichst zutreffende Einschätzung der Fähigkeiten des Gegenübers und Entscheidungsfreude zu schulen, scheint praxisnäher und nachhaltiger zu sein als spezielle Techniken und Technikfolgen. 3. Individuellen Lösungen ist, so sie funktional und rechtlich zulässig sind, stets vor idealisierten Lösungen der Vorzug zu geben. 4. Techniken, die als „grundlegend“ und damit unverzichtbar angesehen werden sollen, müssen diese Eigenschaft in einer an objektiven Kriterien orientierten Überprüfung nachweisen können.
3.3
Festnahmekompetenzen
Festnahmekompetenzen sind diejenigen Kompetenzen, die es einem Polizeibeamten ermöglichen, allein oder mit anderen eine oder mehrere Personen auch bei erheblichem
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Widerstand und gegen deren Willen derart in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken, dass Angriff oder Flucht erheblich erschwert wird und eine nachhaltige Bestimmung des Aufenthaltsortes der Person(en) seitens der Polizei gewährleistet ist. In einigen Polizeien oder Polizeieinheiten hat man sich dabei auf bestimmte standardisierte Formen, wie beispielsweise die „Taktische Kontrolle und Festnahme“ (TKF) in Bayern, festgelegt. Im Bundesland der Autoren besteht keine rechtlich verbindliche Festschreibung, wohl aber ein Konsens darüber, der TKF in konzeptioneller Hinsicht zu folgen.
Lineare Trainingsform – „vorher“ Lineare Trainingsformen beinhalten in der Regel das Vorzeigen der beinhalteten Einzeltechniken, wie beispielsweise einem beidseitigen Armstreckhebel im Stand. Anschließend reproduzieren die Trainierenden das Gesehene am passiv-kooperativen Partner. Widerstand gegen die Festnahmetechniken ist in der Trainingskonzeption zumeist nicht vorgesehen, aber nicht selten von Trainierenden aus Neugier selbst induziert. Dabei wird fast immer ab dem Moment Widerstand geleistet, ab dem bereits alle Ausführungsmerkmale einer Technik ausgeführt worden sind. Somit wird aus statischer Position getestet, ob die Technik bei bestmöglicher Applikation gegen Widerstände bestehen kann. In späterer Folge werden die Techniken dann meist in schneller, teilweise auch wechselnder Folge und Ausführung „eingeschliffen“. Nicht selten wird dabei als Trainingsziel angesehen, die Technikfolge in ein „Muskelgedächtnis“ übertragen zu wollen. Der Fokus liegt hierbei eindeutig auf dem Vermitteln von technischen Details und dem Annähern an eine idealisierte Applikation der vom Trainer vorgezeigten Technik. Nonlineare Trainingsform – „nachher“ In Hessen hat sich im Studium eine adaptierte Version der bayrischen „Taktischen Kon trolle und Festnahme“ (TKF) etabliert. Hierbei bleiben gewisse „Wegpunkte“12 der bayrischen Variante erhalten, der Weg dorthin ist jedoch freier gehalten. Konkret bedeutet dies weiterhin die Unterteilung des Körpers in Aufgabengebiete (Oberkörper bzw. „Kopf“ und Unterkörper bzw. „Beine“), möglichst geringe und wenn nur kurzzeitige Belastung des Brustkorbes, das bevorzugte Einnehmen der Seitlage und das Ergreifen des obenliegenden Armes mit den eigenen Armen („2 on 1“ bzw. „Kimura“ oder „Figure 4“) zum Zweck der Kontrolle und Drehung des Festzunehmenden. Abweichungen sind dabei jedoch je nach konkreter Situation möglich und werden, so sie den Vorgaben bezüglich Verhältnismäßigkeit und Gefährdung genügen, ebenso positiv aufgenommen. Es kann dabei zweckmäßig sein, insbesondere zu Beginn Ausgangs- und Zielpositionen („Wegpunkte“) entsprechend diesem Konzept festzulegen und diese somit auch für die Studierenden als vorteilhaft er Im Sinne definierter Positionen. „Wegpunkte“ können dabei grundsätzlich übersprungen werden, wenn am nächsten eingenommenen „Wegpunkt“ alle wichtigen Positionsmerkmale eingenommen werden können. Ist das nicht der Fall, wird der Rückgang auf vorherige „Wegpunkte“ empfohlen. Diese „Wegpunkte“ sollen Orientierung in einer chaotischen Festnahmesituation geben und dem Anwender die Bestimmung der eigenen Position im Handlungskomplex erleichtern. 12
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fahrbar zu machen. In vorbereitenden Settings können auch spezielle Techniken, wie den „Kimura“, erfahrbar gemacht werden. Eine Form nonlinearen Trainings ist dabei „Die Nacht der Creeps“.13 Im grundlegenden Setting wird eine bestimmte Anzahl an Festzunehmenden („Creeps“) benötigt und eine mindestens doppelt so große Zahl an Trainierenden („Polizeibeamten“). In frühen Settings kann es sinnvoll sein, das Verhältnis noch stärker in Richtung der Polizeibeamten zu verschieben. Dadurch wird das Ziel leichter erreichbar, die Trainierenden haben aber auch mehr Möglichkeiten, auch koordinierende Aufgaben für sich zu entdecken und Erfahrungen dahin gehend zu machen, dass zusätzliche Kräfte während einer Festnahme nicht zwingend vorteilhaft sein müssen und per se nicht beliebig steigerbar sind. Ziel der Trainierenden ist es, die Festzunehmenden in eine bestimmte Position, zumeist die Fesselungsposition, zu bringen. In Varianten können hier auch bereits Handfesseln und/ oder bestimmte Verbringungsräume eingebracht werden. Mit Erreichen eines der jeweils festgelegten Ziele „verwandelt“ sich der „Creep“ in einen „Polizeibeamten“, wechselt also das Team. Dies bedingt, dass Festnahmen von körperlich starken „Creeps“ immer mit einer überlegenen Zahl an Polizeibeamten erfolgen können, sich also hier das Ziel von körperlich unterlegenen Trainierenden zeitweise lediglich auf das Halten der eingenommenen Position beschränkt und hier auch Erfolgserlebnisse in körperlich ungünstigen Konstellationen generiert werden können. Zudem lernen die Trainierenden, dass Erfolg auch das Anpassen des Zieles an die jeweiligen Gegebenheiten bedingt und somit die Frage, ob eine Maßnahme erfolgreich sein kann, stets eine möglichst gute Selbstund Fremdeinschätzung voraussetzt. Grundsätzlich sind die Wege, dieses Ziel zu erreichen, den Trainierenden freigestellt, jedoch durch die Beschränkung auf Mittel, die dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen müssen, eingegrenzt. Zudem lässt sich das Verhalten der Trainierenden durch Variablen in der Ausgangsposition, der Zielposition oder den Siegbedingungen der „Creeps“ beeinflussen. Grundsätzliche Siegbedingung der „Creeps“ ist es, alle „Polizeibeamte“ in „Creeps“ zu verwandeln. Wie genau dies geschehen kann, ist variabel. Eine Variante kann das Antippen an der Stirn und/oder der Wange sein, eine andere die Umklammerung oder auch das Verbringen in einen bestimmten Bereich. Unter Umständen kann es sinnvoll sein, den so „Umgewandelten“ eine kurze Zwischenaufgabe zuzuweisen, bevor sie als „Creeps“ erneut teilnehmen dürfen, um das Spiel weniger dynamisch und chaotisch zu gestalten. In Abhängigkeit der individuellen Leistungsfähigkeit der jeweils trainierenden Gruppen kann so Der Name ist dem gleichnamigen Film von 1986 entlehnt. In diesem verwandeln außerirdische Wesen Menschen in „Creeps“, indem sie in die Mundhöhle eindringen. Der Bezug zur Trainingsform ist gering, der Name resultiert aus der Entwicklungsphase der Trainingsform. Allerdings hat der fehlende Polizei- und Realitätsbezug des Namens den positiven Effekt, dass die Settings sich rein am Trainingsziel orientieren können und somit variabler werden. Zudem vermeidet das offenkundig nicht real basierte Setting die Bildung von Stereotypen und verhindert Stigmatisierungen. Die ursprüngliche Idee gaben Schulsportspiele der Mittelstufe. Der Name wurde beibehalten, da die Trainingsform aufgrund ihrer Vielfältigkeit semesterübergreifend immer wieder verwendet werden kann und den Trainierenden grundlegende Regeln anhand des Namens bereits geläufig sind. 13
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von sehr statischen Varianten, bei denen sich die „Creeps“ bereits in der Seitlage befinden und lediglich noch gehalten oder gedreht werden müssen, bis hin zu dynamischeren Varianten, die im Stehen mit den Trainierenden als solche und in ihrer Anzahl unbekannten „Creeps“ beginnen und erst mit Anlegen der Handfessel enden, ein sehr breites Spektrum abgedeckt werden. Für den Trainer ergeben sich aus dem Verhalten der Trainierenden dabei häufig wertvolle Rückschlüsse auf deren spezifisches Leistungsvermögen, aber auch auf deren persönliche Aufgabenpräferenzen. Bei leistungsschwächeren Gruppen kann zudem eine Sicherheitszone eingeführt werden, die die „Creeps“ nicht selbst betreten dürfen und, sollten sie hineingezogen werden, schnellstmöglich wieder verlassen müssen. Ebenso kann hier mit der „Fingerpistole“ ein Mittel geschaffen werden, das Setting zu vereinfachen. „Creeps“ dürfen einen Abstand von zwei Metern dann nicht unterschreiten, wenn mit der „Fingerpistole“ auf sie gezeigt wird. Die Trainingsform bietet neben einem Umfeld, in dem konkret angebotene Lösungsmöglichkeiten ausprobiert werden können, auch mannigfaltig Möglichkeiten der Entscheidungsfindung innerhalb eines bestehenden und allen unmittelbaren Partnern bekannten Konzeptes. Zudem ist es den Trainierenden überlassen, sich so organisieren, dass mögliche Problemfelder (z. B. ein sich befreiender „Creep“, eine „Umwandlung“, aber auch Probleme bei der Festnahme) selbst erkannt und ad hoc im Team Lösungen gefunden werden können. Das Erleben eigener Fähigkeiten vor dem Hintergrund objektiven erfolgsorientierten Feedbacks zu verschiedenartigen Lösungs- und Partizipationsmöglichkeiten scheint dabei ein wesentlicher Faktor zu sein, innerhalb einer Trainingsform eine hohe Binnendifferenzierung zu schaffen und so einem möglichst breiten Spektrum an Trainierenden möglichst gute Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten.
ergleich und Diskussion V Herkömmliches Training im Bereich Festnahme sieht meist rein repetitives Training der Techniken vor, manchmal verbunden mit zumeist sehr geringem Widerstand. Dabei sind häufig die Techniken an sich vorgegeben, die Abfolge steht fest, teilweise werden auch Wechsel in der Chronologie vollzogen. Das dabei häufig angenommene „Muskelgedächtnis“ existiert in der Form nicht (Vickers 2011). Das Anstreben einer Automatisierung im Rahmen eines massiven Grundrechtseingriffes erscheint zudem fragwürdig. Das größte Manko aus Sicht der Autoren aber ist, dass der Festzunehmende keinen eigenen ernsthaften Antrieb hat, die Festnahme zu verhindern oder sich gar zu befreien. Im Gegenteil spielt häufig der Gedanke, ein guter Trainingspartner/Situationsdarsteller sein zu wollen, eine wichtige Rolle und führt nicht selten zu falsch positiven Feedbacks. Das Feedback für die Trainierenden besteht dann häufig aus optischen Korrekturen des Trainers. In der Trainingsform „Nacht der Creeps“ spielt es eine wesentliche Rolle, dass der Festzunehmende („Creep“) ein fundamentales Interesse daran hat, sich aus der Festnahme zu befreien. Er wird aufgrund der Gamification und des innewohnenden Spielprinzips mit allen ihm zur Verfügung stehenden, regelkonformen Mitteln versuchen, sich zu befreien und anschließend andere Festnahmen zu unterbinden. Die Trainierenden erhalten folglich ein wertiges Feedback. Die Möglichkeit eines falsch negativen Feedbacks ist grundsätz-
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lich in bestimmten Konstellationen gegeben, durch die mannigfaltigen Möglichkeiten spielt dies in der Praxis jedoch kaum eine Rolle. Vielmehr kann hier häufig eine Verbesserung der Selbsteinschätzung aufgrund des Kennenlernens der eigenen Fähigkeiten der Trainierenden und in der Folge eine Adaption der Aufgabenverteilungen im Team beobachtet werden. Die Autoren beobachteten seit Einführung dieser Trainingsform unterschiedlichste positive Effekte. So wurden neben der Verbesserung der konkreten Festnahmefähigkeiten auch Effekte auf Übersicht, Koordination und Kommunikation der Trainierenden beobachtet. Zudem machten die Trainierenden auch Erfahrungen dahin gehend, ob sie persönlich eine exekutive oder koordinative Tätigkeit präferierten. Dem linearen Ziel einer „Automatisierung“ steht demzufolge das permanente (Neu-)Beurteilen der Lage und darauf basierendes Treffen neuer Entscheidungen gegenüber. Letzteres ist zweifelsohne näher an den Erfordernissen professionellen polizeilichen Handels, Untersuchungen zufolge aber auch näher an dem, was erfolgreiche Sportler im Wettkampf tun (Ericsson 2003). Auch hier fanden vergleichende Trainings statt. In einem Mannschaftswettkampf sollte dabei abwechselnd je eine Person aus der einen Mannschaft von einem frei wählbaren Streifenteam der anderen Mannschaft in einer Zeitbegrenzung festgenommen werden. Dabei erhielt das Streifenteam Punkte für das erfolgreiche Verbringen der Person in entweder die Fesselungsposition oder in die eigene Teambase. Die festzunehmende Person hingegen durfte ab der ersten Berührung passiven Widerstand leisten und erhielt Punkte, wenn sie entweder die Festnahme bis zum Ablauf der Zeit verhindern konnte oder es gelang, in die eigene Teambase zu fliehen. Dabei durfte kein Kontakt mehr zum Streifenteam bestehen. Als diese Übungsform im Zuge der Umstrukturierung im Herbst 2018 eingeführt wurde, beobachteten die Autoren eine deutliche Diskrepanz zwischen den Semestern. In Klassen des dritten Semesters gelang es durchschnittlich lediglich drei Teams, das Gegenüber zu Boden zu bringen und dort zumindest zu kontrollieren. Im Schnitt einem Team gelang es pro Klasse, auch die gewünschte Fesselungsposition herbeizuführen. Spätere Drittsemester, die bereits erste Veränderungen in der Trainingsmethodik durchlaufen hatten, waren häufiger in der Lage, die Person zumindest bis Zeitablauf am Boden zu fixieren. Zwei bis drei Teams waren zudem in der Lage, die erforderliche Fesselungsposition herbeizuführen und die Übungsanforderung zu erfüllen. Ähnliche Feststellungen konnten im Verlaufe der Semester mit der Übungskonzeption „Die Nacht der Creeps“ gemacht werden. Hier muss der Schwierigkeitsgrad zunehmend angepasst werden, da die Trainierenden die Settings schneller beherrschen. Es scheint im Bereich der Festnahmekompetenzen einen merklichen Leistungsunterschied im Vergleich zu höheren Semestern zu geben. Auch die Anforderungen an die Trainer scheinen in den jüngeren Semestern höher zu sein. So müssen bestimmte Trainingsformen zunehmend früher im Semester eingesetzt werden, um die Trainierenden gleichbleibend vor Probleme zu stellen. Hier sind die Anforderungen an die Kreativität der Trainer im fortlaufenden Semester merklich gestiegen.
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Thesen 1. Auch in grundsätzlich standardisierten Abläufen ist im jeweiligen Aufgabenbereich individuelle Freiheit möglich und sollte zugelassen werden. 2. Gerade im Einzeldienst dürfte der Grad an von allen Agierenden ausreichend verinnerlichten („automatisierten“) Abläufen nicht annähernd mit dem in geschlossenen Einheiten oder gar Spezialeinheiten vergleichbar sein. Hier erscheint es sinnvoller, konzeptionell vorzugehen und Aufgabenbereiche zuzuweisen, die mit individuellen Lösungen bearbeitbar sind. 3. Ständiges flexibles Neubewerten der Lage und darauf aufbauend schnelles Treffen und Anpassen von Entscheidungen ist professionellem polizeilichen Handeln auch in standardisierten Festnahmesituationen näher und erscheint sinnvoller als „automatisierte“ Abläufe.
4
Beobachtungen
4.1
Kreativität und Fehlerkultur
Im Rahmen der Veränderungen kommen den Beobachtungen der Trainer große Bedeutung zu. Dies ist in mehreren Hinsichten problematisch – einerseits handelt es sich naturgemäß immer um subjektive Eindrücke, die sich je nach Haltung des Beobachters zum Beobachteten fundamental unterscheiden können, und andererseits ist auch hier das Problem der Bewertung des Beobachteten im Sinne der Erreichung des Trainingsziels immanent. Angesichts der jeweils zugrunde liegenden Trainingspädagogik verwundert es jedoch nicht, dass eine häufige Beobachtung der Autoren ist, dass Trainierende, die stark nonlinear unterrichtet wurden, ein deutlich höheres Maß an Eigenverantwortung übernehmen, mehr Kreativität in der Lösung von Problemen aufweisen und eine positivere Fehlerkultur zeigen als Trainierende, die stärker linear unterrichtet wurden. Ob diese Beobachtungen zutreffend sind, müsste gleichwohl wissenschaftlich validiert werden, als Erfahrungsbericht der Autoren sind sie dennoch beachtlich. So scheinen Trainierende, die stark linear unterrichtet wurden, dazu zu neigen, Hemmungen zu entwickeln, Fehler zu begehen und in Szenarien zu scheitern. Im Rahmen des ersten Trainings einer Fahrzeugkontrolle beispielsweise wurde Studierenden des 2. Semesters folgendes Szenario auferlegt; „Sie sind die Streife X 1/1 und befinden sich auf Streife im Stadtgebiet X. Hierbei ist Ihnen das Fahrzeug Y aufgefallen. Sie entschließen sich zu einer Kontrolle nach § 36 Abs. 5 StVO.“ Weitere Informationen wurden nicht gegeben. Bereits beim Herantreten an das Fahrzeug erschienen die Trainierenden gehemmt, suchten mehrfach Blickkontakt mit den Trainern und schienen Hinweise zu suchen, ob die Art der Annäherung durch die Trainer positiv oder negativ aufgenommen wird. Im weiteren Verlauf verstärkte sich die Unsicherheit zunehmend. Im Nachgang dazu befragt, äußerten die Trainierenden, dass sie unsicher gewesen seien, was die Trainer von ihnen verlangten. Die Antwort, dass eine Kontrolle gem. § 36 Abs. 5 StVO durchzuführen sei,
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bewerteten sie als nicht ausreichend und gaben an, sich weitere Informationen hinsichtlich des Trainingsziels zu wünschen. Daneben gaben die Trainierenden auffallend oft an, es herrsche eine Diskrepanz zwischen ihrem Handeln im Einsatztraining und ihrem Handeln in einer Realsituation. Im Gegensatz dazu zeigten Studierende des 1. Semesters, bei denen im Rahmen der Kontaktbeschränkungen während der Corona-Pandemie erste Fahrzeugkontrollen unterrichtet und die im Einsatztraining ausschließlich nonlinear unterrichtet wurden, größere Kreativität und weniger Hemmungen. Sie schienen sich weit weniger Gedanken darüber zu machen, was die Einsatztrainer von ihnen erwarten könnten, und waren deutlich stärker an einer eigenständigen Lösung des gegebenen Auftrages interessiert. Scheitern, auch in „Worst Cases“, schien in den Trainierenden eher den Wunsch nach einem weiteren Durchgang hervorzurufen und in keinem Fall konnte Resignation unter den Studierenden festgestellt werden.
4.2
Retrospektive Betrachtung
Natürlich sind die Autoren nicht ohne Bedenken an die Umgestaltung ihres Trainings gegangen, sind sie doch selbst anders unterrichtet worden, verfügen beide über langjährige Erfahrungen in der „klassisch-linearen“ Unterrichtsweise und schätzten die Qualität des genossenen und gegebenen Unterrichts als hoch ein. Retrospektiv betrachtet ist bereits diese Haltung innovationsfeindlich, da es keinen plausiblen Grund gibt, bei hoher Unterrichtsqualität ohne Not Veränderungen durchzuführen, bei denen kaum abzuschätzen ist, in welche Richtung die Trainierenden sich in der Folge entwickeln werden. Vielmehr empfanden die Autoren es auch gegenüber den Trainierenden als unfair, mit ihrer Entwicklung zu experimentieren, und nachgerade als gefährlich, sollten diese dienstlich nicht die Anforderungen erfüllen. Auch herrschte eine enorme Skepsis, ob tatsächlich auf die Vermittlung von „Grundlagen“ verzichtet werden kann. Vielmehr waren die Autoren der festen Überzeugung, dass zunächst Grundlagen vermittelt werden müssen, um darauf aufbauend freieres Training gestalten zu können. Hierüber führten die Autoren untereinander, aber auch mit vielen anderen Einsatz- und Kampfsporttrainern ausgiebige Diskussionen, an deren Ende festzustellen bleibt, dass überhaupt keine Einigkeit darüber zu herrschen scheint, was aus welchen Gründen als „Grundlage“ zu bewerten ist. Hier wurden auch diverse Curricula zurate gezogen, in deren Gesamtschau sich ein ähnliches Bild zeigte. Das Wenige, das als grundlegend identifiziert werden konnte, ist zumeist so profan, dass selbst Trainierende ohne Vorerfahrung es häufig bereits intuitiv tun. Aktuell verzichten die Autoren aus Gründen der Ökonomie und der Motivation darauf, diese Grundlagen gruppenweise zu lehren, sondern beschränken sich auf die wenigen Fälle, in denen einzelne Trainierende diese Grundlagen nicht bereits intuitiv zeigen. Real wird dies zumeist bereits durch die Erfahrung der Trainierenden in der Gruppe reguliert. Hier hat sich als ein gutes Tool erwiesen, den Trainierenden während früher Anwendungsformen 15 bis maximal 30 Sekun-
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den Zeit zu geben, sich gegenseitig ein kurzes verbales Feedback zu geben. Längeres Feedback kann erfahrungsgemäß durch das Gros der Studierenden nicht unmittelbar verarbeitet und in der folgenden Anwendung ausprobiert werden. Mit diesem Tool wird ein Schattenboxen mit Partner als Aufwärmen oder Vorbereitung auf das eigentliche Sparring wertiger als reines Schattenboxen. Ein weiterer Punkt, der zu Beginn häufig Veränderungen blockierte, war die Befürchtung, dass deutlich mehr Zeit benötigt werde, da sich die Trainierenden ihre Lerninhalte selbst erschließen sollen. Dies schien sich in ersten Versuchen auch zu bestätigen. Der Eindruck relativiert sich allerdings sehr schnell, wenn man zwischen geäußertem und vermitteltem Wissen unterscheidet. Natürlich kann ein Trainer deutlich schneller Wissen äußern, als Trainierende es sich selbst erschließen, es ist dabei jedoch fraglich, ob dieses Wissen dadurch vermittelt, also von den Trainierenden aufgenommen wurde. Hier gibt es gute Gründe anzunehmen, dass dieser „Wirkungsgrad“ bei selbst erschlossenem Wissen deutlich höher liegt. Ferner ist es aus retrospektiver Sicht der Autoren ein Fehler anzunehmen, als Trainer keine Lösungsmöglichkeiten aufzeigen zu dürfen, wenn Trainierende sich ihr Wissen selbst erschließen sollen. Wichtiger als das Erschließen eigener Lösungen scheint nach Erfahrung der Autoren das Identifizieren des Problems zu sein. Natürlich mag es aus motivationspsychologischer Sicht besser sein, wenn Trainierende ihre Lösung selbst finden. Dieses Finden kann aber durchaus auch im Probieren gezeigter Lösungsmöglichkeiten liegen. Wenn also ein Trainierender auch nach einigem Probieren nicht in angemessener Zeit auf eine Lösung kommt, sind natürlich Hilfestellungen zu geben. In der Erfahrung der Autoren ist eine suggestive Befragung aber allenfalls kurzzeitig ein sinnvolles Instrument. Wird auch dann keine eigene Lösung gefunden, spricht nichts dagegen, ein Lösungsangebot seitens der Trainer zu unterbreiten. Dabei darf auch gerne auf eigene Präferenzen eingegangen werden, ein „Ranking“ sollte aber unterbleiben. Das bedeutet auch, dass das Verwerfen der von Trainerseite präferierten Lösung durch Trainierende zu akzeptieren ist. Es konnte oft beobachtet werden, dass Trainierende die ihnen an die Hand gegebene Lösungsmöglichkeit kritisch überprüften und modifizierten oder es ihnen durch die erhaltene Lösungsmöglichkeit gelang, das Problem zu identifizieren und anschließend eigene Lösungen zu entwickeln. Schwieriger wurde es, verstärkt kommunikative Lösungen zu implementieren, da diese per se objektiv kaum bewertbar sind. Gleichwohl hat sich auch hier gezeigt, dass bereits die Erstsemester über eine große Bandbreite kommunikativer Lösungsstrategien für Konflikte verfügen, diese aber im Einsatztraining häufig nicht in Betracht ziehen. Hier scheint die Vorstellung vorzuherrschen, dass Einsatztraining eine Form des Zwangs beinhalten muss. Die Autoren begannen bereits 2017 mit ersten Kommunikationsszenarien im ersten Semester. Gemeinhin handelt es sich dabei um einen Anruf einer Mitteilerin, die angibt, ihr Ex-Freund klingele beständig an ihrer Tür und wolle auch nach Aufforderung die Örtlichkeit nicht verlassen. Dabei war der mutmaßliche Ex-Freund den Studierenden bekannt, wodurch eine Identitätsfeststellung obsolet wurde und es rein darum ging, den Sachverhalt festzustellen und darauf aufbauend eine Lösung zu finden. Wurde der mutmaßliche Ex-
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Freund zur Situation befragt, so sollte er angeben, nichts von einer Trennung zu wissen, sondern lediglich eine Nachricht via Mobiltelefon von der Mitteilerin erhalten zu haben, in der sie ihm erklärte, sie wolle ihn nicht mehr sehen. Er wolle nun die Gründe erfragen. Der Situationsdarsteller wurde jeweils angewiesen, so zu reagieren, wie er es in einer vergleichbaren echten Situation ebenfalls tun würde. Hier ließen sich neben unterschiedlichsten kommunikativen Lösungsstrategien, von autoritär bis empathisch, vor allem zwei Dinge feststellen: Die Studierenden nahmen einerseits an, es werde von ihnen erwartet, autoritär aufzutreten, da sie so ihre Rolle als Polizeibeamte begriffen.Andererseits glaubten sie zumeist nicht, dass die Situation im Einsatztraining überhaupt kommunikativ lösbar sei. Vielmehr nahmen sie an, Formen des Zwangs anwenden zu müssen. In vielen Fällen erwies sich – neben dem Verhalten des Situationsdarstellers – die Fremd- und Selbstbeobachtung als gutes Feedbackmittel. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass uniforme Methoden wenig geeignet sind, der Individualität der Trainierenden, aber auch der zwar im Mittel ausgleichenden, aber nicht weniger einmaligen Zusammensetzung von Trainingsgruppen Rechnung zu tragen. Die Effekte werden im Mittel gering bleiben, da Trainierende einerseits über- und andererseits unterfordert werden. Nur in Ausnahmefällen und vor allem rein zufällig wird der „Trainingsbereich“ erreicht, bei dem Trainierende Probleme mit den eigenen Ressourcen gerade so eben lösen oder gerade so eben nicht lösen können. Die Trainierenden aber zielgerichtet und zuverlässig in diesen Bereich zu bringen ist Aufgabe jeden guten Trainings. Die Aufgabe der Trainingsleitenden ist dabei zunehmend weniger fest strukturiert, die Anforderungen aber gleichsam höher. Sind es in der Summe doch nunmehr Problem- bzw. Aufgabenstellungen mit einer sehr unterschiedlichen Bearbeitung durch die Trainierenden, die nun Anwendung finden. Die Aufgabe ist dadurch das Beobachten der Trainierenden und das Erkennen von Fähigkeiten, Schwächen und Problemen und darauf aufbauend Anpassung im Setting und Leisten von Hilfestellungen für Trainierende, die ein vorhandenes Problem nicht mit eigenen Ressourcen lösen können. Somit rückt die Rolle der Trainingsleitenden nur scheinbar in den Hintergrund, sie ist in der Förderung der individuellen Leistungs- und Entwicklungsstände jedoch sehr präsent.
5
Ableitungen und Handlungsempfehlungen
5.1
Chancen und Gefahren
Die Chancen sind aus Sicht der Autoren groß. Insgesamt konnten während des Zeitraumes der Umgestaltung viele positive Effekte beobachtet werden, die sich nicht zuletzt auch in Bereichen wie Kommunikation und Koordination im Team zeigten. Gleichermaßen beobachteten die Autoren auch an sich selbst tiefgreifende Veränderungen und begreifen sich derzeit als aufgeschlossener gegenüber neuen Lösungen, kreativer im Schaffen neuer
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Trainingsformen und kompetenter im Erkennen individueller Probleme und Erarbeiten von Lösungsmöglichkeiten. Gefahren sehen sie grundsätzlich keine, da natürlich in Bereichen, in denen sich keine bessere Alternative findet, auch weiterhin „klassisch“ linear unterrichtet werden kann. Während des Prozesses hat sich aber auch gezeigt, dass einzelne nicht funktionierende Trainingsformen kaum negative Auswirkungen auf die Gesamtleistung der Trainierenden haben. Es ist vielmehr unangenehm, eine solche Trainingsform als gescheitert anzuerkennen und im laufenden Training gegebenenfalls abbrechen zu müssen. Vor dem Hintergrund, dass viele Trainingsformen gruppenspezifisch von sehr guten bis sehr geringen Effekten variieren können, ist dies ein Problem, dem sich aus Sicht der Autoren Einsatztrainer aber ohnehin stellen müssen und mit dem mit ein wenig Übung und auch der gebotenen Aufrichtigkeit gegenüber den Trainierenden umgegangen werden kann. Dabei scheint wichtig anzuerkennen, dass ein Scheitern einer Trainingsform nicht zwingend „Schuld“ der Beteiligten bedingt, sondern dass hier in der Regel falsche Annahmen in der Zielgruppenanalyse vorliegen. Die ist aber derart komplex, dass nicht vorausgesetzt werden kann, dass im Vorfeld stets alle Faktoren ausreichend berücksichtigt werden können.
Für Entscheidende Bei der Auswahl geeigneter Einsatztrainer sollte unbedingt neben entsprechender Praxiserfahrung auf pädagogische Kenntnisse geachtet werden. Einsatztrainer sollten ermutigt und befähigt werden, Trainingsformen kritisch zu hinterfragen, und Veränderungsprozesse unterstützt werden. Dass dies auch die Gefahr einer negativen Entwicklung birgt, sollte in Kauf genommen und im Rahmen einer positiven Fehlerkultur aufgearbeitet werden. Daneben sollte bei der Auswahl der Einsatztrainer unbedingt auch auf die Zielgruppe geachtet werden. So kann ein Polizist mit langjähriger Erfahrung in Spezialeinheiten, aber ohne Einzeldiensterfahrung eine schlechte Wahl sein, wenn es darum geht, Nachwuchs auszubilden, der vordringlich im Einzeldienst verwendet werden soll. Andererseits kann ein Einsatztrainer ohne Erfahrung im Bereich der Spezialeinheiten auf die dort vorherrschenden spezifischen Bedürfnisse kaum eingehen. Es fehlt am notwendigen fachwissenschaftlichen Wissen. Hier sollte unbedingt darauf geachtet werden, dass der Einsatztrainer dasjenige Aufgabengebiet und seine Erfordernisse, für welches er trainiert, auch aus eigener Erfahrung kennt. Gleichwohl kann der fachdidaktische und pädagogische Austausch fachwissenschaftlich unterschiedlicher Einsatztrainer sehr positive Effekte haben. Dieser sollte unbedingt gefördert werden. Die Einführung standardisierter Trainingsformen sollte kritisch hinterfragt werden, da diese eine generelle Zielgruppenanalyse voraussetzt, welche ihrerseits der Individualität der Trainierenden nur selten Rechnung trägt. Ferner unterbinden vorgegebene standardisierte Trainingsformen den kreativen Gestaltungsprozess fähiger Einsatztrainier und können in der Folge die kreativen Gestaltungsfähigkeiten negativ beeinflussen. Eine dauerhafte Unterforderung in diesem Bereich kann in der Folge zu einem Abfall der Leistungsfähigkeit bis hin zum „Bore-out-Syndrom“ führen (Scherenberg 2014).
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Für Einsatzkräfte Einsatzkräfte sollten Einsatztrainern auch retrospektiv Rückmeldungen geben, ob das Einsatztraining sie auf ihr (zukünftiges) Aufgabengebiet und dessen Erfordernisse vorbereitet bzw. unterstützt hat. Ein diesbezüglicher Austausch ist anzustreben. Dabei sollten sie aber auch berücksichtigen, dass nicht jeder pädagogische Ansatz für sie ohne Weiteres als solcher erkennbar ist, diesbezügliche Bewertungen kritisch betrachten und Trainer fragen, warum Training auf die jeweilige Weise angewendet wird. Für Einsatztrainer Die wohl wichtigste Fähigkeit eines Trainers ist aus Sicht der Autoren, kritisch zu hinterfragen, warum sie was genau tun, welches Ziel sie damit verfolgen und warum sie glauben, dass das jeweilige Training geeignet ist, das gesetzte Ziel zu erreichen. Aus Sicht der Autoren muss jede Trainingsform schlüssig begründet werden können. Diesbezüglich sollten Einsatztrainer offen für pädagogische und didaktische Fort- und Weiterbildungsangebote sein und diesbezüglich durchaus kreativ und experimentierfreudig sein. Vor jedem Training muss definiert werden, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit gestellte Probleme als gelöst im Sinne der Anwendungsumgebung gelten können. Werden diese Kriterien erfüllt, ist die Lösung zu akzeptieren. Können eventuelle Probleme einer Lösung in einem Training nicht mit entsprechendem Feedback erfahrbar gemacht werden, so kann ein Hinweis erfolgen. Feedbacks sollten aber immer Teil des Trainings sein, erfahrbar sein und nur in Ausnahmefällen verbal erfolgen. Ferner sollten Einsatztrainer offen sein für Anregungen seitens der Einsatzkräfte. Nur so kann ein Trainieren an den Erfordernissen der jeweiligen Zielgruppe erfolgen und Akzeptanz in der Zielgruppe erreicht werden.
6
Übungsbeispiele
Übungsbeispiel: Bingo Lernziel/Thema:
Selbstverteidigung, freie Auseinandersetzung in allen Distanzen, Einschätzen eigener und fremder Fähigkeiten und darauf aufbauend Erschließen von Erfolg versprechenden Taktiken und Strategien Gruppengröße min./ 2/unbegrenzt max.: Dauer min./max.: 1 Runde/unbegrenzt Dynamik: Hoch Verletzungsrisiko: Niedrig Übungsablauf: Die TN erhalten verschiedene Aufgaben, die es in variablen körperlichen Auseinandersetzungen zu erfüllen gilt. Dabei sind die zu erfüllenden Aufgaben stets diametral entgegengesetzt, sodass die Verhinderung der Abarbeitung einer Aufgabe des Partners stets auch bepunktet wird.
Die Implementierung nonlinearer Pädagogik in das Einsatztraining – Beschreibung … Grundlegende Regeln: Siegbedingungen: Variablen:
Idee:
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Alle Aktionen, die eine nachhaltige Verletzung des Partners zur Folge haben, sind immer unzulässig. Auf besonders hohe Unterschiede hinsichtlich Physis und Fähigkeiten ist Rücksicht zu nehmen. Alle Aufgaben erfüllt oder die meisten Aufgaben nach Ablauf der Zeit erfüllt. Die Bingoformen können in allen bekannten Kampfsportarten angewendet werden. Auch Selbstverteidigungslösungen und Einsatz von Führungs- und Einsatzmitteln können als Lösung implementiert werden. Ebenso kann ein oder mehrere unbekannte Partner implementiert werden. Gamification
Übungsbeispiel: Die Nacht der Creeps Lernziel/Thema:
Festnahme, Umfeldsicherung, Kommunikation im Team, Koordinierung Gruppengröße min./ 3/unbegrenzt max.: Dauer min./max.: 2 min./unbegrenzt Dynamik: Hoch Verletzungsrisiko: Niedrig Zusammensetzung: 2 Teams Grundlegende Regeln: Siegbedingungen Alle Polizisten in Creeps Creeps: verwandelt. Regeln Creeps: Verwandlung in Polizisten durch: Dürfen nicht reden. Dürfen nicht schlagen. Siegbedingungen Alle Creeps in Polizisten Polizisten: verwandelt. Regeln Polizisten: Verwandlung in Creeps durch: Müssen Verhältnismäßigkeit beachten (keine Schläge!). Variablen: Verwandlung der Polizistin durch
Verwandlung der Creeps durch
TKF, Kommunikation, ELO- Koordination
Creeps/Polizisten
Siehe Variablen
Siehe Variablen
Tippen an Stirn Tippen an Wange oder Stirn Umklammerung Fesselungsposition (liegend/stehend) Seitlage, wenn oberer Arm im Kimura gefangen Verbringen in einen bestimmten Bereich
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870 Startbedingungen
Bestimmen von
Verwandlungshindernis
Handicap für Creeps:
Bewaffnung für Polizisten:
Zu beachten:
Idee:
Stehend ohne Kontakt Stehend mit Kontakt Krabbelnd mit Kontakt Krabbelnd ohne Kontakt Liegend mit Kontakt Liegend ohne Kontakt Unbekannte Creeps Unbekannte Anzahl an Creeps ELO Sicherheitszonen (Creeps dürfen nicht betreten, müssen schnellstmöglich daraus fliehen) Verbringungszonen (Creeps können nicht raus/Verwandeln sich dort in Polizisten) z. B.: Polizisten müssen nach der Verwandlung in einen Creep zunächst eine Aufgabe erfüllen (Wand abschlagen etc.), bevor sie als Creep weitermachen können. Dürfen nur krabbeln/kriechen. Dürfen nicht rennen. Dürfen nur einen Arm benutzen. Fingerpistole (Creeps müssen 2 Meter Abstand zum auf sie zeigenden Finger halten), Fingertaser (Creeps 2 Sekunden bewegungsunfähig, wenn Finger auf sie zeigt. Schüsse limitieren)
Je nach Gruppe ggf. Verletzungsgefahren durch Variablen minimieren (Kimuraposition statt Fesselungsposition) Frühzeitig abbrechen, wenn Zahl der Creeps Kipppunkt erreicht. Creeps zum Sieger erklären. Beispiele aus dem Sportunterricht der Mittelstufe, Gamification
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Umgang mit psychisch auffälligen Personen – Reflexion der Trainingskonzeption und Handlungsroutinen innerhalb des Einsatztrainings der Polizei NRW Maximilian Haendschke
Inhaltsverzeichnis 1 Zur Aktualität der Thematik im täglichen Dienst 874 2 Rahmenbedingungen des ET NRW für den Umgang mit psychisch auffälligen Personen 875 3 Zur Phänomenologie psychisch auffälliger Personen im polizeilichen Einsatzkontext 881 4 Handlungsansätze und Potenzialanalyse 886 Literatur 888
Zusammenfassung
Der Umgang mit psychisch auffälligen Personen stellt die Polizeivollzugsbeamt*innen des Landes Nordrhein-Westfalen im täglichen Dienst immer wieder vor Herausforderungen. Regelmäßig muss die Polizei eingreifen, wenn Kräfte medizinischer Institutionen oder Angehörige von psychisch erkrankten oder gestörten Personen auf nicht lösbares Konfliktpotenzial treffen. Die Situation kann aus polizeilicher Sicht oft nur durch den Einsatz unmittelbaren Zwangs beendet werden, überproportional häufig in Form des Schusswaffengebrauchs. Daher widmet sich die folgende Abhandlung der Frage, wie Polizeivollzugsbeamt*innen im Rahmen des Einsatztrainings NRW (ET NRW) auf den Umgang mit psychisch auffälligen Personen vorbereitet werden (können) und inwiefern wissenschaftliche Befunde Ansatzpunkte für eine Optimierung der Trainingsroutinen liefern können. Reviewer*innen: Uwe Füllgrabe, Andrea Reinartz, Linus Wittmann M. Haendschke (*) Niederkassel, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_46
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1
M. Haendschke
Zur Aktualität der Thematik im täglichen Dienst
Zum polizeilichen Alltag im Wach- und Wechseldienst1 der Polizei NRW gehört regelmäßig auch der Umgang mit Personen, deren Verhalten als psychisch krank, psychisch gestört oder psychisch auffällig beschrieben wird (Schönstedt 2016).2 Einsatzsituationen, in denen mit psychischen Auffälligkeiten umgegangen werden muss, stellen die Polizeivollzugsbeamt*innen (PVB) immer wieder vor Herausforderungen und Probleme. Denn die Polizei wird oft erst dann dazugerufen, wenn die bzw. der Erkrankte andere Personen, wie z. B. medizinisches Personal oder Angehörige, vor nicht lösbares Konfliktpotenzial stellt (Schmalzl 2012). Dabei sind PVB für den Umgang mit psychisch auffälligen Personen nicht speziell ausgebildet und können, je nach Eskalationspotenzial, die Situation nur durch Zwangsanwendung bewältigen. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung wird gegen psychisch auffällige Personen überproportional häufig von der Schusswaffe Gebrauch gemacht (Diederichs 2015; DGPPN 2018). Daher richtet sich in der öffentlichen und medialen Diskussion der Fokus immer wieder auf die Erforderlichkeit des Schusswaffengebrauchs gegen Personen mit psychischen Auffälligkeiten (Diederichs 2015; Peter 2017). Auch aus polizeilicher Perspektive stellt eine Eskalation bis zum Schusswaffengebrauch den für alle Beteiligten ungünstigsten Verlauf dar, besteht neben der erheblichen Verletzungs- bzw. Lebensgefahr für alle Beteiligten zudem ein erhöhtes Risiko für die eingesetzten PVB, ihrerseits psychische Folgeerscheinungen, wie z. B. posttraumatische Belastungsstörungen, davonzutragen (Latscha 2012; Wittmann und Groen 2020). Es gilt also im Interesse aller Beteiligten zu hinterfragen, wie PVB am Beispiel des Einsatztrainings in Nordrhein-Westfalen (ET NRW) auf den Umgang mit psychisch Auffälligen vorbereitet werden können. Befunde zur Phänomenologie psychischer Störungen bzw. Erkrankungen sowie zur Wahrnehmung dieser Personengruppe durch PVB im Einsatzkontext bilden die Rahmung für die Reflexion aktueller Trainingsroutinen und die Analyse spezifischer Deeskalationspotenziale.
Je nach Bundesland auch als „Streifendienst“, „Funkstreifendienst“ oder „Funkwagendienst“ bezeichnet. 2 Grundsätzlich wird nachfolgend der Begriff der psychischen Auffälligkeit verwendet, der sowohl psychische Erkrankungen als auch psychische Störungen umfasst und dem Umstand Rechnung trägt, dass Polizeivollzugsbeamt*innen Verhalten zwar als psychisch auffällig erkennen, aber im Regelfall ohne weitere personenbezogene Informationen keinerlei diagnostische Einordnung vornehmen können. In den Fällen, in denen die Begriffe psychischer Krankheit oder Störungen in Bezugswerken verwandt werden, wird die dort gewählte Bezeichnung zur besseren Nachvollziehbarkeit übernommen. 1
Umgang mit psychisch auffälligen Personen – Reflexion der Trainingskonzeption und …
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ahmenbedingungen des ET NRW für den Umgang mit R psychisch auffälligen Personen
Für die polizeiliche Trainingspraxis ist die Differenzierung zwischen psychischen Erkrankungen und psychischen Störungen als Ursache für psychisch auffälliges Verhalten zunächst zweitrangig (Meltzer 2015). Eine valide Diagnosestellung kann in Einsatzsituationen ohnehin rein fachlich nicht von PVB erwartet werden (Schmalzl 2012; Biedermann 2017; Wittmann und Groen 2020). Ob die Handlungen bzw. Symptome des Gegenübers auf ein dauerhaftes Krankheitsbild in Form einer psychischen Erkrankung oder auf temporäre Störungen z. B. aufgrund des Konsums von Betäubungsmitteln oder Alkohol zurückzuführen sind, kann oft erst im Nachhinein festgestellt werden. Dass psychische Auffälligkeiten wie Wahrnehmungsstörungen (z. B. Halluzinationen), Irrationalität oder wahnhaftes (psychotisches) Verhalten vorliegen, kann aber meist nach kurzer Zeit im Gespräch mit der Person festgestellt werden (Schmalzl 2012). Entscheidend für die polizeiliche Lagebewältigung und damit auch für Simulationen einsatznaher Szenarien (MIK NRW 2012) innerhalb des Einsatztrainings in NRW (ET NRW) ist, dass aus diesem Verhalten entstehende Gefahrensituationen antizipiert werden können und die handelnden PVB über flexible Reaktionsmuster zur Bewältigung der Situation verfügen. Dieser Annahme entsprechend findet im ET NRW keine detaillierte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen psycho-pathologischen Erscheinungsformen innerhalb polizeilicher Alltagslagen statt.3 Weder die Einsatztrainer*innen noch die Trainierenden verfügen über tiefergehende Fachkenntnisse in Bezug zur Phänomenologie von psychisch auffälligen Personen. Eine umfassende theoretische Befassung mit psychisch auffälligem Verhalten und dem Umgang im täglichen Dienst ist allerdings Teil des Bachelorstudiums im gehobenen Polizeivollzugsdienst. In der entsprechenden Modulbeschreibung der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung (HSPV NRW) heißt es bei der Formulierung von Kompetenzzielen im Teilmodul 1.3.1 des Hauptstudiums: „Die Studierenden sind in der Lage, (…) angemessene Verhaltensweisen und notwendige organisatorische Maßnahmen im Umgang mit psychisch auffälligen bzw. Kranken und hilflosen Personen zu differenzieren“ (HSPV NRW 2020, S. 61). Nach dem Studium durchlaufen die PVB, die im Wach- und Wechseldienst in NRW tätig sind, jährlich i. d. R. zwischen drei und fünf Tage Einsatztraining. Die entsprechende Erlassvorgabe beziffert den Zeitansatz auf 30 Stunden jährlich (MIK NRW 2012).4 Dieses Stundenkontingent beinhaltet auch die Trainingsanteile für das Schieß-/Nichtschießtrai3 Im Bereich von Amok- und Anschlagslagen wird mit Bezug zu besonderen einsatztaktischen Erfordernissen die Psyche der Täter insofern beleuchtet, als dass sie ein kausales Element für das potenziell drastische Schadensausmaß ist und insofern Berücksichtigung im taktischen Vorgehen zur Minimierung dieses Ausmaßes finden muss. Eine Betrachtung dieser sehr spezifischen Einzelfälle sowie der entsprechenden taktischen Konzepte kann in diesem Beitrag aufgrund des Umfangs keine Berücksichtigung finden. 4 Das Ministerium für Inneres und Kommunales NRW (MIK NRW) wird seit 2017 als Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen (IM NRW) bezeichnet.
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ning, Trainings mit dem Einsatzmehrzweckstock – ausziehbar (EMS-A) sowie taktische Einsatztrainingsmodule (ETM). Das ET NRW soll sich inhaltlich zudem an den Empfehlungen des Leitfadens 371 – Eigensicherung orientieren (Birr 2014). Dort wird u. a. auch der Hinweis auf besonders eigensicherungsrelevante, personengebundene Hinweise gegeben, zu denen auch die Attribute „psychisch krank“ und „suizidgefährdet“ gehören (Mentzel et al. 2003).5 Die Verhaltenshinweise zum Umgang mit diesen Personen sind sehr oberflächlich und knapp gehalten und als verallgemeinernde Gefahrenzuschreibung mit dem Problem der Stigmatisierung behaftet (siehe Kap. „Menschen mit psychischen Erkrankungen in Polizeieinsätzen – Besonderheiten und deren Bedeutung für die Praxis“). Darüber hinaus beinhalten die vom Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW (LAFP NRW) bereitgestellten Handbücher zum Einsatztraining6 die maßgeblichen methodischen und didaktischen Vorgaben zur Trainingskonzeption und Durchführung. Diese führen modulspezifisch die landeseinheitlichen Standards auf, welche in Qualitätssicherungsbögen (QSB) festgeschrieben sind und als Instrument der Lernzielkontrolle dienen (MIK NRW 2012). Zu jedem Trainingsmodul gibt es ein feststehendes Anforderungsprofil (festgehalten im QSB), welches die Qualitätskontrolle im Rahmen des Einsatztrainings, sprich die Überprüfung des Lern- bzw. Trainingserfolges, ermöglichen soll. Die Einsatztrainer*innen erarbeiten dazu eingangs mit den Teilnehmenden die einsatztaktischen und handhabungsbezogenen Zielsetzungen bzw. Idealvorstellungen, leiten Reproduktionszyklen an, während derer die Trainierenden individuell auf Verbesserungsbedarf hingewiesen werden (Coaching im Prozess). Schließlich mündet das segmentierte Training einzelner Handlungen in situativen Lagetrainings, die mehrere Handlungsebenen kombiniert abbilden (z. B. Kommunikation und Festnahmetechniken) und sich bis zu komplexen Übungsszenarien (z. B. Anschlagslagen) steigern lassen, die eine ganzheitliche Simulation bestimmter Einsatzanlässe darstellen. Für die Überführung der vorher trainierten Fähigkeiten und Handlungsabläufe in situativen Lagetrainings fungieren die Einsatztrainer*innen zeitgleich als Rollenspieler*innen. Der Umgang mit psychisch auffälligen Personen stellt aktuell keinen eigenen taktischen Schwerpunkt dar. Es existieren also weder ein spezifisches Manual noch ein eigens konzipiertes ETM. Dennoch bieten die vorhandenen Trainingsbausteine wie beispielsweise Einsatzkommunikation, Gefahrenwahrnehmung oder Distanzverhalten im Einsatzraum zahlreiche Anknüpfungspunkte und ermöglichen es den Einsatztrainer*innen, die Problematik nach eigenem Ermessen aufzugreifen bzw. im Kontext anderer ETM den Umgang mit psychisch auffälligen Personen zu thematisieren.
In der angegebenen Quelle wird Bezug auf die mittlerweile veraltete Fassung des LF 371 genommen, die noch die Formulierung „geisteskrank“ aufwies. Die inhaltlichen Rückschlüsse bleiben davon unberührt. 6 Diese werden auch als „Manuale“ bezeichnet. 5
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Einsatzkommunikation und Kommunikationshemmnisse im Kontakt mit psychisch Auffälligen Einsatzkommunikation ist sowohl auf eine möglichst deeskalierende Ansprache des polizeilichen Gegenübers (bei entsprechendem Konfliktpotenzial) als auch auf eine klare und strukturierte Informationsweitergabe zwischen den eingesetzten PVB ausgelegt (Hermanutz et al. 2012). Es gibt praktisch kein ETM, bei dem nicht auch Einsatzkommunikation eine Rolle spielt. Personen- bzw. Täteransprachen werden zunächst theoretisch im Plenum erarbeitet, wobei je nach Zielgruppe einzelnen Elementen besondere Bedeutung zukommt. Beispielhaft sei hier angeführt, dass sich PVB, die ihren Dienst in Zivil versehen, grundsätzlich umgehend als Angehörige der Polizei zu erkennen geben sollten, um sich gegenüber dem/der Gesprächspartner*in einerseits zu legitimieren und andererseits bei erforderlichen Folgemaßnahmen rechtlich abgesichert zu sein. Insbesondere beim Umgang mit psychisch Auffälligen sind auch für uniformierte Kräfte das verbale Identifizieren als Polizei und die Rolle als Helfer*in sinnvoll, um das Gegenüber möglicherweise dadurch beruhigen zu können („Wir sind von der Polizei, wir können Ihnen helfen.“) und die eigene Anwesenheit zu erklären. Klare und verständliche Ansprachen können auch bei psychisch kranken Personen zur Beruhigung und Deeskalation beitragen (Schönstedt 2016). Das Erzeugen von Druck (z. B. zum Befolgen von Anweisungen, zur Beantwortung von Fragen etc.) hingegen kann wahnhafte Bedrohungsempfindungen und Impulse zur körperlichen Gegenwehr aufseiten des Erkrankten provozieren (Hermanutz 2012). Auch die Überreizung durch zahlreiche Nachfragen oder die Gesprächsführung mit mehreren PVB erzeugt insbesondere bei schizophrenen Personen das Gefühl der Bedrängnis, auf das mit Aggressionen reagiert werden könnte (Füllgrabe 2011). Geäußerte Emotionen (z. B. Wut, Angst) sollten dabei weder lächerlich gemacht noch verstärkt werden. Äußern die eingesetzten PVB Mitleid oder begeben sich im Gespräch auf die Ebene der wahnhaften Empfindungen („Ich kann Sie mit meinem Funkgerät entstrahlen, dann sind Sie sicher“), bestärken sie womöglich die/den Erkrankte/n in ihrer/seiner Annahme, einer tatsächlichen Bedrohung ausgesetzt zu sein (Hermanutz 2012; Schmalzl 2012). Grundsätzlich werden im ET NRW standardisierte Kommunikationsroutinen erarbeitet, deren Ziel es ist, auch unter Stress und in Konfliktsituationen die wichtigsten Handlungsanweisungen an das Gegenüber richten zu können und gleichzeitig möglichst souverän und selbstsicher aufzutreten. Je nach Lagevorgabe sind folgende Elemente Bestandteil einer standardisierten Personenansprache: • Identifizierung der einschreitenden Beamtin/des einschreitenden Beamten als Polizist/in • Klare Anweisungen zum erwarteten Verhalten („nicht bewegen“, „stehen bleiben“, „nehmen Sie die Hände aus den Taschen“, „lassen Sie den Gegenstand fallen“ etc.) • Androhen potenzieller Folgemaßnahmen (z. B. Zwangsanwendung), wenn diese rechtlich möglich und einsatztaktisch sinnvoll sind • Informieren beteiligter Beamt*innen über wahrgenommene Gefahren und Umfeldfaktoren („Messer im Hosenbund“, „Baseballschläger auf dem Schrank“, „Weitere Person im Nebenzimmer“)
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Zu problematisieren ist dabei aus Perspektive der Einsatztrainer*innen, dass die Praxis im täglichen Dienst beim Umgang mit psychisch auffälligen Personen deutlich komplexere Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeit der eingesetzten PVB stellt, als im Training standardisierter Personenansprachen abgebildet werden kann. Akute Wahnvorstellungen oder ein kompletter Realitätsverlust können zwar in den noch zu beleuchtenden Lagetrainings individuell durch die Einsatztrainer*innen dargestellt werden,7 führen aber (weil sie nicht kommunikativ aufgelöst werden können) i. d. R. immer zu weiteren Eskalationsstufen. Mit Blick auf die Praxis ist zwar zu konstatieren, dass es immer Situationen geben wird, in denen psychisch auffällige Personen die eingesetzten PVB in die wahnhafte Umdeutung ihrer Umgebung einbeziehen (Füllgrabe 2011; Hermanutz 2012) und die Situation ggf. nicht kommunikativ deeskaliert werden kann. Denkbare Zwischenschritte, wie z. B. der Versuch, die Situation möglichst lange statisch zu halten, bis die zuständigen Stellen Folgeschritte (z. B. die Einweisung nach dem Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) in eine entsprechende Einrichtung, Hinzuziehen von Bezugspersonen der erkrankten Person) veranlasst haben oder im Falle einer nicht zu verhindernden Eskalation die eigene Kräftelage optimiert werden konnte, werden im Training aber nicht simuliert. Dies ist auch damit zu begründen, dass in der polizeilichen Praxis (außer bei herausragenden Bedrohungslagen und entsprechendem zeitlichen Spielraum) auch regelmäßig anders verfahren wird, sprich weder Spezialeinheiten noch Angehörige medizinischer-psychologischer ambulanter Dienste hinzugerufen werden (können).8 Wahrnehmungssteuerung und Gefahrenbewertung Die Wahrnehmung stellt die Grundlage für die Bewertung des Gefahrenpotenzials und die eigenen Maßnahmen dar. Im ET NRW werden klar voneinander abzugrenzende Gefahrenindikatoren platziert, um den Trainierenden eine entsprechende Reaktion abzuverlangen. Solche „Auslösereize“ werden regelmäßig in Lagetrainings eingesetzt und haben eine mehrdimensionale Funktion. Auf der ersten Ebene sollen die Auslöser dazu führen, dass die Trainierenden vorher konditionierte Handlungsabläufe abrufen. Die Auslöser müssen also durch die Trainierenden wahrgenommen, entsprechend den damit verbundenen Gefahrenindikation bewertet werden und zum Abrufen der „richtigen“ H andlungsabläufe führen. Auf der zweiten Ebene ermöglichen die Auslösereize den Trainer*innen erst, die vorher trainierten Handlungen bei den Teilnehmenden zu beobachten und zu bewerten. Ein Auslöser könnte z. B. eine Handlung des Rollenspielers sein, der während einer Trainingssequenz ein Messer aus dem Hosenbund zieht. In der Folge müssten die Trainierenden entsprechend den Trainingsvorgaben agieren, das Messer als lebensbedrohliche Dies liegt wie bereits beschrieben im individuellen Lehr- und Gestaltungsspielraum der Einsatztrainer*innen; genauso sind Trainingssimulationen denkbar, in denen in keiner Weise die Besonderheit im Umgang mit psychisch Auffälligen thematisiert wird. 8 Dies ist sowohl mit der Verfügbarkeit entsprechender Dienste als auch dem einsatztaktischen Verständnis dieser „Alltagslagen“ zu begründen. 7
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Waffe erkennen und z. B. ihre Distanzen anpassen und die Situation bis zur Auflösung der Gefahrenlage abarbeiten. Im Training gibt es, analog zur o. g. Problematik im Bereich der Einsatzkommunikation, für die Handlungen des Gegenübers klar abgegrenzte (De-)Eskalationsstufen. Ein Training von ineinander verschwimmenden Grauzonen der Gefahrenmomente oder in sich widersprüchlichen Signalen (z. B. das Nichtbefolgen von Anweisungen bei gleichzeitig freundlicher Kommunikation des Gegenübers) ist äußerst schwer darzustellen und wird darüber hinaus aller Wahrscheinlichkeit nach nicht dazu führen, dass auf der Bewertungsebene die getroffenen Maßnahmen einer eindeutigen Kategorisierung als richtig oder falsch unterzogen werden können. Deshalb werden im Training klar zu erkennende Eskalationsmomente platziert, die den Trainierenden deutlich signalisieren sollen, welche von mehreren möglichen Handlungsoptionen es zu ergreifen gilt. Im Rahmen eines unmittelbaren Feedbacks nach dem Abschluss der Trainingssequenz erfolgt zwar zunächst die Selbstreflexion der Trainierenden auf ihre eigenen Handlungen und den zugrunde liegenden Bewertungen. Im weiteren Verlauf folgen aber immer auch die taktische Einordnung der gewählten Handlungsstrategien und der Abgleich mit den vorher erarbeiteten Maßstäben (bzw. aus Sicht der Einsatztrainer*innen: den Lernzielen). Distanzverhalten und Positionierung im Einsatzraum Als eine grundlegende Prämisse für polizeiliche Gesprächs- bzw. Kontrollsituationen jedweder Art gilt das Einnehmen einer lageangepassten Distanz (Füllgrabe 2011; Schmalzl 2012; Meltzer 2015; Biedermann 2017). Im Einsatztraining werden auch hier die Trainierenden zunächst selbstreflektierend für die eigene Distanzwahrnehmung sensibilisiert. Welche Distanz als unangenehm bzw. bedrängend empfunden wird, ist dabei subjektiven Bewertungen unterlegen. Objektiver und verallgemeinerbarer lassen sich Distanzen mit Bezug auf die eigene Reaktionszeit als Maßstab darstellen. In Selbstversuchen können die Trainierenden erleben, wie viel Zeit sie brauchen, um z. B. auf Einsatzmittel zuzugreifen, erkannte Gefahren zu kommunizieren und ihre Distanz zur Gefahrenquelle zu vergrößern. Im weiteren Trainingsverlauf werden die einzelnen Ebenen der Situationsbewältigung (Wahrnehmung, Kommunikation, Motorik, Wahl der Führungs- und Einsatzmittel) verknüpft. Diese mehrdimensionalen Trainingsanlagen sind hoch anspruchsvoll und darauf ausgelegt, bestimmte Handlungsmuster zu automatisieren und ein Bewusstsein für Distanzen zu schaffen. Regelmäßig kann als Fazit gezogen werden, dass die erforderliche Distanz, um die eigene Handlungsfähigkeit nach Abzug der Reaktionszeit zu erhalten, die subjektiv als unangenehm nah empfundene Entfernung bei Weitem übersteigt. Bereits in den 1980er-Jahren konnte im Rahmen des sogenannten Tueller-Drills (Stoughton et al. 2020) experimentell die erforderliche Reaktionszeit von PVB beleuchtet werden und die Komplexität entsprechender Situationen unterstrichen werden. Das reine „Rückwärtsgehen“ als Reaktion auf eine wahrgenommene Gefahr stellt bereits, insbesondere am Anfang von entsprechenden Lagetrainings, immer wieder bemerkenswerte Herausforderungen dar, die von den Betroffenen regelmäßig erst im Nachhinein als solche erkannt werden. Dabei wird, dem allgemeinen didaktischen Grundsatz
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„vom Leichten zum Schweren“ (Lehner 2019, S. 136) folgend, gerade zu Beginn des Trainings mit Distanzen trainiert, die dem theoretischen Optimalfall, aber selten der Realität im Einsatzraum entsprechen. Beim Umgang mit psychisch auffälligen Personen ist grundsätzlich eine größtmögliche Distanz angeraten (Schmalzl 2012; Meltzer 2015). Dies ist zunächst aus der Perspektive der Eigensicherung schon deshalb sinnvoll, um bei irrationalen und unvorhersehbaren Handlungen des Gegenübers angemessen reagieren zu können. Darüber hinaus können aus der Perspektive der betroffenen Person körperliche Präsenz und eine Distanzverringerung der PVB als Bedrohung innerhalb des eigenen wahnhaften Wahrnehmungskontextes interpretiert werden und so eine nicht zu antizipierende Eskalationsdynamik auslösen (Schönstedt 2016). Wahl und Handhabung der Einsatzmittel Im ET NRW werden je nach ETM verschiedene Bedrohungsszenarien, wie z. B. Messerangriffe oder körperliche Konfrontationen, mit den zur Verfügung stehenden Einsatzmitteln verknüpft. Dazu gehören z. B. Hilfsmittel der körperlichen Gewalt wie das Reizstoffsprühgerät (RSG) und Waffen wie der ausziehbare Einsatzmehrzweckstock (EMS-A) oder die Dienstpistole. Um je nach Trainingssetting möglichst schnell auf Handlungen des Gegenübers reagieren zu können (Ziehen/Ablegen von Gegenständen, Bewegungen auf die Trainierenden zu), werden neben den bereits beschriebenen Komponenten der Wahrnehmung und Distanz auch motorische Fertigkeiten beim Zugriff auf die unterschiedlichen Einsatzmittel konditioniert (der sogenannte Systemwechsel). Entsprechend der Prämisse, die Dienstwaffe nur als Ultima Ratio (bei entsprechenden rechtlichen Voraussetzungen) einzusetzen, werden sowohl aufsteigend eskalierende Situationen (z. B. Wechsel von RSG auf Dienstpistole) als auch deeskalierende Szenarien (Wechsel von Dienstwaffe auf RSG oder körperliche Eingriffstechniken) trainiert. Auch hier wird mit klaren Triggern gearbeitet, da es zunächst primär um die rein motorische Konditionierung (z. B. beim Ziehen der Dienstwaffe und dem Einnehmen der entschlossenen Schießhaltung) unterschiedlicher Bewegungsabläufe geht. Als Standardindikator für das Ziehen der Dienstpistole im Einsatztraining kann beispielsweise das Erkennen von Stichwaffen (insbesondere Messer) beim Gegenüber bezeichnet werden. Dies hat sich u. a. in einem eigens für den Umgang mit Messerangriffen entwickelten Konzept niedergeschlagen, bei dem primär Bewegungsroutinen und Handlungsoptionen unter Nutzung aller zur Verfügung stehenden Führungs- und Einsatzmittel trainiert werden. Aufgrund der Erkenntnis, dass bereits ein einziger Stich oder Schnitt arterielle Verletzungen hervorrufen kann und damit lebensgefährlich ist, gilt auch hier die Prämisse des Schusswaffengebrauchs bis zum Wirkungserfolg, d. h. der Handlungsunfähigkeit des Angreifers (oder dem Ablassen von der Angriffshandlung). Für den Fall des Schusswaffengebrauchs wird nach einer klaren Schieß-/Nichtschießdidaktik9 trainiert (MIK NRW 2012). Entweder kann der Trainingserfolg ohne Schusswaffengebrauch z. B. mit dem „zu Boden Sprechen“ des Angreifers bei Erkennen des Siehe dazu auch den anderen Beitrag des Autors in diesem Werk.
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Messers in der Hand/im Hosenbund erzielt werden, oder die Sequenz fordert von den Trainierenden den Schusswaffengebrauch und das weitere Abarbeiten der Lage. Dies erfordert aufgrund der Erkenntnisse zur Munitionswirkung i. d. R. einen Schusswaffengebrauch bis zur simulierten Handlungsunfähigkeit oder Aufgabe des Rollenspielers. Diese Konditionierung zum Schusswaffengebrauch bis zur erkennbaren Handlungsunfähigkeit des Gegenübers ist insbesondere ein Ausfluss aus den bereits erwähnten Konzepten zur Bewältigung von Amok- und Terrorlagen (Bauermann 2017). Aufgrund bestehender Vorgaben wird dem taktischen Training zur Vorbereitung auf Anschlagsszenarien aktuell mit 18 Stunden ein Großteil der verfügbaren Trainingskapazitäten eingeräumt (Landtag NRW 2016), wobei der extrem breit gefächerte Modus Operandi in diesem Phänomenbereich gleich mehrere verschiedene taktische Handlungsmuster umfassen muss.10 Dynamische Trainingssequenzen Die beschriebenen Trainingsbausteine (Einsatzkommunikation, Gefahrenwahrnehmung, Distanzverhalten, Einsatzmittelauswahl) werden abschließend in dynamischen Lagetrainings zusammengeführt und trainiert (MIK NRW 2012). Dies kann sowohl mit nichtschießfähigen Trainingswaffen als auch mit Farbmarkierungswaffen in speziell dafür errichteten regionalen Trainingszentren (RTZ) erfolgen. Unabhängig von den simulierten Einsatzanlässen müssen die Eigenheiten beim Umgang mit psychisch Auffälligen wie bereits geschildert durch die Einsatztrainer*innen selbst eingebracht werden. Ob beispielsweise bei Szenarien im Kontext von Amokläufen oder Anschlagslagen lediglich ein kommunikativ nicht zu lösendes Szenario aufgrund der Motivation/Psyche des Täters durchlaufen wird oder komplexe Kommunikationsszenarien innerhalb von Alltagslagen trainiert werden, liegt also im Ermessen der Trainer*innen. So ist es in NRW durchaus denkbar, dass es Behörden gibt, die psychische Auffälligkeiten aufgrund regionaler Besonderheiten (z. B. hohe Einsatzbelastung mit psychisch Auffälligen aufgrund einer medizinischen Schwerpunktklinik im Wachbereich) fest in ihre Trainings integriert haben, während andere Behörden diesen Themenbereich nur am Rande (oder gar nicht) aufgreifen.
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ur Phänomenologie psychisch auffälliger Personen im Z polizeilichen Einsatzkontext
Die im Folgenden aufgegriffenen Befunde thematisieren zunächst Daten und Erhebungen zu Polizeiinterventionen mit psychisch auffälligen Personen11 sowie die Wahrnehmung von psychisch auffälligen Personen durch PVB. Anschließend werden handlungs So ist naheliegend, dass es für schwerbewaffnete Kleingruppen, die Schnellfeuergewehre und Sprengmittel nutzen, andere einsatztaktische Erfordernisse gibt, als für radikalisierte Einzeltäter, die mit Stichwaffen agieren. 11 Je nach Erhebung wird von psychischen Erkrankungen oder Störungen gesprochen, die für den 10
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logische Implikationen und lerntheoretische Faktoren im polizeilichen Einsatztraining beleuchtet und vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse diskutiert. In Ermangelung offizieller Statistiken kann man sich dem tatsächlichen Umfang entsprechender Einsatzsituationen nur annähern (Finzen 2014). Für Nordrhein-Westfalen (NRW) lässt sich in den Jahren 2017 bis 202012 anhand öffentlicher Medienberichte festhalten, dass von insgesamt 17 tödlich wirkenden Schusswaffengebräuchen neun gegen psychisch auffällige Personen erfolgten.13 Dies entspricht rund 53 % der tödlichen Schusswaffengebräuche und stellt eine deutliche Überrepräsentanz von psychisch auffällig Agierenden am Anteil der tödlich verletzten Personen infolge eines polizeilichen Schusswaffengebrauchs dar. Da die Schusswaffengebräuche ohne tödlichen Verlauf bei dieser Betrachtung nicht berücksichtigt wurden bzw. auch dazu keine statistische Erfassung erfolgt, kann man sich der Quantität von Schusswaffengebräuchen allgemein gegen psychisch auffällige Personen nur weiter annähern. Eine bundesweite Erhebung im Rahmen der Innenministerkonferenz ergab 2014, dass für den Betrachtungszeitraum der Jahre 2009 bis 2013 rund zwei Drittel der durch die Polizei erschossenen Personen als psychisch krank eingestuft wurden (Diederichs 2015). In einer Befragung von PVB (Lorei und Balaneskovic 2020), die von der Schusswaffe Gebrauch machen mussten, sind 39,1 % des polizeilichen Gegenübers als psychisch krank eingestuft worden (Lorei und Balaneskovic 2020). Wirkliche Längsschnittbetrachtungen gibt es im Bundesgebiet da rüber hinaus noch nicht. Internationale Erhebungen stützen die Vermutung, dass psychisch Kranke überproportional häufig von der Polizei beschossen werden. In den USA konnte festgestellt werden, dass die Wahrscheinlichkeit, von der Polizei erschossen zu werden, für psychisch Kranke 16-fach höher ist als für gesunde Menschen (Fuller et al. 2016). In Australien weist eine Längsschnittuntersuchung von 1989 bis 2011 42 % der von der Polizei Erschossenen als psychisch krank aus (Australian Institute of Criminology [AIoC] 2013). Auch wenn die polizeiliche Zwangsanwendung international aufgrund von Rechtsnormen, Aus- und Fortbildung sowie polizeikultureller Eigenheiten nicht ohne Weiteres vergleichbar ist, zeichnen die angeführten Erhebungen dennoch eine parallele Überrepräsentanz polizeilicher S chusswaffengebräuche gegen psychisch erkrankte Personen. Die These, dass psychisch Verhaltensauffällige aufgrund ihres psychischen Ausnahmezustandes polizeilich in Erscheinung treten und so eine größere Wahrscheinlichkeit für konfliktträchtige Eskalation gegeben ist, ist nicht haltbar (Wittmann und Groen 2020). In Deutschland liegt die Prävalenz psychischer Erkrankungen (Stand 2016) bei 27,8 % der Bevölkerung (Jacobi et al. 2016). Nur einige Formen psychischer Erkrankungen bzw. Störungen, insbesondere Suchterkrankungen und Schizophrenie, polizeilichen Einsatzkontext aber in Auffälligkeiten münden dürften und daher ebenfalls unter diesem Begriff subsumiert werden. 12 Hier konnten nur Ereignisse bis zum 20.12.2020 mit einbezogen werden. 13 Zugrunde liegen die öffentlich zugänglichen Presseberichte zu den Polizeieinsätzen, denen eine psychische Erkrankung oder drogen-/alkoholbedingte psychischen Auffälligkeiten der betroffenen Personen zu entnehmen waren. Eine datumsscharfe Liste samt Quellenangaben liegt dem Autor vor.
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können mit einer erhöhten Auffälligkeit im Bereich der Gewaltkriminalität in Verbindung gebracht werden (Hermanutz und Hamann 2012; Maier et al. 2016; Yee et al. 2020; Wittmann und Groen 2020). Diese steht mit anderen Risikofaktoren in Verbindung bzw. wird durch diese Risikofaktoren begünstigt (DGPPN 2018). Bei diesen Risikofaktoren handelt es sich nicht um spezifische Faktoren, die nur bei psychisch auffälligen Personen vorliegen. Vielmehr konnten Merkmale, die auch auf die Gesamtbevölkerung bei der Erforschung von Gewalt gegen PVB als Prädiktoren für Gewalt zutreffen, auch auf psychisch Kranke übertragen werden. Hierzu zählen beispielsweise Drogen- oder Alkoholkonsum und eigene Opfererfahrungen im Bereich der Gewaltkriminalität (Ellrich und Zietlow 2012; Hermanutz und Hamann 2012). Belastbare Erkenntnisse zum Zusammenhang zwischen aktenkundig gewordener Gewalttätigkeit psychisch auffälliger Menschen und ihrem Verhalten bei Polizeiinterventionen liegen noch nicht vor. Als gesichert angenommen werden kann, dass Personen mit psychischen Erkrankungen oder Störungen insbesondere dann aggressiv agieren, wenn mehrere (Risiko-)Faktoren zusammentreffen (Schmalzl 2012; Biedermann 2017). Insbesondere beim Vorliegen eines psychotischen Krankheitsbilds in Kombination mit Drogen- bzw. Alkoholmissbrauch sind die Fähigkeiten zur rationalen Eigen- und Fremdwahrnehmung sowie selbstregulierende Hemmschwellen deutlich beeinträchtigt (Hermanutz 2012; Biedermann 2017). PVB können Teil einer als bedrohlich wahrgenommenen Umwelt werden (Füllgrabe 2011), auf die es aus Sicht der erkrankten Person zu reagieren gilt, z. B. in Form von Flucht oder Angriffsimpulsen. Dabei kommen einer angepassten Einsatzkommunikation und dem Distanzverhalten zentrale Bedeutung bei der Frage zu, ob PVB überhaupt Einfluss darauf haben können, wie sie von einer psychisch auffälligen Person wahrgenommen werden. Der in der Tendenz überproportional häufige Schusswaffengebrauch gegen Personen mit psychischen Auffälligkeiten könnte also in Teilen mit dem Auslösen einer irrationalen Aggressionsdynamik zusammenhängen, die nur durch den Schusswaffengebrauch beendet werden kann. Dieser Dynamik kommt vor allem im Zusammenspiel zweier Risikofaktoren erhöhte Bedeutung zu. Zunächst kann immer wieder beobachtet werden, dass sich wahnhafte Personen aufgrund der empfundenen Bedrohung, Verfolgung oder Überwachung bewaffnen (Schmalzl 2012; AIoC 2013). Gleichzeitig können die Betroffenen die Gefahr, die sie damit für PVB und sich selbst darstellen, nicht rational einordnen. Dies schmälert die Chancen, ein in Gang gesetztes Eskalationsszenario in diesen Fällen noch kommunikativ lösen zu können (Füllgrabe 2011). Doch auch ohne Bewaffnung werden psychisch auffällige Personen durch PVB direkter in Verbindung mit Gefahr gebracht als unauffällige Personen (McTackett und Thomas 2017). Subjektive Wahrnehmung von psychisch Auffälligen durch PVB Ein Erklärungsansatz dafür könnte die Wahrnehmung von psychisch auffälligen Personen durch PVB sein, die neben einem objektiven Gefahrenradar (Füllgrabe 2017) geprägt ist durch Prozesse subjektiver Gefahrenzuschreibung (Wittmann und Groen 2020). Eine aktuelle Untersuchung zeigt, dass mehr als 25 % von insgesamt 958 befragten PVB beim Umgang mit psychisch Kranken Angst empfinden (Wittmann und Groen 2020). Zudem
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schätzen 75 % der Befragten ihr Wissen über psychische Erkrankungen als unzureichend ein, diese Einschätzung korreliert mit dem Angstempfinden. Befragte, die ihren Wissensstand als ausreichend einschätzen, gaben also auch weniger Angstempfindungen an (Wittmann und Groen 2020). Auch andere Erhebungen unter PVB konnten Angstempfindungen gegenüber psychisch Kranken, insbesondere die Angst vor gewalttätigem Verhalten, nachweisen (McTackett und Thomas 2017). Eine grundlegende „Erwartungsangst“ (Hermanutz et al. 2012) beim Kontakt zu psychisch Kranken könnte sich einschränkend auf die eigene (Gefahren-) Wahrnehmung und die Beurteilung der Situation auswirken. Denn Angst beschreibt die globale Emotion, einem Zustand hilflos ausgeliefert zu sein (Füllgrabe 2017), und tangiert somit das eigene Vulnerabilitätsempfinden (Haendschke 2019). Es ist anzunehmen, dass PVB, die eine hohe Angstausprägung vor psychisch auffälligen Personen vorweisen, anders agieren als Akteure mit geringerem Angstempfinden. Eine in dieser Form eingeschränkte, auf eine übersteigerte Gewalterwartung fokussierte Wahrnehmung könnte die im Training vermittelten Grundsätze einer professionellen Gefahreneinschätzung von vorneherein negativ beeinflussen (Hermanutz et al. 2012). Andererseits muss auch der Erkenntnis Rechnung getragen werden, dass die Unvorhersehbarkeit körperlicher Übergriffe auf PVB von diesen als besonders belastender Faktor wahrgenommen wird (Jager et al. 2013). Dass psychisch Auffällige beim Zusammentreffen mehrerer Faktoren unvermittelt aggressiv und unberechenbar agieren können, kann dabei als gesichert angenommen werden (Füllgrabe 2011; Hermanutz und Hamann 2012), was die Zuschreibung dieser Attribute durch PVB erklären könnte (Hermanutz und Hamann 2012). Der Blick auf die Trainingsabläufe in den Bereichen Aufmerksamkeitssteuerung und Gefahrenwahrnehmung hat gezeigt, dass das ET NRW dem Prozess der Gefahrenwahrnehmung als Grundlage für situativ angepasstes Handeln einen hohen Stellenwert zumisst. Allerdings wird Wahrnehmung großteils auf die Verfügbarkeit von Waffen oder gefährlichen Gegenständen im Einsatzraum bzw. dem Zugriffsbereich von Personen bezogen. Dass eine entschlossene und bestimmte Personenansprache bei rational agierenden Personen z. B. zum Ablegen eines Messers führen kann, bei psychisch auffälligen Personen aber kontraproduktive Wirkung entfalten kann, wird aktuell nicht in Gänze beleuchtet. Da für den Umgang mit psychisch auffälligen Personen aufgrund der zahlreichen unterschiedlichen Symptome keine einheitliche einsatztaktische Konzeption (etwa wie bei Amok- oder Anschlagslagen) vorgegeben werden kann, kommt aber gerade der situativen personenbezogenen Wahrnehmung eine besondere Bedeutung zu (Schmalzl 2012). Die Bewertung des Wahrgenommenen determiniert letztlich, welche Maßnahmen die eingesetzten PVB treffen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die subjektive Wahrnehmung von psychisch auffälligen Personen durch PVB einen Erklärungsansatz für Schusswaffengebräuche bietet. In Fällen, in denen die betroffenen PVB psychisch auffälliges Verhalten mit zu erwartenden Aggressionen gleichsetzen und affektiven (Angst-)Empfindungen unterliegen, ist die objektive Gefahrenbewertung und damit auch die Grundlage für angemessenes und einsatztaktisch professionelles Einschreiten gefährdet.
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Methodisch-didaktische Grundannahmen Neben diesen wahrnehmungsspezifischen Befunden liegen auch zahlreiche Erhebungen zur methodisch-didaktischen Konzeption des ET NRW vor. Das ET NRW baut auf einer linear reproduktiven Didaktik auf (Körner und Staller 2017), die zunächst das Nachahmen und Reproduzieren als idealtypisch identifizierter Handlungen beinhaltet. Die erforderlichen Abläufe werden zunächst vorgestellt, bevor sie durch Reproduktion und Coaching im Prozess verbessert und internalisiert werden sollen. Am Ende des Trainings erfolgt die Lernzielkontrolle, in der das trainierte Verhalten in verschiedenen Trainingslagen abgerufen werden soll. Dass gesamte Training soll möglichst „realitätsnah“ (MIK NRW 2012) angelegt sein, was jedoch mit Blick auf die Besonderheit psychisch Kranker problematisch erscheint. Die herausfordernde Besonderheit stellt das Verhalten des Gegenübers dar, welches in der Phase akuter Psychotik durch die Elemente der Irrationalität und Unberechenbarkeit zu charakterisieren ist (Jurkanin et al. 2007). Die Schwierigkeit, auf höchst individuelle Krankheits- und Störungssymptome im polizeilichen Alltag zu reagieren, existiert im übertragenen Sinne auch bei der Konzeption von Trainingssettings, die den Trainierenden Handlungsstrategien für alle möglichen Erscheinungsformen vermitteln sollen. So sinnvoll und erforderlich in der Praxis ein „personenspezifisches“ (Hermanutz und Hamann 2012) Agieren auch ist, umso schwieriger ist es, individuelle Lösungsansätze im Sinne eines einsatztaktischen und anhand von QSB messbaren Idealverhaltens zu strukturieren. Insbesondere vor dem Hintergrund o. a. Befunde, die eine affektive Komponente bei der Wahr nehmung von psychisch Auffälligen vermuten lassen, kommt die Frage auf, wie Trainingssequenzen immersive Transmissionen der Einsatzwirklichkeit darstellen können. In diesem Kontext wurde der Begriff der „repräsentativen Simulation“ (Staller et al. 2017a, b) geprägt, der die Trainings- bzw. Lernumgebung an den Kriterien der „Funktionalität“ (Staller et al. 2017a, b) und der „Handlungstreue“ (Staller et al. 2017a, b) ausrichtet. Funktionalität bezeichnet dabei stark vereinfacht, dass im Training Handlungen trainiert werden, die auch auf Echtlagen übertragen werden können, und dass diese gleichzeitig unter annähernd ähnlichen Bedingungen trainiert werden wie im Ernstfall. Dazu könnte z. B. Druck oder Aggressivität etc. gehören, die im Training gleichermaßen auf die Trainierenden einwirken sollte wie in Echtlagen zu erwarten. Die Handlungstreue bezeichnet den Umgang des Trainierenden mit ebendiesen Bedingungen, neben persönlichen Handlungsroutinen auch der individuelle Umgang mit affektiven Bewertungs- und Verarbeitungsprozessen (z. B. Angst). Gleichzeitig stellt dieser Ansatz Trainingsroutinen infrage, bei denen von vorneherein klar ist, dass die Trainingsroutinen im Einsatzkontext nicht angewandt werden und so eine Entkoppelung von trainierten Handlungen zur Erfüllung allein trainingsbezogener Idealvorstellungen und dem Verhalten in der Einsatzrealität stattfindet. Bezogen auf den Umgang mit psychisch auffälligen Personen, sind die Lehr- und Lern implikationen nicht linearer Pädagogik deshalb besonders vielversprechend, weil sie den individuellen Fähigkeiten und Bewertungsprozessen auf emotionaler Ebene Raum geben und so vermutlich näher am jeweiligen Handeln der PVB orientiert sind als idealtypische und verallgemeinernde Lösungsstrategien.
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Handlungsansätze und Potenzialanalyse
Die vorstehende Betrachtung der Trainingsroutinen des ET NRW sowie der entsprechenden wissenschaftlichen Befunde zum Umgang mit psychisch auffälligen Personen hat verdeutlicht, dass sich der Umgang mit psychisch auffälligen Personen als überaus komplex für Training und Praxis darstellt. Um dieser Komplexität Rechnung zu tragen, ist es zunächst erforderlich, den Umgang mit psychisch Kranken nicht einer individuellen Schwerpunktsetzung durch die Einsatztrainer*innen zu überlassen, sondern vor dem Hintergrund der Einsatzlage die Thematik landeseinheitlich zu priorisieren. Dabei bietet es sich an, die mittlerweile flächendeckend im Bachelorstudium vermittelten Kenntnisse über psychische Krankheiten und den polizeilichen Umgang damit im Sinne einer Verzahnung von Theorie und Praxis aufzugreifen und zu vertiefen. Die vorhandenen Hinweise im LF 371 sind nur oberflächliche und sehr generell formulierte Anhaltspunkte. Insbesondere der Zusammenhang zwischen einem angenommenen eigenen Informationsdefizit über psychisch Kranke und dem gleichzeitigen Empfinden von Angst gegenüber psychisch auffälligen Personen (Wittmann und Groen 2020) macht deutlich, dass gerade aus Sicht der eingesetzten PVB die fortlaufende Vermittlung von Fachwissen notwendig wäre. Dabei sind sowohl die Erarbeitung eines Manuals für die Verwendung im ET NRW als auch zentrale Fortbildungsveranstaltungen mit externen Fachreferentinnen und Referenten denkbar, die es für andere Themenbereiche (z. B. zum Thema Extremismus) bereits gibt. Auch bietet sich die Implementierung von Fachvorträgen oder ganzheitlichen Workshops mit Akteuren anderer Institutionen und Professionen (Psychologen, Mitarbeiter psychiatrischer Dienste etc.) im Rahmen der Qualifikation von Einsatztrainerinnen und Einsatztrainern an. Im besten Fall kann die Vermittlung von Fachkenntnissen zur Reduktion affektiver Wahrnehmungsprägung und Angstempfindungen gegenüber psychisch Auffälligen beitragen und so polizeiliches Handeln professionalisieren. Alle Beteiligten am Konzeptions- und Trainingsprozess innerhalb des ET NRW unterliegen den erlassbedingten zeitlichen Einschränkungen. Verdeutlicht man sich, dass durch neue einsatztaktische Anforderungen sowie durch die umfangreiche Neuanschaffung von Ausrüstungsgegenständen ein erheblicher Mehraufwand an Beschulungen im Vergleich zum Jahr 2012 besteht, scheint die dort gefasste zeitliche Rahmenvorgabe nicht den aktuellen Anforderungen an die zu vermittelnden Inhalte unter professionellem Anspruch gerecht zu werden. Dass Einsatztraining auch aus Sicht der PVB einen wichtigen Stellenwert bei der Beurteilung der eigenen Handlungssicherheit einnimmt (Jager et al. 2013), bestärkt die Erhöhung der Trainingskapazitäten zusätzlich. Bis zur Umsetzung eines landeseinheitlichen Fortbildungskonzepts bzw. der Erweiterung aktueller Konzeptionen ist es an den Einsatztrainer*innen, selbstständig im Rahmen der bereits bekannten Landesstandards die Problematik psychischer Störungen und Erkrankungen im Einsatztraining aufzugreifen. Die Evaluation neuer Führungs- und Einsatzmittel, wie z. B. des Distanzelektroimpulsgerätes (DEIG), bietet gleichermaßen die Chance, auch vor Erstellung eines landeseinheitlichen Einsatz- und Trainingskonzeptes neue taktische Möglichkeiten im Training zu berücksichtigen, die in der Praxis gegenüber
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dem Schusswaffengebrauch ein milderes Mittel darstellen und gleichzeitig nicht kommunikativ lösbare Gefahrenlagen beenden können. Es bietet sich grundsätzlich bei allen vorhandenen Handlungsstandards (z. B. Personenansprache) an, die vorhandenen Handlungsmuster auch auf Personen anzuwenden, die nicht auf Anweisungen reagieren oder sich wirr artikulieren, gleichzeitig aber keine akute Bedrohungshandlung vornehmen. Unter Einbeziehung individueller Erfahrungen und Lösungsansätze aus dem täglichen Dienst als Rückkopplung erfolgreicher Handlungsstrategien (Staller et al. 2017b) gilt es, die Zweidimensionalität zwischen erfolgreicher Kom munikation und Zwangsanwendung aufzuweichen und im Training bereits durch unterschiedlichste Szenarien in diesem Kontext Handlungsalternativen zu entwickeln. Bei bereits etablierten Standards z. B. bei der Einsatzkommunikation bietet sich an, im Dialog mit den Trainierenden die besondere Schwierigkeit in der Kommunikation mit Personen, die sich gerade z. B. in einer Psychose oder einem Drogenrausch befinden, zu thematisieren und auch in den folgenden Situationstrainings so aufzugreifen. Wenn die Trainierenden in den Situationstrainings mehrere Minuten ein wirres Gespräch mit dem Rollenspieler „aushalten“ müssen, bewegt sich dies ggf. näher an der Einsatzwirklichkeit als die Annahme, direkt einen klaren Gefahrenindikator zu erkennen und die Situation „lösen“ zu können. Die offene und ehrliche Auseinandersetzung mit positiven wie negativen Einsatzerfahrungen sowie assoziierten Emotionen im Einsatzgeschehen mit psychisch Auffälligen kann dazu beitragen, vorhandene Zuschreibungsprozesse zu reduzieren (vgl. dazu den Beitrag von Biedermann und Ellrich in diesem Werk). Auch die rechtliche und ethische Dimension des Einschreitens gegenüber psychisch auffälligen Personen sollte im Rahmen der theoretischen Einstimmung Berücksichtigung finden können. Die Vorstellung, polizeiliche Einsatzsituationen um jeden Preis „lösen“ zu müssen, scheint für den Umgang mit psychisch Auffälligen nicht immer zielführend zu sein. Das Aushalten auch unangenehmer, weil wirrer und irrationaler Kommunikationssituationen erfordert einerseits eine sensible Gefahrenwahrnehmung, andererseits aber auch das Bewusstsein für die Möglichkeit, dass das Gegenüber einem akuten Krankheitsbild unterworfen sein könnte (Schmalzl 2012). Auch wenn das Definieren und Überprüfen des Lernerfolgs anhand von Lernzielen und Erfolgskontrollen sinnvoll sind, bedarf es für das Situationstraining mit einem als psychisch auffällig agierenden Rollenspieler ggf. einer ergänzenden Neudefinition der zu erreichenden Maßstäbe (Füllgrabe 2017). Denkbar wäre hier beispielsweise ein verborgener Countdown, der die Trainierenden eine bestimmte Zeit lang mit einer zunächst nicht lösbaren Kommunikationsproblematik konfrontiert, die gleichzeitig keine Reize für eine unmittelbare Zwangsanwendung bietet, bis die Situation z. B. durch das fiktive Eintreffen des psychiatrischen Bereitschaftsdienstes aufgelöst werden kann. Hier bietet sich im Rahmen des Best-Practice-Modells der Blick in andere (Bundes-)Länder an, in denen bereits entsprechende Trainingskonzeptionen für den Umgang mit psychisch Auffälligen bestehen (Biedermann 2017; Abgeordnetenhaus Berlin 2019; Rogers et al. 2019). Die Evaluation entsprechender Konzepte, wie z. B. des „Police Crisis Intervention Training Program“ (Rogers et al. 2019), konnte bereits eine positive Wechselwirkung zwischen speziellem Training für den Umgang mit psychisch Kranken, dem Abbau von Stigmata gegenüber dieser Personengruppe, erhöhter Handlungssicherheit der Polizeibeamt*innen und dem Absinken von Schusswaffengebräuchen belegen.
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Praktische Erfahrungen zum angewandten Stressmanagement für Einsatzkräfte am Beispiel der GSG 9 Lothar Linz und Kai Winter
Inhaltsverzeichnis 1 E inführung 1.1 Ausbildung der GSG 9 1.2 Grundlagen Stress und seine Auswirkungen auf das Handeln 1.3 Training zum Umgang mit Stress am Beispiel der GSG 9 1.4 Fallbeispiele Individualcoaching Literatur
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Zusammenfassung
Spezialeinheiten und Einsatzkräfte können in ihren Einsätzen unter enormem Druck geraten, da im Ernstfall Leib und Leben der eigenen Kräfte sowie Unbeteiligter auf dem Spiel stehen. Bei den Maßnahmen der GSG 9, durch welche i. d. R. die Festnahme von Tatverdächtigen sowie die Sicherung von Wohnungsdurchsuchungen ermöglicht wird, sollen alle Schritte schnell und abgestimmt erfolgen. Diese Maßnahmen werden gegen Tatverdächtige aus dem Bereich des Terrorismus und der organisierten Gewaltkriminalität getroffen. Aufgrund der Einschreitschwelle der GSG 9 ist bei derartigen Reviewer*innen: Buc Consten, Michael Hauck, Valentina Heil L. Linz (*) Coaching Competence Cooperation Rheinland, Bergisch Gladbach, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Winter Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_47
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Einsätzen stets mit einer gewaltsamen Gegenwehr sowie mit einer Bewaffnung des polizeilichen Gegenübers (Schusswaffen) zu rechnen. Um unter diesen Bedingungen handlungsfähig zu bleiben, müssen die Kräfte gezielt auf solche Anforderungen vorbereitet werden. Bei der GSG 9 bekommen deshalb die Auszubildenden seit Jahren eine Schulung zum Thema Stressregulation. Zusätzlich werden sie nach Bedarf individuell begleitet. In dem Beitrag werden die dem Training zugrunde liegenden Überlegungen aus der Praxis dargestellt. Stressregulation ist weit mehr als das Anwenden von Entspannungstechniken. Gerade im Einsatz unter Zeitdruck bedarf es gezielten und schnellwirksamen Stressmanagements. Außerdem hilft eine akzeptierende Grundhaltung. Zur Verdeutlichung werden Fallbeispiele aus dem Individualcoaching geschildert. Zum Abschluss des Beitrags werden Möglichkeiten diskutiert, wie zukünftig Trainings zum Stressmanagement bei Spezialeinsatzkräften aussehen könnten.
1
Einführung
Das Team steht aufgereiht an der Tür eines Zielobjektes, in welchem ein bewaffneter Straftäter gemeldet ist. Ziel ist die Festnahme des Täters sowie die Durchsuchungssicherung der Wohnung des Betroffenen. Jedes Teammitglied kennt genau seine Aufgabe und kennt seinen zugewiesenen Abschnitt im Objekt. Gleichzeitig ist jedem Teammitglied bewusst, dass es trotz dezidierter Planung auf jede kleinste Veränderung schnell und flexibel reagieren wird. Stille, kein Ton, nur die Kommunikation über Zeichen, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Und dann geht es los, die Tür fliegt auf, die Männer stürmen in das Objekt, der mutmaßliche Straftäter wird überwältigt.
1.1
Ausbildung der GSG 9
Eine Woche Eignungsauswahlverfahren und danach zehn Monate Ausbildung gilt es zu bestehen, um den Schritt in eine der Einsatzeinheiten der GSG 9 gehen zu können. Auf diesem Weg wird ein Höchstmaß an körperlicher und psychischer Belastbarkeit abgefordert. Zudem kommt eine hohe mentale Stressbelastung hinzu, da nahezu täglich der Weg für Auszubildende zur GSG9 enden könnte, falls sie Prüfungen nicht bestehen. Wenn der körperliche Leistungsstand den Ansprüchen nicht gerecht wird, die Anforderungen im Schießtraining nicht erfüllt werden oder wenn sich grundlegende Fehler im taktischen Vorgehen zeigen, kann der Auszubildende vorzeitig ausscheiden. Häufig ist einer der Gründe, weshalb Beamte diesen Weg beenden müssen, auch auf mentale Leistungsfaktoren zurückzuführen. Die Beamten erlernen deshalb in der Ausbildung die Bewältigung von Situationen, in denen ihr eigenes Leben, das Leben der Kameraden sowie das Leben von Unbeteiligten auf dem Spiel stehen. Hierbei kann jeder Fehler gravierende Folgen
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haben. Dieser Stressmoment wird in der Ausbildung so realistisch wie möglich nachgestellt. Der enorme psychische und körperliche Stress wird häufig durch den hohen Leistungsanspruch, welchen die Auszubildenden an sich selbst stellen, noch erhöht. Hoher Leistungsdruck kann auf der einen Seite zu optimalen Ergebnissen führen, auf der anderen Seite auch genau in das Gegenteil kippen: Die eigentliche Leistungsfähigkeit kann dann nicht mehr (voll) abgerufen werden. So passiert es zum Beispiel, dass Beamte ab einem bestimmten Punkt in der Ausbildung Schießleistungen nicht mehr erfüllen, obwohl sie diese zuvor schon problemlos erfüllt haben. Um einen gravierenden Leistungsabfall durch die hohe Belastung zu vermeiden, kann angewandtes Stressmanagement helfen.
1.2
Grundlagen Stress und seine Auswirkungen auf das Handeln
Damit Sie verstehen können, wie ein solches Stressmanagement hilfreich sein kann, müssen wir zunächst betrachten, was Stress ist und welche Prozesse dabei in uns Menschen ablaufen. Obwohl der Begriff „Stress“ erstmals im letzten Jahrhundert auftauchte und damit noch relativ jung ist, basiert das Phänomen auf einem sehr alten biologischen Programm. Wenn wir Stress erleben, wird im Organismus eine Alarmreaktion ausgelöst, welche die Funktion hat, den Körper in höchste Leistungsbereitschaft zu versetzen. Immer da, wo wir in eine bedrohliche Situation kommen, gibt es für uns nur drei mögliche Reaktionsmuster: die Flucht, den Angriff oder das Totstellen. In der Regel tendieren wir zu einer der beiden ersten Alternativen. Das war über Millionen von Jahren ein sinnvolles Programm, half es doch, bei Erscheinen eines gefährlichen Tiers, wie zum Beispiel einem Löwen oder einem Bären, das eigene Überleben zu sichern. Dieses Programm ist noch heute in uns aktiv, es wird immer dann gestartet, wenn wir in eine bedrohliche Situation geraten. Genau das geschieht in Stresssituationen. Unser Organismus bewertet nach Lazarus (1966) jede Situation danach, ob sie positiv, neutral oder negativ für uns ist. Bei einer negativen Bewertung unterscheidet er zwischen bedrohlichen und herausfordernden Situationen. Bedrohliche Situationen sind zum Beispiel Situationen, in denen wir Kontrollverlust erleben oder in denen eine Überforderung stattfindet. Genau das sind die Situationen, in denen Menschen davon berichten, dass sie Stress erleben. Die biologische Stressreaktion sieht auf physischer Ebene schwerpunktmäßig so aus, dass die Atmung intensiviert und die Bewegungsmuskulatur besser durchblutet wird, auf Kosten der Durchblutung von im Moment nicht lebenswichtigen Organen wie zum Beispiel der Verdauung. Die Grobmotorik hat viel Energie zur Verfügung, jedoch leidet die Feinmotorik. Zudem verändert sich unsere Wahrnehmung. Wir können im Fokus besser wahrnehmen, die periphere Wahrnehmung dagegen leidet, was in Einsatzsituationen ein klarer Nachteil sein kann. Auch psychisch verändert sich einiges. So werden wir im Entscheidungsverhalten je nach Typus zögerlicher oder aber aktionistisch, was sich wiederum auf unser Handeln niederschlägt. Dabei brauchen wir gerade in Einsatzsituationen ein bedachtes und kontrolliertes, aber zugleich entschlossenes Handeln. Es ist also wichtig,
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dass Sondereinsatzkräfte lernen, ihr Stressniveau so gut regulieren zu können, dass sie weiterhin in der Lage sind, angemessen auf eine eintretende Belastungssituation zu reagieren.
1.3
Training zum Umgang mit Stress am Beispiel der GSG 9
Eine Einsatzsituation bedeutet in der Regel maximalen Stress für die beteiligten Kräfte. Sowohl die Ungewissheit beim Eindringen in ein Objekt als auch die Gefahr um Leib und Leben für die Einsatzkräfte wie für mögliche Geiseln führt zu einer sehr hohen physischen und mentalen Anspannung. Auf diese Bedingungen müssen Spezialeinsatzkräfte sehr gut vorbereitet werden. Bei der GSG 9 geschieht dieses zuallererst durch zwei Prozesse. Zum einen werden potenzielle Einsatzsituationen in ihren verschiedenen Varianten so realitätsnah wie möglich simuliert und trainiert. Dadurch lernen die Anwärter, angemessene Verhaltensmuster und Entscheidungsstrategien zu entwickeln. Ein anschließendes kritisches Debriefing verstärkt diesen Lernprozess. Zugleich werden über regelmäßige Wiederholung solcher Simulationen die Handlungsmuster gefestigt, sodass sie unter allen Umständen abrufbar werden. Außerdem gehört seit 2014 ein Einführungskurs in das Stressmanagement zum Ausbildungskonzept von neuen Kandidaten für die GSG 9. Schon in den ersten Wochen werden die Auszubildenden mit dem Thema konfrontiert. Ziel dieser Einheit im Umfang von vier Unterrichtseinheiten ist es, die jungen Anwärter für das Thema zu sensibilisieren und ihnen erste Methoden des Stressmanagements wie Progressive Muskelentspannung (PMR), die Verwendung von Atemtechniken, Visualisierungen (Happy place = „Gehen Sie in Ihrer Vorstellung an einen Wohlfühlort“) aber auch Methoden zur Verbesserung des Selbstgesprächs (Gedankenstopp und Affirmationen) zu vermitteln. Außerdem wird frühzeitig darauf Wert gelegt, dass die Auszubildenden kein einseitiges Selbstbild eines „harten Mannes“ entwickeln, der „mit so etwas keine Probleme hat“. Einem solchen, betont maskulinen und emotionsfreien Bild begegnet man derzeit noch bei vielen Mitgliedern von Spezialkräften, so auch bei der GSG9. Dieses Bild führt aber zur Negation von persönlicher Schwäche und zur Verdrängung der eigenen Unsicherheiten. Kurzfristig mag das in einer Einsatzsituation hilfreich sein, langfristig ist es aber sehr problematisch, da so eigene Persönlichkeitsanteile abgespalten werden müssen, was eine Grundlage vieler psychischer und physischer Probleme darstellen kann. Vielmehr sollen die Auszubildenden lernen, dass es menschlich und somit okay ist, wenn man anfangs in Stresssituationen auch Probleme bekommen kann. Eine akzeptierende Grundhaltung im Sinne eines Achtsamkeitstrainings, wie es zum Beispiel in der Akzeptanz-Commitment- Therapie vermittelt wird (siehe z. B. Eifert 2011), wird dem Einzelnen vielmehr helfen, wieder lösungsfähig zu werden, wie Untersuchungen aus dem Sport belegen (siehe zum Beispiel Josefsson et al. 2020). Bei einer solchen Grundhaltung versucht der Einzelne, anstelle von üblichen Bewertungen erst einmal die eigenen Gedanken und Gefühle wahrzunehmen und zu benennen.
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Gewöhnlich neigen wir dazu, unser inneres Geschehen sofort zu bewerten, etwas in Hinsicht auf die Frage, ob die auftauchenden Gefühle angenehm und erwünscht oder eben schwierig auszuhalten und unerwünscht sind. Das führt aber häufig dazu, dass wir unangenehme Gedanken und Gefühle wegdrängen. Oder aber wir „hängen an ihnen fest“ und versinken in Ängsten, grüblerischen Gedankenschleifen und Ähnlichem. Eine akzeptierende Grundhaltung dagegen nimmt solche inneren Vorgänge erst einmal wahr. Sie dürfen sein. Zugleich versucht man, den einzelnen Gedanken und Gefühlen nicht mehr Aufmerksamkeit als notwendig zu geben. Jetzt sind sie aktuell da, aber sie dürfen auch wieder gehen. Ich kehre einfach immer wieder mit meiner Aufmerksamkeit in das „Hier und Jetzt“ zurück. Was ist jetzt gerade in mir.
1.4
Fallbeispiele Individualcoaching
Glücklicherweise können durch gezielte Interventionen, z. B. in Form von mentalem Training/Coaching, schnell positive Veränderungen herbeigeführt werden. So können Leistungsblockaden aufgelöst werden und Handlungsabläufe in der Taktik und im Schießen insbesondere in der Ausbildung optimiert werden (Mayer und Hermann 2010). Mentales Training (auch ideomotorisches Training genannt) beruht auf der internen visuellen Repräsentation von Bewegungsabläufen. Dieses dient sowohl der Festigung der Bewegungsausführungsroutinen als auch dem verbesserten Stressmanagement durch die Erhöhung des Kontrollerlebens und die Beruhigung des vegetativen Nervensystems. Eine Schilderung der Abläufe und Praxis des mentalen Trainings findet man zum Beispiel bei Eberspächer (2004). Für Angehörige der Einsatzeinheiten sowie Führungspersonal werden im systemischen Coaching Strategien zur persönlichen Karriereplanung, Aufrechterhaltung einer Life Balance sowie Klarheit in der Entscheidungsfindung entwickelt. Diese Klarheit in der grundsätzlichen Ausrichtung des eigenen (beruflichen) Lebens sorgt für ein gutes Fundament, um auch herausfordernde Leistungsspitzen besser bewältigen zu können.
Hypnose Coaching In der Ausbildung stellt einen der höchsten Stressfaktoren für die Auszubildenden ihr Ausbilder dar. Dieser entfaltet alleine schon durch sein oftmals sehr bestimmtes Auftreten starken psychischen Druck. Außerdem wissen die Auszubildenden ganz genau, dass die Ausbilder bei aller Unterstützung zugleich über ihren Verbleib in der Ausbildung entscheiden. Hierdurch steigt die Herausforderung sowohl in den Schießübungen als auch in den taktischen Trainings. Das kann man sich ähnlich vorstellen, als würde man über einen breiten Balken gehen/balancieren. Liegt der Balken am Boden, stellt diese Übung keine Herausforderung dar. Sobald man diesen Balken jedoch in zehn Metern Höhe anbringt, fällt der Weg über den Balken deutlich schwerer. So kam es für einen Auszubildenden gegen Ende der Ausbildung dazu, dass er eine Schießübung, welche ihm zuvor stets gelungen war, nicht mehr wie gewohnt erfüllte. In
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erster Linie bereitete ihm die Anwesenheit eines bestimmten Ausbilders enorme Schwierigkeiten und er „versagte“ regelmäßig. Das Bestehen der Ausbildung war extrem gefährdet. In einer hypnosystemischen Coaching-Sitzung stellte der Auszubildende die Situation auf der Schießbahn nach und entwickelte einen Lösungsansatz für die nächsten Schießtrainings. Er fokussierte sich hierbei auf die eigenen Handlungsabläufe, sodass die Ausbilder völlig in den Hintergrund traten. Sein Fokus lag nicht mehr auf der Umgebung und den Anwesenden, sondern zu (nahezu) 100 % bei seinen Handlungsabläufen. Die Schießleistung stieg dementsprechend wieder an und genügte jetzt absolut zur Erfüllung der Ausbildungskriterien. Auch konnte er nach ersten Erfolgen in einer Folgesitzung (Coaching) den zentrierten Fokus wieder etwas mehr aufweichen und dennoch optimale Handlungsabläufe abrufen. Schließlich stehen die Schießübungen nicht völlig autark für sich, vielmehr muss in der Praxis auch die Aufmerksamkeit auf die Umgebung möglich sein.
oaching der Aufmerksamkeitssteuerung C Schießübungen sind ganz häufig die größte Hürde in der Ausbildung bei der GSG 9. Besonders die Präzisionsübungen, bei denen es darum geht, mit der Pistole auf 15 oder 20 Meter Entfernung ein definiertes Ziel wiederholt sauber zu treffen, ohne dass eine zeitliche Begrenzung vorliegt, führen bei manchen Aspiranten zu großen Schwierigkeiten. Auf den ersten Blick erscheint das widersprüchlich, da hier die eindringende Reizmenge doch sehr gering und damit die Kontrollmöglichkeit zugleich sehr groß ist. Eigentlich müsste das Gelingen in einer solchen Übung viel leichter sein als in einer dynamischen Übung mit eigener Bewegung und unter Zeitdruck. Jedoch kommen genau bei dieser Übung bei vielen Auszubildenden die eigenen Gedanken in ungünstiger Weise ins Spiel. Sie haben Zeit zum Nachdenken und damit können auch viele Störgedanken in Erscheinung treten (z. B. „Was passiert, wenn ich jetzt nicht treffe?“ oder „Beim letzten Mal habe ich auch den zweiten Schuss nicht getroffen, hoffentlich passiert das heute nicht wieder.“ oder „Was wohl die Ausbilder denken, dass ich mir mit diesem Schuss so lange Zeit lasse.“). Diese Störgedanken führen dann zu einer Verschlechterung der Schießleistung, da die Aufmerksamkeit von der automatisierten Handlung weggeführt wird. Eine solche Situation ist aber sehr praxisrelevant, denkt man zum Beispiel an den Präzisionsschützen, der seit Stunden auf den Moment des Zugriffs wartet. Auffällig sind hier vor allem die Gedanken über mögliche Folgen eines Fehlschusses oder über das Nachhängen eines gerade erfolgten Fehlschusses. Beides führt den Nachdenkenden weg vom Augenblick und hilft ihm in keiner Weise, den nächsten Schuss sicher ins Ziel zu bringen. Im Coaching geht es deshalb immer wieder darum, a) beim Training auf dem Schießstand zu lernen, wie ich die Aufmerksamkeit in den Augenblick zurückbringen kann (z. B. über die Lenkung der Aufmerksamkeit hin zu einem subjektiv stabilen Punkt in meinem Körper wie die Beine, die Körpermitte oder den Atem – Eine beispielhafte In struktion könnte lauten: „Konzentrieren Sie sich vor dem Schuss auf Ihre Füße. Nehmen Sie wahr, wie Sie aktuell stehen. Wo haben Sie Kontakt zum Boden? Wie warm oder kalt ist es dort? Wie fest ist Ihr Stand?“) und b) zu akzeptieren, dass ich zwar meine Handlung, jedoch nicht das Ergebnis meiner Handlung kontrollieren kann. Nur wenn ich also die
Praktische Erfahrungen zum angewandten Stressmanagement für Einsatzkräfte …
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Möglichkeit eines Fehlschusses akzeptieren kann, ist es möglich, frei für den Schuss zu werden und mich vertrauensvoll meinen erlernten Bewegungsroutinen hinzugeben. Ansonsten wird meine mentale und körperliche Verkrampfung mit jedem Fehlschuss größer und damit die Wahrscheinlichkeit der Zielverfehlung potenziert.
anchmal ist die Lösung ganz anders M In einem anderen Beispiel schilderte ein Mitglied der Taucheinheit, dass es beim Tauchen im dunklen Wasser immer mit Ängsten zu tun habe. Auslöser dafür war ein „Unfall“, bei dem der Bundespolizist während des Tauchgangs ohnmächtig geworden war. mMithilfe eines traumatherapeutischen Verfahrens (EMDR) wurde versucht, die negative Prägung durch dieses Erlebnis wieder zu löschen. Obwohl er gut auf die Behandlung ansprach, blieb die Angst doch immer ein Begleiter bei den Einsätzen. In diesem Fall war die Lösung der Wechsel in eine andere Einheit. Er war in seiner Entscheidung und damit in seinem Handeln wieder frei geworden, sodass er die Situation neu bewerten konnte und für sich eine alternative Perspektive entwickeln konnte. oaching für Angehörige in den Einsatzeinheiten C Um den Anforderungen an den Dienst in einer Spezialeinheit gerecht zu werden, kann das Coaching bei bedeutenden Schritten in der eigenen Karriere- und Familienplanung hilfreich sein. Die Abwägung privater und dienstlicher Interessen, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die Klarheit für berufliche Entscheidungen sorgen auch im Berufsalltag für Zufriedenheit. Dabei müssen sich berufliche und private Ziele nicht zwingend gegenüberstehen; auch muss nicht unbedingt eine Balance aus Work und Life (zwei Waagschalen) gebildet werden, sondern vielmehr können „sowohl als auch“-Lösungen entstehen. Strategische Pläne zur Berufs- und Familienplanung und die Klarheit über die eigenen Werte unterstützen dies. Die Coaching-Sitzungen erfolgen hierfür anlassbezogen: Teilweise kann es hilfreich sein, über einen kurzen Zeitraum mehrere Sitzungen durchzuführen, manchmal genügt eine Sitzung, und auch die Begleitung über einen längeren Zeitraum in unregelmäßigen (größeren) Abständen ist oft hilfreich. Fazit Stress ist ein bedeutsamer Faktor für Auszubildende wie auch für spätere Einsatzkräfte bei der GSG 9. Es ist deshalb wesentlich, dass schon während der Ausbildung Methoden des Stressmanagements in praxisnahen Gruppen- und Einzeltrainings vermittelt werden. Erste Ansätze sind bei der GSG 9 seit ein paar Jahren gemacht. Sehr hilfreich für einen guten Einsatz von Trainings zum Stressmanagement wäre die regelmäßige Nutzung von Coaching-Maßnahmen sowie mentalen Trainings, auch wenn „alles glatt läuft“. Coaching sollte keine Feuerwehr-Funktion haben, was hieße, nur wer „Probleme“ hat, benötigte ein Coaching. Vielmehr sollten Maßnahmen wie Einzel- und Teamcoachings, mentales Training, Resilienztraining, Meditation (siehe auch Kabat-Zinn 2011) und PMR ein fester und selbstverständlicher Teil in der Ausbildung und im Berufsalltag sein. Hierzu würde ein Stamm an festem Personal mit einem oder einer
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h ausinternen Psychologen*in sowie internen und externen Coaches und Mentaltrainern gehören. Ähnlich wie im Profisport sollte klar sein, dass dieses Themenfeld kein Ad-on ist, um zum Wohlbefinden der Mitarbeiter beizutragen, sondern ein selbstverständlicher Bestandteil, um Höchstleistung über einen langen Zeitraum erbringen zu können. Die GSG 9 wird diesen Weg durch Implementierung eines internen systemischen Coaches ab dem Jahre 2021 erproben. Zudem nutzt der Verband das hauseigene Projekt „Human Performance Optimization“, um neben dem Themenfeld der mentalen Betreuung zusätzlich die Auswirkungen des physischen Trainings (Leistungsdiagnostik, Neuroathletik, Trainings- und Bedarfsanalyse) sowie die Ernährungsberatung wissenschaftlich fundiert zu evaluieren Dieses Modell gilt als beispielhaft und ist auch für andere Einsatzkräfte und ihre Trainer zu empfehlen.
Literatur Eberspächer, H. (2004). Gut sein, wenn drauf ankommt. München: Hanser. Eifert, G. H. (2011). Die Akzeptanz-Commitment-Therapie. Göttingen: Hogrefe. Josefsson, T., Gustafsson, H., Iversen Rostad, T., Gardner, F. L., & Ivarsson, A. (2020). Mindfulness and shooting performance in biathlon. A prospective study. European Journal of Sport Sciences, 21(8), 1176–1182 Kabat-Zinn, J. (2011). Gesund durch Meditation. München: Knaur. Lazarus, R. S. (1966). Psychological stress and the copingprocess. New York: MCGraw-Hill. Mayer, J., & Hermann, H.-D. (2010). Mentales training. Berlin: Springer.
Training: Angriffe mit scharfkantigen Gegenständen gegen Polizeibeamt*innen Anne Dörner und Enrico Boden
Inhaltsverzeichnis 1 2 3 4
Einleitung bersicht der Aus- und Fortbildungsinhalte Ü Trainingseinstieg Angriffe mit scharfkantigen Gegenständen aus „hoher“ Distanz 4.1 Handeln im Streifenteam 4.2 Stress im Training 5 Angriffe mit scharfkantigen Gegenständen im Nahbereich 5.1 Problematik Schusswaffengebrauch in der Nahdistanz 6 Weitere Trainingsansätze
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Zusammenfassung
Im Jahr 2018 gab es deutschlandweit 34.168 Straftaten nach § 113 StGB und § 114 StGB (Bundeslagebild 2018 „Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamte (PVB)“, BKA). Vergleicht man diesen Wert mit den Zahlen aus 2017 (24.419), muss man feststellen, dass es sich um eine Steigerung von 39,9 % handelt. Die 34.168 Straftaten gliedern sich in 21.556 Fälle, bei denen es zu Widerstandshandlungen gegen die Vollstreckungshandlung kam, und in 11.705 Fälle des tätlichen Angriffs auf Polizeibeamt*innen während Reviewer*innen: Oliver Bertram, Benjamin Zaiser
A. Dörner (*) · E. Boden Fortbildungszentrum, Fachhochschule der Polizei Sachsen, Bautzen, Deutschland E-Mail: [email protected];
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_48
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der Diensthandlung (Bundeslagebild 2018 „Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamte (PVB)“, BKA). Diese Fallzahlen verdeutlichen, dass Polizeibeamt*innen während ihrer Dienstverrichtung mit Gewalt gegen sich oder ihr Handeln jederzeit konfrontiert werden können. Für das Einsatztraining bedeutet dies, dass die Polizeikräfte auf bestehende Gefahren während ihres hoheitlichen Handelns hingewiesen werden. Das Einsatztraining bildet Aktivmaßnahmen der Polizei, wie z. B. den unmittelbaren Zwang zur Durchsetzung polizeilicher Maßnahmen, aber auch Handlungsstrategien und -prinzipien zur Abwehr von tätlichen Angriffen ab. Im Speziellen wird im nachfolgenden Beitrag die Abwehr von Angriffen mit scharfkantigen Gegenständen gegen Polizeibeamt*innen Betrachtung finden.
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Einleitung
Als Einsatztrainer*innen betrachten wir den Verlauf eines tätlichen Angriffs in drei Phasen: Vorkonfliktphase, Konfliktphase und Nachkonfliktphase. Schwerpunkte der Vorkonfliktphase sind hierbei zum Beispiel das Wissen um Distanzen und Kontrollstellungen, die Kommunikation für eine mögliche deeskalierende Wirkung, das Erkennen von Vorkampfanzeichen und das Beherrschen von Einsatztaktiken. Der tätliche Angriff auf Polizeibeamt*innen kann mittels verschiedener Tatmittel/Angriffsgegenstände stattfinden, zum Beispiel mit einfacher körperlicher Gewalt, mit stumpf- und scharfkantigen Gegenständen und Schusswaffen. Das Training der Nachkonfliktphase, taktische Verletzten- und Verwundetenversorgung, stellt ebenso einen wichtigen Baustein im Einsatztraining dar. In dem Beitrag betrachten wir die oben aufgeführten drei Phasen eines tätlichen Angriffs Bezug nehmend auf Konfrontationen mit scharfkantigen Gegenständen. Entscheidend für den Trainingserfolg in diesem Kontext ist die Durchführung eines repräsentativen Trainings. Das bedeutet, dass durch die Einsatztrainer*innen Trainingssituationen und Trainingsbedingungen geschaffen werden, die den Polizeikräften im Training reale Einsatz bedingungen simulieren. Die Trainingsteilnehmer*innen und Einsatztrainer*innen entwickeln gemeinsam Lösungen und Strategien, um eine simulierte einsatznahe Trainingssituation, eine Konfrontation mit einem scharfkantigen Gegenstand, zu bewältigen. Die Trainingswege innerhalb dieser zu betrachtenden Thematik sind verschieden bestreitbar. In der Reflexion unseres Trainingskonzepts wird nur ein möglicher Weg aufgezeigt. Dieser wird bestimmt durch eine Vielzahl von Experimenten mit dem Aufzeigen verschiedener motivationsfördernder Herangehensweisen. Ziel ist es in jedem Training, mithilfe von Handlungsprinzipien und -strategien den Polizeikräften Lösungswege aus derartigen Konfrontationen zu geben. Mit einem Maximum an Repräsentativität und einem Mindestmaß an Sicherheit wird versucht, am Ende eines Themenkomplexes den Inhalt in die Testumgebung zu übertragen. Der Schwerpunkt der Ausarbeitung liegt in der praktischen Perspektive.
Training: Angriffe mit scharfkantigen Gegenständen gegen Polizeibeamt*innen
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Angriff/Bedrohung mit scharfkantigen Gegenständen
Erkennen des gefährlichen Gegenstandes
Bedrohung
Androhung von Zwangsmaßnahmen/ Kommunikation
Nicht-Erkennen des gefährlichen Gegenstandes
Angriff
Rückgriff auf bekannte Handlungsmuster
Distanz niedrig
Distanz hoch
Abwehren
Ausweichen
Kontrolle
Waffe einsetzen
Lösen der Lage Abb. 1 Handlungsoptionen bei Angriffen mit scharfkantigen Gegenständen
2
Übersicht der Aus- und Fortbildungsinhalte
Als Einsatztrainer*innen betrachten wir das Thema Abwehr von Angriffen mit scharfkantigen Gegenständen anhand von konkreten Beispielen und Analysen. Dabei eröffnen sich verschiedene Möglichkeiten und Situationen, welche im Training eine Rolle spielen. Folgende Matrix findet bei Angriffen mit scharfkantigen Gegenständen Beachtung (vgl. Abb. 1):
3
Trainingseinstieg
Die Trainingswege der o. a. Matrix sind verschieden bestreitbar, hier sei nur ein möglicher Weg aufgezeigt.
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Grundsätzlich werden alle Trainingsinhalte mit einer Einstimmung zur Thematik gestartet und werden bis zur Lösung von Situationen in der Testumgebung, also mit der Bewältigung von Kurzszenarien unter Beachtung der Trainingssicherheit, durchgeführt. Der theoretische Einstieg dient nicht nur dazu, die Trainingsteilnehmer*innen auf das Thema einzustimmen, sondern durch gezielte gemeinsam erarbeitete Kenntnisse eine Sensibilisierung hervorzurufen. Bestenfalls endet dieser Einstieg in einer intrinsischen Motivation des/der Einzelnen. Erkenntnisse sollten v. a. in der Vorkonfliktphase Versteckmöglichkeiten und Vorkampfanzeichen sein. Es sollen aber auch im Übergang zur Konfliktphase mögliche Griffvarianten des scharfkantigen Gegenstandes und angewandte Angriffsvarianten als Erkenntnis gewonnen werden. Außerdem ist es zielführend für die Gefährlichkeitseinstufung, die möglichen Verletzungsmuster zu besprechen. In diesem Zusammenhang sollte für die Teilnehmer*innen die logische Schlussfolgerung der Wahl der Zwangsmittel deutlich werden, auch wenn dies in der endgültigen Konsequenz immer noch einmal situationsabhängig betrachtet werden muss.
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ngriffe mit scharfkantigen Gegenständen aus A „hoher“ Distanz
Eines der größten Probleme in der Analyse von aktuellen Beispielen ist das Erkennen und Einordnen des gefährlichen Gegenstandes. Um diesen Fakt ins Training zu integrieren, hat es sich bewährt, das Erkennen des scharfkantigen Gegenstandes als Voraussetzung für entsprechende Folgemaßnahmen zu machen und Experimente zum Erkennen des Gegenstandes durchzuführen. Ein weiterer Fakt, den es experimentell ins Bewusstsein der Teilnehmer*innen zu bringen gilt, ist die Distanz, in welcher der Gegenstand überhaupt erkennbar und ein Ausweichen zielführend ist. Dabei sollen bestimmte Parameter Berücksichtigung finden: • • • •
rückwärts Fortbewegen versus vorwärts Fortbewegen, verschiedene Distanzen von bspw. 3 m bis 10 m, das Erkennen des Gegenstandes, das damit verbundene Hervorholen des scharfkantigen Gegenstandes aus typischen Versteckmöglichkeiten und • der günstige Ausweichwinkel. Eine eigens erlebte Erkenntnis ist für das Behalten, Umsetzen, Nachvollziehen und ebenso für die allgemeine Trainingsmotivation von Vorteil. Diese induktive Lernmethode fördert die Akzeptanz der Aufgabe und zielt darauf ab, Polizeibeamt*innen zu Problemlöser*innen und nicht zu Nachmacher*innen zu trainieren. Das bewusste Wahrnehmen des Vorkonfliktes wird innerhalb der Experimente und Übungen geschult. Dazu gehören vor
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allem das Erkennen des gefährlichen Gegenstandes, typische Bewegungen, um den scharfkantigen Gegenstand aus den am Körper genutzten Versteckmöglichkeiten zu bergen und die Sensibilisierung auf Vorkampfanzeichen und Angriffsbewegungen. Um nun an das anzuknüpfen, was in den Experimenten als Erkenntnis gewonnen werden konnte, ist das Ausweichen durch folgende progressive und methodische Schritte zu erarbeiten: 1. reines Ausweichen unter Beachtung des Ausweichwinkels und der Ausweichmöglichkeiten, 2. Ausweichen, Ziehen und Einsetzen der Waffe. Dabei ist der Angreifende anfänglich noch statisch und wird je nach erfolgreicher Ausweichbewegung in seinem Angriff dynamischer. Der/die Polizeibeamt*in reagiert in seiner/ihrer Ausweichbewegung auf das Tempo des/der Angreifenden, welche/r, wie oben beschrieben, sein/ihr Tempo erst steigert, wenn die Bewegung in ihrer Ausführung erfolgreich war. Es werden außerdem beide Richtungen wie oben angegeben trainiert und schließlich miteinander verknüpft. In all diesen Steigerungsmöglichkeiten darf der Fakt des Erkennens des scharfkantigen Gegenstandes immer wieder berücksichtigt werden, um die Aufmerksamkeit auf den Angreifenden zu schulen und eine Reaktion zu forcieren. In dieser Trainingsphase wird zum Nachteil der Repräsentativität der Sicherheitsaspekt insofern betont, dass hier ausschließlich mit der Übungswaffe (der Rotwaffe), dem Gummimesser und der Schutzbrille gearbeitet wird. Der Grad der Funktionalität gewinnt hinsichtlich der Dynamik und Intensität bzw. mit Überraschungsmomenten an Bedeutung. Das affektive Element wird innerhalb der Funktionalität aufgrund der Einhaltung der Trainingssicherheit weniger betont. Bisher ist die Handlungstreue durch das Nutzen der Rotwaffe ausschließlich auf die Bewegungen und die stattfindende minimale Kommunikation begrenzt. Als weiteren Schritt im progressiven Training wird die Handlung aus dem Trockentraining, dem Training mit der Rotwaffe, in den „scharfen Schuss“ übertragen. Die Handlungstreue wird hierbei gesteigert, auch wenn in diesem Zusammenhang eine Reduktion der Funktionalität stattfinden muss. Zudem sollte ein methodischer Aufbau genutzt werden, um bei Teilnehmer*innen zielgerichtet auf den komplexen Ablauf einzugehen und diese nicht gleich zu überfordern. Ein möglicher Aufbau könnte sein: • einhändiges Schießen, • einhändiges Schießen 45 Grad zum Ziel entgegen der Schusshand, • beidhändiges „verkürztes“ Schießen 45 Grad zum Ziel in Richtung zur Schusshand (Rechtshänder nach rechts gedreht), • Schießen in der Bewegung – ca. 45 Grad zum Ziel – einhändig,
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• Schießen in der Bewegung – ca. 45 Grad zum Ziel – beidhändig, –– dabei wird das Ausweichtempo allmählich gesteigert, je nachdem, ob die Bewegung und die Treffer erfolgreich waren, • Wechsel der Ausweichrichtung, • Störungen – Anzündversager oder Magazinwechsel – einbauen mit dem Ziel, beim Beseitigen der Störung in Bewegung zu bleiben, • wenn die Technik auf dem Schießplatz es hergibt, ein bewegliches Ziel beschießen, ansonsten zumindest ein 3-D-Ziel nutzten, um auch von schräg geschossene „Treffer“ werten zu können. All diese Trainingsinhalte zielen auf die Bewältigung der Konfliktphase ab, allerdings sollten bei erfolgreicher Bewegung das Hervorholen und Erkennen des gefährlichen Gegenstandes und die damit verbundene Vorkonfliktphase immer wieder ins Training inte griert werden. Damit einhergehend ist auch die Schieß- bzw. Nichtschießentscheidung, welche in jeder Trainingsphase Einzug hält. Um nun die Repräsentativität zu steigern, ist es notwendig, das erarbeitete und nun gefestigte Handlungsmuster unter „reelleren“ Bedingungen bzw. im Kontext Einsatz abzubilden. Es empfiehlt sich, mit dem Trainingsmittel der „Farbmarkierung“ zu arbeiten. Dabei sollte das im Schießtraining Erarbeitete gegenüber einem/r „echten“ Angreifer*in und keiner Zielscheibe angewandt werden. Mit einer Steigerung von Schnelligkeit, Komplexität u. a. methodischen Mitteln werden Teilnehmer*innen darauf vorbereitet, die letzte mögliche Stufe des Trainings unter Berücksichtigung der entsprechenden Sicherheit, nämlich die Interaktion mit dem Gegenüber, positiv zu bewältigen. Bis hier wurden hauptsächlich die Möglichkeiten des Handlungsmusters trainiert, d. h., die Kommunikation wurde beschränkt auf Schlagwörter wie „Waffe“ o. Ä., welche beim Erkennen des gefährlichen Gegenstandes als Signal üblicherweise genutzt werden. Ein Angriff des polizeilichen Gegenübers wurde bisher vorausgesetzt und die reinen Handlungen mit der entsprechenden Ausweichdistanz trainiert. Ein Kommunizieren, um den Angreifenden zu beeinflussen oder um auf ihn einzugehen, hat bisher im Training nicht stattgefunden. Es wurde sich ausschließlich auf die Bewegungen und die reinen Handlungen konzentriert. Dies ist insofern wichtig, um Teilnehmer*innen ein Anlernen der Handlung nicht zu erschweren. Der komplexe interaktive Teil des Trainings erfolgt erst mit der Einschätzung, dass durch die Teilnehmer*innen die Handlungen i. Z. m. dem Ausweichen und dem Nutzen der Schusswaffe beherrscht werden. Ist dies der Fall, kann ein komplexeres Training in Angriff genommen werden – das Handlungstraining. Im Handlungstraining werden die Polizeikräfte vor eine Situation gestellt, welche mit bekannten Einsatzsituationen in Einklang gebracht werden kann. Jegliche unrealistische Situation und Reaktion des polizeilichen Gegenübers sind zu vermeiden. Mit einer entsprechenden Steigerung sind die Kurzszenarien an das bisherige Training und an die Teilnehmer*innen so anzupassen, dass diese lösbar bleiben und die Teilnehmer*innen mit einem positiven Ergebnis das Szenario abschließen können. In diesem
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usammenhang ist es zwingend Voraussetzung, dass Rollenspieler*innen Trainer*innen Z sind. Er/sie muss das Szenario so beeinflussen können, dass • der/die Trainierende in seinem/ihren Verhalten die Möglichkeit offeriert bekommt, die Aufgabe zu lösen, • kein Wettkampfcharakter in der Situation entsteht, • die Sicherheitsvoraussetzungen eingehalten werden und • das Handlungsszenario erfolgreich endet. Da die Abwehr von scharfkantigen Gegenständen im Nahbereich bisher noch nicht Teil des Trainings war, ist es notwendig, auch diesen Bereich als Rollenspieler*innen und Trainer*innen im Szenario zu meiden. Dieser Pfad in der oben angeführten Matrix beinhaltet ein weiteres fortführendes Training. Natürlich ist es auch möglich, den Teil der Matrix an einer anderen Stelle ins Training zu integrieren. Dann kann das Handlungstraining insgesamt vielseitiger gestaltet werden. In dieser Trainingsphase wird das Training in die Testumgebung übergehen. Ein hoher Grad an Funktionalität und Handlungstreue hält hier Einzug. Um das Szenarientraining weiterführend in die Nachkonfliktphase übergehen zu lassen, besteht die Notwendigkeit, den Aus- und Fortbildungsinhalt der „taktischen Verwundetenversorgung“ zu betrachten. Dieser Bereich ist ein weiterer Teil innerhalb des Einsatztrainings. Nach Absolvierung dieses Komplexes kann die Nachkonfliktphase in diesem Zusammenhang in die Kurzszenarien integriert werden. Ein Nutzen von bekannten Handlungsabläufen, wie beispielsweise Fesselung, ist allerdings zu jederzeit als Wiederholung möglich.
4.1
Handeln im Streifenteam
Generell sind Polizeibeamt*innen in der sächsischen Polizei mindestens zu zweit auf der Straße. Das Arbeiten im Team ermöglicht in der Abwehr von scharfkantigen Gegenständen weitere Handlungsalternativen. Es ist notwendig, diese Problematik in einem fortführenden Training zum Thema Abwehr scharfkantiger Gegenstände zu betrachten. Die Abwehr zu zweit sollte ebenso progressiv und methodisch sinnvoll aufgebaut werden. Ein Experiment, welches den Teilnehmer*innen deutlich macht, dass ein gezieltes Ausweichen zu zweit in eine Richtung nicht möglich ist, wird für den weiteren Trainingsweg von Vorteil sein. Für den Trainingsaufbau steht das Verfolgen eines taktischen Ziels im Vordergrund. Alle Ausweichbewegungen müssen zum Ziel haben, sich nach den ersten Reaktionen, welche bei Teilnehmer*innen unterschiedlich sein können, wiederzufinden. Ein weiteres Prinzip wird in den Experimenten des fortfolgenden Trainings deutlich. Bei verschiedenen Ausweichrichtungen und den unkontrollierbaren Reaktionen des/der Angreifenden ist es schnell möglich, in die Schusslinie eigener Kolleg*innen zu geraten.
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Ziel nicht angegriffener Polizeibeamt*innen ist es daher, diese Linie zu meiden und seine(n) Partner*innen schnellstmöglich zu unterstützen. Das Training im Team findet erst statt, wenn das Abwehren von Angriffen mit scharfkantigen Gegenständen als Einzelne/r bereits absolviert wurde. Dabei kann wie hier beschrieben eine Teamarbeit durchgeführt werden, wenn ein Teil des Trainingsinhaltes – Angriffe aus der Distanz – abgeschlossen ist. Es kann aber durchaus auch erst der Bereich der Nahdistanz trainiert werden und danach die Arbeit im Team Betrachtung finden. Das Training zur Abwehr von Angriffen mit scharfkantigen Gegenständen im Streifenteam kann methodisch folgendermaßen aufgebaut werden: 1. Ausweichen ohne Schusswaffengebrauch in Form von Experimenten verbunden mit der Erkenntnis, dass im Hochstress ein Zusammenbleiben der Teampartner*innen nicht möglich ist • es ist notwendig, einen entsprechend hohen Druck oder ein Überraschungsmoment zu verursachen, • pures Reagieren des/der Einzelnen bestätigt diese Erkenntnis, • Zeit zum Überlegen durch beispielsweise eine/n langsame/n Angreifende/n verfälscht das Ergebnis, Die Trainer*innen erhöhen das perzeptuell-kognitive Element, um einsatznahe Reaktionen zu verursachen, 2. taktische Ziele an das Ausweichen anfügen – wieder Zusammenfinden- oder/und mögliche Deckungen nutzen, 3. Ausweichen und Ziehen/Nutzen der Waffe im Trockentraining – Rotwaffe – mit dem Verknüpfen der taktischen Ziele, 4. bisheriger Fortbildungsinhalt auf der Schießbahn im „scharfen Schuss“ trainieren, die Abstufung hinsichtlich der Einhaltung der Sicherheit orientiert sich an der Leistung einzelner Teilnehmer*innen, • vorbereitendes thematisch sinnvolles Einschießen, • durch Trainer*innen taktil vorgegebene Richtungen auf Erkennen des gefährlichen Gegenstandes (Signal oder Einblenden des/der Täter*in), • Abstufen durch 1. beide Rotwaffen, 2. einer Schwarzwaffe, einer Rotwaffe, 3. beide Schwarzwaffen mit dem Begleiten von jeweils einem/r Trainer*in an einem Schützen, • Vorgabe der Richtung beider Streifenpartner*innen – taktil, • Vorgabe der Richtung nur eines/r Beamt*in – taktil, die Handlungstreue wird sukzessive durch die einzelnen Stufen erhöht, 5. Handlungen in einsatznahe Situationen integrieren – Nutzen von Farbmarkierungssystemen, um Reaktion und Treffer auswerten zu können, 6. Kurzszenarien von nahezu realistischen Situationen, in welchen die Streifenpartner*innen in eine Interaktion mit dem/der Täter*in gezwungen werden. Eine Testumgebung für die handelnden Polizeibeamt*innen wird geschaffen.
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Grundsätzlich sollte in allen Bereichen des Trainings der Fokus der Trainer*innen auf den Teilnehmer*innen liegen. Das bedeutet, dass die Leistung des/der Einzelnen und nicht der vorgefertigte Plan der Trainer*innen den Fortschritt des Trainings bestimmt. Ein Überoder Unterfordern des Trainierenden kann die Motivation zum Nachteil beeinflussen und ist möglichst durch die Trainer*innen zu vermeiden.
4.2
Stress im Training
Ein vertiefendes Wissen zum Thema Stress und dessen Vorteile und Gefahren im Training muss jede/r Trainer*in gerade im Bereich des Handlungstrainings haben und anwenden können. Viele Trainingsinhalte können durch das gezielte Einsetzen von Stressindikatoren positiv hinsichtlich der Behaltensquote bei Teilnehmer*innen trainiert werden. Das bedeutet, dass eine höhere Wahrscheinlichkeit des Wiedererkennens einer Situation im Einsatz, welche im Training erlebt und erfolgreich abgeschlossen wurde, durch die Anwendung der Stressoren erzielt wird. Beim falschen oder nachlässigen Einsatz von Stress kann bei Teilnehmer*innen aber auch schnell eine Überforderung stattfinden. Es wird das Gegenteil vom eigentlichen Trainingsziel erreicht. Im schlechtesten Fall kommt es zu einem Trauma und die verursachende Situation wird durch den/die Teilnehmer*in gemieden. Umso wichtiger ist es, mit dieser Thematik professionell umzugehen. Ein Vermeiden von stressinduziertem Training ist allerdings keine Lösung. Folgende Darstellung soll den Nutzen verdeutlichen (vgl. Abb. 2 und 3): Um die Handlungen für den Ernstfall „wiedererkennbar“ zu machen, müssen diese möglichst unter ähnlichen oder wenigstens annähernd hoher hormoneller Stressbelastung trainiert werden – in der sogenannten Testumgebung. Wir versuchen, jedes Thema bis hin zur Testumgebung und entsprechend einsatznah und stressinduziert zu trainieren. Ein Mindestmaß an Sicherheit und ein Maximum an Repräsentativität sollten dabei Voraussetzung für das Umsetzen des Trainingsziels sein.
Abb. 2 Hormoneller Stresshaushalt im polizeilichen Kontext
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Abb. 3 Hormoneller Stresshaushalt im Training
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Angriffe mit scharfkantigen Gegenständen im Nahbereich
Betrachtet man Beispiele aus der Vergangenheit, in denen Polizeibeamt*innen Angriffe mit scharfkantigem Gegenstand in der absoluten Nahdistanz abwehren mussten, so war grundsätzlich ein Überraschungsmoment hinsichtlich der Erkennbarkeit des Gegenstandes oder ein Fehlverhalten wie z. B. rückwärts laufen des/der Polizeibeamt*innen vorausgegangen. Letzteres war bereits Inhalt der vorhergehenden Trainingseinheiten. Die erstere Situation ist Gegenstand für weitere Handlungen. Hier ist das Betrachten der Vorkonfliktphase nur insofern relevant, als dass gerade in Bereichen, in welchem eine Distanz schlecht aufrechterhalten werden kann, z. B. in Wohnungen o. a. engen Räumlichkeiten, die Aufmerksamkeit auf die mögliche Gefahr fokussiert wird. Die Zeit zwischen dem Agieren des/der Angreifenden und dem Reagieren des/ der Polizeibeamt*innen soll so kurz als möglich gehalten werden. Folgender Zeitstrahl mit Bezug zum OODA-Loop des amerikanischen Militärstrategen John Boyd macht den zeitlichen Zusammenhang deutlich (vgl. Abb. 4): Je kürzer die Zeit zwischen Angriff und Abwehr ist, desto wahrscheinlicher ist es, diesen Angriff zu überleben oder wenigstens weniger Verletzung davonzutragen. Einen zeitlichen Vorsprung wird der/die Angreifende immer haben, da der/die Polizeibeamt*innen nicht in den Kopf des Täters schauen können. Aber zumindest diverse Vorkampfanzeichen können Beamt*innen auf einen Angriff vorbereiten. Schon bekannte Handlungsmuster können ein schnelleres Agieren abrufen. Deshalb ist es notwendig, diverse Handlungsstrategien und -prinzipien kennenzulernen und zu trainieren. In der vorbereitenden Einstimmung zum Thema können, wie bereits o. a., ein oder mehrere anschauliche Beispiele eine Sensibilisierung und Motivation bewirken. Dies sollte durch die Trainer*innen forciert und hinsichtlich der Erarbeitung beabsichtigt werden. Der praktische Start ins Training wird einen Bezug zum Erkennen des gefährlichen Gegenstandes beinhalten – auch typische Handlungsabfolgen des/der Angreifenden können auf die Verwendung eines Messers, Schraubenziehers o. Ä. hinweisen. Diese Erkenntnis sollte Teil der vorbereitenden Sensibilisierung sein und hier aufgegriffen werden. Ein
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Abb. 4 Zeitstrahl mit Bezug zum OODA-Loop des amerikanischen Militärstrategen John Boyd
Reagieren auf derart hinweisende Bewegungen ist möglich, auch ohne dass zu Beginn des Angriffes der Gegenstand wirklich gesehen wird. Die erste, zumeist instinktive Reaktion gegenüber einem Angriff in der Nahdistanz ist das Abwehren – Weghalten des angreifenden Armes, das sogenannte Shielden. Das Shielden muss einerseits zum Ziel haben, den Arm fernzuhalten, und andererseits, diesen zu fassen. Eine Möglichkeit dabei ist, gegen das Handgelenk des/der Angreifenden zu arbeiten. Dieses ist allerdings schwer zu fassen. Eine weitere Variante ist, mit einer Hand gegen das Handgelenk und mit der zweiten in die Armbeuge des/der Angreifenden zu arbeiten. Generell wird diese Abwehr genutzt, um möglichst schwerwiegende Verletzungen von Kopf, Hals und Körper zu vermeiden. Durch Experimente wird den Teilnehmer*innen deutlich gemacht, dass das Shielden eine unbestreitbare und wichtige Abwehrhandlung ist, aber nicht als alleinige Abwehr ausreicht. Es muss eine weiterführende Handlung stattfinden und auch trainiert werden. In der Folge wird die Handlungsschleife, also das Zustechen des/der Angreifenden,
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d urchbrochen. Ein Ziehen oder Schieben am angreifenden Arm kann den/die Angreifende/n aus dem Konzept bringen und es eröffnet ein Zeitfenster, in welchem auf das bereits Bekannte und Trainierte zurückgegriffen werden kann. Eine Ausweichbewegung, verbunden mit Ziehen der Waffe und dem Schusswaffengebrauch, ist die Folge. Ein Trainieren des Abwehrens des Angriffs wird mit realistischen Angriffsmustern durchgeführt. Dabei ist nicht gemeint, mit voller Intensität und maximaler Geschwindigkeit zu arbeiten, sondern eine Abfolge von mehreren aufeinanderfolgenden Stichen, welche im Einstieg als typische Bewegungsmuster von Angreifenden herausgearbeitet wurden. Während der Erarbeitung der Abwehr in der Nahdistanz können Parameter wie Überraschung, Intensität, Geschwindigkeit, Angriffswinkel, verändert bzw. gesteigert werden. Die Trainer*innen arbeiten hier mit den Elementen der Physis und der perzeptuell- kognitiven Fähigkeiten, um die Funktionalität allmählich zu steigern. Es ist in solch einer Situation nicht immer möglich auszuweichen. Ursachen könnten bauliche Einschränkungen sein oder auch der Umstand, dass der/dieBeamt*in den angreifenden Arm nicht zu fassen bekommt, schon so fest zugefasst hat, dass er/sie diesen nicht wieder loslassen kann oder in der Abwehrhandlung das Gleichgewicht verliert und zu Fall kommt. In dieser Situation ist die Möglichkeit der Kontrolle über den/die Angreifende/n Ziel der weiteren Handlung. Die Prinzipien allgemeiner Abwehrhandlungen kommen hierbei zum Tragen. Dies beinhaltet das Arbeiten an der Seite des/der Angreifenden verbunden mit einer Kontrolle an der Wand oder am Boden. Diese bekannten Handlungen lassen sich ins Training integrieren. Die entsprechend notwendige Einhaltung der Sicherheit muss durch die Trainer*innen gewährleistet werden. Dies kann durch den Einsatz von zusätzlicher Schutzausrüstung, wie z. B. Helm, Polsterung zu den im „Messertraining“ generell genutzten Ausrüstungen, geschehen, aber auch durch das Regulieren von Intensität u. a. Parameter. In diesem Trainingsstadium ist häufig zu beobachten, dass viele Teilnehmer*innen im „Kämpfen“ in das Messer fassen oder Stiche beim Versuch, die Kontrolle zu erlangen, in Kauf nehmen. Um für die Teilnehmer*innen die Gefährlichkeit des scharfkantigen Gegenstandes in Erinnerung zu rufen, ist es möglich, Trainingshilfen wie das Farbmarkierungsmesser oder auch ein Akustikmesser zu nutzen. Diese sind für die Einhaltung der Trainingssicherheit geeignet und zeigen verletzungsrelevante Stiche und Schnitte durch visuelle oder akustische Signale auf. Für eine weitere Trainingssteigerung wird das Erlernte in einsatznahe realitätsnahe Situationen gebracht, welche den Überraschungsfakt beinhalten müssen. Eine Überraschung zu simulieren ist immer schwierig. Es empfiehlt sich, Ausgangssituationen, welche diese unmittelbare Nähe zum/r Täter*in voraussetzen, vorzugeben. Genauso verhält es sich bei der darauffolgenden Interaktion zwischen Beamt*innen und Rollenspieler*innen in der anspruchsvollsten Stufe des Trainings – im Handlungstraining.
Training: Angriffe mit scharfkantigen Gegenständen gegen Polizeibeamt*innen
5.1
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Problematik Schusswaffengebrauch in der Nahdistanz
Das Nutzen der Schusswaffe in der absoluten Nahdistanz spielt im Training eine nicht so bedeutsame Rolle. Als angegriffene/r Polizeibeamt*in benötigt der/die Teilnehmer*in in realitätsnaher Simulation des Angriffs beide Hände für die Abwehr der Angriffe. Hier jetzt auf eine Hand zu verzichten, welche nach der Waffe greift, ist es wert, in einem Experiment zu testen, sodass sich jede/r Teilnehmer*in selbst ein Urteil über die Sinnhaftigkeit dieser Handlung bilden kann. Inwieweit der/die unterstützende Kolleg*in in solch einer dynamischen Situation von der Schusswaffe Gebrauch machen kann, darf sich jede/r Teilnehmer*in im Erleben eines simulierten Angriffs ebenfalls ein Bild machen. Den Teilnehmer*innen wird außerdem die Störungsanfälligkeit eines Schusswaffengebrauchs bei aufgesetzten oder in der Rangelei genutzten Waffen aufgezeigt. Die Möglichkeiten des/der nicht betroffenen Streifenteampartner*in beim Angriff mit einem scharfkantigen Gegenstand in dieser absoluten Nahdistanz unterscheiden sich nicht wesentlich von den allgemeinen Zwangsmaßnahmen im Team und benötigen deshalb keinen so hohen Trainingsmehraufwand wie in der o. a. Ausweichdistanz.
6
Weitere Trainingsansätze
Eine weitere Betrachtung im umfassenden Training zu tätlichen Auseinandersetzungen mit einem/r Angreifenden ist die Phase, welche unmittelbar nach Beendigung der Gefahr eintritt. Die Nachkonfliktphase besteht in erster Linie aus dem Sichern des/der Täter*in, dem Umschau halten, um weitere Gefahren auszuschließen, und in zweiter Linie aus der Kontrolle der eigenen Unversehrtheit oder der von Streifenpartner*innen und der daraus resultierenden taktischen Verwundetenversorgung, wenn es denn notwendig ist. Um weitere Gefährdungen auszuschließen, wird nach einer erfolgreichen Abwehr des Angriffs mit einem scharfkantigen Gegenstand, der/die Täter*in gesichert. Dies erfolgt je nach Situation und Distanz durch die Beamt*innen mithilfe der Einsatzmittel. Danach erfolgt die Absuche des Körpers nach Wunden. Dies ist notwendig, da in einer solch hoch dynamischen und hoch stressbelasteten Situation es möglich sein kann, dass ein Stich mit einem scharfkantigen Gegenstand nicht von einem Schlag unterschieden worden ist. Nachdem der Kreislauf hormonell wieder zur Ruhe kommt, kann ein Blutverlust, welcher nicht sofort festgestellt wurde, verheerende Folgen haben. Ob nun der/die andere Beamt*in sich selbst kontrolliert oder weiter sichert, um dann von seinem/r Kolleg*in nach Verletzungen abgesucht zu werden, ist wiederum situationsabhängig und kann im Training flexibel gestaltet werden. Die Versorgung des/der Täter*in ist ebenso Teil der Nachkonfliktphase und sollte als solches ins Training integriert werden. Die taktische Verwundetenversorgung als eigenständiger Lehrkomplex beinhaltet die notwendigen Sofortmaßnahmen für typische Verletzungen in der Konfrontation mit dem bewaffneten Gegenüber, so auch Stich- und Schnittverletzungen. Das Anlegen von
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ourniquet und Israeli-Bandage seien hier beispielhaft erwähnt, aber auch taktische T Grundsätze werden in dieses Training integriert. Das Ziel ist es, schlimmere Folgen der Verletzung von sich und Kolleg*innen abzuwenden, aber auch die Möglichkeit, Verletzte aus dem zivilen Bereich oder den/die Täter*in zu versorgen. Das Anwenden der Nachkonfliktmaßnahmen in den Kurzszenarien ermöglicht es Beamt*innen im Ernstfall, eine nach Beendigung des Angriffes mögliche Handlungsstarre zu überwinden. Fazit Die Abwehr gegen scharfkantige Gegenstände ist eine sehr komplexe und vielseitige Trainingsthematik. Ziel der Trainer*innen ist es, einen Wiedererkennungswert für derartige Angriffe zu schaffen. Dies ist nur möglich, wenn die Trainer*innen in der, wenn auch meist nur kurzen, Fortbildungszeit eine möglichst geringe Auswahl an Handlungsalternativen mit den Teilnehmer*innen erarbeiten, welche eine Lösung mit möglichst verletzungsarmen Auswirkungen beinhaltet. Eine hohe Auswahl an Lösungswegen wäre kontraproduktiv, da jede Entscheidung in hoch dynamischen und stressbelasteten Situationen Zeit kostet, welche in lebensgefährlichen Momenten einfach nicht zur Verfügung steht. Als Trainer versuchen wir, jedes Thema in allen Bereichen, von den Grundlagen bis zur Anwendung in der Testumgebung, durchzuführen. Dabei wird Funktionalität und Handlungstreue je nach Trainingserfolg bei Teilnehmer*innen gesteigert, ohne dass die Sicherheit im Training darunter leidet. Eine übertriebene Repräsentativität würde das Nutzen eines scharfen Messers beinhalten, was hinsichtlich der Trainingssicherheit ganz klar ausgeschlossen wird. Damit sinkt zwar die Funktionalität im Training, aber um verletzungsfrei zu trainieren, ist das ein Kompromiss, den jede/r Trainer*in machen muss. Ein Wiedererkennen im Einsatz ist nur möglich, wenn ein künstlich geschaffener hormonell bedingter Anstieg der Herzfrequenz im Training hervorgerufen wird. Dieser muss sich annähernd in den Bereichen befinden, welche mit denen in lebensgefährlichen Einsatzsituationen vergleichbar sind. Der positive Nebeneffekt ist die dadurch geschaffene hohe Behaltensquote des Handlungsablaufes. Voraussetzung ist der positive Ausgang der Handlung des/der teilnehmenden Beamt*innen, für welche der/die Trainer*innen verantwortlich sind. Eine Bewältigung der simulierten Lage hängt zu großen Teilen von der Motivation der Beamt*innen ab. Diese Motivation muss durch die Trainer*innen von der ersten Minute bis zur letzten Minute des Trainings hervorgerufen werden und im Fokus bleiben. Denn nur motivierte Teilnehmer*innen können sich auf die Aufgabe einlassen und in der Endkonsequenz zu Problemlöser*innen werden.
„Im Vollbesitz der geistigen Kräfte“: Ein Trainingsprogramm für innere Stabilität von Einsatzkräften Eckhard Zihn
Inhaltsverzeichnis 1 „ Internaltraining“: Gestalt und Inhalt 1.1 Modul „Geschärftes Gewissen“ 1.2 Modul „Unbeugsamer Geist“ 1.3 Modul „Kooperative Gesinnung“ 2 Internaltraining: Wissenschaftliche Grundlagen und Maßgaben 2.1 Handlungsfähigkeit, bildungstheoretisch grundgelegt 2.2 Handlungsfähigkeit, neurowissenschaftlich rekonstruiert 2.3 Handlungsfähigkeit, didaktisch operationalisiert 3 „Internaltraining“: Perspektiven und Ableitungen 3.1 Theoretische Perspektiven 3.2 Pragmatische Ableitungen Literatur
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Zusammenfassung
„Einsatzbereitschaft hergestellt – und zwar in voller Gänze!“ Schon lange weiß man, dass die mentale Aufstellung, oft Mindset genannt, die Entfaltung von Einsatzbereitschaft und -kraft beeinträchtigt (Grossman. On Combat. The psychology and physiology of deadly conflict in war and in peace. Warrior Science Publications, Millstadt,
Reviewer: Robert Hintereker, Peter Schröder-Bäck E. Zihn (*) Bundespolizeidirektion D11, Bundespolizei, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_49
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2008). Ausgangspunkt dieses Beitrags ist, dass auch andere Instanzen wie Motivation und Wille (Baumeister und Thierny. Die Macht der Disziplin. Wie wir unseren Willen trainieren können. The Penguin Press, New York, 2012), die moralische Haltung (Wood 2016) und die soziale Konstitution von Gruppen (Meyer. Kriegs- und Militärsoziologie. Goldmann, München, 1977) Einfluss auf die Einsatzbereitschaft ausüben. Offenbar spielt die innere Disposition von Einsatzkräften im Ganzen eine maßgebliche Rolle im Blick auf den Einsatzerfolg. In Anlehnung an den Begriff des Mentaltrainings werden deshalb Begriff und Konzept eines Internaltrainings in die Diskussion gebracht, um deutlich zu machen, dass neben der mentalen Instanz mindestens auch die Instanzen des Gewissens (Schmidt. Das Phänomen Zweikampf. K-ISOM Verlag, Nürnberg, 2016) und der Wir-Gesinnung (Biehl. Einsatzmotivation und Kampfmoral. In Leonhard N und Werkner IJ (Hrsg) Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag, Wiesbaden, S 268–286, 2012) adressiert zu werden verdienen. Die Thematik der lebensbedrohlichen Einsatzlagen hat das dargestellte Trainingsprogramm hervorgebracht, das inzwischen regulärer Bestandteil polizeilicher Aus- und Fortbildung ist. Nachfolgend werden die Trainingsmodule vorgestellt, wissenschaftlich grundgelegt und von da aus für weitere Anwendungen nutzbar gemacht.
1
„Internaltraining“: Gestalt und Inhalt
Lebensbedrohliche Lagen legen offen, womit zu rechnen ist, wenn es um Leben und Tod geht. Dann kann nicht nur der mentale Apparat außer Balance geraten, sondern auch die psychosoziale und moralische Verfassung. In diesem Beitrag geht es darum, die jeweils möglichen Entgleisungsprozesse zu beschreiben und zu erörtern, welche Interventionen und Gegenmaßnahmen Erfolg versprechend sind. Die Verwendung der Bezeichnungen „geschärftes Gewissen“, „unbeugsamer Geist“, „kooperative Gesinnung“ ist dabei erkennbar didaktischen und rhetorischen Interessen geschuldet, obgleich der jeweilige Sachzusammenhang darin auch prägnant Niederschlag findet.
1.1
Modul „Geschärftes Gewissen“
Nicht erst aufgrund des Störungsbildes der sogenannten Moral Injury (Wood 2016) beschäftigt sich das erste Modul mit der Instanz des Gewissens. Die Entstehung von Moral (Bauer 2009) zeigt, dass diese im Dienst sozialen Handelns steht. Das Gewissen stellt ein evolutionär tief verankertes Alarmsystem dar, welches die Grundverpflichtung zum kooperativen Handeln einklagt (de Waal 2008). Infolgedessen kommt es bei jeglichem Verstoß – selbst wenn dieser in der guten Absicht geschieht, Schlimmeres zu verhindern – zur
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Remonstration (Gewissensbiss) und zur Gefahr eines inneren Zerwürfnisses der handelnden Person (Wood 2016). Das Modul beschäftigt sich also mit den Folgen und der Blockadewirkung der Gewissensregung im Kontext gewaltausübenden Handelns. Um den Sachverhalt zur Darstellung zu bringen, wird ein Schema bemüht, das den Verlauf der inneren Reaktionen im Kontext von Tötungshandlungen abzubilden in der Lage ist (Grossman 2009, S. 265). Den Fokus des Moduls bildet dabei die kritische Phase des Schemas: Ausübung von Gewalt impliziert die Gewissensregung der Abscheu gegen sich selbst, die im Nachhinein Reue und Zerknirschung hervorruft und im Vorhinein Skrupel, was zur Unterlassung effektiven Handelns führen kann. Die Beeinträchtigung von Handlungsfähigkeit liegt in beiden Fällen auf der Hand. Ein Paradox entsteht: Was im Kontext menschlicher Koexistenz ein Positivum darstellt, weil es Kooperation sichert, wird sogar dann, wenn der Einsatz von Gewalt der Durchsetzung von Recht dient, also selbst der Sicherung von Kooperation, zu einem schwerwiegenden Problem, weil es hilfreiches und rettendes Handeln vereiteln kann. Das berufsethische Training legt diese Zusammenhänge frei und erörtert Gegenmittel. Die Gegeninitiative besteht darin, das Gewissen zu bilden: „Eine Gewissensbildung ist gelungen, wenn das Gewissen weder übertriebene Gewissensbisse (skrupulös) kennt, noch auf der anderen Seite fast gar keine Gefühle mehr vorhanden sind (skrupellos)“ (Schmidt 2016, S. 83). Mit anderen Worten: Es geht um die Heranbildung einer differenzierungsfähigen Gewissens instanz, die zwischen übertriebenen und sachgemäßen Gewissensimpulsen zu unterscheiden in der Lage ist. Aus diesem Grund wird hier der Begriff „geschärftes Gewissen“ gebraucht. Wie wird die Balance zwischen Skrupellosigkeit und Skrupulösität angebahnt ? Es wird ein Gegengewicht erzeugt, das die evolutionsbiologisch bedingte Plakativität und Intensität der Gewissensregung zu regulieren verspricht. Ziel ist, ein moralisches Empfinden heranzubilden, das in der Lage ist, auch Akte der Ausübung von Gewalt als legitim anzusehen – vorausgesetzt, diese entsprechen den dafür notwendigen ethischen Kriterien, wie sie unten dargelegt werden, und haben also gute Gründe. Damit geht es im Modul um Prozesse ethisch angeleiteter Hinterfragung und Urteilsbildung, die zu einer Moderation und Einbremsung unsachgemäßer Gewissensimpulse führen sollen. Methodisch werden dazu Verfahrenstechniken der Güterabwägung und Situationsbeurteilung eingeübt. Der Akt der Ausübung von Gewalt wird in den Kontext des Gesamtzusammenhangs einer Situation gestellt, dort verortbar und in Hinblick auf seine ethisch-moralische Qualität bewertbar. Schaden und Wohl einer Handlung werden gegeneinander abgewogen. Paradebeispiel für solcherart exemplarisches Lernen ist hier der letale Einsatz des Präzisionsgewehres gegen Frau und Kind im Spielfilm « American Sniper ». Was moralisch zunächst als absolutes No-Go empfunden werden kann, wird im Verlauf der Wahrnehmung der Komplexität des Geschehens einer differenzierteren Bewertung zugeführt. Geschehensabläufe werden genau betrachtet, Verhalten, Mimik und Gestik handelnder Personen analysiert. Gewaltausübung kann unter dieser Betrachtung, dem Gewissensimpuls entgegengesetzt, als durchaus legitim und geboten erkennbar werden.
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Ziel so gestalteter ethischer Reflexion von Lagekonstellationen ist die Einübung in die Fähigkeit eines ethisch-moralischen Situationsscans, der entlang eines Ampelmodells potenzielle Gewaltausübung auf ihre ethische Berechtigung hin überprüft. Einsatzkräfte sollen so vor unnötigen Risiken und Nebenwirkungen der Gewissenregung geschützt werden können, insofern diese in die Lage versetzt werden, im Vorhinein zu registrieren, welche Art der Gewaltausübung sie in ernsthafte seelische Krisen versetzen wird (Grossman 2009). Die Kriterien, die erfüllt sein müssen, soll Gewaltausübung als legitim und, so die Grundannahme hier, als seelisch verkraftbar gelten, entsprechen friedensethischer Theoriebildung (Haspel 1996). Gewalt kann dann als gerechtfertigt gelten, wenn a) ein hinreichender Grund für ihre Ausübung vorliegt, b) eine ausreichende Legitimierung besteht, c) die Ultima-Ratio-Situation und d) ausschließlich die Motivation der rettenden Tat gegeben ist.
1.2
Modul „Unbeugsamer Geist“
Wie die ethisch-moralische Verfassung durch lebensbedrohliche Einsatzlagen ins Schwanken geraten kann, so auch das mentale System. Ausgehend von der von Yerkes und Dodson entdeckten Korrelation von Stressbelastung und Leistungsfähigkeit, die mithilfe des Modells der umgekehrten U-Kurve zur Darstellung gebracht wird, werden spezifische Reaktionsweisen des mentalen Apparates thematisiert (Grossman 2008, S. 34). Dazu wird ein farbiges 5-Zonen-Schema vorgestellt, das den Anstieg und Abfall der Kurve vom weißen und gelben Zustand normaler Stressbelastung bis hin zum Zustand der Extremstressbelastung im grauen und schwarzen Bereich kommentiert. In der Mitte liegt die rote Zone, die dem Hochplateau der umgekehrten U-Kurve entspricht. In diesem Zusammenhang sind die Merkmale der sogenannten grauen und schwarzen Zone, die die Ausfallerscheinungen thematisieren, von einem hohen Erschließungswert. Im Einzelnen wird hier z. B. auf das Phänomen des beidseitig symme trischen Agierens und die Veränderungen der Sinneswahrnehmung im visuellen und akustischen Kontext eingegangen. Die Gefahr vollständiger Passivität und Kapitulation wird Thema. Die Beschreibung der Merkmalsstruktur der sogenannten roten Zone (peripheres Sehen, perfekte Hand-Augen-Koordination etc.) bildet bereits den Übergang dazu, die Gegenmittel zu den genannten Abbauerscheinungen zu thematisieren. Bildet die rote Zone den Zustand optimaler Handlungsfähigkeit in Kampf- und Überlebenssituationen ab (Grossman 2008, S. 31), ist es von hoher Bedeutung, sich mit ihren Eigenschaften vertraut zu machen. Unter Rückgriff auf die sportpsychologische Theorie der „Individual Zone of Optimal Functioning“ (IZOF) (Staller 2013) wird ein Veranschaulichungsmodell präsentiert. Es macht deutlich, dass es in Bezug auf die mentale Verfassung stets darauf ankommt, sowohl die Untererregung des Stressimpulses (weiße und gelbe Phase) als auch die Überstimulanz der grauen und schwarzen Phase zu vermeiden. Im metaphorischen Gebrauch des Kurvenbildes sind das die Beugezustände, denen der Daueraufenthalt im
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Hochplateau der Kurve als Leitbild mentaler Stabilität entgegengesetzt wird, daher die Verwendung des Begriffes „unbeugsamer Geist“. Wie kommt man zu diesem Verweilen in der IZOF? Hier bietet die Sportpsychologie Möglichkeiten zur Entwicklung effektiver Kompetenzerweiterung. Es werden vier stressregulierende Methoden vorgestellt, die in die Lage versetzen können, im sog. Peak- Performance-Zustand zu verweilen. Im Einzelnen sind das: taktische Atmung, positives Selbstgespräch, Zielfokussierung und mentale Bebilderung. Im Ergebnis werden diese Methoden präsentiert und teilweise auch praktisch eingeübt, um Handlungskontrolle in Extremsituationen zu ermöglichen (Staller 2013).
1.3
Modul „Kooperative Gesinnung“
Wie die mentale Konstitution in lebensbedrohlichen Situationen Veränderungen erfahren kann, so auch die soziale. Wenn mehrere Personen zum Objekt von Lebensbedrohung werden oder diese den Auftrag haben, gemeinsam dieselbe auszuschalten, treten Effekte auf, die den Gruppenzusammenhalt in einer Gruppe beeinflussen. Das ist das Thema des dritten Moduls mit dem Ziel der Anbahnung sozialer Hochrisikokompetenz. Wieder wird zunächst die Herausforderungskonstellation skizziert. Dabei bildet die Fähigkeit zur Kooperation als die dem Menschen, im Unterschied zum Aggressionstrieb, erstrangig angestammte Eigenschaft den Ausgangspunkt (Bauer 2009). Zur schematischen Veranschaulichung dessen, was sich ereignet, wenn eine Gruppe unter lebensgefährliche Bedingungen gerät und darin agiert, wird auf ein Vierfelderschema zurückgegriffen, das in der Lage ist, Zustände des Gruppenzusammenhaltes zu erfassen (Stahl 2017). So werden in dem Schema entlang der vertikalen Achse Gruppenzustände nach dem in Gruppen herrschenden Nähe-Distanz-Verhältnis eingeordnet, entlang der horizontalen Achse die Dauer-Wechsel-Verhältnisse beschrieben. Auf diese Weise können verschiedene Ag gregatzustände von Gruppenzusammenhängen identifiziert werden. Sind Menschen in einer Gruppe, die nur bedingt miteinander vertraut sind (Distanz) und nur auf bestimmte Zeit (Wechsel), dann entsteht eine Gruppe mit losen Verbindungen (Haufen oder Ansammlung genannt). Sind Menschen dauerhafter miteinander verbunden und erlangen Kenntnis und Vertrautheit miteinander, ist vom Gruppenmodus der Gemeinschaft zu reden. Innerhalb dieser Matrix gedacht, kann für lebensbedrohliche Einsatzlagen, setzt man die genannte ursprüngliche biologische Kooperationsneigung voraus, ein starker Impuls zu gemeinschaftlichem Denken und Handeln erwartet werden. Aus einem mehr oder minder losen Verbund wird eine Gefahrengemeinschaft: „Not schweißt zusammen.“ Für die Bestimmung des Lernziels dieses Moduls sind auch hier die inhärenten Entgleisungszustände ausschlaggebend. Anschaulich gesagt: Gruppenzusammenhalt kann in Konfrontation mit Lebensgefahr entweder in einen Zustand zu hoher Hitze verfallen oder erkalten. Für die Beschreibung des zuerst genannten Aggregatzustandes wird demonstriert, was passiert, wenn Einmütigkeitsdenken greift. Dann ist die Gruppe in ihrer Zusammensetzung bereits zuvor oft durch Homogenität in Herkunft, Meinung, Alter etc.
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bestimmt (Irving 1972). Viel ausschlaggebender ist allerdings, was dann passiert, wenn die Gruppe dem Denken im Kollektiv verfallen ist. Dann entsteht ein Zustand, den man „Entscheidungsautismus“ (Schulz-Hardt 1997) nennen kann. Situationen werden einlinig fehlgedeutet, es kommt zu einer reduzierten Evaluierung von Handlungsoptionen, Entscheidungen fallen eindimensional aus. Man gerät als Gruppe in den Modus des Groupthink (Irving 1972). Auch die gegenteilige Entwicklung des Gruppengeschehens ist denkbar. Hier geht es um den Zerfall einer Gruppe in ihre Einzelteile. Was in zahlreichen Übungsszenarien zu beobachten war, ist, dass Gruppen, die sich bereits zum Stadium der gemeinsamen Aktionsfähigkeit emporgearbeitet haben, wieder in ihre Einzelteile auseinanderfallen. Beiden Tendenzen will das Internaltraining entgegenwirken, indem es sozusagen die „Thermodynamik“ einer Gruppe zu regulieren und somit die Gruppenkohäsion zu temperieren bestrebt ist. In diesem Modul ist die Wissenspräsentation das entscheidende Werkzeug. Es wird eine Vorstellung und ein Begriff davon entwickelt, wo innerhalb des Vierfelderschemas der optimale Referenzpunkt für effektive Gruppendynamik liegen könnte und worin Interventionen zur Vermeidung der geschilderten Extremzustände bestehen. So wird auf ein Tool zur Entscheidungsfindung hingewiesen, das die Engstirnigkeit und Kurzschlüssigkeit des Groupthink-Zustandes verhindern helfen soll (Hörmann 1994). Das Ethos der Kameradschaftlichkeit wird näher beleuchtet, ein derzeit wenig beforschtes Sozialitätsmodell (Sorg 2014), das allerdings hohes Potenzial besitzt, benötigte Nähe- und Distanzgrade unter Gruppenangehörigen zur Darstellung zu bringen. Insgesamt sind im Unterschied zu den anderen Modulen hier im berufsethischen Kontext Übungsprozesse nur in geringerem Maße möglich, weil es die tatsächliche Interaktion benötigt, um gruppendynamische Prozesse zu entwickeln (Stahl 2017). Immerhin kann das reflexive Moment in Stellung gebracht werden, welches Trainingshandeln dann auch soziologisch reflektieren hilft und damit zur Heranbildung kooperativer Gesinnung beitragen kann.
2
Internaltraining: Wissenschaftliche Grundlagen und Maßgaben
Der Beitrag berufsethischer Bildung besteht darin, verantwortungsvolles und zurechnungsfähiges Handeln zu befördern. Die Module tragen dazu bei, „das Heft des Handelns stets in der Hand zu behalten“, indem sie Entgleisungszustände im sozialen, mentalen und ethisch-moralischen Bereich zu moderieren helfen. In diesem Kapitel geht es darum, die den Dysbalancen entgegenwirkende Kompetenz der Handlungsfähigkeit zu definieren, ihre Merkmale zu bestimmen und zu beschreiben, was zu fördern sein wird, wenn Einsatzkräfte vollumfänglich handlungsfähig sein sollen.
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2.1
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Handlungsfähigkeit, bildungstheoretisch grundgelegt
„Bildung hat […] fundamental mit Handeln zu tun. Man ist daher nicht umso gebildeter, je mehr man weiß, sondern je mehr man handlungsfähig ist“ (Preul 2013, S. 83). In Bildungsprozessen wird dies gesteigert, „indem z. B. die Handlungsmöglichkeiten erweitert und alle im Freiheitsgebrauch in Anspruch genommenen Kräfte geübt und gestärkt […] werden“ (Preul 2013, S. 84). Bildung dient also immer dazu, sämtliche Bedingungen zu fördern, die ein aus freier Wahl hervorgehendes Tun von einem durch Reiz und Reaktion festgelegten Verhalten unterscheidet.1 Letzteres lässt sich z. B. in lebensbedrohlichen Einsatzlagen nicht selten beobachten, wenn Einsatzkräfte zum Spielball von Situationen werden. Angewandt auf berufsethische Bildung bedeutet dies, dass es ihr immer um die Anbahnung von Handlungsprozessen „im Vollsinn des Wortes“ (Preul 2013, S. 81) gehen muss. Im Zentrum steht die Einsatzkraft, die selbst bei allen Störmomenten dazu in der Lage sein soll, „in der Wahl von Zielen [und] in der Wahl von Mitteln eine bewusste Abwägung nach Kriterien und Zweckbegriffen [vorzunehmen] und auch […] ein klares Bewusstsein von sich selbst als handelndem Subjekt [zu haben]“ (Preul 2013, S. 84) oder, kurz gesagt, im Vollbesitz der geistigen Kräfte zu agieren.
2.2
Handlungsfähigkeit, neurowissenschaftlich rekonstruiert
Die bildungstheoretische Annäherung ergibt, dass Internaltraining dazu beiträgt, dass Einsatzkräfte als „handelnde Subjekte“ in polizeilichen Lagen situationsgestaltend in Aktion treten können und nicht zu Objekten von Szenarien werden. Welche Korrelationen damit genau angestrebt werden, lässt sich durch die neurowissenschaftliche Modellierung von Handlungsfähigkeit genauer präzisieren. Wenn „handelnde Subjekte“ dadurch gekennzeichnet sind, dass sie durch freie Wahl selbstinitiativ Prozesse in Gang setzen und halten, dann sind entsprechende Kompetenzen die Voraussetzung. Erforderlich ist, Aufmerksamkeit zu bündeln und Ablenkungen auszublenden (Reaktionsinhibition), die Verarbeitung simultaner Informationsströme in verschiedenen Sinnesmodalitäten (z. B. auditiv und visuell) zu koordinieren und die gleichzeitige Ausführung verschiedener Reaktionsmodalitäten (z. B. manuell und verbal) durchführen zu können. Vorausschauendes Denken und Planen unter Einsatz diverser Gedächtnissysteme gehört dazu und die Fähigkeit, möglichst viele verschiedene Lösungen für ein Problem zu finden (divergentes Denken) (Bellebaum et al. 2012). Auch soziale Kompetenzen (Empathie und Reziprozität) sind Voraussetzungen von Handlungsfähigkeit. „Der Mensch ist das zu bewussten und insofern freien Selektionsakten fähige, sich selbst und seine Umwelt (…) bestimmende Wesen. Das Tier agiert wohl und reagiert, indem es jeweils seinen Impulsen und Instinkten nach angelegten und erlernten Verhaltensmustern folgt, aber es ,handelt‘ nicht“ (Preul, 81). 1
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Alle genannten Funktionen sind im Wesentlichen Leistungen des sogenannten präfrontalen Cortex. Er bildet das oberste von drei Stockwerken im Gehirn (McLean 1990). Handlungsbefähigung jedoch ausschließlich diesem Hirnteil zuzuschreiben, greift zu kurz. Erst im Zusammenspiel mit dem Basissystem des limbischen Systems, wo die Belohnungs- und die Angstzentren zu finden sind (Bauer 2015), also Emotionen gebildet werden, wird Handlungsfähigkeit möglich. Hier wird der Stoff produziert, den der prä frontale Cortex verarbeiten, ordnen, hemmen, kreativ pointieren kann. Handlungsfähigkeit ist somit ein Produkt der Zusammenarbeit aller Gehirnteile, die im Idealfall Hand in Hand zusammenwirken. Im vorliegenden Zusammenhang von entscheidender Bedeutung ist, dass unter Hochlast, also im Falle von Lebensbedrohung, diese Synergie auseinanderzufallen droht. Nicht nur in Leben-/Tod-Situationen, aber da augenfällig kommt es auf blitzschnelle Verhaltensreaktionen an. Die bilanzierende, abwägende, differenzierte Entscheidungsfindung, wie sie unter Nicht-Überlebensbedingungen unter klarer Regie der Großhirnrinde getätigt wird, kann dann zu lange dauern. Je nach Heftigkeit des Bedrohungsreizes kann es nun dazu kommen, dass das Mittelhirn vollständig die Führung übernimmt. In diesem Fall spricht man vom limbic hijacking (Goleman 1996). Dieses schlägt sich darin nieder, dass es z. B. zu den unter Abschn. 1.2. erwähnten Ausfallerscheinungen kommt, weil die Repräsentation einer Situation weniger genau ausfällt, da es nicht um Exaktheit geht, sondern um Schnelligkeit. Die Auswirkungen eines limbic hijackings können sehr umfangreich und verheerend sein. Aus Sicht der Neurowissenschaft steht stets derselbe Prozess im Hintergrund: Es geht um die Auflösung der hierarchischen Arbeitsordnung des Gehirns (Porges 2017). Die untergeordneten Hirnareale, landläufig auch Reptilien- und Säugetierhirn genannt, entwinden sich der Kontrolle und Einhegung durch den präfrontalen Cortex und beginnen, Eigenleben zu entwickeln und Eigenimpulse in Informationsverarbeitung und Reaktionsgestaltung einzuspeisen. Handlungsfähigkeit i. S. der bildungstheoretischen Definition verschwindet und löst sich parallel zur hirnphysiologisch vorgesehenen Arbeitsstruktur mit auf. Dass sich mit dieser Analyse die Ziel- und Zweckbestimmung des Internaltrainings weiter schärfen lässt, liegt auf der Hand. Wenn das „handelnde Subjekt“ auch unter den Bedingungen von Extremsituationen im Blick ist, dann geht es vor dem Hintergrund einer neurowissenschaftlichen Betrachtung um die Bewerkstelligung, Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der hirnorganischen Interaktion. Anders gesagt: Im Vollbesitz der geistigen Kräfte arbeitet der/diejenige, der/die der hirnanatomischen Ordnung so weit wie möglich Genüge leistet. Dies mit zu bewirken, darin besteht der Beitrag berufsethischer Bildung in Gestalt des Internaltrainings.
2.3
Handlungsfähigkeit, didaktisch operationalisiert
Neurowissenschaftlich interpretiert kann man nun das Kernanliegen von Internaltraining darin sehen, die Fundamentalsysteme des Gehirns in ihrer gestaffelten Ordnung zu halten,
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damit handelnde Subjektivität, also Selbststeuerung, möglich ist (Bauer 2015). Die einzelnen Module lassen sich von daher als Balancierungshilfen verstehen, welche für temperierte Zustände im moralischen, mentalen und sozialen Bereich sorgen und jeweilige Ex trementwicklungen vermeiden wollen. Die Frage ist, ob aus der neurowissenschaftlichen Rekonstruktion noch weitere Handlungs- und Anwendungsmaßgaben resultieren. Tatsächlich lässt sich ein besonderes Hirnarealsystem ausmachen, das auch und gerade bei hoher Aktivität des limbischen Systems die bereits erwähnten Operationen des prä frontalen Cortex zu gewährleisten verspricht und damit die Auflösung der Hirnaktivitätsordnung verhindern kann. Ist dieses System gut ausgebaut, dann sind auch „komplexe Herausforderungen [zu] meistern“ (Bellebaum et al. 2012, S. 65). Man hat dieses System als Exekutivfunktion bezeichnet und meint damit alle kognitiven Fähigkeiten höherer Ordnung, die mit der flexiblen Steuerung komplexer, zielgerichteter Verhaltensweisen betraut sind (Bellebaum et al. 2012). Welche konzeptionellen Konsequenzen folgen aus diesen neurowissenschaftlichen Verhältnisbestimmungen? Aus den hirntheoretischen Betrachtungen resultiert letztlich die Empfehlung eines theoretischen Konstruktes, das für die Konzeption und Praxis eines Internaltrainings geradezu die Funktion eines didaktischen Leitmodells haben kann. Ursprünglich für Teamtraining entwickelt, bildet die „Betriebssystemtheorie“ (Zeyringer und Hütter 2019) exakt die relevanten hirnanatomischen Zuständigkeiten der exekutiven Funktionen ab und legt damit jene Stellschrauben offen, die betätigt werden müssen, um a) exekutive Funktionen zu fördern, somit b) den präfrontalen Cortex auszubauen und so c) Handlungsfähigkeit zu gewährleisten. Demnach ist die Aktivierung dreier Hirnbetriebssysteme entscheidend. Dabei geht es um das Bedrohungssystem, das Beruhigungs- und Versöhnungssystem und das Antriebssystem. Das Bedrohungssystem sichert die Fähigkeit, unter Hochstress agieren zu können, und wird im zweiten Modul behandelt. Das Beruhigungs- und Versöhnungssystem garantiert sozio-emotionales Verhalten, wie es im ersten und dritten Modul der TB anvisiert wird. Schließlich braucht es die Aktivierung des Antriebssystems, um Dynamik und Zielstrebigkeit von Handeln zu ermöglichen und aufrechtzuerhalten. Hier deutet sich eine blinde Stelle von Internaltraining in seiner jetzigen Form an, worauf zurückzukommen sein wird. Betrachtet man das Projekt eines Internaltrainings zusammenfassend aus wissenschaftlicher Perspektive, wird ersichtlich, dass es grundsätzlich als ein „Hirnanimationsprogramm“ verstanden werden kann. Internaltraining kümmert sich um die Agilität des Betriebssystems, das wiederum dafür sorgt, dass im ordentlichen hirnanatomischen Modus ge- und verarbeitet werden kann, also im Vollbesitz der geistigen Kräfte. Handlungsfähigkeit lässt sich also begreifen als eine Frage der ordentlichen Aufbau- und Ablauforganisation von Hirnprozessen, Internaltraining als ein Beitrag dazu.
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„Internaltraining“: Perspektiven und Ableitungen
Die bildungstheoretische und neurowissenschaftliche Profilierung von Handlungsbefähigung als Beitrag berufsethischer Bildung erfordert Nach- und Neujustierungen des Internaltrainings und seiner Konzeptualisierung. Dabei geht es zunächst um Aspekte von Validierung und Neusortierung, abschließend um praktische Konsequenzen.
3.1
Theoretische Perspektiven
Anschlussforschung: Hirnphysiologische Haltbarkeit Zum einen sind, ausgehend vom skizzierten menschlichen Betriebssystem, weitere hirnphysiologische Spezifikationen und Analysen vorzunehmen. Die Haltbarkeit der hier vorgetragenen Zuordnungen wird nachzuweisen und ihr eher hypothetischer Charakter abzustreifen sein. In diesem Zusammenhang sind dann solche Fragen zu klären: Wie ist eigentlich die Wirkung der Gewissensinstanz zu gewichten und wo genau ist diese zu lokalisieren? Wie ist das Zusammenspiel zwischen den Systemen der EF organisiert? Welche Einwirkungs- und Trainingsmöglichkeiten gibt es, um Gehirnwachstum durch Internaltraining weiter voranzutreiben? Hier ist an Querverbindungen zu anderen neurowissenschaftlichen Disziplinen, wie z. B. der Neuroathletik (Lienhard 2019), zu denken, um sich dem Zustand des Vollbesitzes der geistigen Kräfte immer weiter anzunähern. Es bedarf also der theoretischen Grundlagenforschung. Innovation „4G“: „Unbeugsamer Geist“, „Kooperative Gesinnung“, „Geschärftes Gewissen“ plus „Unverzagtes Gemüt“ Bleibt die erste Konsequenz im Grundsätzlichen, stellt der zweite Impuls konkrete Anforderungen an das Design des Internaltrainings. Wie unschwer zu erkennen ist, bildet die Animierung des Antriebssystems seinen blinden Fleck. Sowohl das Wir-System als auch das Ich-System finden durch die Module ihre Bearbeitung. Das emotiv-voluntative Es- System hingegen wird bislang nicht adressiert. Daher liegt es nahe, die bisherigen Impulse durch einen weiteren zu ergänzen. In diesem vierten Modul sollte das Lernziel sein, Willens- und Antriebskräfte in den Mittelpunkt zu stellen und dafür Sorge zu tragen, dass auch dieser basale Bestandteil des inneren Motors Förderung findet. „Dieses Prinzip sorgt dafür, dass wir nicht stehen bleiben; es treibt uns an, nach immer besseren, höheren Leistungen zu streben und manchmal eben nach den Sternen zu greifen“ (Zeyringer und Hütter 2019, S. 14). Dies kann das Leitmotto des Modules darstellen. Wie könnte das Modul aufgebaut sein? Die oben vorgestellten Lehrstücke folgen einem Aufbauschema. Vorgestellt werden zunächst immer Degenerationsmomente und -stadien. Die moralische, mentale und soziale Verfassung gerät ins Wanken und die Gefahr steigt,
„Im Vollbesitz der geistigen Kräfte“: Ein Trainingsprogramm für innere Stabilität von …
923
an innerer Stabilität zu verlieren. Im zweiten Schritt wird am Aufbau von Begegnungsstrukturen gearbeitet. Das bewährte Vorgehen kann für das neue Lehrstück ebenso gelten. Auch der Bereich des Willens und der Entschlossenheit, also eines durch Zuversicht geleiteten Handelns, steht in gefährlichen Einsätzen unter dem Damoklesschwert, fragil zu werden. Die Verzagtheit des Handelns wächst, die Einsatzleistung aufgrund von (Selbst-)Vertrauensverlusten und Mutlosigkeit schwindet. Die Wortwahl zeigt, dass hier Orientierungsprozesse nötig sind. Weder liegen die Bezugsdisziplinen für den Bereich so gut definiert vor wie in anderen Lehrstücken, noch sind die Begrifflichkeiten parkettfest. Das Fehlen eines Moduls könnte für die Weiterentwicklung des Internaltrainings jedoch einen erheblichen Gewinn darstellen. Was in den bisherigen Lehrstücken noch keinerlei Niederschlag gefunden hat, ist die Behandlung einer Thematik, die im Zusammenhang innerer Stabilität normalerweise erwartet würde: die posttraumatische Belastungsstörung. Ergibt sich hier womöglich ein Synergieeffekt, indem die Thematik von Traumatisierung in Verbindung gebracht wird mit der eines beeinträchtigten Motivations- und Volitionssystems? An dieser Stelle gilt es, weiterzudenken und zu beforschen, ob die Erosionsprozesse im Kontext des Gemütsbereiches durch das Störungsbild der posttraumatischen Belastungsstörung Ausdruck und Veranschaulichung finden können. Was die Intervention und den Aufbau von Begegnungsstrukturen anbelangt, ist ein weiteres Mal ein präventiver Zugang entscheidend. Damit gewinnt die Frage an Bedeutung, was im Vorfeld traumatogener Situationen geleistet werden kann, um Gemütsfestigkeit zu erreichen. Hier geraten Forschungen zur Resilienz und zu ihrer Steigerung in den Blick (Kalisch 2017). Auch die Volitionsforschung und die Frage nach der Willenskraft und ihrer Erhöhung (Baumeister und Thierney 2012) könnten Forschungen für die Weiterentwicklung des Internaltrainings darstellen. Die Verwendung des altmodisch anmutenden Begriffes Gemüt hat letztlich nicht nur den Charme, der Alliteration (4G) zu genügen, sondern auch ihren sachlichen Hintergrund zur Darstellung zu bringen und den Mutaspekt zum Dreh- und Angelpunkt des Lehrstückes zu machen. Intradisziplinäre Umstrukturierungen: Gewissens- und Gesinnungsbildung als Teilbereiche der Wir-Bildung Die bisherigen Einteilungen gingen davon aus, dass die Lehrstücke zur kooperativen Gesinnung und zum geschärften Gewissen eigenständige Gegenstandsbereiche bearbeiten. Die neurowissenschaftliche Grundierung legt allerdings nahe, die Module in größerer Nähe zueinander zu verorten. Offensichtlich dienen beide der Sicherung der sozialen Komponente (Bauer 2009), sodass die Neuroethik die Moral ganz in die Nähe sozialer Justierungsprozesse der Fairness und der Überprüfung sozialer Verträglichkeit stellt (Bauer 2009). Gruppendynamische und gewissensspezifische Aspekte befinden sich von
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E. Zihn
daher in größerer Sachaffinität als bisher angenommen und gehören unter systematischen Gesichtspunkten in einem theoretischen Design des Internaltrainings zusammengeordnet. Welche Folgen das für die inhaltliche Ausgestaltung der Moralthematik haben könnte, muss hier offenbleiben. Modulinterne Nach-Forschung: Gewissens- und Wir-Gesinnungsbildung Während das Modul zum Mentaltraining (Abschn. 1.2) im Hinblick auf seine wissenschaftliche Validität durch die Rückendeckung interdisziplinärer Forschung auf festen Füßen steht, wird das für die beiden anderen Module noch besser nachzuweisen sein. Ihre Grundannahmen sind in jüngster Zeit infrage gestellt oder auch bestätigt worden (Bregman 2020). So wird angefragt, ob die Skrupel des Gewissens, anderen Menschen etwas anzutun, tatsächlich existieren oder ob die Zögerlichkeit in lebensbedrohlichen Situationen nicht ganz anderen Quellen entspringt (Stress, Unkenntnis, Umweltbedingungen etc.). Somit wäre eine Rückführung auf moralische Bedenken und die Veranschlagung einer entsprechenden evolutionären Veranlagung zumindest sehr weit gegriffen (Mann 2018). Für die Inhalte der beiden Module ist des Weiteren sicherzustellen, ob Gewissen im Vorhinein bildbar ist, was eine Prämisse der vorgestellten Schulung darstellt. Eine präventive Einflussnahme wird bezüglich dieses Gegenstandsbereiches bisweilen angezweifelt (Bauer 2009). Schließlich steht die eingehende wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Sozialmodus der Kameradschaft aus. Hier wäre zu prüfen, ob die der Kameradschaftlichkeit inhärente Konfiguration Nähe-Distanz/Dauer-Wechsel nicht genau der gruppendynamische Systemzustand ist, der rational-kritische Abwägung mit kooperativer Wir- Gesinnung verbindet. Das hieße, den Kameradschaftsbegriff als soziologischen Terminus technicus zu reflektieren.
3.2
Pragmatische Ableitungen
Der skizzierte ganzheitliche Zugang zur Handlungsfähigkeit legt offen, dass zu ihrer Ausformung der Soft-Skill-Bereich von Einsatzkompetenz, den Internaltraining in Gänze abbilden will, einen entscheidenden Erfolgsfaktor darstellt. Ohne Frage ist dieser bislang erheblich unterschätzt worden, sollte nun aber Faktor werden, der die Einsatzschiene auf den folgenden Ebenen mitbestimmen wird. Einsatzkräfte Wenn man als Dreh- und Angelpunkt polizeilicher Einsatzphilosophie die bestmögliche Entfaltung von Einsatzleistung betrachtet und diese zustande kommt, wenn Einsatzkräfte im Vollbesitz der geistigen Kräfte agieren, dann kommt dem Wissen und dem Bewusstsein dessen, dass Handlungsfähigkeit von der inneren Konstitution abhängt, erhebliche Bedeutung zu. Erst die Kenntnis der dargelegten Zusammenhänge machen Kräfte in Vollreifeform tauglich für den Einsatz, weil so die Fähigkeit zur Handlungssteuerung erworben wird, nicht nur zur Meisterung hitziger Einsatzlagen.
„Im Vollbesitz der geistigen Kräfte“: Ein Trainingsprogramm für innere Stabilität von …
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In der Folge ist es unabdingbar, dass Einsatzkräfte mit der Thematik innerer Stabilität zumindest so weit vertraut sind, dass sie in der Lage sind, sich selbst Wissen über und Trainingsmethoden zum individuellen Aufbau innerer Robustheit anzueignen. Das Zielbild der pragmatischen Ableitungen für die Ebene Einsatzkräfte stellt somit der/die komplette Spieler*in dar, der/die technische Fähigkeiten einer Sportart genauso beherrscht wie innere Tugenden, z. B. Durchsetzungsvermögen, und zum Einsatzerfolg mit ins Spiel bringen kann. Einsatztrainer*innen Als Gravitationszentrum der pragmatischen Ableitungen die derart gebildete Einsatzkraft zu sehen, setzt Impulse auch für die Ebene der Einsatztrainer*innen frei. Für den Einsatz bestmöglich vorzubereiten, bedeutet dann, Taktik und Ethik zu kombinieren. Um es im Bild zu sagen: Es ist im Einsatztraining sowohl Außen- als auch Innenarchitektur der Einsatzperson vorzunehmen, was bereits hinreichend geschieht. Dabei ist fachlich entscheidend, dass das eine nicht neben dem anderen steht, sondern beides miteinander verzahnt ist. Der/die komplette Spieler*in wächst z. B. durch das Einüben taktischer Bewegungsmuster und in physisch intensiver Ertüchtigung auch hinsichtlich seiner/ihrer Geistes- und Gemütskraft und umgekehrt. Diese Wechselwirkung sollte es Einsatztrainer*innen einfach machen, die Soft-Skill-Area ins Spiel zu bringen, nämlich indem sie die Wirkungen taktischer Gegebenheiten nach innen transparent machen.2 In Bezug auf polizeilich gesehen eher fernere Thematiken (PTBS, Moral Injury) könnten Expertisen, die innerhalb von Polizeiinstitutionen an anderen Organisationsstellen zur Verfügung stehen, genutzt werden. Im Minimum sollte auf der Ebene der Einsatztrainer*innen nach allem Bisherigen eine ablehnende Haltung gegenüber dem Soft-Skill-Bereich ein No-Go sein. Entscheider*innen Den/die „komplette/n Spieler*in“, der/die im „Außen“ wie im „Innen“ gut trainiert ist und so im Vollbesitz aller geistigen Kräfte agiert, zu bekommen, hängt letztlich davon ab, Sachverhalte nicht ins Gutdünken handelnder Personen zu stellen. Hier ergeben sich die praktischen Ableitungen für Entscheider*innen. Je höher der Institutionalisierungsgrad eines Tuns, desto intensiver wird die Bindungswirkung. Den Rahmen abzustecken und das Internaltraining zum regulären Bestandteil von Curricula zu machen, das könnte eine Aufgabe sein, derer sich auf Entscheidungsebene angenommen werden müsste.
Mentales Agieren im Hochplateau des IZOF ist auch die Folge hochgradiger Automatisierung. Eine resiliente Gemütsverfassung resultiert aus der Überwindung von realen und (dosiert) schmerzhaften Trainingserfahrungen, die Resilienzerwerb ermöglichen (Kalisch 2017). 2
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E. Zihn
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„Aus der Praxis für die Praxis?“ – Potenziale des Trainings sozialer Kompetenz zur Vorbereitung auf die Bewältigung polizeilicher Einsätze Henning Staar, Ines Zeitner und Jürgen Zeitner
Inhaltsverzeichnis 1 E inleitung 2 TSK und Kompetenzentwicklung für den Polizeiberuf 2.1 Kompetenzbegriff 2.2 Kompetenzorientierung im Studiengang PVD 2.3 Auffälligkeiten in der Organisation des TSK 3 Methodik 3.1 Erhebungsinstrumente 3.2 Studienablauf 4 Darstellung der Ergebnisse 5 Diskussion der Ergebnisse Literatur
930 931 931 934 936 938 938 939 939 943 945
Reviewer*innen: Jürgen Biedermann, Michael Hauck H. Staar (*) Abt. Duisburg, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Duisburg, Deutschland E-Mail: [email protected] I. Zeitner · J. Zeitner Abt. Köln, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_50
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H. Staar et al.
Zusammenfassung
Überfachliche Kompetenzen wie beispielsweise stressregulative, emotionale, kommunikative und integrierende Kompetenzen sind wichtige Bestandteile erfolgreichen professionellen Handelns in der polizeilichen Praxis. Kommunikationspsychologische Schwerpunkte sowie mit der Vermittlung verbundene konkrete Ansätze zum Transfer in die Praxis leistet in der Ausbildung der Polizei in NRW vornehmlich das Training sozialer Kompetenz (TSK). Der vorliegende Beitrag untersucht entlang einer empirischen Studie, in welchem Maße die gegenwärtig vermittelten Inhalte der Trainings sozialer Kompetenz im Studium relevante Themen der polizeilichen Praxis aufgreifen und identifiziert erfolgskritische Einflussfaktoren, die eine hohe Qualität des TSK sicherstellen und zu einer effektiven Ausbildung polizeilicher Einsatzkräfte für die Praxis beitragen. Quantitative und qualitative Daten weisen erstens darauf hin, dass der Erfolg des TSK maßgeblich von konkreten Bezügen zur polizeilichen Praxis abhängt. Relevante (Trainings-)Situationen müssen diesem Anspruch also gerecht werden. Gleichzeitig scheint eine wahrgenommene große Heterogenität hinsichtlich der inhaltlichen Schwerpunkte zu bestehen, welche durch unterschiedliche Trainer*innen im TSK gesetzt werden. Zweitens erweist sich eine konsequente Verzahnung zwischen Fächern sowohl innerhalb des akademischen Kontextes als auch mit den Trainings- sowie mit den Praxisphasen als weiterer wichtiger Einflussfaktor. Drittens scheinen handelnde Trainer*innen, Tutor*innen und weitere Kolleg*innen und Vorgesetzte im Praxiskontext hinsichtlich ihrer Einstellung und Haltung sowie als authentische Vorbilder im konkreten polizeilichen Handeln wichtige Promotoren für eine erfolgreiche Einbettung des TSK in die Ausbildung zu sein. Schließlich erscheinen vor dem Hintergrund lebenslangen Lernens sowie mit Blick auf die zielgerichtete Weiterentwicklung und Schärfung der Trainingsinhalte der Teilmodule des TSK eine kontinuierliche Reflexion und Qualifizierung für Polizeivollzugsbeamte auch nach Abschluss des Studiums sinnvoll. Auf diese Weise kann das Potenzial des TSK optimal genutzt werden und soziale Kompetenzen werden entlang der gesamten beruflichen Laufbahn institutionsübergreifend zu einem wichtigen Thema.
1
Einleitung
Polizeiliche Einsatzkräfte benötigen zur erfolgreichen Einsatzbewältigung neben fachlichen und körperlichen Fertigkeiten ausgeprägte soziale und kommunikative Handlungskompetenzen. Die einsatzbezogenen Anforderungen an PVB sind dabei vielfältig und betreffen unter anderem den Umgang mit psychisch kranken Personen oder Menschen in mentalen Ausnahmesituationen. Damit einhergehend werden Fertigkeiten u. a. im kon struktiven und kommunikativen Umgang mit Konfliktsituationen und Provokationen ge-
„Aus der Praxis für die Praxis?“ – Potenziale des Trainings sozialer Kompetenz zur …
931
gen PVB, funktionale Strategien der Emotionsregulation sowie der Sensitivität in mehrbzw. uneindeutigen sozialen Situationen relevant. Als curricular fest verankertes Element im Studium des Polizeivollzugsdienstes der HSPV NRW stellt das „Training sozialer Kompetenzen“ (TSK) neben den Praxis- und Trainingsabschnitten potenziell ein weiteres zentrales Element dar, um polizeiliche Einsatzkräfte auf Einsätze verhaltensnah vorzubereiten und kommunikative und konfliktbezogene Handlungssicherheit bereits im Studium zu entwickeln und weiter auszubauen. Insbesondere der kommunikationspsychologische Aspekt des Trainings sozialer Kompetenz kann einen Mehrwert leisten. Der vorliegende Beitrag untersucht, in welchem Maße gegenwärtig die Trainings sozialer Kompetenz im Studium den oben formulierten Ansprüchen genügen. Darauf aufbauend werden Handlungsimplikationen entwickelt, um die Qualität der Ausbildung polizeilicher Einsatzkräfte weiter zu verbessern. Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes wird die für Studium und Praxis zentrale Kompetenzorientierung skizziert. Die dem TSK zugeordneten sozialen Kompetenzen, die als erfolgskritisch zur polizeilichen Einsatzbewältigung gelten können, werden dem Studienverlauf zugeordnet. Dadurch können inhaltliche und strukturelle Auffälligkeiten aufgezeigt werden. Auf dieser Basis werden entlang der Ergebnisse einer qualitativen (N = 12) und quantitativen Erhebung (N = 134) an Kommissaranwärter*innen im Studium und Absolvent*innen Handlungsimplikationen zur Verbesserung der Zielrichtung, Inhalte und Methodik des Trainings sozialer Kompetenzen abgeleitet.
2
TSK und Kompetenzentwicklung für den Polizeiberuf
Mit der Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge im Zuge des Bologna-Reformen erfolgte auch eine Umstellung auf den didaktischen Ansatz der Kompetenzorientierung und eine deutlichere Praxisorientierung, der sich insbesondere duale Studiengänge verpflichtet fühlen. Folgend wird der Kompetenzbegriff veranschaulicht, um in der Folge den Status quo der Kompetenzorientierung des TSK im Studiengang PVD der HSPV NRW zu beurteilen.
2.1
Kompetenzbegriff
Kompetenz ist ein sowohl in Theorie als auch in der Praxis weit gefasster Begriff (Staar et al. 2019) und stellt ganz allgemein die generelle Fähigkeit zum erfolgreichen Handeln dar (vgl. auch Weinert 1999). Kompetenzen ermöglichen das Erreichen eines spezifischen Ziels. Damit können Kompetenzen als Grundvoraussetzung zur Bewältigung komplexer Aufgaben angesehen werden (Weinert 2001). In diesem Sinne schließen Kompetenzen berufliche Qualifikationen mit ein. Kompetenz und Leistung sind eng miteinander ver-
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H. Staar et al.
zahnt. Kompetenz kann nur durch Leistung sichtbar werden (Staar et al. 2019). Folg lich ist Leistung von der Kompetenz abhängig, gleichzeitig hat eine erbrachte Leistung Auswirkungen auf die weitere Kompetenzentwicklung (Mandl und Hense 2004). Im Folgenden werden verschiedene Kompetenzmodelle dargestellt, die verdeutlichen, welche Ansatzpunkte im Rahmen der polizeilichen Ausbildung bestehen. Unter einem Kompetenzmodell versteht man das Gesamtbild an Fähigkeiten und Fertigkeiten, kognitiven, motivationalen sowie interessen- und verhaltensbezogenen Merkmalen einer Person, welche zur effektiven Leistungserbringung entscheidend sind (Gonon et al. 2005). „Klassische“ Kompetenzdefinitionen teilen individuelle Leistungsdispositionen in sog. „KSAs“ (Sonntag und Schmidt-Rathjens 2004). Das „K“ steht für Knowledge (fach- und berufsbezogenes Wissen), das „S“ verweist auf Skills (Fertigkeiten; Methoden und Techniken), das „A“ steht schließlich für Abilities und Attitudes (stabile individuelle Handlungsgrundlagen). Spencer und Spencer (1993) differenzieren den Kompetenzbegriff nach Kern- und Oberflächenkompetenzen (vgl. Abb. 1). Die Autoren unterscheiden drei aufeinander aufbauende Kompetenzebenen. Der Kern der Persönlichkeit („core personality“) wird durch die Eigenschaften und Motive eines Menschen gebildet. Diese zeitlich und situativ stabilen Merkmale einer Person sind teilweise angeboren bzw. entwickeln sich in frühen Phasen des Lebens und sind damit schwer zu entwickeln – diese Charakteristika machen quasi „den Menschen aus“. Das Selbstkonzept sowie die Einstellungen und Werte eines Menschen bilden sich in der Sozialisation und Lerngeschichte der Person heraus und sind damit von Erfahrungen mit der Umwelt abhängig und verfestigen sich im Laufe der Zeit
Fertigkeiten Verhaltensweisen
Kern der Persönlichkeit („core personality“): sehr schwer zu entwickeln
Selbstkonzept
Eigenschaften Motive
Einstellungen Werte
Oberfläche („surface“): leichter zu entwickeln
Wissen
Abb. 1 Kern- und Oberflächenkompetenzen (Staar et al. 2019, S. 100, nach Spencer und Spencer 1993, S. 11)
„Aus der Praxis für die Praxis?“ – Potenziale des Trainings sozialer Kompetenz zur …
933
(vgl. auch zusammenfassend Staar et al. 2019). Die konkreten Fertigkeiten und Verhaltensweisen einer Person werden an der Oberfläche („surface“) sichtbar. Fertigkeiten und Verhaltensweisen werden durch Interaktion mit der Umwelt entwickelt und etabliert. Verhaltensänderungen sowie der Ausbau von Fertigkeiten können unter gewissen Umständen vergleichsweise einfach erwirkt werden (ebd.). Daraus ergeben sich zwei Implikationen: Zum einen ist vor der Entwicklung von Kompetenzen zunächst der Ist-Zustand der Kompetenzen herauszukristallisieren, d. h. welche Kompetenzen die Studierenden zum Zeitpunkt bereits aufweisen, auf die aufgebaut werden kann. Zum anderen sind die Ebenen stark voneinander abhängig, einige Fertigkeiten und Verhaltensweisen werden aufgrund der „core personality“ einer Person also leichter oder schwieriger zu entwickeln sein. Eine eher introvertierte Person weist beispielsweise im Hinblick auf Kommunikation und Präsentation zumindest gewisse Verhaltenstendenzen auf, was bei entsprechenden Trainingselementen zu berücksichtigen wäre. Gleichzeitig werden erfolgreiche Transferleistungen im praktischen polizeilichen Kontext (z. B. aktives Zuhören im Rahmen einer Zeugenvernehmung, deeskalierende Gesprächsführung im Rahmen einer Streitschlichtung) auf das Selbstkonzept und die Einstellungen dieser Person rückwirken. Andere Kompetenzmodelle betonen wiederum neben den fachlichen darüber hinausgehende wie die Methoden- und Sozialkompetenz. Folgende Dimensionen der Kompetenz (siehe Abb. 2) lassen sich nach Weißer (2008) im Sinne eines „Hauses der Handlungskompetenz unterscheiden“ (S. 19): Fachkompetenz, die weitgehend der beruflichen Qualifikation entspricht, bildet alle notwendigen fachlichen Fähigkeiten, Kenntnisse („Fachwissen“) und Fertigkeiten zur Bewältigung von berufsbezogenen Aufgaben ab (zur Differenzierung von Kompetenz und Qualifikation vgl. Erpenbeck und Sauter 2013, S. 29 ff.). Diese ist Grundlage aller Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben der Gefahrenabwehr/Einsatzbewältigung, Kriminalitätsbekämpfung und Verkehrssicherheitsarbeit. Methodenkompetenz beschreibt die Fähigkeit der Anwendung von erworbenen Fachkompetenzen in komplexen Arbeitsprozessen, das zielorientierte Einsetzen dieser und das
Abb. 2 Haus der Handlungskompetenz (nach Weißer 2008)
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H. Staar et al.
kontinuierliche Erschließen neuen Wissens (Korff 2014). Im Kontext des Studiums betrifft dies z. B. soziale, rechtliche und taktische Entwicklungen der polizeilichen Aufgabenwahrnehmung und die darauf aufbauende Entwicklung auch zukunftsorientierter Pro blemlösungsstrategien. Sozialkompetenz beschreibt die Fähigkeit, dabei mit anderen Menschen (intern: Vorgesetzte, Kolleg*innen; extern: dem/der Bürger*in) zusammenzuarbeiten (Gourmelon et al. 2014). Dazu gehören insbesondere Kommunikations-, Team- und Konfliktfähigkeit, Einfühlungsvermögen und Überzeugungskraft. In Studium und Ausbildung zielt diese Facette auf das handlungssichere Agieren und Bewältigen konfliktreicher und ggf. gefährlicher Einsatzsituationen. Persönlichkeitskompetenz beschreibt schließlich die persönlichkeitsbezogenen Dispositionen, die sich in Einstellungen, Werten, Bedürfnissen und Motiven äußern (Lang 2008). Beispiele sind Entscheidungsfähigkeit, Lernbereitschaft, Eigeninitiative und die Fähigkeit zur Selbstreflexion.
2.2
Kompetenzorientierung im Studiengang PVD
Der Studiengang, in dem die PVD des Landes NRW zur Übernahme von Funktionen des gehobenen Dienstes (Laufbahngruppe 2.1) qualifiziert werden, wurde 2008 von einem Diplom- zu einem Bachelor-Studiengang reformiert. Dabei wurde auch der didaktische Ansatz der Kompetenzorientierung eingeführt. Dieser Studiengang wurde 2013 novelliert und reakkreditiert. 2015/2016 erfolgte eine weitere grundlegende Reform des Studiengangs, die wesentlich durch die Notwendigkeit ausgelöst wurde, eine höhere Anzahl von Kommissaranwärter*innen ausbilden zu können (Zeitner 2017, S. 18). Das TSK firmierte bereits im Diplom-Studiengang unter der Bezeichnung Verhaltenstraining und wurde 2008 im Rahmen der Reform von zwölf Studientagen (á acht Präsenzstunden) auf zehn Studientage (á acht Präsenzstunden) reduziert. Eingeführt wurde 2008 das Fach Interkulturelle Kompetenz, das didaktisch keine Trainingsanteile aufweist, und in der Reform 2012/2013 das Modul Berufsrollenreflexion, das überwiegend praktische Reflexionsübungen (Freitag 2017, S. 21 f.) enthält. Der Bachelor-Studiengang der Polizei NRW differenziert drei Kompetenzdimensionen. Ausgewiesen werden die fachlichen und methodischen Kompetenzen und in einer dritten Dimension werden die persönlichen und sozialen Kompetenzen zusammengefasst. Das Kompetenzprofil wird aus den Rechtsgrundlagen (Gesetz über die Fachhochschulen für den öffentlichen Dienst NRW und der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung Laufbahnabschnitt II Bachelor) abgeleitet und umfasst die im Modulhandbuch des Studiengangs ausgewiesenen Leitziele des Studiengangs, Richtziele der Modulabschnitte sowie die Kompetenzziele der Module und Teilmodule (s. Abb. 3). Die curricularen Inhalte des TSK, der Berufsrollenreflexion (BRR) und der Interkulturellen Kompetenz werden überwiegend dem Kompetenzbereich der persönlichen und
„Aus der Praxis für die Praxis?“ – Potenziale des Trainings sozialer Kompetenz zur … Abb. 3 Zielhierarchie des Studiengangs B.A. PVD seit 2012
935
Kompetenzziele des Teilmoduls Kompetenzziele des Moduls Richtziele des Modulabschnitts Leitziele des Studiengangs VAPPol II, FHGöD NRW
sozialen Kompetenzen zugerechnet. In der Reform 2015/2016 ist diesem Kompetenzbereich ein besonderes Augenmerk gewidmet worden, indem in einem Teilprojekt • relevante Inhalte des Studiengangs in Theorie-, Trainings- und Praxisphasen identifiziert, • nach einer Analyse dieser Inhalte eine systematische Verzahnung konzeptioniert und • zu den Lehr- und Lern- sowie Prüfungsformen Entwicklungshinweise erarbeitet werden sollten (Zeitner 2017, S. 120 ff.) Die Ergebnisse dieses Teilprojekts nahmen Einfluss auf die Gestaltung der Studiengangs und die dabei vorgenommene horizontale und vertikale Verzahnung der auf die Zielsystematik ausgerichteten Lehrinhalte. Dies bezieht sich auf alle Fächer und Module. Das folgende vereinfachte Schaubild beschränkt sich der Übersichtlichkeit halber auf das TSK und die BRR, die im Modulhandbuch des Studiengangs dem Modulabschnitt Spezielle Module (S. 130 f., 144 ff., 148 ff.) zugeordnet sind. In der Modulbeschreibung sind folgende Kompetenzziele für das Modul, bestehend aus TSK 1, TSK 2 und TSK 3, ausgewiesen: Die Studierenden treten vor anderen sicher auf und beherrschen dabei Medien und rhetorische Wirkmittel. In Situationen mit Bürger*innen, Kolleg*innen und Vorgesetzten lernen die Studierenden, sich in andere Positionen einzufühlen, sozial angemessen zu kommunizieren und Gruppenprozesse zu analysieren und zu steuern. Schließlich wird als Kompetenzziel formuliert, dass Studierende in der Lage sind, bei Konfliktsituationen deeskalierend auf die Situation einzuwirken und zu konstruktiven Lösungen beizutragen (Modulhandbuch, S. 144). Im Präsenzstudium kommen verschiedene Lehrformen wie Rollenübungen bzw. Rollenspiele, (mediengestützte) Studierendenvorträge, -referate und -präsentationen, strukturiertes Feedback, Einzel-,
936
H. Staar et al.
Abb. 4 Vereinfachte Darstellung der Theorie-, Trainings- und Praxisphasen im BA-Studiengang der Polizei NRW und zeitlich zugeordnete Lehrveranstaltungen des TSK und der BRR (die Trainingshasen und teils die Praxisphasen im 3. Studienjahr werden aus Kapazitätsgründen in zeitlich versetzten Halbgruppen durchgeführt; der exakte Studienverlaufsplan kann auf der Homepage der HSPV NRW heruntergeladen werden.)
Partner- und Gruppenarbeiten, moderierte Diskussionen, Seminargespräche und Übungen zum Einsatz. Die drei Teilmodule verteilen sich über die beiden ersten Jahre des Studiums (vgl. Abb. 4). Das TSK 1 findet in den ersten Monaten des Studiums statt und ist noch vor Trainingsund Praxiselementen angesiedelt. Im TSK I werden kommunikative und rhetorische Grundlagen vermittelt und geübt. Daneben zielt dieses Teilmodul auf die Gestaltung mündlicher Präsentationen. Schließlich wird auch das Thema Stressbewältigung im Rahmen von theoretischen Grundlagen und konkreten beanspruchungsreduzierenden Übungen behandelt. Da die Studierenden zum Zeitpunkt der Durchführung des ersten Teilmoduls noch keine praktischen Praxiserfahrungen gesammelt haben, wird üblicherweise nur im geringen Maße auf polizeiliche Situationen verwiesen. Im TSK 2 liegt der Schwerpunkt auf Gruppen- und Teamprozessen, Feedback zu geben und anzunehmen sowie auf der konstruktiven Konfliktbewältigung und Deeskalation. Entlang von Szenarien aus dem polizeilichen Alltag sollen sensible Gespräche mit Kolleg*innen und Vorgesetzten reflektiert und geübt werden. Auch in dieser Phase des Studiums verfügen die Studierenden nicht über eigene Praxiserfahrungen. Geeignete Szenarien aus dem polizeilichen Alltag müssen daher von den Lehrenden eingebracht werden. Im abschließenden dritten Teilmodul werden die Studierenden, die dann mehrfach Trainings-, aber (nur) eine Praxisphase durchlaufen haben, mit anspruchsvollen Themen wie dem Überbringen von Todesnachrichten bzw. der Kommunikation mit Angehörigen, der Rolle des PVB als Zeugen vor Gericht sowie dem Umgang mit Opfern, Verletzten und anderen psychisch belasteten Personen konfrontiert, funktionale Handlungsmöglichkeiten gemeinsam reflektiert und entlang von Rollenspielen geübt.
2.3
Auffälligkeiten in der Organisation des TSK
Aus Abb. 4 wird ersichtlich, dass das TSK bereits vor Beginn des dritten Studienjahres endet. Es findet ausschließlich in den Theoriephasen statt. Die beiden ersten Blöcke des TSK (je drei Studientage) liegen im ersten Studienjahr vor einer mehrwöchigen ersten
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Praxisphase. Im zweiten Studienjahr endet das TSK i. d. R. mehrere Monate vor dem dritten Studienjahr mit einem viertägigen Block, der durch intensive Trainingsblöcke im LAFP NRW und vor allem durch lange Praxisphasen gekennzeichnet ist. Die Theorie ist im dritten Jahr lediglich mit einer siebenwöchigen Theoriephase, der Thesisbearbeitungszeit und den abschließenden Kolloquien vertreten. Dieser Aufbau wirft die Frage auf, ob die Vorstellung, dass der Studiengang „… auf dem Zusammenwirken von Theorie-, Trainings- und Praxismodulen sowie der Auswahl berufsbezogener Themenfelder mit entsprechendem Kompetenzzielbezug …“ beruht (Modulhandbuch, Prolog), auf das TSK bezogen tatsächlich mit der Ausbildungsrealität in Einklang steht. Im Prolog, in dem die Leitziele des Studiengangs dargelegt sind (s. Abb. 3), wird als Leitziel der persönlichen und sozialen Kompetenz u. a. formuliert: „Die Studierenden […] – agieren handlungssicher, und bewältigen konfliktreiche und belastende Situationen.“ Damit rückt die für den „fertigen“ PVB maßgebliche Handlungskompetenz in den Blickpunkt. Handlungskompetenz setzt sich aus dem Zusammenwirken von Fach-, Methoden-, Sozial- und Persönlichkeitskompetenz zusammen. Handlungskompetenz ist dabei nach Gourmelon et al. (2014, S. 127) „die Fähigkeit einer Person, […] bestimmte Situationsanforderungen sowie die zur Verfügung stehenden eigenen Fähigkeiten und Kenntnisse subjektiv zu bewerten und auf dieser Basis allein oder im Zusammenwirken mit anderen ein zweckmäßiges Handlungsprogramm zu erarbeiten, umzusetzen und anschließend zu bewerten“. Die angestrebte Handlungskompetenz muss sich gerade unter ungünstigen, ggf. gefährlichen, konfliktgeladenen, emotional belasteten oder tumultartigen, unübersichtlichen Situationen bewähren. Es ist zu hinterfragen, inwieweit das bereits im zweiten Jahr auslaufende TSK den ihm maßgeblich zugerechneten Anteil zum Aufbau der dazu notwendigen und sehr anspruchsvollen Handlungskompetenz tatsächlich leisten kann. In den Befragungen, deren Konzeption und Auswertung in den folgenden Abschnitten dargestellt werden, sollten daher für folgende Themenfelder Erkenntnisse gewonnen werden: • Inhaltlich kann durch den reformierten Dreiklang Theorie – Training – Praxis im PVD-Studium eine inhaltliche Verzahnung unterstellt werden (vgl. oben Abschn. 2.2). Zu beleuchten ist allerdings die Fülle der Lehrinhalte der TSK und die Frage, ob die Studierenden diese als hilfreich und konstituierend für den Aufbau der nötigen Handlungskompetenz wahrgenommen haben. Dazu gehört insbesondere auch die Einschätzung, ob sie die TSK inhaltlich wie auch in der methodischen Umsetzung als hilfreich und zielführend betrachten. • In den Gremien der HSPV NRW immer wieder diskutiert ist die Wahrnehmung, dass durch widersprüchliche Lehrmeinungen und Botschaften der Lehrenden und Tutor*innen in den unterschiedlichen Studiums- und Ausbildungsphasen Unsicherheiten bei den Studierenden produziert werden, die sich negativ auf den Kompetenzerwerb auswirken können. Staar et al. (2018) weisen bezugnehmend auf ein Studium an einer Verwaltungshochschule bereits darauf hin, dass neben der inhaltlichen und methodischen Herangehensweise auch das Lehrpersonal betreffende Aspekte für den Outcome der Lehrveranstaltungen relevant sind. Dies schließt an der Feststellung an, dass durch
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die zeitliche Zuordnung des TSK in den Studienverlauf notwendige Praxisbezüge und Szenarien von den Lehrenden in die Trainingsgestaltung eingebracht werden müssen. • Bedeutsam ist weiterhin, ob an dem Ausbildungsstand und dem Kompetenzniveau der Studierenden in anderen Lehrveranstaltungen und insbesondere in den Theorie- und Praxisphasen systematisch und für die Studierenden transparent angeknüpft wird, wenn der jeweilige TSK-Baustein absolviert wurde. Wie schätzen also die Befragten ein, ob die relevanten Lehrinhalte in Theorie, Training und Praxis hinreichend verzahnt werden. Im Folgenden werden die Datenerhebungsinstrumente sowie der Versuchsablauf dargestellt. Im Anschluss wird die Stichprobe näher erläutert.
3
Methodik
Zusammenfassend werden aus den bisherigen Darstellungen und Befunden die folgenden Fragestellungen abgeleitet: (1) Welchen Stellenwert hat das TSK rückblickend bei Studierenden und Absol vent*innen? (2) Welche Inhalte und Methoden im TSK werden durch die Teilnehmer*innen rückblickend als relevant und zielführend erachtet? (3) Welche personenbezogenen Merkmale der TSK-Trainer*innen werden durch die Teilnehmer*innen rückblickend als relevant und zielführend erachtet? (4) Welche Einbettung des TSK sowohl in das Curriculum als auch in die weitere berufliche Laufbahn des PVB erscheint sinnvoll im Hinblick auf das Ziel der Entwicklung von berufsrelevanten Handlungskompetenzen?
3.1
Erhebungsinstrumente
Um die formulierten Fragestellungen beantworten zu können, wurde eine qualitative Vorstudie mit N = 12 Personen (acht Studierenden aus unterschiedlichen Studienabschnitten; vier als TSK-Trainer*innen tätige PVB) durchgeführt. Die Befragung folgte einem explorativen Ansatz. Dem folgte eine quantitative Erhebung (N = 134) an Kommissaranwärter*innen im Studium (N = 122) und ausgebildeten Einsatzkräften (Absolvent*innen, die bereits seit zwei Jahren in der Praxis sind; N = 12), in der diese ihre Wahrnehmung zur Zielrichtung und Relevanz, zu Inhalten und Methodik des Trainings sozialer Kompetenzen sowie zu personenbezogenen Merkmalen der Trainer*innen äußern sollten. Zu den genannten Schwerpunkten wurden Einschätzungen hinsichtlich der Wichtigkeit bzw. des Ausmaßes an Zustimmung auf einer fünfstufigen Likert-Skala (z. B. 1 = gar nicht wichtig bis 5 = sehr wichtig) erfragt. Zusätzlich wurden offene Antwortfelder zur Verfügung
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gestellt. In Bezug auf die soziodemografischen Fragen wurden Geschlecht, das Einstellungsjahr sowie die Anzahl der bislang absolvierten TSK-Teilmodule erhoben, um Gruppen mit und ohne Praxiserfahrung voneinander abgrenzen zu können. Für die Auswertung wurden vier Gruppen berücksichtigt: Studierende, die zum Zeitpunkt der Befragung das TSK I absolviert hatten (N = 49), Studierende, die zusätzlich das TSK II absolviert hatten (N = 38), Studierende, die alle drei TSK-Teilmodule absolviert hatten (N = 27) sowie Absolvent*innen der Hochschule (N = 12).
3.2
Studienablauf
Mit den oben beschriebenen Skalen wurde eine Online-Befragung erstellt. Der Link wurde Studierenden und Absolvent*innen des Studiengangs Polizei der HSPV NRW zugänglich gemacht. Die Teilnehmer*innen wurden über den Hinweis in Lehrveranstaltungen, über soziale Netzwerke und Studienkreise geworben. Eine finanzielle Vergütung bestand nicht. Den Teilnehmenden war es zu jeder Zeit möglich, ihre Teilnahme ohne Konsequenzen abzubrechen. Alle Daten wurden streng vertraulich behandelt und nur in anonymisierter Form verwendet. Der Erhebungszeitraum fand im letzten Halbjahr 2019 und im ersten Halbjahr 2020 statt. Die Auswertung erfolgte mit der Analysesoftware SPSS.
4
Darstellung der Ergebnisse
Im Folgenden werden die einzelnen Fragestellungen mit den entsprechenden statistischen Verfahren geprüft. (1) Welchen Stellenwert hat das TSK rückblickend bei Studierenden und Absolvent*innen? Die Klarheit der Ziele des TSK sehen Studierende, die lediglich das TSK 1 abgeschlossen haben, neben den Absolvent*innen nur im mittleren Maße als gegeben (s. Abb. 5). Die Wichtigkeit des TSK wird ganz allgemein als moderat beurteilt. Dabei zeigen die drei Studierendengruppen eine durchaus hohe Streuung der Werte. Dies spricht für eine heterogene Beantwortung der Teilnehmer*innen. Auffällig ist weiterhin, dass die Relevanz für die Berufspraxis bei allen vier Gruppen im Vergleich zu der Relevanz für das Studium höher beurteilt wurde. Schließlich wird die Relevanz der TSK im Hinblick auf die Berufspraxis mit fortschreitender Erfahrung positiver eingeschätzt: Am höchsten bewerten die berufspraktische Relevanz die bereits im Arbeitsleben stehenden Absolvent*innen. (2) Welche Inhalte und Methoden im TSK werden durch die Teilnehmer*innen rückblickend als relevant und zielführend erachtet?
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Stellenwert des TSK im Studium 5 4
3,35
3,68 3,63 3,25
3,26 2,80
3
2,96
3,25
3,33
3,24 2,76
3,55
3,79 3,78
4,08
2,67
2 1 Klarheit der Ziele des TSK
Wichtigkeit des TSK
TSK I absolviert
TSK I+II absolviert
Relevanz für das Studium TSK I-III absolviert
Relevanz für die Berufspraxis
Absolventen
Abb. 5 Stellenwert des TSK im Studium anhand verschiedener Aspekte (1 = sehr gering; 5 = sehr hoch)
Für die Gesamtstichprobe der Studierenden konnte hinsichtlich des Inhalts herausgearbeitet werden, dass die Wichtigkeit verschiedener Themen durchaus unterschiedlich eingeschätzt wurde. Die folgenden Themenkomplexe wurden durch alle vier Gruppen zu einem überwiegenden Teil als wichtig/sehr wichtig betrachtet, der Mittelwert bewegte sich jeweils im hohen bis sehr hohen Bereich: • Kompetenter Umgang mit Menschen in mentalem Ausnahmezustand (auch Opfer z. B. in VU, HG) bzw. psychischen Erkrankungen (Mgesamt = 4,6; MGruppen = 4,4–4,7) • Zusammenarbeit im Team (Mgesamt = 4,5; MGruppen = 4,2–4,7) • Überbringen von Todesnachrichten (Mgesamt = 4,5; MGruppen = 4,3–4,6) • Umgang mit Stress (Mgesamt = 4,3; MGruppen = 3,9–4,5) • Führen alltäglicher Bürger*innengespräche mit kleineren kommunikativen Herausforderungen (Mgesamt = 4,3; MGruppen = 4,0–4,4) Im Vergleich dazu zeigt sich vor allem das Thema „Präsentieren“ als deutlich weniger wichtig in der Beurteilung der Studierenden (M = 2,9; 2,7–3,1). Zum Thema „Überbringen von Todesnachrichten“ wurde mehrfach noch der konkrete Bedarf infrage gestellt, wie folgender Kommentar zeigt: „Todensnachrichten überbringen kürzer fassen, keine Relevanz in den ersten Jahren nach dem Studium (Aufgabe DGL). Eher die Frage, wie verhalte ich mich bei Angehörigen von Leichen in der Wohnung, wenn auf die K Wache gewartet wird.“ Im Mittel beurteilen die Teilnehmer*innen darüber hinaus die Notwendigkeit als (eher) hoch, die Inhalte direkt mit beruflichen Anforderungen sowie Praxisfällen zu verknüpfen (vgl. Abb. 6). Gleichzeitig wurde das Thema der alltäglichen Bürger*innengespräche (s. o.) mit steigender Erfahrung der PVB in Ausbildung geringer. Die Relevanz des kompetenten Umgangs mit Menschen in mentalem Ausnahmezustand bzw. psychischen Erkrankungen zeigt sich unverändert hoch.
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Inhalte und Methoden 5 4
4,07 4,17 3,84 3,95
3,73
3,53 3,44
3,83
3,80
3,57 3,61
3,47 3,44 3,50
3,00
3
3,33
2 1 Besserer Umgang mit beruflichen Anforderungen
Einsatz von Praxisfällen erfolgskritisch
TSK I absolviert
TSK I+II absolviert
Rollenspiele als wichtiger Ansatz TSK I-III absolviert
Eigene Bereitschaft für Rollenspiele
Absolventen
Abb. 6 Beurteilung der Wichtigkeit von Inhalten und Methoden im TSK (1 = gar nicht wichtig; 5 = sehr wichtig)
In Bezug auf die Methodik wurde deutlich, dass auch die Studierenden den Mehrwert des TSK nicht in der Vermittlung von fachlichen oder methodischen Kompetenzen sehen, sondern die sozialen Kompetenzen in der entsprechenden Übungssituation gefördert werden sollen. Der Kommentar einer Teilnehmer*in fasst diesen Punkt entsprechend: „Ich finde, dass die ganzen Theorien die wir lernen sollen eher nutzlos für uns sind, weil wir diese nach dem TSK sofort wieder vergessen und für die Praxis nicht gebrauchen können, bzw. auch oft Dinge dabei sind, die man sich mit gesundem Menschenverstand denken kann und nicht extra Theorien lernen muss.“ Auf diesen Aspekt verwies auch folgender Kommentar: „Modelle und Theorien sind schön, aber was zählt, ist die Praxis. Den Menschen mit denen man im Beruf zu tun hat ist es egal, wie das Modell heißt, das ich gerade evtl. anwende, solange ich es praktisch drauf habe. Also am besten getreu dem Motto: Aus der Praxis für die Praxis!“ Rollenspiele werden dementsprechend als moderat wichtig bis eher wichtig erachtet. Die Bereitschaft zur eigenen aktiven Teilnahme ist in der dritten Studierendengruppe am geringsten ausgeprägt. (3) Welche personenbezogenen Merkmale der TSK-Trainer*innen werden durch die Teilnehmer*innen rückblickend als relevant und zielführend erachtet? Die Zustimmung zur Frage „Der Erfolg eines TSK steht und fällt mit den Trainer*innen“ wurde von allen vier Gruppen als sehr hoch beurteilt (M = 4,4–4,9). Diese Einschätzung legt nahe, dass die Auswahl der Trainer*innen wesentlich zum Gelingen der TSK beitragen kann. Mit Blick auf personale Merkmale wurden als wichtig für ein TSK erachtete Merkmale getrennt für die Rolle des/der Sozialwissenschaftler*in und des/der Praktiker*in – zunächst ohne konkreten Bezug – erfragt (u. a. Empathie, berufliche Erfahrung im Feld der Studierenden, Einsatz praktischer Beispiele, methodisch-didaktische Kompetenz). Daran anschließend wurden die Teilnehmenden nach ihren konkreten Erfahrungen mit diesen Merkmalen gefragt. Als wichtige Merkmale der Rolle des/der Sozialwissen-
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schaftler*in wurden vor allem Empathie (M = 4,5–4,7) und der Einsatz praktischer Beispiele (M = 4,2–4,4) hervorgehoben. Daneben solle der/die Sozialwissenschaftler*in hinsichtlich der eigenen Umsetzung ein gutes Vorbild sein (M = 4,0–4,8). Bei dem/der Praktiker*in wurden der Einsatz praktischer Beispiele (M = 4,5–4,8), Empathie (M = 4,4–4,5) und Erfahrungen im Berufsfeld (M = 4,0–4,8) als am wichtigsten erachtet. Zudem wurde eine (noch) aktive Teilhabe der TSK-Trainer*innen am Berufsleben gruppenübergreifend als wichtig erachtet (M = 4,0–4,7). Bezüglich der konkreten Trainingserfahrungen fielen zwei Punkte auf: Der Einsatz praktischer Beispiele in der Umsetzung war geringer ausgeprägt, als es den Erwartungen der Studierenden entsprach (M = 3,4–4,3), und die aktive Teilhabe der TSK-Trainer*innen am Berufsleben war ebenfalls im Vergleich niedriger ausgeprägt, als es seitens der Studierenden für bedeutsam gehalten wird (M = 3,3–4,2). Um diese Ergebnisse weiter zu vertiefen, wurden Zusammenhänge zwischen Trainingserfahrungen und der Einschätzung von Wichtigkeit sowie Interesse am TSK im Studium ermittelt. Vor allem für Beurteilung die Gruppe der Praktiker*innen zeigten sich positive signifikante Zusammenhänge zwischen dem im Training erlebten Einsatz praktischer Beispiele und der Einschätzung der Studierenden bzw. Absolvent*innen bzgl. der Wichtigkeit (r = .38**) und des Interesses am TSK (r = .33**). Ähnlich stieg die Einschätzung der Wichtigkeit des TSK mit höherer wahrgenommener fachlicher Kompetenz bei den Praktiker*innen (r = .37**), deren wahrgenommener Empathie (r = .35**) sowie der wahrgenommenen aktiven Teilhabe der Praktiker*innen im Berufsleben (r = .27**). Einzelne Kommentare verdeutlichen diese Befunde. So wünschte sich eine Student*in: „Nach Möglichkeit mehr junge und motivierte Trainer einsetzen. Fehlende Motivation bei den Trainern überträgt sich direkt auf die Teilnehmer und man schaltet sofort ab“. Zum anderen zeigten sich abermals große Streuungen in den Bewertungen, die sehr unterschiedliche Erfahrungen in den Trainingsgruppen mit den zugeordneten Trainer*innen im TSK nahelegen. Die notwendige Berücksichtigung fehlender Praxiserfahrung der Studierenden durch die Trainer*innen in den ersten TSK-Teilmodulen wurde in den offenen Kommentaren mehrfach betont: „Trainer brauchen hohe soziale Kompetenzen und mehr Verständnis für die Studierenden, die ein TSK in einem zum gegebenen Zeitpunkt unbekannten Beruf zu machen.“ (4) Welche Einbettung des TSK sowohl in das Curriculum als auch in die weitere berufliche Laufbahn des PVB erscheint sinnvoll im Hinblick auf das Ziel der Entwicklung von berufsrelevanten Handlungskompetenzen? Dass Inhalte des TSK auch nach Beendigung des Studiums weiter zur Sprache gebracht werden sollten, wurde auch innerhalb der Gruppen sehr heterogen beurteilt. Interessanterweise stieg die Beurteilung mit steigender Erfahrung kontinuierlich (vgl. Abb. 7). Eine Student*in bringt diese Entwicklung der Bedeutung über die Zeit folgendermaßen auf den Punkt: „Ein schönes Modul, was leider immer schnell vorbeigeht. Von Modul zu Modul und den damit dazugewonnenen Erfahrungen, weiß man das Modul umso mehr zu schätzen. Es ist ein guter und wichtiger Bestandteil des Studiums.“
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Zeitliche Aspekte des TSK 5,00 4,00
4,00 3,00
2,80
3,11
3,37 2,53
2,68
3,00
2,92
2,67 2,02
2,00
2,03
2,26
1,00 Fortführung der TSK-Inhalte nach Abschluss TSK I absolviert
Bezugsmöglichkeit zu anderen Veranstaltungen TSK I+II absolviert
TSK I-III absolviert
Tatsächliche Bezüge in anderen Veranstaltungen Absolventen
Abb. 7 Zeitliche Aspekte des TSK (1 = gar nicht wichtig; 5 = sehr wichtig)
Schließlich sahen es die Teilnehmenden nur im moderaten Maße als gegeben, dass die thematisierten TSK-Inhalte auch in anderen Veranstaltungen behandelt werden. Kritisch und eher als nicht gegeben beurteilen die drei Studierendengruppe, dass TSK-Inhalte explizit in anderen Veranstaltungen aufgegriffen werden. Eine sowohl horizontale als auch vertikale Verzahnung mit anderen Fächern/Modulen in und über die Studienphasen erfolgt demnach aus Sicht der Studierenden eher nicht. Schließlich wurde in den offenen Antwortfeldern mehrfach die fehlende Möglichkeit kritisch angemerkt, Bezüge zwischen anderen Fächern und den TSK und daraus resultierenden polizeilichen Handlungsmöglichkeiten (mangelnder Transfer) zu diskutieren.
5
Diskussion der Ergebnisse
Die Ergebnisse der vorliegenden Studie machen deutlich, dass das TSK für die Entwicklung der beruflichen Handlungskompetenz ein wichtiges Element in der Ausbildung von PVB sein kann. Die Entfaltung dieses Potenzials scheint von mehreren Faktoren abhängig zu sein: Der Erfolg des TSK ist im Wesentlichen beeinflusst von den Inhalten und Methoden, den Trainer*innen sowie der zeitlichen Einbettung in das Curriculum. Festzuhalten ist, dass bestimmte Inhalte als besonders wichtig durch die Studierenden bewertet werden. Gleichzeitig scheint in der Konzeption der TSK-Teilmodule 1-3 das Thema „Präsentationen“ sowohl inhaltlich als auch methodisch ein Fremdkörper, weil Bezüge zur Handlungskompetenz in Einsatzsituationen nicht erkannt werden. Die Teilnehmenden betonten die Notwendigkeit, die Inhalte direkt mit polizeipraktischen Anforderungen in konkreten Übungssituationen zu verknüpfen. Damit einher geht die bewusste Zusammenstellung des Trainer*innen-Teams: Neben der Wichtigkeit der Empathie für beide Rollen wurde vor allem das Arbeiten mit Beispielen, Erfahrungen im Beruf sowie eine noch aktive Teilhabe im Berufsleben als wichtig erachtet. Gleichzeitig wurden die sehr einheitlich formulierten Wünsche bzgl. der Kompetenzen der Trainer*innen in der tatsächlichen Umsetzung sehr
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unterschiedlich realisiert. Entsprechend ist kritisch zu reflektieren, ob im Rahmen der Rekrutierung der (nebenamtlichen) TSK-Trainer*innen ausreichend systematische und valide Instrumente der Personalauswahl (Entwicklung und Einsatz von Anforderungsprofilen) zum Einsatz kommen. Diese Ergebnisse werden durch bekannte Erkenntnisse der Bildungsforschung gestützt. Der notwendige Transferprozess, den die Studierenden zum Aufbau ihrer Handlungskompetenz leisten müssen, wird durch die Merkmale Teilnehmer*in (Persönlichkeitsfaktoren, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Motivation), Maßnahme (Methoden, Deckung von Übungen und Anforderungen im Alltag) und Arbeitsumgebung (Möglichkeiten der Anwendung, Unterstützung) wesentlich beeinflusst (vgl. Baldwin und Ford 1988). Grundsätzlich ist zur Limitation der Befragungsergebnisse festzuhalten, dass die Stichprobengröße mit 134 Personen, die an der Studie teilnahmen, relativ gering ausfällt. Die inhaltlich sicherlich sinnvolle Kontrastierung der vier Gruppen führte zu vergleichsweise geringen Subsamples. Aufgrund dieser Voraussetzungen wurde auf eine weitergehende statistische Prüfung möglicher Unterschiede zwischen den Gruppen verzichtet. Darüber hinaus können die vorliegenden Ergebnisse keinen repräsentativen Anspruch erheben. Die ermittelten Ergebnisse können jedoch ein Hinweis für die weitere Beforschung des TSK sein. Eine weitere wesentliche Limitation der vorliegenden Studie stellt das Querschnittsdesign dar, welches die Situation der Studierenden nur zu einem gewissen Zeitpunkt abbildet. Eine Begleitung im Längsschnitt über das Studium hinweg bzw. sogar darüber hinaus wäre wünschenswert, um die in der Ergebnisdarstellung sichtbar gewordenen Hinweise auf eine Entwicklung der Perspektive auf die Bedeutsamkeit des TSK über die Zeit zu stützen. Einschränkend ist weiterhin festzuhalten, dass in der vorliegenden Studie lediglich die Studierenden selbst in ihrer Rolle als Teilnehmende befragt wurden. Bei zukünftigen Studien wäre auch die Wahrnehmung und Beurteilung der Trainer*innen zu betrachten. Bei der Interpretation ist weiter zu berücksichtigen, inwieweit man von Studierenden – gerade in früheren Phasen des Studiums – eine valide Beurteilung der Relevanz und Praxisnähe dieses Moduls erwarten kann. Ein Kommentar macht dies deutlich: „Auch Themen die dem Kurs anfänglich nicht sonderlich gefallen hätten, wurden so umgesetzt, dass trotz allen Umständen die Meinungen innerhalb des Kurses gänzlich geändert wurden.“ In der gegenwärtigen Struktur des TSK muss durch eine bewusste Auswahl an Themen und eine ebenso bewusste Verdeutlichung der Relevanz dieser eine grundlegende Akzeptanz bei den Studierenden geschaffen werden. Insofern die ersten beiden Module vor dem Praxisabschnitt stattfinden, sind Studierende ausschließlich auf Beispiele des Trainer*innenteams angewiesen. Eine individuelle Auseinandersetzung vor dem Hintergrund der eigenen Praxiserfahrungen kann (noch) nicht erfolgen. Damit ist eine weitere Implikation verbunden: Ein TSK, welches die Entwicklung von Handlungskompetenz als Ziel formulieren will, sollte die Möglichkeit eröffnen, Praxiserfahrungen der Studierenden einzubringen. In diesem Sinne ist zu überlegen, ob das TSK nicht gerade im dritten Studienjahr, in dem der Wechsel zwischen den Trainings- und insbesondere Praxisphasen besonders ausgeprägt ist, fortgeführt werden sollte. Schließlich erscheint es mit Blick auf die zielge-
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richtete Weiterentwicklung und Schärfung einer Reflexionskompetenz der PVB nach Abschluss des Studiums sinnvoll, das TSK kontinuierlich fortzuführen. Auf diese Weise könnte das Potenzial des TSK optimal genutzt werden und soziale Kompetenzen würden entlang der gesamten beruflichen Laufbahn institutionsübergreifend zu einem wichtigen Thema. Die Evaluation des Moduls Berufsrollenreflexion kann hierzu Anhaltspunkte liefern, die auf das TSK übertragbar scheinen (vgl. Schophaus 2017, S. 147 ff.). Fazit Sowohl die quantitativen als auch die qualitativen Daten weisen darauf hin, dass der Erfolg des TSK erstens maßgeblich mit konkreten Transferbezügen relevanter Situationen in die polizeiliche Praxis zusammenhängt. Damit verbunden ist eine wahrgenommene große Heterogenität hinsichtlich der inhaltlichen Schwerpunkte, die durch unterschiedliche Trainer*innen im TSK gesetzt werden sowie in Bezug auf die methodische Umsetzung. Realitätsnahe Szenarien, die durch kompetente Trainer*innen angeleitet und durch ein kooperatives Kursklima gestützt werden, scheinen großen Einfluss auf das Gelingen zu haben. Zweitens erweist sich eine konsequente Verzahnung zwischen Fächern sowohl innerhalb des akademischen Kontextes als auch mit den Trainings- sowie mit den Praxisphasen als weiterer wichtiger Einflussfaktor. Hier braucht es eine deutlich stärkere Integration handelnder Akteure, um das Potenzial des TSK nutzen zu können. Drittens scheinen handelnde Trainer*innen, Tutor*innen und weitere Kolleg*innen und Vorgesetzte im Praxiskontext hinsichtlich ihrer Einstellung und Haltung sowie als authentische Vorbilder im konkreten polizeilichen Handeln wichtige Promotoren für eine erfolgreiche Einbettung des TSK in die Ausbildung zu sein. Zwar müssen Studierende auch mit Widersprüchlichkeiten umgehen lernen; wenn diese aber als Brüche wahrgenommen werden, ist dies ohne Frage problematisch.
Literatur Baldwin, T. T., & Ford, J. K. (1988). Transfer of training: A review and directions for future research. Personell Psychology, 41(1), 63–105. Erpenbeck, J., & Sauter, W. (2013). So werden wir lernen! Berlin: Springer Gabler. Freitag, M. (2017). Studienmodul „Berufsrollenreflexion“ an der FHöV NRW. In M. Freitag & M. Schophaus (Hrsg.), Reflexive Polizei. Frankfurt a. M.: Polizeiwissenschaften. Gonon, P., Huisinga, R., Klauser, F., & Nickolaus, R. (2005). Kompetenz, Kognition und neue Konzepte der beruflichen Bildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Gourmelon, A., Seidel, S., & Treier, M. (2014). Personalmanagement im öffentlichen Sektor. Grundlagen und Herausforderungen. München: rehm. Korff, M. (2014). Personalentwicklung in der Kommunalverwaltung: Die bayerischen Landkreise. Hamburg: Igel Verlag RWS. Mandl, H., & Hense, J. (2004). Lernen unternehmerisch denken: Das Projekt Tatfunk. (Forschungsbericht Nr. 169). München: Ludwig-Maximilians-Universität, Department Psychologie, Institut für Pädagogische Psychologie.
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H. Staar et al.
Schophaus, M. (2017). Der Einfluss indiviueller Reflexionskompetenz auf die Polizeikultur. In M. Freitag & M. Schophaus (Hrsg.), Reflexive Polizei. Frankfurt a. M.: Polizeiwissenschaften. Sonntag, K., & Schmidt-Rathjens, C. (2004). Kompetenzmodelle – Erfolgsfaktoren im HR- Management? Ein strategie- und evidenzba-sierter Ansatz der Kompetenzmodellierung. Personalführung, 37, 18–26. Spencer, L. M., & Spencer, S. M. (1993). Competence at work. New York: Wiley Publishing. Staar, H., Eversmann, J., Soltau, A., Gurt, J., Kempny, C., & Kania, H. (2019). „Verwaltung to go?“ – Möglichkeiten und Grenzen mobilen Arbeitens in der öffentlichen Verwaltung. In T. Köhler, E. Schoop & N. Kahnwald (Hrsg.), Wissensgemeinschaften in Wirtschaft, Wissenschaft und öffentlicher Verwaltung: 22. Workshop GeNeMe’19 Gemeinschaften in Neuen Medien. Dresden: TUDpress. Staar, H., Wagner, M., Kempny, C., & Atzpodien, H. C. (2019). Zur Relevanz unternehmerischer Potenziale im Krankenhaus. In M. A. Pfannstiel, P. Da-Cruz & C. Rasche (Hrsg.), Entrepreneurship im Gesundheitswesen I. Wiesbaden: Springer Gabler. Weinert, F. E. (1999). Vermittlung von Schlüsselqualifikationen. In S. Matalik & D. Schade (Hrsg.), Entwicklungen in Aus- und Weiterbildung. Anforderungen, Ziele, Konzepte (S. 23–43). Baden- Baden: Nomos. Weinert, F. E. (2001). Concept of competence: A conceptual clarification. In D. S. Rychen & L. H. Salganik (Hrsg.), Defining and selecting key competencies. Seattle: Hogrefe & Huber. Weißer, M. (2008). Schulung der Sozialkompetenz schon in der Ausbildung. Innovative Verwaltung, 10, 18–20. Zeitner, I. (2017). Persönliche und soziale Kompetenzen im Fokus. In J. Zeitner & C. Frings (Hrsg.), Zukunftsfähige Polizeiausbildung. Frankfurt a. M.: Polizeiwissenschaft. Zeitner, J. (2017). Organisieren und Projektieren der Entwicklungsprozesse im Studiengang der Polizei NRW. In J. Zeitner & C. Frings (Hrsg.), Zukunftsfähige Polizeiausbildung. Frankfurt a. M.: Polizeiwissenschaft.
Eigensicherung, reflektiert Swen Koerner und Mario Staller
Inhaltsverzeichnis 1 E inleitung 2 Eigensicherung 2.1 Kommunikation als Mittel 2.2 Ökologische Dynamik 2.3 Einstellung 2.4 Situative Aufmerksamkeit 2.5 Training Literatur
948 948 948 949 952 952 953 956
Zusammenfassung
Der professionelle Umgang mit dem im Polizeiberuf vorhandenen Gewaltpotenzial gehört zum Arbeitsalltag von Polizist*innen. Das in Ausbildung und Praxis verankerte Konzept der Eigensicherung bietet hierfür die zentrale Orientierung. Der Beitrag plädiert aus der Perspektive der ökologischen Dynamik für ein umfassendes Verständnis: Das Mittel der Eigensicherung ist Kommunikation, der Mitteleinsatz kontextabhängig. S. Koerner Abteilung für Trainingspädagogik und Martial Research, Deutsche Sporthochschule, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Staller (*) Fachbereich Polizei, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_51
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Gewaltkommunikation kann zum Zwecke polizeilicher Eigensicherung situativ ebenso erforderlich sein wie Deeskalation, Nähe ebenso wie Distanz. Das persönliche Selbst-, Welt- und Rollenverständnis von Polizist*innen bildet das zentrale Nadelöhr reflektierter Eigensicherung.
1
Einleitung
Alltägliche polizeiliche Einsatzsituationen können von jetzt auf gleich eine unerwartete Wendung nehmen. Eine Fahrzeugkontrolle z. B. kann einvernehmlich verlaufen, aber auch eskalieren. Die Situation kann wieder zur Normalität zurückkehren, aber auch in Gewalt münden und die leibliche Unversehrtheit von Polizist*innen gefährden. Polizeieinsätzen wohnt strukturell ein Normalitäts- und Gewaltpotenzial inne (Ellrich et al. 2011; Ellrich und Baier 2014; Jager et al. 2013; Koerner und Staller 2019; Renden et al. 2015). Den konkreten Verlauf bestimmen Polizist*innen entscheidend mit (Reuter 2014). Die professionelle Steuerung des Verlaufspotenzials gehört zu ihrem Arbeitsalltag. Das Konzept polizeilicher Eigensicherung (Füllgrabe 2017; Lorei 2021; Ungerer und Ungerer 2008b) setzt hier an.
2
Eigensicherung
Die der Eigensicherung angedachte Leitorientierung für die Berufs- und Ausbildungspraxis von Polizist*innen findet ihren Niederschlag u. a. in der Polizeidienstvorschrift 100 sowie im Leitfaden 371 – Eigensicherung im Polizeidienst. PDV 100 definiert Eigensicherung als das „taktisch richtige Verhalten im Einsatz zur Verhinderung beziehungsweise Reduzierung von Gefährdung für Einsatzkräfte“ (PDV 100 2012). Im Sinne dieser Bestimmung ist Eigensicherung umfassend zu denken. Als ein zentral auf die präventive oder akute Vermeidung bzw. Verringerung der Eigengefährdung von Polizist*innen bezogenes Verhalten, ist Eigensicherung ein dauerhafter Begleitaspekt professionellen polizeilichen Einsatzhandelns. Eigensicherung beinhaltet alle Verhaltensweisen bzw. Handlungsoptionen von Polizist*innen, die dazu beitragen, Eigengefährdungen im Einsatz zu verhindern bzw. zu reduzieren. Dieses weite Verständnis ist folgenreich, öffnet es doch den Blick dafür, dass Eigensicherung die legitime Anwendung von Gewalt ebenso beinhaltet wie kommunikative Deeskalation.
2.1
Kommunikation als Mittel
In der Praxis der Aus- und Fortbildung von Polizist*innen wird Eigensicherung häufig auf Gewaltoptionen bezogen. Es geht dann um den Einsatz von Führungs- und Einsatzmitteln
Eigensicherung, reflektiert
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sowie um körperliche Verteidigungs- und Sicherungstechniken. Die Zuordnung von Eigensicherung auf Gewaltoptionen zeigt sich u. a. auf organisatorisch struktureller Ebene. Maßnahmen zur Eigensicherung und Deeskalation treten als getrennte Angebote in Erscheinung (Ellrich et al. 2011). Die Trennung beider Handlungsoptionen legt ein – bestenfalls – additives Verständnis polizeilicher Kompetenzentwicklung für den Einsatz nahe: hier das professionelle Reden, dort die rechtssichere Zwangsanwendung (Lorei 2021). Eine derartige Teilung hat indes mit der Realität des Einsatzhandelns wenig zu tun. In dieser verhalten sich „Kommunikation“ und „Gewalt“ komplementär und bewegen sich auf einem gleitenden Kontinuum polizeilicher Handlungsoptionen, die sich im Berufsalltag praktisch überlagern und ablösen können (Reuter 2014). Bei genauerer Betrachtung ist die Unterscheidung zwischen „Kommunikation“ und „Gewalt“ zudem unscharf: Die Anwendung von Gewalt ist Kommunikation mit u. a. körperlichen Mitteln; Reden ist Kommunikation im Medium der Sprache; der Einsatz von Mimik und Gestik ist nonverbale Kommunikation mit Mitteln der Körpersprache. In allen Fällen geht es um die Mitteilung von Information, die sozialen Anschluss findet, also aufgegriffen und in dieser oder jener Form, in diesem oder jenem Medium erwidert wird – also um Kommunikation per definitionem (Luhmann 1995). Kommunikation ist damit das basale Medium polizeilicher Eigensicherung. Gewaltkommunikation und kommunikative Deeskalation sind ihre Erscheinungsformen in der Praxis.
2.2
Ökologische Dynamik
Ein für die Theoretisierung von Eigensicherung brauchbares und zugleich empiriefähiges Rahmenkonzept bieten die ökologischen Dynamiken (ecological dynamcis, Koerner und Staller 2020a). Aus Sicht dieses Ansatzes resultiert individuelles Verhalten aus der permanenten, wahrnehmungs- und erfahrungsbasierten Interaktion mit der Umwelt, die dadurch verändert und neu gestaltet wird (Gibson 1979). Das Einsatzhandeln eine*r Polizist*in z. B., die im Verhalten eine*r empörten Bürger*in bei einer Personalienfeststellung im Rahmen einer Großdemonstration zunächst die Gelegenheit erkennt, Verständnis für den Zustand der Empörung (körper-)sprachlich zu spiegeln, arbeitet an der Durchsetzung der Maßnahme und vollzieht dabei präventiv Eigensicherung: Die Geste der Anerkennung verändert die Situation, die wiederum das nächste Bürger*innenverhalten beeinflusst. Polizeiliches Verhalten und Kontext sind situativ gekoppelt, sie bringen sich gegenseitig hervor. Eigensicherung ist dabei die Nuancierung des Einsatzhandelns zum Zwecke der Gefährdungsvermeidung. Das Konzept der Constraints (Newell 1986) der zugleich verhaltensermöglichenden und -limitierenden Einschränkungen (Torrents et al. 2020), präzisiert die Beziehung zwischen Verhalten und Kontext. Unterschieden werden Constraints der Umwelt, der Aufgabe und des Individuums: 1. Das Verhalten des*der Bürger*in bildet eine Einschränkung in der Umwelt des*der Polizist*in, an der sich das eigene Verhalten in-formiert, also buchstäblich in-Form setzt. Zu
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den Constraints der Umwelt gehören ferner beteiligte Kolleg*innen und Dritte, aber auch ambiente Faktoren wie Licht- und Witterungsverhältnisse, die Funkverbindung oder räumliche Beschaffenheiten. Zustimmende oder ablehnende Gesten, Lärm oder das plötzliche Auftauchen handyfilmender Dritter etc. bilden Einschränkungen der Umwelt und halten potenziell relevante Informationen bereit, auf die hin sich das Einsatzhandeln und darin die Eigensicherung des*der Polizist*in auszurichten hat. 2. Dass polizeiliches Einsatzhandeln im Kontext eines gesellschaftlichen Auftrags zur präventiven Gefahrenabwehr erfolgt, sich hier als Personalienfeststellung konkretisiert und in diesem Moment z. B. als Beitrag zur Deeskalation der Situation, gehört zu den Constraints der Aufgabe. Einschränkungen der Aufgabe spannen einen Rahmen auf, der den Spielraum polizeilichen Einsatzhandelns definiert. Zu diesen Constraints, die grundsätzlich und situativ das Handeln formatieren, gehören zudem grundlegend die normativ-rechtlichen Vorgaben der Polizeiarbeit. 3. Ob und wie Constraints der Umwelt und der Aufgabe im Einsatzhandeln von Polizist*innen resonieren und dieses ggf. in Richtung Eigensicherung nuancieren, hängt von Constraints des Individuums ab. Aktuelle Aufmerksamkeit, energetische Ressourcen, momentane Handlungsmotivation, emotionale Verfassung, Erfahrung, motorisch- taktische Fertigkeiten und Fähigkeiten, Wissen und Einstellung begründen den zentralen individuellen Bezugsrahmen für die Wahrnehmung und Bewertung umwelt- und aufgabenbezogener Constraints und anschließender Verhaltensoptionen (z. B. der Eigensicherung). Aus Sicht der ökologischen Dynamik besteht Eigensicherung im Rahmen des polizeilichen Einsatzhandelns somit in einer adaptiven, funktionalen Beziehung zwischen dem*der Polizist*in, ihrer bzw. seiner Umwelt sowie der Aufgabe (Araújo und Davids 2011), die permanent neu bewertet und aktiv gestaltet werden muss. Empirische Einsatzdaten weisen darauf hin, dass funktionale Eigensicherung kontextabhängig und verwendungsspezifisch ist und sich aus dem flexiblen Umgang mit den situativen Anforderungen ergibt (Boulton und Cole 2016; Körner et al. 2019; Preddy et al. 2019b; Rajakaruna et al. 2017). Welches Verhalten und welches Tool richtig oder falsch ist, lässt sich somit nur im konkreten Anwendungskontext und für die einzigartige Situation bestimmen. Eigensicherung zwischen Distanz und Nähe
Distanz z. B. ist nicht per se das Rezept für präventive Eigensicherung. Nimmt etwa ein*e Polizist*in im Wach- und Wechseldienst während einer Konfliktsituation im Verhalten der*des Bürger*in – etwa in Mimik, Körpersprache und Worten – Anzeichen von Verzweiflung wahr, kann die richtige Lösung gerade darin bestehen, behutsam Nähe herzustellen. Der für die Eigensicherung im Umgang mit Menschen in psycho- sozialen Krisen häufig formulierte grundsätzliche Empfehlung größtmöglicher Distanz (Metzler 2015; Schmalzl 2012) kann pauschal nicht zugestimmt werden. Nähe, inklusive körperliche Berührung, kann in solchen Situationen eine stabilisierende Funk-
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Abb. 1 Eigensicherung kontextabhängig
tion ausüben (Szymenderski 2012). Nähe verkörpert einen emotionalen Zugang und sendet das Signal „Ich bin bei dir, ich helfe dir“. Dies kann durch empathische Kommunikation und die Anwendung von Prinzipien aktiven Zuhörens verstärkt werden Aber auch das ist kein Standardrezept. Die Einschätzung kann falschliegen, Faktoren der Umgebung oder innerpsychische Zustände können für sich oder im Wechselspiel einen stärkeren Einfluss entfalten. Schlägt der*die Bürger*in um sich, erfordert Eigensicherung ein schnelles Umschalten und besteht jetzt im effektiven und rechtskonformen Einsatz von Zwangsmitteln, etwa der Überwältigung und Fesselung. Unter anderen kontextuellen und situativen Voraussetzungen kann genau das Gegenteil von Nähe das richtige Mittel zur Eigensicherung sein. Zeigen sich bei dem*der Bürger*in Anzeichen von Angst, sind Distanz und Zeitgewinn das Mittel der Wahl. Eine Annäherung, ggf. begleitet mit aggressiven Forderungen sowie der Androhung und Einleitung von Zwangsmitteln, könnte die Situation eskalieren lassen (Abb. 1). ◄ Für die Eigensicherung von Polizist*innen im Einsatz sind somit Pauschalisierungen im Bereich der Lösungsoptionen mit Vorsicht zu genießen. Einsatzbezogene Interaktionen zwischen Polizei und Bürger*innen sind von einer Komplexität geprägt (Cojean et al. 2020), die sich einfachen linearen Handlungsalgorithmen entzieht. Eigensicherung beinhaltet ein Verständnis für die Komplexität der jeweiligen Einsatzsituation. Sie bedarf der Fähigkeit zur situativen Anpassung und lagebezogenen Flexibilität seitens der handelnden Einsatzkraft. Eigensicherung ist kontextspezifisch. Daraus folgt, dass Eigensicherung nicht nur situativ, sondern auch je nach Verwendung und eingesetztem Bereich variiert. Eigensicherung stellt an Beamt*innen im Wach- und Wechseldienst konkret andere Anforderungen als an Beamt*innen in Spezialeinheiten (Koerner und Staller 2020a). Eigensicherung ist mithin domänenspezifisch zu trainieren und (neu) zu erlernen.
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2.3
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Einstellung
Deeskalative Kommunikation und Gewaltkommunikation sind mögliche und situativ bedingte Mittel polizeilicher Eigensicherung. Die individuelle Einstellung der*des Polizist*in ist die zentrale Bedingung dieser Möglichkeiten. Wie sich Polizist*innen in spezifischen Einsatzsituation verhalten, hängt im Lichte der ökologischen Dynamik von der persönlichen Einstellung ab, die als individuelle Einschränkung wirkt. Für die Eigensicherung leitend ist neben der allgemeinen personalen Einstellung zu Mensch und Gesellschaft vor allem das professionelle Rollenverständnis von Polizist*innen. Darunter fallen die spezifischen Einstellungen, die mit der Berufsrolle und den darauf bezogenen typischen Aufgaben- und Handlungsfeldern der Polizeiarbeit zu tun haben. Innerhalb der internationalen Forschung zur Cop-Culture greift die Debatte um das Warrior- versus Guardian-Mindset die zentrale Bedeutung der Grundeinstellung von Polizist*innen auf (Stoughton 2015, 2016). Während das Warrior-Mindset eine krieger-ähnliche Einstellung zum Polizeiberuf umfasst, in der die Welt und die Menschen vor allem unter dem Aspekt der Gefahr betrachtet werden, steht das Guardian-Mindset für eine beschützer-orientierte Einstellung, die den Service am*an der Bürger*in und eine positive Beziehung zu diesem*dieser in den Mittelpunkt stellt (Staller et al. 2019). Die Einstellung von Polizist*innen kann zudem beide Mentalitäten in unterschiedlicher Ausprägung umfassen(McLean et al. 2021). Die Forschung zeigt in diesem Zusammenhang, dass das Warrior-Mindset mit einem höheren Konflikt- und Gewaltpotenzial und einer geringeren Priorisierung von deeskalativer Kommunikation assoziiert ist (Reuter 2014, Conti und Doreian 2014; Conti und Nolan 2005; McLean et al. 2019).
2.4
Situative Aufmerksamkeit
Aus Sicht der ökologischen Dynamik resultiert erfolgreiche Eigensicherung aus der individuellen Wahrnehmung und Nutzung relevanter Informationen der je spezifischen Einsatzsituation. Eigensicherung besteht in der flexiblen Kopplung des Verhaltens an den situativen Kontext, an die Anforderungen der Aufgabe und die Umwelt. Die Schnittstelle hierfür ist Wahrnehmung. Die Wahrnehmung relevanter Informationen bildet die Grundlage für funktionale, dem Kontext angepasste eigensichernde Handlungen (zu perception- action coupling, vgl. Koerner und Staller 2020c). Für die polizeiliche Eigensicherung wird dabei immer wieder die Rolle situativer Aufmerksamkeit betont (Schmalzl 2015; Körber 2008). Situative Aufmerksamkeit bildet im Deutungszusammenhang komplexer Einsatzsituationen (Boulton und Cole 2016; Preddy et al. 2019a) eine entscheidende Ressource der Eigensicherung. An welchen konkreten Informationen der konkreten Situation mache ich meine Handlung fest? Die Bandbreite möglicher relevanter Informationsquellen ist groß: Mimik, Gestik, Blickverhalten, Aussagen des*der Bürger*in, Handposition, Distanz, Umgebungsfaktoren. Welche Hand-
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lungsoption passt zur aktuellen Situation und zu meinen Möglichkeiten, Fähigkeiten und Erfahrungen? In der Literatur wird situative Aufmerksamkeit vor allem im Kontext der Annahme eines von Bürger*innen ausgehenden allgegenwärtigen Potenzials von Gefahr, Bedrohung und Gewalt (Füllgrabe 2014; Ungerer und Ungerer 2008b) behandelt. Um in der gefährlichen Welt der Polizeiarbeit zu überleben, so die These, bedürfe es konsequenterweise einer Art „Gefahrenradar“ (Füllgrabe 2014). Situative Aufmerksamkeit besteht demnach vor allem in visueller und auditiver Informationsaufnahme und -verarbeitung, die im Dienst der „Survivability“ (Füllgrabe 2014) den Blick in Erwartung allgegenwärtiger Gefahr taktisch zwischen den Händen des*der Bürger*in, der Körperposition, der Interaktionsdistanz und dem Umfeld oszillieren lässt (Ungerer und Ungerer 2008a, b). Mit Blick auf neuere Forschungen über polizeiliche Konflikt- und Gewaltdynamiken (Ellrich und Baier 2014) sowie Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen polizeilicher Einstellung, Wahrnehmung und Handlung (McLean et al. 2019; Wolfe et al. 2020), wären Funktionen und Folgen hierzulande erfolgreicher Konstrukte wie „Gefahrenradar“ und „Survivability“ im Sinne einer reflektierten Eigensicherung kritisch zu überprüfen. Auf welche Informationsquellen sich die Wahrnehmung in einer Einsatzsituation ausrichtet, was als Information wahrgenommen und wie bewertet wird, wird nicht zuletzt vom Mindset moderiert. Die Einstellung von Polizist*innen bildet einen mächtigen Verzerrer und Filter. Sie ermöglicht und limitiert die Eigensicherung (Koerner und Staller 2020b). Eigensicherung ist multidimensional. Sie umfasst flexible Lösungsoptionen, die über situative Aufmerksamkeit – die Wahrnehmung handlungsleitender Informationen – angesteuert werden. Eigensicherung beginnt jedoch mit der eigenen Einstellung, die bereits die Aufmerksamkeit in und für die Einsatzsituation beeinflusst. Insofern besteht eine wichtige Aufgabe für Polizist*innen darin, sich dieser Zusammenhänge bewusst zu werden und die eigenen wahrnehmungs- und handlungsleitenden Annahmen und Werte und damit das eigene Selbst-, Welt- und Rollenverständnis zu reflektieren. Damit ist auf die bedeutsame Rolle und Verantwortung des Trainings der Eigensicherung verwiesen.
2.5
Training
Eigensicherung „erfordert regelmäßiges Training“ (Leitfaden 371, S. 10; siehe dazu auch Jager et al. 2013). Zwar sind Trainingsmaßnahmen unter Einsatzkräften beliebt (Ellrich et al. 2011), kommen ihrer Meinung nach allerdings in der Fortbildung zu kurz und repräsentieren zudem mitunter nur eingeschränkt die Anforderungen der Einsatzpraxis (Jager et al. 2013). Gerade Letzteres ist entscheidend. Um Polizist*innen bei der Weiterentwicklung ihrer Eigensicherungskompetenzen zu unterstützen, muss das Training graduell Situationen, Aufgaben, Merkmale und Reize „wie draußen“ enthalten (Staller et al. 2017). Erst dadurch wird es den Trainierenden ermöglicht, im Training so wahrzunehmen und zu handeln, wie es „draußen“ zum Zwecke der Eigensicherung nötig und möglich wäre.
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Knackpunkt ist somit die Frage nach der Einsatzrealität – und vor allem zu konkreten Interaktionsverläufen und Merkmalen der Situation existieren wenige belastbare quantitative und vor allem qualitative Daten (Reuter 2014). Dieses strukturelle Wissensdefizit ist für die Eigensicherung nicht unproblematisch. So zeigen empirische Daten aus (Ellrich et al. 2011), dass Polizist*innen, die an Trainingsmaßnahmen zur Eigensicherung teilgenommen haben, im Anschluss eine höhere Viktimisierungsrate im Bereich der schweren Gewalt aufweisen als Nicht-Teilnehmer*innen solcher Maßnahmen. Anders als erwartet und beabsichtigt, senkt hier mutmaßlich das Training nicht das Opferrisiko und erhöht die Eigensicherung von Polizist*innen, sondern erzeugt den gegenteiligen Effekt. Dieser Befund ist beachtenswert. Eine mögliche Erklärung dafür könnte in der eingangs problematisierten verkürzten Sicht auf Eigensicherung als Nutzung polizeilicher Gewaltoptionen liegen, die mit einer bestimmten Realitätsvorstellung von Polizeieinsätzen einhergeht. Zwar ist Eigensicherung mit guten empirischen Gründen vom Potenzial der Gefährdung her konzipiert. Gleichzeitig aber zeigt sich zum einen im empirischen Längsschnitt, dass der Annahme einer stetig zunehmenden Gewalt gegen Polizist*innen keineswegs pauschal zuzustimmen ist (Reuter 2014; Staller und Körner 2019; Tammen und Behn 2018), mithin also von einem nach wie vor hohen Anteil nicht-gefährlicher Einsatzverläufe auszugehen ist. Zum anderen liefert die neuere Konflikt- und Gewaltforschung Evidenzen dafür, dass Gewalt im Polizeieinsatz häufig als Konstellationseffekt entsteht. An Entstehung und Verlauf von Gewalt haben neben beteiligten Bürger*innen sowie Merkmalen der Situation auch Polizist*innen Anteil (Ellrich und Baier 2014; Reuter 2014). Training, das demgegenüber die Gefahr im Polizeieinsatz als allgegenwärtig und von außen verursacht behandelt und deshalb vor allem Gewaltlösungen der Eigensicherung thematisiert, geht damit nicht nur an der Alltagsrealität vorbei, sondern reproduziert möglicherweise darüber hinaus in den Köpfen der Teilnehmer*innen die Vorstellung einer Dominanz allgegenwärtiger Gefahren und eines deshalb angemessenen Fokus auf den Einsatz von Zwangsmitteln. Und diese Vorstellung wiederum beeinflusst das Handeln (Huesmann 2018a). Aus der Aggressionsforschung ist bekannt, dass aus Überzeugungen und Einstellungen Taten folgen. Wer davon ausgeht, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist, interagiert mit der Welt entlang dieser Überzeugung (Huesmann 2018b). Studien zeigen, dass Menschen mit einem derartigen Weltschema anderen Menschen gegenüber häufiger schlechte Absichten unterstellen und häufiger zu gewaltförmigen Handlungen greifen als Menschen mit einem positiven Welt- und Menschenbild (Dodge et al. 2015). Dies könnte eine Erklärung dafür sein, dass Trainingsmaßnahmen zur Eigensicherung unbeabsichtigt die Gewaltbetroffenheit der Teilnehmer*innen erhöhen und damit am erklärten Ziel vorbeigehen. Eigensicherung, so wie weiter oben dargestellt, beginnt mit der eigenen Einstellung zu Welt und Mensch. Der Ansatz der ökologischen Dynamik ermöglicht nicht nur eine theoriegeleitete Beschreibung polizeilicher Eigensicherung als einem in hohem Maße variablen und kontextabhängigen Einsatzverhalten. Der Ansatz liefert zudem eine konkrete Orientierung für die Planung und Gestaltung von Trainings zur Eigensicherung, die den Einsatzanforderungen
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Ableitungen/Hinweise und Handlungsempfehlungen für die Praxis
Eigensicherung ist in hohem Maße praxisrelevant. Gerade deshalb ist eine fortlaufende Ausrichtung der Theorie und Praxis der Eigensicherung an wissenschaftlichen Evidenzen wichtig. Die Auseinandersetzung mit Erkenntnissen aus der neueren Gewalt- und Konfliktforschung sowie der ökologischen Dynamik bietet zahlreiche Update-Potenziale auf allen Entscheidungs- und Handlungsebenen. a) Entscheider*innen Polizeiorganisationen ist eine konsequente Ausrichtung am Leitbild einer reflektierten Eigensicherung zu empfehlen. Reflektierte Eigensicherung beinhaltet eine kontinuierliche Update-Kultur und Revision bestehender Wissensbestände und Konzepte im Anschluss an aktuelle Forschungen. Polizeiorganisationen erkennen die Kontextabhängigkeit und Lösungsvielfalt eigensichernder Handlungen an und unterstützen diese durch ein Angebot integrativer Aus- und Fortbildungsmaßnahmen. Eine an Problemlösungskompetenzen orientierte domänen- und verwendungsspezifische Curricularisierung der Aus- und Fortbildung bildet hierfür die Grundlage. b) Einsatzkräfte Polizist*innen verstehen Eigensicherung als kontextabhängige, multidimensionale Expertise, die situativ unterschiedliche Lösungsoptionen im Kontext komplexer Einsatzsituationen beinhaltet und domänenspezifisch zu erlernen ist. Die Wahrnehmung relevanter Kontext-Informationen führt zur funktionalen Eigensicherung. Diese kann Nähe und Distanz ebenso umfassen wie Gewalt und deeskalative Kommunikation. Eigensicherung als funktionale Anpassung an Anforderungen der Situation ist abhängig vom individuellen Bezugsrahmen. Dieser setzt u. a. situative Aufmerksamkeit voraus. Einsatzkräfte reflektieren ihre Eigensicherung. Dazu gehört grundlegend, sich den Zusammenhang zwischen dem eigenen Handeln und dem persönlichen Selbst-, Welt-, Mensch- und Berufsverständnis klarzumachen. c) Einsatztrainer*innen Einsatztrainer*innen kommt die Aufgabe zu, dem umfassenden Verständnis von Eigensicherung trainingspraktisch Rechnung zu tragen. Trainingsmaßnahmen müssen inhaltlich den Anforderungen der Eigensicherung durch repräsentative Aufgabendesigns entsprechen und Polizist*innen die Bandbreite situativer Lösungsmöglichkeiten, und hier vor allem das Prinzip der Situations- und Kontextabhängigkeit, verfügbar machen. Der Ansatz der ökologischen Dynamik bietet hierzu ein probates Analyse- und Gestaltungsmodell. Als reflektierte Trainer*innen fördern sie zudem die Selbstreflexion von Polizist*innen, vor allem hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Eigensicherung und persönlichem Rollenverständnis.
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gerecht werden und die Fähigkeit zur Nutzung unterschiedlicher Lösungsoptionen in komplexen Situationen in den Mittelpunkt stellen. Fazit Eigensicherung ist ein dauerhafter Begleitaspekt professionellen polizeilichen Einsatzhandelns. Im vorliegenden Beitrag plädieren wir für ein umfassendes Verständnis von Eigensicherung, das alle präventiven und normativ zulässigen Maßnahmen zur Sicherung der leiblichen Unversehrtheit von Polizist*innen im Einsatz umfasst. Der Mitteleinsatz ist situativ und kontextabhängig, die Fähigkeit dazu domänenspezifisch und je nach Verwendung (neu) zu erlernen. Eigensicherung im Kontext komplexer Einsatzsituationen kann Distanz ebenso erfordern wie Nähe, Gewaltkommunikation ebenso umfassen wie kommunikative Deeskalation. Eigensicherung ist zudem multidimensional. Sie basiert auf situativer Aufmerksamkeit, die wiederum bedingt ist vom Selbst-, Welt- und Rollenverständnis von Polizist*innen, welches wie ein Filter das Wahrnehmen und Handeln beeinflusst. Das Training zur Eigensicherung hat die Aufgabe, Polizist*innen einen umfassenden und reflektierten Zugang zu dieser Facette professionellen Einsatzhandelns zu ermöglichen.
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Ausblick: Ein Handbuch mit Anschlussperspektive Swen Koerner und Mario Staller
„It’s not who we are underneath, but what we do that defines us.“ (Batman über Batman)
Kommunikation, behauptete mal ein erfolgreicher Soziologe, sei eine ziemlich unwahrscheinliche Angelegenheit. Zunächst müsse man dafür sorgen, dass die Information den Empfänger erreicht. Sodann müsse die Information noch so verpackt sein, dass man sie verstehen kann. Und wenn sie das geschafft hat, dann müsse im besten Fall noch dafür gesorgt werden, dass der Empfänger ihr auch zustimmt. Schließlich, so der Soziologe, wäre es dann noch gut, wenn man die Information nicht sofort vergisst (Luhmann 2008). Das klingt recht kompliziert für einen Vorgang, der im Alltag ziemlich gut zu funktionieren scheint. Praktiker*innen mag der grundgelehrte Hinweis auf die Unwahrscheinlichkeit des Selbstverständlichen schräg anmuten. Die Praxis läuft doch. Auch mit Blick auf das Einsatztraining gibt es die einen, die es tun, und die anderen, die darüber reden. Dem erfolgreichen Soziologen hätte die Idee dieses Handbuchs sicher gefallen: Das Buch macht Information zum Einsatztraining erreichbar. Und wir hoffen sehr, dass es in weiten Teilen so geschrieben ist, dass man es verstehen kann. Auch hoffen wir, dass viele der hier vorgebrachten Argumente überzeugen. Und schließlich wäre es prima, wenn das Handbuch bei Praktiker*innen (die es tun) und Wissenschaftler*innen (die drüber reden) nicht direkt im schwarzen Loch des Vergessens versenkt würde. Gleich zu Beginn dieses Handbuchs haben wir keinen Hehl daraus gemacht, dass wir eine Zwei-Welten-Lehre hier nicht teilen; also die Teilung zwischen denen, die über Einsatztraining wissenschaftlich reden, und denen, die es tun. Zumindest nicht in der Weise, dass wir die Grenzen für unüberbrückbar hielten. Im Gegenteil, unser Leitbild für das Einsatztraining ist das einer Praxis, zu deren Selbstverständnis es gehört, sich zu reflektieren. Mit anderen Worten: Es geht darum, es zu tun, und darum, darüber – wissenschaftlich
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 M. Staller, S. Koerner (Hrsg.), Handbuch polizeiliches Einsatztraining, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9
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informiert – zu reden. Deshalb war es uns wichtig, Einsatztrainer*innen und Wissenschaftler*innen als Autor*innen und Reviewer*innen zu gewinnen. Die Beiträge in diesem Handbuch bündeln praktische und wissenschaftliche Perspektiven auf das polizeiliche Einsatztraining und bringen diese mit- und gegeneinander ins Gespräch. Das Einsatztraining in Deutschland erhält damit eine Aufmerksamkeit, dies es unseres Erachtens verdient. Die Beiträge behandeln Hintergründe, Aufgaben und Herausforderungen der Praxis. Und sie stellen Ideen, Werkzeuge und Lösungsansätze für die Praxis vor. Was daraus folgt, wie daran angeschlossen wird, liegt bei den Leser*innen. Eine sich auftuende Lerngelegenheit erkennt man daran, dass man irritiert ist, dass geltende Routinen des Denkens und Handelns herausgefordert werden. Erste innere Abwehrreflexe sind ein treffsicheres Zeichen für ein Lernpotenzial. In diesem Sinne hoffen wir, dass das Handbuch irritiert. Im Zuge seiner Fertigstellung ist uns klar geworden, dass die Behandlung des Einsatztrainings mit dieser ersten Auflage keinesfalls abgeschlossen ist. Wir selbst wurden durch die Reviewer*innen auf zahlreiche blinde Flecken und wichtige Anschlussthemen unserer eigenen Arbeit aufmerksam gemacht. Auf Kritikpunkte haben wir reagiert und diese so gut es geht aufgenommen. Die nächsten Monate werden wir damit verbringen, Anschlussperspektiven konkreter auzuloten. Dies betrifft u. a. die Frage der Curricularisierung der von uns vertretenden Trainingsansätze. Wie kann der Wechsel von technikzentrierten Lernund Prüfungszielen hin zu einer an Prinzipien orientieren Problemlösekompetenz, mithin also der Wechsel von einem teaching for the test hin zu einem Training für den Einsatz gestaltet werden? Als weitere Baustelle, die wir als solche nicht antizipiert hatten, hat sich das Thema Eigensicherung entpuppt. Der eingereichte Beitrag zur Eigensicherung wurde von den Gutachter*innen (Praktiker*in und Wissenschaftler*in) einstimmig abgelehnt. Die Ablehnung wiederum wurde vom Beiträger abgelehnt. An der Relevanz des Themas ändert das nichts. Es im Handbuch nicht zu behandeln, erschien uns keine befriedigende Option. Zugleich war die Beitrags- und Reviewphase abgeschlossen. Kurzerhand haben wir entschieden, dass Thema Eigensicherung in einem Beitrag zu behandeln und diesen nachträglich ins Review zu geben. Dass dieser einzelne Beitrag des Handbuchs nicht den geplanten Begutachtungsprozess durchlaufen hat, wollen wir hiermit offen ansprechen. Auch aus dem angewandten Reviewverfahren selbst ziehen wir unsere Lehren. Eine sinnvolle Weiterentwicklung des interaktiven Verfahrens könnte darin bestehen, auch die inhaltliche Diskussion zwischen Gutachter*innen und Autor*innen transparent zu machen und diese am Ende den Leser*innen z. B. auf einer Platfform für supplemental material zur Verfügung zu stellen. Das Review würde damit selbst zum Datum, das eine externe Validierung des Ergebnisses ermöglicht. Die Leser*innen können sich ein eigenes Bild machen. Wir werden das testen. Gelegenheit für thematische Erweiterungen und Modifizierungen des Reviewprozesses wird die 2. Auflage des Handbuches bieten. Diese ist bereits beschlossene Sache. Eine weitere konkrete Anschlussperspektive besteht in der Internationalisierung des Diskurses zum Einsatztraining. Die Planung für ein zweiteiliges Werk Police Conflict Management
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(Volume I: Challenges and Opportunities in the 21th century; Volume II: Training and Eduction) bei Palgrave Macmillan/Springer läuft bereits. Zum Abschluss danken wir den vielen Einsatztrainer*innen, mit denen wir in den letzten Jahren zusammenarbeiten durften und ohne deren Aufgeschlossenheit, Interesse und Feedback unsere Forschungen und auch dieses Handbuch nicht hätten realisiert werden können: André, die drei Stefans, Padde, Sven, Rado, Chris und die ganze Crew des PTC, Micha, Olli und Rüdi.
Literatur Luhmann, N. (2008). Soziale Systeme Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.