Rawls-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung (German Edition) [1. Aufl. 2023] 3476059278, 9783476059277

Mit seiner Theorie der Gerechtigkeit löste John Rawls (1921–2002) eine Renaissance der normativen politischen Theorie au

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German Pages 692 [640] Year 2023

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Autorenverzeichnis
Teil I Leben
1 Rawls – ein aktueller Klassiker
Gerechtigkeit und Liberalismus als Ankerpunkte von Rawls
Begriffe und Konzepte
Literatur
Teil II Werk: Schriften
2 Intellektuelle Biografie
Einblicke in die Familiengeschichte
Rawls’ akademischer Aufstieg
Einschätzungen zu Rawls’ Werk
Rawls und Religion
Literatur
3 Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971/1975)
Literatur
4 Politischer Liberalismus (1993/1998)
Literatur
5 Das Recht der Völker (1999/2002)
Zentrale Begriffe des Rechts der Völker
Die Anwendungsbedingungen des Rechts der Völker
Das Erbe des Politischen Liberalismus
Notwendige Bedingungen der Kooperation
Menschenrechtsminimalismus?
Zur Diskussion des „Rechts der Völker“: Menschenrechte als Imperative der Politik?
Abschließende Würdigung
Literatur
6 Gerechtigkeit als Fairneß (2001/2003)
Einführung und Verortung
Gerechtigkeit als Fairness – Ein Neuentwurf in fünf Teilen
Schlaglichter: Von den Gerechtigkeitsprinzipien zur Demokratie mit Eigentumsbesitz
Schluss
Literatur
7 Über Sünde, Glaube und Religion (2010)
Die Bedeutung des theologischen Kontextes
Gott, Person, Gemeinschaft – Grundbegriffe und Prinzipien der kurzen Untersuchung über die Bedeutung von Sünde und Glaube
Verteidigung des natürlichen Kosmos und Kritik seiner Erweiterung
Die Bedeutung von Sünde und Glaube
Über meine Religion – Rawls’ Distanzierung vom Christentum
Habermas: Die Bedeutung der religiösen Ethik für Rawls’ Politische Theorie
Zusammenfassung: Rawls und die Theologie
Literatur
Teil III Werk: Vorlesungen
8 Geschichte der Moralphilosophie (2000/2002)
Philosophische Texte lesen mit Professor Rawls
Der Urzustand und der Schleier des Nichtwissens
Kant und öffentlicher Vernunftgebrauch
Kants und Rawls’ Moralphilosophie: religiös oder nicht?
Rawls’ Hegel-Lektüre: eine Antwort auf seine Kritiker?
Literatur
9 Geschichte der politischen Philosophie (2007/2008)
Einleitung – Bemerkungen über politische Philosophie
Hobbes ‚säkuläres Moralsystem‘
Lockes Idee der Gewaltenteilung und das Recht auf Eigentum
Humes utilitaristische Kritik an Lockes Theorie des Gesellschaftsvertrags
Eine widerspruchsfreie Interpretation Rousseaus
Mills Prinzipien und ihre Nähe zur Fairness-Konzeption
Marx’ Gesellschaft ‚jenseits der Gerechtigkeit‘
Sidgwicks systematische Darstellung des Utilitarismus
Butlers Konstitution der menschlichen Natur
Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
Teil IV Werk: Sonstiges
10 Die Idee des politischen Liberalismus (1992)
Literatur
11 Collected Papers (1999)
Ansatz und Gliederung
Erste Phase: Gute Urteile, gute Regeln
Zweite Phase: „Justice as Fairness“ – Making-of
Dritte Phase: Der ethische Vorrang der wohlgeordneten Gesellschaft
Vierte Phase: Der Übergang zu Politischer Liberalismus
Fünfte Phase: Politischer Liberalismus im Inneren und auf globaler Ebene
Literatur
Teil V Referenzautoren
12 Bentham
Literatur
13 Hegel
Literatur
14 Kant
Kant in der Theorie der Gerechtigkeit
Konstruktivismus mit und gegen Kant
Rawlsianscher Kantianismus?
Literatur
15 Locke
Legitimation politischer Herrschaft
Limitation politischer Herrschaft
Freiheit und Gleichheit
Eigentum und Klassenstaat
Literatur
16 Marx
Die kapitalistische Klassengesellschaft als Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnis
Die kapitalistische Produktionsweise als verfehltes Leben
„Ja, aber …“ – Rawls’ Marx-Rezeption
Literatur
17 Mill
Literatur
18 Rousseau
Literatur
Teil VI Begriffe und Konzepte
19 Altruismus/Egoismus
Literatur
20 Bereich des Politischen
Literatur
21 Bürden des Urteilens
Literatur
22 Bürger*innen (Tugend)
Person versus Bürger*in
Die Tugenden der Bürger*in
Pflicht zur Bürgerlichkeit
Literatur
23 Demokratie
Literatur
24 Differenzprinzip
Abgrenzung des Differenzprinzips zum Utilitarismus und der Pareto-Regel
Globale Ausweitung des Differenzprinzips
Kontext und Entwicklungslinien des Differenzprinzips
Literatur
25 Eigentum
Literatur
26 Fairness/Verfahrensgerechtigkeit/Verfahrenskonsens
Literatur
27 Faktum des vernünftigen Pluralismus
Literatur
28 Familie
Literatur
29 Frieden, demokratischer
Gewährleistung von Stabilität
Bedingungen und Voraussetzungen des demokratischen Friedens
Das Ziel des Friedens als Legitimationsgrund für Interventionen
Fazit und Ausblick
Literatur
30 Gemeinschaft
Abgrenzungen gegenüber verschiedenen Konzeptionen von Gemeinschaft
Die wohlgeordnete Gesellschaft als ‚soziale Einheit sozialer Einheiten‘
Literatur
31 Gerechtigkeit/Grundsätze der Gerechtigkeit
Die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit
Globale Erweiterung der Gerechtigkeit
Literatur
32 Gesellschaft/Gesellschaftsvertrag/wohlgeordnete Gesellschaft
Literatur
33 Gewissensfreiheit
Literatur
34 Gleichheit/Chancengleichheit
Der Grund der Gleichheit: Moralische Personalität
Inhalt der Gerechtigkeitskonzeption: Gleichheit der Verteilung
Liberale vs. demokratische Gleichheit: Was bedeutet faire Chancengleichheit?
Schwächt Rawls den Egalitarismus im Spätwerk ab?
Literatur
35 Grundfreiheiten/Grundgüter/Bedürfnisse
Literatur
36 das Gute, Idee/Konzeption des
Konzeptionen des Guten: Begriffliche Ambivalenzen
Die „Befähigung zu einer Konzeption des Guten“ als „höchstrangiges Interesse“
Zulässige und unzulässige Konzeptionen des Guten
Von der ‚vollständigen‘ Theorie zu den politischen Ideen des Guten
Literatur
37 Ideale Theorie
Literatur
38 Institutionen
Entdeckung und Begriff der Institution
Die Regulierung der Grundstruktur
Der Umfang der Grundstruktur in der Diskussion
Nur Grundstruktur oder auch Einstellungen?
Literatur
39 Intergenerationale Gerechtigkeit/Spargrundsatz
Literatur
40 Kooperation
„Kooperation“ in Rawls’ Werkentwicklung
Gesellschaft als System der fairen sozialen Kooperation
Kooperation in freien Vereinigungen und im Völkerrecht
Literatur
41 Liberalismus, politischer
Die Entwicklung des politischen Liberalismus
Die Aufgabe des politischen Liberalismus
Eine politische Konzeption
Politische Werte
Kritik des politischen Liberalismus
Literatur
42 Moral/Moralität/Moralpsychologie
Theorie und Philosophie der Moral
Moralpsychologie und Moralität
Die Rolle der Moralpsychologie in Rawls’ Projekt
Moralische Gefühle
Moralpsychologie im Politischen Liberalismus
Literatur
43 Öffentlicher Vernunftgebrauch/Öffentlichkeit
Das Konzept des öffentlichen Vernunftgebrauchs im Kontext der Theorie des politischen Liberalismus
Vernunft und Rationalität
Kritik an Rawls’ Konzeption des öffentlichen Vernunftgebrauchs
Literatur
44 Perfektionismus
Rawls’ Ablehnung des Perfektionismus als politisches Prinzip in der Theorie der Gerechtigkeit
Antiperfektionismus im Gesamtwerk von Rawls
Kritik am Rawlsschen Anti-Perfektionismus
Literatur
45 Person/freie und gleiche Person
Die beiden moralischen Vermögen
Gleiche Personen
Freie Personen
Freie und gleiche Personen als normative politische Konzeption
Veränderter Status der Konzeption freier und gleicher Personen
Die tolerante Personenkonzeption in Recht der Völker
Literatur
46 Pflicht
Literatur
47 Politische Philosophie und Ethik
Vier Rollen der politischen Philosophie
Vier Fragen zur politischen Philosophie
Rawls’ politische Wende
Literatur
48 Rationalität
Rationale Wahl
Spieltheorie
Maximin-Regel
Literatur
49 Realistische Utopie
Die realistische Utopie im Kontext der methodischen Revision
Zwischen utopischer Konzeption und kritischen Einwänden
Idealistische und realistische Bezüge des Globalen
Literatur
50 Religion
Vernünftiger Pluralismus und umfassende Lehren: Religion als Herausforderung und Ressource für die öffentliche Vernunft
Religion und Demokratie
Religiöse Motive und Denkfiguren in der Philosophie von Rawls
Literatur
51 Schleier des Nichtwissens/der Unwissenheit
Die Suche nach dem moralischen Standpunkt
Der Schleier und die Deduktion der Wahl im Urzustand
Vier-Stufen-Gang: Von den Prinzipien zur gerechten sozialen Grundstruktur
Die Kritik und Rechtfertigung des Schleiers des Nichtwissens
Literatur
52 Toleranz
Literatur
53 Übergreifender Konsens
Zum Ausgangspunkt der Überlegungen
Zum Verständnis des übergreifenden Konsenses
Stabilität und Gerechtigkeitssinn
Mehr als ein bloßer modus vivendi
Zustimmung zur politischen Gerechtigkeitskonzeption als Inhalt eines übergreifenden Konsenses
Menschenrechte als interkultureller übergreifender Konsens
Einwände gegen die Idee eines übergreifenden Konsenses
Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
54 Überlegungsgleichgewicht
Das Überlegungsgleichgewicht als Metapher für ein allgemeines Verfahren in Lebenswelt und Philosophie
Das Überlegungsgleichgewicht bei John Rawls
Wohlüberlegte Urteile
Modifikationen des Verständnisses beim späten Rawls
Öffentliche Rechtfertigung ohne Objektivitätsanspruch
Kohärenztheoretische Begründung
Abwägungen in komplexen Handlungssituationen
Literatur
55 Umfassende Lehren
Literatur
56 Urzustand
Der Naturzustand in der Tradition der Vertragstheorien
Kontraintuitive Ergebnisse einer reinen Vertragstheorie
Idealisierungen im Rawlsschen Urzustandsmodell
Details in der Ausgestaltung des Urzustands
Der Urzustand beim „späten Rawls“
Ein „globaler“ Urzustand?
Zur Begründungsleistung des Rawlsschen Urzustandsmodells
Literatur
57 Utilitarismus, Kritik des
Das utilitaristische Paradigma und die Möglichkeit einer philosophischen Gerechtigkeitstheorie
Utilitaristische Interpretationen der Theorie der Gerechtigkeit und Rawls’ Betonung ihres deontologischen Charakters
Folgen für eine utilitaristische Gerechtigkeitstheorie
Diskussion des Präferenzutilitarismus vor dem Hintergrund von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie
Literatur
58 Verfassung
Wesentliche Verfassungsinhalte
Rechtfertigung und Entstehung einer liberalen Verfassung
Die konstitutionelle Demokratie
Verfassungsgericht und öffentlicher Vernunftgebrauch
Literatur
59 Vernunft/Vernünftigkeit
Begriffliche Unschärfen und ihre Auflösung durch den Kantischen Konstruktivismus
Die Unterscheidung zwischen dem Rationalen und dem Vernünftigen
Vernünftigkeit als politische Rechtfertigung von Gerechtigkeit als Fairness
Literatur
60 Versöhnung
Begriffsbestimmung und Verwendungsweisen
Versöhnung mit verschiedenen sozialen Fakten
Versöhnung mit der liberalen Demokratie
Literatur
61 Verteilungsgerechtigkeit/Gerechtigkeitssinn
Merkmale der Verteilungsgerechtigkeit
Gleichheit
Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz
Kritik
Literatur
62 Völkerrecht
Literatur
63 Vorrang des Rechten
Literatur
64 Ziviler Ungehorsam
Literatur
Teil VII Wirkung: Rezeption
65 Rainer Forst
Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus
Kontexte der Gerechtigkeit
Zur Begründung globaler Gerechtigkeit
Toleranz und Demokratie
Literatur
66 Jürgen Habermas
Die Auseinandersetzung(en) zwischen Rawls und Habermas
Themen der Auseinandersetzung und Einflusslinien
Rawls und Habermas als Schlüsselfiguren der praktischen Philosophie der Gegenwart
Literatur
67 Martha Nussbaum
Universaler Topos: Der bedürftige Mensch
Drei Probleme der sozialen Gerechtigkeit
Kritik des Kontraktualismus
Der Fähigkeitenansatz anstelle der Grundgüterliste
Perspektiven globaler Gerechtigkeit
Fazit und Ausblick
Literatur
68 Onora O’Neill
Abstraktion und Idealisierung
Abstrakte Gerechtigkeitsprinzipien
Gendergerechtigkeit
Öffentlicher Gebrauch der Vernunft
Globale Gerechtigkeit
Literatur
69 Thomas Pogge
Die gesellschaftliche Grundstruktur als primärer Gegenstand der Gerechtigkeitstheorie
Fakten- und praxisabhängige Begründung von Gerechtigkeitsgrundsätzen
Grundgüter als öffentlicher Maßstab einer Gerechtigkeitsauffassung
Globale Verteilungsgerechtigkeit: Liberal-kosmopolitisch oder politisch-liberal-internationalistisch?
Literatur
Teil VIII Rezeption: Diskurse
70 Gerechtigkeit
Die Wurzeln des zeitgenössischen Gerechtigkeitsdenken
Grundzüge und Strukturmerkmale des Gerechtigkeitsdenkens
Gerechtigkeitstheorien der Gegenwart
Gleichheit als moralisches Prinzip
Die Kritik der Ungerechtigkeit
Soziale Ungleichheiten als gesellschaftliches Faktum
Globale Gerechtigkeit
Gerechtigkeitsherausforderungen und Zukunftsfragen
Literatur
71 Konstruktivismus
Vom kantischen Konstruktivismus bis zum politischen Konstruktivismus
Zwischenbilanz
Rawls’ Konstruktivismus im Vergleich
Einfluss und Kontroverse
Ausblick
Literatur
72 Liberalismus: Theoretisch-normative Grundlegung
Gegenstandsbereich und normative Grundannahme des Liberalismus
Rechte- versus Rechtfertigungsliberalismus
Politischer versus perfektionistischer Liberalismus
Literatur
73 Liberalismus: Spielarten und Herausforderungen
Spielarten
Herausforderungen
Literatur
74 Menschenrechte
Die Bestimmung achtbarer Gesellschaften
Ein System sozialer Kooperation
Menschenrechte als Bedingung der Kooperation zwischen Völkern
Der § 10 in Das Recht der Völker
Einfluss und Kontroverse
Ausblick
Literatur
75 Normative politische Ökonomie: Rawls und Piketty im Vergleich
Normative Grundlagen
Alternativen zur derzeitigen Sozialdemokratie
Neue Perspektiven: Kosmopolitismus, Nachhaltigkeit und Resilienz
Schlussfolgerung
Literatur
76 Normative Theorie internationaler Beziehungen
Auftakt: Globalizing and „Realizing“ Rawls
Rückschritt „Recht der Völker“?
Globale Gerechtigkeit
Liberale und nicht-liberale Gesellschaften
Kontrapunkt: Positivere Einschätzungen
Neuere Entwicklungen: Zur Denaturalisierung des Rawls-Paradigmas
Literatur
77 Öffentliche Vernunft
Öffentliche Vernunft und demokratische Selbstgesetzgebung
Die Pflicht zur Bürgerlichkeit
Öffentliche Vernunft: metaphysisch und nicht politisch?
Epistemologische Erwägungen zur öffentlichen Vernunft
Diskurstheorie der öffentlichen Vernunft
Öffentlich vernünftige Gründe: teilbar oder nicht vernünftig zurückzuweisen?
Literatur
78 Tierpolitik und Tiergerechtigkeit
Literatur
79 Umweltethik
Diskursentwicklung: Vorsorgeprinzip
Diskursentwicklung: Klimagerechtigkeit
Rawls und die Umweltethik: Desiderate
Literatur
Teil IX Wirkung: Rawls und seine Kritiker*innen
80 Feminismus und Care-Arbeit
Die feministische Kritik an Rawls – wenn auch wohlwollend
Rawls’ Konzeption sozialer Kooperation: Vernünftig und reziprok
Reziprozität versus Abhängigkeit
Literatur
81 Kommunitarismus
Die Kritik am ungebundenen Selbst
Kritik an negativer Freiheit und unterkomplexer Gleichheit
Kritik am Universalismus und der Trennung von Rechtem und Gutem
Kritik an der ‚schwachen‘ Demokratie
Der Kommunitarismus als immanente Kritik am Liberalismus Rawlsscher Prägung?
Literatur
82 Radikale Demokratie
Was ist radikale Demokratietheorie?
Radikaldemokratische Abgrenzungen von Rawls
Rawls mit radikalen Demokratietheorien weiterdenken
Literatur
83 Postkolonialismus und Transkulturalität
Der schwierige Dialog: Ambivalenzen, Abwehrreflexe und Asymptoten
Rawls’ langes Schweigen zu Imperialismus, Versklavung und Rassismus
Zentrale methodische und inhaltliche Kritikpunkte an Rawls’ Gerechtigkeitstheorie
Rawls’ Verteidigung seiner Gerechtigkeitstheorie
Methodologische und inhaltliche Forderungen gegenüber Rawls
Alternativen zum Rawlsschen Ansatz innerhalb der transkulturellen Philosophie
Literatur
Zeittafel
Werkverzeichnis
Namenregister
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Rawls-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung (German Edition) [1. Aufl. 2023]
 3476059278, 9783476059277

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Johannes J. Frühbauer / Michael Reder / Michael Roseneck / Thomas M. Schmidt (Hg.)

Rawls Handbuch Leben – Werk – Wirkung

Rawls-Handbuch

Johannes J. Frühbauer · Michael Reder · Michael Roseneck · Thomas M. Schmidt (Hrsg.)

Rawls-Handbuch Leben – Werk – Wirkung

Hrsg. Johannes J. Frühbauer Katholische Stiftungshochschule München, München, Deutschland

Michael Reder Hochschule für Philosophie München München, Deutschland

Michael Roseneck Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt am Main Deutschland

Thomas M. Schmidt Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt am Main Deutschland

ISBN 978-3-476-05927-7 ISBN 978-3-476-05928-4  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Coverbild: © Frederic Reglain/Gamma-Rapho via Getty Images Planung/Lektorat: Franziska Remeika J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Inhaltsverzeichnis

Teil I  Leben 1

Rawls – ein aktueller Klassiker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Johannes J. Frühbauer, Michael Reder, Michael Roseneck und Thomas M. Schmidt

Teil II  Werk: Schriften 2

Intellektuelle Biografie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Johannes J. Frühbauer

3

Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971/1975). . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Otfried Höffe

4

Politischer Liberalismus (1993/1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Fabian Poetke

5

Das Recht der Völker (1999/2002). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Andreas M. Bock

6

Gerechtigkeit als Fairneß (2001/2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Annette Förster

7

Über Sünde, Glaube und Religion (2010). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Thomas M. Schmidt

Teil III  Werk: Vorlesungen 8

Geschichte der Moralphilosophie (2000/2002). . . . . . . . . . . . . . . 93 Julien Winandy

9

Geschichte der politischen Philosophie (2007/2008) . . . . . . . . . . 103 Johannes J. Frühbauer

V

VI

Teil IV  Werk: Sonstiges 10 Die Idee des politischen Liberalismus (1992). . . . . . . . . . . . . . . . 117 Tim Reiß 11 Collected Papers (1999). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Tim Fritjof Huttel Teil V  Referenzautoren 12 Bentham. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Peter Niesen 13 Hegel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Oliver Hidalgo 14 Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Jakob Huber 15 Locke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Christian Spieß 16 Marx. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Michael Roseneck 17 Mill. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Annette Schmitt und Ruth Zimmerling 18 Rousseau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Michael Roseneck Teil VI  Begriffe und Konzepte 19 Altruismus/Egoismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Henriette Hufgard 20 Bereich des Politischen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Christian Schwaabe 21 Bürden des Urteilens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Michael Roseneck und Thomas M. Schmidt 22 Bürger*innen (Tugend). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Tim Reiß 23 Demokratie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Julian Culp 24 Differenzprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Cindy-Ricarda Roberts 25 Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Tilo Wesche 26 Fairness/Verfahrensgerechtigkeit/Verfahrenskonsens. . . . . . . . 229 Claudia Landwehr

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

VII

27 Faktum des vernünftigen Pluralismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Julien Winandy 28 Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Franz-Josef Bormann 29 Frieden, demokratischer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Johannes J. Frühbauer 30 Gemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Michael Haus 31 Gerechtigkeit/Grundsätze der Gerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . 253 Regina Kreide 32 Gesellschaft/Gesellschaftsvertrag/wohlgeordnete Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Simon Faets 33 Gewissensfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Johannes J. Frühbauer 34 Gleichheit/Chancengleichheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Tim Reiß 35 Grundfreiheiten/Grundgüter/Bedürfnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Andreas Gösele 36 das Gute, Idee/Konzeption des. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Tim Reiß 37 Ideale Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Jochen Bojanowski 38 Institutionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Tim Fritjof Huttel 39 Intergenerationale Gerechtigkeit/Spargrundsatz. . . . . . . . . . . . 301 Andreas Gösele 40 Kooperation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Andreas Gösele 41 Liberalismus, politischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Johannes J. Frühbauer 42 Moral/Moralität/Moralpsychologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Andreas Gösele 43 Öffentlicher Vernunftgebrauch/Öffentlichkeit. . . . . . . . . . . . . . 329 Thomas M. Schmidt 44 Perfektionismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Rebecca Gutwald 45 Person/freie und gleiche Person. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Cindy-Ricarda Roberts

VIII

46 Pflicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Michael Roseneck 47 Politische Philosophie und Ethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Veronika Hilzensauer 48 Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Ruth Zimmerling 49 Realistische Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Nejma Tamoudi 50 Religion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Thomas M. Schmidt und Michael Roseneck 51 Schleier des Nichtwissens/der Unwissenheit. . . . . . . . . . . . . . . . 379 Tim Fritjof Huttel 52 Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Eva Buddeberg 53 Übergreifender Konsens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Johannes J. Frühbauer 54 Überlegungsgleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Gerhard Kruip 55 Umfassende Lehren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Tim Reiß 56 Urzustand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Gerhard Kruip 57 Utilitarismus, Kritik des. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Michael Roseneck 58 Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Michael Becker 59 Vernunft/Vernünftigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Julian Prugger 60 Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Jörg Schaub 61 Verteilungsgerechtigkeit/Gerechtigkeitssinn . . . . . . . . . . . . . . . 439 Regina Kreide 62 Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Tamara Jugov 63 Vorrang des Rechten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Tim Reiß 64 Ziviler Ungehorsam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Julian Frinken und Michael Roseneck

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

IX

Teil VII  Wirkung: Rezeption 65 Rainer Forst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Julian Frinken und Michael Roseneck 66 Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Michael Reder 67 Martha Nussbaum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Johannes J. Frühbauer 68 Onora O’Neill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Sofie Møller 69 Thomas Pogge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Julian Culp Teil VIII  Rezeption: Diskurse 70 Gerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Johannes J. Frühbauer 71 Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Reza Mosayebi 72 Liberalismus: Theoretisch-normative Grundlegung. . . . . . . . . 537 Christine Bratu 73 Liberalismus: Spielarten und Herausforderungen . . . . . . . . . . 543 Johannes J. Frühbauer, Michael Roseneck und Thomas M. Schmidt 74 Menschenrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 Reza Mosayebi 75 Normative politische Ökonomie: Rawls und Piketty im Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 Darrel Moellendorf und Michael Roseneck 76 Normative Theorie internationaler Beziehungen. . . . . . . . . . . . 583 Lore-Marie Junghans 77 Öffentliche Vernunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 Thomas M. Schmidt und Michael Roseneck 78 Tierpolitik und Tiergerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Peter Niesen 79 Umweltethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Felix Ekardt und Anna Winter Teil IX  Wirkung: Rawls und seine Kritiker*innen 80 Feminismus und Care-Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 Kanchana Mahadevan und Thomas M. Schmidt

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81 Kommunitarismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Oliver Hidalgo und Ragna Verhoeven 82 Radikale Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 Michael Reder 83 Postkolonialismus und Transkulturalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . 661 Franziska Dübgen Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 Werkverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Namenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675

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Autorenverzeichnis

Dr. Michael Becker, apl. Professor für Politische Theorie an der JuliusMaximilians-Universität Würzburg (58 Verfassung) Dr. Andreas M. Bock  Professor für Politikwissenschaft und Unsicherheitsforschung an der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften Berlin (5 Das Recht der Völker (1999/2002)) Dr. Jochen Bojanowski  Professor für Philosophie an der University of Illinois Urbana-Champaign (37 Ideale Theorie) Dr. Franz-Josef Bormann  Professor für Moraltheologie an der EberhardKarls-Universität Tübingen (28 Familie) Dr. Christine Bratu Professorin für Philosophie mit einem Schwerpunkt in der Genderforschung an der Georg-August-Universität Göttingen (72 Liberalismus: Theoretisch-normative Grundlegung) Dr. Eva Buddeberg Akademische Rätin an der Professur für Politische Theorie und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main (52 Toleranz) Dr. Julian Culp  Assistant Professor für Philosophie an der American University of Paris (23 Demokratie; 69 Thomas Pogge) Dr. Franziska Dübgen Professorin für Philosophie mit den Schwerpunkten Politische Philosophie und Rechtsphilosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (83 Postkolonialismus und Transkulturalität) Dr. Dr. Felix Ekardt Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Rostock und Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik Leipzig/Berlin (79 Umweltethik, zus. mit A. Winter)

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Simon Faets, Mag. Theol. wissenschaftlicher Assistent für Theoretische und Ethische Grundlagen der Politik an der Akademie für Politische Bildung Tutzing (32 Gesellschaft/Gesellschaftsvertrag/wohlgeordnete Gesellschaft) Dr. Annette Förster Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen (6 Gerechtigkeit als Fairness (2001/2003)) Julian Frinken, M. A.  wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Politische Theorie und Public Policy an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (64 Ziviler Ungehorsam, zus. mit M. Roseneck; 65 Rainer Forst, zus. mit M. Roseneck) Dr. Johannes J. Frühbauer  Professor für Theologie in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München (1 Rawls – ein aktueller Klassiker, zus. mit M. Reder, M. Roseneck, T. M. Schmidt; 2 Intellektuelle Biographie; 9 Geschichte der politischen Philosophie (2007/2008); 29 Frieden, Demokratischer; 33 Gewissensfreiheit; 41 Liberalismus, politischer; 53 Übergreifender Konsens; 67 Martha Nussbaum; 70 Gerechtigkeit; 73 Liberalismus: Spielarten und Herausforderungen, zus. mit M. Roseneck, T. M. Schmidt) Dr. Andreas Gösele Donald I. MacLean, S.J. Chair Holder am College of Arts and Sciences an der Saint Joseph’s University in Philadelphia (35 Grundfreiheiten/Grundgüter/Bedürfnisse; 39 Intergenerationelle Gerechtigkeit/Spargrundsatz; 40 Kooperation; 42 Moral/Moralität/Moralpsychologie) Dr. Rebecca Gutwald wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Praktische Philosophie an der Hochschule für Philosophie München (44 Perfektionismus) Dr. Michael Haus Professor für Moderne Politische Theorie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (30 Gemeinschaft) Dr. Oliver Hidalgo, apl. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Regensburg und Akad. Oberrat am Institut für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (13 Hegel; 81 Kommunitarismus, zus. mit R. Verhoeven) Veronika Hilzensauer, M. A.  Promovendin der Philosophie an der Hochschule für Philosophie München (47 Politische Philosophie und Ethik) Dr. Dr. Otfried Höffe Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie und bis 2011 Professor für Philosophie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen (3 Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971/1975))

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Dr. Jakob Huber  Forschungsgruppenleiter am Institut für Philosophie an der Freien Universität Berlin (14 Kant) Henriette Hufgard StEx, Doktorandin am Kunsthistorischen Institut an der Freien Universität Berlin (19 Altruismus/Egoismus) Tim Fritjof Huttel, M. A. M. A. Doktorand am Graduiertenkolleg „Deutungsmacht“ an der Universität Rostock (11 Collected Papers (1999); 38 Institution; 51 Schleier des Nichtwissens/der Unwissenheit) Dr. Tamara Jugov  Professorin für Praktische Philosophie an der Technischen Universität Dresden (62 Völkerrecht) Lore-Marie Junghans, M. A. Studium der Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Politische Theorie an der Universität Hamburg (76 Normative Theorie internationaler Beziehungen) Dr. Regina Kreide  Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen (31 Gerechtigkeit/Grundsätze der Gerechtigkeit; 61 Verteilungsgerechtigkeit/Gerechtigkeitssinn) Dr. Gerhard Kruip Professor für Christliche Anthropologie und Sozialethik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (54 Überlegungsgleichgewicht; 56 Urzustand) Dr. Claudia Landwehr  Professorin für Politische Theorie und Public Policy an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (26 Fairness/Verfahrensgerechtigkeit/Verfahrenskonsens) Dr. Kanchana Mahadevan  Professorin für Philosophie an der Universität Mumbai (80 Feminismus und Care-Arbeit) Dr. Darrel Moellendorf Professor für Internationale Politische Theorie und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main (75 Normative Politische Ökonomie: Rawls und Piketty im Vergleich) Dr. Sofie Møller wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsverbund Normative Ordnungen an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main (68 Onora O‘Neill) Dr. Reza Mosayebi Akademischer Rat an der Professur für Politische Philosophie und Rechtsphilosophie an der Ruhr-Universität Bochum (71 Konstruktivismus; 74 Menschenrechte) Dr. Peter Niesen  Professor für Politische Theorie an der Universität Hamburg (12 Bentham; 78 Tierpolitik und Tiergerechtigkeit)

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Dr. Fabian Poetke bis 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Graduiertenkolleg „Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München (4 Politischer Liberalismus (1993/1998)) Julian Prugger, M. SC. wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Praktische Philosophie an der Hochschule für Philosophie München (59 Vernunft/Vernünftigkeit) Dr. Michael Reder  Professor für Praktische Philosophie und Vizepräsident für Forschung an der Hochschule für Philosophie München (1 Rawls – ein aktueller Klassiker, zus. mit J. Frühbauer, M. Roseneck, T. M. Schmidt; 66 Jürgen Habermas; 82 Radikale Demokratie) Dr. Tim Reiß  wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Institut für christliche Ethik und Politik und Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (10 Die Idee des politischen Liberalismus (1992); 22 Bürger*innen (Tugend); 34 Gleichheit/Chancengleichheit; 36 das Gute, Idee/Konzeption des; 55 umfassende Lehren; 63 Vorrang des Rechten) Cindy-Ricarda Roberts, M. A. M. SC. wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Internationale Politik an der School of Governance der Technischen Universität München (24 Differenzprinzip; 45 Person/freie und gleiche Personen) Dr. Michael Roseneck  wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Religionsphilosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main (1 Rawls – ein aktueller Klassiker, zus. mit J. Frühbauer, M. Reder, T. M. Schmidt; 16 Marx; 18 Rousseau; 21 Bürden des Urteilens, zus. mit T. M. Schmidt; 46 Pflicht; 50 Religion, zus. mit T. M. Schmidt; 57 Utilitarismus, Kritik des; 64 Ziviler Ungehorsam, zus. mit J. Frinken; 65 Rainer Forst, zus. mit J. Frinken; 73 Liberalismus: Spielarten und Herausforderungen, zus. mit. J. Frühbauer, T. M. Schmidt; 77 Öffentliche Vernunft, zus. mit T. M. Schmidt) Dr. Jörg Schaub Senior Lecturer für Philosophie an der University of Essex (60 Versöhnung) Dr. Thomas M. Schmidt Professor für Religionsphilosophie und geschäftsführender Direktor am Institut für Religionsphilosophische Forschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main (1 Rawls – ein aktueller Klassiker, zus. mit J. Frühbauer, M. Reder, M. Roseneck; 7 Über Sünde, Glaube und Religion (2010); 21 Bürden des Urteilens, zus. mit M. Roseneck; 43 Öffentlicher Vernunftgebrauch/Öffentlichkeit; 50 Religion, zus. mit M. Roseneck; 73 Liberalismus: Spielarten und Herausforderungen, zus. mit J. Frühbauer, M. Roseneck; 77 Öffentliche Vernunft, zus. mit M. Roseneck)

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Dr. Annette Schmitt  wissenschaftlicher Mitarbeiterin an der Professur für Politische Theorie und Public Policy an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (17 Mill, zus. mit R. Zimmerling) Dr. Christian Schwaabe Akademischer Oberrat am Geschwister-SchollInstitut für Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München (20 Bereich des Politischen) Dr. Christian Spieß  Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Katholischen Privat-Universität Linz (15 Locke) Nejma Tamoudi, M. A.  Doktorandin an der Hochschule für Philosophie München (49 Realistische Utopie) Ragna Verhoeven, M. A.  wissenschaftliche Mitarbeiterin an der BGHS, Universität Bielefeld (81 Kommunitarismus, zus. mit O. Hidalgo) Dr. Tilo Wesche  Professor für Praktische Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (25 Eigentum) Dr. Julien Winandy Sophie-Scholl-Schule Berlin-Schöneberg (8 Geschichte der Moralphilosophie (2000/2002); 27 Faktum des vernünftigen Pluralismus) Anna Winter, B.A. wissenschaftliche Hilfskraft an der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik Leipzig/Berlin (79 Umweltethik, zus. mit F. Ekardt) Dr. Ruth Zimmerling  bis 2021 Professorin für Politische Theorie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (17 Mill, zus. mit A. Schmitt; 48 Rationalität)

Teil I

Leben

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Rawls – ein aktueller Klassiker Johannes J. Frühbauer, Michael Reder, Michael Roseneck und Thomas M. Schmidt

John Rawls ist im 20.  Jahrhundert sicherlich einer der bedeutendsten praktischen Philosophen. Seine Werke und die damit verbundene Begriffs- und Theoriebildung haben viele Traditionslinien philosophischer Klassiker der Moderne aufgegriffen, synthetisiert und neu ausgelegt. Mit seinem Nachdenken über Gerechtigkeit prägt er bis heute viele philosophische Debatten, sei es in positiver Bezugnahme oder negativer Abgrenzung. Das vorliegende Handbuch gibt einen umfassenden Überblick über das Werk von John *Die Herausgeber danken an dieser Stelle den wissenschaftlichen Hilfskräften Johanna Braungart, Tabea Breidenbach und Sarah Staratschek für ihre vielseitige und wertvolle Unterstützung bei der Erarbeitung dieses Handbuches.

J. J. Frühbauer (*)  Katholische Stiftungshochschule München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Reder  Hochschule für Philosophie München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Roseneck · T. M. Schmidt  Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] T. M. Schmidt  E-Mail: [email protected]

Rawls. Dabei sollen seine zentralen Werke genauso vorgestellt werden wie die vielfältigen Begriffe und Konzepte, die er geprägt hat. Schlussendlich wird auch ein (Aus-)Blick auf die vielfältigen Wirkungen seines Schaffens gegeben werden. Gerade dieser Blick auf die vielfältigen Wirkungslinien des Denkens von Rawls legen den Schluss nahe, dass er bereits zu einem zeitgenössischen Klassiker avanciert ist. Was meint es aber eigentlich, wenn ein*e Philosoph*in beziehungsweise ihr Werk als klassisch charakterisiert wird? Jürgen Habermas antwortete auf diese Frage folgendermaßen: „Das Leben von Philosophen eignet sich nicht zu Heiligenlegenden. Was von ihnen bleibt, ist bestenfalls ein neuer, eigenwillig formulierter und oft rätselhafter Gedanke, an dem sich spätere Generationen abarbeiten. In unserem Fach nennen wir ja denjenigen einen Klassiker, der mit seinem Werk ein Zeitgenosse geblieben ist. Der Gedanke eines solchen Klassikers ist wie der Glutkern eines Vulkans, der die Lebensringe der Biographie als Schlacken abgelagert hat. Dieses Bild drängen uns die großen Denker der Vergangenheit auf, deren Werk dem Wechsel der Zeit standgehalten hat“ (Habermas 2005, 16). Angesichts dessen könnte man zunächst einwenden, dass es wohl verfrüht sei, nur 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung der Theorie der Gerechtigkeit, Rawls als Klassiker zu bezeichnen. Wir können schlichtweg noch nicht wissen, ob seine Gedanken dem Wechsel

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_1

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der Zeit standhalten können oder nicht vielmehr eine philosophische Modeerscheinung sein werden. Gleichwohl lassen sich bereits heute schon gewichtige Gründe ins Feld führen, Rawls’ Arbeiten das Attribut zuzuerkennen, klassisch zu sein. Sein Werk ist nämlich in mehreren Hinsichten in erheblichem Maße prägend für den philosophischen sowie geistes- und sozialwissenschaftlichen Diskurs geworden. Es scheint, dass es kein Zurück hinter Rawls geben könne, sondern vielmehr davon auszugehen ist, dass sein Einfluss noch auf Dauer deutlich zu vernehmen sein wird.

Gerechtigkeit und Liberalismus als Ankerpunkte von Rawls Rawls’ gerechtigkeitstheoretisches Denken lässt sich in drei werksgeschichtliche Etappen einteilen: Zunächst, als erste Etappe, die theoretische Grundlegung seines Gerechtigkeitsdenkens, die sich Rawls bereits peu à peu in den 1960er Jahren als gezielten Kontrapunkt zum im angloamerikanischen Bereich moralphilosophisch vorherrschenden Utilitarismus erarbeitet hat und dann 1971 zur Veröffentlichung von A Theory of Justice führte; sodann als zweite Etappe, die Aktualisierung seiner Theorie der Gerechtigkeit angesichts der Herausforderungen weltanschaulich-religiöser Pluralität in modernen demokratischen Gesellschaften. Diese Etappe lässt sich unter dem auch in seinen Schriften wiederholt verwendeten Titel Politischer Liberalismus (Rawls 1998) subsumieren. Und schließlich als dritte Etappe der Versuch, sein Gerechtigkeitsdenken international unter dem Begriff des Rechts der Völker (Rawls 2002) auszurollen (Frühbauer 2007). Die immense Originalität und Bedeutung seiner Überlegungen lassen sich bereits an der Theorie der Gerechtigkeit exemplifizieren. Zugegebenermaßen erscheint das oft zu lesende Narrativ, die Theorie der Gerechtigkeit habe die Politische Philosophie wiederbelebt, überhöht. Es lässt beispielsweise den kontinentaleuropäischen Kontext außen vor, man denke

J. J. Frühbauer et al.

dabei nur an die Arbeiten der Frankfurter Schule oder Louis Althussers (vgl. Nida-Rümelin 1996). Gleichwohl leitete das Werk im angelsächsischen Raum eine bis heute bestehende deutliche Schwächung des lange Zeit dominanten utilitaristischen Paradigmas zugunsten des – aus der kontinentalen Tradition stammenden – kantianischen ein: Ohne auf transzendentalphilosophische Vorannahmen Kants aufzubauen, bediente sich Rawls des kantianischen Konstruktivismus, um methodisch angeleitet über normative Fragestellungen nachzudenken. Dies gelang ihm dabei in einer Weise, die dazu beitrug, dass nunmehr die Behandlung von anwendungsorientierten Fragen in der praktischen Philosophie gleichberechtigt neben die Metaethik trat und sich auch auf benachbarte Disziplinen auswirkte. Der Begriff der Gerechtigkeit zum Beispiel wurde nicht mehr als ein für sozialwissenschaftliche Zwecke ungeeignetes Konzept mit subjektiven Konnotationen zurückgewiesen, sondern fand seinen Eingang etwa in ökonomische oder juristische Diskurse (Höffe 2016). Unter dem programmatischen Titel des Politischen Liberalismus (Rawls 1998) führte Rawls in den 1980er Jahren dann weitere Konzepte und Begrifflichkeiten ein. Dabei sucht die Idee des politischen Liberalismus mittels seiner vorrangigen Aufgabe der Entwicklung einer politischen Gerechtigkeitskonzeption die Frage zu beantworten, wie es angesichts der konflikthaften Pluralität von vernünftigen und gleichwohl einander ausschließenden religiösen, philosophischen und moralischen Lehren und damit einhergehenden miteinander unvereinbaren Konzeptionen des Guten, gelingen kann, dass eine stabile und gerechte Gesellschaft freier und gleicher Bürger*innen dauerhaft bestehen bleibt, und dass von allen Mitgliedern der Gesellschaft, gleich welcher vernünftigen umfassenden Lehre sie sich verbunden fühlen, ein und dieselbe politische Konzeption einer konstitutionellen Ordnung bejaht wird. Hatte Rawls bislang eine (national) geschlossene Gesellschaft im Blick, so unternimmt er mit dem Recht der Völker (Rawls 2002) den von vielen als misslungen betrachteten Versuch,

1  Rawls – ein aktueller Klassiker

seine Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness international aus zu buchstabieren – und zwar weiterhin mit dem methodisch-begrifflichen Instrumentarium seines ursprünglichen Theorieentwurfes. Dabei ist die Konzeption seines Rechts der Völker zu unterscheiden von dem, was gemeinhin als Völkerrecht ausgewiesen wird. Das Handbuch gibt einen Ein- und Überblick über diese zentralen Werke von Rawls und stellt dabei auch weniger beachtete Schriften vor. Dabei werden die Werke jeweils mit Blick auf ihren philosophischen Kern hin rekonstruiert, systematisch eingeordnet und mit einem (kritischen) Ausblick beleuchtet.

Begriffe und Konzepte Der zweite große Teil des Handbuches stellt die zentralen Begriffe und Konzepte der Philosophie von Rawls ins Zentrum. Es geht hierbei um knappe, zusammenfassende Darstellungen und Einordnungen dieser Begriffe. Im Überblick über die vielfältigen Begriffe zeichnet sich das Bild von Rawls philosophischem Ansatz. Einige zentrale Begriffe und Konzepte, denen eine besonders zentrale Bedeutung im Werk von Rawls zukommen, seien stellvertretend genannt. Im Zentrum seiner Theorie stehen die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit. So legt der erste Grundsatz der Gerechtigkeit die Verteilung von Grundfreiheiten fest; diese werden egalitär zugeteilt und müssen folglich allen Mitgliedern einer Gesellschaft gleichermaßen zukommen. Diese Grundfreiheiten sind vertraut als die klassischen Grundrechte (Höffe 1998). Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz, der dem ersten nachgeordnet ist, enthält zwei Komponenten: Die erste Komponente ist das Prinzip der fairen Chancen, das sich auf den Zugang zu Ämtern und Positionen bezieht und das gewährleisten soll, dass ein Recht auf faire Konkurrenz besteht. Dies ist nicht in einem egalitären Sinne eines gleichen Anspruchsrechts auf gesellschaftliche Ämter und Positionen gemeint; vielmehr geht es um prinzipiell gleiche Erfolgschancen für diejenigen, die vergleichbare Befähigungen und Leistungsbereitschaft mitbringen. Die

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zweite Komponente des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes bildet das sogenannte Differenzprinzip, das darauf abzielt, die Verteilung sozialer und ökonomischer Ressourcen zu regulieren und dabei die Möglichkeit von Unterschieden in der Ressourcenausstattung rechtfertigend zuzulassen. Letztlich geht es darum, dass die in einer Gesellschaft am schlechtesten gestellte Gruppe in eine solche Lage versetzt wird, die mindestens genauso gut ist, wie die Lage der jeweils am schlechtesten gestellten Gruppe in jeder anderen Gesellschaftsordnung, die mindestens den beiden vorausgehenden Grundsätzen der Gerechtigkeit genügt. Die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit sind jedoch nicht auf alle Kontexte und konkrete Situationen in einer Gesellschaft anzuwenden, sondern lediglich auf das, was Rawls als Grundstruktur einer wohlgeordneten Gesellschaft bezeichnet – womit zwei weitere wichtige Begriffe ins Spiel kommen (vgl. Werner 2021, 174–191). Um zu begründen, warum die beiden genannten und keine anderen Grundsätze der Gerechtigkeit normativ ausschlaggebend für die Grundstruktur einer Gesellschaft sind, entwickelt Rawls im Rückgriff auf die vertragstheoretische Tradition, den Kontraktualismus, mit dem Gedankenmodell des Urzustands ein weiteres zentrales Theorieelement seines Denkens. Die Entscheidungssubjekte, die sich in der modellierten hypothetischen Situation des Urzustandes befinden, sind geprägt von Interessenkonflikten und entscheiden sich aufgrund dieser prozedural als fair ausgewiesenen Situation gut begründet für die genannten beiden Grundsätze. Da sie nichts über ihre jeweilige sozioökonomische Situation und ihre Position in der Gesellschaft wissen, weil sie sich unter einem Schleier des Nichtwissens befinden, ist ihr Entscheidungsergebnis für alle Beteiligten zustimmungsfähig und somit richtig. Zum zentralen begrifflichen Instrumentarium der Theorie der Gerechtigkeit gehört überdies das Überlegungsgleichgewicht. Dieses kommt dann und deshalb zustande, wenn unsere Grundsätze und unsere Urteile übereinstimmen: „es ist ein Gleichgewicht der Überlegung, weil wir wissen, welchen Grundsätzen unsere Urteile ent-

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sprechen, und aus welchen Voraussetzungen diese abgeleitet sind“ (Rawls 1993, 38). Im Rawlsschen Politischen Liberalismus wiederum nehmen die Idee des übergreifenden Konsenses und des öffentlichen Vernunftgebrauchs eine herausragende Bedeutung ein. Beide Begriffe sind der weltanschaulich-religiösen Pluralität (dem Faktum des Pluralismus) moderner Gesellschaften geschuldet. Der übergreifende Konsens ermöglicht die begründete Zustimmung zu seinem zentralen Inhalt – den Gerechtigkeitsprinzipien – aus der Perspektive unterschiedlicher und möglicherweise sogar konfligierender philosophischer, religiöser oder weltanschaulicher Grundüberzeugungen. Der öffentliche Vernunftgebrauch pocht auf die Rechtfertigung von politischen Grundfragen betreffenden Positionen, die in den öffentlichen Diskurs eingebracht werden, durch vernunftgemäße Argumente, und schließt den Rekurs auf nicht verallgemeinerbare und nicht vernunftadäquate partikularmoralische, oftmals religiöse Argumente und Begründungen aus. Die Debatte zwischen John Rawls und Jürgen Habermas hat diese Frage intensiv befeuert. Und ihre breite Rezeption und rege Weiterführung im Ringen um die Zulässigkeit religiöser Argumente und Begründungen im öffentlichen Raum im politisch-philosophischen und gesellschaftsethischen Diskurs hält seit Jahrzehnten bis heute an. Rezeptionslinien, Diskursfelder und Gegenentwürfe Damit sind einige zentrale Begriffe und Theorieelemente genannt, welche die Philosophie von Rawls prägen. Auf der Basis der Rekonstruktion derselben fragt das Handbuch im dritten großen Teil nach den Rezeptionslinien, Diskursfeldern und Gegenentwürfen, die mit seiner Philosophie verbunden sind. Die beiden letzten großen Rubriken des Handbuches beschäftigen sich dann mit dem Einfluss, den Rawls auf die praktische Philosophie genommen hat. Es geht hier um die Analyse konkreter Rezeptionslinien bei einzelnen Autor*innen, um die Eröffnung neuer Diskursfelder sowie auch die Entstehung kritischer Einsprüche – angefangen über die Kriti-

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sche Theorie, über die Umweltethik bis hin zum Postkolonialismus. Denn Rawls ist bis heute nicht selten auch eine Art Reibungsfläche. Er wird herangezogen, um Ansätze kritisch abzugrenzen und damit auch um den Diskurs ‚nach Rawls‘ mit Blick auf seine eigenen blinden Flecken weiterzuentwickeln. Auch in diesen drei Hinsichten seien im Folgenden einige exemplarische Rezeptionslinien und Gegenentwürfe genannt, die systematisch im Handbuch eine Rolle spielen. Ein erster systematischer Impuls, der von Rawls ausgeht, ist das integrative Potenzial seines Ansatzes. Denn Rawls verbindet in seiner Argumentation verschiedenste Theoriestränge zu einem großen Ganzen. So finden sich in seinem Ansatz spieltheoretische Überlegungen genauso wie klassisch liberale Reflexionen oder auch sozial-kritische Argumente. Diese integrative Struktur seines Ansatzes führte dazu, dass er anschlussfähig für Autor*innen mit ganz unterschiedlichen philosophischen Hintergründen war und bis heute ist. Klassische Ökonomen, politische Liberale wie sozialstaatlich orientierte Theoretiker*innen finden gleichermaßen Anregungen in Rawls’ Theorie, die sie aufgreifen können. Darin zeigt sich die große integrative Wirkung, die Rawls für die praktische Philosophie hat. Gerade auch angesichts der in den vergangenen Jahrzehnten oftmals betonten Unterscheidung von analytischer und kontinentaleuropäischer Philosophie, die Rawls mit der ihm eigenen Argumentation zu unterlaufen, oder besser: zu verbinden vermag, wird dieses integrative Potenzial offensichtlich. Dabei wird mehr als deutlich, dass er die praktische Philosophie selbst als ein integratives Projekt denkt. Moralphilosophie, Metaethik, politische und Rechtsphilosophie werden zusammen gedacht und fallen nicht länger als Einzeldisziplinen auseinander. Über moralische Prinzipien kann nach Rawls nicht mehr losgelöst von politisch-philosophischen Kontexten nachgedacht werden. Die Theorie der Gerechtigkeit ist beispielsweise nur vor dem Hintergrund einer liberal-demokratischen Gesellschaft verstehbar. Dies ist aber kein Manko, sondern gerade ihr Potenzial. Ethische Normreflexion und -be-

1  Rawls – ein aktueller Klassiker

gründung wird deshalb eng verbunden mit ihrer politischen oder rechtlichen Umsetzung. Diese Verbindung prägt bereits die Kantische Philosophie. Aber Rawls denkt diese Verschränkung radikaler, wodurch sein Ansatz deutlich an Überzeugungskraft gewinnt. Vor diesem Hintergrund eines integrativumfassenden Ansatzes hat Rawls viele philosophische Diskurse weltweit geprägt. Zuerst ist in diesem Zusammenhang der US-Amerikanische Diskurs zu nennen. Viele einflussreiche Rezeptionen, aber auch kritische Anmerkungen zu Rawls’ Gerechtigkeitstheorie entfalten sich oftmals in Form einer produktiven Auseinandersetzung: Charles Taylor (1988) oder Michael Sandel (1985) etwa zweifelten an, ob es denn möglich sei, die Frage nach Gerechtigkeit ohne dichte Vorstellungen des Guten zu beantworten. Damit aber kehrten sie nicht zum utilitaristischen Verständnis von Gerechtigkeit als Ableitung aus dem Nützlichen zurück, sondern ihnen ging es im Effekt ebenfalls um den dem kantianischen und Rawls’ Denken zugrundeliegenden normativen Kern der Selbstzwecklichkeit des Menschen, die unbedingte Beachtung finden müsse. Thomas Pogges (1989, 240–280) politische Theorie wiederum positionierte sich ablehnend gegenüber der antikosmopolitischen Perspektive von Rawls’ normativer Theorie der internationalen Beziehungen wie sie besonders deutlich im Recht der Völker ihren Ausdruck findet. Vor dem Hintergrund dieser Kritik hat Pogge eine eigene Philosophie internationaler Beziehungen auf Grundlage eines kosmopolitisch erweiterten Urzustandes im Anschluss an Rawls entwickelt. Diese selektiven Beispiele von konstruktiven Diskussionen mit und Abgrenzungen von Rawls ließen sich noch lange weiterführen. Sie verdeutlichen den Stellenwert, den Rawls’ Arbeiten im philosophischen Diskurs einnehmen. Einer der wohl wichtigsten Rezeptionslinien in Deutschland ist sicherlich mit dem Namen Jürgen Habermas verbunden. Die Entwicklung seines philosophischen Schaffens in den 1980er und 1990er Jahren kann einerseits als eine Bewegung hin auf den Ansatz von Rawls interpretiert werden. Habermas verlässt in dieser Zeit

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immer mehr den hegelianisch-marxistischen Rahmen der kritischen Theorie und adaptiert die Kantische Spielart einer liberalen Philosophie, wie sie Rawls entworfen hat. Faktizität und Geltung ist die europäische Antwort auf Rawls und gleichzeitig auch eine Bewegung auf ihn hin. Andererseits bleibt Habermas bis heute auch skeptisch gegenüber einigen Positionen und Argumenten von Rawls. Habermas schätzt seinen Ansatz als zu monologisch und nicht intersubjektiv genug ein, womit sich dieser letztlich von der Lebenswirklichkeit der Menschen entferne. Menschen sind für Habermas sprechende Wesen, die mit dem Gegenüber immer schon in Interaktion verstrickt sind. Deswegen erscheinen manche Argumente von Rawls, wie die Idee des Urzustandes, Habermas zu technisch, zu formal, zu lebensfern. Über die normativen Grundsätze der Gesellschaft entscheidet für Habermas vielmehr der konkrete intersubjektive Diskurs der Menschen und keine theoretisch-abstrakte Figur. Rawls stehe deshalb immer in der Gefahr, so seine Schlussfolgerung, den Glutkern der demokratischen Gesellschaften zu verfehlen oder zumindest aus den Augen zu verlieren. Dieser Einwurf zieht sich wie ein roter Faden durch viele Ansätze, die sich auf der philosophischen Landkarte von Rawls absetzen. Damit verbunden ist auch ein seit 30 Jahren immer wieder erhobener Einspruch gegen das Verständnis von Rationalität bei Rawls, das eng mit der Annahme des methodischen Individualismus verbunden ist. Rawls ist Kantianer und übernimmt dessen begründungstheoretischen Fokus auf das Individuum und dessen Plädoyer für ein starkes Verständnis von Rationalität. Rawls glaubt daran, dass es eine gemeinsame Rationalität aller Individuen gibt, die wir beispielsweise für die Begründung von Gerechtigkeit heranziehen können. Die vereinzelten Menschen finden das Gemeinsame in ihrer Rationalität. Aber im Glutkern der Demokratie erleben Menschen das anders, so der Einspruch. Sie erleben, dass die Verstrickung und wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Menschen – im positiven wie negativen Sinne – viel stärker ist als der methodische Individualismus glauben

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macht. Und sie erleben im privaten wie öffentlichen Raum, dass die Vielfalt von Argumenten nicht mit einer übergreifenden Rationalität harmonisiert werden kann. Es scheint so, als verstünden Menschen unter Rationalität sehr unterschiedliches. Die aktuelle politische Situation im Heimatland von Rawls zeigt dies überdeutlich, denn die US-amerikanische Gesellschaft spaltet sich heute mehr denn je in unterschiedliche Rechtfertigungsgemeinschaften mit je eigener Rationalität. Auch mit Blick auf globale Konstellationen betonen Philosoph*innen, dass diese Vielfalt von Rationalitätsformen in interkultureller Hinsicht noch einmal expliziter anerkannt und zugespitzter gedacht werden muss. Dabei wird besonders moniert, dass Pluralität nicht in den Raum des Privaten abgeschoben werden darf, wie das teilweise bei Rawls der Fall zu sein scheint. Man kann darüber streiten, ob dies bei Rawls wirklich der Fall ist und wo genau diese Pluralität von Rationalitätsformen angesiedelt ist. Doch gleichgültig, wo genau man in dieser Debatte steht, sie zeigt auf alle Fälle, dass die Betonung einer übergreifenden Rationalität, die zu einem Konsens in ethischen und politischen Fragen führen kann (und soll), wie sie Rawls und Habermas in unterschiedlichen Spielarten verwenden, von vielen als zu weitgehend und voraussetzungsreich empfunden wird. In sozialphilosophischer Hinsicht halten in diesem Zusammenhang viele die implizite (und strikte) Unterscheidung von privat und öffentlich für unplausibel – beispielsweise im Kontext feministischer oder postkolonialer Ansätze. Diese Kritik trifft auch Rawls’ Glaube an die Macht der Institutionen. Denn Rawls fokussiert seinen Ansatz in politisch-philosophischer Hinsicht sehr stark auf die Begründung und Ausgestaltung von Institutionen. Gerechtigkeit ist nicht im Sinne von Aristoteles die Tugend der Bürger*in, sondern die der Institution. Damit wird er der Notwendigkeit gerecht, in ausdifferenzierten Gesellschaften und angesichts hoch komplexer Problemlagen, nach institutionellen Antworten zu suchen. Klimagerechtigkeit gibt es nicht allein durch nachhaltige Bürger*innen und ihre Einstellungen. Dafür brauchen wir

J. J. Frühbauer et al.

gerechte Institutionen. In dieser Hinsicht ist Rawls vollkommen zuzustimmen. Aber gleichzeitig entfernt dieser starke institutionelle Akzent seine Philosophie auch wieder von der Lebenswirklichkeit der Menschen. Denn diese erleben sich als wirkmächtig, fragen nach dem guten Leben oder bilden soziale Bewegungen – angefangen von Fridays for Future bis Black Lives Matter. Es zeigt sich heute mehr denn je, dass solchen Bewegungen eine große Bedeutung zukommt. Der Streit zwischen diesen ist oftmals wichtiger als der Konsens. Rawls denkt aber den Raum der Politik nicht vom Politischen aus, sondern von Institutionen als Ausdruck der Rationalität. Daran stoßen sich bis heute viele Kritiker*innen. Dabei scheint Rawls außerdem die Möglichkeiten der politischen Institutionen, Gerechtigkeit herzustellen, über zu bewerten, so ein weiterer Einspruch – beispielsweise aus der Perspektive des Postkolonialismus oder der radikalen Demokratietheorie. Zwar wollen die Prinzipien der Gerechtigkeit explizit Diskriminierung vermeiden und damit gerade Benachteiligte angemessen berücksichtigen. Eine machtanalytische Kritik der Ausgangsbedingungen spielt dabei jedoch keine Rolle. Die Schattenseiten oder auch Verfehlungen liberaler Institutionen, die zu einer (nicht-intendierten) Ausblendung von Diskriminierungen oder anderen negativen Implikationen führen, bleiben damit zu wenig beachtet. Ein letzter Einspruch aus der Perspektive der Theorie internationaler Beziehungen, der sich auf seinen Fokus auf Institutionen bezieht, sind Rawls’ Überlegungen zur globalen Dimension der heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Denn überraschender Weise will er selbst nicht den Universalisierungsimpetus der Theorie der Gerechtigkeit oder die Figur des Urzustandes auf die Weltgesellschaft ausdehnen wie viele von ihm erwartet hatten, oder auch wie Interpret*innen von ihm seither getan haben. Er ist und bleibt seiner Version des Liberalismus treu: wir sollten, so sein Argument, eben gerade auch auf globaler Ebene Liberale bleiben und die Autonomie (hier: der Staaten) – zumindest bis zu einem gewissen Maße – respektieren.

1  Rawls – ein aktueller Klassiker

Genau diese Treue zum Liberalismus ist jedoch eine, die ihm heute viel Skepsis eingebracht hat. Ist das Modell des westfälischen Friedens, das seinem Ansatz innezuwohnen scheint, heute für die philosophische Reflexion, geschweige denn zur politischen Bearbeitung globaler Krisen noch angemessen? Ist die globalisierte Welt nicht mehr und mehr eine transnationale und transkulturelle geworden, die auf gemeinsame politische Antworten (und auch Institutionen) angewiesen ist? Gerade auch in Zeiten wiedererstarkender Nationalismen. Habermas war hier offener als Rawls, weshalb seine Überlegungen zur postnationalen Konstellation auch deutlich mehr Gehör fanden als die von Rawls. Und postkoloniale Theorien zeigen heute mehr als deutlich, dass ein methodischer Nationalismus zu kurz greift, um globale Ungerechtigkeit zu thematisieren. Ausblick Politische Philosophie übernimmt, gewollt oder ungewollt, eine Doppelrolle: Sie ist einerseits eine akademische Disziplin unter anderen, die sich um die Erforschung allgemeiner normativer Fragen im Zusammenhang mit der autoritativen Verteilung von materiellen und immateriellen Gütern bemüht, andererseits forscht sie oft zu konkreten gesellschaftlich relevanten Problemstellungen – deswegen werden ihre Ergebnisse auch von einer interessierten Öffentlichkeit abgenommen. Rawls hat nicht nur als theoretischer Philosoph wichtige Einsichten formuliert, sondern ist stets auch ein politischer Intellektueller geblieben, dessen Argumente wichtige Impulse für öffentliche Debatten geben (können). Dies soll abschließend als Ausblick formuliert werden. So ist zum Beispiel in Zeiten, in denen ein neoliberales Freiheits- und Staatsverständnis bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein Zustimmung findet – mehr noch als es wohl zu Rawls’ Lebzeiten der Fall gewesen ist –, an seine Erkenntnis zu erinnern, dass sich gerechte Freiheit immer auch mit Blick auf die sozialen und ökonomischen Grundlagen und den berechtigten Ansprüchen aller begründen können lassen muss. Wem es um Freiheit in einem

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normativ vorzugswürdigen Sinn geht, der kann nicht sozialstaatliche Fürsorge und das Primat demokratischer Politik aus den Augen verlieren – und schon gar nicht der Verteilung von Lebenschancen und Grundgütern durch den Markt vertrauen. Wo dies doch getan wird oder auf andere Art und Weise die Lebenschancen bestimmter Gruppen ungerechtfertigterweise eingeschränkt werden, zum Beispiel durch in Strukturen implizierten Rassismus, gilt es, öffentlichen Einspruch zu erheben. Da es Rawls zufolge gerechtfertigt sein kann, zivilen Ungehorsam zu üben, um auf eine Veränderung der Lage hinzuwirken und Ungerechtigkeit zu überwinden. Der demokratische Rechtsstaat ist auf wachsame und engagierte citoyens angewiesen. Damit ist Rawls neben solchen intellektuellen Größen wie Henry David Thoreau oder Hannah Arendt ein bis heute zentraler Denker, der die Diskussion über das Recht zum Widerstand oder die Pflichten demokratischer Bürgerschaft besonders berücksichtigt. Es sind Fragen dieser Art, wie auch konkret im Fall von sozialen Bewegungen wie Black Lives Matter oder Fridays for Future in unseren alltagspolitischen Diskursen gestellt werden (vgl. Scheuermann 2021). Die Anschlussfähigkeit von Rawls’ Theorie an aktuelle Diskussionen ist kein Nebeneffekt. Rawls verstand sich als ein Philosoph, der, auch wenn er das Bild einer idealen gerechten Gesellschaft entwerfen wollte, um die Formulierung von realistischen Utopien bemüht war. Es ist vor allem der Politische Liberalismus, der sich durch seine realitätsnahe Fragestellung kennzeichnet, wie eine dauerhaft stabile demokratische Ordnung trotz der Tatsache eines religiös-weltanschaulichen Pluralismus zu begründen sei. Doch wie kann ein solcher für die Stabilität demokratischer Ordnungen notwendiger Konsens entstehen angesichts des tiefgreifenden weltanschaulichen Pluralismus? Rawls gibt zu bedenken, dass wir angesichts des in unseren Gesellschaften vorhandenen Pluralismus davon ausgehen müssen, dass viele religiöse Überzeugungen oder andere Weltanschauungen für sich genommen gut begründet und intern vernünftig sind. Die Tatsache, dass Andere die

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Welt anders sehen als ich, sollte mich nicht dazu verleiten, ihm oder ihr eine kognitive Fehlleistung zu unterstellen. Aus dem Bewusstsein für das Faktum des vernünftigen Pluralismus folgt die Ablehnung monopolistischer Wahrheitsansprüche, seien sie nun religiös-fundamentalistischer säkularistischer, fortschrittsoptimistischer oder wissenschaftsgläubiger Art. Angesichts der Bürden des Urteilens erscheinen solche Haltungen weder intellektuell redlich noch demokratisch legitim. Ist aber die freie Zustimmung zu den Prinzipien eines vernünftigen Pluralismus, zu den Werten des demokratischen Rechtsstaats nur ein historisch glücklicher Zufall, den Rawls im Nachhinein normativ rekonstruierte, ohne dass seine Arbeiten heute noch konstruktiv gelesen werden können (vgl. Honneth 2011)? Solche Anfragen zeigen, dass Rawls nicht nur als ein zeitgenössischer Klassiker der Philosophie verstanden werden kann, sondern dass er vielfache Impulse für die öffentliche Auseinandersetzung um das Selbstverständnis liberaler und demokratischer Gesellschaften gibt. Deshalb ist Rawls als Philosoph und Intellektueller, theoretisch wie praktisch, zu einem Klassiker geworden.

Literatur Frühbauer, Johannes J.: John Rawls’ ‚Theorie der Gerechtigkeit‘. Darmstadt 2007.

J. J. Frühbauer et al. Habermas, Jürgen: Öffentlicher Raum und politische Öffentlichkeit. Lebensgeschichtliche Wurzeln von zwei Gedankenmotiven. In: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 2005, 15–26. Höffe, Otfried: Einführung in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. In: Ders. (Hg.): John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Berlin 1998, 3–26. Höffe, Otfried: Geschichte des politischen Denkens. Zwölf Porträts und acht Miniaturen. München 2016. Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin 2011. Maus, Ingeborg: Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie. Berlin 2011. Nida-Rümelin, Julian: Politische Ethik I: Ethik der politischen Institutionen und der Bürgerschaft. In: Julian Nida-Rümelin (Hg.): Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch. Stuttgart 1996, 139–153. Rawls, John: Das Recht der Völker. Enthält: Nochmals: die Idee der öffentlichen Vernunft. Berlin/New York 2002 (engl. 1999). Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 71993 (engl. 1971). Rawls, John: Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Sandel, Michael: Liberalism and the limits of justice. Cambridge, Mass. 1985. Scheuermann, William E.: The revival of Thoreuvian resistance. In: American Political Thought 10/1 (2021), 1–24. Taylor, Charles: Der Irrtum negativer Freiheit. In: Ders.: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Frankfurt a. M. 1988 (engl. 1979), 118–144. Thomas Pogge, Realizing Rawls (Ithaca: Cornell University Press 1989). Werner, Micha H.: Einführung in die Ethik. Berlin 2021.

Teil II

Werk: Schriften

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Intellektuelle Biografie Johannes J. Frühbauer

Ein Blick auf die erste Lebenshälfte John Rawls’ lässt noch nicht erahnen, welche Bedeutung ihm durch sein philosophisches Werk noch zu Lebzeiten, aber auch nach seinem Tod zukommt. So war der als bescheiden und hochdiszipliniert geltende Amerikaner aus den Südstaaten zunächst einer von vielen Akademiker*innen bzw. genauer gesagt Philosoph*innen. Dennoch gelang es ihm im Laufe der Zeit mit seinem Werk aus der Masse der vielen Gelehrten herauszuragen und den Rang einer der bedeutendsten Geisteswissenschaftler*innen des 20. Jahrhunderts, und folgt man Otfried Höffe (2021, 13), sogar den Rang des wirkungsstärksten politischen Theoretikers des 20. Jahrhunderts zu erlangen. Vorrangig galt Rawls’ Interesse der normativen praktischen Philosophie und im Besonderen dem Entwurf einer philosophischen Theorie der Gerechtigkeit (vgl. Gosepath 1995, 725). Während Peter Niesen Rawls’ biographischem Hintergrund keine große Relevanz bezüglich dessen Einfluss auf sein späteres theoretisches Werk zukommen lässt (vgl. Niesen 2002, 25), dürfte die Vergegenwärtigung seiner Familiengeschichte sowie dann der Stationen seines Lebensweges durchaus aufschlussreich

J. J. Frühbauer (*)  Katholische Stiftungshochschule München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

für die Deutung und Bedeutung von Rawls’ Werk sein.

Einblicke in die Familiengeschichte John (,Jack‘) Bordley Rawls wurde am 21. Februar 1921 als zweitältester von insgesamt fünf Söhnen in Baltimore (Maryland) geboren. Seinem Vater, William Lee Rawls, gelang es, sich als Autodidakt von der Stellung eines Boten in einer Anwaltskanzlei die Zulassung zum Rechtsanwalt zu erarbeiten. Schließlich hielt dieser nicht nur eine angesehene Position in einer der besten Kanzleien Baltimores inne, sondern lehrte außerdem an der Law School der Stadt und hielt für einige Jahre das Amt des ehrenamtlichen Aufsichtsratspräsidenten des öffentlichen Schulwesens von Baltimore inne. Die Kandidatur für den U.S. Senat, zu welcher ihn sein Freund Albert Ritchie, Gouverneur von Maryland, bewegen wollte, lehnte Rawls’ Vater aus gesundheitlichen Gründen ab. Seinen Söhnen war er nicht zuletzt auch durch seine öffentlichen Ämter ein Vorbild. Das politische Interesse der Familie Rawls war zudem nicht auf den Vater begrenzt, denn auch Rawls’ künstlerisch talentierte Mutter, Anna Abell Rawls (geb. Stump), die deutsche Vorfahren hatte, engagierte sich neben ihrem Wirken als Porträtmalerin für die lokale League of Women Voters, als deren Präsidentin sie zweitweise agierte. Diese Or-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_2

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ganisation lud beispielsweise US-amerikanische Präsidentschaftskandidaten zur Teilnahme an Debatten ein, die im Fernsehen ausgestrahlt wurden. Rawls’ Mutter unterstützte außerdem die Präsidentschaftswahlkampagne von Wendell Willkie (1892–1944), der letztlich gegen Franklin D. Roosevelt (1882–1945) erfolglos blieb. Das enge Verhältnis, welches John Rawls zu seiner Mutter nachgesagt wird, bleibt nicht ohne Einfluss auf diesen und dürfte sich unter anderem in dessen Befürwortung der Gleichberechtigung der Frauen widerspiegeln. Rawls’ Kindheit wurde stark geprägt durch den Verlust zwei seiner Brüder. So starb sein Bruder Bobby (Robert Lee) 1928 an Diphterie und im darauffolgenden Jahr sein Bruder Tommy (Thomas Hamilton) an einer Lungenentzündung. Beide Brüder hatten sich mit diesen Erkrankungen bei ihm, John, angesteckt. Diese Erlebnisse blieben für den jungen John Rawls nicht ohne Folge. So wird angenommen, dass Rawls’ Stottern, welches ihn sein Leben lang begleiten sollte, insbesondere durch den Tod seines Bruders Robert verursacht wurde. Neben Dick (Richard), einem deutlichen jüngeren Bruder, hatte Rawls außerdem noch einen fast sechs Jahre älteren Bruder Bill (William Stowe), welcher ihm in seiner Jugendzeit immer wieder auf seinem Weg voranging. Dies gilt nicht nur hinsichtlich des Bildungswegs der beiden Brüder, sondern auch im Hinblick auf deren sportliche Interessen. Bill, der deutlich athletischer als sein Bruder John war, praktizierte erfolgreich Football, Ringkampf und Tennis. Johns sportliche Laufbahn hingegen mündete nach einigen Erfahrungen beim Football und Ringen schließlich im Baseball. Beide Brüder besuchten zunächst die private Calvert School, wo John durch seinen Klassenlehrer John Webster aufgrund seiner auffallend guten Leistungen gefördert wurde und schließlich sogar zum Abschiedssprecher der Abschlussfeier auserkoren wurde. Auf dieser Grundschule verbrachte Rawls sechs Jahre, bevor er für zwei weitere Jahre die öffentliche Roland Park Junior High School in Baltimore besuchte. Die letzten vier Jahre seiner HighSchool-Zeit absolvierte Rawls im Westen von

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Connecticut an einem pädagogisch wie religiös strengen privaten Internat, welches durch einen protestantischen Ordensmann aus der Episkopaltradition geleitet wurde – der Kent School. Da diese Zeit dort vor allem durch praktische Hausarbeiten und tägliche Gottesdienste geprägt war, kamen Rawls’ Bedürfnisse intellektueller Art zu kurz. Die Sommerferien verbrachte die Familie Rawls in ihrem Sommerhaus in Maine, einem der Neuenglandstaaten, wo Rawls mit Einheimischen in Kontakt kam. Diese, so Rawls’ Erkenntnis, konnten bei weitem nicht die gleichen Lebens- und Bildungschancen genießen wie er selbst. Höffe hält diese Erfahrung mit Chancenungleichheit möglicherweise mit ausschlaggebend für Rawls’ Kritik an der Meritokratie, welche „den akademisch ausgebildeten Eliten von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik erlaubt zu glauben, ihr finanzieller Verdienst sei auch moralisch verdient“ (Höffe 2021, 14). Diese kritische Haltung Rawls’ finde Höffe zufolge später auch in seinem Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit ihren Niederschlag (vgl. ebd.). Nach der Zeit an der Kent-Schule, an welche Rawls eher keine glücklichen Erinnerungen hatte, konnte er seine intellektuellen Bedürfnisse dann schließlich in der darauffolgenden Zeit am College sowie an der Universität umso mehr stillen. In dieser Episode seines Lebens lernte Rawls gegen Ende seines Studiums außerdem seine spätere Ehefrau ›Mardy‹ (Margaret Warfield Fox, geb. 1927) kennen, die er im Sommer 1949 heiratete. Im darauffolgenden Jahrzehnt wurde das Leben der Eheleute Rawls durch die Geburt zweier Töchter sowie zweier Söhne bereichert, welche sie später außerdem zu Großeltern von vier Enkelkinder machten. Während Mardy Rawls sich ihr Studium – anders als ihre Brüder zu jener Zeit – noch selbst durch ein Stipendium sowie Nebentätigkeiten finanzieren musste, war es für sie und ihren Mann John selbstverständlich auch das Studium ihrer beiden Töchter zu finanzieren. Eine von Rawls’ Töchtern, Anne Warfield Rawls, lehrt und forscht heute Soziologie an der Universität Gießen. Auch wenn das besondere Interesse seiner Frau Mardy der Kunst sowie deren Geschichte

2  Intellektuelle Biografie

zukam, unterstützte diese ihn in der Erarbeitung seines wissenschaftlichen Werkes, welches seinen Anfang in Rawls’ akademischer Ausbildung nahm.

Rawls’ akademischer Aufstieg Rawls akademische Laufbahn begann an der Princeton University, einer der angesehensten Hochschulen der USA, an welcher er mit über sechshundert anderen jungen Männern der ›Klasse von 1943‹ im Jahr 1939 sein erstes Semester begann. Dort besuchte er, da er sein Hauptfach erst zum Ende des zweiten Studienjahrs bestimmen musste, zunächst Lehrveranstaltungen verschiedener Disziplinen, wie der Mathematik, Chemie und Kunstgeschichte, bevor er schließlich sein großes Interesse an der Philosophie entdeckte. Während seiner Zeit am College, in der er Mitglied des The Ivy Club sowie der American Whig-Catholic Society wurde, übte unter den Philosophielehrenden vor allem sein Lehrer Norman Malcolm (1911–1990), ein Schüler Ludwig Wittgensteins (1889–1951), einen großen Einfluss auf ihn aus. Eine Lehrveranstaltung, die thematisch eher untypisch war, weckte in Rawls ein ausgeprägtes Interesse an der Frage nach dem Bösen im Menschen. Diese Thematik wurde für ihn ein zentrales Objekt seines Studiums und floss später sowohl in seine Abschlussarbeit am College als auch in seine spätere Dissertationsschrift, die sich mit der Problematik der Charakterbewertung befasst, mit ein. Aufgrund eines Zusatzsemesters im Sommer 1942 schloss Rawls zu Beginn des Jahres 1943 seine Zeit am College ein Semester früher als vorgesehen mit dem Bachelor of Arts und der Auszeichnung ‚summa cum laude‘ ab. Rawls’ weiteres Studium verzögerte sich durch seine Zeit bei der Armee, welche im Anschluss an eine Grundausbildung und einen Kurs in Nachrichtenübermittlung Aufenthalte in Neu Guinea, auf den Philippinen sowie in Japan umfasste. Diese Zeit prägte den jungen Rawls im Hinblick auf seine Haltung zur Religion: Die Kriegserfahrungen zum einen, der Holocaust zum anderen führten

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dazu, dass Rawls sein gläubiges Christsein aufgab (vgl. Höffe 2021, 22 f.). 1946 führte ihn der Beginn seines Graduate-Studiums schließlich erneut an die Princeton University, wo er dann bis zum Beginn der 1950er Jahre mit kurzer Unterbrechung studierte. Während dieser Unterbrechung besuchte Rawls als Stipendiat die Cornell University im Staat New York (1947/48), welche ebenfalls ein hohes Ansehen genoss. Rawls’ Dissertation (1948/49) über das Wesen von Charakterbeurteilungen wurde von dem Briten Walter Terence Stace (1886–1967) betreut, der Rawls bereits durch seine Zeit als Undergraduate bekannt war. Wie in den USA üblich, blieb die Dissertation unveröffentlicht. Jedoch fasste Rawls die Inhalte seiner Dissertationsschrift in Teilen in seiner 1951 erschienenen ersten Veröffentlichung mit dem Titel „Outline of a Decision Procedure for Ethics“ zusammen (Rawls 1999, 1–19). Die Inhalte dieser Schrift stellen Vorüberlegungen zu seiner späteren Idee des Überlegungsgleichgewichts dar (vgl. Gosepath 1995, 726). Nachdem Rawls seine Dissertation fertiggestellt hatte, entschloss er sich, diese nicht sofort einzureichen und widmete stattdessen, ermöglicht durch ein Stipendium, ein weiteres Jahr dem Studium in Princeton. In dieser Zeit erweiterte Rawls seinen Blickwinkel und besuchte Veranstaltungen außerhalb der Philosophie, die thematisch der Ökonomie, der Geschichte des politischen Denkens sowie des Verfassungsrechts zuzuordnen sind. Der Einfluss dieser Zeit wird sowohl in der Substanz als auch in der Methodik der Theorie der Gerechtigkeit deutlich. Rawls’ Zeit als Lehrender begann 1950 mit zunächst zwei Jahren als Instructor am Philosophischen Seminar der Universität von Princeton. Auch während dieser Zeit verlor er seine wissenschaftlichen Studien nicht aus den Augen und setzte diese parallel zu seinen Verpflichtungen als Lehrender fort. Besonders bedeutsam für Rawls war das Studienjahr 1952/53, welches er als Fulbright-Stipendiat am Christchurch College der Universität Oxford verbrachte. Geprägt wurde diese Zeit durch für ihn wertvolle Begegnungen mit den wichtigsten Philosophen und anderen Gelehrten

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Oxfords, darunter nicht zuletzt mit dem Politikwissenschafter und Ideenhistoriker Isaiah Berlin (1909–1997), dem Philosophen Stuart Hampshire (1914–2004), dem Philosophen John Langshaw Austin (1911–1960), dem Moralphilosophen Richard Mervyn Hare (1919–2002) und dem Rechtsphilosophen Herbert Lionel Adolphus Hart (1907–1992) – allesamt große Namen der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Während dieser Zeit befasste Rawls sich vor allem mit den Theorien von Kant, Mill, Condorcet und Rousseau und entwickelte bereits den Gedanken des Urzustands – einer zentralen Grundidee seines Werks Eine Theorie der Gerechtigkeit. Im Anschluss an seinen Aufenthalt in Oxford trat Rawls 1953 eine Assistenzprofessur am Philosophischen Seminar der Cornell University an, wo er 1956 zum Associate Professor mit Tenure befördert wurde, wodurch er die begehrte Garantie einer Professorenstelle auf Lebenszeit erhielt. Die Cornell University zeichnete sich nicht nur durch ein attraktives Philosophisches Seminar aus, sondern ist auch bis heute mit der Philosophical Review Herausgeberin einer Zeitschrift mit hohem internationalem Ansehen. Zwei seiner wichtigen frühen Aufsätze – „Two Concepts of Rules“ (1955) sowie „Justice as Fairness“ (1957) –, welche systematische Vorüberlegungen für sein späteres Hauptwerk darstellen, stammen aus seiner Zeit an der Cornell University und verhalfen Rawls zu einer ersten Bekanntheit. Da der Hauptcampus der Universität in Ithaca liegt, war deren räumliche Entfernung zu den damaligen intellektuellen Zentren wie Princeton, Boston und New York jedoch groß. Rawls empfand eine gewisse Isolation – ein Empfinden, das auch durch die herrliche Landschaft der Region nicht kompensiert werden konnte. Aus diesem Grund stellte die Möglichkeit, 1959 eine einjährige Lehrstuhlvertretung an der Harvard University übernehmen zu können, einen Hoffnungsschimmer für den jungen Wissenschaftler dar. Schließlich wurde Rawls kurz darauf eine Professur am nahegelegenen und international renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) angeboten, die er schließlich auch annahm. Da an

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diesem bisher vorrangig die Natur- und Wirtschaftswissenschaften etabliert waren, war Rawls dort – zusammen mit anderen Gelehrten wie Noam Chomsky (*1928) und Hilary Putnam (1926–2016) – für den Aufbau der Geschichte und Philosophie der Naturwissenschaften als Teilbereich der Humanities zuständig. Seine Arbeit am Institut war aus diesem Grund nicht zuletzt durch Verwaltungsaufgaben geprägt, die ihm viel Zeit raubten, weshalb die Berufung zum Professor an der Harvard University, die er 1962 antrat, Rawls mehr als willkommen war, zumal ihn das ihm am MIT anvertraute Themenfeld wenig interessierte. Er lehrte dann bis 1991 und somit bis zum Alter von 71 Jahren am Philosophischen Seminar der Harvard University. Dreimal unterbrach er allerdings seine dortige Lehrtätigkeit für einen Aufenthalt am Center for Advanced Studies der Stanford University (1969/70), einem Sabbatjahr an der University of Michigan (1974/75) sowie einem Sabbatsemester in Oxford (1986). Mit seinen Vorlesungen und Diskussionsrunden zur Moralphilosophie, welche er den Theorien von John Butler, Hume, Kant, Leibniz und Sidgwick widmete, sowie zur politischen Philosophie, in welchen er die theoretischen Konzepte von Hobbes, Locke, Butler, Hume, Rousseau, Mill und Marx thematisierte, nahm er dabei zunächst ab 1974 als John Cowles Professor – als Nachfolger des Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaften Kenneth Joseph Arrow (1921–2017) – und später ab 1979 als James Bryant Conant University Professor bedeutenden philosophischen Einfluss auf Generationen von Studierenden sowie künftige namhafte amerikanische wie europäische Philosoph*innen, welcher nicht überschätzt werden kann. Dieser Einfluss wird ihm etwa durch seine besondere Herangehensweise an die philosophische Ethik, aber auch im Hinblick auf das heutige Verständnis des Fachs zugeschrieben (vgl. Herman 2002, 11). Thomas W. Pogge (*1953), welcher selbst Schüler von Rawls war, hat hierzu eine beeindruckende Zusammenstellung der Rawls-Schüler*innen verfasst (vgl. Pogge 1994, 33). Neben Pogge betont auch Höffe (vgl. Höffe 2021, 18) explizit die hohe Anzahl von Frauen, wie Onora O’Neill,

2  Intellektuelle Biografie

Christine Korsgaard, Hilare Bok, Hannah Ginsborg und Susan Neiman, deren Karriere als Schülerinnen Rawls’ ihren Anfang nahm. Es ist anzunehmen, dass Rawls in deren gezielter Förderung sein Ziel der Gleichberechtigung von Mann und Frau konkret umsetzte. Pogge hatte nach eigenen Angaben zu Beginn der 1990er Jahre die inzwischen unwiederbringliche Gelegenheit, durch persönliche Gespräche mit John Rawls sowie durch den Zugang zu dessen persönlichen Dokumenten ein dichteres Bild zu seinem Leben zu erlangen (vgl. Pogge 1994, 9). John Rawls blieb seiner Berufung auch nach seinem formalen Rückzug aus seiner akademischen Lehrtätigkeit treu und arbeitete schließlich bis zu seinem Tod am 24. November 2002 mit der Unterstützung verschiedener Kolleg*innen an der Fortsetzung und Weiterentwicklung seines Werkes.

Einschätzungen zu Rawls’ Werk Sein Hauptwerk A Theory of Justice erscheint 1971 in der Harvard University Press und verhilft ihm schon bald zu weltweiter Berühmtheit. Zu einer Reihe an Vorarbeiten zu diesem Werk zählt neben den zuvor bereits genannten Aufsätzen „Two Concepts of Rules“ (1955) und „Justice as Fairness“ (1957) vor allem auch „Distributive Justice“ (1967; vgl. Gosepath 1995, 726). Gosepath sieht die enorme Wirkung von Rawls’ Hauptwerk mindestens in folgenden drei Faktoren begründet (vgl. Gosepath 1995, 726): So führe das Werk erstens zu einer Rehabilitierung der normativen politischen Moralphilosophie; zweitens gelinge es Rawls mit seiner Theorie den bis dahin im angelsächsischen Bereich vorherrschenden Utilitarismus als Moralphilosophie abzulösen – dieser verletze Rawls’ Ansicht nach das Gerechtigkeitsempfinden des Menschen dadurch, dass er nur die Maximierung der Glückssumme, nicht jedoch die Verteilung des Glücks berücksichtige; drittens sehe Rawls anders als viele klassische Theorien nicht bloß die Koexistenzsicherung und die Regelung der Freiheit als zentrale Aufgabe seiner Theorie an, sondern außerdem die

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Verteilung ökonomischer Güter und sozialer Chancen. Eine Theorie der Gerechtigkeit ist von ihrer Veröffentlichung an sowohl Zustimmung als auch kritischen Einwänden von verschiedenen politischen wie philosophischen Seiten ausgesetzt gewesen (vgl. Gosepath 1995, 728). Gosepath (ebd.) systematisiert die hervorgebrachten Einwände und hält drei Gruppen dieser für nennenswert: Eine erste Gruppe sei politisch motiviert und richte sich gegen Rawls’ Rechtfertigung des Sozialstaates; eine weitere Gruppe nimmt Bezug auf die Begründungsstruktur der Theorie – sie kritisiert die Methode des Überlegungsgleichgewichts und führt an, dass das Maximin-Prinzip nicht das einzig vorhandene rationale Entscheidungsprinzip darstelle; eine dritte Gruppe, werde von den sogenannten Kommunitaristen angeführt – diese kritisieren den „vermeintlich unsozialen Individualismus einer liberalen Theorie, wie sie R[awls] paradigmatisch vertrete, und halten statt dessen eine inhaltsreichere gemeinsame Vorstellung des Gemeinwohls als Grundlage des Zusammenlebens für erforderlich“ (Gosepath 1995, 728). Rawls habe auf diese und andere Kritik mit zahlreichen Aufsätzen reagiert und einige dieser in seiner Aufsatzsammlung Die Idee des politischen Liberalismus (1992) veröffentlicht (vgl. Gosepath 1995, 728 f.). Diese und andere Aufsätze hat Rawls umgearbeitet, sodass – zwei Jahrzehnte nach Veröffentlichung seines Hauptwerks – Rawls’ eigener Ansicht nach mit Political Liberalism (1993) nun eine deutlich realitätsnähere Theorie erscheint, welche anders als sein Hauptwerk nicht länger von einer einzigen Gerechtigkeitsvorstellung ausgeht, die allen Menschen gemein ist, sondern den Pluralismus verschiedener Lehren berücksichtigt und nach einem übergreifenden Konsens sucht. Ebenfalls von besonderer Relevanz sind nach Höffe (2021, 19) Rawls’ John Dewey Lectures „Kantian Constructivism in Moral Theory“ (1980), in welchen er seine von Kant inspirierte Methode einer Moralphilosophie erläutert, sodann die Völkerrechtsstudie The Law of Peoples (1999), in welcher er seine Theorie auf das Problem der internationalen Gerechtigkeit ausweitet, sowie

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sein Werk Justice as Fairness. A Restatement (2001). Die beiden letzten Werke stellte Rawls fertig, obwohl er in seiner Arbeitsfähigkeit durch mehrere Schlaganfälle – den ersten erlitt er bereits 1995 – stark eingeschränkt war. Rawls selbst habe sich sein Leben lang als Philosoph verstanden und sei, anders als etwa Habermas, niemals bestrebt gewesen, als politischer Intellektueller betrachtet zu werden (vgl. Höffe 2021, 19). Von dieser streng akademischen Lebensweise sei er nur zweimal abgewichen (vgl. Höffe 2021, 19 f.): So hat er sich erstens in den 1960er Jahren zu Zeiten des Aufblühens einer wegen des Vietnamkriegs entstehenden Bürgerrechtsbewegung zum zivilen Ungehorsam geäußert (Rawls 1999, 176–189); und zweitens hat Rawls 1995 – 50 Jahre nach dem Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki – in der Zeitschrift Dissent einen Essay mit dem Titel „Fifty Years after Hiroshima“ (Raws 1999, 565– 572) veröffentlicht, der bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt worden ist. Auch wenn diese beiden Veröffentlichungen sich vor allem in ihrer Thematik und Aussageintention von Rawls’ anderen Schriften unterscheiden, so ist er auch bei diesen nicht von seinen philosophischen Kriterien abgewichen, sodass sie sich trotz ihrer thematischen Eigenart in seine Werke eingliedern lassen – die zuerst genannte Abhandlung in die Theorie der Gerechtigkeit, der Essay in seine Schrift Das Recht der Völker (vgl. Höffe 2021, 20). 1999 erhält Rawls die National Humanities Medal. Diese vom Graphiker David Macaulay (*1946) gestaltete Bronzemedaille gehört zu den höchsten nichtmilitärischen Auszeichnungen der USA und ehrt Personen und Organisationen, deren herausragende Arbeit das Verständnis der Geisteswissenschaften vertieft oder das bürgerliche Engagement für diese erweitert.

Rawls und Religion Höffe widmet in seinem biographischen Portrait über Rawls dem Thema „Rawls und Religion“ einen eigenen Abschnitt, um John Rawls’ Einstellung und Verhältnis zur Religion sowie den Einfluss der Religion auf Rawls’ Werk zu

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analysieren (vgl. Höffe 2021, 20–24). Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit werde als säkuläre Theorie rezipiert, insofern sie nur in sehr geringem Maße auf das christliche Denken zurückgreife (vgl. Höffe 2021, 21). In seinen unter dem Titel Political Liberalism veröffentlichten Vorlesungen hingegen werde Rawls deutlicher, indem er im siebten Kapitel anerkenne, dass es vernünftige religiöse Lehren gebe, auch wenn er diese im Plural nenne und sie relativiere, indem er sie neben philosophische und moralische Lehren stelle (vgl. Höffe 2021, 21). Überraschend sei aus diesem Grund, wie bekenntnishaft Rawls sich in Brief Inquiry (1942; Rawls 2010a, 129–300), der Abschlussarbeit seines Bachelorstudiums, die erst nach Rawls’ Ableben von Eric Gregory, einem Theologen und Ethiker an der Princeton University gefunden wurde, äußert (vgl. Höffe 2021, 21). In dieser zähle er die Existenz eines Gottes zu den Grundvoraussetzungen seiner Schrift und verleihe der christlichen Religion in seiner Arbeit damit für ein für einen Philosophie-Studenten erstaunliches Gewicht (vgl. Höffe 2021, 21). Höffe bezeichnet ‚Glaube‘, ‚Sünde und Böses‘ sowie ‚Gemeinschaft‘ als wichtigste Begriffe dieser theologisch geprägten Ausarbeitung Rawls’ und erkennt in dieser einen Bruch in der Kontinuität des Rawls, den man von seinen Veröffentlichungen her kenne (vgl. Höffe 2021, 22). Auch in einem späteren, ausgesprochen kurzen Text „On my Religion“ (1977; Rawls 2010b, 301–312), der ebenfalls erst nach seinem Tod auf seiner Festplatte gefunden worden sei, greife Rawls die Thematik auf und verdeutliche sein Interesse an der Religion (vgl. Höffe 2021, 22). Betrachtet man diese beiden Schriften Rawls’, so könne man Höffe zufolge zu dem Schluss kommen, dass die Religion ein Motiv von Rawls’ Werk darstelle, insofern die Methode des Schleiers des Nichtwissens zeitlos sei und seine Theorie, wie für Religionen typisch, aus dem ‚Blickwinkel der Ewigkeit‘ heraus betrachtet werden könne (vgl. Höffe 2021, 24). Dies ist jedoch nicht nur für seine Theorie der Gerechtigkeit kennzeichnend, sondern Kern jeder Moral-, Rechts- oder Staatsphilosophie, welche für sich selbst universalistische Gültigkeit beanspruche (vgl. Höffe 2021, 24). Von

2  Intellektuelle Biografie

daher sei es nicht erstaunlich, dass die Religion in der Theorie der Gerechtigkeit kein hervorzuhebendes Thema darstelle (vgl. Höffe 2021, 24). Hieraus schließt Höffe schließlich, dass die Bedeutung, die Religion für Rawls gehabt habe, nicht über seinen persönlichen Lebensraum hinausgegangen sei und sie damit keinen wesentlichen Einfluss auf seine philosophischen Ansichten genommen habe (vgl. Höffe 2021, 24). Leif Wenar hingegen führt in seiner Biographie zu Rawls an, dass dieser seinen christlichen Glauben während seines Militärdiensts, der ihn mit der Willkür des Todes sowie dem Schrecken des Holocausts konfrontierte, verloren habe (Wenar 2017). Dies würde erklären, wieso Rawls in jungen Jahren – vor dem Antreten seines Militärdienstes – einen stark theologisch geprägten Aufsatz schreibt, später jedoch nicht darüber hinausgeht, sein allgemeines Interesse an der Religion zu bekunden und Religionen als vernünftige Lehren anzuerkennen.

Literatur Freeman, Samuel: Rawls. Abingdon 2007. Gosepath, Stefan: Rawls, John. In: Metzler Philosophen Lexikon. Stuttgart 1995, 725–730.

19 Haase, Kerstin: Rawls, John (1921–2002). In: Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Hg. Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/Beate Rössler. Berlin 2008, 1055–1060. Höffe, Otfried: Gerechtigkeit denken. John Rawls’ epochales Werk der politischen Philosophie. Freiburg/ München 2021. Kersting, Wolfang: John Rawls zur Einführung. Hamburg 2001. Pogge, Thomas W.: John Rawls. München 1994. Rawls, John: Collected papers. Hg. Samuel Freeman. Cambridge, Mass./London 1999. Rawls, John: Eine kurze Untersuchung über die Bedeutung von Sünde und Glaube. In: Ders.: Über Sünde, Glaube und Religion. Hg. Thomas Nagel. Berlin 2010a, 123–300. (engl. 1942). Rawls, John: Über meine Religion. In: Ders.: Über Sünde, Glaube und Religion. Hg. Thomas Nagel. Berlin 2010b, 301–312 (engl. 1977). Wenar, Leif: John Rawls. In: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford encyclopedia of philosophy. Spring 2017 Edition. https://plato.stanford.edu/entries/rawls/.

Dr. Johannes J. Frühbauer Professor für Theologie in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München (1 Rawls – ein aktueller Klassiker, zus. mit M. Reder, M. Roseneck, T. M. Schmidt; 2 Intellektuelle Biographie; 9 Geschichte der politischen Philosophie (2007/2008); 29 Frieden, Demokratischer; 33 Gewissensfreiheit; 41 Liberalismus, politischer; 53 Übergreifender Konsens; 67 Martha Nussbaum; 70 Gerechtigkeit; 73 Liberalismus: Spielarten und Herausforderungen, zus. mit M. Roseneck, T. M. Schmidt).

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Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971/1975) Otfried Höffe

Die Gerechtigkeit ist zweifellos der höchste normative Anspruch, den wir an ein politisches Gemeinwesen erheben. Allenfalls könnte das Prinzip der Moderne, die Freiheit, ihr diesen Rang streitig machen. Im einschlägigen politischen Liberalismus steht aber auch die Verteilung der Freiheit auf die Bürgerinnen und auf ihre Organisationen unter dem Anspruch der Gerechtigkeit, so dass Gerechtigkeit und Freiheit sich wechselseitig bestimmen, insofern gleichrangig sind. Wegen des überragenden Werts der Gerechtigkeit, auch weil John Rawls sie in seine, Hauptwerk mit dem Prinzip der Freiheit unmittelbar verknüpft, ist es nicht erstaunlich, dass dieses Werk, A Theory of Justice, auf Deutsch Eine Theorie der Gerechtigkeit, weltweit eine außergewöhnliche Reputation gefunden hat. Eine Theorie der Gerechtigkeit erweist sich als der wichtigste Beitrag des englischen Sprachraums, vermutlich sogar als der überhaupt wichtigste Text zur Politischen Ethik und Politischen Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Paradigmenwechsel in fünf Dimensionen Ein Thema allein schafft freilich nicht die Aufmerksamkeit, die Rawls zuteilwurde. Der weit

O. Höffe (*)  Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected]

wichtigere Grund liegt im Rang des Werkes selbst, dem nach Originalität und Monumentalität wohl einzigen Hauptwerk dieses Philosophen. Er erlaubt, was in den Wissenschaften in der Regel unstatthaft ist: Man darf mit ein wenig Pathos beginnen. An bedeutenden philosophischen Schriften ist das 20. Jahrhundert nicht arm, gewiss. Trotzdem trifft vermutlich auf kaum eine andere Schrift zu, was hier der Fall ist: John Rawls’ Theorie ist seit Erscheinen eine Sensation in vier Hinsichten: nicht bloß philosophisch, sondern auch akademisch, überdies (welt-)politisch, nicht zuletzt in Bezug auf die Wirkungsmacht. In philosophischer Hinsicht gelingt Rawls, was man heutzutage kaum noch von einem einzigen Autor mit einem einzigen Text sagen kann. Ihm gelingt, die philosophische Debatte so grundlegend zu verändern, sodass man hinsichtlich der Geschichte des politischen Denkens von einem Paradigmenwechsel, sogar einem mehrfachen, insgesamt fünffachen Paradigmenwechsel sprechen darf: (1) Die im englischen Sprachraum zuvor dominierende Metaethik tritt, zugunsten der bislang mit Skepsis betrachteten, normativen Ethik, ins zweite Glied. Sie spielt, so Rawls (1977, 15), in seinem Vorwort zu einer einschlägigen Aufsatzsammlung (s.  u. Abschn. II.), „nur eine untergeordnete Rolle“. Diese Rollenverschiebung kommt fraglos der Philosophie substantieller Themen zugute. Sie erlaubt allerdings auch eine Rückfrage: Muss man die normative

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_3

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Ethik als Alternative zur (sprach-)analytischen Metaethik ansehen, oder kann sie nicht ebenso als deren sinnvolle Ergänzung verstanden werden? Durch die hier einschlägige Bedeutungsanalyse des Grundbegriffs „gerecht“ gewinnt man nämlich ein erstes Kriterium für Rawls’ Standpunkt der Gerechtigkeit, zugleich einen Einblick in jenen Vorrang vor anderen Standpunkten, den Rawls (1975, 19 f.) zwar behauptet, aber nicht hinreichend ausweist: Die Semantik würde die Gerechtigkeit als eine moralische Verbindlichkeit bestimmen, deren Anerkennung die Menschen einander schulden, während eventuell weitergehende Forderungen der Moral dem verdienstlichen Mehr, in der Sprache der Tradition: einer Tugendmoral, zuzuordnen sind. (2) Soweit im englischen Sprachraum doch normative Fragen erörtert wurden, stand jene Moraltheorie im Vordergrund, die schon von Hutcheson, Hume und Helvétius, auch von Adam Smith vertreten, aber erst von Bentham, Mill und Sidgwick so nachdrücklich entwickelt wird, dass sie zu der im englischen Sprachraum dominanten philosophischen Ethik aufsteigt (vgl. Höffe 2013, 4 f.). Danach ist jenes Tun und Lassen moralisch richtig, folglich geboten, das zum ‚größten Glück der größten Zahl‘, genauer: zum maximalen Kollektivwohl der zuständigen sozialen Einheit führt. Dieser Grundgedanke herrscht im englischen Sprachraum nicht nur in der Moralphilosophie, sondern auch in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften vor. Unter den führenden deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts hat er freilich keine gute Presse. Karl Marx und Friedrich Engels werfen ihm in der Deutschen Ideologie eine „exploitation de l´homme par l´homme“ vor, eine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen (MEW III, 394). Und Nietzsche (JGB KSA 6/2, 116) zählt ihn zu den Denkweisen, „die nach Begleitzuständen und Nebensachen den Werth der Dinge messen“ und deshalb als „Vordergrunds-Denkweisen und Naivitäten“ abgestempelt werden. Einer der Sprüche und Pfeile aus der Götzen-Dämmerung dürfte sich gegen den Utilitarismus und gegen die von ihm geprägte Lebensart richten: „Der Mensch strebt

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nicht nach Glück; nur der Engländer thut das“ (Nietzsche GD KSA 6/3, 55). In der normativen Ethik muss also dank Rawls der bislang dominierende Utilitarismus einer dezidiert antiutilitaristischen Ethik weichen. An die Stelle der bislang im Vordergrund stehenden Autoren, Jeremy Bentham, noch mehr John Stuart Mill, wird jetzt Immanuel Kant zum philosophischen, vor allem moralphilosophischen Vorbild. Nach der unter anglophonen Philosophen beliebten Unterscheidung der eigenen, zudem für überlegen gehaltenen analytischen Philosophie schließt sich also Rawls, ohne die Unterscheidung zu erwähnen, dem kontinentalen Denken an. Dem Utilitarismus hält er vor allem zwei Einwände entgegen. Einerseits gehe er von der Annahme eines idealen unparteiischen Beobachters aus, was sich auf einen vollkommenen Altruismus belaufe, der den Menschen überfordere (Rawls 1975, 203 f.). Überdies sei er in sich widersprüchlich (ebd., 201–220). Denn vollkommene Altruisten blicken stets auf den anderen, der sich seinerseits nur für fremde Interessen einsetzt, womit alle Beteiligten zu interesselosen Subjekten würden. Infolgedessen könnten sie sich für nichts einsetzen, sodass ihre Kooperation in einem ewigen Leerlauf bestünde. Nach dem zweiten Vorwurf ordnet der Utilitarismus die legitime Freiheit der Individuen dem kollektiven Wohl unter. In eklatantem Widerspruch zu Rawls’ Grundgedanken, der Gerechtigkeit als Fairness wären eine Sklaven- oder eine Feudalgesellschaft, eine Ständeoder eine Kastengesellschaft, selbst ein Polizeiund Militärstaat nicht bloß moralisch erlaubt, sondern sogar moralisch geboten, vorausgesetzt, dass sie mittels einer geschickten Selbstorganisation zwar extreme Eingriffe in den persönlichen Freiheitsraum vornehmen, trotzdem einen maximalen Gesamt- oder einen maximalen Pro-Kopf-Nutzen zustande bringe. In scharfem Gegensatz dazu besitzt laut Rawls jede einzelne Person ein Eigenrecht, das selbst im Namen des Wohlergehens der ganzen Gesellschaft nicht verletzt werden darf (ebd., 19–23, 636). In kompromissloser Ablehnung jeder Art von Sklaverei, Leibeigenschaft und

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­astensystem gelten bestimmte Grund- und K Menschenrechte als schlechthin gültig. (3) Zugleich lässt Rawls einen in der Geschichte der Moralphilosophie wichtigen Gedanken, den des guten Lebens, zwar nicht verschwinden. Er tritt jedoch in den Hintergrund, was Rawls zum Vorrang des Rechten (qua Gerechten) vor dem Guten pointiert (ebd., 50, 611– 614): Die Menschen dürfen ihren jeweils eigenen Lebensplänen folgen; hier darf die Politik und die Philosophie sich nicht einmischen. Sie dürfen sich lediglich mit jenen sozialen Voraussetzungen der unterschiedlichen Vorstellungen guten Lebens befassen, die Rawls die gesellschaftlichen Grundgüter nennt (ebd., 81– 86, 111–115). Dieser Begriff bietet nun ebenso wie Rawls’ Überlegungen zur Moralpsychologie (ebd., 503–539) empirisch gehaltvollen Theorien einen guten Einstieg. (4) In methodischer Hinsicht bedient sich Rawls eines in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften beliebten, vielerorts sogar vorherrschenden Argumentationsmusters, und zwar der Entscheidungs- und Spieltheorie. Vor allem auf diese Weise gelingt es Rawls, sein Thema, die Gerechtigkeit, wissenschaftlich wieder hoffähig, sogar hochrespektabel zu machen: Die Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nehmen das zuvor verpönte Prinzip der Gerechtigkeit jetzt in ihre Überlegungen wieder auf. In universitärer, überdies wirkungsgeschichtlicher Hinsicht außergewöhnlich war und ist, dass ein wahrhaft akademisches, ‚gelehrtes‘ Werk, das seinem Umfang nach sogar ein veritabler Wälzer, zudem nicht der Text eines begnadeten Schriftstellers ist, trotzdem nicht nur über die Grenzen der Fachphilosophie, sondern weit über die akademischen Grenzen hinaus gelesen, studiert und – meist zustimmend, da und dort aber auch ablehnend – kommentiert wurde. Es versteht sich, dass dieser Text, der zunächst auch auf Deutsch erschien, später nach und nach in alle wichtigen Sprachen übersetzt wurde. Nicht mehr selbstverständlich ist die Fülle der Diskussionsbeiträge, Aufsätze, Sammelbände und Monografien, die das Werk erhält: Es provoziert eine intellektuelle Debatte von industriel-

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lem Ausmaß, gleicherweise aber nicht von industrieller Gleichförmigkeit. (5) In (welt)politischer Hinsicht schließlich wurde der damals heftige Streit zwischen liberalen und sozialistischen Standpunkte zugunsten einer mittleren Position aufgehoben. Der vor allem in den USA zuvor dominierende Liberalismus wird von John Rawls durch einen starken sozialstaatlichen Akzent – je nach Einschätzung – erweitert, verändert oder verbessert. Jedenfalls geht in den klassischen Liberalismus, in seine Verbindung von Freiheitsrechten als Abwehrrechte gegen den Staat und demokratischen Mitwirkungsrechten mit den Wohlstandserwartungen an die freie Marktwirtschaft, ein kräftiges Stück Sozialstaatlichkeit ein. Die damals wie heute vieldebattierte Frage hingegen, ob es eine kapitalistische Wirtschaftsordnung mit Privateigentum oder eine sozialistische mit Staatseigentum an den Produktionsmitteln geben sollte, hält Rawls für sekundär und für empirisch, nicht moralisch zu entscheiden (ebd., 307 f.). Ein weiterer Vorzug von Eine Theorie der Gerechtigkeit liegt in der Fülle sowohl an klassischer und zeitgenössischer Literatur, die sie verarbeitet, als auch an der dabei zutage tretenden Fähigkeit, Autoren verschiedener Epochen und Richtungen gleichermaßen positiv einzuschätzen. Während zum Beispiel heute Aristotelikerinnen und Kantianer gern als Gegner auftreten, hält Rawls sein Theoriekonzept für Kantisch (ebd., 283–290) und führt trotzdem an wichtiger Stelle einen Aristotelischen Grundsatz ein (ebd., 463–472). Methodisch einheitlich argumentiert Rawls nicht. Gelegentlich entwickelt er seine Gedanken in mehr intuitiven Skizzen. Der so wichtige Begriff der gesellschaftlichen Grundgüter beispielsweise wird nicht aus der zugrundeliegenden Aufgabe, den unverzichtbaren Vorbedingungen für jede Art von Lebensplan, entwickelt. An anderen Stellen argumentiert Rawls in epischer Breite (ebd., 223–229). An wieder anderen besticht er durch eine ebenso umfassende wie genaue, zwar knappe und doch anschauliche Untersuchung. Ein Kabinettstück bildet die Darstellung der drei Arten von Verfahrensgerechtigkeit.

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Wer nach Lektüre der ersten Paragraphen nicht ermüdet, sondern tatsächlich das ganze Werk durcharbeitet, kann die fast enzyklopädische Erörterung der einschlägigen Probleme bewundern. Selbst das in vielen Moral- und Sozialtheorien vernachlässigte Thema des Bösen kommt zur Sprache. Dieser Gedankenreichtum erschwert allerdings den raschen Zugriff. Auf einige thematische Grenzen sei pauschal vorab hingewiesen. Zwei davon wird Rawls später selber erörtern, den Tiefenpluralismus moderner Gesellschaften, den er im Politischen Liberalismus als Faktum eines vernünftigen Pluralismus einführt und Fragen einer internationalen Rechtsgemeinschaft, die er über den Paragraphen 58 von Eine Theorie der Gerechtigkeit hinaus in The Law of Peoples ausführlich behandeln wird. Das Thema einer Tierethik lässt er ausdrücklich beiseite, und die Theorie staatlichen Strafens kommt deshalb nur am Rande zur Sprache (ebd., 265–274, 349 f., 624 f.), weil sich eine gerechte Gesellschaft weniger auf Zwang (ebd., 540) als auf wechselseitigen Vorteil und gegenseitiges Vertrauen verlassen solle (ebd., 503–521, 532–547). Das Werk ist in drei etwa gleich lange Teile von je drei Kapiteln gegliedert: Teil I, der Theorie der Gerechtigkeit gewidmet, stellt die inhaltlichen und methodischen Grundgedanken vor: 1. Gerechtigkeit als Fairness; 2. Die Grundsätze der Gerechtigkeit; 3. Der Urzustand. Teil II. befasst sich mit Institutionen, allerdings mit den einschlägigen Institutionen der konstitutionellen Demokratie, dem Parlament, der Regierung und der Justiz, als mit den ihnen zugrundeliegenden Prinzipien: 4. Gleiche Freiheit für alle; 5. Die Verteilung; 6. Pflicht und Verpflichtung. Der Teil III. schließlich Ziele (Ends), handelt über die Stabilität einer gerechten Gesellschaft: 7. Das Gute als das Vernünftige (als rationality, nicht etwa als reason oder reasonableness); 8. Der Gerechtigkeitssinn; 9. Das Gut der Gerechtigkeit. Mit langem Atem Wer eine knappere, bündigere Darstellung von Rawls sucht, kann auf vier Aufsätze zurückgreifen, die nach Rawls einen Zusammen-

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hang bilden und eine ziemlich einheitliche Darstellung der gesellschaftlichen Gerechtigkeit bieten. In diesem Sinn biete Gerechtigkeit als Fairness (1958) philosophische Grundlage und Der Gerechtigkeitssinn (1963) deren Moralphilosophie. Distributive Gerechtigkeit – zusätzliche Bemerkungen (1967), erörtere einige Folgerungen, während Die Rechtfertigung bürgerlichen Gehorsams (1969) sich politischen Pflichten und Verpflichtungen widmet (Rawls 1977). Diese Aufsätze, die im Laufe von mehr als zehn Jahren erscheinen, zeigen, dass Rawls seine schließliche Monographie Eine Theorie der Gerechtigkeit, mit einem ähnlichen langen Atem verfasst hat wie Kant seine Kritik der reinen Vernunft. Zu den Unterschieden der Aufsätze zu Eine Theorie der Gerechtigkeit zählt Rawls (ebd.) das Gewicht, das er dem noch zu erläuternden Schleier des Nichtwissens zumisst, ferner dass trotz des gelegentlichen Anscheins einer individualistischen und auf Eigennutz abhebenden Theorie à la Locke oder gar Hobbes seine Auffassung der Gerechtigkeit als Fairness von Rousseau und Kant herkommt. Schließlich seien das neunte Kapitel „Das Gut der Gerechtigkeit“ neu und etwas überraschend, da er doch schon einen Aufsatz zu genau diesem Thema veröffentlicht hatte, das achte Kapitel „Der Gerechtigkeitssinn“. Gerechtigkeit als Fairness Vor Rawls war die englischsprachige Ethik gegen die Möglichkeit, moralische Normen objektiv zu begründen, skeptisch. Rawls selber springt im ersten Kapitel von Eine Theorie der Gerechtigkeit, statt sich auf eine begriffsklärende Metaethik einzulassen, in lockerer Anlegung an Kants Grundlegung unmittelbar in die Szene. Nach Kant (GMS AA IV, 393, 5–7) ist „überall nichts in der Welt […] zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“. Ähnlich beginnt Rawls (1975, 19) direkt mit seiner Grundthese: „Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen“. Kant erklärt ab dem zweiten Satz der Grundlegung, dass alle zum guten Willen denkbaren Alternativen

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a­ usscheiden. Denn, um gut sein zu können, setzen sie sie, so der der dritte Argumentationsschritt, schon den guten Willen voraus. Rawls’ gegenüber der Grundlegung stärker thetische, weniger argumentative Variante lautet: Wie man eine „noch so elegante“ Theorie fallen lassen muss, „wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende […] Gesetze und Institutionen abgeändert […] werden, wenn sie ungerecht sind“ (ebd.). Als nächster Satz folgt dann die inhaltliche, stillschweigend den Utilitarismus ablehnende Kernthese: „Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann“ (ebd.). Diese Grundintuition Rawls’ lässt an das deutsche Grundgesetz denken, das an seinen Anfang die unantastbare Menschenwürde stellt. Dieser Begriff, auch der der bloßen Würde, kommt allerdings in Eine Theorie der Gerechtigkeit nicht vor, ebenso wenig in dem folgenden Werk, dem Politischen Liberalismus. In Rawls’ (2003, 147) Neuentwurf, der Gerechtigkeit als Fairness, taucht der Begriff zwar auf, aber nur en passant und in Bezug auf Mill. Ebenso wenig prominent erscheint er in Rawls’ (2002, IV, § 2) Geschichte der Moralphilosophie und dann auch nur in Bezug auf Kants dritte Formulierung des kategorischen Imperativs. Im ersten Kapitel von Eine Theorie der Gerechtigkeit folgen Hinweise auf (Rawls 1975, § 1): die Nichtverhandelbarkeit gleicher Bürgerrechte für alle; die Bestimmung der Gesellschaft als einem System der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil; dass es bei den dabei auftretenden Interessenkonflikte – „denn jeder möchte lieber mehr als weniger haben“ (ebd., 20) – es Grundsätze für die Güterverteilung braucht; dass eine Gesellschaft wohlgeordnet (well ordered) genannt werden kann, wenn sie von einer gemeinsamen (orig. public: öffentlicher) Gerechtigkeitsvorstellung wirksam geleitetet wird; schließlich, dass es für eine funktionsfähige (orig. viable: lebensfähige) Gesellschaft noch weitere Aufgaben wie Fragen der „Koordination, der Effizienz und der Stabilität“ (ebd., 22) gibt.

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Es ist nicht leicht einsichtig, warum Rawls sein Gerechtigkeitsverständnis als Fairness bezeichnet. Denn dieser Ausdruck ist kaum klarer als der zu klärende Begriff. Im Rahmen einer Rechtsordnung ist bei Gerechtigkeit als erstes an das Gerichtswesen zu denken, denn das einschlägige Fremdwort, die Justiz, bedeutet auf Deutsch nichts anderes als Gerechtigkeit. Gerecht sind hier gewisse Verfassungsregeln, z. B. das Prinzip der Gleichheit mit dem Willkürverbot als negativem Begriff. Bei Fairness denkt man zwar spontan an den Sport, aber ohne sagen zu können, was positiv gemeint ist. Negative Aussagen fallen leichter. So kommt es nicht auf das Beachten von Regeln an, auch nicht auf Strategien, mit denen man gewinnen will, außer dass unanständige Mittel und Wege keine Rolle spielen dürfen. Mit Fairness bezeichnet man, deutet sich hier an, ein anständiges, aber nicht schon durch einklagbare Regeln bestimmtes Verhalten. Daran kann man bei Rawls anschließen: In seiner Theorie der Gerechtigkeit wird nicht nach vorgegebenen Regeln, sondern um Regeln, die Prinzipien, gespielt, die, rangmäßig noch über den Verfassungsprinzipien stehend, auf Gerechtigkeit Anspruch erheben dürfen. Mit der Forderung, dieses Spiel unter ‚fairen‘ Bedingungen durchzuführen, bewegt sich die Theorie der Gerechtigkeit allerdings im Kreis: Um Gerechtigkeitsbedingungen herausfinden zu können, muss das Spiel selbst schon gerecht strukturiert sein. Bei der einen Methode von Rawls, dem Überlegungsgleichgewicht, wird sich zeigen, liegt eine Variante des hermeneutischen Zirkels vor. Zwei Grundsätze der Gerechtigkeit Rawls kann sein Vorbild, Kant, bei diesen Grundsätzen nicht verleugnen. Wie in Kants einschlägiger rechts- und gerechtigkeitsphilosophischen Schrift, der Rechtslehre, übrigens schon lange vorher, in Aristoteles’ Politik, erkennen in einer gerechten Gesellschaft die Bürger sich als frei und gleich an. Mit Kant und in Widerspruch zum Utilitarismus ist eine gerechte Gesellschaft weder berechtigt noch fähig, dem Glück ihrer Bürger zu dienen. Rawls verpflichtet ein gerechtes Gemeinwesen nicht auf das

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g­ esellschaftliche Wohl, sondern auf dessen generell gültige Voraussetzungen, die gesellschaftlichen Grundgüter (social primary goods) genannt werden. Diese zeichnen sich durch drei Merkmale aus. Erstens sind sie im Gegensatz zu natürlichen Grundgütern wie körperliche Kraft und soziale, geistige und seelische (emotionale) Intelligenz gesellschaftlich bedingt. Zweitens sucht man für die gesellschaftlich bedingten Voraussetzungen jeder Art persönlicher Lebenspläne das Maximum. Mit diesen Gedanken bringt Rawls eine Besonderheit der modernen, wesentlich pluralistischen Gesellschaften auf den Begriff. Schließlich kommt es im Unterschied zu biologisch unverzichtbaren Gütern wie Luft, Wasser und Nahrung, auch Kleidern und Wohnen sowie das Bindungsbedürfnis von Neugeborenen auf Elemente an, die deutlicher sozial abhängig sind: Rechte und Freiheiten, ferner Chancen und Macht, nicht zuletzt Selbstachtung (Rawls 1975, §§ 15 und 63). Aus der Verbindung der Fairness-Idee mit dem Gedanken der gesellschaftlichen Grundgüter ergeben sich Rawls’ Gerechtigkeitsgrundsätze. In ihrer endgültigen Fassung lauten sie so: „Erster Grundsatz: Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist. Zweiter Grundsatz: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: (a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und (b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen“ (ebd., § 46). Mit diesen zwei Grundsätzen rechtfertigt Rawls das im Westen vorherrschende, exemplarisch in den USA praktizierte Modell eines freiheitlichen und sozialen Rechtsstaates, einer konstitutionellen Demokratie, in die eine freie Marktwirtschaft eingebunden und von ihr zugleich in Schranken gewiesen ist. Der erste Gerechtigkeitsgrundsatz, der der größten gleichen Freiheit, lehnt außer der Sklaverei und Leibeigenschaft jede religiöse, politische und andere Verfolgung, auch die rechtliche Diskriminierung

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von Minderheiten ab. Positiv formuliert fordert er für alle Bürgerinnen die gleichen möglichst ausgedehnten Grundfreiheiten, was jedem von ihnen einen unantastbaren Freiraum der Selbstentfaltung einräumt. Das zweite Prinzip wendet sich sowohl gegen Marxisten und Sozialistinnen als auch gegen orthodoxe Liberale. Im Gegensatz zu einem schlichten Egalitarismus werden Ungleichheiten, die sich aus Unterschieden der natürlichen und sozialen Startbedingungen und eigenen Leistungen ergeben, nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Sozialen Neid hält Rawls für unvernünftig (ebd., §§ 80–81). Jedoch sind Ungleichheiten nicht im Bereich der Grundfreiheiten, sondern lediglich im wirtschaftlichen und sozialen Raum erlaubt. Selbst dort sind sie bloß unter zwei einschränkenden Bedingungen legitim. Einerseits muss für alle Chancengleichheit bestehen. Andererseits müssen sich die Ungleichheiten zum Vorteil aller Beteiligten auswirken. Genauer müssen gemäß dem sogenannten Differenzprinzip die Menschen, die mit den geringsten natürlichen Fähigkeiten und Begabungen sowie unter den ungünstigsten sozialen Bedingungen auf die Welt kommen, besser dastehen als in jeder anderen Gesellschaftsordnung, auch wenn die andere Ordnung geringere Ungleichheiten zulassen sollte. Beide Prinzipien gelten nicht als gleichrangig. Dem ersten kommt vielmehr der absolute Vorrang zu: Für diese Rangfolge gilt laut Rawls der Gedanke der lexikalischen Ordnung. Danach genießt das erste Gerechtigkeitsprinzip, das der Freiheit, den absoluten Vorrang vor dem zweiten. Zum ersten Prinzip, dem der gleichen Freiheit, gehören sowohl die liberalen Freiheitsrechte als auch die demokratischen Mitwirkungsrechte. Auf diese Weise verbindet Rawls beide abendländischen Freiheitstraditionen, die ‚Freiheiten der Moderne‘, die wesentlich Abwehrrechte gegen die Staatsgewalt sind, mit den demokratischen ‚Freiheiten der Alten‘, also mit der für eine griechische Polis charakteristischen Herrschaftsordnung freier und gleicher Bürger.

3  Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971/1975)

Von Rawls beiden Prinzipien sind der erste Grundsatz – er entspricht Kants Prinzip der allgemein verträglichen Freiheit aus der Rechtslehre – und der zweite Teil des zweiten Grundsatzes philosophisch und politisch seit langem anerkannt. Anders sieht es beim ersten Teil des zweiten Grundsatzes, dem Unterschiedsprinzip (difference principle), aus. Die in Rawls’ hier einschlägigem Ausgleichsprinzip (ebd., §  17, vorher schon §§ 3) liegende egalitäre Forderung, unverdiente Ungleichheiten zu kompensieren, mag politisch willkommen sein, rundum überzeugend ist sie nicht. Die letzte Grundlage der Fairness-Konzeption, die wechselseitige Anerkennung als freier und gleicher Bürgerin (vgl. ebd., § 3), ist jedenfalls auch ohne das Ausgleichsprinzip und das sich anschließende Unterschiedsprinzip vorstellbar. Infolgedessen drängt sich diese Rückfrage auf: Ist das egalisierende Ausgleichprinzip tatsächlich eine Gerechtigkeitsforderung, oder hat es nicht eine andere Rechtfertigungsgrundlage, etwa die einer christlichen Caritas, säkularisiert zu einer Brüderlichkeit bzw. Solidarität? Zwei Defizite fallen in Rawls’ Liste der gesellschaftlichen Grundgüter auf. Es fehlen sowohl: positionelle Güter (‚wo steht man auf der Leiter des wirtschaftlichen, beruflichen, sozialen … Erfolgs?‘) und jene wahrhaft kollektiven Güter, die dem betreffenden Gemeinwesen als Ganzem zukommen, beispielsweise der Wert einer Währung oder die äußere Sicherheit eines Landes. Nutzenkalkulation und Überlegungsgleichgewicht Methodisch bedient sich Rawls’ Begründung der Gerechtigkeitsgrundsätze zweier Verfahren. Zum einen greift sie auf die Argumentationsstrategie der im Schnittfeld von Philosophie, Mathematik und Ökonomie entstandenen Großfamilie von Theorien rationaler Wahl bzw. rationaler Entscheidung zurück. Zum anderen führt sie den Gedanken eines Überlegungsgleichgewicht (reflective equilibrium) ein. Nach dem ersten Verfahren, das politikund wirtschaftswissenschaftlich so einflussreichen Theorien wie die Spieltheorie und die Wohlfahrtsökonomie einschließt, sollen

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­ ntscheidungen weder willkürlich noch emotioE nal oder rein gewohnheitsmäßig, sondern in dem Sinn rational getroffen werden, dass man angesichts gegebener Ziele oder Vorlieben jene Mittel und Wege berechnet, die den maximalen Erfolg versprechen. Die Entscheidungstheorie besteht in einem Verfahren der Nutzenkalkulation. In ihrem Rahmen wird die als Gefangenendilemma bezeichnete Rationalitätsfalle viel diskutiert. Sie besagt, dass in Konkurrenzsituationen die Grundhaltung der nutzenmaximierenden Rationalität, das aufgeklärte Selbstinteresse, so lange sich selbst behindert, wie es nicht durch äußere Faktoren wie etwa das Recht oder die Moral zu einer wechselseitigen Kooperation mit anderen motiviert wird. Mit Hilfe der Entscheidungstheorien versucht nun Rawls ein klassisches Argumentationsmuster der politischen Philosophie, der Theorie des Gesellschaftsvertrages, bei ihm von Rousseau und Kant, gründlicher als bisher auszuarbeiten. Auf den ersten Blick scheint der Versuch zu scheitern. Denn nach dem Grundgedanken der rationalen Wahl sucht man das Gegenteil von Gerechtigkeit, eine Maximierung des Selbstinteresses. In Rawls’ Gesellschaftsvertrag werden zwar keine persönlichen Vorlieben, sondern Grundsätze einer Gesellschaft gewählt. Aus der zuständigen Liste alternativer Möglichkeiten wählt man jedoch diejenige, die den größten Nutzen für sich verspricht. Auf diese Weise wird die traditionelle Rechtfertigung von Gerechtigkeitsgrundsätzen, wie Rawls selber erklärt, durch eine Klugheitswahl ersetzt: „The aim ist to replace moral judgments by those of rational prudence“ (Rawls 1971, 94, im Deutschen freilich gestrichen). Diese findet allerdings unter einer speziellen Bedingung statt, unter dem der abendländischen Bildtradition, deren Darstellungen der Justitia, im Prinzip schon bekannten Kunstbegriff. Ihm zufolge besitzen die die Klugheitswahl vornehmenden Individuen keinerlei Kenntnisse ihrer Individualität, weder ihrer eigenen Lage und Fähigkeiten – sind sie reich oder arm, Genies oder Normalsterbliche? – noch der historisch gegebenen Gesellschaftsform: Leben sie in einer Jäger- einer Agrar- oder einer Industriegesellschaft.

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Die Subjekte des Selbstinteresses sind also keine wirklichen Individuen, die ihr Selbstinteresse verfolgen können. Es sind vielmehr Selbste, denen jedes Selbstsein fehlt. Sie sind schlechthin allgemeine Subjekte, so dass man auf den Plural verzichten kann: Das streng selbstlose Selbst, dass die Wahl vornimmt, ist ein einziges. Infolgedessen entfalten all die Schwierigkeiten, die sich in der Entscheidungstheorie bei Mehrpersonenspielen auftun. Insbesondere taucht die genannte Rationalitätsfalle, das Gefangenendilemma, nicht auf. Vielmehr entscheidet man sich notgedrungen unparteiisch, insofern gerecht. Der Fairness-Gedanke allein genügt allerdings nicht, um die genaue Entscheidungsregel festzulegen. Stattdessen taucht ein ernstes Problem auf. Für die Entscheidung unter Sicherheit gibt es ebenso wie für die unter Risiko eine einzige Entscheidungsregel. Sie lautet dort: ‚maximiere deinen Nutzen‘, hier ‚maximiere deine Nutzenerwartungen‘. Für die Entscheidung unter Unsicherheit hingegen erscheine verschiedene Kriterien als rational vertretbar. Prominent sind die risikovermeidende Maximin-Regel, nach der man selbst in der schlechtest denkbaren Situation noch möglichst gut dastehen will, die risikobereite Maximax-Regel (maximiere die maximale, also bestmögliche Situation) und die Regel des geringsten Bedauerns. Wegen dieser Vielzahl von Entscheidungskriterien ist Rawls’ Entscheidung – sie betrifft den ersten Teil seines zweiten Prinzips – rein entscheidungstheoretisch gesehen unterbestimmt. Nach Rawls’ Votum für die Maximin-Regel soll man, als ob man gegen eine diabolische Natur spiele, sich für eine Gesellschaftsordnung entscheiden, in der man auch dann noch große Vorteile erwarten kann, wenn man von seinem Feind am Boden der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hierarchie platziert wird. Dieses Votum ist aber weder rational abgeleitet noch rundum plausibel. Zwar überzeugt beim zuständigen Gerechtigkeitsprinzip, dass jeder Mensch ein ökonomisches und soziales Existenzminimum garantiert sehen will. Dass dieses Minimum zu maximieren ist, wird aber ohne die empirische Ausnahme einer pessimis-

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tischen Welteinstellung, ohne die Befürchtung, eher am Boden als an der Spitze der Gesellschaftshierarchie zu leben, nicht einsichtig. Rawls scheint ein weiteres Problem zu haben. Offensichtlich präjudizieren die Bedingungen der Wahlsituation die Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze. Da die Bedingungen nicht ihrerseits aus einer rationalen Wahl abgeleitet werden, erscheint die Verfassungswahl zunächst als letztlich willkürlich. Solange die Prämissen der Gerechtigkeitsbegründung nicht ihrerseits begründet werden, ist die Begründung trotz aller Rationalität im Detail als ganze irrational. Rawls entgeht diesem fatalen Dilemma aufgrund seiner zweiten Methode. Zwar erklärt er: „Man sollte nach einer Art moralischer Geometrie mit der ganzen Strenge streben, die dieser Ausdruck andeutet“ (Rawls 1975, 143). Diese Forderung löst er jedoch nur für die WahlEbene, nicht auch für die Meta-Ebene ein. Sie betrifft allein die Durchführung der Wahl, nicht die Definition der Wahl-Situation und ihrer Kriterien. Rawls geht nämlich von einer normativ bestimmten Lebenswelt, genauer: von einem primären Wissen über sie, den alltäglichen, aber schon wohlüberlegten (well-considered) Vorstellungen über Gerechtigkeit, aus. Zu ihnen sucht er mittels Abstraktion jene inhaltsärmeren Grundsätze auf, die genau deshalb auf breitere Zustimmung rechnen können. Daraus werden im Rahmen des Urzustandes Gerechtigkeitsgrundsätze abgeleitet, die, methodisch dem Rang von wissenschaftlichen Hypothesen ähnlich, mit dem in der Gesellschaft zu findenden Minimalkonsens über Gerechtigkeit verglichen und gegebenenfalls nach Maßgabe dieser Wirklichkeit verändert werden. Auf dem Weg dieser Rückkoppelung gewinnt man schließlich einen widerspruchsfreien Zusammenhang, eben das Überlegungsgleichgewicht. Rawls legt für sein Thema, die Gerechtigkeit, eine Theorie der inneren Übereinstimmung, eine Kohärenztheorie, vor. Da er hinsichtlich seines Ausgangs, den wohlüberlegten Gerechtigkeitsgrundsätzen, eine gemeinsame Schnittmenge voraussetzt, läuft seine Theorie zusätzlich auf eine Konsenstheorie hinaus. Weil schließlich die Grundsätze dann als richtig gelten, wenn sie

3  Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971/1975)

mit gewissen wohlüberlegten Urteilen übereinstimmen, liegt dem Werk Eine Theorie der Gerechtigkeit als drittes hinsichtlich der Gerechtigkeit eine Korrespondenztheorie zugrunde. Für die Frage, mit welchen Urteilen die schließlichen Gerechtigkeitsprinzipien übereinstimmen sollen, kann Rawls allerdings keine streng rational begründete Antwort geben. Aus diesem Grund ist Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit bei aller Wissenschaftlichkeit ein persönliches Buch. Es zeigt nicht nur, welche Lernprozesse – mit der US-Verfassung im Gepäck – rational vertretbar sind, sondern darüber hinaus, dies namentlich beim Unterschiedsprinzip, in welche Richtung Rawls’ eigene Lernprozesse verlaufen sind. Gesellschaftsvertrag à la Kant? In Rawls’ entscheidungstheoretisch neuformulierten Vertragstheorie gilt eine Entscheidung dann als rational, wenn sie aus einer gegebenen Liste alternativer Handlungsmöglichkeiten jene auswählt, die den größten Nutzen verspricht. Rawls schlägt nun fünf Haupt-Ansätze mit insgesamt 15 Wahlmöglichkeiten vor. Außer seinen eigenen Gerechtigkeitsprinzipien erörtert er insbesondere zwei Arten von Utilitarismus und verschiedene Varianten von intuitionistischen sowie egoistischen Ansichten (Rawls 1975, 146 f.). Weil er von einer solchen Liste keine Vollständigkeit behaupten kann, erklärt Rawls seine Prinzipien nicht für absolut, aber für eher richtig (ebd., 630 f.). Die zweifellos außergewöhnlichen Bedingungen, unter denen die rationale Wahl der Gerechtigkeitsprinzipien stattfindet, fasst Rawls unter dem Begriff des Urzustandes (original position) zusammen. Dieser Begriff lässt an den aus der Vertragstheorie bekannten Naturzustand denken. Dies trifft Rawls’ Gedanken, obwohl der Autor von Vertragstheorie spricht, nicht. Die Vertragstheorie wird nach schon älteren, namentlich antiken Ansätzen in der Aufklärungsphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts insbesondere von Althusius und Hobbes, von Pufendorf, Locke und Rousseau in Einzelheiten entwickelt und von Kant in ihrem methodischen Status geklärt. Ihr kommt es zwar

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wie Rawls auf politische Gerechtigkeit an, dies jedoch im Sinne einer Rechtfertigung von Recht und Staat, wobei die Legitimation von deren Zwangsbefugnis wichtig, häufig sogar entscheidend ist. Dieser Gesellschaftsvertrag, ein Gedankenexperiment zugunsten einer zwangsbefugten politischen Gemeinschaft, setzt sich aus drei Elementen zusammen (hier in den Bestimmungen von Rawls’ Vorbild, Kant): (1) In dem als Naturzustand bezeichneten Zusammenleben ohne Recht und Staat herrscht eine latente wechselseitige Feindseligkeit, die zu „wilde[r] Gewalt“ berechtigt (MS AA VI, 307). (2) Da dieser Zustand für jeden von Nachteil ist, liegt es im aufgeklärten Selbstinteresse auf das dafür verantwortliche Recht auf unbegrenzte Freiheit zu verzichten, also den Naturzustand aufzugeben und (3) in einen Rechtszustand einzutreten (ebd.). Rawls’ Berufung auf die Vertragstheorie vor allem nach Kants Vorbild ist nicht unproblematisch. Als erstes findet eine „ausdrückliche vertragstheoretische Begründung der Gerechtigkeitsprinzipien gar nicht statt“. In seinem Urzustand (original position) spielt die Haupteigenschaft des Naturzustandes, der latente Krieg, keine Rolle. Infolgedessen muss der Urzustand auch nicht überwunden werden. Er besteht vielmehr in jener unter dem Schleicher des Nichtwissens stattfindenden Wahl von Gerechtigkeitsprinzipen, die dank des schon hier wirksamen Gerechtigkeitssinnes notwendig zu Grundsätzen der Gerechtigkeit führen. Für Rawls’ Begründung ist der im Schleier des Nichtwissens schon mitgesetzte Gerechtigkeitssinn entscheidend. Aus diesem Grund – kein latenter Krieg, dafür ein Gerechtigkeitssinn – fehlt Rawls, worin ein zweites Bedenken gegen seine Berufung auf eine Vertragstheorie besteht, die für Kant unverzichtbare, bei ihm sogar analytische Verbindung des normativen Rechtsbegriffs bzw. der politischen Gerechtigkeit mit einer Zwangsbefugnis. Rawls legt aus zwei Gründen auf sie keinen besonderen Wert. Zum einen hält er seine Gerechtigkeitsgrundsätze für kategorische Imperative im Sinne Kants. Diese verbinden sich aber

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nicht mit einer Zwangsbefugnis. Zum anderen setzt er für seine Gerechtigkeit als Fairness von Anfang an schon einen Gerechtigkeitssinn voraus. Daraus folgt diese Zwischenbilanz: Statt wirklich vertragstheoretisch zu argumentieren, bedient sich die Eine Theorie der Gerechtigkeit nur der beiden genannten Methoden, der Nutzenkalkulation und des Überlegungsgleichgewichts. Vier-Stufen-Gang Der zweite Teil der Theorie der Gerechtigkeit erörtert Institutionen, die sich aus ihnen ergebende Grundstruktur einer konstitutionellen Demokratie und die hier einschlägigen Pflichten und Verpflichtungen. Im Kapitel zur „gleichen Freiheit für alle“ führt er den Vier-Stufen-Gang ein (Rawls 1975, § 31). Rawls, sieht ihn „durch die Verfassung der Vereinigten Staaten und ihre Geschichte nahegelegt“ (ebd., 224 FN). Er betont allerdings, dass sein Vier-Stufen-Gang, „zur Theorie der Moral und nicht zur Analyse wirklicher Institutionen“ gehört (ebd., 225 FN; vgl. 229). Auf Rawls’ erster Stufe werden die Gerechtigkeitsgrundsätze festgelegt. Auf der zweiten Stufe kommen die Vertragsparteien „zu einer verfassungsgebenden Versammlung“ zusammen, für die der Schleier des Nichtwissens „teilweise gelüftet wird“ (ebd., § 24). Die Einzelpersonen haben weiterhin kein Wissen über „ihre gesellschaftliche Stellung, ihre natürlichen Gaben und ihre Vorstellung von ihrem Wohl. Doch sie verstehen die Grundsätze der Sozialwissenschaft und kennen jetzt auch die wesentlichen allgemeinen Tatsachen über ihre Gesellschaft“ (ebd.). Auf dieser Grundlage wählen sie „die gangbarste gerechte Verfassung“ (ebd.), wobei das Prinzip der gleichen Freiheit für alle den Hauptgrundsatz bildet. Auf der nächsten Stufe, der Gesetzgebung und politischen Programme, kommt Rawls’ zweiter Gerechtigkeitsgrundsatz zum Zuge. „Er verlangt von der Sozial- und Wirtschaftspolitik die Maximierung der am wenigsten Bevorzugten unter den Bedingungen der fairen Chancengleichheit, wobei die gleichen Freiheiten für alle gewahrt bleiben müssen“ (ebd., 224–228). Auf

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der vierten und letzten Stufe schließlich werden die Regeln durch die Verwaltung und die Justiz auf Einzelfälle angewendet und von den Bürger*innen befolgt. Hier sind die Kenntnisse nicht mehr beschränkt (ebd.). Staatsbürgerlicher Ungehorsam Rawls entwirft zwar ein Strukturmuster der Anwendung seiner Gerechtigkeitsprinzipien, den skizzierten Vier-Stufen-Gang. Er begnügt sich aber hier im Wesentlichen mit einer Grundlagendiskussion und lässt sich auf konkrete Anwendungsfragen kaum ein. Man vermisst beispielsweise die Themen der Entwicklungshilfe und des Umweltschutzes sowie der humanitären Intervention. Vielleicht hatten sie in den Jahren, in denen Rawls Eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, noch nicht das spätere Gewicht. In The Law of Peoples (1999; dt. Das Recht der Völker, 2002) jedenfalls wird Rawls diese Themen aufgreifen. Immerhin zählt er schon hier die seiner Ansicht nach wichtigsten Themen des politischen Lebens, die allerdings nur zu einer ‚nichtidealen Theorie‘ gehörten: „die Theorie der Strafe und der ausgleichenden Gerechtigkeit, des gerechten Krieges und der Kriegsdienstverweigerung, des zivilen Ungehorsams und des militanten Widerstands“ (Rawls 1975, 387). Hinzu kommt im zweiten Kap. 5 (Die Verteilung), recht ausführliche Überlegungen zur Gerechtigkeit gegen künftige Generationen (ebd., §§ 44–46). Ein größeres Gewicht erhält jedoch die Frage, die der im Februar 1965 begonnene Vietnamkrieg der USA mehr und mehr dringlich machte: Müssen Bürgerinnen jeden von ihrer Legislative rechtmäßig erlassenen Gesetze gehorchen? Im Rahmen seiner Gerechtigkeitstheorie hält er als erstes zwei einander entgegengesetzte Ansichten für falsch: Weder ist die Ungerechtigkeit eines Gesetzes „ein hinreichender Grund, sich nicht an es zu halten“, noch ein formal gültiges Gesetzgebungsverfahren „ein hinreichender Grund […] sich an das Gesetz zu halten“ (ebd., 387). Danach erklärt er zur duty of civility, zur Pflicht eines (guten) Staatsbürgers, „die Fehler der Institutionen in vernünftigen Umfang hinzunehmen und nicht ungehemmt ausnützen“ (ebd., 392). Er verbietet also erneut

3  Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971/1975)

zwei konträre Haltungen, sowohl den leichtfertigen Ungehorsam als auch das schamlose Ausnutzen von Schlupfwinkeln. Erst danach folgt seine achtteilige Definition des zivilen Ungehorsams, wobei der englische Ausdruck civil disobedience sachgerechter mit staatsbürgerlichem Ungehorsam zu übersetzen ist, da der Ausdruck civil nicht auf den Gegensatz zu militärisch anspielt, sondern auf die civil society, das politische Gemeinwesen, den Staat. Laut Rawls’ Definition geht es um eine „[a] öffentliche, [b] gewaltlose, [c] gewissensbestimmte, [d] politische, [e] gesetzwidrige Handlung, die [f] gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeirufen soll“, sich damit „[g] an den Gerechtigkeitssinn der Gesellschaft“ wendet „und [h] erklärt, nach eigener wohlüberlegter Ansicht seien die Grundsätze der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zwischen freien und gleichen Bürgern nicht beachtet worden“ (ebd., 401). Die beiden ersten Bedingungen hält Rawls für das erforderliche „Unterpfand der Aufrichtigkeit“ (ebd. 403 f.). Mit dem vorletzten Definitionselement unterscheide sich der staatsbürgerliche Ungehorsam von der „Weigerung aus Gewissensgründen“, dem der „Appell an den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit“ fehle (ebd. 406). Weil „die Verletzungen des Unterschiedsprinzips schwerer festzustellen“ sind, sind sie als Gegenstand des staatsbürgerlichen Ungehorsams weniger geeignet als „die Verletzung des Prinzips der gleichen Freiheit“ (ebd. 410). Das letzte Element macht schließlich klar, worauf Rawls großen Wert legt: Der staatsbürgerliche Ungehorsam, den er erörtert, bezieht sich auf die konstitutionelle, also verfassungsstaatliche Demokratie. Weil es sich um einen zwar gesetzwidrigen, aber doch gewissermaßen verfassungsinternen Protest handelt (ebd. 424), sollten Gerichte „die Strafe senken und in einigen Fällen darauf verzichten“ (ebd. 425). Der Gerechtigkeitssinn Mit der Theorie des staatsbürgerlichen Ungehorsams kann Rawls’ Werk nicht schließen, da noch Fragen der Stabilität zu klären und der

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Wert des Gutes der Gerechtigkeit noch zu analysieren sind. Diesen Aufgaben widmet er sich in Teil III (Ziele). Besonders eindrucksvoll sind die unter dem Stichwort ‚Gerechtigkeitssinn‘ (sense of justice) entwickelten Überlegungen zur Moralpsychologie (Kap. 8). Zusammen mit dem Schlusskapitel 9 (Das Gut der Gerechtigkeit) sollen sie die Stabilität eines durch Rawls’ Gerechtigkeitsprinzipen bestimmten Gemeinwesens aufzeigen: Weil in einer durch Rawls’ Begriff der Fairness geprägten, zudem wohlgeordneten Gesellschaft „das Gerechte und das Gute in einem zu definierenden Sinn kongruent“ (ebd., 433) sind, also miteinander übereinstimmen, ist ein Auseinanderfallen der entsprechenden Gesellschaft nicht zu befürchten. Diese Erwartung könnte man als hoffnungslos optimistisch abtun wollen. Wer auf die Herausforderungen schaut, mit denen die demokratischen Rechtsstaaten in den letzten Jahren und Jahrzehnten konfrontiert worden sind, darf oder muss dieses feststellen: Den Staaten ist, setzt man einmal Feinkritik beiseite, recht gut gelungen, die Herausforderungen zu bewältigen. Infolgedessen darf man Rawls’ theoretisch begründete Erwartung, einem gelegentlich aufkeimenden Pessimismus zum Trotz, für wirklichkeitsgerecht halten. Als wohlgeordnet bezeichnet Rawls eine Gesellschaft, „die auf das Wohl ihrer Mitglieder abzielt, und in der [– in dessen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Institutionen –] eine öffentliche Gerechtigkeitsvorstellung maßgeblich wirksam ist“ (ebd., 493). Das zuständige Gemeinwesen ist für Rawls ein selbstständiger Nationalstaat (self-contained national community). Rawls kennt nun zum objektiven Gerechtigkeitsbegriff, den er in der Eine Theorie der Gerechtigkeit vornehmlich behandelt, als subjektive Entsprechung den Gerechtigkeitssinn. Darunter darf man allerdings nicht die aus der moralphilosophischen Tradition bekannte Tugend der Gerechtigkeit verstehen. Rawls kommt es nicht auf eine durch fortgesetztes Einüben gerechten Handelns erworbene Grundhaltung, obwohl er, hier unter Berufung auf Rousseau, den Gerechtigkeitssinn als eine durch die Vernunft

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aufgeklärte Vorstellung des Herzens bestimmt. Er erörtert aber nicht das darin eventuell anklingende Gegenteil einer in der Wirklichkeit praktizierten Tugend, also eine in der politischen Welt folgenlosen Innerlichkeit. Den Gerechtigkeitssinn ordnet er vielmehr einer Moralpsychologie zu, die den Menschen als Rechtssubjekt einer gerechten Gesellschaft rekonstruiert. Im Vorübergehen kritisiert Rawls einmal mehr den Utilitarismus. Im Gegensatz zu ihm kann man sich laut Rawls nicht wegen seiner Fähigkeit zu Lust und Schmerz, so vor allem Bentham, als uneingeschränktes Rechtssubjekt konstituieren, sondern nur wegen eines Gerechtigkeitssinns. Bei dessen Rekonstruktion nimmt er eine folgenreiche Korrektur an manchen zeitgenössischen Diskussionsbeiträgen zum Schuldgefühl vor, freilich ohne dies zu betonen. In neueren Debatten dominieren häufig psychoanalytische Betrachtungsweisen. Diese neigen dazu, Schuldgefühle als infantile Residuen oder als Zeichen misslungener Sozialisation zu interpretieren. So sehr es gestörte Entwicklungsprozesse gibt und die durch sie entstehenden Schuldgefühle negativ zu bewerten sind, darf man diese Art nicht verabsolutieren und dann global alle Schuldgefühle disqualifizieren. Ohne Zweifel sind zwanghaft krankhafte, neurotische Schuldgefühle kein Ideal einer humanen Entwicklung. Denn sie verringern den Verantwortungs- und Freiheitsraum des Menschen und machen ihn anpassungsfähig an jede Art, auch an ungerechte Gesellschaften. Die Schuldgefühle, um die es Rawls geht, sind dagegen ein Zeichen von Freiheit, das Zeichen einer zurechnungsfähigen, moralischen Person. Die Empfänglichkeit für die den entsprechenden, moralisch relevanten Schuldgefühlen entspringen, so Rawls, aus Verhältnissen der Gegenseitigkeit, des Vertrauens, der Liebe und der Freundschaft. Sie gehen also auf gelungene Kommunikationsbeziehungen zurück. Da sie auf wechselseitiger Anerkennung beruhen, stehen sie in Gegensatz zu Bindungen bloß aus Eigeninteresse und aus Gründen der Zweckdienlichkeit.

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Rawls unterscheidet nun drei Arten positiver Beziehungen, die drei Stufen im Entwicklungsprozess des Menschen und zugleich drei Stufen zunehmender Abstraktion bzw. abnehmender Unmittelbarkeit entsprechen: Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, zwischen Teilnehmerinnen an Gemeinschaftsvorhaben und Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft. Die erste, autoritätsorientierte Moralität besteht „zum großen Teil aus einer Sammlung von Vorschriften“ und aus einer „Autoritätsperson, der Liebe und Vertrauen entgegengebracht wird“ (ebd., 507). Kennzeichen der zweiten, komplizierteren gruppenorientierten Moralität sind ein Gemeinschaftsgefühl und ein gegenseitiges Vertrauen, wobei sich die Mitglieder der Gemeinschaft „einander als Gleiche, Freunde und Genossen betrachten“, die „Gerechtigkeit und Fairness, Treu und Glauben, Integrität und Unparteilichkeit“ für Tugenden, „Habgier, Unfairness, Unehrlichkeit und Betrug, Vorurteil und Parteilichkeit“ hingegen, „für Untugenden halten“ (ebd., 512 f.). Die dritte und höchste Entwicklungsstufe, die einer grundsatzorientierten Moralität, schließlich ist von Grundsätzen bestimmt, an deren Kenntnis die mittlere Stufe „ganz natürlich“ herausführt (ebd., 514). Die hier einschlägige Haltung, der Gerechtigkeitssinn, ist, bereit, „an der Errichtung gerechter Institutionen mitzuwirken (oder sich ihr jedenfalls nicht zu widersetzen)“ (ebd., 515). Die Schuldgefühle, auf die es nun ankommt, entstehen Rawls zufolge, wenn man Beziehungen der Gegenseitigkeit verletzt und sich der Verletzung bewusst wird. Wer den Menschen die Empfänglichkeit dafür nehmen wollte, müsste ihnen sowohl Beziehungen wahrhaft kommunikativer Natur als auch das Bewusstsein rauben, für die kommunikative Qualität solcher Beziehungen mitverantwortlich zu sein. Er würde den Menschen als genuin moralische Persönlichkeit zerstören, die an seine Sprachund Vernunftfähigkeit zurückgebunden ist. Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit wäre kein so überragendes Werk, wenn sie nicht

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immer wieder auf Grenzen hinweisen würde. So lässt sie, damit schließt Rawls das Kap. 8, „nicht nur viele Seiten der Moralität außer acht, sondern fragt auch nicht nach dem richtigen Verhalten gegenüber Tieren und der übrigen Natur. […] Sicher ist es falsch, Tiere grausam zu behandeln, und die Ausrottung einer ganzen Art kann ein großes Übel sein. Die Fähigkeit der Tiere zu Lust und Schmerz in ihren Lebensformen führen eindeutig zur Pflicht des Mitleids und der Menschlichkeit ihnen gegenüber“. Für Rawls gehören „diese wohlüberlegten Auffassungen“ aber „nicht zur Gerechtigkeitstheorie […]. Eine richtige Vorstellung von unseren Beziehungen zu den Tieren und der Natur dürfte eine Theorie der natürlichen Ordnung und unserer Stellung in ihr erfordern. Es ist eine der Aufgaben der Metaphysik, eine Weltauffassung zu entwickeln, die diese Aufgabe erfüllt. […] Wie weit die Theorie der Gerechtigkeit als Fairness abgeändert werden müsste, um in diese umfassendere Theorie hineinzupassen, lässt sich nicht sagen. Doch die Hoffnung scheint nicht unberechtigt, dass sie, sofern sie als Analyse der Gerechtigkeit zwischen Menschen vernünftig ist, nicht allzu abwegig sein kann, wenn diese umfassenden Beziehungen berücksichtigt werden“ (ebd., 556). Gegen Ende des Kap. 9 zieht Rawls eine kappe Bilanz: „Man kann erstens sagen, in einer wohlgeordneten Gesellschaft sei es tatsächlich gut für einen Menschen, ein guter Mensch zu sein (und insbesondere einen wirksamen Gerechtigkeitssinn zu haben); und zweitens ist diese Art von Gesellschaft eine gute Gesellschaft“ (ebd., 626). Noch eine Schlussbemerkung zur Methode: Rawls nimmt an, eine wissenschaftliche, philosophische Theorie verhalte sich zu den Alltagsurteilen über Gerechtigkeit wie die Linguistik zum alltäglichen Sprechen. Eventuell hier von Sprachwissenschaftlern wie Noam Chomsky beeinflusst, glaubt er, wie man seinen vorwissenschaftlichen Sinn für grammatikalische Richtigkeit durch eine wissenschaftliche Grammatik verbessern könne, so den Sinn für Gerechtigkeit

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durch eine philosophische Theorie (ebd., § 3). Diese Analogie trifft aber nur begrenzt zu. Das, worüber sich einheimische Sprecher einig sind, macht tatsächlich die deutsche und die englische […] Umgangssprache aus, was als gerecht beurteilt wird, hingegen ist auch bei einem überwältigenden Konsens nicht deshalb schon wirklich gerecht: Während es sinnlos ist, grammatische Regeln, die praktiziert werden, einen Ideologieverdacht auszusetzen und eine vom Bestehenden stark abweichende, normative Syntax zu entwerfen, kann es nämlich, wie Platon in seinem Dialog Politeia, vorführt, durchaus sinnvoll sein, gegen kollektiv gültige Gerechtigkeitsansichten einen Ideologieverdacht zu äußern, sie also nicht für ein letztgültiges Kriterium zu halten. Sie können es allerdings dann, aber auch nur dann sein, wenn zutrifft, worauf Rawls sich berufen kann, wenn man nämlich von Überzeugungen ausgeht, die im Wesentlichen schon gerecht sind. Womit aber lässt sich das begründen? Dem hermeneutischen Zirkel kann Rawls mit seiner Methode des Überlegungsgleichgewichts nicht entrinnen; sie bleibt für sie grundsätzlich unüberwindbar.

Literatur Höffe, Otfried: Einführung in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. In: Otfried Höffe (Hg.): John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Berlin 52013, 3–26. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Kants gesammelte Schriften. Hg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften. Berlin 1911, Bd. 4. Kant, Immanuel: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. In: Kants gesammelte Schriften. Hg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften. Berlin 1914, Bd. 6. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie. Marx-Engels-Werke, Bd. 3. Hg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1969, 9–530.Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Bose. Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, 6. Abt., Bd. 2. Hg. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. Berlin 1968. Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung. Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, 6. Abt., Bd. 3. Hg.Giorgio Colli/Mazzino Montinari. Berlin 1969.

34 Rawls, John: A theory of justice. Cambridge, Mass. 1971. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1975 (engl. 1971). Rawls, John: Vorwort. In: Otfried Höffe (Hg.): Gerechtigkeit als Fairneß. Freiburg im Breisgau 1977, 7–15.

O. Höffe Rawls, John: Justice as fairness. A restatement. Cambridge, Mass. 32003. Rawls, John: Geschichte der Moralphilosophie. Hume – Leibniz – Kant – Hegel. Hg. Barbara Herman. Frankfurt a. M. 2002 (engl. 2000).

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Politischer Liberalismus (1993/1998) Fabian Poetke

John Rawls’ zweites Hauptwerk Politischer Liberalismus aus dem Jahr 1993 (dt. 1998) ist eine Zusammenfassung, Neuordnung und Ergänzung der zahlreichen Aufsätze, Vorlesungen und Diskussionen, in denen Rawls seit Ende der 1970er Jahre auf kritische Anmerkungen zu seiner Theorie der Gerechtigkeit reagierte. Rawls überarbeitete seine Beiträge so, dass sie sowohl untereinander als auch, wie er betont, mit den Thesen aus der Theorie eine thematische und argumentative Einheit bilden (Rawls 2017, 9 f.). Politischer Liberalismus ist somit einerseits eine Anpassung zentraler Elemente aus der Theorie der Gerechtigkeit, andererseits aber auch viel mehr als das. Dies zeigt sich bereits an der Kernfrage des Werkes: „Wie kann eine gerechte und stabile Gesellschaft von freien und gleichen Bürgern dauerhaft bestehen, wenn diese durch ihre vernünftigen religiösen, philosophischen und moralischen Lehren einschneidend voneinander geschieden sind?“ (ebd., 67). Überblick Rawls’ Ausgangsbeobachtung ist ein unhintergehbarer weltanschaulicher Pluralismus und die entscheidende Frage lautet, wie unter dieser Bedingung ein dauerhaft stabiles, politisch

F. Poetke (*)  München, Deutschland E-Mail: [email protected]

gerechtes Gemeinwesen aufrechterhalten werden kann. Unter Rückgriff auf die Methode des politischen Konstruktivismus unternimmt Rawls dabei die Herleitung bzw. argumentative Rechtfertigung der im Kern bereits aus der Theorie der Gerechtigkeit bekannten Gerechtigkeitsgrundsätze. Dazu dient ihm zum einen das kontraktualistische Urzustandsmodell, zum anderen die Idee eines Überlegungsgleichgewichts, in welchem überprüft wird, ob die erarbeiteten abstrakten Grundsätze mit unseren „wohlerwogenen Überzeugungen“ in Einklang stehen (ebd., 97). Die Gerechtigkeitsgrundsätze bilden die Basis einer liberalen politischen Gerechtigkeitskonzeption für die Grundstruktur der Gesellschaft, also ihre grundlegenden Regeln und Institutionen. Angesichts des konstatierten Pluralismus muss diese Konzeption weltanschaulich ungebunden oder „freistehend“ sein (ebd., 45). Im Unterschied zur Theorie der Gerechtigkeit stehen in Politischer Liberalismus jedoch nicht Herleitung und Inhalt der Gerechtigkeitsgrundsätze im Fokus, sondern die Frage nach der Legitimierung politischer Entscheidungen und der damit verbundenen dauerhaften Stabilität eines liberaldemokratischen Verfassungsstaats mit weltanschaulich diverser Bürgerschaft. Zum zentralen Element wird in Politischer Liberalismus der übergreifende Konsens, ein Mechanismus, der die stabile Motivation der Bürger*innen erklärt, sich gemäß der politischen Gerechtigkeitskonzeption zu verhalten: Da diese

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_4

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Konzeption freistehend ist, kann sie vom Standpunkt verschiedener umfassender Lehren (comprehensive doctrines) – religiöse und säkulare Weltanschauungen – nachvollzogen und bejaht werden, sofern diese Lehren Rawls Kriterium der Vernünftigkeit erfüllen. Dadurch können weltanschaulich uneinige Bürger*innen sich unter Berufung auf eine geteilte politische Gerechtigkeitskonzeption verständigen und Fragen grundlegender politischer Bedeutung ohne Rückgriff auf strittige Überzeugungen diskutieren. Gliederung des Werkes Politischer Liberalismus gliedert sich in drei Teile zu zweimal drei und einmal zwei Kapiteln. Da einige davon ursprünglich als Vorlesungen gehalten wurden, werden im veröffentlichten Werk sämtliche Kapitel, ungeachtet umfassender Bearbeitungen, als „Vorlesungen“ bezeichnet. Der erste Teil, betitelt „Politischer Liberalismus: Grundelemente“, setzt sich aus den Vorlesungen „Grundlegende Ideen“, „Die Vermögen der Bürger und ihre Darstellungen“ und „Politischer Konstruktivismus“ zusammen. Entsprechend der Benennung legt Rawls hier neben den Leitfragen des Werks seine theoretischen Grundkonzepte, das zugrundeliegende Personenverständnis sowie zentrale methodische Überlegungen dar. Im zweiten Teil, „Politischer Liberalismus: Drei Hauptideen“, führt Rawls in den Vorlesungen „Die Idee eines übergreifenden Konsenses“, „Der Vorrang des Rechten und die Idee des Guten“ und „Die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs“ die Kerngedanken seiner Theorie aus. Dies wird im abschließenden Teil, „Institutionen“, um die nähere Untersuchung zweier weiterer zentraler Überlegungen ergänzt: „Die Grundstruktur als Gegenstand“ und „Der Vorrang der Grundfreiheiten“. In der US-Taschenbuchausgabe wird der dritte Teil um den Aufsatz „Reply to Habermas“ erweitert und in der Expanded Edition von 2005 zusätzlich um den Aufsatz „The Idea of Public Reason Revisited“ (vgl. Höffe, 2015a, 21). Ergänzend zum Inhalt des Haupttextes verdienen auch die beiden Einleitungen – von 1992 bzw. 1995 –, die Rawls als Erläuterung seines Werkes verfasst hat, nähere Beachtung: Neben Hinweisen zur Lektüre

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von Politischer Liberalismus liefert Rawls in der Einleitung von 1995 relevante Ergänzungen bzw. Änderungen seiner Ausführungen nach. Das Faktum des vernünftigen Pluralismus Bereits in der ersten Einleitung zu Politischer Liberalismus geht Rawls auf die große Herausforderung ein, die als Ausgangspunkt seines Werkes dient und die ihn nach eigenen Worten dazu veranlasst hat, darin einige Klarstellungen und Anpassungen an den Thesen aus der Theorie der Gerechtigkeit vorzunehmen. Es handelt sich dabei um das „Faktum eines vernünftigen Pluralismus“ (Rawls 2017, 13). Damit ist nicht nur die Tatsache gemeint, dass die Bürger*innen moderner Gesellschaften einander ausschließenden religiösen oder säkularen Lehren anhängen; entscheidend ist die Erkenntnis, dass diese Lehren und die in ihnen enthaltenen ethischen Überzeugungen zugleich unvereinbar und gleichermaßen vernünftig sein können. Dies liege, so Rawls, an den Bürden des Urteilens (burdens of judgement), den „Quellen vernünftiger Meinungsverschiedenheiten unter vernünftigen Personen“ (ebd., 129): Widersprüchliche empirische Befunde, zulässiger Interpretationsspielraum, unterschiedliche persönliche Lebenserfahrungen sowie Wert- und Normkonflikte führen dazu, dass vernünftige Diskussionsteilnehmer*innen zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen – und das vernünftige Menschen unterschiedliche umfassende Lehren bejahen (ebd., 130 f.). Dementsprechend beinhaltet der für Politischer Liberalismus zentrale Begriff der Vernünftigkeit einerseits die Bereitschaft zur Einhaltung fairer Kooperationsbedingungen auf der Basis von Reziprozität sowie andererseits die Anerkennung der Bürden des Urteilens (ebd., 120–122, 127 f.). Der zu beobachtende Pluralismus wiederum sei „das unvermeidliche langfristige Ergebnis des Gebrauchs der menschlichen Vernunft unter andauernd freien Institutionen“ (ebd., 67). Für Rawls folgt daraus, dass weltanschaulicher Pluralismus sich zum einen nicht argumentativ überwinden lasse, zum anderen aber auch keineswegs ein Ärgernis darstelle, sondern aufgrund seines Zustandekommens vielmehr positiv zu sehen sei.

4  Politischer Liberalismus (1993/1998)

Stabilität und Legitimität Für politische Systeme wirft das Faktum des Pluralismus damit zwei zusammenhängende Probleme auf: Das der Legitimität staatlicher Macht sowie das der Stabilität des Gemeinwesens hinsichtlich der Loyalität seiner Bürger*innen. Die Unmöglichkeit einer Verständigung auf eine gemeinsame umfassende Lehre und der mit ihr verbundenen Konzeption (bzw. dem zulässigen Spektrum von Konzeptionen) vom guten Leben schließt aus, dass sich die Staatsverfassung auf eine bestimmte umfassende Lehre stützt und dass sich die Institutionen des Staates über eine solche Lehre legitimieren. Gerade dies ist natürlich überhaupt die Grundlage der liberalen politischen Denktradition. Und so formuliert auch Rawls ein entsprechendes liberales Legitimitätsprinzip, wonach die „Ausübung politischer Macht nur dann völlig angemessen ist, wenn sie sich in Übereinstimmung mit einer Verfassung vollzieht, deren wesentliche Inhalte vernünftigerweise erwarten lassen, daß alle Bürger ihnen als freie und gleiche im Lichte von Grundsätzen und Idealen zustimmen, die von ihrer gemeinsamen menschlichen Vernunft anerkannt werden“ (Rawls 2017, 223).

Dies bringt zugleich die Frage nach der Stabilität des politischen Systems mit sich und es ist dieser Aspekt, den Rawls in der Einleitung betont, da er hier eine Schwachstelle seiner Ausführungen in der Theorie der Gerechtigkeit sieht. Dort ist es Rawls’ Ziel gewesen, zu zeigen, dass die Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness das geeignetste Fundament für die Institutionen einer gerechten demokratischen Gesellschaft darstelle. Dabei ist er davon ausgegangen, dass, wenn die gesellschaftlichen Grundinstitutionen den Grundsätzen von Gerechtigkeit als Fairness entsprächen und diese allseits anerkannt würden – in einer wohlgeordneten Gesellschaft also (Rawls 1979, 21) – mit der Zeit eine Kongruenz des Rechten und des Guten zu erwarten sei: Die Bürger*innen würden diese Gerechtigkeitsgrundsätze als ihr persönliches Gutes annehmen, was wiederum die Stabilität der Konzeption gewährleisten würde (Rawls 1979, Kap. 9; vgl. Weithman 2015, 75). In Anbetracht der Überlegungen zum vernünftigen Pluralismus kommt Rawls

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nun allerdings zu dem Schluss, dass diese Erwartung einer geteilten Auffassung vom Guten unplausibel sei. Da damit aber die erwartete Stabilität von Gerechtigkeit als Fairness in Gefahr gerät, muss Rawls eine andere Erklärung für die Bindung der Bürger*innen an die Gerechtigkeitsgrundsätze finden (vgl. Rawls 2017, 11–13; Weithman 2015, 90–91). Die eingangs zitierte Frage wird damit zur Leitfrage von Politischer Liberalismus: „Wie kann eine gerechte und stabile Gesellschaft von freien und gleichen Bürgern dauerhaft bestehen, wenn diese durch ihre vernünftigen religiösen, philosophischen und moralischen Lehren einschneidend voneinander geschieden sind?“ (Rawls 2017, 67). Im Einklang mit dem liberalen Legitimitätsprinzip kann es dabei auf keinen Fall darum gehen, Stabilität um jeden Preis zu gewährleisten; auch eine Zustimmung zur gesellschaftlichen Grundordnung als kleinerem Übel im Vergleich zu Bürgerkrieg und Chaos im Hobbesschen Sinne ist Rawls zu wenig. Vielmehr muss die staatliche Gemeinschaft „aus den richtigen Gründen“ (ebd., 35) stabil sein: Sämtliche Bürger*innen sollen der Grundordnung einen Eigenwert beimessen können. Der Vorrang des Rechten vor dem Guten Wie kann unter den Bedingungen des vernünftigen Pluralismus eine solche allgemeine Zustimmung aus den richtigen Gründen erreicht werden? Rawls’ Antwort in Politischer Liberalismus lautet wie folgt: Da keine allen Bürger*innen gemeinsame Idee des Guten gefunden werden kann, muss – wie bereits in der Theorie der Gerechtigkeit – eine allgemein zustimmungsfähige Gerechtigkeitskonzeption gefunden werden. Diese kann ihrerseits nicht auf einer bestimmten umfassenden Lehre basieren, sondern hat „politisch, nicht metaphysisch“ (ebd., 75) zu sein. Mit diesem Begriff des Politischen beschreibt Rawls zwei Eigenschaften. Zum einen soll die Gerechtigkeitskonzeption „freistehend“, d. h. unabhängig von und unparteiisch gegenüber den verschiedenen (vernünftigen) umfassenden Lehren sein. Zum anderen darf sie nicht ihrerseits zu einer umfassenden Lehre werden und sämtliche Lebensbereiche zu umfassen suchen,

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sondern hat sich allein auf die Grundstruktur der Gesellschaft zu beziehen, also deren zentrale politische, soziale und wirtschaftliche Institutionen (ebd., 16, 45, 75 f.). Die Gerechtigkeitskonzeption muss weiterhin so beschaffen sein, dass die Staatsbürger*innen sie vom Standpunkt ihrer jeweiligen vernünftigen umfassenden Lehre aus bejahen können. Der dadurch ermöglichte übergreifende Konsens (siehe unten) ist der entscheidende Schritt, um das von Rawls in der Theorie der Gerechtigkeit ausgemachte Stabilitätsproblem zu beheben. Der Fokus auf eine rein politische Gerechtigkeitskonzeption ist namensgebend für das gesamte Werk, da Rawls seinen politischen Liberalismus von einem umfassenden Liberalismus abgrenzt. Im Gegensatz zu letzterem verzichten Gerechtigkeitskonzeptionen des politischen Liberalismus nämlich auf Aussagen zum Ursprung moralischer Ordnung und zur Motivation ihrer Befolgung und überlassen die Antwort darauf den verschiedenen umfassenden Lehren (ebd., 24 f.). Den Standpunkt letztgültiger Wahrheit lässt der politische Liberalismus somit bewusst vakant und beansprucht für seine Gerechtigkeitskonzeptionen lediglich Vernünftigkeit (ebd., 17). Obgleich damit, wie bereits in der Theorie der Gerechtigkeit, der Vorrang des Rechten vor dem Guten ein Grundprinzip des politischen Liberalismus darstellt, ist Rawls’ Theorie keineswegs skeptizistisch und stellt die Wahrheit von Glaubensfragen vernünftiger Lehren weder infrage, noch befürwortet sie sie (ebd., 137 f.). Während eine liberale politische Gerechtigkeitskonzeption den zulässigen Lebensweisen der Bürger*innen zwar Grenzen setzt, dürfen diese nicht zu eng sein und müssen ausreichend Entfaltungsraum für verschiedene als wertvoll erachtete Lebensweisen lassen (ebd., 266 f.). Das Gute als das Rationale: Die Grundgüter Rawls betont weiterhin, dass der Vorrang des Rechten keineswegs bedeutet, die Gerechtigkeitskonzeption könne keine Ideen des Guten in Anspruch nehmen (ebd., 266). Sie muss dies in gewissem Umfang sogar tun, um gesellschaftliche Ziele formulieren zu können und den An-

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sprüchen der Bürgerschaft Ausdruck zu geben. Da er auch hierfür nicht auf umfassende Lehren zurückgreifen kann, führt Rawls die Idee der Grundgüter ein, die auf dem Prinzip des Guten als das Rationale basiert: Bürger*innen benötigen zur Teilhabe an der Gesellschaft als Freie und Gleiche bestimmte Güter, zu deren Erlangung sie ihre vorhandenen Ressourcen optimal nutzen wollen. Dabei geht er davon aus, dass die verschiedenen, mit den vernünftigen umfassenden Lehren verbundenen Ideen des Guten, die in der Gesellschaft vertreten werden, für ihre Verwirklichung ähnliche Grundgüter benötigen. Rawls unterteilt diese in fünf Basiskategorien: Grundrechte und Grundfreiheiten; Freizügigkeit und freie Berufswahl; Zugang zu Ämtern und Posten; Einkommen und Besitz; „die sozialen Grundlagen der Selbstachtung“ (ebd., 275, vgl. 270–273). Rawls ist sich der Einwände gegen diese Liste durchaus bewusst und erhebt keinen Anspruch auf deren Vollständigkeit. Die Grundgüteridee ist für ihn eine notwendige Abstraktion, um angesichts des herrschenden Pluralismus menschliche Ansprüche operationalisierbar zu machen (vgl. ebd., 275–278). Anstelle eines Guten kann Rawls nämlich nun eine Liste als rein politisch erachteter Güter für die Erarbeitung seiner Gerechtigkeitskonzeption nutzen – das Gute ist, im Einklang mit den gesellschaftlichen Grundvoraussetzungen, zum Pluralbegriff geworden (vgl. Özmen 2015, 117). Die Konstruktion der Gerechtigkeitskonzeption Die Grundgüter stellen ein zentrales Element der Konstruktion von Grundsätzen der politischen Gerechtigkeit dar. Dass diese konstruiert werden müssen und nicht vorgefunden werden können, liegt am vernünftigen Pluralismus: Auf eine unabhängige, überzeitliche Wertordnung kann der politische Liberalismus nicht setzen (Rawls 2017, 178). Rawls’ Methode des politischen Konstruktivismus grenzt sich damit dezidiert von der Herangehensweise des moralischen Realismus ab, vermeidet es aber, sich in direkten Widerspruch zu dieser zu setzen. Die Existenz einer unabhängigen moralischen Wertordnung wird deswegen zwar nicht bejaht, ebenso wenig

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aber geleugnet – der politische Konstruktivismus bleibt hier gewissermaßen agnostizistisch (vgl. ebd., 172–176). Als Grundlage des Konstruktionsprozesses dienen die Konzeptionen der Gesellschaft als „ein Generationen übergreifendes System sozialer Kooperation“ sowie der Person als ein Mitglied dieser Gesellschaft mit der Veranlagung, einen Gerechtigkeitssinn und eine Konzeption des Guten auszubilden (ebd., 174, vgl. 81 f.). Letzteres ist relevant, weil die Gesellschaftsmitglieder ein Verständnis davon haben müssen, was für sie rationalerweise von Vorteil wäre. Bezieht man die Idee der Grundgüter mit ein, heißt das: Was für Grundgüter sie benötigen. Verbunden mit der Begabung zur Vernunft weisen die Anlage zu einer Konzeption des Guten und einem Sinn für Gerechtigkeit eine Person als „frei“ aus. Als Bürger*innen sind die Rawlsschen Personen zudem „gleich“ in ihrer Fähigkeit, uneingeschränkt kooperative Gesellschaftsmitglieder zu sein (ebd., 85, 98). Weitere philosophische Fragen danach, was eine Person ausmacht, blendet Rawls in Politischer Liberalismus bewusst aus: Diese schlanke politische Personenkonzeption genügt seiner Theorie vollauf (vgl. Rawls 1995, 138). Ausgehend von diesen Voraussetzungen fordert Rawls von einer liberalen politischen Gerechtigkeitskonzeption drei Merkmale ein: Die Festlegung wichtiger liberaldemokratischer „Grundrechte, Freiheiten und Chancen“, der Vorrang dieser Rechte und Freiheiten etwa gegenüber Allgemeinwohlerwägungen sowie ein Ausmaß an sozialstaatlicher Sicherung, das die tatsächliche Wirksamkeit der Rechte und Freiheiten gewährleistet (Rawls 2017, 70). Da eine liberale politische Gerechtigkeitskonzeption somit nicht nur Grundsätze aufstellt, sondern auch selbst wertgeleitet ist, handelt es sich nach Rawls’ Definition dabei stets auch um eine moralische Konzeption (ebd., 76). Die konstruktivistische Methode ist aus der Theorie der Gerechtigkeit bereits bekannt, und auch inhaltlich knüpft Rawls hier an sein erstes Hauptwerk an: Seine Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness sieht er als Gerechtigkeitskonzeption, die die genannten Bedingungen er-

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füllt. Bereits in seinem Aufsatz „Justice as Fairness: Political not Metaphysical“ bezeichnet Rawls in diesem Sinne Gerechtigkeit als Fairness dezidiert als politische Konzeption, was er in der Theorie der Gerechtigkeit so klar noch nicht getan hat (Rawls 1985, 224). Entscheidend angesichts der bisher dargelegten Argumentation in Politischer Liberalismus ist, dass Rawls Gerechtigkeit als Fairness nicht als die liberale politische Gerechtigkeitskonzeption bezeichnet, sondern als eine mögliche: Es existiert demnach eine „Familie liberaler politischer Gerechtigkeitskonzeptionen“, die sich inhaltlich unterscheiden, die aber alle die von Rawls genannten Voraussetzungen erfüllen (Rawls 2017, 46). Verglichen zur Theorie der Gerechtigkeit mag dieser Anspruch bescheiden erscheinen, in Anbetracht der Überlegungen zum vernünftigen Pluralismus und den Bürden des Urteilens ist er jedoch konsequent. Das Urzustandsmodell Um nun die Grundsätze der Gerechtigkeitskonzeption zu bestimmen, bedient sich Rawls des Urzustandsmodells. Dabei bleibt er weitestgehend seinen Überlegungen aus der Theorie der Gerechtigkeit treu und verweist auch explizit auf diese. Obgleich Rawls seinen Urzustand (original position) als Kern eines kontraktualistischen Arguments entwirft, handelt es sich hierbei explizit um ein rein hypothetisches Konstrukt: Ein analytisches Instrument, das eine faire Entscheidungssituation simuliert, einen moralischen Standpunkt. Im Urzustand kommen Repräsentant*innen der Bürger*innen zusammen, um die in ihren Augen geeignetsten Gerechtigkeitsgrundsätze für eine Gesellschaft zu wählen, die ein faires System der Kooperation zwischen freien und gleichen Bürger*innen sein soll. Um zu gewährleisten, dass die Entscheidung auch wirklich diese Zielvorstellung im Blick behält, definiert Rawls den Urzustand selbst als Situation der Freiheit und Gleichheit (Rawls 2017, 89 f.; Rawls 1995, 139). Dies soll dadurch erreicht werden, dass über die Parteien im Urzustand der Schleier der Unwissenheit (veil of ignorance; alternative Übersetzung: Schleier

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des Nichtwissens) gelegt wird. Die Repräsentant*innen, deren Anzahl jener der Bürger*innen in der Gesellschaft entspricht, werden dabei gleichsam anonymisiert, indem ihnen jegliche Information vorenthalten wird, die persönlichen Merkmalen und Eigenschaften entspricht: Daten wie ihr Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Weltanschauung oder sozialer Status sind ihnen gänzlich unbekannt. Was sie wissen, sind sämtliche Fakten über das Funktionieren von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, die sie zur Auswahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen benötigen. Auf diese Weise soll jegliche ungerechtfertigte Bevorzugung der eigenen Position bei der Konzipierung der gesellschaftlichen Grundstruktur verhindert werden (Rawls 2017, 90 f.; Rawls 1979, 159–162). Rawls wandelt somit die Frage, was faire Gerechtigkeitsgrundsätze seien, in die Frage um, welche Gerechtigkeitsgrundsätze freie und gleiche Bürger*innen unter fairen Bedingungen auswählen würden (Wenar 2017). Es ist wichtig zu verstehen, dass Rawls mit dem Urzustand weder eine Art idealisierten Verfassungsgebungsprozess beschreibt noch, wie etwa Michael Sandel es verstand, eine metaphysische Konzeption der Person impliziere, deren Wesen unabhängig von ihren kontingenten Eigenschaften und Überzeugungen sei (dazu Rawls 2017, 95). Vielmehr ist das Urzustandsmodell ein Gedankenspiel, in das wir uns alle jederzeit versetzen können, um „herauszufinden was wir gegenwärtig für die Forderungen der Gerechtigkeit halten, wenn wir die Gesellschaft als ein Generationen übergreifendes System der Kooperation unter freien und gleichen Bürger*innen verstehen und die Sache klar und unverstellt betrachten“ (Rawls 2017, 94; vgl. 1979, 162). Die Gerechtigkeitsgrundsätze – Gerechtigkeit als Fairness Zur Vereinfachung des Modells werden die auszuwählenden Gerechtigkeitsgrundsätze unter diesen Rahmenbedingungen nicht tatsächlich von den Urzustandsparteien Schritt für Schritt konstruiert. Vielmehr solle man sich vorstellen, den Parteien werde eine Liste möglicher Grund-

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freiheiten und eine Liste verschiedener möglicher Gerechtigkeitsvorstellungen zu deren Ordnung vorgelegt, die der politischen Ideengeschichte und der Moralphilosophie entnommen werden (Rawls 2017, 408 f.; Rawls 1979, 144–146). Unter diesen Umständen, so Rawls, werden die Parteien des Urzustandes eine liberale Konzeption wählen, deren Grundsätze eine faire Verteilung der Grundgüter einschließlich einer Absicherung der Grundfreiheiten vorsehen. Unter diesen liberalen Konzeptionen befindet sich auch Gerechtigkeit als Fairness, welche Rawls selbst – wenig verwunderlich – für die vernünftigste hält (Rawls 2017, 46 f.). Die zwei Gerechtigkeitsgrundsätze von Gerechtigkeit als Fairness, die Rawls mit leichten Anpassungen aus der Theorie der Gerechtigkeit übernimmt, lauten: „(a) Jede Person hat den gleichen Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundrechte und Freiheiten, das mit demselben System für alle vereinbar ist, und innerhalb dieses Systems wird der faire Wert der gleichen politischen (und nur der politischen) Freiheiten garantiert. (b) Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offenstehen, und zweitens müssen sie sich zum größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder auswirken“ (Rawls 2017, 69 f.).

Gemeinsam dienen diese Grundsätze der Ordnung der grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen, wobei dem ersten Grundsatz Vorrang vor dem zweiten zukommt (Rawls 2017, 70). Dieser Vorrang der Grundfreiheiten bedeutet, dass sie „gegenüber Argumenten des öffentlichen Wohls und gegenüber perfektionistischen Werten ein absolutes Gewicht“ besitzen. Aus diesem Grund kann eine Grundfreiheit ausschließlich zugunsten einer anderen Grundfreiheit eingeschränkt werden (ebd., 410). Volkswirtschaftliche Erwägungen und ähnliche gesamtgesellschaftliche Ziele – die unter einer utilitaristischen Gerechtigkeitskonzeption den Vorzug erhalten würden – können demgegenüber nicht ausschlaggebend für die Aufhebung von Grundfreiheiten sein.

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Der Wert der Grundfreiheiten wird auch durch den zweiten Grundsatz gestärkt, welcher die sozioökonomischen Aspekte der Gerechtigkeitskonzeption umfasst. Sein Zustandekommen erklärt Rawls wie folgt: Da die Urzustandsparteien sich unter dem Schleier der Unwissenheit befinden, wäre eine sozioökonomische Bevorzugung bestimmter Gruppen irrational, da niemand weiß, welcher Gruppe sie oder er angehört. Zudem betrachten sich alle Parteien als Gleiche und wissen, dass eine faire kooperative Gesellschaftsstruktur vorteilhaft wäre. Daher erscheint zunächst das Prinzip der Gleichverteilung naheliegend. Wenn die Repräsentant*innen im Urzustand allerdings Überlegungen organisatorischer und wirtschaftlicher Effizienz miteinbeziehen, stellt sich dieses Prinzip als suboptimal heraus. Vielmehr wird man sich darauf verständigen, dass eine Ungleichverteilung an wirtschaftlichen und sozialen Gütern unter der Bedingung zulässig ist, dass die Schlechtestgestellten im Vergleich zu anderen Verteilungen am meisten profitieren (ebd., 395–397). Damit folgt der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz dem bereits aus der Theorie der Gerechtigkeit bekannten Differenzprinzip. Die gerechte Verteilung auch ökonomischer Güter hat dabei eine direkte Bedeutung für den ersten Grundsatz und die hier verankerten Grundfreiheiten, denn Rawls erkennt sehr genau, dass Freiheit auch wirtschaftliche Aspekte besitzt: Der Wert verbriefter Freiheiten muss rein formal bleiben, wenn die einzelnen Bürger*innen aufgrund ihrer prekären ökonomischen Situation nicht in der Lage sind, diese auch zu nutzen. Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz, der letztlich das Sozialstaatsprinzip verankert, soll daher den „fairen Wert“ der politischen Grundfreiheiten gewährleisten (ebd., 448). Nicht zuletzt aufgrund dieser Vorkehrung sind Rawls’ Gerechtigkeitsgrundsätze Ausdruck eines „egalitären Liberalismus“ (ebd., 70). Dementsprechend befindet etwa Martha Nussbaum, der Vorwurf mancher Kritiker*innen, Rawls schwäche die Radikalität der ökonomischen Komponente seiner Theorie der Gerechtigkeit ab, gehe fehl: Während in der Theorie der Gerechtigkeit zwischen wirtschaftlichen und Freiheitsfragen unterschieden worden sei, weise Rawls in

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Politischer Liberalismus ausdrücklich auf die ökonomische Voraussetzung der Wahrnehmung von Rechten hin und sei in dieser Hinsicht sogar radikaler geworden als zuvor (Nussbaum 2015, 18 f.). Während Rawls der Frage nach sozialer Gerechtigkeit und dem faktischen Wert von Freiheitsrechten hohe Bedeutung beimisst, blendet seine Gerechtigkeitskonzeption andere Themen bewusst aus. Weder bezieht Gerechtigkeit als Fairness in der Form von Politischer Liberalismus die Generationengerechtigkeit mit ein, noch völkerrechtliche Beziehungen. Sie trifft keine Aussagen zu Menschen, die aufgrund der Umstände (etwa schwerer Krankheiten) nicht uneingeschränkt als Bürger*innen agieren können und macht keine Aussagen zum Tier- und Umweltschutz (Rawls 2017, 87 f.). Obgleich Rawls andeutet, dass die Konzeption sich auf einige dieser Problemfelder wohl problemlos ausweiten ließe, geht es ihm in Politischer Liberalismus ausschließlich um die „grundlegende Frage der politischen Gerechtigkeit“ (ebd., 88). Unter diesem Aspekt erachtet Rawls die Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness, wie bereits erwähnt, als das vernünftigste Ergebnis des oben erläuterten Konstruktions- und Rechtfertigungsprozesses. Das liegt auch daran, dass seine Konzeption darauf abzielt, durch die Betonung sowohl der Werte der Freiheit als auch der Gleichheit eine Vermittlung klassisch liberaler und republikanischer demokratischer Traditionen darzustellen (ebd., 69). Dieser Anspruch wird durch die drei Gründe unterstrichen, die Rawls für die Wahl von Grundsätzen anführt, die die Grundfreiheiten wie ausgeführt garantieren und ihnen einen Vorrang zuschreiben: Erstens fördere ein gerechtes und stabiles Kooperationssystem die jeweiligen Konzeptionen vom Guten, denen die Bürger*innen anhängen – und die genannten Gerechtigkeitsgrundsätze bildeten die stabilste politische Gerechtigkeitskonzeption. Zweitens stärkten die Grundsätze mit der Garantie eines fairen Wertes politischer Freiheiten durch das Differenzprinzip am besten die Selbstachtung der Bürger*innen. Drittens könne die durch diese Grundsätze wohlgeordnete Gesellschaft für jedes Mitglied einen

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Eigenwert entwickeln und dadurch „ein weit umfassenderes Gut sein […] als das besondere Gut von Individuen, wenn diese ihren eigenen Arrangements überlassen oder auf kleinere Vereinigungen beschränkt bleiben“ (ebd., 439, vgl. 434–439). Das Überlegungsgleichgewicht Um die Plausibilität der dargelegten Gerechtigkeitsgrundsätze zu überprüfen, bedient sich Rawls der Methode des Überlegungsgleichgewichts (reflective equilibrium). Dabei gilt es zu fragen, inwieweit diese Grundsätze den eigenen – und nun also real vorhandenen – „wohlerwogenen Überzeugungen“ entsprechen (ebd., 97). Ein vollständiges Überlegungsgleichgewicht wäre erreicht, wenn sämtliche Überzeugungen, von abstrakt-allgemeinen Prinzipien bis zum konkreten Einzelfall, in perfekte Kohärenz gebracht würden (vgl. Wenar 2017). Dieser Zustand, so Rawls, ist jedoch als hypothetische Idealvorstellung zu denken, faktisch erreichen lässt er sich nicht. Ein praktischer Nutzen der Anwendung liegt jedoch darin, die eigenen Überzeugungen besser in Einklang miteinander zu bringen und Entscheidungen auf dieser Basis besser begründbar zu machen (Rawls 1995, 142). Insofern es sich bei Rawls’ Leserschaft, wovon er ausgeht, um Bürger*innen liberaldemokratischer Staaten handelt, sind ihre wohlerwogenen Überzeugungen Ausprägung einer entsprechenden liberalen politischen Kultur. Können also die konkreten, aus dem realen politischen Leben liberaldemokratischer Gesellschaften gewonnenen Erfahrungen und Einstellungen mit den abstrakten Prinzipien der Gerechtigkeitsgrundsätze in Einklang gebracht werden, so ist dies ein klares Indiz dafür, dass die Rawlsschen Grundsätze tatsächlich auf die Institutionen konstitutioneller Demokratien anwendbar sind (Rawls 1995, 139; Wenar 2017). Diese Argumentation erscheint zunächst zirkulär. Schließlich ist es wenig verwunderlich, wenn die Grundsätze der Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness mit den Überzeugungen und Erfahrungswerten in Einklang stehen, die aus der politischen Kultur freiheitlich-demokratischer Gesellschaften gewonnen werden,

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wenn Rawls selbst von einer solchen Kultur geprägt ist und von Anfang an entsprechende Annahmen und Zielvorstellungen in seine Theorie einfließen lässt. Obgleich diese Feststellung durchaus zutreffend ist, übersieht sie doch einen wesentlichen Punkt: Das Überlegungsgleichgewicht dient stets auch der Reflexion und Selbstvergewisserung, im konkreten Fall der Reflexion der liberaldemokratischen Gesellschaft über ihre Grundprinzipien. Rawls Ausführungen in Politischer Liberalismus dienen damit einer „Selbstaufklärung der konstitutionellen Demokratie“, nämlich über jene Elemente und Grundsätze, ohne die sie nicht funktionsfähig wäre (Höffe 2015b, 104). Der übergreifende Konsens Dies zeigt sich besonders deutlich mit Blick auf das Konzept des übergreifenden Konsenses (overlapping consensus), das eines der zentralen Elemente von Rawls’ politischem Liberalismus bildet (vgl. Rawls 1987). Dieser Mechanismus stellt den nächsten logischen Schritt nach der Auswahl der Gerechtigkeitsgrundsätze dar. Der übergreifende Konsens erklärt, warum sich die Bürger*innen auch abseits der konstruierten Verfahrensgerechtigkeit des Urzustandes, nämlich unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus, auf eine gemeinsame Gerechtigkeitskonzeption verständigen können. Damit wird zugleich plausibel gemacht, wie eine weltanschaulich pluralistische liberaldemokratische Gesellschaft dauerhaft stabil bleiben kann. Das Zustandekommen eines solchen Konsenses hält Rawls keineswegs für utopisch (Rawls 2017, 261). In der Realität, konzediert Rawls, sei es allerdings wahrscheinlicher, dass nicht, wie idealtypischerweise angenommen, eine bestimmte Gerechtigkeitskonzeption im Schnittpunkt des übergreifenden Konsenses stehe, sondern „eine Klasse von liberalen Konzeptionen“, die inhaltliche Unterschiede aufweisen, aber miteinander kompatibel sind. Je kleiner die Differenzen dieser Konzeptionen, „desto bestimmter ist der Konsens“ (ebd., 256). Im Kern stimmen im Falle eines übergreifenden Konsenses die Mitglieder der Gesellschaft der politischen Gerechtigkeitskonzeption vom Standpunkt der je eigenen umfassenden

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Lehre aus zu (ebd., 219). Da die politische Konzeption inhaltlich losgelöst von umfassenden Lehren konstruiert wird, steht sie nicht in Widerspruch zu irgendeiner – vernünftigen – Lehre. Vielmehr erwartet Rawls, dass sich eine um die Werte von Freiheit und Gleichheit herum aufgebaute Gerechtigkeitskonzeption gleichsam modular in jede vernünftige umfassende Lehre einfügen lasse (ebd., 232). Der somit zustande kommende Konsens ist also nicht etwa eine inhaltliche Schnittmenge der in der Gesellschaft vertretenen vernünftigen umfassenden Lehren; er bezieht sich vielmehr auf Prinzipien politischer Gerechtigkeit, denen die Anhänger*innen sämtlicher religiöser wie nicht-religiöser vernünftiger umfassender Lehren zustimmen können. Es darf als Clou der Theorie des politischen Liberalismus bezeichnet werden, dass Rawls davon ausgeht und es für gänzlich unproblematisch erachtet, dass in einem übergreifenden Konsens eine Vielzahl unterschiedlicher weltanschaulicher Begründungen für dieselbe politische Gerechtigkeitskonzeption existieren (vgl. auch Rawls 1995, 136). In der Tat ist es gerade diese Eigenschaft, die den übergreifenden Konsens zu einem Garanten gesellschaftlicher Stabilität werden lässt: Da die umfassenden Lehren der Menschen ihre tiefsten religiösen, philosophischen und/oder moralischen Überzeugungen darstellen, gewinnt ein von diesen Lehren getragener Konsens an Bindungskraft und damit Stabilität (Rawls 2017, 219; Rawls 1995, 147). Anders formuliert ließe sich sagen, die Gerechtigkeitsgrundsätze, die sein Gegenstand sind, stehen mit keiner auf einer vernünftigen umfassenden Lehre aufbauenden Vorstellung vom guten Leben, die Bürger*innen der Gesellschaft teilen, in Konflikt. Im Gegenteil: Lebensweisen, die vernünftigen umfassenden Lehren entsprechen, sind von der politischen Gerechtigkeitskonzeption und den durch sie geprägten gesellschaftlichen Institutionen ausdrücklich zu ermöglichen. Eine Einschränkung stellt lediglich der Verweis auf die Vernünftigkeit der am Konsens beteiligten Lehren dar, weshalb Rawls auch von einem „vernünftigen übergreifenden

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Konsens“ spricht (Rawls 2017, 282): Es lässt sich nicht vermeiden, dass nicht-vernünftige Lehren mit der Gerechtigkeitskonzeption in Konflikt geraten. Jede vernünftige politische Gerechtigkeitskonzeption schließt einige mit ihr unvereinbare Lebensweisen aus (vgl. ebd., 282 f., 292, 308 f.). Aus diesen Überlegungen folgt, dass in einem übergreifenden Konsens vernünftiger umfassender Lehren die politische Gerechtigkeitskonzeption – die ihrerseits als moralische Konzeption zu verstehen ist – aus „religiösen, philosophischen oder moralischen Gründen“ bejaht wird (ebd., 236). Damit unterscheidet sich, wie Rawls betont, ein übergreifender Konsens entschieden von einem bloßen modus vivendi. Denn die Bejahung aus der Perspektive der verschiedenen umfassenden Lehren bedeutet, dass die politische Konzeption nicht nur notgedrungen, um der gesellschaftlichen Stabilität willen akzeptiert wird, sondern um ihrer selbst willen. Die durch den übergreifenden Konsens gewährleistete Stabilität ist, mit Rawls’ Worten, eine Stabilität aus den richtigen Gründen. Anders als ein modus vivendi bleibe ein übergreifender Konsens daher auch dann stabil, wenn eine bestimmte umfassende Lehre gesellschaftsweit stark an Einfluss gewinnt, da die Gründe für die Akzeptanz der politischen Gerechtigkeitskonzeption sich dadurch nicht ändern (ebd., 235–237). Mit dem übergreifenden Konsens löst Rawls somit das Stabilitätsproblem aus dem neunten Kapitel der Theorie der Gerechtigkeit, da in Politischer Liberalismus kein geteiltes Verständnis vom Guten mehr angenommen wird, sondern ein geteiltes Gerechtes, das mit den jeweiligen Vorstellungen der Bürger*innen vom guten Leben kompatibel ist. Darüber hinaus geht Rawls hier auf einen wesentlichen Punkt der kommunitaristischen Kritik ein, indem er klarstellt, dass der politische Liberalismus die weltanschaulichen Überzeugungen der Bürger*innen keineswegs ausblendet, sondern ihnen vielmehr eine grundlegende Bedeutung zuschreibt. Denn würde eine liberale politische Gerechtigkeitskonzeption wie Gerechtigkeit als Fairness nicht die Unterstützung von Anhänger*innen

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verschiedener vernünftiger umfassender Lehren erhalten können, so wäre sie gerade nicht liberal (ebd., 230 f.). Das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs Es ist das erklärte praktische Ziel der Rawlsschen Gerechtigkeitskonzeption, die Grundlage einer „begründeten, wohlinformierten und einvernehmlichen politischen Übereinkunft“ zu bilden. Die Verständigung auf Gerechtigkeit als Fairness (oder eine ähnliche liberale Konzeption) als politische Konzeption bietet den Bürger*innen einen „öffentlich anerkannte[n] Standpunkt“, von dem aus sie die Gerechtigkeit ihrer sozialen und politischen Institutionen überprüfen können. Damit wird sie Ausdruck, zugleich aber auch Fundament, des öffentlichen Vernunftgebrauchs (public use of reason) der Bürger*innen (ebd., 74). Der öffentliche Vernunftgebrauch ist eine demokratischen Gemeinwesen eigene Form des Diskurses gleicher Bürger*innen über Fragen des Gemeinwohls, die politische Gerechtigkeitskonzeption sowie deren institutionelle Ausprägung. Er bezieht sich, mit anderen Worten, auf „wesentliche Verfassungsinhalte“ und „Fragen grundlegender Gerechtigkeit“ (ebd., 314, vgl. 312). Wann immer diese Inhalte Gegenstand politischer Entscheidungsfindungsprozesse sind, sollen die Mitglieder einer Gesellschaft in der Lage sein, ihre jeweilige Position auf eine Weise zu rechtfertigen, die alle ihre Mitbürger*innen verstehen und akzeptieren können. So demonstrieren die Staatsbürger*innen sich gegenseitig, dass sie bei der Ausübung politischer Macht übereinander das liberale Legitimitätsprinzip beachten (vgl. ebd., 326). Daher sollen sich Bürger*innen in politischen Grundsatzfragen nicht auf Überzeugungen aus umfassenden Lehren berufen, sondern auf die Grundsätze der politischen Gerechtigkeitskonzeption sowie „die zum common sense gehörigen Formen des Argumentierens und die unumstrittenen Methoden und Ergebnisse der Wissenschaften“ (ebd.). Die öffentliche Vernunft ist damit in dreierlei Hinsicht öffentlich: 1) In ihrem Anwendungskontext ist sie die „Vernunft der Öffentlichkeit“, da sie von Bürger*innen im öffentlichen Diskurs

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an den Tag gelegt wird, 2) ihr Gegenstand sind Fragen grundlegender politischer Bedeutung, 3) schließlich bezieht sie sich inhaltlich auf die politische Gerechtigkeitskonzeption und andere öffentlich nachvollziehbare Begründungen (ebd., 312 f.). Der Gebrauch der öffentlichen Vernunft darf dabei nicht als gesetzliche Vorschrift missverstanden werden, denn das Recht der freien Rede bleibt als liberales Kernprinzip unangetastet. Vielmehr versteht Rawls ihn als Ausdruck einer moralischen Pflicht zur „civility“, in der deutschen Übersetzung etwas unglücklich als „Bürgerlichkeit“ wiedergegeben. Bei diesem Prinzip handelt es sich um den Respekt von Staatsbürger*innen untereinander als Freie und Gleiche. Dazu gehört auch die Bereitschaft, den Argumenten der Mitbürger*innen Gehör zu schenken und einzugestehen, wenn eine Anpassung des eigenen Standpunktes fairerweise geboten ist. Zusammen mit den Werten der politischen Gerechtigkeit macht diese Pflicht zur civility „das Ideal einer Bürgerschaft aus, die sich selbst in einer Weise regiert, von der alle glauben, daß andere sie aus guten Gründen akzeptieren können“ (ebd., 319, vgl. 317–319). Ein naheliegender Einwand auf diese Überlegungen lautet, dass es für den*die einzelne*n Bürger*in doch irrational erscheinen müsse, sich gerade in Fragen grundlegender Gerechtigkeit nicht auf die ganze Wahrheit der eigenen umfassenden Lehre zu berufen (ebd., 316). In diesem Zusammenhang sind zunächst einige Klarstellungen zur Reichweite des öffentlichen Vernunftgebrauchs zu machen. Rawls unterscheidet in Politischer Liberalismus zwischen einer ausschließenden und einer einschließenden Sichtweise des öffentlichen Vernunftgebrauchs. Während erstere fordert, dass in politischen Grundsatzdiskussionen unter keinen Umständen mit einer umfassenden Lehre argumentiert werden darf, ist dies gemäß der einschließenden Sichtweise dann zulässig, wenn dadurch das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs gestärkt würde. Als Beispiel, wie dies möglich ist, nennt Rawls etwa die nordamerikanische Anti-Sklaverei-Bewegung, deren Anführer*innen sich auf dezidiert religiöse Argumente stützten. Gerade mit

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Blick auf solche liberale politische Werte fördernde Berufungen auf umfassende Lehren, spricht sich Rawls für die einschließende Sichtweise aus (ebd., 354–357). In der Einleitung von 1995 und dem Aufsatz The Idea of Public Reason Revisited (1997) lockert Rawls diese Einschränkungen noch weiter auf: Bürger*innen dürfen sich demnach in jeder Situation auf ihre umfassenden Lehren berufen, unter dem Vorbehalt (proviso), dass sie „in gebührender Zeit öffentliche Begründungen, so wie eine vernünftige politische Konzeption sie liefert“, nachreichen. Er nennt dies die „weite“ Auslegung des öffentlichen Vernunftgebrauchs (Rawls 2017, 50; vgl. Rawls 1997, 783 f.). Der öffentliche Vernunftgebrauch soll auf vernünftigen umfassenden Lehren beruhende Argumente also keineswegs aus dem öffentlichen Diskurs verbannen. Dies gilt umso mehr, als dass seine Grenzen ohnehin weder auf persönliche politische Überlegungen Anwendung finden noch auf Diskussionen im Rahmen von Vereinigungen wie Kirchen oder Universitäten. In diesem Raum des Sozialen, den Rawls die Hintergrundkultur einer Gesellschaft nennt (Rawls 2017, 79), wird die Pflicht zur civility deswegen nicht eingefordert, weil die hier angesiedelten Gruppen und Vereinigungen im Vergleich zum Staat zwar mitunter ebenfalls erhebliche Autorität ausüben – etwa im Fall von Religionsgemeinschaften – diese aber eine freiwillig akzeptierte Autorität sei. Für die Macht des Staates und seine mit Zwangsgewalt bewehrten Gesetze gilt dies eben nicht: Wir sind in einen Staat hineingeboren und können ihn nur unter äußerst schwierigen Umständen verlassen (ebd., 322–324). Die Regeln des öffentlichen Vernunftgebrauchs sind daher von im Parlament sprechenden Abgeordneten zu beachten, von Richter*innen bei der Auslegung von Gesetzen, aber ebenso von Bürger*innen, die öffentlich politisch Stellung beziehen – und sie sollen die Einzelnen auch bei wichtigen Entscheidungen wie der Stimmabgabe bei einer Wahl anleiten. Als Musterbeispiel für die Anwendung der öffentlichen Vernunft auf die Klärung von Grundsatzfragen gilt Rawls dabei die Argumentations-

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führung von Verfassungsgerichten wie dem USamerikanischen Supreme Court (ebd., 315 f.). In diesen Anwendungsbereichen des öffentlichen Vernunftgebrauchs müssen Anhänger*innen umfassender Lehren nun davon absehen, sich auf letzte Wahrheiten zu berufen, bzw. die Argumente ihrer umfassenden Lehren mit politischen Begründungen ergänzen. Diese diskursive Zurückhaltung gibt nämlich der essenziellen Überzeugung Ausdruck, dass es unvernünftig und nicht mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu vereinbaren sei, würde man die eigene umfassende Lehre mit Gewalt durchzusetzen versuchen (ebd., 225): „Nur […] wenn wir akzeptieren, daß die Politik einer demokratischen Gesellschaft nicht von der ganzen Wahrheit, wie wir sie sehen, geleitet werden kann, können wir das im Legitimitätsprinzip zum Ausdruck kommende Ideal verwirklichen und mit anderen im Lichte von Grundsätzen politisch zusammenleben, die vernünftigerweise erwarten lassen, daß alle sie anerkennen“ (Rawls 2017, 348). Die Wahrheit der umfassenden Lehren und der persönlichen Überzeugungen vom guten Leben der Bürger*innen steht ja gerade nicht zu Debatte; es geht Rawls schlicht darum, dass diese Lehren keine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen können und daher auch keine politischen Entscheidungen getroffen werden sollten, die wir nicht auch unter Rückgriff auf die politische Gerechtigkeitskonzeption begründen können. Ist aber eine solche Zurückhaltung in der politischen Argumentation von Anhänger*innen umfassender Lehren, insbesondere auch religiös gläubigen Bürger*innen, nicht letztlich unaufrichtig, da sie doch nicht ihre tatsächlichen Beweggründe vortragen? Rawls verneint dies: Durch den übergreifenden Konsens stimmen diese Bürger*innen den politischen Werten schließlich zu, auf die sie sich in der öffentlichen Diskussion berufen. Wenn sie darüber hinaus glaubten, dass diese Werte umfassender begründet werden können als ihre Mitbürger*innen dies tun, so ändere dies nichts an der Bejahung ebendieser Werte. Aufgrund

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dieser Überlegungen folgert Rawls, dass letztlich nur solche Lehren in Konflikt mit dem Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs geraten, die eine vernünftige Abwägung politischer Werte überhaupt ablehnen – und damit nicht zu den vernünftigen umfassenden Lehren zählen (ebd., 347–349). Ungeachtet dieser Erläuterungen mag der Einwand bestehen bleiben, dass die Bezugnahme auf die politische Gerechtigkeitskonzeption eine Engführung des öffentlichen Diskurses bedeute, da nur im Rahmen einer fixierten Vorstellung von öffentlicher Vernunft argumentiert werden könne. Diese Interpretation verneint Rawls entschieden: Der politische Liberalismus schreibe den Inhalt der öffentlichen Vernunft keineswegs unabänderlich fest: Ebenso, wie es eine Familie liberaler politischer Gerechtigkeitskonzeptionen gibt, die sich in Einzelheiten unterscheiden, aber alle die von Rawls eingeforderten Kriterien erfüllten, so kann es auch verschiedene, sich aber nicht ausschließende Formen öffentlicher Vernunft geben. Überdies gelte: Wenn sich die Gesellschaft wandelt, so wandelt sich auch das, was als öffentliche Vernunft gilt (Rawls 1997, 774 f.). Eine vollständige Übereinkunft über grundlegende Fragen werde, so Rawls, ohnehin selten erreicht – vernünftige Meinungsverschiedenheiten sind schließlich möglich und wahrscheinlich. Würde man aber etwa bei jedem Wertekonflikt die Prinzipien des öffentlichen Vernunftgebrauchs aussetzen, so müsse man ihn gänzlich aufgeben (Rawls 2017, 346). Das Gerechte als Gut in der wohlgeordneten Gesellschaft Rawls’ Konzept des öffentlichen Vernunftgebrauchs stellt also ein Gebot des Respekts der Bürger*innen eines liberaldemokratischen Staates untereinander dar. Durch seine Einhaltung demonstrieren sie, dass sie bei Fragen von grundlegender politischer Bedeutung gemäß der politischen Gerechtigkeitskonzeption und dem liberalen Legitimitätsprinzip handeln. Der öffentliche Vernunftgebrauch ist damit ein wesentliches Element einer wohlgeordneten Gesellschaft. Darunter versteht Rawls eine Gesell-

F. Poetke

schaft, in der alle Bürger*innen dieselben Gerechtigkeitsgrundsätze anerkennen und dies auch allseits bekannt ist, in der die Grundstruktur der Gesellschaft bekanntermaßen den Grundsätzen einer liberalen politischen Gerechtigkeitskonzeption genügt und in der die Bürger*innen aus ihrem Gerechtigkeitssinn heraus den Regeln der als gerecht betrachteten Institutionen folgen. Die öffentlich anerkannte Gerechtigkeitskonzeption fungiert hier als gemeinsame Basis zur Formulierung und Beurteilung von Ansprüchen an die Gesellschaft (Rawls 2017, 105). Eine wohlgeordnete Gesellschaft ist somit von Reziprozität und Respekt im Verhältnis der Bürger*innen untereinander gekennzeichnet, wodurch die Einhaltung fairer Kooperationsbedingungen mehr ist als ein Ausdruck politischer Klugheit: Die Bürger*innen werden feststellen, dass sie gemeinsame Ziele verfolgen – nicht entsprechend einer gemeinsamen umfassenden Lehre, sondern entsprechend ihrer gemeinsamen Gerechtigkeitskonzeption. Eine solche Gesellschaft wird für ihre Mitglieder, die sie im Rahmen eines übergreifenden Konsenses ihrer vernünftigen umfassenden Lehren als gerecht anerkennen, einen Wert an sich darstellen, ein um seiner selbst willen erstrebenswertes Gut (vgl. ebd., 300–302). In diesem Kontext, in dem sie die politischen Gerechtigkeitsgrundsätze bejahen und die darin beinhalteten Freiheiten verwirklichen, erlangen die Bürger*innen nach Rawls Auffassung erst ihre volle Autonomie (ebd., 155). Dies hat zur Folge, dass die Staatsbürger*innen ein entsprechendes demokratisches Selbstverständnis entwickeln, zu dem auch bestimmte politische Werte und Tugenden gehören: „Höflichkeit und Toleranz, Vernünftigkeit und Sinn für Fairneß“ (ebd., 291). Und auch der Gerechtigkeitssinn muss unter diesen Bedingungen zu einer Tugend in der aristotelischen Bedeutung werden, nämlich einer verinnerlichten Disposition (vgl. Özmen 2015, 126 f.). In der wohlgeordneten Gesellschaft werden damit die liberalen Gerechtigkeitsgrundsätze, die durch den übergreifenden Konsens getragen werden, letztlich auf die vernünftigen umfassenden Lehren dieses Konsenses

4  Politischer Liberalismus (1993/1998)

zurückwirken: Der politische Liberalismus ist nur eingeschränkt verfahrensneutral, weil er bestimmte substanzielle Grundsätze festlegt, die alle Verfahren leiten; und er ist nur bedingt zielneutral, da aufgrund dieser Grundsätze nicht alle Ergebnisse des politischen Prozesses denkbar sind (Rawls 2017, 288 f.). Würdigung und Kritik Als ein Ziel von Politischer Liberalismus nennt Rawls, eine Versöhnung von republikanischer und liberaler demokratischer Tradition zu erreichen. Ob ihm dies tatsächlich gelingt, ist umstritten. Unter anderem wirft Habermas Rawls vor, dass die politischen Mitbestimmungsrechte, die in der republikanischen Tradition im Zentrum stehen, bei Rawls zu kurz kämen, da sie den liberalen Abwehrrechten nachgeordnet würden (Habermas 1995, 127–130). Rawls verneint dies und betont die Gleichursprünglichkeit und Gleichwertigkeit politischer und privater Autonomie im politischen Liberalismus (Rawls 1995, 163). Gewiss ist Rawls kein ausgesprochen republikanischer Denker, zugleich aber alles andere als ein Libertärer. Entgegen mancher Kritik ist das Leitbild der wohlgeordneten Gesellschaft gerade kein ungebundenes Nebeneinanderleben egoistischer Individuen, sondern ein gemeinsames politisches Projekt von Bürger*innen, die einander solidarisch verbunden sind. Die von Rawls ausbuchstabierten politischen Werte dienen dabei als gemeinsames gesellschaftliches Ziel, das für sich genommen als erstrebenswert angesehen wird und für Einzelne durch die Begründung aus ihrer jeweiligen umfassenden Lehre heraus auch ethische Verbindlichkeit erhält. Dies verweist auf das augenscheinlichste Ziel von Politischer Liberalismus, die Lösung des Stabilitätsproblems aus der Theorie der Gerechtigkeit: Wie kann in weltanschaulich hochgradig pluralistischen Gesellschaften eine freiheitliche Ordnung langfristig stabil, dabei aber auch legitim im Sinne von allgemein zustimmungsfähig bleiben? Rawls’ politischer Liberalismus löst dieses Problem durch das Konzept des übergreifenden Konsenses, in

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dem er darlegt, wie eine politische Gerechtigkeitskonzeption durch die Verbindung von weitreichender weltanschaulicher Neutralität und einer Verpflichtung auf Werte der fairen Kooperation die Zustimmung möglichst vieler Bürger*innen erreichen kann. Wer gegen diese Vorstellung einwendet, ein solcher Konsens sei in der Realität angesichts bestehender Differenzen nicht zu erwarten, darf nicht übersehen, dass Rawls einen weiten Spielraum für vernünftige Meinungsverschiedenheiten offenlässt. Diesen erweitert er sogar durch die Konzession, es existiere eine Reihe liberaler politischer Gerechtigkeitskonzeptionen – welche die vernünftigste sei, darüber lasse sich diskutieren. Angesichts dessen lässt sich die Idee eines übergreifenden Konsenses wohl nur dann kategorisch ablehnen, wenn man das Projekt der liberalen Demokratie an sich für zum Scheitern verurteilt hält. Eine umfassende Debatte löste Rawls’ Konzept des öffentlichen Vernunftgebrauchs im Rahmen der Diskussion um die Zulässigkeit religiöser Argumente im öffentlichen Raum aus. Gingen die von Rawls vorgesehenen Diskursregeln manchen Kritikern religiöser Positionen nicht weit genug (etwa Gerald Dworkin), sahen andere sie bereits als zu restriktiv gegenüber gläubigen Bürgern an (etwa Nicholas Wolterstorff). Dabei ist Rawls völlig zurecht äußerst konsequent darin, eine Benachteiligung religiöser Positionen gegenüber säkularen umfassenden Lehren zu vermeiden – gemäß seinen liberalen Grundannahmen behandelt er beide Seiten gleich. Zudem ist die diskursive Zurückhaltung, die Rawls’ Pflicht zur civility von seinen Bürger*innen einfordert, so moderat, dass von einem unzulässigen Eingriff in einen freien demokratischen Meinungsaustausch wirklich nicht gesprochen werden kann. Letztendlich liefert Rawls mit dem auf der Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness fußenden übergreifenden Konsens ein freilich idealtypisches, aber dennoch realistisches Konzept, wie liberaldemokratische Gesellschaften sich selbst verstehen können: Hinsichtlich des Verhältnisses der Bürger*innen untereinander sowie mit Blick auf den Platz und die Rolle der zahlreichen umfassenden Lehren. In dieser

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Hinsicht ist Höffes Fazit zuzustimmen, Rawls unternehme in Politischer Liberalismus „auf eine argumentativ vorbildlich sorgfältige Weise letztlich eine ‚Hermeneutik der konstitutionellen Demokratie‘“ (Höffe 2015a, 25), durch welche das Verständnis der Bürger*innen von der Demokratie und die Zustimmung zu ihr gestärkt würden (Höffe 2015b, 105).

Literatur Habermas, Jürgen: Reconciliation through the public use of reason: remarks on John Rawls’s political liberalism. In: The Journal of Philosophy, 92/3 (1995), 109–131. Höffe, Otfried: Einführung. In: Ders. (Hg.): John Rawls: Politischer Liberalismus. Berlin 2015a, 1–27. Höffe, Otfried: Die Idee eines übergreifenden Konsenses (Vorlesung IV). In: Ders. (Hg.): John Rawls: Politischer Liberalismus. Berlin 2015b, 95–111. Nussbaum, Martha C.: Introduction. In: Thom Brooks/ Martha C. Nussbaum (Hg.): Rawls’s political liberalism, New York 2015, 1–56.

F. Poetke Özmen, Elif: Der Vorrang des Rechten und Ideen des Guten (Vorlesung V). In: Otfried Höffe (Hg.): John Rawls: Politischer Liberalismus. Berlin u. a. 2015, 113–129. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1979 (engl. 1971). Rawls, John: Justice as fairness: political not metaphysical. In: Philosophy & Public Affairs 14/3 (1985), 223–251. Rawls, John: The idea of an overlapping consensus. In: Oxford Journal of Legal Studies 7/1 (1987), 1–25. Rawls, John: Political liberalism: reply to Habermas. In: The Journal of Philosophy 92/3 (1995), 132–180. Rawls, John: The idea of public reason revisited. In: The University of Chicago Law Review 64/3 (1997), 765– 807. Rawls, John: Politischer Liberalismus. 6. Aufl., Frankfurt a. M. 2017 (engl. 1993). Weithman, Paul: Why political liberalism? On John Rawls’s political turn. New York 2010. Weithman, Paul: Legitimacy and the project of political liberalism. In: Thom Brooks/Martha C. Nussbaum (Hg.): Rawls’s political liberalism, New York 2015, 73–112. Wenar, Leif: John Rawls. In: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford encyclopedia of philosophy, Spring 2017 Edition. https://plato.stanford.edu/entries/rawls/.

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Das Recht der Völker (1999/2002) Andreas M. Bock

Mit seinem Recht der Völker hat John Rawls für tiefe Enttäuschung gesorgt, bleibt sein letztes Buch doch weit hinter den Erwartungen zurück, die er mit seiner Theorie der Gerechtigkeit für eine Theorie globaler Gerechtigkeit geweckt hat. Nicht wenige erwarteten, dass die darin vorgestellte „original position“ (Rawls 1971, 3; 1975, 3) nicht nur als Legitimationsargument für binnenstaatliche Gerechtigkeitsgrundsätze, sondern auch für Gerechtigkeitsgrundsätze mit globalem Anspruch und globaler Reichweite taugt. Denn die Theorie der Gerechtigkeit hatte einen eindeutig universalistischen Impetus: alle Menschen sind Träger*innen bestimmter liberaler und ökonomischer Rechte, die sich aus den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen folgern lassen, die unter fairen Bedingungen im Urzustand gewählt wurden. Der Schleier des Nichtwissens trägt dafür Sorge, ein System von Rechten und Freiheiten ohne Ansehen von Herkunft, Stand, Religion, Hautfarbe, Geschlecht oder Ansehen der individuellen historischen Position (Rawls 1971, 137) zu begründen. Mit Political Theory and International Relations (Beitz 1979) hat Charles R. Beitz bereits 1979 eine kosmopolitische Interpretation der Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit vorgelegt.

A. M. Bock (*)  Akkon Hochschule für Humanwissenschaften, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

Auch Thomas Pogge hat sich in seinem 1989 erschienen Realizing Rawls (Pogge 1989) eine solche Deutung der Rawlsschen Theorie zu eigen gemacht. Rawls selbst hat eine globale Ausweitung seiner Theorie nie im Sinn gehabt. Das zeigt das Recht der Völker, die Ausformulierung seiner 1993 gehaltenen Amnesty Lecture (Rawls 1993), mit aller Deutlichkeit: Erstens verlangt das Recht der Völker weder eine demokratische Ordnung noch die Garantie liberaler Freiheiten (Rawls 2002, 176 f.); zweitens formuliert es kein globales Prinzip distributiver Gerechtigkeit, das analog zum Differenzprinzip unmittelbar die Ärmsten der Armen begünstigt, sondern begnügt sich mit einer „Pflicht zur Unterstützung“ (ebd., 141–143); drittens präsentiert Rawls eine Menschenrechtskonzeption, die keine liberalen Rechte einschließt und als Grundlage eines weitreichenden Toleranzgebots liberaler Gesellschaften gegenüber nichtliberalen Gesellschaften dient (ebd., 8). Damit scheint Rawls im Recht der Völker die liberalen Prinzipien der Theorie der Gerechtigkeit aufzugeben. Zum einen mache die Forderung, nichtliberale Gesellschaften zu tolerieren, wenn diese zumindest die Menschenrechte achten, das Recht der Völker blind für Ungerechtigkeiten in diesen Gesellschaften (Moellendorf 2002, 14). Da Rawls’ Menschenrechtskonzeption keine liberalen Rechte einschließt, könne eine Gesellschaft liberale Rechte

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_5

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verletzen und trotzdem keine Menschenrechte verletzen, also toleriert werden. Rawls begehe damit nichts weniger als einen Verrat am liberalen Credo (Sadurski 2003, 31). Zum anderen sei die Konstruktion des Rechts der Völker vom Ziel beeinflusst, auch von nichtliberalen Gesellschaften akzeptiert werden zu können (Moellendorf 2002, 14). Damit wäre das Konstruktionsverfahren selbst beschädigt. Im Folgenden versuche ich die zentralen Inhalte von Rawls’ Recht der Völker in Begriffen des Politischen Liberalismus zu entfalten. Denn das Recht der Völker ist keine Fortsetzung der Theorie der Gerechtigkeit und ihrer Aufgabenstellung, sondern es ist Rawls’ Versuch der globalen Anwendung seines politischen Liberalismus.

Zentrale Begriffe des Rechts der Völker Im Recht der Völker will Rawls zeigen, „how [liberal] principles can be implemented in a pluralistic, non-homogenous world, composed of liberal and non-liberal states“ (Sadurski 2003, 4). Im Politischen Liberalismus und im Recht der Völker stellt sich Rawls einem Grundproblem des Liberalismus: Ist es mit den liberalen Grundüberzeugungen vereinbar – zu deren Kern die Gewissens-, Religions- und Meinungsfreiheit gehören –, Andersdenkenden liberale Grundüberzeugungen aufzuzwingen? Im Recht der Völker ist dies die Frage, ob es eine liberale Pflicht gibt, „to enforce liberal rights over all the world“ (Freeman 2007, 300). Die Antwort, die Rawls im Politischen Liberalismus für dieses Problem findet – „das Prinzip der Toleranz auf die Philosophie selbst anzuwenden“ (Rawls 1998, 74) – und die im Recht der Völker die Gestalt des Toleranzgebots gegenüber nichtliberalen Gesellschaften annimmt, ist darum kein Betrug am Credo des Liberalismus, sondern dessen konsequente Anwendung. (I) Toleranz. Die Hauptaufgabe des Rechts der Völker als Ausweitung einer liberalen Konzeption auf eine Gesellschaft der Völker besteht darin, die Bedingungen zu formulieren, unter

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denen „liberale Völker nichtliberale Völker tolerieren müssen“ (Rawls 2002, 71 Hervh. durch den Autor). Dies ist eine Aufgabe, die auch eine liberale Gesellschaft erfüllen muss, will sie nicht gesellschaftliche Stabilität durch die Unterdrückung nichtliberaler, aber vernünftiger Lehren, also durch die Unterdrückung ihrer eigenen liberalen Prinzipien, gefährden (Freeman 2007, 185–187). Mit anderen Worten: So wie eine liberale Gesellschaft nichtliberale, aber vernünftige Lehren tolerieren und die Rechtfertigung einer Gerechtigkeitskonzeption auf die Anforderung eines vernünftigen Pluralismus abstimmen muss, so muss auch das Recht der Völker nichtliberale Gesellschaften unter bestimmten Bedingungen tolerieren. Andernfalls „fehlte es der Idee des politischen Liberalismus an der gebührenden Toleranz gegenüber anderen Möglichkeiten gesellschaftlicher Ordnung“ (Rawls 1998, 8). Bemerkenswert ist, dass Rawls ein substanziell-anspruchsvolles Verständnis von Toleranz hat: „Toleranz bedeutet in diesem Zusammenhang mehr, als bei der Einflussnahme auf ein Volk von politischen Sanktionen abzusehen […]. Toleranz bedeutet auch, diese nichtliberalen Völker als gleichberechtigte ordentliche Mitglieder einer Gesellschaft der Völker mit bestimmten Rechten und Pflichten anzuerkennen […]“ (Rawls 2002, 71 Hervorhebung A.B.). (II) Völker nicht Individuen. Das Recht der Völker betrachtet prima facie nicht Individuen, sondern „liberale, demokratische und achtbare Völker als die Akteure der Gesellschaft der Völker“ (Rawls 2002, 26), was überraschend ist, als dass eine Ausweitung des kontraktualistischen Arguments von der gesellschaftlichen auf die globale Ebene als nur logische Konsequenz die Ausweitung des Urzustandsarguments auf alle Individuen nach sich ziehen müsste. Eine solche Idee hat Rawls bereits im Entwurf seines Law of Peoples mit dem Hinweis verworfen, dass ein solcher ‚all-inclusive‘ Urzustand problematisch sei, weil er liberale Ideen als grundlegend voraussetze (Rawls 1993, 55). Problematisch wäre ein solches Vorgehen gerade aus liberaler Perspektive, da, wie Rawls selbst auch annimmt, in einem globalen Urzustand, in dem freie und

5  Das Recht der Völker (1999/2002)

gleiche Personen repräsentiert werden, der erste Gerechtigkeitsgrundsatz gewählt würde, der allen Personen die gleichen Grundrechte und Freiheiten zuspricht (Rawls 2002, 100). Nur dass dies bedeuten würde, „die Menschenrechte direkt aus einer politischen (moralischen) liberalen kosmopolitischen Gerechtigkeitskonzeption herzuleiten“ (ebd.). Und damit entscheiden die liberalen Gesellschaften über den Umweg einer liberalen Konzeption eines globalen Urzustandes, dass nichtliberale Gesellschaften, eben weil ihnen die liberalstaatliche Bedingung der Freiheit und Gleichheit der Bürger*innen fehlt, „stets irgendwelchen Formen von Sanktionen unterworfen werden dürfen“ (ebd.). Dies verstößt gegen die Idee der liberalen Toleranz, deren Aufgabe es ja gerade ist festzustellen, welche nichtliberalen Gesellschaften gleichberechtigte Mitglieder einer Gesellschaft der Völker sein können und damit ein Recht auf Selbstbestimmung und Nichteinmischung genießen (ebd., 73). Der Fokus auf Völker verdankt sich der Einsicht, dass es die Grundstruktur eines Gemeinwesens ist, die darüber entscheidet, ob und unter welchen Bedingungen Kooperation stattfindet, wie Rechte und Pflichte zugeordnet und wie die Ergebnisse sozialer Koexistenz innerhalb des Gemeinwesens verteilt werden (Freeman 2007, 31). Das Gemeinwesen ist der Ort, an dem die grundlegenden Rechte des Einzelnen wahrgenommen und auch geschützt werden können. In diesem Sinne hat Hannah Arendt von dem grundlegenden Recht eines Menschen gesprochen, Rechte zu haben; ein Recht, das nur das politische Gemeinwesen gewährt (Arendt 1986, 462). Zu Recht legt Rawls den Fokus seiner Theorie globaler Gerechtigkeit daher auf politische Gemeinwesen, denn sie sind der Ort, an dem die Rechte und Freiheiten der Menschen als Bürger*innen geschützt werden können (Bock 2008, 44). (III) Menschenrechte. Über die Achtbarkeit und Tolerierbarkeit einer nichtliberalen Gesellschaft entscheidet – neben dem Kriterium der Friedfertigkeit – die Achtung der Menschenrechte (Rawls 2002, 80). Eine Konzeption, die auf grundlegende liberale Rechte verzichtet

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(ebd., 96–98), verweigert sich Rawls doch ausdrücklich der Begründung der Menschenrechte über eine spezifische Konzeption des Menschlichen (ebd., 83). Rawls’ Ziel ist es, die Konzeption der Menschenrechte als freistehend zu begründen, so dass sie nicht „als etwas ausschließlich Liberales oder der westlichen Tradition Zugehöriges zurückgewiesen werden [kann]“ (ebd., 80). Daher verwirft er Artikel I der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Dabei ist es wichtig im Auge zu behalten, was Rawls’ liberale Kritiker*inner mitunter nicht zu tun scheinen, dass Rawls die achtbare Gemeinwohlvorstellung hierarchischer Gesellschaften nur als „Minimalidee“ (ebd., 82) ansieht. Achtbare hierarchische Gesellschaften sind keine liberalen Gesellschaften (ebd., 101) und darum für Rawls auch „guilty of injustice“ (Freeman 2007, 299). Zu sagen, wir tolerieren achtbare Gesellschaften heißt nicht, dass wir die Werte, für die diese Gesellschaften stehen, gutheißen würden: „Toleration implies that one believes that the persons or practices tolerated are wrong in some important respect“ (ebd., 304). Dennoch erkennen wir mit der Idee der liberalen Toleranz an, dass es trotz bestehender Ungerechtigkeit – und das Fehlen liberaler Prinzipien stellt für Rawls eine Ungerechtigkeit dar – gute Gründe gibt, „nicht auf liberalen Grundsätzen für alle Gesellschaften zu bestehen“ (Rawls 2002, 75). (IV) Politischer Liberalismus. Mit der Forderung, liberale Grundsätze nicht zur conditio sine qua non für die Achtbarkeit und Tolerierbarkeit von Gesellschaften zu machen, rekurriert Rawls auf die grundlegende Idee des politischen Liberalismus, dass die von Bürger*innen in einer liberalen Ordnung bejahten vernünftigen Lehren nicht zwangsläufig liberale Lehren sein müssen (ebd., 132–134). Auch nichtliberale Lehren können als vernünftig angesprochen werden, wenn sie in der Lage sind, die politische Ordnung und ihre Regeln aus je eigenen Gründen zu bejahen, was aber nicht bedeutet, dass diese Lehren darum liberale Grundüberzeugungen inkorporieren müssten. Im Recht der Völker geht Rawls zwar nicht so weit, auch nichtliberale Gesellschaften als ebenso

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vernünftig und gerecht zu bezeichnen wie eine liberale Gesellschaft (ebd., 101). Allerdings betont er mit Blick auf achtbare Gesellschaften, dass es einen Spielraum gibt „zwischen dem völlig Unvernünftigen und dem völlig Vernünftigen“ (ebd., 91). Während liberale Gesellschaften dem letzteren zuzuordnen sind, weil sie ‚volle und gleiche Gewissensfreiheit‘ garantieren, sind Schurkenstaaten dem ersteren zuzuordnen (ebd.). Achtbare Völker, die ihren Bürgern „ein hinreichendes Maß an Gewissens-, Religions- und Gedankenfreiheit“ (ebd., 90) garantieren, auch wenn dies natürlich keine allgemeine und gleiche Freiheit ist, qualifizieren sich als „nicht völlig unvernünftig“ (Rawls 2002, 91; 2007, 281). Auf der Ebene der internationalen Beziehungen bedeutet dies, dass man zwar liberale und demokratische Prinzipien favorisieren mag, als Ergebnis eben dieser Überzeugung aber auch anerkennen muss, dass eine Überzeugung kein Argument ist (Rawls 2002, 55). Aus nichtwestlicher Perspektive könnte man, unter Verweis auf die eigene gesellschaftliche Verfassung und eigene Überzeugungen, ebenso nichtliberale Prinzipien favorisieren, die sich an religiösen Geboten oder dynastischen Strukturen orientieren. Gerade aus liberaler Perspektive ist dies ein ernster Einwand, bildet er doch die für jede liberale Gesellschaft fundamentale Herausforderung ab, dass über grundlegende politische, philosophische, moralische und religiöse Fragen gerade keine einheitlichen Ansichten zu erwarten sind. Das verhindern die für eine liberale Gesellschaft konstitutiven liberalen Freiheiten und Rechte. Es gehört zu den liberalen Grundüberzeugungen, dass jede*r innerhalb der Grenzen einer liberalen Verfassung den eigenen politischen, philosophischen, moralischen und religiösen Überzeugungen anhängen kann; egal ob sie liberal oder nichtliberal sind. Vor diesem Hintergrund kann man Rawls’ Recht der Völker als Versuch lesen, allgemein akzeptable Prinzipien einer Außenpolitik zu begründen (ebd., 117 f.), die ihre liberal-demokratische Herkunft nicht verleugnet, ohne damit aber den Anspruch zu verbinden, „dass alle nichtliberalen Gesellschaften in angemessener

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Weise mit Sanktionen der einen oder anderen Form – politischen, wirtschaftlichen oder sogar militärischen – belegt werden müssen […] bis schließlich (im Idealfall) alle Gesellschaften liberale Gesellschaften sind“ (ebd., 72). Es ist genau diese Position, die Rawls in seinem Recht der Völker infrage stellt: „Wie können wir wissen, bevor wir versucht haben, ein vernünftiges Recht der Völker auszuarbeiten, dass nichtliberale Gesellschaften ceteris paribus angemessenerweise [sic!] mit politischen Sanktionen belegt werden dürfen?“ (ebd.).

Die Anwendungsbedingungen des Rechts der Völker Rawls unterscheidet fünf Arten staatlicher Gesellschaften: liberale und achtbare staatliche Gesellschaften, Schurkenstaaten, belastete Gesellschaften und wohlwollende Absolutismen (ebd., 2). Die Beziehungen der Bürger*innen der liberalen sowie der nichtliberalen, aber achtbaren Gesellschaften werden auf Grundlage gemeinsamer Ideen, Werte oder Überzeugungen geregelt. Dies können politische Werte sein, wie im Fall der liberalen Gesellschaft, oder Werte einer umfassenden (auch religiösen) Gemeinwohlvorstellung, wie im Fall der achtbaren, nichtliberalen Gesellschaft. Diese Grundlage geteilter Ideen, Werte oder Überzeugungen ermöglicht eine gemeinsame, öffentliche Gerechtigkeitskonzeption. Darum nennt Rawls liberale und achtbare Gesellschaften auch „wohlgeordnete Völker“ (ebd., 78). Als wohlgeordnet gilt eine Gesellschaft, „die von einer öffentlichen [politischen] Gerechtigkeitskonzeption wirksam reguliert wird“ (Rawls 2007, 62), unabhängig davon, um welche Art von Konzeption es sich dabei handeln mag. Schurkenstaaten dagegen lehnen es ab, „ein vernünftiges Recht der Völker zu befolgen“ (Rawls 2002, 3), d. h. sie verfolgen eine aggressive Außenpolitik und missachten die Menschenrechte (ebd., 114). Wohlwollende Absolutismen achten zwar die Menschenrechte, gestehen ihren Mitgliedern aber „keine nennenswerte Rolle in der politischen

5  Das Recht der Völker (1999/2002)

Entscheidungsfindung [zu]“ (ebd., 78). Belastete Gesellschaften sind durch historische, soziale und wirtschaftliche Umstände so eingeschränkt, dass sie „ein wohlgeordnetes, liberales oder achtbares Regime“ (ebd., 114) nur schwer oder gar nicht verwirklichen können. Keine der drei zuletzt genannten Gesellschaftsformen bietet folglich die Voraussetzungen, für die Ausarbeitung einer öffentlich anerkannten Gerechtigkeitskonzeption. Im Einzelnen zeichnen sich achtbare, nichtliberale Staaten dadurch gegenüber anderen nichtliberalen Staaten aus, dass sie nicht aggressiv sind, die Menschenrechte achten, ein Rechtssystem haben, das auf eine Gemeinwohlvorstellung der Gerechtigkeit gegründet ist und den Grundanforderungen der Rechtsstaatlichkeit entspricht, sowie die institutionelle Möglichkeit bieten, Dissens zu äußern (ebd., 82, 108). Mit dem Recht auf Dissens ist auch die Anforderung verbunden, dass ein achtbares Volk ein Recht auf Auswanderung einräumen muss (ebd., 82, 90, 108). Rawls selbst diskutiert im Recht der Völker nur den Sonderfall eines ‚achtbaren hierarchischen Volkes‘, bei dem die institutionelle Form, Dissens zu äußern, über eine Konsultationshierarchie gewährleistet wird. Das soll aber nicht bedeuten, dass dies die einzige mögliche Form eines achtbaren Volkes ist (ebd., 77 f.). Diese Mindestanforderungen werden natürlich auch von einem liberalen Volk erfüllt (ebd., 78). Die Achtung der Menschenrechte ist eine der Minimalbedingungen, die ein nichtliberaler Staat erfüllen muss, um als achtbar zu gelten. „[D]as Rechtssystem eines achtbaren hierarchischen Volkes [gewährleistet] mit seiner Gemeinwohlvorstellung der Gerechtigkeit für alle Mitglieder des Volkes […], was wir inzwischen die Menschenrechte nennen“ (ebd., 80). Problematisch in den Augen der Kritiker*innen ist, dass Rawls’ Konzeption der Menschenrechte selbst nur eine unakzeptable Minimalkonzeption sei (Tasioulas 2002, 382). Und tatsächlich verzichtet Rawls auf grundlegende liberale Rechte (Rawls 2002, 96–98), die aber sehr wohl Bestandteil existierender Menschenrechtskonventionen und Menschenrechtsabkommen sind (zu nennen sind etwa das Recht auf Meinungs-

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freiheit oder das Recht auf politische Freiheit). Als Menschenrechte qualifizieren sich im Recht der Völker lediglich „das Recht auf Leben (auf das für die eigene Subsistenz und Sicherheit Nötige), auf Freiheit (die Freiheit von Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit und ein hinreichendes Maß an Gewissensfreiheit, um die Religions- und Gedankenfreiheit zu garantieren), auf persönliches Eigentum und formale Gleichheit (das heißt, dass gleiche Fälle gleich behandelt werden)“ (ebd., 80). Tatsächlich habe Rawls damit, kritisiert Buchanan, den Gehalt der internationalen Menschenrechtsabkommen um mehr als 50 % reduziert (Buchanan 2006, 150). „Rawls has taken a serious step backward from recent hardwon advances and from the possiblity of using global forums to bring about change in a liberal democratic direction“ (Kuper 2000, 665 Hervorhebung A.B.). Rawls’ Konzeption der Menschenrechte scheint darum nichts weiter zu sein als ein Zugeständnis an nichtliberale Gesellschaften, die, würde die Liste der Menschenrechte auch liberale Rechte umfassen, dem Recht der Völker eben nicht zustimmen würden (Kuper 2000, 643). „It is not too uncharitable, therefore, to say of Rawls’s global theory that it is inspired more by the need to accommodate representatives of DHSs [decent hierarchical societies], to ensure that his law of peoples can be endorsed by some nonliberal states as well, than by the goal of achieving stability for the right reasons“ (Tan 2000, 31 Hervorhebung im Original). Was bedeuten würde, eigentlich höchst problematische innerstaatliche Praktiken als achtbar aufzuwerten. Eine sorgfältige Rekonstruktion von Rawls’ Menschenrechtskonzeption allerdings wird das Gegenteil erweisen: Rawls’ Menschenrechtsminimalismus ist, sowenig wie die Forderung nach Tolerierung nichtliberaler, aber achtbarer Gesellschaften, Ausdruck eines modus vivendi, eines Zugeständnisses an nichtliberale Gesellschaften, sondern Ausdruck eines „liberal law of peoples“ (Reidy 2006, 179), das den Menschenrechten die Aufgabe eines Imperatives der Außenpolitik zuweist (Kelly 2004, 179–182). Denn alle Staaten müssen die Menschenrechte

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nach innen wie nach außen, d. h. in ihren Beziehungen zu anderen Gesellschaften und im Umgang mit ihren Bürger*innen, achten, wollen sie gleichberechtigte Mitglieder einer Gesellschaft der Völker sein. Umgekehrt legitimiert die Verletzung der Menschenrechte achtbare und liberale Völker zu Sanktionen und, in letzter Konsequenz, auch zu Interventionen (Rawls 2002, 9).

A. M. Bock

geteilter Gründe bejaht wird oder zumindest vernünftigerweise bejaht werden kann (Reidy 2006, 178). An dieser Stelle kommt den Menschenrechten eine Schlüsselfunktion zu. „Rawls aims to show that basic human rights stand or could stand as one focal point of an overlapping consensus within the public political culture of international relations“ (ebd.).

Das Erbe des Politischen Liberalismus

Notwendige Bedingungen der Kooperation

Wie kommt Rawls zu seiner minimalistischen Konzeption der Menschenrechte, und wie begründet er sie? Rawls versteht das Recht der Völker als die Ausweitung einer liberalen Gerechtigkeitskonzeption für eine liberale Binnenordnung auf eine Gesellschaft der Völker (ebd., 62). Damit macht Rawls die Anforderungen an eine liberale Gerechtigkeitskonzeption auch zu Anforderungen für ein Recht der Völker. Dieses muss sich dem Faktum eines vernünftigen Pluralismus liberaler und nichtliberaler Gesellschaften stellen und darum als eine freistehende Konzeption der Unterstützung eines übergreifenden Konsenses (liberaler und nichtliberaler Völker) fähig sein (ebd., 62). „Because liberal democratic peoples share a fundamental practical commitment to reciprocity between moral agents, whether corporate or natural persons, the law of peoples must be publicliy justifiable to all those subject to it. Reciprocity is […] a root moral norm. (Reidy 2006, 177). Folglich, was man als das Erbe des politischen Liberalismus im Recht der Völker bezeichnen kann, dürfen liberale Gesellschaften den nichtliberalen aber achtbaren Gesellschaften die Prinzipien des Rechts der Völker nicht einfach vorschreiben. Vielmehr ist es ihre Pflicht als liberale Gesellschaften sich zu vergewissern, „dass die liberalen Grundsätze der Außenpolitik auch von einem achtbaren nichtliberalen Standpunkt aus gesehen vernünftig sind“ (Rawls 2002, 67). Es ist die Bedingung der Reziprozität im Recht der Völker, die eine Gesellschaft der Völker verlangt, deren Struktur von öffentlichen Regeln geleitet wird, die aufgrund gemeinsam

Was aber sind Menschenrechte eigentlich, wenn Rawls sie nicht von einer wie auch immer gearteten Konzeption des Menschen ableitet? Menschenrechte sind „eine Klasse besonders dringlicher Rechte“ (Rawls 2002, 96). Ihre Verletzung wird „gleichermaßen durch vernünftige liberale Völker und durch achtbare hierarchische Völker verurteilt“ (ebd.). Diesen Status erhalten sie durch Rückgriff auf die grundlegende Idee der sozialen Kooperation: „Was wir heute als Menschenrechte bezeichnen, sind anerkannterweise [sic!] notwendige Bedingungen jedes Systems sozialer Kooperation. Werden sie regelmäßig verletzt, haben wir auf Gewalt gestützte Befehle, ein Sklavensystem, und keine Kooperation irgendeiner Art“ (ebd., 83). Im Recht der Völker benennen die Menschenrechte die Minimalbedingungen eines wechselseitig vorteilhaften Systems sozialer Kooperation, die in einer nichtliberalen Gesellschaft garantiert sein müssen, damit diese ein Recht auf Nichtintervention und Selbstverwirklichung hat (ebd., 97). Als solches lässt sich Rawls’ Konzeption freistehend, mit Bezug auf die praktische Funktion begründen. Ein funktionales Verständnis von Menschenrechten erlaubt es, die Frage nach der Aufgabe von der Frage ihres Ursprungs zu trennen. Als freistehende Konzeption zielen die Menschenrechte auf keine inhaltliche, sondern auf eine funktionale Gemeinsamkeit der Staaten als wechselseitig vorteilhafte Systeme der Kooperation: die Garantie der Minimalbedingungen, die für ein solches System der Kooperation mindestens nötig sind. Diese Vorstellung der Menschenrechte im

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engeren Sinne reflektiert auf die Vorstellung der politischen Gerechtigkeit, wie Rawls sie im Politischen Liberalismus entwickelt: „Menschen mögen über die Bedeutung des Gerechtigkeitsbegriffs übereinstimmen und sich gleichwohl nicht einig sein, weil sie verschiedene Grundsätze und Standards bejahen, anhand deren sie über diese Dinge entscheiden“ (Rawls 1998, 80 Fn. 15). Die Funktion der Menschenrechte als Garant der Minimalbedingungen eines wechselseitig vorteilhaften Systems sozialer Kooperation kann als öffentliche Basis für die inhaltliche Ausgestaltung der Menschenrechtskonzeption dienen (Beitz 2004, 202). Wenn nichtliberale Gesellschaften achtbar sein wollen, müssen sie ihren Bürger*innen Bedingungen der Kooperation anbieten, denen diese öffentlich und vernünftigerweise zustimmen können und von denen sie profitieren, was aber nicht bedeutet, den Einzelnen als frei und gleich anzusehen. Die Menschenrechte müssen eben nicht in allen Gesellschaften gleichermaßen als Individual- oder Bürgerrechte verwirklicht werden. Dennoch lässt sich sowohl aus dem Recht auf Leben (Rawls 2002, 233 Fn. 1) wie auch aus der durch die Bedingung der Reziprozität normativ aufgeladenen Anforderung an eine achtbare Gesellschaft, ein wechselseitig vorteilhaftes System sozialer Kooperation zu sein, ein Fokus auf das Individuum ableiten. Auch bei Rawls sind die Individuen Träger*innen der Menschenrechte und als solche müssen sie sie gegenüber den politischen Körperschaften zur Geltung bringen können, denen sie angehören (Bock 2008, 66; Reidy 2006, 174 f.). Wie aber soll das in einer achtbaren, aber nichtliberalen Gesellschaft funktionieren, fehlen hier doch die liberalstaatlichen Möglichkeiten, staatliche Praxis infrage zu stellen? Deutlich wird dies am wohlwollenden Absolutismus, den Rawls dadurch kennzeichnet, dass er zwar die Menschenrechte achtet, seinen Mitgliedern (von Bürger*innen zu sprechen macht hier keinen Sinn) aber keine politischen Mitwirkungsrechte zugesteht (Rawls 2002, 78). Dass wohlwollende Absolutismen die Menschenrechte achten, kann nicht bedeuten, „that they honor

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basic human rights as rights, since the subjects in such a regime lack the political participation rights necessary to be able to insist on the content of their basic human rights as a matter of right or of their right“ (Reidy 2006, 176). Die Mitglieder dieser Regime kommen in den Genuss der Menschenrechte dank des Wohlwollens der Herrscher*innen. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu einer achtbaren Gesellschaft, die zumindest über eine Konsultationshierarchie verfügt. Die Bürger*innen einer achtbaren hierarchischen Gesellschaft haben, da dort nicht nur die Menschenrechte gesichert sind, sondern die politische Struktur eine zumindest korporatistische Partizipation vorsieht, die Möglichkeit der Kritik und des Dissenses, die öffentlich, legal und institutionell ist, also nicht vom Wohlwollen der Herrscher*innen abhängt, sondern Bestandteil der politischen Ordnung selbst ist. Dennoch: Achtbare Gesellschaften sind nicht völlig gerecht (Rawls 2002, 101). Ihnen mangelt es an für eine liberale Gesellschaft konstitutiven individuellen Freiheiten und Rechten. Darum scheint der Verdacht nur allzu begründet, dass mit der Tolerierung achtbarer Gesellschaften auch enorme binnenstaatliche Ungerechtigkeiten toleriert werden. Was unmittelbar mit Rawls’ Menschenrechtsminimalismus zusammenhängt, verzichtet dieser doch auf individuelle liberale Rechte und Freiheiten (Bock 2008, 68).

Menschenrechtsminimalismus? Ein differenzierter Blick auf die Liste der Rechte, die Rawls vorlegt, zeigt, dass diese gar nicht so kurz ist. So zählen neben den von Rawls aufgeführten Rechten auch die Artikel 3 bis 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu seiner freistehenden Menschenrechtskonzeption (Rawls 2002, 236 Fn. 23). Diese Rechte garantieren beispielsweise das Rechtsstaatsprinzip und den Schutz vor Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Strafe (Bock 2008, 71–77). Hinzu kommen Rechte „die offensichtliche Konsequenzen der ersten Klasse von Rechten darstellen“ (Rawls 2002, 236 Fn.

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23). Diese zweite Klasse deckt Extremfälle ab, auf die die Spezialkonventionen zu Genozid und Apartheid reagieren. Zudem gibt es weitere Rechte, die sich aus der ersten Klasse von Menschenrechten ableiten lassen. So kennt die von Rawls genannte Liste keinen Schutz vor erzwungener Selbstanklage. Allerdings wäre die Unschuldsvermutung aus Art. 11 AEMR wertlos, würde sie nicht mit einem Schutz vor erzwungener Selbstanklage korrespondieren und hätte dieser Anspruch nicht den Rechtsstatus als Menschenrecht (Reidy 2006, 170 f.). Folglich sind die schlimmsten von Simon Caney genannten Formen gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten, wie rassistische Diskriminierung oder ethnische Säuberungen (Caney 2002, 102), oder die von Kok-Chor Tan genannte Kasten-Gesellschaft (Tan 2000, 37) nicht mit Rawls’ Menschenrechtskonzeption zu vereinbaren. Denn eine auf Ausbeutung gegründete Gesellschaft ist gerade kein wechselseitig vorteilhaftes System der Kooperation, und damit – da Rawls die Menschenrechte als notwendige Bedingung eines jeden Systems sozialer Kooperation beschreibt – ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Die Kopplung von Menschenrechten und sozialer Kooperation rechtfertigt „not merely a right against slavery or servitude, but also a right against systematic exploitation, for systematic exploitation is simply the institutionalized but avoidable failure of mutual advantage“ (Reidy 2006, 172). Aber selbst wenn die genannten Formen gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten nicht gegen die Menschenrechte verstoßen würden, „then the implications of any common good conception of justice conjoined with the general acceptability of terms of cooperation within decent societies should prohibit them“ (Freeman 2007, 262). Es ist unmöglich, sich eine praktikable Gemeinwohlvorstellung zu denken, die Begriffe wie Apartheid oder ethnische Säuberung beinhaltet, die zudem noch gegen diejenigen gerichtet sind, die zugleich von dieser Form der gesellschaftlichen Organisation profitieren sollen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Rawls’ Menschenrechtskonzeption keinen unakzeptablen Minimalismus darstellt. Sie deckt

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den Kernbereich der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ab: • das Recht auf Sicherheit und individuelle Freiheit, wobei sich natürlich liberale und achtbare Gesellschaften in der Ausgestaltung dieser Freiheiten unterscheiden (Rawls 2002, 80, 91); • das Recht auf politische Freiheit, die aber nicht in Form einer liberalen Demokratie verwirklicht werden muss; • die Bedingung der Rechtsstaatlichkeit; • das Recht auf einen ausreichenden Lebensstandard (Rawls 2002, 233 Fn. 1, 229 Fn. 47). Als notwendige Bedingung eines wechselseitig vorteilhaften Systems der Kooperation kommt den Menschenrechten als freistehende Konzeption eine dreifache legitimatorische Aufgabe zu, die die klassische staatliche Souveränität nach innen und außen beschränkt. Die Achtung der Menschenrechte ist erstens „eine notwendige Bedingung der Achtbarkeit der politischen Institutionen einer Gesellschaft und ihrer rechtlichen Ordnung“ (Rawls 2002, 97). Sie ist zweitens „hinreichend, um eine gerechtfertigte zwangsweise Intervention durch andere Völker auszuschließen“ (ebd.), aber umgekehrt legitimiert die Missachtung der Menschenrechte diplomatische, wirtschaftliche und militärische Sanktionen (ebd., 98 f.). Und drittens setzt die Achtung der Menschenrechte „dem Pluralismus unter Völkern Grenzen“ (ebd., 97). Damit antwortet Rawls’ Menschenrechtskonzeption auf die für das Recht der Völker drängendste Frage: Welche anderen Gesellschaften müssen liberale Völker als mit dem gleichen Recht auf Selbstbestimmung und Nicht-Intervention anerkennen (Reidy 2006, 174)? Zwar soll Rawls’ Menschenrechtskonzeption als Kristallisationskern eines übergreifenden Konsenses von liberalen und achtbaren nichtliberalen Gesellschaften dienen, sie darf aber nicht Ergebnis einer empirischen Suche nach möglicher Übereinstimmung von liberalen und achtbaren Gesellschaften sein. Das hieße, die Konzeption der Menschenrechte auf die falsche Weise politisch zu machen (Rawls 1998,

5  Das Recht der Völker (1999/2002)

110). Für Rawls ist die freistehende Menschenrechtskonzeption die Konzeption, auf die sich die Repräsentant*innen liberaler wie auch achtbarer Gesellschaften in zwei unabhängigen Urzustandsargumenten unter dem Schleier des Nichtwissens einigen würden. Dieses Vorgehen erscheint prima facie wenig überzeugend, ist doch anzunehmen, dass sich die Repräsentant*innen liberaler Gesellschaften nicht nur auf eine Minimalkonzeption der Menschenrechte einigen würden, sondern liberalen Rechten und Freiheiten den Status von Menschenrechten zuerkennen würden. Hier kommt die legitimatorische Funktion die Menschenrechte ins Spiel: Denn die Repräsentant*innen wissen, dass keine der von ihnen repräsentierten Gesellschaften perfekt liberal ist oder zumindest, dass zwischen den liberalen Gesellschaften Unstimmigkeit darüber besteht, wie eine liberale Gesellschaft aussehen soll (Bock 2008: 79–81). Und da es zu den grundlegenden Interessen der von ihnen vertretenen Völker zählt, ihre politische Unabhängigkeit, ihre jeweilige liberale Kultur und ihre territoriale Integrität zu bewahren (Rawls 2002, 38), werden sich die Repräsentant*innen dieser Völker kaum auf eine Liste dezidierter liberaler Rechte und Freiheiten mit dem Status von Menschenrechten einigen können, wenn deren Verletzung Sanktionen gegen die jeweilige Gesellschaft legitimiert: „Any such agreement would unaccceptably encroach on the political self-determination of the peoples represented and invite the resolution of reasonable international disagreements through force cut free of shared or potentially shared reasons“ (Reidy 2006, 179). Wäre es nicht dennoch vernünftigerweise zu erwarten, dass sich die Repräsentant*innen liberaler Gesellschaften zumindest auf allgemeine liberal-demokratische Prinzipien einigen würden, wie etwa das Recht auf demokratische Beteiligung oder gleiches Stimmrecht? Die Folge einer solchen Konzeption der Menschenrechte wäre es, dass Staaten, auch wenn sie den freistehenden (Minimal-)Bereich der Konzeption erfüllen, dennoch keinen Schutz vor Intervention für sich in Anspruch nehmen könnten. Und dies würde beispielsweise für die USA von

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heute gelten, wenn man eine Wahlkampfkostenerstattung als notwendige Bedingung für die Wahrnehmung der grundlegenden politischen Freiheit ansieht (ebd., 179 f.). Darum ist es nicht unvernünftig anzunehmen, dass sich die Repräsentant*innen von liberalen Gesellschaften bei der Bestimmung der angemessenen Menschenrechtskonzeption von folgender Frage leiten lassen: Was sind die Minimalbedingungen, auf die sich liberale Völker einigen können, um den Anspruch auf Selbstbestimmung und Nicht-Intervention zu rechtfertigen (ebd., 180)? Rawls’ freistehende Konzeption der Menschenrechte als notwendige Bedingung eines wechselseitig vorteilhaften Systems der Kooperation gibt darauf eine zumindest nicht unvernünftige Antwort. Erstens liefert diese Konzeption der Menschenrechte die Grundlage für eine vernünftige, d. h. der Bedingung der Reziprozität entsprechende Einschränkung der Souveränität politischer Körperschaften nach innen und nach außen, sowie für eine Beschränkung des Pluralismus der Völker. Und zweitens kann diese Konzeption darum, eben weil sie freistehend ist, also ohne direkten Bezug auf westliche Werte und Traditionen auskommt, zum Ausgangspunkt eines übergreifenden Konsenses über ein Recht der Völker werden, das einem vernünftigen Pluralismus der Völker gerecht wird.

Zur Diskussion des „Rechts der Völker“: Menschenrechte als Imperative der Politik? Die Frage ist nun aber, ob die von Rawls entwickelte Konzeption der Menschenrechte ihrer Aufgabe gerecht werden kann, ein wechselseitig vorteilhaftes System der Kooperation zu verwirklichen. Und inwieweit das Recht der Völker hierbei die Funktion einer Richtschnur für außenpolitisches Handeln übernehmen kann. Am Beispiel der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, R2P) möchte ich diese Fragen diskutieren. Menschenrechte sind die Richtschnur legitimer Politik; vielmehr: sie sollten es sein. Wann

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immer Menschenrechte missachtet oder verletzt werden, ist dies ein starker Hinweis auf eine Politik unter Rechtfertigungsdruck. Als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 17.3.2011 die Resolution 1973 verabschiedet hat, hat er darin das Verhalten des Gaddafi- Regimes als ‚crimes against humanity‘ und als illegitim disqualifiziert und militärische Gegenmaßnahmen zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung autorisiert. Der Sicherheitsrat hat mit der Resolution 1973 nicht nur erstmals das Konzept der R2P völkerrechtlich verbindlich angewendet, er hat damit auch den Schutz der Menschenrechte innerhalb des UN-Systems auf eine höhere Stufe gehoben. Eigentlich ist die Frage der Menschenrechte, ob sie in einem Staat verletzt oder geachtet werden, gemäß Art. 2 Ziff. 7 UN-Charta eine Frage, die einer Intervention von außen entzogen ist. Menschenrechtspolitik aber bedeutet Einmischung. Genau das ist das Problem. Jede Intervention, umso mehr, wenn es sich um militärische Intervention handelt, steht unter einem enormen Rechtfertigungsdruck, warum die Anwendung der R2P nicht nur auf Unterstützung gestoßen ist. Tatsächlich ist die Frage nach dem Geltungsanspruch der Menschenrechte in der (inter-)nationalen Politik von höchster praktischer Relevanz. Rawls’ Konzeption der Menschenrechte formuliert die Minimalbedingung für ein System wechselseitig vorteilhafter Kooperation; als solche adressieren sie die einzelnen Teilnehmer*innen dieses Kooperationssystems. Um als achtbar zu gelten, müssen Gesellschaften die Rechte ihrer Mitglieder schützen, die unverzichtbar für ein System wechselseitig vorteilhafter Kooperation sind. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass die Gesellschaft die Pflicht hat, den rechtmäßigen Anspruch – Erfüllung eines Menschenrechts – zu erfüllen. Damit hat Rawls mit seinem Recht der Völker die Konzeption R2P philosophisch vorausgeahnt. Denn wenn es eine Pflicht zur Erfüllung rechtmäßiger Ansprüche (Rechte) gibt, reicht es gerade nicht aus, lediglich alles zu unterlassen, was diese (Menschen-)Rechte verletzen würde. Nehmen wir als Beispiel das Recht auf Leben: Selbst wenn ein Mensch in einem Land

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nicht getötet wird, die Machthaber*innen also aktiv nichts unternehmen, um ihn zu töten, heißt dies nicht, dass das Recht auf Leben gesichert wäre – wenn es an geeigneten Maßnahmen fehlt, dieses Recht auch aktiv zu schützen. So können beispielsweise die Rechte einer Minderheit von einem Staat aktiv verletzt werden, wenn es dieser unterlässt, die Mitglieder der Minderheit vor der Gewalt anderer zu schützen. Das Menschenrecht auf Leben begründet, als Rechtsanspruch auf Leben, verschiedene diesem Anspruch korrespondierende Pflichten: die unmittelbare (primäre) negative Pflicht, nicht zu töten, oder nichts zu tun, was das Leben eines anderen gefährden oder dessen Schutz infrage stellen könnte, sowie die unmittelbare (primäre) positive Pflicht, Leben zu schützen oder Mittel zu seiner Bewahrung bereitzustellen. Verletzt man diese Pflichten, dann verletzt man auch das mit ihnen verbundene Recht. „Violating a human right […] consists in the non-fulfillment of rather clear-cut negative or positive duties that go along with the right and account for its respective regulative force“ (Hinsch und Stepanians 2006, 120). Ein Recht begründet aber nicht nur primäre negative wie positive Pflichten, es begründet auch sekundäre Pflichten. Das Recht auf Leben legt jeder*jedem die negative unmittelbare Pflicht auf, nicht zu töten; es kann aber auch in bestimmten Situationen bestimmten Personen die positive sekundäre Pflicht auferlegen, einem Menschen in Gefahr zu Hilfe zu kommen (ebd.). Wenn dieser Mensch angegriffen wird und die Staatsmacht, die für den Schutz des Lebens verantwortlich ist, in Gestalt von Polizist*innen nicht anwesend ist, dann haben die anwesenden Bürger*innen die sekundäre Pflicht, der*dem Angegriffenen zu Hilfe zu kommen. Wenn die Staatsmacht aber nicht in der Lage oder nicht willens ist, das Leben seiner Einwohner*innen oder eines Teils seiner Einwohner*innen zu schützen, dann begründet diese Unfähigkeit oder auch der Unwillen, die primäre Pflicht auf Schutz des Lebens der Menschen zu erfüllen, eine sekundäre Pflicht anderer Gesellschaften oder Staaten, dieses Recht zu schützen. Das heißt aber auch, dass nicht nur

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die Nichterfüllung primärer Pflichten eine Verletzung von Menschenrechten darstellt, sondern auch die Nichterfüllung sekundärer Pflichten. Die Erfüllung der Menschenrechte ist primäre Pflicht der jeweiligen Gesellschaft; kann oder will diese Gesellschaft diese Pflicht aber nicht erfüllen, dann begründen die Menschenrechte eine sekundäre Pflicht auf Hilfe und Unterstützung gegenüber den anderen Gesellschaften. Genau in diesem Sinne begründen die Menschenrechte, wie sie Rawls versteht, Imperative der Innen- und der Außenpolitik eines liberalen wie auch achtbaren Volkes. Nach innen müssen die Gesellschaften die Menschenrechte ihrer Mitglieder achten und für deren Umsetzung Sorge tragen. Nach außen begründen die Menschenrechte ebenfalls positive wie negative Pflichten. Sie begründen die positive Pflicht, was Rawls als „duty of assistance“ (Rawls 2002, 131–133) bezeichnet, belasteten Gesellschaften zu helfen, die selbst nicht in der Lage sind, zumindest achtbare politische Strukturen zu verwirklichen. Aber sie begründen auch eine negative Pflicht, Menschenrechtsverletzungen in anderen Gesellschaften nicht nur nicht zu unterstützen, etwa durch Waffenverkäufe oder Kredite, sondern auch die negative Pflicht, profitable Beziehungen mit diesen Regimen zu unterlassen. Was heißt das konkret? Zunächst begründen die Menschenrechte ein Recht auf Asyl: Wer verfolgt oder unterdrückt wird, hat nicht nur das Recht zu fliehen, sie*er hat auch das Recht auf Zuflucht in einem anderen Land. Dem Recht auf Asyl korrespondiert die Pflicht, Asylsuchende aufzunehmen. Hinzu kommt: Die Verletzung der Menschenrechte begründet das Recht auf Sanktionen – bis hin zu militärischen Interventionen (ebd., 97–99). Zwar beschränkt Rawls seine Ausführungen auf den Verteidigungsfall (ebd., 115, 238 Fn. 2). Allerdings folgt aus der Bedeutung der Menschenrechte für das Recht der Völker zwingend, dass deren Beachtung eine Gesellschaft nicht nur vor Sanktionen oder einer Intervention schützt, sondern dass deren Missachtung die Gesellschaft der Völker auch berechtigt, Maßnahmen zur Beendigung der Menschenrechtsverletzungen zu ergreifen. Ausdrücklich spricht

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Rawls auch ‚wohlwollenden Absolutismen‘ dieses Recht und damit auch das Recht auf Selbstverteidigung zu (ebd., 117). Dass die Menschenrechte als eine „Klasse besonders dringlicher Rechte“ sowohl der Rechtfertigung von Kriegen wie auch der internen Autonomie eines Regimes Grenzen setzen (ebd., 96 f.), bedeutet nur, dass die Verletzung der Menschenrechte erstens keine innere Angelegenheit ist, und, zweitens, eben darum ein Recht zur Kriegsführung begründen kann. Natürlich kann ein Recht auf Krieg keinen Automatismus der Kriegsführung bedeuten: wenn A (Menschenrechtsverletzung), dann B (Krieg). Die Entscheidung zum Krieg ist auch von Überlegungen politischer Klugheit abhängig, die vom Ziel geleitet werden müssen, den Schutz der Menschenrechte wiederherzustellen und zu gewährleisten (ebd., 117). In diesem Sinne lässt sich das Ideal der Staatsfrau bzw. des Staatsmannes interpretieren, welche*r auch für einen angemessenen Schutz der Menschenrechte Sorge zu tragen hat. Darum ist das langfristige Ziel des „Rechts der Völker“, alle Gesellschaften zu Mitgliedern einer wohlgeordneten Gesellschaft der Völker zu machen (ebd.), die die politische Autonomie ihrer Nachbar*innen achten und die Menschenrechte respektieren. Grundsätzlich hängt die Form der Reaktion von der Form des Problems ab: Kann ein Regime die Subsistenzrechte der Menschen nicht erfüllen, haben die wohlgeordneten Völker eine Pflicht zur Hilfe. Will ein Regime die Subsistenzrechte seiner Bevölkerung oder eines Teils seiner Bevölkerung aber nicht erfüllen, oder verhindert es die humanitäre Hilfe der wohlgeordneten Völker, dann begründet die Nichterfüllung der Subsistenzrechte als eine Verletzung der Menschenrechte in letzter Konsequenz auch ein Recht zur (militärischen) Intervention. Damit lässt sich der Vorwurf, Rawls’ Menschenrechtskonzeption sei zu nachgiebig gegenüber innergesellschaftlicher Ungerechtigkeiten, als ebenso unhaltbar zurückweisen wie die mit diesem Vorwurf verbundene Folgerung, das Gebot der Toleranz im Recht der Völker sei auf die falsche Weise neutral, oder im

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Sinne Rawls’, gegenüber der Grundstruktur der Gesellschaft (Rawls 2007, 31) gleichgültig (Pogge 1994, 217; Tan 2000, 29). Über die Forderung der Achtung der Menschenrechte erhebt das Recht der Völker den Anspruch der Verwirklichung einer wohlgeordneten Gesellschaft der Völker; ein Anspruch, den Rawls einerseits ohne Rückgriff auf liberale Werte formuliert, der aber andererseits sicherstellt, „that liberal democratic peoples are faithful to their distinctive moral points of view and honor their commitments to reciprocity“ (Reidy 2006, 179).

Abschließende Würdigung Ja, Rawls’ Konzeption der Menschenrechte kennt keine liberalen Rechte. Ja, Rawls’ Recht der Völker verweigert sich einem globalen Prinzip distributiver Gerechtigkeit. Und doch: Das Recht der Völker qualifiziert sich als eine Theorie globaler Gerechtigkeit. Jeder Mensch hat das Recht, in einer liberalen oder zumindest achtbaren Gesellschaft zu leben, die sich als Volk qualifiziert, d. h. als ein wechselseitig vorteilhaftes System sozialer Kooperation. Ein Recht, das die Gesellschaft der Völker sowohl aktiv als auch passiv zu schützen und zu gewährleisten in der Pflicht steht – durch Unterstützungsmaßnahmen, die der Ausbildung zumindest achtbarer politischer Institutionen dienen, durch die Schaffung und Achtung fairer Welthandelsbeziehungen und, in Extremfällen, durch den Einsatz von politischer und militärischer Gewalt. Natürlich, die Schaffung liberaldemokratischer Institutionen ist dabei keine legitime Option. Im Gegenteil: Einer Politik des democracy enforcement erteilt Rawls eine klare Absage; die Möglichkeit des peace enforcement sieht das Recht der Völker dagegen ausdrücklich vor (Rawls 2002, 97 f.). Gerade darin zeigt sich, was die meisten von Rawls’ Kritiker*innen zu übersehen scheinen, die liberale Abstammung des Rechts der Völker als Ausweitung einer liberalen Gerechtigkeitskonzeption auf den globalen Bereich: Als solches muss das Recht der Völker auch nichtliberale Gesellschaften innerhalb der

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Grenzen liberaler Toleranz respektieren. Warum auch der Vorwurf unbegründet ist, Rawls würde gesellschaftliche Ungerechtigkeiten als akzeptabel ansehen. Gesellschaftliche Ungerechtigkeiten sind weder mit der Menschenrechtskonzeption noch mit der Konzeption der Völker vereinbar. Allerdings sind auch zwischen-gesellschaftliche Ungerechtigkeiten wie unfaire Handelsbeziehungen oder der Missbrauch politischer und wirtschaftlicher Macht nicht mit dem Recht der Völker vereinbar. Auch das ein Punkt, der von der Rawls-Kritik überlesen wird. Mit dem Recht der Völker rückt Rawls die Sorge um das Wohlergehen aller Menschen in den Fokus. Das Ziel des Rechts der Völker ist es, die strukturellen Voraussetzungen für (zumindest) achtbare politische Institutionen in den Gesellschaften und faire politische und wirtschaftliche Institutionen und Praktiken zwischen den Gesellschaften zu schaffen. Damit macht es soziale Gerechtigkeit für alle Menschen zur Grundlage globaler Gerechtigkeit und reagiert so auf das drängendste Problem globaler Ungerechtigkeit: auf Hunger, Not und Elend, ohne dabei aber gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten indifferent gegenüberzustehen. Im Gegenteil. Das Recht der Völker schafft die Voraussetzungen für die politische Entwicklung eines Volkes, d. h. einer politischen Gesellschaft, die sich bereits als wechselseitig vorteilhaftes System sozialer Kooperation etabliert hat, jenseits der Forderung nach Erfüllung liberaler Standards. Auf dieser Grundlage kann auch ein nichtliberales, aber achtbares Volk seinen Weg der legitimen Selbstbestimmung in Übereinstimmung mit den Menschenrechten finden. Darin besteht die große, die eigentliche Leistung von Rawls’ Recht der Völker.

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Gerechtigkeit als Fairneß (2001/2003) Annette Förster

Einführung und Verortung In Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf (2001/2003)verfolgt John Rawls zwei Ziele: Erstens Mängel seiner theoretischen Konzeption zu beheben; er will Ideen besser darstellen, auf Einwände aus der Rezeption seiner Schriften reagieren und Fehler korrigieren; und zweitens seine über mehrere Jahrzehnte weiterentwickelte politische Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness zusammenführen und konzentriert darstellen (vgl. Rawls 2014, 13). Gerechtigkeit als Fairness muss daher vor dem Hintergrund des Rawlsschen Gesamtwerkes gelesen und interpretiert werden. So greift der Titel der letzten vor Rawls’ Tod erschienenen Monographie den Titel des 1958 in der Philosophical Review erschienenen Aufsatzes Justice as Fairness auf, der gleichzeitig die Bezeichnung für Rawls’ politische Konzeption werden sollte, wie er sie in Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971/1979) ausgearbeitet und in späteren Schriften weiterentwickelt hat. So können auch Politischer Liberalismus (1993/1998) und in Teilen Das Recht der Völker (1999/2002) als Neuentwürfe bzw. Weiterentwicklungen der Konzeption der ‚Gerechtigkeit als Fairness‘ gelesen werden.

A. Förster (*)  Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

Gerechtigkeit als Fairness ist in fünf Teile gegliedert mit insgesamt 60 Paragraphen, die sich auf rund 200 Seiten verteilen. Wie Erin Kelly im Vorwort beschreibt ist Gerechtigkeit als Fairness zu großen Teilen in den 1980er und frühen 1990er Jahren aus Vorlesungen entstanden, die Rawls in Harvard gehalten hat. Ideen aus anderen Schriften finden sich in Gerechtigkeit als Fairness daher in teils weniger entwickelter Form während andere hier ausführlicher behandelt werden. Aufgrund seiner Erkrankung konnte Rawls das Manuskript nicht fertigstellen, insbesondere die Teile IV und V. In Rücksprache mit Rawls wurden Veränderungen vorgenommen, ohne die Substanz des Textes zu ändern; so wurden etwa Verweise auf Teil VI, das Recht der Völker, entfernt, das 1999 als eigenständige Monographie erschien und nicht Teil von Gerechtigkeit als Fairness wurde. Gerechtigkeit als Fairness ist auf Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption für die wohlgeordnete Grundstruktur einer liberalen Demokratie beschränkt. Bekannte Rawlssche Ideen und Konstruktionen finden sich in Gerechtigkeit als Fairness: Repräsentant*innen von Mitgliedern einer liberalen Demokratie entscheiden im Rahmen einer Urzustandskonstruktion über grundlegende Gerechtigkeitsprinzipien, auf denen sie die Grundstruktur der wohlgeordneten Gesellschaft aufbauen. Sie werden als vernünftige und rationale, freie und gleiche Personen skizziert. Der Schleier des Nichtwissens verhüllt ihre Kennt-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_6

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nis über ihre Position innerhalb der Gesellschaft, ihr soziale Herkunft, Begabung, persönliche Überzeugungen etc., damit die zu bestimmenden Prinzipien fair und nicht auf die Interessen bestimmter Personen oder Gruppen oder Vorstellungen vom Guten zugeschnitten werden. Eine wichtige Entwicklung in Rawls’ Denken, die sich auch in Politischer Liberalismus findet, ist der Entwurf der ‚Gerechtigkeit als Fairness‘ als politische Konzeption, die vor dem Hintergrund eines vernünftigen Pluralismus umfassender Lehren im Rahmen eines übergreifenden Konsenses geteilt wird. Geändert habe sich, so Rawls selbst im Vorwort, im Vergleich zu Eine Theorie der Gerechtigkeit die Formulierung und der Inhalt der Gerechtigkeitsprinzipien, die Argumente für diese, die aus dem Urzustandsmodell entwickelt werden, sowie das Verständnis der ‚Gerechtigkeit als Fairness‘ als politische Konzeption und nicht als umfassende Lehre. Diese Veränderungen schreibt Rawls auch der Auseinandersetzung mit seinen Kritiker*innen zu – hinsichtlich des Vorrangs der Freiheiten des ersten Prinzips, der Gestaltung der Grundgüter oder der Konzeption der Bürger*innen als freie und gleiche. Im Folgenden werden die fünf Teile je kurz vorgestellt, um einen Überblick über die Schrift zu geben. Dieser ist grob gefasst und teils selektiv. In einem weiteren Schritt werden dann für den Neuentwurf und dessen Verständnis sowie Rezeption zentrale Konzepte ausgearbeitet.

Gerechtigkeit als Fairness – Ein Neuentwurf in fünf Teilen In Teil I referiert Rawls seine Grundideen bzw. zentralen Konzepte, die Schlüssel zum Verständnis seiner Gerechtigkeitskonzeption sind. Einige hiervon finden sich im vorliegenden Handbuch unter IV Begriffe und Konzepte und werden hier nicht ausgeführt; beispielhaft zu nennen sind die Ideen einer wohlgeordneten Gesellschaft (vgl. Rawls 2014, § 3), des Urzustands (vgl. ebd., § 6), des Überlegungsgleichgewichts (vgl. ebd.,

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§ 10,) oder des übergreifenden Konsens (vgl. ebd., § 11,). Diese finden sich teils ebenso in der 1. Vorlesung: Grundlegende Ideen aus Politischer Liberalismus (vgl. Rawls 1998, 67–118). Teil II beschäftigt sich mit dem Neuentwurf der Gerechtigkeitsprinzipien für die Grundstruktur einer wohlgeordneten demokratischen Gesellschaft. Dabei greift Rawls auf die in Teil I skizzierten Konzepte zurück und untersucht die Frage: „Wenn man die Gesellschaft als ein faires System der Kooperation zwischen den als freie und gleiche Personen gesehenen Bürgern auffaßt, welche Gerechtigkeitsprinzipien sind dann besonders angebracht, um Grundrechte und -freiheiten zu bestimmen und die sozialen wie ökonomischen Ungleichheiten in den Gesamtlebensaussichten der Bürger zu regulieren“ (Rawls 2014, 76)? Rawls’ Ausführungen sind voraussetzungsvoll: Primärer Gegenstand politischer Gerechtigkeit ist die Grundstruktur einer demokratischen Gesellschaft, die aus politischen und sozialen Institutionen besteht, die in einem fairen Kooperationssystem zwischen freien und gleichen Bürger*innen zusammenwirken. Die Gerechtigkeitsprinzipien beziehen sich auf die Grundstruktur und dienen als Grundlage für die Legitimität politischer Macht, die im politischen Liberalismus Macht des Kollektivs – Bürger*innenmacht – ist. Alle Bürger*innen müssen die Prinzipien aus vernünftigen und rationalen Gründen akzeptieren können und sie müssen öffentlich gerechtfertigt werden können (Rawls 2014, 73–76, 146 f.). Rawls reformuliert seine zwei berühmten Gerechtigkeitsprinzipien: „a) Jede Person hat den gleichen unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist. b) Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer Chancengleichheit allen offenstehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen (Differenzprinzip)“ (Rawls 2014, 78).

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In Anschluss an H. L. A. Hart’s Kritik hat Rawls die Formulierung der Gerechtigkeitsprinzipien geändert: Anstelle des „gleichen Rechts auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten“ (Rawls 2014, 336) tritt ein „adäquates System“, das nur die Freiheiten enthält, die soziale „Bedingungen garantieren, die wesentlich sind, damit […] [Bürger*innen die] beiden moralischen Vermögen angemessen entfalten und sowohl uneingeschränkt als auch sachkundig zum Einsatz bringen können“ (Rawls 2014, 177–178) – den Gerechtigkeitssinn sowie eine Konzeption des Guten. Dazu zählen u. a. die Unversehrtheit der Person, Gedanken- und Gewissensfreiheit, politische Freiheiten, oder Prinzipien des Rechtsstaats (Rawls 2014, 80). Das Differenzprinzip, das in Eine Theorie der Gerechtigkeit noch vor der Chancengleichheit steht, rückt ans Ende des zweiten Prinzips; die Einschränkung des Differenzprinzips durch den gerechten Spargrundsatz entfällt. Während das erste Prinzip ein „gerechtes konstitutionelles Staatswesen“ etabliert, schafft das zweite „Hintergrundinstitutionen der sozialen und ökonomischen Gerechtigkeit“ (Rawls 2014, 85) und damit der Verteilungsgerechtigkeit. Rawls hebt in Gerechtigkeit als Fairneß. die lexikalische Ordnung der Prinzipien und ihr Verhältnis zueinander sowie das Differenzprinzip und seine Alternativen hervor. Da die Gerechtigkeitsprinzipien für Rawls’ Konzeption fundamental sind und ihre Formulierung, innere Kohärenz und Reichweite eine der zentralen Punkte des Neuentwurf sind, werden diese unten genauer ausgeführt. In Teil III (re)konstrutiert Rawls sein Urzustandsmodell. Ziel dieses Gedankenexperiments in Gerechtigkeit als Fairneß ist es, eine „öffentliche Basis für eine politische Gerechtigkeitskonzeption ausfindig zu machen“ (Rawls 2014, 133). Die Repräsentant*innen von Mitgliedern einer wohlgeordneten Gesellschaft – oder auch „wir – hier und jetzt“ (Rawls 2014, 132) werden als vernünftige und rationale, freie und gleiche Personen konstruiert. Sie verfügen über ein Mindestmaß der beiden moralischen Vermögen und vertreten die Interessen der Repräsentierten. Im Urzustand werden sie sym-

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metrisch zueinander positioniert. Durch den Schleier des Nichtwissens, der Wissen zu den individuellen Eigenschaften, Überzeugungen und sozialen Stellung etc. der Repräsentierten verbirgt, besteht formale Gleichheit. Repräsentierende wissen hingegen grundlegende Fakten zu menschlicher Psychologie und politischer Soziologie, sowie dass sie Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft vertreten und günstige Bedingungen für diese vorliegen. Die Grundsätze sollen allgemein, allgemeingültig und öffentlich sein und als moralische Basis für demokratische Institutionen geeignet sein. Anzunehmen sind eine mäßige Güterknappheit sowie die Notwendigkeit sozialer Kooperation vor dem Hintergrund des Faktums des vernünftigen Pluralismus, d. h. des Vorhandenseins miteinander unvereinbarer Globaltheorien bzw. Konzeptionen des Guten. Die Akzeptanz der Prinzipien als politische Konzeption muss aus Perspektive dieser pluralen Konzeptionen als übergreifender Konsens möglich sein (vgl. Rawls 2014, 137 f.). Durch die Konstruktion will Rawls einen möglichst weiten Raum für verschiedene Gerechtigkeitsargumente schaffen: Effizienzargumente werden gemeinsam mit Fairnessargumenten diskutiert, die am Ende aus verschiedenen Perspektiven akzeptiert werden können sollen; Rawls muss plausibilisieren, dass die Wahl seiner Prinzipien für freie und gleiche Bürger*innen rational und vernünftig ist (vgl. Audard 2007, 153 f.). Die Repräsentierenden vergleichen Rawls’ Gerechtigkeitsprinzipien mit je einer alternativen Konzeption. Rawls ist hier bescheiden: Er will nicht argumentieren, dass seine Prinzipien unter allen möglichen Alternativen das beste ‚Gründe-Saldo‘ aufweisen, sondern beschränkt sein Argument auf die von ihm diskutierte Auswahl. Im ersten Vergleich, der das erste Prinzip fokussiert, stellt Rawls seine Konzeption einem utilitaristischen Ansatz eines durchschnittlichen Nutzens gegenüber, der auf die Maximierung des durchschnittlichen Wohlergehens der Gesellschaftsmitglieder abzielt. Im zweiten Vergleich, der bereits von der Akzeptanz der Grundfreiheiten und der Chancengleichheit ausgeht, rückt das Differenzprinzip

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in den Fokus, das Rawls mit einem ‚Prinzip des eingeschränkten Nutzens‘ vergleicht: einer alternativen Variante eines durchschnittlichen Nutzens gepaart mit einem sozialen Minimum als Absicherung. Rawls trennt in Gerechtigkeit als Fairneß also die Argumentation für gleiche Grundfreiheiten von der zum Differenzprinzip. Ein Mittel zu den Prinzipien zu gelangen, ist die Anwendung der Maximin-Regel, die Rawls – auf Missverständnisse innerhalb der Rezeption der Theorie der Gerechtigkeit reagierend – klären will: Nach der Regel ist die Alternative zu wählen, „deren schlechtestes Ergebnis besser ist als die schlechtesten Ergebnisse aller übrigen Alternativen“ (Rawls 2014, 156) – die bestmögliche Version des schlechtesten Auskommens sollte gewählt werden. Dieses Prinzip, so stellt Rawls in einer Fußnote klar, ist nicht allgemein auf Entscheidungssituationen unter Ungewissheit rational anzuwenden, sondern dient diesem spezifischen Fall – im Urzustand, hinter dem Schleier des Nichtwissens. Es ist nicht mit dem Differenzprinzip gleichzusetzen. Die Repräsentierenden kommen – symmetrisch positioniert und mit Zugang zu gleichen Informationen – zum gleichen Schluss: Die Gerechtigkeitsprinzipien sind für das Wohl der Bürger*innen, für die öffentliche politische Kultur und deren moralische Qualität vorteilhaft. Auf Grundlage der Prinzipien kann eine soziale Welt geschaffen werden, die Hintergrundgerechtigkeit schafft, Kooperation in gegenseitiger Achtung begünstigt und „genügend sozialen Raum für (erlaubte) Lebensformen läßt“ (Rawls 2014, 186). Auch den Schlechtestgestellten bieten sie ein befriedigendes Niveau. Das Prinzip des durchschnittlichen Nutzens würde inakzeptable Ergebnisse zulassen, z. B. die Entrechtung einer Minderheit zum Vorteil der Mehrheit (vgl. Rawls 2014, 160 f.). Repräsentierende würden die Möglichkeit als freie und gleiche kooperierende Gesellschaftsmitglieder mit garantierten Grundrechten und -freiheiten zu leben für einen möglichen Zugewinn an materiellen Ressourcen nicht preisgeben. Mit der Wahl der Gerechtigkeitsprinzipien können die Repräsentierenden sicher gehen, dass für

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jedermanns fundamentale Interessen gesorgt ist (vgl. Rawls 2014, 163 f., 174). In einem zweiten Vergleich, in dem das erste Prinzip als gesetzt gilt, wird das Differenzprinzip gegen ein ‚Prinzip eines eingeschränkten Nutzens‘ abgewogen. Rawls argumentiert, dass sowohl Besser- als auch Schlechtergestellte das Differenzprinzip vorziehen würden: aus Gründen der Öffentlichkeit, der Reziprozität und der Stabilität (vgl. Rawls 2014, 189). Ausgangspunkt ist eine Gleichverteilung. Schlechtergestellte würden kein Prinzip öffentlich anerkennen, das sie zum Vorteil der Bessergestellten schlechter stellt. Die Bessergestellten könnten ihre Position weiter verbessern, wovon auch die Schlechtergestellten profitieren können. So ist Reziprozität gegeben und alle Gesellschaftsmitglieder können eine entsprechend ausgerichtete Grundstruktur öffentlich akzeptieren. So kann das Differenzprinzip Stabilität gewährleisten, wobei Rawls anmerkt, dass selbst das Differenzprinzip in der Anwendung hierfür zu große Ungleichheiten zulassen könnte (vgl. Rawls 2014, 194–199). Das Prinzip eines eigeschränkten Nutzens ist aus Perspektive der Schlechtergestellten abzulehnen. Das vorgesehene soziale Minimum sichert ihnen zwar ein annehmbares menschliches Leben, kann aber zur Herrschaft eines Teils der Gesellschaft über die anderen führen, wenn die Ungleichheiten zu groß werden. Bessergestellte könnten Wirtschaft und Politik dominieren, während Schlechtergestellte sich aus dem sozialen Leben zurückziehen, oder (potentiell gewalttätig) protestieren könnten (vgl. Rawls 2014, 202–204). Das Prinzip erfüllt weder das Kriterium der Reziprozität, noch kann es für Stabilität über Generationen hinweg sorgen. Rawls verortet das Prinzip eines eingeschränkten Nutzens im kapitalistischen Wohlfahrtsstaat – als dessen Befürworter er rezipiert wurde – und lehnt diesen zugunsten einer Demokratie mit Eigentumsbesitz (property owning democracy) ab, die in Teil IV sowie im vorliegenden Beitrag unten genauer thematisiert wird. Während die Grundfreiheiten und das Differenzprinzip getrennt diskutiert werden, müssen die Prinzipien als Einheit Anwendung finden.

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In Teil IV skizziert Rawls Institutionen einer gerechten Grundstruktur, die ausgehend von den Gerechtigkeitsprinzipien entworfen, gestaltet und bewertet werden. Rawls reagiert dabei in Gerechtigkeit als Fairneß mit seiner Ausarbeitung der Idee einer Demokratie mit Eigentumsbesitz auf Schwächen in Eine Theorie der Gerechtigkeit; die Demokratie mit Eigentumsbesitz stellt er unter anderem einem kapitalistischen Wohlfahrtsstaat gegenüber, der den Gerechtigkeitsprinzipien nicht genügt. Kapitalistische Systeme, auch wohlfahrtsstaatliche, verstoßen gegen den fairen Wert gleicher politischer Freiheiten sowie der fairen Chancengleichheit, wenn kleine Gruppen Politik und Wirtschaft dominieren (vgl. Rawls 2014, 214). Der faire Wert politischer Freiheiten (den Rawls in Teil IV ausführt) verlangt, dass der Wert dieser Freiheiten für alle Gesellschaftsmitglieder hinreichend gleich sein muss, d. h. eine faire Chancengleichheit besteht etwa politische Ämter zu bekleiden, das Ergebnis von Wahlen zu beeinflussen (etwa durch die öffentliche Subventionierung von Wahlen, die Beschränkung von Wahlkampfspenden oder einen ausgeglichenen Zugang zu öffentlichen Medien) sowie einen ungefähr gleichen Zugang zu öffentlichen Einrichtungen, zu Bildung oder Gesundheitsversorgung (vgl. Rawls 2014, 231 f.). Faire Chancengleichheit bedeutet „alle Bürger in eine Position zu bringen, in der sie ihre eigenen Angelegenheiten mit einem angebrachten Maß an sozialer und ökonomischer Gleichheit regeln“ (Rawls 2014, 217). Einen Staatssozialismus verwirft Rawls aufgrund des Verstoßes gegen das erste Prinzip. Es bleiben die Demokratie mit Eigentumsbesitz sowie liberal-sozialistische Regierungsformen, die nach Rawls beide den Gerechtigkeitsprinzipien gerecht werden könnten. Die Entscheidung für eine der beiden Konzepte überlässt Rawls den konkreten demokratischen Gesellschaften (vgl. Rawls 2014, 214–216). Im Verlauf konkretisiert und veranschaulicht Rawls seine Gerechtigkeitskonzeption, ihre Implikationen und Grenzen. Hierzu gehören Vorkehrungen für den fairen Wert politischer Freiheiten, die Sicherung der Freiheiten in einem

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konstitutionellen Staatswesen, Prinzipien für die Erziehung und eine Verortung der Familie als Basisinstitution, ebenso wie eine Auseinandersetzung mit der Flexibilität der Grundgüter, die durch Amartya Sens Kritik an Rawls angetrieben wurde. Rawls thematisiert auch das Verhältnis zwischen dem Gerechten und dem Guten: Die Gerechtigkeitsprinzipien müssen als übergreifender Konsens vor dem Hintergrund eines vernünftigen Pluralismus an Vorstellungen vom Guten anerkannt werden; das Gute trägt das Gerechte. Andererseits begrenzt das Gerechte das Gute, denn zulässig sind nur Konzeptionen, die den Gerechtigkeitsprinzipien zustimmen. Alle Lebensformen bzw. Konzeptionen vom Guten, die im Einklang mit demokratischen Werten inklusive der Anerkennung gleicher Grundfreiheiten und der Toleranz gegenüber anderen stehen, sollen eine faire Chance haben. Wer die Prinzipien anerkennt kann sich etwa aufgrund religiöser Überzeugungen aus der sozialen Welt zurückziehen. Hier unterscheide sich der politische Liberalismus von liberalen Globalkonzeptionen à la Kant oder Mill (vgl. Rawls 2014, 219, 240–243). Im fünften und letzten Teil steht die Stabilität im Fokus. Können die Gerechtigkeitsprinzipien, kann eine ihnen entsprechende Grundstruktur mit den beschriebenen Institutionen eine über Generationen hinweg stabile gerechte Gesellschaft erhalten? Entscheidend ist hier die Idee des übergreifenden Konsenses hinsichtlich der politischen Konzeption und ihr Verhältnis zu den pluralen Globallehren bzw. Vorstellungen vom Guten. Politischer Liberalismus darf nicht selbst umfassende Lehre sein, sondern muss freistehend neben diesen bestehen und sich auf die Formulierung politischer Grundwerte beschränken, eine zentrale Weiterentwicklung im Vergleich mit Eine Theorie der Gerechtigkeit Bürger*innen können demnach zwei verschiedene Anschauungen vertreten: eine politische Gerechtigkeitskonzeption sowie eine Globallehre (vgl. Rawls 2014, 280 f.). Hinzu kommen weitere stabilitätsbegünstigende Faktoren: Rawls geht davon aus, dass Menschen, die unter gerechten Basisinstitutionen aufwachsen,

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einen Gerechtigkeitssinn sowie Loyalität gegenüber den Institutionen und Vertrauen gegenüber den Mitbürger*innen erlangen. Der Erfolg demokratischer Gesellschaften bei der Etablierung eines harmonischen und pluralistischen Systems und eine damit verbundene Zufriedenheit der Mitglieder generieren über Generationen hinweg Stabilität (vgl. Rawls 2014, 283 f., 297–300). Im letzten Paragraphen verteidigt Rawls seinen Ansatz gegen die Kritik, er habe das Ideal einer politischen Gesellschaft als soziale Einheit durch die Annahme eines vernünftigen Pluralismus aufgegeben. Rawls sieht die soziale Einheit jedoch weiterhin als gegeben: Die Gesellschaft wird als einheitliches Kooperationssystem in Anerkennung einer gemeinsamen Gerechtigkeitskonzeption verstanden. Im Folgenden werden verschiedene Elemente aus Gerechtigkeit als Fairneß herausgegriffen, die innerhalb von Rawls’ Neuentwurf sowie in der Rezeption von Bedeutung sind.

Schlaglichter: Von den Gerechtigkeitsprinzipien zur Demokratie mit Eigentumsbesitz Ausgehend von der Formulierung und Begründung der Gerechtigkeitsprinzipien wird die Rolle der Familie als Basisinstitution fokussiert, die mit Blick auf die Geschlechtergerechtigkeit in der Rezeption Fragen zur Reichweite der Prinzipien und zu Rawls’ Institutionenverständnis aufwirft. Abschließend wird das Konzept der Demokratie mit Eigentumsbesitz konkretisiert, das aufgrund einer mangelnden Ausdifferenzierung sowie der von Rawls vorgenommenen Begrenzungen ökonomischer Rechte diskutiert wird. (1) Die Formulierung und Reichweite der Gerechtigkeitsprinzipien: Durch den Neuentwurf der Gerechtigkeitsprinzipien distanziert sich Rawls vom klassischen Liberalismus und der Maximierung der Freiheit. Freiheit ist nicht mehr quantitativ gedacht – je mehr desto besser; sie wird im Namen der Gerechtigkeit und der Gleichheit beschränkt und sie muss gegen an-

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dere Freiheiten abwägbar und regulierbar sein. Das erste Prinzip umfasst nicht mehr ein möglichst umfangreiches Set an Freiheiten, sondern wird auf die wichtigsten begrenzt. Soziale Kooperation ist nicht instrumentell für Freiheit, sondern konstitutiv. Freiheit ist nicht nur individuell, d. h. es geht nicht nur um die individuelle Person und ihr Gut(es) sondern um Bürger*innen auch im Verhältnis zueinander; gesellschaftlicher Zusammenhalt und Stabilität gewinnen an Bedeutung (vgl. Audard 2007, 89 f., 92 f.). Rawls’ Neuentwurf bewegt sich vom „liberal freedom to democratic freedom“ (Audard 2007, 93; Hervorhebung im Original). In der Priorisierung gleicher Grundfreiheiten sieht Catherine Audard auch einen Weg, eine Brücke zwischen den in der Demokratietheorie geführten Debatten zwischen dem Vorrang von Freiheit bzw. Gleichheit: „equal liberty, not liberty as such, has priority“ (Audard 2007, 94; Hervorhebung im Original) – auch gegenüber Ansprüchen der Verteilungsgerechtigkeit. Den Vorrang des ersten Prinzips wertet Audard auch als Versuch negative Effekte mehrheitlicher Demokratien ‚die Gefahr der Tyrannei der Mehrheit‘, sowie einer ‚Marktdemokratie‘ zu begrenzen (vgl. Audard 2007, 94). Innerhalb der Grundfreiheiten gibt es eine Ordnung: Freiheiten, die für die Entfaltung der moralischen Vermögen und den Status der Bürger*innen als frei und gleich zentral sind haben im Falle eines Konfliktes mit anderen (Grund) Freiheiten Vorrang (vgl. Rawls 2014, 166, 175, 222). Grundfreiheiten müssen nicht nur formal gleich sein, sondern auch einen ‚fairen Wert‘ haben. Auch die Gerechtigkeitsprinzipien haben eine lexikalische Ordnung: Das erste Prinzip hat Vorrang vor dem zweiten, die Chancengleichheit Vorrang vor dem Differenzprinzip. Diese Ordnung begründet Rawls damit, dass die Grundfreiheiten fundamentale Interessen der Gesellschaftsmitglieder schützen (vgl. Rawls 2014, 167), was Rawls im Vergleich zu Eine Theorie der Gerechtigkeit in Gerechtigkeit als Fairneß ausführlicher erläutert. Sie betreffen grundlegende Gerechtigkeitsfragen und verfassungsmäßige Grundsätze (vgl. Audard 2007, 96). Vorrang bedeutet, dass Einschränkungen

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nur aufgrund eines Konfliktes mit einer anderen Grundfreiheit, nicht zum Zweck eines höheren öffentlichen Wohls bzw. Nutzens vorgenommen werden dürfen (vgl. Rawls 2014, 176). In einer Fußnote zeigt sich Rawls über die Ordnung zwischen Chancengleichheit und dem Differenzprinzip unentschlossen: „Derzeit weiß ich nicht, welche Lösung hier die beste ist, und damit möchte ich schlicht meine Unsicherheit zu Protokoll geben“ (Rawls 2014, 252, Fn. 44). Rawls ist in der Reflektion der Rezeption des Differenzprinzips außerdem im Klaren darüber, dass sein Differenzprinzip „nicht oft ausdrücklich gutgeheißen wird“, dass es eventuell in „unserer öffentlichen politischen Kultur der jetzigen Zeit nur geringe Unterstützung findet“ (Rawls 2014, 207). Dennoch hält Rawls an ihm fest, räumt jedoch ein, dass es eine unter verschiedenen Möglichkeiten darstellt. Die konkrete Ausgestaltung der Anwendung des Differenzprinzips – welche Option unter den möglichen Alternativen gewählt wird – muss offenbleiben; klar für Rawls ist aber, dass die Abwesenheit eines sozialen Minimums, das die Grundbedürfnisse sichert, gegen das Prinzip verstoßen würde (vgl. Rawls 2014, 249 f.). Eine ähnliche Aussage könnte auch für die Gerechtigkeitsprinzipien als solche geltend gemacht werden: Ohne die Sicherung der Grundbedürfnisse ist keine faire Chancengleichheit gegeben und können Grundfreiheiten nicht angemessen ausgeübt werden. Rawls bemerkt in einer Fußnote, dass dem ersten Prinzip ein „lexikalisch vorrangiges Prinzip“ vorangestellt werden könne, „das die Erfüllung der Grundbedürfnisse verlangt, zumindest insofern ihre Erfüllung eine notwendige Bedingung dafür ist, daß die Bürger dazu in der Lage sind, die Grundrechte und -freiheiten zu verstehen und fruchtbar wahrzunehmen“ (Rawls 2014, 80, Fn. 7). Die Erfüllung von Grundbedürfnissen kann so als Voraussetzung für die Gerechtigkeitsprinzipien diesen vorangestellt werden. (2) Die Familie als gesellschaftliche Basisinstitution und Fragen der Geschlechtergerechtigkeit: Rawls’ Ausführungen zur Rolle der Familie (vgl. Rawls 2014, § 50) zeigen die Gren-

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zen der politischen Gerechtigkeitskonzeption auf, ebenso die Beziehung zwischen dem politischen/ öffentlichen- und dem privaten Raum. Die Ausführungen entstehen in Reaktion auf eine Diskussion vor allem unter feministischen Denker*innen darüber, welche Auswirkungen die Gerechtigkeitsprinzipien auf die Familie haben, insbesondere hinsichtlich der Situation von Frauen, was Rawls nicht behandelt, sowie darüber, ob er traditionelle Ehen zwischen Mann und Frau bevorzuge (vgl. Freeman 2007, 235 f.). So argumentiert Susan Moller Okin, auf die Rawls in Gerechtigkeit als Fairneß namentlich verweist, dass Rawls’ Prinzipien direkt auf das interne Leben von Familien angewendet werden müssten; sexistische Vorstellungen müssten aus den ‚vernünftigen Vorstellungen vom Guten‘ ausgeschlossen werden, um Frauen angemessen zu berücksichtigen (vgl. Okin 2004, 1539). Rawls betrachtet die Familie, wie andere Vereinigungen, als Teil der Grundstruktur. Familien sind keine natürlichen Zusammenschlüsse, sondern soziale Institutionen. Dabei sieht Rawls explizit und in Reaktion auf die anderslautende Kritik hinsichtlich der Rezeption von Eine Theorie der Gerechtigkeit „keine bestimmte Form von Familie (monogam, heterosexuell oder dergleichen)“ (Rawls 2014, 251) vor. Entscheidend ist, dass sie ihre primäre Funktion für die Gesellschaft erfüllt: die Reproduktion ihrer Mitglieder, die Fürsorge, Erziehung und moralische Entwicklung von Kindern (die Ausbildung der beiden moralischen Vermögen) sowie deren Integration in die geteilte (politische) Kultur, die das Bestehen der Gesellschaft über Generationen sichert. Auf die kritische Rezeption über die Frage, ob und wo Grenzen in der Freiheit der Erziehungsberechtigten hinsichtlich der Erziehung von Kindern, insbesondere der Vermittlung von Werten und Überzeugungen, liegen sollten, reagiert Rawls entsprechend: Grenzen sind da zu ziehen, wo die Fähigkeiten der Heranwachsenden ihre moralischen Fähigkeiten sowie ihre politische Autonomie auszubilden, die freie und gleiche Bürger*innen benötigen, damit sich eine wohlgeordnete Gesellschaft über Generationen reproduzieren kann. Kinder sollen befähigt werden, kooperierende Gesellschaftsmitglieder

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zu werden, die faire Bedingungen sozialer Kooperation respektieren. Daher müssen Kinder im Rahmen ihrer Erziehung etwa ihre verfassungsmäßigen Rechte kennenlernen und wissen, dass es Gewissensfreiheit gibt und sie ihre Religionszugehörigkeit frei wählen können (vgl. Rawls 2014, 241). Um dies zu gewährleisten kann der Staat Familien zur Fürsorge um die Gesundheit, Sicherheit, Ernährung und Versorgung der Kinder verpflichten, ebenso wie zu einem Zugang zu Bildung außerhalb des eigenen Haushaltes. Rawls will Regierungen nicht das Recht geben, Familienleben zu überwachen und zu bestimmen, welche religiösen und moralischen Überzeugungen und Praktiken – auch mit Blick auf die Rolle der Frau – vermittelt werden. Es sei nicht rational für freie und gleiche Personen Regierungen so umfangreiche Zwangsmacht zu übertragen. Es sei auch nicht die Aufgabe einer liberalen Regierung eine umfassende liberale Doktrin durchzusetzen und widerspreche der moralischen Autonomie und Individualität von Personen. Dies wäre eine unzulässige Einmischung (vgl. Rawls 2014, § 50; Freeman 2007, 237–241). Anders als von Kritiker*innen angeführt bedeute dies jedoch nicht, dass sich Rawls’ politische Konzeption nicht auf das Private erstrecke. Zwar würden die Gerechtigkeitsprinzipien nicht direkt auf die Familie angewendet; allerdings würden die Rechte und Freiheiten aller Gesellschaftsmitglieder durch die Grundstruktur geschützt. „Wenn die so genannte Privatsphäre ein Raum sein soll, in dem die Gerechtigkeit keine Geltung hat, dann gibt es eine solche Sphäre nicht“ (Rawls 2014, 257). Rawls erkennt in Gerechtigkeit als Fairneß an, dass Frauen historisch einen Großteil der Care-Arbeit verrichten. Dies müsste auf Freiwilligkeit beruhen und, sollte die Ungleichverteilung zu einer Benachteiligung von Frauen führen, kompensiert werden. Aus Gerechtigkeitsperspektive – so interpretiert Samuel Freeman Rawls – sei es unproblematisch, wenn etwa die Gesellschaft der Ehe eine besondere Anerkennung und Vorteile entgegenbringt, solange diese nicht eine „inevitable tendency to undermine women’s political autonomy and status as free and equal citizens“ (Freeman 2007, 240) bedeute.

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Feministische Kritiker*innen sehen Rawls Position in Gerechtigkeit als Fairneß (teils auch in Politischer Liberalismus vertreten) eine Fortsetzung der bereits an Eine Theorie der Gerechtigkeit kritisierten Probleme, wie hier anhand von Okins Kritik ausgeführt wird: Die Familie wird als für die Gesellschaft essentielle Basisinstitution, als Teil der Grundstruktur verstanden, jedoch als weitgehend privater, nichtpolitischer Raum skizziert. Die Gerechtigkeitsprinzipien werden nicht direkt auf sie angewendet; religiöse und kulturelle Praktiken, die Frauen herabsetzen, diskriminieren und unterdrücken werden toleriert und innerhalb eines vernünftigen Pluralismus umfassender Lehren verortet (Okin 2004, 1557). Rawls vernachlässigt dadurch das interne Leben und die Gerechtigkeit innerhalb von Familien. Familien basieren nicht auf freiwilliger Zugehörigkeit; man wird in sie hineingeboren und selbst wenn man freiwillig eine Familie gründet, muss ein Austritt nicht freiwillig sein und kann mit großem Verlust verbunden sein. Frauen, insbesondere Mütter, sind innerhalb von Familien in einer verletzlichen Position. Hinzu kommt, dass Familien, anders als andere Zusammenschlüsse, eine für den Fortbestand und die Kultur der politischen Gemeinschaft zentrale soziale Aufgabe haben: die Reproduktion von freien und gleichen, kooperierenden Gesellschaftsmitgliedern. Wie sollen Kinder, wenn sie in Familien aufwachsen, die mögliche Orte von Herabsetzung und Unterdrückung sind, einen angemessenen Gerechtigkeitssinn entwickeln (vgl. Okin 2004, 1556, 1558)? Für Okin ist nicht schlüssig, warum Religionen, die sexistische Überzeugungen und Praktiken beinhalten, als vernünftige und zulässige Globallehren akzeptiert werden sollten. Wenn Repräsentierende im Urzustand nicht wissen, ob sie Frauen oder Männer vertreten, würden sie sicherstellen wollen, dass Frauen nicht benachteiligt werden, auch nicht innerhalb von Familien. Ein Ausschluss solcher Überzeugungen aus den akzeptierten Vorstellungen vom Guten könnte viele prominente Religionen betreffen. Damit geriete aber der für Rawls’ Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness zentrale über-

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greifende Konsens zwischen Vertreter*innen verschiedener Globallehren in Gefahr. Es scheint, als ob Rawls den ‚gleichen Wert der Freiheit‘ für Frauen und Heranwachsende einem religiösen und moralischen Pluralismus, der auch die verbreiteten Religionen einschließen kann, opfert (vgl. Okin 2004, 1555–1558). Das ist vor dem Hintergrund seines Ansatzes nicht schlüssig. Wenn Rawls in Gerechtigkeit als Fairneß schreibt, dass die Gerechtigkeitsprinzipien auf die Grundstruktur angewendet werden und die Familie als Basisinstitution benannt wird, warum sollten die Gerechtigkeitsprinzipien nicht direkt auf sie angewendet werden? Grundfreiheiten und deren gleicher Wert haben aufgrund der lexikalischen Ordnung ja Priorität vor anderen Werten. Die Sicherung formaler Gleichheit von Frauen (und Kindern) wäre daher nicht ausreichend; wenn umfassende Lehren dazu führen, dass Frauen politisch weniger repräsentiert werden, müsste dies als Gefährdung des gleichen Werts der Grundfreiheiten gewertet werden. Politische Gleichheit sei in einer sexistischen Gesellschaft nicht zu erwarten; „‚metaphysical‘ attacks on the full humanity of women are not distinct from ‚political‘ attacks on their equal citizenship“ (Okin 2004, 1562). Religionsfreiheit und Redefreiheit müssten in der Konsequenz so reguliert werden, dass der faire Wert der politischen Freiheiten für alle Gesellschaftsmitglieder gewährleistet ist. Daher könnte der faire Wert politischer Freiheit, den Rawls in § 45 von Gerechtigkeit als Fairneß betont, die Zulässigkeit sexistischer umfassender Lehren und Praktiken mehr beschränken als von ihm selbst bemerkt (vgl. Okin 2004, 1561 f.). Kinder könnten bei entsprechender Reife in der Familie als Gleiche mitbestimmen; das Differenzprinzip könnte auch innerhalb von Familien Anwendung finden (vgl. Okin 2004, 1563 f.). „Perhaps, ironically, we may conclude that families are the quintessential place for justice, rather than a place where it is not needed or is impossible to apply“ (Okin 2004, 1564). Die Auseinandersetzung mit der Rolle der Familie und der Position von Frauen innerhalb und ausgehend von der Gerechtigkeit als Fairness berührt zentrale Elemente der Kons-

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truktion, die auch nach Rawls’ Ausführungen in Gerechtigkeit als Fairneß Fragen aufwerfen und in der Rezeption weiter diskutiert werden (siehe hierzu etwa Teil VII in Mandle und Roberts-Cady 2020). Zu den Hauptfragen, die sich aus Gerechtigkeit als Fairneß ergeben, zählt auch Rawls’ Konzeption einer ‚Demokratie mit Eigentumsbesitz‘ und damit verbunden Rawls’ Ablehnung des Wohlfahrtsstaates (wie in Teil III von Mandle und Roberts-Cady 2020). (3) Gegen den Wohlfahrtsstaat – Demokratie mit Eigentumsbesitz: Die Idee einer Demokratie mit Eigentumsbesitz findet sich schon in Eine Theorie der Gerechtigkeit, bekommt in Gerechtigkeit als Fairneß aber mehr Platz und Tiefe, vor allem hinsichtlich der Kontrastierung und damit verbunden Ablehnung eines kapitalistischen Wohlfahrtsstaates, als dessen Befürworter Rawls in Eine Theorie der Gerechtigkeit rezipiert wurde (vgl. Freeman 2007, 224). In diesem Licht ist auch der Vergleich des Differenzprinzips mit einem begrenzten utilitaristischen Prinzip zu sehen, das Rawls dem wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus zuschreibt und ablehnt. Im wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus gibt es keine Bestrebungen, Ungleichheit zu begrenzen. Dies ist mit der politischen Gleichheit der Bürger*innen unvereinbar, da Reichtum und Lobbying, die Finanzierung von Wahlkämpfen Politik zur Folge haben, die die Reichen begünstigt, zum Nachteil der Schlechtergestellten. Es fehlt den Bürger*innen die Möglichkeit, effektiven politischen Einfluss zu nehmen, was die Abwesenheit der Chancengleichheit bedeutet. Diese ist im Wohlfahrtsstaat weitgehend formal (vgl. Freeman 2007, 224 f.). Die Demokratie mit Eigentumsbesitz sucht hingegen die faire Kooperation zwischen Bürger*innen als freie und gleiche zu sichern und sorgt dafür, dass Produktionsmittel unter den Bürger*innen verteilt sind. Hierzu gehören neben ökonomischem Kapital auch ‚menschliches Kapital‘ wie Wissen, Bildung, geschulte Fertigkeiten. Hier berührt Rawls’ Skizze die Frage nach ökonomischen Rechten und nach ihrer Position innerhalb seiner Theorie und gerät in Opposition zu libertären Positionen. Rawls zählt zwar das Recht auf Privateigentum zu den

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Grundfreiheiten, da dieses die materielle Basis für individuelle Autonomie stellt. Es umfasst jedoch nicht zwingend das Recht auf Eigentum an natürlichen Ressourcen und Produktionsmitteln. Das Eigentum an Produktionsmitteln ist unter den Bürger*innen weit verteilt; Arbeiter*innen sind so am Kapital beteiligt und können – als Eigentümer*innen oder Mitglieder einer Gewerkschaft oder Kooperative, ihre Arbeitsbedingungen mitbestimmen. Das soziale Minimum dürfte in der Demokratie mit Eigentumsbesitz umfangreicher sein als im kapitalistischen Wohlfahrtsstaat, da er sich über das Differenzprinzip an der Verbesserung der Situation der Schlechtestgestellten orientiert (vgl. Rawls 2014, 216–218; Freeman 2007, 226 f.). Rawls’ Skizze der Demokratie mit Eigentumsbesitz lässt im Vergleich zu anderen Konzeptionen an Tiefe und Begründung ihrer Auswahl vermissen. Kritisiert wird unter anderem Rawls’ Vorgehen: Das Konzept der Demokratie mit Eigentumsbesitz scheint von ihm stipuliert und erfüllt daher klarerweise die Gerechtigkeitsprinzipien, während die anderen Konzepte historische Beispiele kennen. Eine Wahl zwischen den beiden mit seinen Gerechtigkeitsprinzipien vereinbaren Konzeptionen überlässt er weitgehend unkommentiert konkreten Gesellschaften (vgl. Thomas 2020, 109 f.). Die Demokratie mit Eigentumsbesitz wird aber an verschiedenen Stellen wieder aufgegriffen und erscheint in Gerechtigkeit als Fairneß klar als favorisierter Entwurf. Auch deshalb gehört die Ausgestaltung und Weiterentwicklung der Demokratie mit Eigentumsbesitz zu den in der Rezeption relevanten Themen, wie beispielsweise in Property-Owning Democracy: Rawls and Beyond, herausgegeben von Martin O’Neill und Thad Williamson (2012) und zu den weiterhin diskutierten zentralen Fragen.

Schluss Gerechtigkeit als Fairneß ist Rawls’ Versuch seine Konzeption zusammenzuführen, zu präzisieren und verständlicher zu machen. Die Monographie gibt auf rund 200 Seiten einen

A. Förster

komprimierten Überblick über Rawls’ zentrale Ideen und Konzepte zu seiner Konzeption der ‚Gerechtigkeit als Fairness‘, zu ihrer Entwicklung seit Eine Theorie der Gerechtigkeit auf Basis von Rawls’ Reflektion der Rezeption seiner Schriften. Rawls kommentiert durchweg selbst, welche Idee sich wo in seinem Werk findet und wo er – auf Basis wessen Kritik oder welcher Überlegungen – Änderungen oder Präzisierungen vorgenommen hat. Er reflektiert und berücksichtigt Debatten und Entwicklungen zu und im thematischen Umfeld seines Ansatzes und konkretisiert seine Konzeption in Auseinandersetzung mit diesen. Dabei steckt viel Interessantes und Relevantes in den Fußnoten – darunter zahlreiche Verweise auf die kritische Rezeption von Eine Theorie der Gerechtigkeit und Rawls’ Reflektion hierzu sowie Kommentare und weiterführende Gedanken zu den gemachten Ausführungen. Das verleiht Gerechtigkeit als Fairneß einen besonderen Charakter, macht Rawls’ Ausführungen aber auch sehr dicht und teils voraussetzungsvoll(er) als seine Schriften ohnehin sind. Für eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Rawls’ Theorie kann der Neuentwurf die Lektüre seiner anderen Monographien nicht ersetzen, da einige Ausführungen hier kürzer greifen oder im Kontext der Aussagen in seinen anderen Werken besser zu verstehen sind. Gerechtigkeit als Fairneß kann als egalitäre Konzeption Freiheitsräume sichern und zu große ökonomische und soziale Ungleichheiten verhindern. Rawls betont immer wieder, dass die beiden Gerechtigkeitsprinzipien für eine gerechte und stabile Grundstruktur sorgen, vor deren Hintergrund Bürger*innen als freie und gleiche kooperieren, über Generationen hinweg. Dabei betont Rawls unerlässlich, dass ‚Gerechtigkeit als Fairness‘ als politische Konzeption verstanden werden muss, die Raum für die Entfaltung verschiedener Vorstellungen vom Guten lässt. In der Rawls-Rezeption stehen Eine Theorie der Gerechtigkeit und Politischer Liberalismus im Vordergrund, bzw. hinsichtlich seiner Theorie internationaler Gerechtigkeit Das Recht der Völker (Rawls 2002). Einige der für die Rezeption von Rawls’ Werk in Gerechtigkeit als Fairneß

6  Gerechtigkeit als Fairneß (2001/2003)

relevante Ideen wurden zuvor im Abschnitt zu den „Schlaglichtern“ herausgehoben, darunter die Begründung und Reichweite der Gerechtigkeitsprinzipien, die Rolle der Familie und damit verbunden Fragen der Geschlechtergerechtigkeit sowie das Konzept einer ‚Demokratie mit Eigentumsbesitz‘ in Kontrast zu einem wohlfahrstaatlich kapitalistischen Staatswesen. Diese gehören zu den bleibenden Themen in der Rezeption von Gerechtigkeit als Fairneß.

Literatur Audard, Catherine: John Rawls. Montreal 2007. Freeman, Samuel Richard: Rawls. London 2007.

73 Mandle, Jon/Roberts-Cady, Sarah (Hg.): John Rawls. Debating the major questions. New York 2020. Okin, Susan Moller: Justice and gender: An unfinished debate. In: Fordham Law Review 72/5 (2004), 1537– 1567. O’Neill, Martin/Williamson, Thad (Hg.): Property-owning democracy: Rawls and beyond. Hoboken 2012. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998. Rawls, John: Das Recht der Völker. Enthält: „Nochmals: die Idee der öffentlichen Vernunft“. Berlin/New York 2002. Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. 42014 (engl. 2001). Thomas, Alan: Rawls on economic liberty and the choice of systems of social cooperation. In: Jon Mandle/ Sarah Roberts-Cady (Hg.): John Rawls. Debating the major questions. New York 2020, 109–121.

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Über Sünde, Glaube und Religion (2010) Thomas M. Schmidt

Die 2009 erfolgte posthume Veröffentlichung der „Senior Thesis“, die der junge John Rawls im Dezember 1942 zum Abschluss seines Bachelorstudiums am Philosophy Department der Universität Princeton einreichte, hat erhebliche Aufmerksamkeit erfahren. Diese frühe Schrift, die Thomas Nagel sieben Jahre nach dem Tod von Rawls herausgegeben hat, trägt in der deutschen Übersetzung den Titel: „Eine kurze Untersuchung über die Bedeutung von Sünde und Glaube: Eine Auslegung anhand des Begriffs der Gemeinschaft“ (2010). Wie dieser Titel bereits zu erkennen gibt, hat Rawls hier ein für seine Philosophie und Denkhaltung zentrales Thema – das Konzept der Gemeinschaft – im Kontext theologischer Fragestellungen und Begriffe bearbeitet. Die Veröffentlichung dieser Schrift hat daher nicht nur biographisches und werkgeschichtliches Interesse auf sich gezogen, da sie einen beeindruckenden Einblick in die formative Phase des philosophischen Denkens von Rawls gewährt. Sie zeigt auf plastische Weise Denkfiguren und Grundbegriffe, die bis in sein Spätwerk hinein von entscheidender Bedeutung geblieben sind. Vor dem Hintergrund, dass Rawls seit der Veröffentlichung von

T. M. Schmidt (*)  Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected]

Politischer Liberalismus die Debatte um die angemessene Rolle von Religion in der politischen Öffentlichkeit maßgeblich bestimmt hat, wurde diese frühe Arbeit, in der er mit hoher Sachkenntnis theologische Fragestellungen bearbeitet hat, als eine wichtige Quelle erachtet zum Verständnis des Religionsbegriffs im Kontext seiner Moralphilosophie und politischen Theorie. Thomas Nagel hat Rawls’ Bachelorarbeit, die kurz nach seinem Ableben von Eric Gregory, Professor am Princeton Religion Department, in der Universitätsbibliothek von Princeton entdeckt wurde, gemeinsam mit dem bis dahin ebenfalls unveröffentlichten autobiographischen Text „Über meine Religion“ ediert. Auch dieser Text wurde erst nach dem Tod von Rawls aufgefunden, unter den Dateien auf seinem Computer. Diese eher kurze Stellungnahme wurde in den 1990er Jahren verfasst. Rawls reflektiert hier sein Verhältnis zur Religion und schildert den Prozess seiner zunehmenden Distanzierung vom Christentum. Dieser Text umfasst in der deutschen Druckversion knapp zehn Seiten, während sich die Übersetzung der Bachelorarbeit über rund 170 Seiten erstreckt. Der von Thomas Nagel verantwortete Band enthält neben diesen beiden Texten von Rawls zum Thema der Religion eine instruktive kommentierende Einleitung, die Nagel gemeinsam mit Joshua Cohen verfasst hat sowie eine ausführliche Abhandlung des evangelisch-reformierten Theologen und Philosophen Robert Merrihew Adams, in der

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_7

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dieser auf über 80 Seiten die religiöse Sozialethik des jungen Rawls in den Kontext der theologischen Debatte der 30er und 40er Jahre einordnet. Neben diesen Texten der amerikanischen Originalausgabe von 2009 enthält die deutsche Version von 2010 noch ein Nachwort von Jürgen Habermas mit dem Titel „Das ‚gute Leben‘ eine ‚abscheuliche Phrase‘. Welche Bedeutung hat die religiöse Ethik des jungen Rawls für dessen Poltische Theorie?“. Bei diesem Nachwort handelt es sich um den Nachdruck eines Beitrages von Habermas für die Deutsche Zeitschrift für Philosophie aus dem gleichen Jahr. Mit Blick auf die deutsche Ausgabe ist noch zu bemerken, dass sie den Titel „Über Sünde, Glaube und Religion“ trägt, während die Originalausgabe die Titel der Schriften von Rawls getrennt anführt und äußerlich verknüpft („A Brief Inquiry into the Meaning of Sin and Faith“. With „On my Religion“, 2009). Die deutsche Ausgabe führt auf diese Weise nicht nur die Schlüsselbegriffe der beiden zeitlich wie inhaltlich voneinander getrennten Arbeiten von Rawls unter dem einheitlichen Thema der Religion zusammen, sie mildert auf diese Weise auch die theologische Anmutung des Titels der Bachelorarbeit, indem sie diese in den weiteren zeitlichen Kontext der unterschiedlichen Etappen der Rawlschen Auseinandersetzung mit dem Thema der Religion einordnet und sachlich auf die Bedeutung der religiösen Ethik des jungen Rawls für dessen reifere politische Theorie zuspitzt, die im Nachwort von Habermas ausdrücklich thematisiert wird.

Die Bedeutung des theologischen Kontextes Folgt man der Einschätzung der Rawls-Schüler Joshua Cohen und Thomas Nagel, dann ist die frühe theologische Abhandlung bedeutsam für eine vertiefte Einsicht in die grundlegenden Anliegen und Begriffe des Gesamtwerkes von Rawls. Seine Bachelorarbeit zeigt seine „tiefgreifende Beschäftigung und Kenntnis der Religion“ (2010, 14). Im Gegensatz zu vielen anderen liberalen Theoretiker*innen „war Rawls kein

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Kind einer säkularen Kultur“ (ebd., 14). Das Bewusstsein für die große Bedeutung „religiöser Überzeugungen im Leben der Gläubigen“ (ebd., 15) und die Betonung der Notwendigkeit, dass eine Theorie der Gerechtigkeit und eine Konzeption des vernünftigen Pluralismus „diese Überzeugungen ernst zu nehmen“ habe, „wurden aus seiner persönlichen Glaubenserfahrung gespeist“ (ebd., 15). Es ist in der Tat naheliegend, dass sich die zentrale Rolle, die Rawls seit den 90er Jahren der Frage nach der angemessenen Rolle von Religion in der politischen Öffentlichkeit im Kontext seiner Konzeption einer stabilen und vernünftigen Form einer pluralistischen Gesellschaft einräumt, aus dem durch eigene Erfahrung gewonnenen Bewusstsein für die Bedeutung von Religion speist. Auch das zentrale Thema der Gerechtigkeit wird bei Rawls durch Grundbegriffe und methodische Intuitionen bestimmt, die er offenbar im Kontext theologischer Debatten entwickelt hat. Nicht zuletzt bewahrt das Thema des Glaubens in der säkular transformierten Gestalt einer rationalen Hoffnung einen zentralen Stellenwert in seiner politischen Philosophie. An einer Schlüsselstelle von Politischer Liberalismus betont Rawls, dass er im Anschluss an Kant die zentrale Aufgabe der politischen Philosophie in der „Verteidigung eines vernünftigen Glaubens“ (Rawls 1993, 265) sieht. In der konstruktivistischen, nichtmetaphysischen Lesart, die Rawls dem Kantischen Projekt gibt, zielt der politische Liberalismus auf „die Verteidigung des Glaubens an die Möglichkeit einer gerechten konstitutionellen Ordnung“ (ebd., 265). Nach der Auffassung von Cohen und Nagel sind also „die moralischen und sozialen Überzeugungen, die in der Abschlussarbeit in religiöser Form Ausdruck finden, auf komplexe und erhellende Weise mit den zentralen Ideen von Rawls’ späteren Schriften über Moraltheorie und Politische Philosophie verbunden“ (Rawls 2010, 15). Mit seiner Abschlussarbeit setzt sich der junge Rawls das Ziel, die zentralen theologischen Konzepte Sünde und Glaube in Begriffen der Gemeinschaft und der Personalität zu erläutern. Dieser Interpretation in Begrifflichkeiten von Personalität und Gemeinschaft steht

7  Über Sünde, Glaube und Religion (2010)

eine Position gegenüber, die Rawls „Naturalismus“ nennt. Damit ist keine ontologische These im Sinne eines reduktionistischen Naturalismus oder Materialismus gemeint, sondern eine Einstellung, die ethische Einstellungen und Handlungsmuster vollständig in natürlichen Begriffen erfassen will. Die Objekte der natürlichen Welt interagieren kausal miteinander; sie sind zudem mögliche Gegenstände der Wahrnehmung, des Verlangens, des instrumentellen Gebrauchs. Zu den Objekten gehören auch die Körper von Personen, die somit zu Gegenständen des Verlangens, der Wahrnehmung und der Begierde werden können. „Es gibt allerdings ein ganz anderes Bezugssystem zwischen den Personen in der Welt. Im Gegensatz zu natürlichen Beziehungen zwischen Personen und Objekten sind diese Beziehungen im Kern interpersonal oder gemeinschaftlich und durch wechselseitige Achtung gekennzeichnet“ (ebd., 17). Mit Hilfe der Unterscheidung zwischen natürlichen und (inter-)personalen Begriffssystemen will Rawls die Differenz zwischen zwei konträren theologischen Konzeptionen von Sünde und Glaube erfassen und ihre begriffliche Tiefenstruktur aufdecken. Robert M. Adams hat in seinem ausführlichen Kommentar den zeitgenössischen theologischen Hintergrund dieser Fragestellung erhellt. Adams zufolge wurde die Arbeit „offensichtlich von der bekanntesten theologischen Bewegung der damaligen Zeit beeinflusst. Rawls verfasste sie in der Blütezeit der Neoorthodoxie“ (ebd., 36 f.). Adams weist darauf hin, dass die Bezeichnung „neoorthodox“ einen Sammelbegriff für eine disparate Gruppe protestantischer Theologen darstellt. Als ihr gemeinsamer Nenner kann die Unzufriedenheit mit jener Tradition der liberalen Theologie angesehen werden, mit der sie aufgrund ihrer akademischen Herkunft besonders vertraut waren. Angesichts der Krise der Moderne, die sich besonders im Ersten Weltkrieg manifestierte, war der von Theologen wie Albrecht Ritschl, Adolf Harnack und Ernst Troeltsch vertretene Kulturprotestantismus, der die Tradition der Reformation mit der modernen Kultur versöhnen wollte, vor allem mit den philosophischen Lehren der Aufklärung und des deutschen Idealismus sowie

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der bürgerlichen Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts und ihrem Fortschrittoptimismus, in Misskredit geraten. Als Reaktion forderte die Neoorthodoxie eine Wiederbesinnung auf die reformatorischen Prinzipien der Offenbarung, des Wortes Gottes und der Rechtfertigung aus Gnade; sie tat dies aber nicht im Gestus einer traditionalistischen Rückwende, sondern im Lichte einer problembewussten und auf den aktuellen gesellschaftlichen Kontext bezogenen „Theologie der Krise“, wie sie in prominenter Weise von Karl Barth vertreten wurde. Die protestantische Neoorthodoxie fand in den Jahrzehnten zwischen den beiden Weltkriegen auch in den USA eine breite Rezeption. Noch einflussreicher als Karl Barth war in der amerikanischen Theologie jener Jahre dabei Emil Brunner, auf den sich Rawls in seiner Abschlussarbeit wiederholt bezieht.

Gott, Person, Gemeinschaft – Grundbegriffe und Prinzipien der kurzen Untersuchung über die Bedeutung von Sünde und Glaube In der „Allgemeinen Einführung“, dem ersten Kapitel seiner Abschlussarbeit, legt Rawls (2010, 135–156) die vier methodischen Grundannahmen seiner Untersuchung über die Bedeutung von Sünde und Glaube dar. Da es sich bei dieser Untersuchung um eine theologische Abhandlung handelt, bezieht sich die erste und grundlegende Annahme auf Existenz und Wesen Gottes. 1) Diese erste Voraussetzung besteht in der fideistischen Setzung, dass Gott existiert. Noch in seinem autobiographischen Text Meine Religion aus den 90er Jahren, in dem Rawls seine wachsende Distanzierung vom Christentum schildert, betont er, dass „mein Fideismus […] stets fest gegen alle Zweifel an der Existenz Gottes“ (ebd., 306) blieb. Die Gewissheit der Existenz Gottes kann nach Rawls nicht auf dem Weg der natürlichen Theologie gewonnen werden. Menschliche Erkenntnis hat keinen Zugang zu den metaphysischen Qualitäten, die Gott zugeschrieben werden und sein Wesen definieren sollen. Der einzige Zugang zu Existenz und

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Wesen Gottes erfolgt durch Offenbarung, durch die Selbstmitteilung Gottes. Aus dieser theologischen Grundentscheidung über die Existenz Gottes und ihre Erkennbarkeit folgen die weiteren leitenden Annahmen. 2) Mit der Gewissheit der Existenz des trinitarischen Gottes ist nämlich die zweite Grundannahme verbunden, dass es unbezweifelbar eine Realität gibt, die personalen Charakter besitzt. Dies begründet und rechtfertigt die „Überzeugung, daß es so etwas wie Personalität gibt und daß es Personen als solche gibt“ (ebd., 136). Die Fundierung von Personalität im Wesen Gottes zeigt, dass es sich um eine Wirklichkeit sui generis handelt, die nicht naturalistisch oder besitzindividualistisch „auf den Besitz eines bestimmten Körpers oder die Summe von mentalen Zuständen reduziert werden kann“ (ebd., 136). Da Personen von rein physikalischen Körpern zu unterscheiden sind, muss auch die Art der Relation, die zwischen Personen besteht, etwas anderes sein als „bloß eine Ansammlung von Einzeldingen“ (ebd., 136). Diese interpersonale Relation bezeichnet Rawls als „Gemeinschaft“. 3) In der Einführung dieses gehaltvollen Begriffs von Gemeinschaft als Relation zwischen selbständigen Personen besteht somit die dritte Grundannahme der Untersuchung. 4) Daraus folgt schließlich, dass sich die Dimension der Personalität und der Gemeinschaft „qualitativ von der Sphäre der Natur unterscheidet“ (ebd., 137). Diese vier Grundannahmen über Gott, Personalität, Gemeinschaft und Natur „bilden die Kategorien unseres gesamten Denkens“ (ebd., 137). Von zentraler Bedeutung in diesem Kategoriengefüge ist die Unterscheidung zwischen dem Personalen und dem Natürlichen. Genauer betrachtet unterscheidet Rawls drei unterschiedliche Arten von Beziehungen – kausale, natürliche und personal-gemeinschaftliche. Als „kausale“ Beziehung bezeichnet er die Relation zwischen Objekten. Dies ist nicht nur auf die Relation der Verursachung beschränkt, sondern schließt andere Verhältnisse zwischen physikalischen Gegenständen ein, wie etwa die räumliche Lage. Als „natürlich“ wird dagegen die Beziehung zwischen einem Subjekt und einem Objekt bezeichnet, wie es sich etwa im Be-

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gehren einer Person ausdrückt. Dies schließt die Möglichkeit ein, auch andere Personen auf „natürliche“ Weise zu behandeln, sie also als Objekte der eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu behandeln. Die entscheidende Differenz ist die zwischen natürlichen und gemeinschaftlichen Beziehungen, die Personen miteinander eingehen können. In der persönlichen Beziehung ist das Gegenüber ein Du, kein Ding. Menschen sind als Personen von reinen Objekten dadurch unterschieden, dass sie eine Beziehung der Gemeinschaft, nicht nur des wechselseitigen Gebrauchs miteinander eingehen können. Dies ist theologisch dadurch begründet, dass Gott durch seine Schöpfung die menschlichen Personen nicht einfach nur hervorgebracht, sondern zur Gemeinschaft mit ihm bestimmt hat. Die Bildung personaler Gemeinschaft ist das Ziel der göttlichen Schöpfung. Die Welt, die ihren Ursprung in Gott hat, „ist in ihrem Kern eine Gemeinschaft, eine Gemeinschaft von Schöpfer und Erschaffenen“ (ebd., 138). Während das theologische Konzept der Schöpfung die ontologische Verfassung von Gemeinschaft als personaler Beziehung begründet, dient der Begriff der Offenbarung zur Charakterisierung der Erkennbarkeit dieser personalen Verfasstheit gemeinschaftlicher Beziehungen. Gehaltvolle gemeinschaftliche Beziehungen werden nicht in natürlicher Einstellung erschlossen, etwa durch die Beobachtung des Verhaltens anderer Personen, sondern durch deren kommunikative Selbstmitteilung. Personale Beziehungen verfahren Rawls zufolge „im Modus wechselseitiger Offenbarung“ (ebd., 144). Personale Beziehungen setzen eine „selbstoffenbarende Handlung voraus“ (ebd., 144), in der sich Personen „vermittels Zeichen, also Worten, Gesichtsausdrücken, Gesten und so weiter“ (ebd., 144) einander öffnen und zu erkennen geben. Hier zeigt sich der durch die Neoorthodoxie betonte theologische Zusammenhang von Offenbarung und Wort Gottes. Die göttliche Offenbarung in Gestalt des inkarnierten Logos und des biblischen Wortes ist der Prototyp der Selbstmitteilung einer Person durch den Gebrauch vermittelnder Zeichen. Gemeinschaft mit Gott wird nicht auf natürliche Weise

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gestiftet, weder durch die natürlichen Mittel der Erkenntnis einer metaphysischen Theologie noch des Handelns wie in einem instrumentalistischen Verständnis der Sakramente. Wahre Gemeinschaft wird nur durch die selbstmitteilende und zeichenvermittelte Offenbarung der Person gestiftet. Die Unterscheidung zwischen personalen und natürlichen Beziehungen bildet für Rawls die Grundlage der Kritik ungenügender theologischer Auffassungen von Sünde und Glaube. Der Fehler dieser Ansätze besteht Rawls zufolge darin, dass sie das gemeinschaftliche Verhältnis menschlicher Personen untereinander und zu Gott im Sinn einer natürlichen Beziehung verstehen. Dies führt schließlich zur Fehlinterpretation der zentralen theologischen Begriffe Glaube und Sünde. Rawls beendet daher das einleitende Kapitel seiner Untersuchung mit einer kurzen Charakterisierung seiner Konzepte von Sünde (Abschnitt IV, Rawls 2010, 148–153) und Glaube (Abschnitt V, Rawls 2010, 153– 156), die er dann im weiteren Gang der Argumentation entfaltet. Vor dem Hintergrund der zentralen Bedeutung des Begriffs der Gemeinschaft bestimmt Rawls Sünde grundsätzlich als die „Zerstörung, Vernichtung und Zurückweisung der Gemeinschaft“ (ebd., 149). Rawls identifiziert dabei zwei „Haupttypen der Sünde“ (ebd., 150): Geltungssucht und Selbstsucht. Adams weist in seinem Kommentar zum Hintergrund der theologischen Ethik des jungen Rawls darauf hin, dass diese Typologie vom Buch The Ethics of Power (London 1935) des britischen Philosophen Philip Leon beeinflusst wurde. In seiner Lehre von den Beweggründen menschlichen Handelns unterscheidet Leon zwischen Selbstsucht (egoism), Geltungssucht (egotism) und dem moralischen Verlangen nach Gemeinschaft (nexus). Rawls’ Verwendung der Begriffe „Selbstsucht“, „Geltungssucht“ und „Begierde“ (appetition) „folgt in weiten Teilen Leon“ (Rawls 2010, 51). Als Selbstsucht bezeichnet Leon „ungefähr dasselbe wie wir mit natürlichen Beziehungen“ (ebd., 180). Geltungssucht müsse davon unterschieden werden, sie bezieht sich als intersubjektive Kategorie auf „etwas

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völlig anderes, etwa das Verlangen nach einer bestimmten gesellschaftlichen Stellung, der Wunsch, berühmt, mächtig“ (ebd., 180/181) zu werden. Leons Definition der Geltungssucht bezeichnet also Rawls zufolge eine personale Beziehung. Daher folgt Rawls auch der Auffassung Leons, wonach „Begierden nicht die Ursache der Geltungssucht sind“ (ebd., 181). Die Selbstsucht des Egoismus entspringt den natürlichen Bedürfnissen. Sofern er auf die Befriedigung der Begierden beschränkt bleibt, ist Egoismus „nicht an sich böse“ (ebd., 150). Der Egoismus der Befriedigung der natürlichen Begierde ist ein rein natürliches Verhältnis, das für sich genommen nicht notwendig zu einer instrumentalisierenden und respektlosen Einstellung gegenüber anderen Personen führt. Dagegen wird Geltungssucht (egotism), das Streben nach „Ehre, Abgrenzung, Ruhm und Lob“ (ebd., 150) von Rawls als eine „verdorbene Selbstliebe des Geistes“ (ebd., 150) angesehen, die „von Natur aus gemeinschaftszerstörend ist“ (ebd., 150). Wenn sich der natürliche Egoismus der Selbstsucht mit der sozialen und geistigen Geltungssucht verbindet, dann führt dies zwangsläufig zu einer Instrumentalisierung anderer Menschen zu beliebigen Objekten der Triebbefriedigung. Im Anschluss an Leon bezeichnet Geltungssucht für Rawls offenbar „alle Arten von Gier nach gesellschaftlicher Stellung“ (ebd., 51) und umfasst insbesondere „Stolz, Einbildung Konkurrenzdenken und Machtgier“ (ebd., 51). In beiden Fällen, der reinen Geltungssucht oder des mit Geltungssucht vermischten Egoismus, erscheint das Wesen der Sünde bestimmt durch die Zerstörung von Gemeinschaft. Die Folgen dieser gemeinschaftszerstörenden Haltung bestehen für die sündige Person selbst in Isolation und Einsamkeit, das „Alleinsein“ (ebd., 150). Glaube ist dagegen „die geistige Disposition der Gesamtheit einer Persönlichkeit, die voll in eine Gemeinschaft integriert ist“ (ebd., 151). Glaube (faith) darf daher nicht mit belief verwechselt werden. Diese knappen Bemerkungen über Wesen und Bedeutung von Sünde und Glaube im einleitenden Abschnitt werden von Rawls im vierten („Die Bedeutung der Sünde“, Rawls 2010,

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213–251) und fünften Kapitel („Die Bedeutung des Glaubens“, ebd., 252–295) seiner Untersuchung vertieft und weiter entfaltet. Zuvor wird jedoch im zweiten und dritten Kapitel das Gegenprinzip zur personalen Beziehung analysiert, die natürliche, auf den Kosmos bezogene Einstellung. Diese Analyse dient als Grundlage für eine exemplarische, aber durchaus umfangreiche Kritik theologischer Traditionen. Im zweiten Kapitel verteidigt Rawls zunächst die Idee des natürlichen Kosmos gegenüber der Vorstellung, in der Natur als solcher die Wurzel des Bösen erblicken zu wollen. Im anschließenden dritten Kapitel kritisiert er dann die in seinen Augen unzulässige Erweiterung und Übertragung von Eigenschaften und Relationen des natürlichen Kosmos auf die Sphäre menschlicher Gemeinschaft und Personalität.

Verteidigung des natürlichen Kosmos und Kritik seiner Erweiterung Im zweiten Kapitel setzt sich Rawls mit jenen Spielarten einer kosmologischen Fundierung der Ethik auseinander, die den Ursprung des Bösen in der sinnlichen Natur des Menschen situieren. Im Zentrum der Kritik stehen der Dualismus der griechischen Metaphysik und der Gnosis, die beide eine Welt der körperlichen Dinge von einer transzendenten Welt „des Geistes, der Freiheit, der geistigen Schönheit und der Vernunft“ (ebd., 157) trennen. Vor dem Hintergrund der Auffassung, dass das Christentum von seinen Ursprüngen her weder leibfeindlich noch weltablehnend gewesen sei, kritisiert er dessen zunehmende Hellenisierung. In der ursprünglichen Lehre des Christentums sei die materielle Welt als Schöpfung Gottes und daher als etwas in sich Gutes und Wertvolles betrachtet worden. So sei auch die sinnliche Seite des Menschen, sein Körper und die ihm entspringenden physischen Bedürfnisse vom frühen Christentum als „gleichberechtigter Bestandteil unserer Natur“ (ebd., 167) angesehen worden. Als einen wichtigen Beleg führt Rawls die paulinische Vorstellung von der Auferstehung des Leibes an, die sich von der griechischen Vor-

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stellung der Unsterblichkeit und dem ihr zugrundeliegenden Leib-Seele-Dualismus klar unterscheide. Dies habe unmittelbare Folgen für die ethische Einstellung zur Körperlichkeit: „Die christliche Auffassung ist also alles andere als asketisch“ (ebd., 172). Wo immer aber die dualistische griechische Metaphysik Einfluss in der christlichen Theologie erlangt habe, sei eine weltverneinende Tendenz spürbar geworden. Der junge Rawls versucht diese bekannte und aus dem neoorthodoxen Kontext vertraute theologie- und dogmengeschichtliche Auffassung durch einen Abriss der Lehren der Kirchenväter zu erhärten. Besondere Kritik erfährt hier Augustinus, der „vielleicht der ,jenseitigste‘ aller großen Kirchenväter“ (ebd., 169) gewesen sei, da er in seinem theologischen Denken noch überwiegend dem Neuplatonismus verhaftet geblieben sei. Adams weist in seinem umfangreichen Kommentar darauf hin, dass der „historische Rahmen von Rawls’ Kritik an Augustinus … in weiten Teilen von Anders Nygren entliehen“ (ebd., 57) ist. Nygren hat in seinem einflussreichen und gerade für Rawls wichtigen Werk Eros und Agape (Nygren 1932) zwei Konzeptionen der Liebe unterschieden, die für ihn durch Platon und Paulus repräsentiert werden. Nach Adams’ Einschätzung handelt es sich bei diesem Buch „um die berühmteste und einflußreichste Studie über die christlichen Ideen der Liebe des 20. Jahrhunderts“ (ebd., 57). Wichtiger als diese theologiegeschichtliche Rekonstruktion ist in ethischer Hinsicht die auf diesem Weg entwickelte systematische Kritik jener Auffassung „wonach das Fleisch oder die Begierden oder die Sinnenwelt im allgemeinen die Ursache des Bösen sind“ (172). Hier bezieht sich Rawls ausdrücklich auf Philip Leons grundlegende Unterscheidung zwischen „Selbstsucht“ und „Geltungssucht“. Er gebraucht diese Unterscheidung, um Wesen und Folgen der Sünde zu bestimmen. Aufgrund ihrer für die menschliche Gemeinschaft zerstörerischen Konsequenzen ist Geltungssucht für Rawls die Sünde schlechthin. Anders als die Selbstsucht ist sie nicht Folge der natürlichen Bedürfnisse. „Der für die Sünde verantwortliche und von der Begierde zu unterscheidende Faktor ist jene geistige Verdorben-

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heit, die personale Beziehungen verdirbt und selbst eine Sünde ist“ (ebd. 182). Genau aus diesem Grund erscheint auch die „griechische Analyse in Begriffen von Vernunft und Verlangen […] völlig unangemessen, um diese Wahrheit zu verstehen. Bei solchen Voraussetzungen ist es nicht überraschend, daß die Griechen nie einen angemessenen oder überzeugenden Begriff der Sünde entwickelt haben“ (ebd., 182). Die Erklärung der Sünde als Folge einer „geistigen Verdorbenheit“ bedeutet gerade keine Abwertung der körperlichen Natur des Menschen. Der Körper bietet vielmehr eine „unentbehrliche Voraussetzung der Gemeinschaft“ (ebd. 186). Körperliche Ausdrucksmittel wie Worte, Gesten, Mimik gehören Rawls zufolge zu den notwendigen Zeichen, die zwischen Personen vermitteln und Gemeinschaft stiften. Problematisch ist also nicht die ‚kosmologische‘ Betrachtung der menschlichen Bedürfnisse und des Körpers, sondern die Ausweitung und Anwendung dieser Begriffe auf alle Arten zwischenmenschlicher Beziehungen. Auf diese Weise werden die intersubjektiven Beziehungen der Gemeinschaft zu objektiven Beziehungen einer Person zu Gegenständen. Rawls kritisiert im folgenden dritten Kapitel (188–212) diese in seinen Augen unzulässige Ausweitung des für den natürlichen Kosmos konstitutiven Typ von Beziehung, die zu einer totalisierenden Naturalisierung aller Weltbezüge führt. Die kritisierte Erweiterung und Übertragung der Kategorien des natürlichen Kosmos führt zu einem falschen Grundansatz der Ethik. Das Gute wird hier nämlich als ein erstrebenswertes Objekt verstanden. Diese Auffassung, wonach das „gute Leben“ darin bestehen soll, „irgendein Objekt zu erstreben“ (ebd., 193) stellt Rawls zufolge nicht nur eine falsche begriffliche Bestimmung des Grundprinzips der Ethik dar, sondern führt auch in moralpsychologischer Hinsicht zu einer unangemessenen Bestimmung der Motivationsgründe für verantwortliches Handeln. Selbst Platon habe in seiner Pädagogik und Staatslehre eingestanden, dass das Streben nach dem Guten nicht universal und naturgegeben sei, sondern durch erzieherische und politische Maßnahmen

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der Überwachung und Disziplinierung erst erzwungen werden müsse. Aristoteles, Augustinus und Thomas von Aquin folgen Platon in dieser Hinsicht. In ihren moralphilosophischen Ansätzen offenbart sich der Widerspruch, dass sie „es zwar für wahr halten, daß das Gute ein Objekt ist, aber zugleich die offensichtliche Tatsache unterstreichen, daß die Menschen tatsächlich nicht danach streben bzw. nicht in der Lage dazu sind“ (ebd.,193). Nicht zuletzt die ablehnende Haltung gegenüber dieser metaethischen Orientierung dürfte Rawls motiviert haben, die Rede vom „guten Leben“ grundsätzlich als eine „abscheuliche Phrase“ (Rawls 2010, 193) zu bezeichnen. Habermas hat sich in seinem Kommentar zur politiktheoretischen und philosophischen Bedeutung der theologischen Ethik des jungen Rawls dezidiert auf dieses pejorative Urteil zum Konzept des guten Lebens bezogen. Kritikwürdig erscheint Rawls die Idee des guten Lebens auch und gerade in theologischer Hinsicht. Denn das Gute als ethisches Grundprinzip manifestiert die Logik natürlicher Relationen. Dies schließt Gott ein, der unter der Vorstellung des höchsten Gutes als das vollkommene Objekt erstrebt wird. Somit wird auch die Gnade als eine natürliche Relation verstanden, in der sich Gott dem menschlichen Willen als Gegenstand seines höchsten Verlangens präsentiert. Durch die Verallgemeinerung und Entgrenzung der Perspektive des natürlichen Kosmos werden interpersonale Beziehungen zu objektiven Relationen, deren Energie und Motivation sich aus dem begehrenden Verlangen nach dem objektivierten Anderen speist. Beziehungen dieser Art sind aber keine selbstlose Liebe im christlichen Sinne, sondern stellen ein besitzorientiertes Verhältnis dar. Das Gute als Objekt von Streben und Verlangen zu verstehen, führt also nicht nur zu einer fragwürdigen begrifflichen Grundlegung der Ethik, sondern auch zu einer unangemessenen Bestimmung jener fundamentalen theologischen Kategorien, die das das Verhältnis von Personen zu sich selbst und zu anderen personalen Wesen bestimmen: Sünde und Glaube.

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Die Bedeutung von Sünde und Glaube Nachdem Rawls im zweiten Kapitel seiner Untersuchung „den natürlichen Kosmos verteidigt“ (ebd., 213), also die Annahme zurückgewiesen hat, dass die Wurzel des moralisch Bösen in der menschlichen Natur liege und im dritten Kapitel aber die Ausweitung der Begriffe natürlicher Beziehungen auf Kategorien der Personalität und Gemeinschaft zurückgewiesen hat, nimmt er in den beiden letzten Kapiteln die im Einleitungsabschnitt eingeführten Bestimmungen von Sünde und Glaube wieder auf und vertieft sie. Das vierte Kapitel behandelt zunächst die „Bedeutung der Sünde“. Sünde als Zerstörung von Gemeinschaft zeigt sich sowohl in der Form der Selbstsucht wie der Geltungssucht. Während die Selbstsucht das personale Gegenüber als Objekt benutzt, wird es durch die Geltungssucht missbraucht. Selbstsucht verhält sich indifferent gegenüber Personalität und Gemeinschaft, Geltungssucht zerstört sie. Geltungssucht zeigt sich im Willen auszuschließen, geschlossene Gruppen zu bilden und in der Weigerung zu teilen, also in der Ablehnung von Fairness und Gerechtigkeit. Moralpsychologisch betrachtet bildet der Stolz den Kern der Geltungssucht. Stolz ist nicht nur die Verweigerung von Gemeinschaft, sondern der Unwille dies als einen Fehler einzusehen und einzugestehen. Stolz ist die höchste und hochmütigste Form der Ablehnung einer Gemeinschaft mit Gott und den Mitmenschen. Die Konsequenz der Sünde ist das Alleinsein (ebd., 243); Alleinsein „bedeutet den Tod der Persönlichkeit“ (ebd., 244). Die Sünde ist deshalb tödlich, weil sie die Bestimmung des menschlichen Lebens, den „Zweck der Schöpfung“ missachtet. Rawls beschreibt die Konsequenz der Sünde, die zu einer verzweifelten Einsamkeit, zum Tod der Persönlichkeit führt, im Anschluss an Nietzsche und Kierkegaard. Das fünfte und letzte Kapitel der Bachelorarbeit von Rawls behandelt die „Bedeutung des Glaubens“ (252–295). Es stellt das „Gegenstück zu dem Kapitel über die Bedeutung der Sünde“

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(ebd., 252) dar. „So wie uns die Sünde von der Gemeinschaft und somit auch der Personalität abtrennt und sie zerstört, gliedert uns der Glaube in die Gemeinschaft ein und stellt sie wieder her“ (ebd. 252). Da das Wesen der Sünde die Zerstörung von Gemeinschaft bedeutet, kann die Wiederherstellung von Gemeinschaft nur durch Umkehr, durch die Abkehr von der Sünde geschehen. Genau in dieser Umkehr sieht Rawls die Aufgabe des Glaubens, den er also nicht primär als eine Form der Gewissheit oder des Fürwahrhaltens von Sätzen versteht, sondern als Bekehrung. Da Sünde als die Verweigerung und Zerstörung von Gemeinschaft in personalen Kategorien verstanden werden muss, kann auch die Wiederherstellung der Gemeinschaft, die Überwindung der Sünde durch Bekehrung, nicht in Begriffen natürlicher Beziehung gedacht werden. Erlösung kann nicht durch ein natürliches Geschehen erfolgen, sondern muss ein personales und gemeinschaftliches Handeln sein, „das heißt ein Handeln, das von anderen gemeinsam mit uns vollzogen wird“ (ebd., 253). Mit dieser Voraussetzung gewinnt Rawls ein Kriterium, unzureichende theologische und säkular-humanistische Vorstellungen von Erlösung zurückzuweisen. Wenn Ethik in Begriffen natürlicher Beziehungen gedacht wird, das Gute also als ein Objekt des Begehrens vorgestellt wird, dann führt dies zu einer Vorstellung von moralischer Verfehlung als einem Streben nach unangemessenen Gütern. Dann wird auch die Abkehr von diesem Fehlverhalten, theologisch; die Umkehr des sündigen Menschen, in Begriffen natürlicher Beziehungen vorgestellt. Für eine theologische Ethik, die sich in einem solchen Bezugsrahmen bewegt, ist Erlösung dann „der Prozeß, in dem die begehrlichen Sehnsüchte der Natur auf die ihnen entsprechenden Objekte gelenkt werden. Das gute Leben besteht darin, das Verlangen in die richtigen Kanäle der Impulse und des Handelns zu lenken. Das Problem der Erlösung ist demzufolge ein natürliches Problem, eines der Veredelung der Begierden“ (254). Die Vorstellung von Erlösung in natürlichen Relationen ist Rawls zufolge weit ver-

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breitet in der Geschichte der christlichen Theologie. Aber auch in der säkularen Moderne gibt es zahlreiche ethische Konzeptionen, in denen die Wiederherstellung zerstörter Gemeinschaft gemäß der Logik natürlicher Beziehungen gedacht wird. So kritisiert Rawls etwa die „recht einflußreiche Konzeption der Erlösung, die sie mit Wirtschaftsreformen gleichsetzt“ (ebd., 255). Zu den von Rawls kritisierten modernen innerweltlichen Konzeptionen von Erlösung gehört auch der Sozialdarwinismus, vor allem jene Varianten, die das Prinzip des ,Überleben der Stärksten‘ stark biologistisch interpretieren. Rawls betont dagegen, dass menschliches Handeln nicht rein biologisch zu verstehen sei, sondern gemeinschaftlich. „Der Mensch ist kein Tier, sondern eine Person“ (256). Die „modernen Anthropologien“ (257) bleiben Rawls zufolge insgesamt oberflächlich. „Die erste Aufgabe der ethischen Theorie ist daher, die Natur des Menschen zu untersuchen“ (257) und adäquat zu bestimmen, eben als personales und gemeinschaftliches Wesen. Erst vor diesem Hintergrund, werden auch die Hemmnisse richtig verstanden, die den Menschen daran hindern, „aus eigenem Antrieb in die Gemeinschaft einzutreten“ (ebd., 260). Das erste Hemmnis besteht nach Rawls in jenem lähmenden inneren Spannungszustand, der „aus dem Wissen um die eigenen Verfehlungen entsteht“ (ebd., 261). Dieses Wissen „stürzt das Selbst in einen Zustand der Verwirrung, Unsicherheit und Spannung“ (ebd., 261). Die „Ängstlichkeit und Spannung“ (ebd., 262) ist Folge der Sünde. Ein weiteres Hemmnis folgt aus der Einsicht, dass Vernunftgebrauch und Erkenntnisvermögen als Mittel zur Transformation des schuldig gewordenen Selbst nicht ausreichen. Dies gilt gerade auch in für die Möglichkeit der Erkenntnis Gottes. Daher ist auch die natürliche Theologie „angesichts der Personalität Gottes hilflos. Denn während natürliche Objekte ihre Natur unmittelbar offenbaren, müssen Personen „einwilligen, um Wissen über sich selbst preiszugeben. Durch vernünftiges Überlegen kann der Mensch daher wenig über Gott erfahren“ (ebd., 263). „Der Mensch muss

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daher warten, bis Gott zu ihm spricht“ (ebd., 263). Das Wesen Gottes ist mit den Mitteln rationaler Theologie nur begrenzt erkennbar. Man entdeckt es dem jungen Rawls zufolge „nicht durch das Spielen mit metaphysischen Kategorien, sondern es wird uns unmißverständlich im Erfahren Seines Wortes gezeigt“ (ebd., 283) Die natürliche oder rationale Theologie, wie sie paradigmatisch in den Gottesbeweisen vorliegt, wird von Rawls daher nicht so sehr aus epistemologischen oder metaphysischen Gründen kritisiert, sondern in ethischer und harmatologischer Perspektive. Das Alleinsein der Sünde schließt die Abwendung von und das Alleinsein vor Gott ein. Das führt zur Erfahrung des Schweigens Gottes, das nur durch die Offenbarung Gottes, durch seine Offenheit und Mitteilung durch das Wort überwunden werden kann. Aus der Erfahrung des Alleinseins vor dem schweigenden Gott entsteht jedoch die Neigung, nicht auf Gottes Mitteilung zu warten, sondern die Gesprächslücke durch projektive Vorstellungen über ihn zu füllen. Die Erfahrung der Abwesenheit und des Schweigens Gottes bewirkt die Übertragung der „eigenen Gefühle und Sünden in das Geheimnis Gottes“ (ebd., 264). Diese Haltung führt zur Produktion anthropomorpher Bilder, die den verschlossenen Gott etwa als zornig, grausam, bestrafend oder gleichgültig vorstellen. „Der Mensch stellt sich Gott nach seinen eigenen Begriffen vor, das heißt in Begriffen der Sünde“ (ebd., 266). Der stärkste Ausdruck der Sünde besteht nach Rawls in der Projektion der eigenen Geltungssucht auf Gott, der dann als selbstgefälliger, geltungssüchtiger Narzisst imaginiert wird. Dies ist ein besonders großes Hemmnis der Erlösung, denn der „Mensch wird mit Sicherheit daran scheitern, eine Gemeinschaft aufzubauen, wenn er sich Gott als einen verherrlichten Geltungssüchtigen vorstellt“ (ebd., 266). Aus der natürlichen Beziehung, die sich in Selbstsucht äußert und zur Geltungssucht steigern kann, folgen falsche Vorstellungen über Gott. Diese Fehldeutungen des göttlichen Wesens sind nicht in der Lage, das sündige Wesen

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zu verändern. Daher führt Sünde, der Selbstausschluss aus der personalen Gemeinschaft auf Dauer zu anderen, mangelndem gesellschaftlichem Vertrauen, das durch äußerliche stabilisierende Maßnahmen kompensiert werden soll. Auf den Mangel an sozialem Vertrauen reagiert eine Strategie des Aushandelns. Die Geschäftsgrundlage (bargain basis) des Aushandelns ist Rawls zufolge die „Methode, die der Sünder verwendet um den ‚anderen‘ zu binden und sich selbst zu schützen. Das Aushandeln hat seinen Ursprung in der Furcht“ (ebd., 266). Rawls schließt hier ausdrücklich die klassischen Lehren vom Gesellschaftsvertrag ein, die auf einer Anthropologie der Furcht beruhen. Solange die sündhafte Verschlossenheit, die zu Angst und Frucht voreinander führt, nicht überwunden ist, bleibt jede vertragliche Kooperation prekär und äußerlich und stiftet keine echte Gemeinschaft von sich wechselseitig respektierenden Personen. Der Mangel an Vertrauen führt zu einer Auflösung von Gemeinschaft. „Der Versuch, eine Gemeinschaft auf Furcht aufzubauen, ist daher zwecklos“ (ebd., 268). Diese Vorstellung eines äußerlichen commercium kann erlösungstheologisch auch auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch übertragen werden. Das „Verdienstprinzip“ zeigt einen „offenkundigen Mangel an Glauben“ (ebd., 268). Rawls verknüpft in seiner Ablehnung der Idee des Verdientes als Strukturprinzip von Erlösung und intersubjektiver Beziehung also theologische mit sozialethischer Kritik. Verdienst ist für die Bildung von Gemeinschaft unerheblich, einerlei, ob es sich dabei um die menschliche Gemeinschaft oder das menschliche Verhältnis zu Gott handelt. „Die Idee von Belohnung und Verdienst ist also nur ein weiteres Hemmnis, das der Mensch zwischen sich und Gott sowie anderen Menschen schafft“ (ebd., 269). Allen diesen genannten Hemmnissen und Barrieren der Erlösung liegt „die Geltungssucht der Sünde zugrunde“ (ebd., 270). Rawls zieht daraus den Schluss, „daß der Mensch sich nicht selbst retten kann“ (ebd., 271). Die zerstörte Gemeinschaft kann nicht von denjenigen aus eigener Kraft wiederhergestellt werden, die Gemeinschaft prinzipiell ausschließen und durch ihre

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Geltungssucht gefährden. Da Sünde nicht in Begriffen natürlicher Beziehungen erklärt werden kann, kann auch die zerstörte Gemeinschaft nur durch das Handeln einer Person erklärt werden, die sich in Freiheit offenbart, das heißt öffnet und mitteilt. Damit ist in theologischer Begrifflichkeit die Frage nach der Wiederherstellung von Gemeinschaft als Aufgabe der Umkehr, der Bekehrung gestellt. Folgerichtig zielt Rawls im folgenden Abschnitt auf eine angemessene Bestimmung von Bekehrung. Ein „umfassendes Verständnis von Bekehrung“ ist „vollkommen unerläßlich für das Verständnis des Christentums“ (ebd., 273), das Thema der Bekehrung bildet „die Synthese der christlichen Erfahrung“ (ebd., 273). „Bekehrung“ ist für Rawls kein extraordinäres und außernatürliches Geschehen. Bekehrung ist vielmehr „jenes intensive Erlebnis, dem Wort Gottes ausgeliefert zu sein“ (ebd., 272). Das Bekehrungserlebnis besteht in einer Einheit von Gericht und Gnade im göttlichen Urteil. Gottes Wort, Gottes Offenbarung verbindet Erlösung mit Verurteilung und stellt auf diese Weise die durch die Sünde zerstörte Gemeinschaft wieder her. Auf diese Weise wird der stolze Gedanke unterbunden, dass sich die Wiederherstellung der Gemeinschaft der eigenen Leistung verdankt. Denn sonst würde die Aktion, die zu Wiederherstellung der zerstörten Gemeinschaft führen soll, wieder in Kategorien natürlicher Beziehungen gedacht, wodurch der wahre Charakter der Gemeinschaft wiederum unterlaufen würde. Da also Offenbarung und Bekehrung intrinsisch mit Verurteilung verbunden sind, wird dem bekehrten Sünder, also der in die Gemeinschaft re-integrierten Person bewusst, dass dieses erlösende Geschehen der Wiederherstellung von Gemeinschaft und Persönlichkeit nicht ihr eigener Verdienst ist. Erst durch den Verzicht auf den Gedanken des Verdienstes, durch das Unterlassen geltungssüchtiger Prahlerei, entsteht stabile Gemeinschaft. Es ist deutlich, wie Rawls hier in den neoorthodox gefärbten theologischen Begriffen von Offenbarung, Wort Gottes und Rechtfertigung aus Gnade Begriffe entwickelt, die auch für seine spätere politische Philosophie

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prägend geblieben sind. Seine soteriologisch motivierte Ablehnung des Prinzips der Meritokratie artikuliert sich in seiner späteren politischen Philosophie in Gestalt der Überzeugung, dass eine stabile und vernünftige Gesellschaft nicht auf dem Prinzip des Verdienstes gegründet werden kann. Wenn nun aber die Initiative zur Erlösung ganz von der Offenbarung des souveränen Gottes ausgeht, der allein Bekehrung ermöglicht, entsteht das Problem der Prädestination, der doppelten Erwählung zu Verdammnis und Heil. Das Prinzip der Gnade scheint somit der Vorstellung der Güte Gottes zu widersprechen und den sündigen Menschen zu fatalistischer Passivität zu verurteilen. Die Lösung des Problems liegt Rawls zufolge in der Doppelstruktur der Erwählung: Die erwählte Person wird nicht elitär herausgehoben und gegenüber anderen bevorzugt, sondern besitzt eine stellvertretende Funktion für die Integration und Versöhnung der gesamten Gemeinschaft. „Die Erwählten werden ausgesucht, um die Gemeinschaft wiederzubegründen“ (ebd., 289). Rawls kann daher zum Anschluss seiner Untersuchung resümieren, die „Kategorien des natürlichen Kosmos verworfen und Sünde und Glaube in Begriffen der Gemeinschaft erklärt“ (294) zu haben.

Über meine Religion – Rawls’ Distanzierung vom Christentum Nagel hat Rawls’ Bachelorarbeit, die kurz nach seinem Ableben von Eric Gregory, Professor am Princeton Religion Department, in der Universitätsbibliothek von Princeton entdeckt wurde, gemeinsam mit dem bis dahin ebenfalls unveröffentlichten autobiographischen Text „Über meine Religion“ ediert (Rawls 2010, 301–312). Auch dieser Text wurde erst nach dem Tod von Rawls aufgefunden, unter den Dateien auf seinem Computer. Diese eher kurze Stellungnahme wurde offenbar 1997 verfasst. Rawls reflektiert hier sein Verhältnis zur Religion und schildert den Prozess seiner zunehmenden Distanzierung vom Christentum. Diese Reflexion umfasst aber nur etwa die

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Hälfte des Textes. Die zweite Hälfte bezieht sich auf die Schrift Kolloquium der Sieben von Jean Bodin und die dort entwickelte Theorie religiöser Toleranz. Rawls betont gleich zu Beginn, dass die Bemerkungen über seine Religion allein für ihn selbst von Interesse seien, „weil ihre verschiedenen Phasen und deren Abfolge nicht ungewöhnlich oder besonders aufschlußreich“ (ebd., 303) erscheinen. Er erwähnt kurz seine konventionelle religiöse Prägung durch seine Mutter, die Mitglied der Episcopalian Church war und seinen Vater, einem Southern Methodist; mit beiden Eltern, die er als „konventionell religiös“ (ebd., 303) bezeichnet, hat er die Episkopalkirche in Baltimore besucht. Auch seine eigene Religiosität bewegte sich über viele Jahre hinweg in einem konventionellen Rahmen. Dies hat sich offenbar in seinen beiden letzten Jahren in Princeton geändert, in denen er sich „tiefgreifend mit Theologie und ihrer Glaubenslehre“ (ebd., 303) befasst hat. In dieser Phase hat Rawls „sogar in Erwägung gezogen das Priesterseminar zu besuchen“ (ebd., 303), sich dann aber für den Kriegsdienst entschieden, nicht zuletzt auch aus einer gewissen Skepsis heraus, denn er habe sich nicht davon überzeugen können, „daß meine Motive aufrichtig waren“ (ebd., 303). So begann er nach eigenen Worten „als gläubiger, orthodox-episkopaler Christ, gab diesen Glauben aber bis zum Juni 1945 gänzlich auf“ (ebd., 303). Rawls benennt drei einschneidende biographische Ereignisse während des Krieges, die er mit den Stichworten „Kilei Ridge; Deacons Tod; das Hören vom und das Nachdenken über den Holocaust“ (304) beschreibt, die ihn zur Aufgabe seiner religiösen Überzeugungen veranlasst haben. Diese Erfahrungen lassen sich theologisch als persönliche Reaktionen auf die Konfrontation mit Dimensionen des TheodizeeProblems deuten. Das erste Ereignis bestand in der politischen und theologischen Instrumentalisierung von Opfern des Krieges. Rawls hat als Soldat an den Kämpfen um Kilei Ridge teilgenommen, die im Pazifikkrieg eine entscheidende Rolle bei der Rückeroberung der Philippinen durch die

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US-Armee spielten. Nach Abschluss der Kampfhandlungen, die von Mitte Oktober bis Ende Dezember 1944 anhielten, wurden 26 gefallene amerikanische Soldaten gezählt, auf Seiten der Japaner gab es mindestens 900 Todesopfer. Dies hat einen lutherischen Pastor zu einer Predigt veranlasst, in der er Rawls zufolge behauptete, „Gott hätte unsere Kugeln auf die Japaner gelenkt, während er uns vor ihnen schützte“ Rawls schildert eindringlich die Wut, die diese Predigt in ihm ausgelöst hat. „Der zweite Vorfall – Deacons Tod – ereignete sich im Mai 1945 … auf Luzon“ (304). Rawls, der sich für einen Sondereinsatz bereitgehalten hatte, wurde aufgrund seiner passenden Blutgruppe zur Blutspende ins Lazarett abgeordnet, während sein Freund Deacon an seiner Stelle einen Erkundungsgang unternahm, bei dem er getötet wurden. Es ist also der Zufall und die ‚unverdiente‘ Eigenschaft seiner Blutgruppe, die Rawls das Leben gerettet hat und offenbar das bleibende Schuldgefühl des zufällig und ohne eigene Verdienste Überlebenden erzeugte. Beim dritten Ereignis handelt es sich um die Berichte über den Holocaust, mit denen Rawls ab April 1945 wiederholt konfrontiert wurde. „Diese Ereignisse, besonders das dritte“, so Rawls, „beeinflußten mich auf dieselbe Art. Ich begann mich zu fragen, ob Beten überhaupt möglich ist“ (ebd., 305). So entwickelte sich in „den darauffolgenden Monaten und Jahren … eine immer stärkere Ablehnung in Bezug auf die wichtigsten Glaubenssätze des Christentums, das mir mehr und mehr fremd wurde“ (ebd., 305). Das Fazit dieser Entfremdung lautet: „Das Christentum ist eine einzelgängerische Religion. Jeder wird individuell gerettet oder verdammt, und man richtet seine Aufmerksamkeit natürlicherweise auf die eigene Rettung“ (ebd., 307). Es ist also gerade der Vorwurf, den der junge Rawls gegenüber den mit natürlichen Beziehungskategorien operierenden individualistischen Güterethiken erhoben hat, die er nun gegen das Christentum als solches richtet. Die zweite Hälfte von Über meine Religion bezieht sich auf die Schrift Kolloquium der Sieben von Bodin und die dort entwickelte Theorie

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religiöser Toleranz. Dies wirkt zunächst wie ein stilistischer Bruch, lässt sich aber als Ausdruck einer Transformation von religiösen Ideen verstehen, die für den jungen Rawls in seiner Jugend noch performativ wirksam waren, nach seinem Bruch mit dem Christentum nun in theoretische Begriffe der politischen Philosophie verwandelt wurden. Es sind vor allem drei Dinge die Rawls bei Bodin als „besonders bemerkenswert“ (ebd., 308) erscheinen. Zum einen ist es die von Bodin vertretene Vorstellung einer intern religiösen Begründung von Toleranz. Dies wirkt wie ein Vorgriff auf Rawls’ Interpretation, wonach Religion eine mögliche Ressource der Begründung und Anerkennung der vernünftigen Prinzipien der Toleranz sein könne. Zweitens ist für Rawls die epistemische Enthaltsamkeit von Bodin bemerkenswert. Der Austausch über andere religiöse Auffassungen darf nach Bodin nie dazu führen, die andere Person anzugreifen. Aus Achtung vor der anderen Person wird der Streit über die letzte Wahrheit von Überzeugungen eingeklammert. Der politische Liberalismus unterscheidet sich nicht zuletzt dadurch von metaphysischen oder umfassenden Versionen des Liberalismus, dass er Toleranz als zentrales epistemisches Prinzip erachtet. Schließlich bildet für Bodin die Akzeptanz der Prinzipien der Toleranz durch die Religion das Kriterium für die Erlaubnis ihres öffentlichen Auftretens. Religionen werden in der Öffentlichkeit in dem Maße toleriert, indem sie selbst die Prinzipien und Grenzen der Toleranz tolerieren und akzeptieren. An Rawls’ Interesse an Bodin lassen sich also in methodischer Hinsicht „Schritte des Politischen Liberalismus“ (ebd., 309) erkennen.

Habermas: Die Bedeutung der religiösen Ethik für Rawls’ Politische Theorie Die deutsche Ausgabe der Abschlussarbeit des jungen Rawls wurde um einen Text von Jürgen Habermas erweitert, den dieser ursprünglich für die Deutsche Zeitschrift für Philo-

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sophie verfasst hatte. Angesichts des bereits in der amerikanischen Originalausgabe enthaltenen ausführlichen Kommentars von Cohen und Nagel und der theologischen Einordnung durch Adams beschränkt sich Habermas auf vier Bemerkungen. Die Arbeit verdiene Interesse „als ein überraschendes Zeugnis für die Biographie des Werkes und der Person des bedeutendsten politischen Theoretikers des 20. Jahrhunderts“ (ebd., 315). Die „philosophische Substanz“ dieser Arbeit bestehe „in einer kommunikationstheoretisch entfalteten religiösen Ethik, die schon alle wesentlichen Aspekte einer auf den absoluten Wert des Individuums zugeschnittenen, egalitär-universalistischen Sollensethik enthält“ (ebd., 315). Drittens biete die Arbeit des jungen Rawls ein herausragendes Beispiel für ein philosophisches Programm der „Übersetzung religiöser Motive“ (ebd., 315). Viertens und schließlich enthalte diese Schrift bereits entscheidende „Motive für die spätere Erkenntnis, daß die Säkularisierung der Staatsgewalt nicht mit der Säkularisierung der Bürgergesellschaft verwechselt werden darf“ (ebd., 315). Als entscheidend für Rawls’ Politischen Liberalismus erachtet Habermas die Verschränkung der normativen Grundbegriffe einer Idee der wohlgeordneten Gesellschaft und des politischen Begriffs der Person mittels der Idee der Gerechtigkeit als Fairness. Die bereits in der Theorie der Gerechtigkeit entwickelte normative Idee der prozeduralen Gerechtigkeit werde durch das Programm des politischen Liberalismus zwar nicht inhaltlich verändert, aber in den erweiterten theoretischen wie praktischen Kontext einer vernünftig eingerichteten pluralistischen Gesellschaft eingeordnet. In diesem erweiterten Kontext kommt der Rolle der Religion und ihrem Verhältnis zu den vernünftigen Prinzipen einer allgemeinen Rechtfertigung des säkularen Verfassungsstaates eine besondere Rolle zu. Die „neuentdeckte historische Quelle (ebd. 318) in Gestalt seiner Bachelorarbeit zeige nun, dass Rawls nicht erst durch das intensive Studium der Klassiker der politischen Philosophie wie Kant und Hegel dazu angeregt worden sei,

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den internen begrifflichen Zusammenhang zwischen den Vernunftkonzepten der Person und der Gemeinschaft mittels eines Konzeptes der ethischen Normativität herzustellen. Bereits die „religiös konnotierten Begriffe“ der Person und der Gemeinschaft, die er im theologischen Kontext entwickelte führen „jenen normativen Gehalt mit sich, der in die Grundbausteine der ausgearbeiteten Politischen Theorie eingehen wird“ (ebd. 318). Habermas zufolge sind es vor allem vier Aspekte seiner Moralphilosophie und politischen Theorie, die der junge Rawls durch seine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen theologischen Konzeptionen von Ethik gewinnt. Aus der Transzendenz Gottes ergibt sich der „deontologische Sinn ‚unbedingt‘ gültiger moralischer Gebote“ (ebd., 322). Die Kritik an Theorien, die das Ethische im Streben nach vollkommenen Gütern verankern wollen, vermittelt bereits dem jungen Rawls den Sinn für eine deontologische Deutung der unbedingten Sollgeltung moralischer Prinzipien. Neben dem Gespür für den deontologischen Charakter moralischer Prinzipien vermittelt die Diskussion um die religiöse Ethik auch einen Sinn für „die unvergleichliche Würde der einzelnen Person“ (324). Der deontologische und der auf die Würde der individuellen menschlichen Person bezogene Sinn moralischer Sollgeltung werde im Kontext der theologischen Ethik um zwei weitere Aspekte ergänzt, die später auch in der Reformulierung im Sinne eines Kantischen Konstruktivismus entscheidend bleiben. Es handelt sich um die „Forderungen nach radikaler Gleichbehandlung und vollständiger Inklusion“ (325) als Grundmerkmale einer gerechten Gemeinschaft. Der in der frühen Auseinandersetzung mit der theologischen Ethik geschärfte Sinn von Rawls für die Prinzipien radikaler Gleichbehandlung und vollständiger Inklusion prägt auch seine Konzeption des vernünftigen Pluralismus, die religiöse Überzeugungen und andere Weltanschauungen nicht neutralisiert und aus der Sphäre der politischen Öffentlichkeit ausschließt. Die eigene religiöse Prägung ­verleiht

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Rawls zudem einen Sinn für die motivationale Kraft einer lebensweltlichen Einbettung von Vernunftprinzipien. Deren begründungstheoretischer Vorrang muss aber argumentativ bewahrt werden. Habermas sieht daher in Rawls’ Prinzip des übergreifenden Konsenses ein Programm, das bei allen Differenzen Ähnlichkeiten besitzt mit seinem eigenen Ansatz einer Übersetzung religiöser Gehalte in säkulare Begriffe. Habermas schlägt allerdings in Ergänzung eine kommunikationstheoretische Deutung der religiösen Ethik des jungen Rawls vor. Dieser habe nämlich am „Modell der Glaubensgemeinschaft“ ein Gespür für die kommunikative Dimension von Vergemeinschaftung entwickelt, das er aber „später aus den Augen verlieren wird“ (ebd., 318). Analog zu seiner Deutung des jungen Hegel erblickt Habermas auch im jungen Rawls einen Autor, der in seinen Frühschriften ursprünglich den Ansatz einer kommunikativen Ethik in religiös aufgeladenen Termini der Liebe und der geschwisterlichen Gemeinde erfasst, dann aber nicht weiter systematisch entfaltet. Mit Blick auf Rawls erscheint dies aber als eine Überbetonung der begrifflichen Bedeutung der religiösen Gemeindeerfahrung. Zudem stellt Rawls’ Auffassung von Offenbarung als durch Zeichen vermitteltes Geschehen keine Theorie kommunikativen Handels im Habermasschen Sinne dar. Die Vermittlungsfunktion von Zeichen ist beim jungen Rawls stark an eine Theologie der Offenbarung und des Wortes Gottes gebunden und nicht an eine Philosophie der Sprache. Der interpersonale Gebrauch von Worten und anderen Zeichen wird nicht mit der kognitiven Dimension des Erhebens von Geltungsansprüchen verknüpft. Zudem trennt Rawls kategorial die natürliche Einstellung zu Objekten von intersubjektiven Beziehungen zwischen Personen. Die Bezüge zur objektiven, subjektiven und intersubjektiven Welt sind nicht wie Habermas durch den Gebrauch des Systems der Personalpronomina mit einer Form der Kommunikation verbunden, in der sprechende Personen sich mit anderen über etwas verständigen.

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Aus diesem Grund ist die Rawlssche Idee des übergreifenden Konsenses als Modell der Vermittlung zwischen allgemeinen Vernunftprinzipien und ‚umfassenden Lehren‘ auch nicht mit einem sprachphilosophischen Programm der Übersetzung religiöser Überzeugungen verbunden.

Zusammenfassung: Rawls und die Theologie In ihrem Kommentar nennen Cohen und Nagel fünf Aspekte, die eine Verbindung der frühen theologisch artikulierten sozialethischen Überlegungen von Rawls und seiner späteren Moralphilosophie und politischen Theorie markieren. Es handelt sich zum einen um die Definition des Prinzips der Moral auf der Grundlage eines Konzepts zwischenmenschlicher Beziehungen, die Rawls gegenüber der metaethischen Idee des Strebens nach dem höchsten Gut bevorzugt. Zudem ist es seine Betonung der Eigenständigkeit von Personen mit der Konsequenz, dass Gemeinschaften, seien sie politischer, gesellschaftlicher oder religiöser Art, als „Beziehung zwischen Individuen im starken Sinne“ (ebd., 16) gedacht werden. Mit seinen theologischen Konzepten der Sünde und der Gemeinschaft ist die Zurückweisung der Vorstellung verbunden, „Gesellschaft sei ein Vertrag oder Handel zwischen egoistischen Einzelpersonen“ (ebd., 16). Seine theologische Kritik der Geltungssucht als der Ursünde schlechthin führt schließlich zu Zurückweisung der Idee des Verdienstes und Verurteilung aller Arten von Ungleichheit, die auf Exklusion und Hierarchie beruhen. Seine Kritik der rationalen Theologie ist wie die Ablehnung platonischer Ethiken des Guten der Ausdruck seiner fundamentalen Skepsis gegenüber metaphysischen Begründungsfiguren. Rawls versucht die starken ethischen Konzepte, denen die Tradition eine substantielle Lesart gegeben hat, in prozeduralen und relationalen Kategorien interpersonaler Verhältnisse zu rekonstruieren. Es ist aber vor allem die bereits in

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seiner theologischen Bachelorarbeit sichtbar gewordene Bevorzugung der Konzeption der Gerechtigkeit gegenüber dem Guten, welche seine frühe religiöse Ethik ebenso kennzeichnet wie seine reife Moralphilosophie und politische Theorie. Normative Prinzipien der Moral und des Rechts haben nicht die Aufgabe, das Gute zu maximieren, sondern „gleiche Achtung für alle Personen als eigenständige Individuen“ (ebd., 20) zu garantieren. In der Schale seiner frühen theologischen Ethik steckt somit bereits der rationale Kern seiner reifen Philosophie.

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Literatur Leon, Philip: The Ethics of Power. London 1935. Nygren, Anders: Eros und Agape. Westminster 1932. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: A brief inquiry into the meaning of sin and faith. With “On my Religion”. Edited by Thomas Nagel. With commentaries by Joshua Cohen and Thomas Nagel, and by Robert Merrihew Adams. Cambridge 2009. Rawls, John: Über Sünde, Glaube und Religion. Hrsg. Von Thomas Nagel. Mit Kommentaren von Joshua Cohen, Thomas Nagel und Robert Merrihew Adams. Mit einem Nachwort von Jürgen Habermas. Berlin 2010.

Teil III

Werk: Vorlesungen

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Geschichte der Moralphilosophie (2000/2002) Julien Winandy

Die Geschichte der Moralphilosophie nimmt eine eigenartige Stellung im Werk von John Rawls ein, und das gleich in dreierlei Hinsicht. Zum einen ist es ein Buch, das nie als solches konzipiert wurde, sondern eine Sammlung von Vorlesungen, die auf verbreiteten und ergänzten Kopien seiner handschriftlichen Notizen basieren, die seine Studierenden in den 1970er Jahren ihm abrangen, als sie verzweifelt probierten, seine Vorträge mitzuschreiben. Diese Vorlesungen sind in den folgenden zwei Jahrzehnten allerdings grundlegend überarbeitet und in ihrer Version von 1991 im Jahr 2000 in der vorliegenden Ausgabe zum ersten Mal veröffentlicht worden. Insofern handelt es sich um eine Momentaufnahme eines kontinuierlichen Prozesses der Lehrtätigkeit von John Rawls. Nun mag jedes Werk eines Theoretikers immer eine Momentaufnahme des gegenwärtigen Standes von Überlegungen darstellen und diese Feststellung demnach banal sein. Allerdings hängt diese Erkenntnis mit der zweiten Hinsicht zusammen, unter der das Buch eine Sonderstellung im Werk von Rawls einnimmt: Es handelt sich hier nicht um ein theoretisches Buch, sondern um ein Lehrbuch, oder genauer: eine angeleitete Lektüre einzelner Texte moralphilosophischer J. Winandy (*)  Sophie-Scholl-Schule Berlin-Schöneberg, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

Klassiker. In Verbindung mit der herausragenden Stellung, die Rawls der Theoretiker in der politischen und Moralphilosophie des 20. Jahrhunderts einnimmt, könnten diese Vorlesungen insofern dazu verleiten – und den teilweisen Beweis für diese Annahme liefern zumindest die im deutschen Feuilleton veröffentlichten Rezensionen der deutschen Übersetzung des Werkes –, in ihnen eine Fundgrube für die ideengeschichtlichen Grundlagen von Rawls eigenen Theorien zu sehen und sie als Rüstzeug einer erweiterten Rawls-Exegese zu nutzen. Diese Stoßrichtung wird allerdings in zweierlei Hinsicht enttäuscht: Erstens lässt sich in diesem Werk nicht der Prozess des jahrzehntelangen Nachdenkens über Klassiker der Moralphilosophie nachvollziehen, sondern eben nur ein vorläufiges Ergebnis dieses Prozesses, das seinen Verlauf nicht abbildet. Und zweitens tritt Rawls hier tatsächlich nicht als Theoretiker in Erscheinung, sondern als Hochschullehrer, der seine Studierenden in der – seiner Auffassung nach zeitlosen – Lektüre moralphilosophischer Klassiker anleitet. Es geht ihm nicht darum, moralphilosophische Überlegungen zur Formulierung einer eigenen Theorie nutzbar zu machen, sondern um die Fragen, die sich die Autoren der Texte selbst gestellt haben: Es handelt sich bei Rawls’ Interpretation der Werke um den Versuch, „das im Hintergrund stehende Denksystem des betreffenden Autors zu erhellen“ (Rawls 2002, 47), aber auch, um im Studium

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_8

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historischer Texte einzusehen, „­inwiefern philosophische Fragen eine andere Gestalt annehmen können als innerhalb des Denksystems, in dessen Rahmen sie gestellt und von dem sie in der Tat geprägt werden“ (ebd., 46). Und damit hängt die dritte Art der Sonderstellung zusammen, die dieses Buch für das Werk von Rawls einnimmt: Auf der einen Seite versteht es sich, wie der Titel sagt, als Geschichte der Moralphilosophie, und suggeriert somit einen historischen oder zumindest ideengeschichtlichen Ansatz in Rawls’ Vorgehen, den wir aus seinen anderen Texten eher nicht gewohnt sind. Auf der anderen Seite ist diese Suggestion jedoch in jeglicher Hinsicht falsch: Es handelt sich weder um eine Geschichte im historischen Sinne (um die es sich tatsächlich fast nie handelt, wenn Philosophen über das Werk vorangegangener Denker schreiben und das als Geschichte bezeichnen), noch um eine Ideengeschichte im eher philosophischen Sinne der Darstellung der Evolution von Ideen in Auseinandersetzung miteinander. Weder spielt der historische Kontext, in dem „Denksysteme“ (Rawls) entwickelt werden eine Rolle – wenn man von einer kurzen Erwähnung der allgemeinen Situation im Europa des 18. Jahrhunderts sowie minimalen biographischen Angaben zu den Autoren absieht –, noch die Gesamtheit der philosophischen Einflüsse, die sich im Werk der behandelten Autoren niederschlagen. Ebenso wenig handelt es sich um eine Geschichte der Moralphilosophie. Es werden lediglich einzelne Werke von vier Autoren des 18. und frühen 19. Jahrhunderts behandelt – Hume, Leibniz, Kant und Hegel – und auch in deren Behandlung herrscht ein großes Ungleichgewicht. Um es deutlich zu sagen: Rawls setzt sich hier mit der Moralphilosophie von Kant auseinander, indem er die Bereitung des Feldes durch Hume darlegt, einen kurzen Umweg über Leibniz nimmt – in der ursprünglichen Reihenfolge der mündlichen Vorlesungen bilden die zwei Leibniz-Vorlesungen lediglich einen Exkurs im Rahmen der Kant-Vorlesungen – und nach ausführlicher Kant-Exegese kurz Ausschnitte von dessen Rezeption durch Hegel durchnimmt. Insofern kann es nicht verwundern, dass das Buch – mit vorprogrammierter Ent-

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täuschung – herangezogen wird, um neue Einblicke darüber zu gewinnen, welche Rolle Kant für die Entwicklung von Rawls eigener Theorie einnimmt. Somit ist die Herausforderung in diesem Artikel eine doppelte: Einerseits muss ganz klar das Verhältnis von Rawls und Kant im Mittelpunkt stehen, da Kant sowohl die wichtigste Referenz im Rawlsschen theoretischen Werk – vor allem vor Erscheinen des Politischen Liberalismus, aber zum Teil auch danach – einnimmt, als auch das Hauptinteresse der hier vorliegenden Vorlesungen darstellt. Andererseits muss ebenso deutlich die Unterscheidung zwischen Rawls, dem Theoretiker und Rawls, dem Hochschullehrer gemacht werden (vgl. dazu auch Guyer 2014, 547). Insofern die Geschichte der Moralphilosophie – beinharte Rawls-Exegeten ausgenommen – wohl in erster Linie von Studierenden in die Hand genommen werden wird, beginne ich mit einer Darstellung von Rawls, dem Hochschullehrer.

Philosophische Texte lesen mit Professor Rawls Es ist anzunehmen, dass die Geschichte der Moralphilosophie nicht das erste, und vermutlich auch nicht das zweite Buch von John Rawls sein wird, dem Studierende tatsächlich begegnen. Wenn sie dieses Werk im Rahmen einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk von Rawls dennoch lesen, so wird das anfängliche Interesse möglicherweise darin liegen, zu erfahren, wie der große Theoretiker die Geschichte der Moralphilosophie deutet, in welchem ideengeschichtlichen Diskurs er sein eigenes Werk also verorten mag. Wie oben schon beschrieben, wird man in dieser Hinsicht enttäuscht werden: Rawls zeichnet nicht die Geschichte der Moralphilosophie nach, sondern setzt sich „lediglich“ mit dem moralphilosophischen Teil des Werks von Immanuel Kant auseinander, und rahmt dieses unter unterschiedlich intensiver Bezugnahme auf Hume, Leibniz und Hegel. Insofern wäre möglich, dass der Kreis der Lesenden sich nach den

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e­ rsten S ­ eiten und Abschnitten drastisch auf diejenigen reduziert, die – sofern sie eben nicht die beinharten Rawls-Exegeten sind – an Einführungsvorlesungen eines großen Philosophen über Kants Moralphilosophie interessiert sind und nicht an einer Geschichte der Moralphilosophie. Es gibt allerdings einen weiteren Grund, aus dem die neunzehn Vorlesungen von Studierenden, egal in welchem Stadium ihres Studiums sie sich befinden, gelesen werden sollten: Sie bieten die seltene Gelegenheit, von einem der bedeutendsten Denker des zwanzigsten Jahrhunderts darin angeleitet zu werden, philosophische Texte zu lesen und zu interpretieren. Denn das, was in diesen Vorlesungen von Rawls methodisch vorgemacht wird, lässt sich so ziemlich auf jeden philosophischen Klassiker anwenden, v. a. wenn dessen Lektüre zunächst einschüchternd oder gar frustrierend wirken mag. Rawls gelingt hier nämlich das große Kunststück, seine Leserinnen einerseits für die wahnsinnige Komplexität des Kantschen Denkens zu sensibilisieren und die Wichtigkeit akribischer Lektüre herauszustreichen, ihnen andererseits aber durch seine eigene Bescheidenheit die Angst davor zu nehmen, zu glauben, Kant im Wesentlichen verstanden zu haben und eine eigene Interpretation seiner Ideen vorzulegen. Insofern ist schon der Duktus, der einem bei der Lektüre begegnet ein ganz anderer als der, den man aus anderen Werken von Rawls kennt. In seiner einleitenden Vorlesung erwähnt Rawls nicht nur sein Interesse am Verständnis der „Denksysteme“ (Rawls 2002, 46) der behandelten Autoren, sondern setzt den weiteren Vorlesungen auch als „abschließende Warnung“ (ebd., 47) voraus, dass er zwar „eine allgemeine Interpretation“ (ebd.) der Autoren vorschlagen möchte, dabei aber „ganz und gar nicht [glaubt], dass [s]eine Interpretationen offenkundig richtig sind“ (ebd.). Er wolle bei dieser Interpretation also nicht nur „das im Hintergrund stehende Denksystem des betreffenden Autors […] erhellen, sondern auch […] den Leser dazu […] ermutigen, seinerseits eine bessere Interpretation zu ersinnen – eine Interpretation, die mehr Merkmale des Texts berücksichtigt als [s]eine eigene und die das Ganze

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besser v­ erständlich macht“ (ebd.). In dieser letzten Textstelle wird der beschriebene Spagat ausformuliert: Die Adressatinnen des Textes – also die Studierenden – werden einerseits dazu aufgefordert, eigene Interpretationen der Klassiker vorzulegen. Damit diese Interpretation Geltung beanspruchen darf, ist es aber andererseits wichtig, dass das Werk gründlich gelesen wird, insofern sie noch „mehr Merkmale des Textes“ (ebd.) berücksichtigen soll als nur Rawls’ Interpretation. Was wie eine Mischung aus Koketterie und Herausforderung herüberkommt, und zum Teil sicherlich auch ist, wird im Verlauf der weiteren Vorlesungen aber bewundernswert konsequent durchgehalten, insofern Rawls sich den „Denksystemen“ in einem steten Wechselspiel aus Vereinfachung, einerseits, und akribischer Analyse, andererseits, nähert. Dies sei an einer Passage veranschaulicht: Mit der zweiten Vorlesung über Kant beginnt Rawls eine intensive Auseinandersetzung mit dem Kategorischen Imperativ, die er über insgesamt drei Vorlesungen fortführen wird. Ziel der Vorlesungen ist ein sehr allgemeines: „einen Gesamtüberblick darüber zu bekommen, wie die für Kants Moralphilosophie besonders charakteristischen Themen zusammenpassen“ (ebd., 224) Rawls beschreibt im Folgenden, wie er dabei vorgeht: „Um zu einem Verständnis dieser Dinge zu gelangen, ist es unerlässlich, vorbereitende Maßnahmen zu treffen, und hier beginnt man am besten mit der Frage, wie Kant das moralische Gesetz, den kategorischen Imperativ, auffasst und wie er das Verfahren begreift, durch das dieser Imperativ auf uns in dieser sozialen Welt situierte Menschen angewandt wird. Dieses Verfahren nenne ich das Verfahren des kategorischen Imperativs oder kurz: das KI-Verfahren. Ich werde hier keine vollständige Erklärung dieses Verfahrens geben, und viele schwierige Interpretationsfragen werden einfach ausgelassen“ (ebd.). In dieser Passage bereitet Rawls den Leser auf den mühsamen Weg vor, auf den er sich mit ihm begeben wird, um Kants Moralphilosophie zu verstehen. Es bedarf nicht nur zehn Vorlesungen – von denen drei allein den Kategorischen Imperativ zum Thema haben –, um dorthin zu gelangen, sondern

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sogar ­ vorbereitender Maßnahmen. Die Analyseschritte, die zu diesem Verständnis führen, äußern sich dann in wahrlich wenig eloquenten Abschnittsüberschriften wie „Das Hauptargument des Ersten Abschnitts der Grundlegung“ (ebd., 212), „Die Beziehung zwischen den Formulierungen“ (ebd. 247), „Verschiedene Fassungen der zweiten Formulierung“ (ebd., 250), „Sechs Auffassungen des Guten. Die erste Dreiergruppe“ (ebd., 291) und machen deutlich, mit wieviel Blick aufs Detail Rawls in seiner Analyse vorgeht. Gleichzeitig scheut er jedoch nicht davor zurück, „viele schwierige Interpretationsfragen“ (ebd., 224) einfach auszulassen, von denen er nicht glaubt, dass sie zu diesem Verständnis beitragen werden. Aber auch in der Detailanalyse benutzt er Formulierungen, die die Begrenztheit und Vorläufigkeit seiner eigenen Interpretation explizieren: „Was man von Kants Moralphilosophie insgesamt hält, hängt in hohem Maße davon ab, […] welchen Reim man sich darauf macht, dass […]“ (ebd., 221); „Nach meinem Verständnis sagt Kant, dass […]“ (ebd., 238); „Meiner Meinung nach hat Kant vielleicht angenommen, dass […]“ (ebd., 239). Rawls’ Methode lässt sich gewissermaßen als Akribie mit gleichzeitigem Mut zur Lücke beschreiben, die er sich, als großer Philosoph und Kenner der modernen Moralphilosophie, selbstverständlich erlauben kann. Aber dennoch: Welch besseres Motto könnte man Studierenden mit auf den Weg geben, die sich an das Studium hochkomplexer philosophischer Texte machen? Dass Rawls sich seiner Kant-Interpretation trotz aller Bescheidenheit sehr sicher ist, muss nicht erwähnt werden, liefert sie doch einen der Hauptausgangspunkte seiner eigenen moral- und politikphilosophischen Überlegungen. Und so nimmt es auch nicht wunder, dass die aufmerksame Leserin einige der Rawlsschen Hauptgedanken zur Gerechtigkeit und zum politischen Liberalismus in ihrer Kant-Lektüre wiederfinden wird. Auch wenn er nirgendwo explizit Bezug auf seine eigene Theorie nimmt, lässt sich die rechtfertigungstheoretische Linse, durch die er Kant liest, nicht ignorieren. Rawls’ Diskussion von Humes Natur-Fideismus und Leibniz’ metaphysischem Perfektionis-

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mus können an dieser Stelle nicht näher betrachtet werden, sondern Aufmerksamkeit verdient Rawls’ Interpretation von Kant und dessen „Korrektur“ durch Hegel; anschließend werden einige zentrale Punkte herausgegriffen und detaillierter betrachtet, an denen Rawls’ eigene Theorie in seiner Kant-Lektüre deutlich hervortritt, sowie solche, an denen er sich von den Implikationen der Kantschen Moralphilosophie distanziert. Denn auch wenn er sehr subtil daherkommt und nirgendwo explizit erwähnt wird: Der Bezug von Rawls’ Kant-Lektüre zu seinem eigenen Werk wird doch an einigen Stellen deutlich erkennbar, sowohl in Übernahme als auch in Abgrenzung zentraler Kantscher Gedanken.

Der Urzustand und der Schleier des Nichtwissens Kern von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit ist die kantische Annahme, wie er sie in seiner dritten Formulierung des kategorischen Imperativs ausdrückt, dass Menschen als vernunftfähige und rationale Wesen einem Reich der Zwecke angehören sollen. Das bedeutet, dass sie in einer Welt leben, die aus einer „‚systematische[n] Verknüpfung‘ vernünftiger und rationaler Personen unter gemeinsamen (moralischen) Gesetzen“ (ebd., 279) besteht, die dann zustande komme, „wenn alle vernünftigen und rationalen Personen sich selbst und andere als eben solche Personen und daher als Zwecke an sich selbst behandeln“ (ebd., 280). Dabei sollen sich diese Personen nicht an einem schon bestehenden moralischen Gesetz orientieren, dem sie ihre Welt lediglich anpassen, sondern „[e]s ist vielmehr so, dass das öffentliche moralische Gesetz für ein Reich der Zwecke durch unsere Gesetzgebung konstituiert oder konstruiert wird, wenn wir uns umsichtig und gewissenhaft an die […] Prinzipien der praktischen Vernunft halten“ (ebd., 273, Hervorh. J.W.). Insofern „betrachten wir uns wieder nicht mehr als dem moralischen Gesetz Unterworfene, sondern gleichsam als Gesetzgeber des öffentlichen moralischen Gesetzes eines möglichen

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Reichs der Zwecke“ (ebd., 274; zum Verhältnis von Rawls’ und Kants Konstruktivismus vgl. auch O’Neill 2003). An dieser Vorstellung vom Reich der Zwecke orientiert sich Rawls, wenn er seine Grundsätze der Gerechtigkeit formuliert: Sie sollen Ergebnis eines Prozesses sein, in dem Menschen, die sich in einem hypothetischen Urzustand befinden, einander als vernünftige und rationale – somit als Zwecke – begegnen, und sich selbst als Autoren dieser Prinzipien, denen sie unterworfen sind, verstehen können. (vgl. Rawls 1975, 34 f., 140–174). Die erste und dritte Formulierung des kategorischen Imperativs sind für diese ersten Kriterien einer wohlgeordneten Gesellschaft von Bedeutung: Vernünftige und rationale Menschen sind den Grundsätzen der Gerechtigkeit einerseits unterworfen, insofern diese den Rahmen bilden, innerhalb dessen individuelle und kollektive, die Gesellschaft betreffenden Handlungen und Entscheidungen als gerecht gelten können. Das entspricht der ersten Formulierung des kategorischen Imperativs (vgl. Rawls 2002, 249.) Gleichzeitig können diese Grundsätze für sie nur dann Gültigkeit beanspruchen, wenn sie Ergebnis eines Entscheidungsprozesses sind, an dem die ihnen unterworfenen Menschen auch beteiligt sind. Nur unter dieser Bedingung können sie als vernünftig und rational, somit als Zweck gelten. Das entspricht der dritten Formulierung des kategorischen Imperativs. Rawls säkularisiert also gewissermaßen das kantische Reich der Zwecke zur wohlgeordneten Gesellschaft und bricht das Verfahren zur Ermittlung moralischer Maximen (was er das KI-Verfahren nennt) herunter auf ein Verfahren zur Ermittlung von Gerechtigkeitsgrundsätzen. Um diese Gerechtigkeitsgrundsätze ermitteln zu können, konstruiert Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit die „rein theoretische Situation“ (Rawls 1975, 29) des Urzustands, der in erster Linie bestimmt ist durch einen „Schleier des Nichtwissens“ (ebd., 36). Nur wenn wir uns eine Situation vorstellen, in der die Menschen, die sich auf Gerechtigkeitsgrundsätze einigen sollen, keinerlei Wissen über ihre Stellung in der daraus hervorgehenden wohlgeordneten Gesellschaft haben, werden sie in der Lage sein, Grundsätze zu formulieren, die

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wahrhaft gerecht sind und dementsprechend von jeder Person, unabhängig von ihrer empirischen Situation akzeptiert werden könnte. Auch diese Idee findet Rawls bei Kant, insofern er dessen erste Formulierung des kategorischen Imperativs „zwei Informationsbeschränkungen“ (Rawls 2002, 239) unterwirft: „Die erste Beschränkung besteht darin, dass wir die besonderen Merkmale der Personen (einschließlich unserer selbst) sowie den spezifischen Inhalt ihrer und unserer Endzwecke und Wünsche [bei der Ermittlung moralischer Maximen, JW] außer acht lassen sollen“ (ebd., 240). In Anbetracht der Tatsache, dass wir uns laut erster Formulierung des kategorischen Imperativs vorstellen sollen, unsere Maximen nähmen den Stellenwert von Naturgesetzen in einer an sie angeglichenen Welt ein, lautet die zweite Informationsbeschränkung in Rawls’ Kant-Lektüre: „Wenn wir uns fragen, ob wir die mit unserer Maxime verbundene, angeglichene soziale Welt wollen können, müssen wir so denken, als wüssten wir nicht, welche Stellung wir in dieser Welt innehaben“ (ebd.). Für die Formulierung moralischer Maximen verlangt auch Kant, in Rawls’ Lektüre, so etwas wie einen Schleier des Nichtwissens. So wie das Reich der Zwecke aus unserer Gesetzgebung unter Bedingung zweier Informationsbeschränkungen hervorgeht, so geht die wohlgeordnete Gesellschaft also aus unserer Ermittlung von Gerechtigkeitsgrundsätzen im Urzustand unter Bedingung des Schleiers des Nichtwissens hervor.

Kant und öffentlicher Vernunftgebrauch Ein weiterer zentraler Aspekt der Rawlsschen Theorie, die wir in seiner Kant-Lektüre wiederfinden können, liegt in seiner Konzeption des öffentlichen Vernunftgebrauchs, wenn es darum geht, politische Konzeptionen und Entscheidungen zu rechtfertigen. Auffällig ist, wie sehr er gerade den Aspekt der Öffentlichkeit in Kants Moralphilosophie verortet. Um zu verstehen, was es mit dem Kriterium der Öffentlichkeit auf sich hat, müssen wir den oben

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bereits teilzitierten Satz, in dem Rawls die Idee des Reichs der Zwecke erklärt, um seinen Nachsatz ergänzen. Rawls erklärt das Reich der Zwecke folgendermaßen: „Unter einem Reich der Zwecke versteht Kant eine ‚systematische Verknüpfung‘ vernünftiger und rationaler Personen unter gemeinsamen (moralischen) Gesetzen“ (ebd.: 279). Er ergänzt diese, sich dicht an Kant bewegende Erklärung um seine eigene Interpretation: „Dabei dürfen wir meines Erachtens von der allerdings nicht explizit formulierten Annahme ausgehen, dass diese Gesetze öffentlich und allgemein anerkannt sind.“ (ebd., Hervorh. J.W.) Für Rawls ist klar, dass Menschen sich nur dann als Zwecke verstehen können, wenn sie nicht nur Urheber der Gesetze sind, denen sie unterworfen sind, sondern wenn diese auch jederzeit und von (potenziell) jeder Person öffentlich anerkannt sind. Er geht aber noch weiter. Nicht nur das (moralische) Gesetz muss öffentlich anerkannt sein. „Wenn wir Personen in Angelegenheiten des Rechts nie bloß als Mittel, sondern stets als Zwecke – also die Menschheit in ihnen als einen Zweck – behandeln, verhalten wir uns in einer Art und Weise, die vor ihrer und unserer gemeinsamen menschlichen Vernunft öffentlich gerechtfertigt werden kann, und bei der man, wenn die Situation es erfordert, tatsächlich solche Rechtfertigungen vorbringt.“ (ebd.: 260). Auch unsere eigenen Handlungen unseren Mitmenschen gegenüber müssen, wenn wir diese wahrlich als Zwecke sehen, öffentlich gerechtfertigt werden können, und es ist unsere Pflicht, solche öffentlichen Rechtfertigungen auch vorzubringen, sollte nach diesen verlangt werden. Die entsprechenden Passagen aus Kants Grundlegung und seiner Metaphysik der Sitten, die Rawls hier interpretiert, benennen weder explizit den Terminus der Öffentlichkeit, noch lässt sich die Forderung danach unmittelbar aus diesen Ausschnitten herleiten. Woraus Rawls seine Interpretation diesbezüglich entnimmt, äußert er in dieser Vorlesung nicht, die Nähe zu seiner eigenen Konzeption des Gebrauchs öffentlicher Vernunft liegt jedoch auf der Hand (vgl. exemplarisch Rawls 1997; Rawls 1998).

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Kants und Rawls’ Moralphilosophie: religiös oder nicht? Nur kurz erwähnt sei hier ein Punkt, in dem sich Rawls von der kantischen Metaphysik abgrenzt, auch wenn das möglicherweise nicht so klar ist, wie es scheint. Oben wurde behauptet, Rawls säkularisiere gewissermaßen das kantische Reich der Zwecke zur wohlgeordneten Gesellschaft. Was konkret ist damit gemeint? Rawls behauptet zum Ende seiner einleitenden Kant-Vorlesung hin, „dass die Bedeutung, die Kant dem moralischen Gesetz und unserem ihm entsprechenden Handeln beimisst, einen offensichtlich religiösen Aspekt hat und dass sein Text mitunter andächtig wirkt. […] Was einer Anschauung einen religiösen Aspekt verleiht, ist meines Erachtens der Umstand, dass sie sich von der Welt insgesamt einen Begriff macht, durch den die Welt als in bestimmten Hinsichten heilig oder verehrungs- und anbetungswürdig hingestellt wird“ (Rawls 2002, 222). Rawls macht dies an der Rolle fest, die das moralische Gesetz bei Kant nicht nur zur Orientierung und Leitung menschlichen Handelns spielt, also als Gesetz, das auf die Frage „Was soll ich tun?“ antwortet. Das kantische moralische Gesetz beantwortet, laut Rawls, auch die Frage nach dem Zweck menschlichen Handelns, ja nach dem menschlichen Sein an sich: „Denn es sind nur der Gehorsam gegenüber dem moralischen Gesetz, soweit es für uns gilt, das Bemühen, in uns selbst einen guten Willen herauszubilden, und die dementsprechende Gestaltung unserer Welt, die uns dazu qualifizieren, als Endzweck der Schöpfung zu gelten. Ohne diese Bestrebungen würden unser Leben in der Welt und die Welt selbst ihren Sinn und ihren Zweck verlieren“ (ebd.). Tugendpflichten sollen laut Kant erfüllt werden, nicht weil sie Gutes hervorbringen, sondern weil sie an sich gut sind. Nur der Wunsch, das moralische Gesetz zu erfüllen, taugt als wirklich tugendhafte Motivation für moralisches Handeln. Rawls liest daraus eine bestimmte, pietistisch anmutende Vision einer Welt, die durch tugendhaftes Handeln

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tugendhafter Menschen kreiert wird, eben ein Reich der Zwecke, dessen Erfüllung allein dem menschlichen Leben Sinn verleiht. Die Idee einer Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, wie Kant sie 1793 entwickeln wird, ist laut Rawls eine logische Weiterentwicklung dieses Gedankens. Rawls’ eigenes Denken möchte sich jedoch explizit säkular beziehungsweise weltanschaulich neutral positionieren. In Politischer Liberalismus (1998) noch stärker als in seiner Theorie der Gerechtigkeit, werden die Ideen eines übergreifenden Konsenses sowie des öffentlichen Vernunftgebrauchs formuliert, die eben dafür sorgen sollen, dass die Grundstruktur einer wohlgeordneten Gesellschaft und die allgemein verbindlichen Entscheidungen, die innerhalb dessen Institutionen getroffen werden, für alle Menschen gleichermaßen, unabhängig von ihren umfassenden Lehren, wie Rawls sie nennt, verstanden und akzeptiert werden können (vgl. Rawls 1998, v. a. 219–244, 312–363, sowie Rawls 1992 und Rawls 1997). Gleichzeitig versteht sich Rawls’ Vorstellung von Gerechtigkeit als Fairness – gewissermaßen die Klammer zwischen Theorie der Gerechtigkeit und Politischer Liberalismus – ebenso wie Kants Moralphilosophie als eine allgemein und unabhängig von empirischen Bedingungen gültige Theorie. Säkularisiert ist sie aber in dem Sinne, dass der religiöse Kern der kantischen Theorie, wie Rawls ihn beschreibt, in seiner eigenen Theorie fallengelassen wird. Ohne an dieser Stelle weiter darauf eingehen zu können, sei an dieser Stelle jedoch angemerkt, dass in den letzten Jahren die Frage immer stärker aufgekommen ist, ob Rawls’ Theorie seinen eigenen religiösen Überzeugungen doch mehr verdankt als bisher angenommen, beziehungsweise, in der Formulierung von Paul Weithman, ob Gerechtigkeit als Fairness nicht gar selbst einen religiösen Kern habe (vgl. Weithman 2014). Nicht zuletzt hängt das mit einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit seiner im Jahre 2009 erstmals veröffentlichten „Senior Thesis“ aus dem Jahre 1942 zusammen, in der er sich mit Fragen Über Sünde, Glauben und Religion, so der Titel, auseinandersetzt (vgl. Rawls 2021 und ins-

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besondere das Nachwort von Jürgen Habermas, ebd., 315–336).

Rawls’ Hegel-Lektüre: eine Antwort auf seine Kritiker? Was hat es nun aber mit den letzten beiden Vorlesungen zu Hegel auf sich, mit denen Rawls seine Geschichte der Moralphilosophie beschließt? Angesichts der immens detaillierten Auseinandersetzung mit Kant mutet es merkwürdig an, dass ein so komplexer Denker wie Hegel in lediglich knapp über fünfzig Seiten behandelt wird. Rawls beschränkt sich hier konsequenterweise auf die Teile von Hegels Rechtsphilosophie, die einen unmittelbaren Bezug zu seinem eigenen moralphilosophischen Anliegen haben, aber auch diese werden unterkomplex besprochen. Man kann die Auseinandersetzung mit Hegel – und vor allem mit der Rolle, die Institutionen und insbesondere die bürgerliche Gesellschaft und der Staat in Hegels Denken spielen – als Antwort auf Rawls’ Kritiker sehen, die ihm v. a. nach Veröffentlichung seiner Theorie der Gerechtigkeit vorgeworfen haben, bei der Begründung seiner Theorie von einem viel zu atomistisch verstandenen Individuum auszugehen und die Bedeutung sozialer Beziehungen und empirischer Kontexte, mithin die Rolle bestehender Institutionen für Gerechtigkeitskonzeptionen zu unterschätzen (vgl. klassischerweise Sandel 1985 oder Walzer 1992). Für Kant wie für Hegel spielt der Begriff des Willens unter moralphilosophischen Gesichtspunkten eine wichtige Rolle. Kant spricht vom guten Willen als höchsten Zweck der Vernunft. Das Gute um des Guten willen zu wollen, ist einziger Ausdruck eines guten Willens. Nur, wenn wir einen guten Willen haben, sind wir dann, wenn wir Gutes tun, auch der Glückseligkeit würdig, die mit dem Tun dieses Gutes einhergeht. Diese Fähigkeit zum guten Willen ist in uns angelegt und entwickelt sich durch das Ausüben unserer Vernunftgaben. (vgl. Rawls 2002, 213 f.) Kant geht hierbei, wie Rawls betont, von einem idealen Akteur aus, ohne e­ mpirische

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­ edingungen für die Entwicklung eines guten B Willens zu nennen. Hier setzt Hegel, laut Rawls an, indem er „das Pflichtengerüst, das Kant nach eigenem Bekunden aus dem moralischen Gesetz ableitet, nicht generell in Frage [stellt]. Er meint jedoch, Kant gelange nur deshalb zu diesem Inhalt, weil er im Hintergrund eine rationale soziale Welt voraussetze“ (ebd., 432). Ein Bild ebenjener (empirischen) sozialen Welt zu zeichnen, ist Teil dessen, was Hegel mit seiner Sittlichkeitslehre tut. Während Kant vom guten Willen spricht, betont Hegel den freien Willen, weshalb Rawls seine Moralphilosophie als „Liberalismus der Freiheit“ (ebd., 454) bezeichnet. Der freie Wille ist, so interpretiert es Rawls, „der Wille, der sich selbst als freien Willen will“ (ebd., 434). Das bezeichnet, so Rawls weiter, zunächst die „Fähigkeit, um eines Zwecks willen zu handeln, und zwar um eines Zwecks willen, mit dem man sich identifiziert oder den man als seinen eigenen akzeptiert“ (ebd.), und schließlich „die Fähigkeit des Willens, aus der reinen Unbestimmtheit zur Bestimmung seiner selbst zu gelangen und jene Zwecke und Ziele sodann zu seinen eigenen zu machen oder sich, wie wir sagen wollen, mit den zu eigen gemachten Zwecken zu identifizieren“ (ebd., 435). Laut Hegel muss der Wille, um sich selbst als freien Willen wollen zu können, ein System von Institutionen wollen, innerhalb derer er erst frei sein kann. Auch wenn man damit der komplizierten Hegelschen Begrifflichkeit nicht ganz gerecht wird, kann man den springenden Punkt für moralphilosophische Zwecke so benennen: Für Hegel sind es die gegebenen Institutionen, namentlich die Familie, die bürgerliche Gesellschaft und der Staat, die Sittlichkeit konstituieren, die also den Rahmen bilden, innerhalb dessen der Willen frei sein kann. Frei sind wir, wenn wir in Übereinstimmung mit den Geboten handeln, die unserer Situation innerhalb dieser Institutionen entsprechen. Während bei Kant die Pflichten durch das moralische Gesetz gegeben sind, das uns durch Anwendung des kategorischen Imperativs bekannt wird, sind bei Hegel die „Pflichten […] in der Darstellung des institutionellen Hintergrunds implizit erhalten. […] Was den freien Willen be-

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trifft, der sich selbst als freien Willen will, bringen die Institutionen der Sittlichkeit sein Wesen als das eines solchen Willens zum Ausdruck und bekunden in ihren Pflichten die ‚Befreiung‘ des Individuums“ (ebd., 452). Und diese Institutionen sind – Hegel geht bei seiner Vorstellung des Staats, so sagt Rawls, von „jenem Preußen [aus], das es gegeben hätte, wenn die Reformer den Sieg über die Konservativen davongetragen hätten“ (ebd., 455) – etwas sehr Empirisches. Was hat das mit Rawls’ eigener Theorie zu tun? Zum einen werden Differenzen deutlich, wo Rawls seine wohlgeordnete Gesellschaft kontraktualistisch-konstruktivistisch denkt, während Hegel bei seiner Vorstellung sittlicher Institutionen eher genealogisch-empirisch vorgeht. (vgl. ebd. 455 f.). Was Rawls und Hegel vereint, ist das prinzipielle Interesse, das die Staatsbürgerinnen in ihren Theorien daran haben, die Institutionen, in denen sie gemäß ihren Pflichten frei handeln können, zu kennen und zu akzeptieren (vgl. ebd., 458). Hegel ist kein Demokrat und eher ein Verfechter einer konstitutionellen Monarchie, aber auch er betont, wie Rawls, die Wichtigkeit der öffentlichen Meinung, der Beratschlagung und der Argumentation, wenn es darum geht, Freiheit ermöglichende Institutionen zu stärken und aufrecht zu erhalten (vgl. ebd.: 460 f.) Darüber, ob sich Rawls und Hegel durch diese zugegebenermaßen dünnen Gemeinsamkeiten so leicht versöhnen lassen, ist Skepsis angebracht. Dass Rawls selbst dies in diesen beiden Vorlesungen suggeriert, ist jedoch nicht von der Hand zu weisen (vgl. ebd.: 426).

Literatur Guyer, Paul: Rawls and the history of moral philosophy. The cases of Smith and Kant. In: John Mandle/David A. Reidy (Hg.): A companion to Rawls. West Sussex 2014, 546–566. O’Neill, Onora: Constructivism in Rawls and Kant. In: Samuel Freeman (Hg.): The Cambridge companion to Rawls. Cambridge 2003, 347–367. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1975 (engl. 1971). Rawls, John: Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses. In: Ders.: Die Idee des politischen Liberalismus. Frankfurt a. M. 1992, 293–332.

8  Geschichte der Moralphilosophie (2000/2002) Rawls, John: The idea of public reason revisited. In: The Chicago Law Review 64/3 (1997), 765–807. Rawls, John: Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: Geschichte der Moralphilosophie. Hume – Leibniz – Kant – Hegel, Frankfurt a. M. 2002 (engl. 1999). Rawls, John: Über Sünde, Glaube und Religion. Hg. Thomas Nagel. Berlin 2021.

101 Sandel, Michael J.: Liberalism and the limits of justice. Cambridge 1985. Walzer, Michael: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Frankfurt a. M. 1992. Weithman, Paul: Does justice as fairness have a religious aspect? In: John Mandle/David A. Reidy (Hg.): A companion to Rawls. West Sussex 2014, 31–56.

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Geschichte der politischen Philosophie (2007/2008) Johannes J. Frühbauer

Der posthum erschienene Band zu John Rawls’ Geschichte der politischen Philosophie (2008; im englischen Original Lectures on the History of Political Philosophy, 2007) zählt ähnlich wie auch Rawls’ Geschichte der Moralphilosophie (2002b) nicht zu seinen Hauptwerken. Doch er gewährt aufschlussreiche Einblicke in Rawls’ Auseinandersetzung mit den politischen Denkern früherer Zeiten und in den Aufbau seiner Lehreinheiten – bietet er doch eine umfangreiche Sammlung der Vorlesungen zur „Politischen Philosophie der Neuzeit“, die Rawls ab Mitte der 1960er Jahre bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1995 – wohlgemerkt mit unterschiedlicher Auswahl der vorgestellten Denker – gehalten hat (vgl. Rawls 2008, 9). Samuel Freeman lässt die Leser*innen der Geschichte der politischen Philosophie im „Vorwort des Herausgebers“ an deren Entstehungsgeschichte – und das heißt am Abfassungs- und Redaktionsprozess des verschiedenartigen Quellenmaterials – teilhaben. Dabei betont er, dass Rawls’ Ehefrau Mardy einen für die Herausgabe des Werks wesentlichen Teil der editorischen Arbeit geleistet habe (vgl. ebd., 18). Während die im Werk abgedruckten

J. J. Frühbauer (*)  Katholische Stiftungshochschule München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

häufig gehaltenen Vorlesungen zu Locke, Rousseau, Mill und Marx durch Rawls besonders gut durchgearbeitet worden seien und kaum Eingriffe durch den Herausgeber verlangten, beruhen die Texte zu Hobbes und Hume laut Freeman hauptsächlich auf durch Notizen und Handouts ergänzte Tonbandaufzeichnungen der von Rawls gehaltenen Lehrveranstaltungen (vgl. ebd., 10). Am wenigsten abgerundet seien die im Anhang veröffentlichten Vorlesungen über Butler und Sidgwick, welche zu einem großen Teil auf Vorlesungsnotizen, die Rawls auch an seine Studierenden austeilte, sowie auf handschriftlichen Aufzeichnungen beruhen (vgl. ebd., 12). Doch auch hier seien erforderliche editorische Eingriffe „auf die Umstellung von Absätzen und Sätzen, die Rawls selbst geschrieben hat“ (ebd., 18), beschränkt gewesen. Neben den Anmerkungen zur Entstehung des veröffentlichen Werkes gewährt der Herausgeber außerdem einen Einblick in Rawls’ Gedanken zu seiner Lehrtätigkeit, indem er einige Ausschnitte aus Rawls’ Aufsatz „Einige Bemerkungen über meine Lehrtätigkeit“ (1993) aus dessen schriftlichem Nachlass abdruckt (vgl. ebd., 14–17). In diesem stellt Rawls die Ziele dar, die er beim Vorstellen früherer Autoren in den von ihm gehaltenen Lehrveranstaltungen verfolge: Zum einen gehe es ihm darum, „ihre Probleme so zu formulieren, wie sie von ihnen selbst […] gesehen wurden“ (ebd., 14) und zum anderen wolle er jeden Autor in der seines Erachtens

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_9

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überzeugendsten Form darstellen (vgl. ebd., 15). Dabei merke er stets an, wenn er vom Text abweicht, um die Positionen der Autoren stärker und überzeugender auf die Studierenden wirken zu lassen (vgl. ebd., 15). Auch Rawls’ intellektuelle Bescheidenheit wird in diesen Auszügen zu seiner Lehrtätigkeit deutlich, wenn er sagt: „Ich bin stets davon ausgegangen, daß die Autoren, die wir studierten, durchweg viel gescheiter gewesen waren als ich selbst“ (ebd., 15). Dies spiegelt sich zudem in seiner Abneigung wider, „Einwände gegen die Vorbilder zu erheben“ (ebd., 16). Stattdessen geht es Rawls darum, auf Schwierigkeiten hinzuweisen, die spätere Autoren in der Auseinandersetzung mit Traditionen wie etwa der Theorie des Gesellschaftsvertrags oder dem Utilitarismus richtigzustellen versucht hatten, oder die Aufmerksamkeit auf Anschauungen zu lenken, die nach Meinung der Angehörigen anderer Traditionen als falsch galten (vgl. ebd., 16).

Einleitung – Bemerkungen über politische Philosophie In der Einleitung zu seiner historischen Darstellung widmet sich Rawls zunächst den Grundgedanken der politischen Philosophie. Mit politischer Philosophie könne „nur die Tradition der politischen Philosophie gemeint sein, und in einer Demokratie ist diese Tradition stets die gemeinsame Leistung von Autoren und ihren Lesern“ (ebd., 25; Hervorh. J.J.F.). Demnach habe diese keinen Anspruch auf Autorität im Sinne einer rechtlich abgesicherten Sonderstellung. Den Bürger*innen, die die Adressaten der politischen Philosophie in einer Demokratie darstellen, bleibe es letztlich überlassen „ob die in diesen Werken dargelegten Ideen in Grundinstitutionen verwirklicht werden sollen“ (ebd., 25). Während die platonische Auffassung der politischen Philosophie die Erkenntnis der Wahrheit für sich beanspruche, woraus sich auch ein Anspruch auf politische Kontrolle sowie politisches Handeln ergebe, stelle die – wie Rawls sie bezeichnet – ‚demokratische‘ Auffassung dieser, von welcher er im Folgenden

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ausgehe, ein allgemeines Kulturgut einer demokratischen Gesellschaft dar und könnte unter gewissen Umständen auch eine öffentliche Rolle spielen (vgl. ebd., 27 f.). Rawls betont in diesem Abschnitt auch die wesentliche Rolle, die die politische Philosophie als allgemeine Hintergrundkultur spiele: Sie stärke die Wurzeln des demokratischen Denkens und demokratischer Einstellung, „indem sie den Bürgern bestimmte Idealvorstellungen von der Person und von der politischen Gesellschaft vermittelt“ (ebd., 32). So beeinflusse „der Inhalt der Hintergrundkultur und das Ausmaß, in dem sie die Bürger mit den politischen Idealen der Demokratie vertraut macht und dazu veranlaßt, über die Bedeutung dieser Ideale nachzudenken“ (ebd., 33) – neben dem politischen System, in dem die Bürger*innen aufgewachsen sind – deren Vorstellungen über Politik (vgl. ebd., 34). Rawls geht davon aus, dass sich die Bürger*innen in einem „einigermaßen erfolgreichen politischen System […] zu gegebener Zeit an diese Prinzipien der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls gebunden“ fühlen (ebd., 33). Voraussetzung hierfür sei die Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft der Parteien gegenüber anderen Gruppierungen, um sich schließlich zusammenzutun und eine Regierung zu bilden (vgl. ebd., 35). Rawls spricht der politischen Philosophie vier Rollen zu; mit dieser differenziereden Aufgabenbestimmung eröffnet Rawls übrigens auch seine Darlegungen in Gerechtigkeit als Fairneß (vgl. Rawls 2003, 19–24). Im Zuge trennender politischer Konflikte sei die erste Rolle praktischer Art und ziele darauf ab, Einigkeit zu erreichen oder bestehende Differenzen so weit einzugrenzen, dass eine Zusammenarbeit sowie das gegenseitige Entgegenbringen von Respekt möglich bleiben (Ebd., 36 f.). Als zweite Funktion nennt Rawls Orientierung zu geben: Die politische Philosophie könne etwas dazu beitragen, „wie die Menschen ihre politischen und sozialen Institutionen insgesamt begreifen, wie sie sich selbst als Bürger sehen und wie sie ihre grundlegenden Ziele und Zwecke als historisch gegebene Gesellschaft – als Nation – im Gegensatz zu ihren Zielen und Zwecken als

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Individuen oder Angehörige von Familien und Verbänden deuten“ (ebd., 37). Im Rahmen einer versöhnenden Rolle sei es ihr außerdem möglich, Enttäuschung und Zorn über unsere Gesellschaft und deren Geschichten zu schlichten, indem sie die Rationalität der Institutionen aus einem philosophischen Standpunkt heraus verdeutlicht (vgl. ebd., 37). Die vierte und letzte Aufgabe betrifft das „Ausloten der Grenzen praktikabler politischer Möglichkeiten“ (ebd., 38) unter Anwendung eines realistisch-utopischen Verfahrens: Im Blick sind historische und soziale Rahmenbedingung als Möglichkeitsbedingungen zur Ausgestaltung einer gerechten und demokratischen Gesellschaft. Der Gedanke einer realistischen Utopie findet sich bereits in Das Recht der Völker (Rawls 2002a). Dort formuliert Rawls geradezu pathetisch: „Unsere Hoffnung für die Zukunft unserer Gesellschaft beruht auf dem Glauben, dass die Existenz annehmbar gerechter demokratisch verfasster Gesellschaften, die Mitglieder in einer Gesellschaft von Völkern sind, mit der Natur der sozialen Welt zu vereinbaren ist. In einer solchen sozialen Welt würden Frieden und Gerechtigkeit unter liberalen und achtbaren Völkern bestehen, und zwar im Innern und Äußeren. Die Idee dieser Gesellschaft ist in einem realistischen Sinne utopisch, weil sie eine realisierbare soziale Welt beschreibt, die das politische Rechte und das Gerechte für alle liberalen und achtbaren Gesellschaften in einer Gesellschaft der Völker verbindet“ (Rawls 2002a, 4). Mit der realutopischen Dimension im Rawlsschen Denken hat sich auch Thomas Pogge befasst. Dabei gibt er zwar dem Einwand recht, dass die reine Möglichkeit einer ideal-gerechten Gesellschaft die wirkliche Welt um keinen Deut besser machen würde. Und doch betont er demgegenüber aber auch, dass Rawls zufolge, „allein schon die Möglichkeit menschlicher Gerechtigkeit uns mit dieser Welt versöhnen kann. Solange wir mit guten Gründen davon ausgehen, dass Gerechtigkeit unter Menschen möglich ist, können wir hoffen, dass wir oder andere sie irgendwann, irgendwo einmal zustande bringen […] und uns vernünftigerweise auch für sie einsetzen werden. […] Durch den Entwurf einer einigermaßen

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realistischen Utopie kann die politische Philosophie nicht nur den Weg in eine gerechtere Zukunft weisen, sondern auch heute schon eine Inspiration bedeuten, die den Wert unseres Lebens erhöht“ (Pogge 1994, 35). Da sich ein Großteil der im Werk dokumentierten Vorlesungen mit verschiedenen Konzeptionen des Liberalismus befasst (vgl. ebd., 38), widmet Rawls diesem Begriff in der Einleitung seines Werkes einige Überlegungen. Auch wenn es keine feststehende Bedeutung des Liberalismus gebe, seien drei Hauptelemente kennzeichnend für jede bekannte liberale Auffassung (vgl. ebd., 41): „eine Liste gleicher Grundrechte und Grundfreiheiten, den Vorrang dieser Freiheiten und die Gewährleistung, daß alle Angehörigen der Gesellschaft über angemessene und universell einsetzbare Mittel verfügen, um von diesen Rechten und Freiheiten Gebrauch zu machen“ (ebd., 39). Wesentlich sei dabei die große Bedeutung, die der Liberalismus der Liste bestimmter Freiheiten gegenüber dem Wert der Freiheit als solcher beimisst (ebd., 40). Als zentrales Merkmal des Liberalismus nennt Rawls, „daß gesetzlich festgeschriebene politische Forderungen und Pflichten der Vernunft und dem Urteil der Bürger gerecht werden müssen“ (ebd., 42). Dieser Aspekt stehe wiederum im Zusammenhang mit der Tradition des Gesellschaftsvertrages (vgl. ebd., 42). Dabei gebe es auch in Bezug auf den Gesellschaftsvertrag verschiedene Auffassungen, die sich anhand einiger Punkte, die Rawls im Text knapp darstellt, voneinander unterscheiden ließen (ebd., 43 f.). Wesentlich sei, dass jede Theorie des Gesellschaftsvertrags der Darstellung einer Ausgangssituation, in welcher der Vertrag geschlossen werden soll, bedürfe (vgl. ebd., 45). Diese müsse unter anderem regeln, wieviel die Vertragsparteien wissen (vgl. ebd., 46). Rawls hält es dabei für elementar zwischen dem Wissen, das zum einen für die Einführung einer Regel und zum anderen für die Anwendung dieser notwendig ist, zu unterscheiden (vgl. ebd., 47). Vollständiges Wissen stehe einem Konsens, welcher im ersten Fall angestrebt wird, im Wege, könne „zu endlosem Feilschen führen und manchen Beteiligten eine harte Verhandlungsführung ermöglichen“ (ebd., 47).

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Hieraus folgert Rawls, dass „etwas von der Art des sogenannten Schleiers des Nichtwissens“ (ebd., 49), welcher verschieden gestaltet werden könne, notwendig sei. Die Vorstellung von einer Ausgangssituation sei weit verbreitet und unter anderem bei Rousseau und Kant zu finden (vgl. ebd., 51). Rawls schließt die Einleitung mit einem Verweis auf seine Konzeption der ‚Gerechtigkeit als Fairness‘, welche die Ausgangsposition als ‚Urzustand‘ bezeichne. „Sie wird so gekennzeichnet, daß die Vereinbarung, die dort von den als Repräsentanten der Bürger aufgefaßten Parteien geschlossen wird, den Inhalt […] der politischen Gerechtigkeitskonzeption ausdrückt, die ihrerseits die fairen Bedingungen der sozialen Kooperation bestimmt“ (ebd. 51).

Hobbes ‚säkuläres Moralsystem‘ Rawls beginnt seine Vorlesungen zur Politischen Philosophie mit dem englischen Philosophen und Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588–1679). Er hat dies damit begründet, dass es sich bei Hobbes’ Leviathan (1651) um „das größte englischsprachige Einzelwerk der politischen Theorie“ (ebd., 55) handle – was jedoch nicht bedeute, dass dieses der Wahrheit am nächsten komme. Das Werk habe von allen Seiten Reaktionen ausgelöst, denn Hobbes „Denksystem war derart, daß man dazu Stellung beziehen mußte“ (ebd., 59). Hobbes’ ‚säkuläres Moralsystem‘, wie Rawls es nennt, betrachtet der Interpret als in sich abgeschlossen und erörtert dieses deshalb unabhängig von theologischen Voraussetzungen und materialistischen Prinzipien (vgl. ebd., 65). Hobbes gehe davon aus, dass der Naturzustand zu einem Kriegszustand führe bzw. der Naturzustand dem Kriegszustand entspreche (vgl. ebd., 81, 92, 127). Deshalb sei folgende Problemstellung für ihn zentral: „Wie können wir es anstellen, uns aus dem Naturzustand herauszuarbeiten und in den Zustand der Leviathan-Gesellschaft überzuwechseln“ (ebd., 132)? Als Hobbes Ausgangspunkt erachtet Rawls dessen Analyse der Grundinteressen des Menschen, welche „sich

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auf Selbsterhaltung, Gattenliebe und die Mittel zu einem angenehmen Leben beziehen“ (ebd., 91). Um diese Grundinteressen zu wahren, sei es notwendig, dass alle Menschen sich nach den Gesetzen der Natur richteten (vgl. ebd., 119). Dabei entsprächen die Rolle sowie der Inhalt der Artikel dieser Naturgesetze bei Hobbes der Tradition, insofern sie der „Erhaltung der in einer Gesellschaft lebenden Menschen“ dienen sollen und ein „Mittel zu einem friedlichen, geselligen und bequemen Leben“ darstellen (ebd., 117). Allerdings sind die Gründe, die Hobbes für die Beachtung dieser aufführt, andere – nämlich Gründe rationaler Art (vgl. ebd., 117). Hieraus folgert Rawls, dass „es bei Hobbes keinen Platz für die Begriffe des moralischen Rechts und der moralischen Pflicht gibt, sofern man diese Begriffe im üblichen Sinn versteht“ (ebd., 117). Um die Einhaltung der Weisungen der Vernunft zur Wahrnehmung der Grundinteressen zu gewähren, bedürfe es als notwendige Bedingung eines Souveräns (vgl. ebd., 119), welcher durch einen zwischen allen Angehörigen der Gesellschaft geschlossenen Vertrag dazu autorisiert wird, im Namen der Gesellschaft zu handeln (vgl. ebd., 135, 137). Dieser habe die Aufgabe, die Gesellschaft zu stabilisieren und dafür Sorge zu tragen, dass jede*r den Naturgesetzen gehorche (vgl. ebd., 127). Dadurch, dass genügend andere Mitglieder der Gesellschaft diesen gehorchen, werde es schließlich für jede*n rational, diese ebenfalls zu „befolgen und damit den Frieden [zu] sichern“ (ebd., 102). Hobbes’ politische Konzeption könne unbefriedigend auf die Leser*innen wirken, insofern sie diesen die Wahl zwischen Absolutismus und Anarchie bzw. zwischen dem Naturzustand und einem absolut herrschenden Souverän, dessen Existenz Hobbes als die einzige Möglichkeit betrachte dem Naturzustand zu entkommen, lässt (ebd., 143). Dass Hobbes’ Theorie de facto nicht zutreffe, werde anhand des Beispiels der demokratischen Institutionen deutlich, welche „nicht merklich weniger stabil und friedlich als absolutistische Regierungen der von Hobbes favorisierten Art“ (ebd., 143) seien. Hobbes versäume es in seiner Konzeption sowohl zwischen „einer obersten (oder letzten) gesetzgebenden

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Gewalt und einer uneingeschränkten“ (ebd., 145) als auch „zwischen der Vorstellung von einem persönlichen Souverän oder Organ, dem alle gehorchen […], und der Vorstellung von einem Rechtssystem, das durch ein die konstitutionelle Regierungsform bestimmendes Regelwerk definiert ist“ (ebd., 145 f.), zu unterscheiden. Außerdem merkt Rawls an, dass der Mensch nach Hobbes nicht zu einer sozialen Kooperation fähig sei (ebd., 147). Die hierfür wesentlichen Begriffe der ‚Fairness‘ sowie der ‚vernünftigen Selbstbeschränkung‘ fänden in dessen Konzeption keinen Platz (vgl. ebd., 147). Damit leitet Rawls schließlich über zu Locke (vgl. ebd., 148).

Lockes Idee der Gewaltenteilung und das Recht auf Eigentum In den drei Vorlesungen, die Rawls zu John Locke (1632–1704) ausgearbeitet hat, geht er auf dessen Zwei Abhandlungen über die Regierung ein, welcher dieser während der Ausschließungskrise (1679–1681) verfasst hat (ebd., 168 f.). Dieser zeitliche Kontext erkläre auch Lockes Hauptanliegen, welches darin liege, Robert Filmers (1588–1653) Argument, der König verfüge über absolute, von Gott verliehene Macht, zu widerlegen (vgl. ebd., 169 f.). Nach Lockes Auffassung bedürfe eine legitime Regierung der Zustimmung der regierten Personen, welche von Natur aus „sowohl frei und gleichberechtigt als auch vernünftig und rational“ (ebd., 170) seien. Immer wieder betont Rawls dabei, dass Locke „zu dieser Zeit aktiv und unter erheblicher Lebensgefahr an Handlungen beteiligt war, die vielleicht auf Hochverrat hinausliefen“ (ebd., 173). In Lockes Zwei Abhandlungen über die Regierung erkennt Rawls drei „potentiell überaus radikale Ideen“ (ebd., 211). Hierzu zählt er neben dessen „Vorstellung vom Naturzustand als einem Zustand vollkommener Freiheit und gleicher politischer Entscheidungsgewalt sowie die Einbeziehung dieser Vorstellung in das Kriterium der Legitimität politischer Regierungssysteme“, „die konsti-

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tutive Macht des Volkes zur Einsetzung der institutionellen Form der legislativen Gewalt, der die Steuerung des politischen Lebens im Sinne des Gemeinwohls anvertraut wird“ (ebd., 211) sowie Lockes Idee, dass das Recht auf Eigentum auf Arbeit beruhe. So verleiht Rawls dem ersten Paragraphen seiner dritten Vorlesung zu Locke („Eigentum und Klassenstaat“) den Titel ‚Das Problem‘ und macht damit deutlich, dass in eben dieser dritten ‚radikalen Idee‘ Lockes die größte Schwierigkeit der von ihm entworfenen Konzeption bestehe. In seiner Vorstellung der gemischten Verfassung seien nur Personen, die über ein gewisses Eigentum verfügen, zur Wahl berechtigt und damit „die einzigen Bürger, die politische Autorität wahrnehmen“ (ebd., 215). Diesbezüglich wirft Rawls die Frage auf, wie aus einem Naturzustand gleicher Entscheidungsgewalt ein Gesellschaftsvertrag entstehe könne, welcher in einen Klassenstaat münde (vgl. ebd., 232). Sein Antwortversuch: Er stellt eine denkbar ideale Geschichte dar, die – unter den Bedingungen des Gesellschaftsvertrags und den von Locke vorausgesetzten Prinzipien – Lockes gemischte Verfassung im Klassenstaat ermöglichen würde (vgl. ebd., 236–238). Dabei sei zu bedenken, dass Lockes Theorie keinen Klassenstaat verlange, sondern diesen bloß zulasse (vgl. ebd., 238 f.). Sollen jedoch ungleiche Grundrechte und Grundfreiheiten aus der Vertragstheorie ausgeschlossen werden, müsse man diese modifizieren, indem man beispielsweise auf ein Verfahren wie den ‚Schleier des Nichtwissens‘ aus der Konzeption Gerechtigkeit als Fairness zurückgreift (vgl. ebd., 217). Diese Ungleichheiten sind jedoch nicht die einzigen Probleme, die Rawls in der Konzeption Lockes erkennt. Dessen Theorie werfe „außerdem die Frage auf, ob es nicht angebracht wäre, die beschlossene Verfassung nach jeder wichtigen Veränderung der politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse zu überdenken“ (ebd., 239). Schlussendlich gelangt Rawls zu dem Fazit, dass Lockes Theorie zwar „für unsere Zwecke nicht sonderlich geeignet“ sei (ebd., 240), jedoch sehr wohl „den von ihm zur Zeit der Ausschließungskrise verfolgten Zwecken entsprach“ (ebd., 239).

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Humes utilitaristische Kritik an Lockes Theorie des Gesellschaftsvertrags David Hume (1711–1776) ist der einzige Philosoph aus diesem Vorlesungszyklus, der bereits in Rawls’ Geschichte der Moralphilosophie sehr ausführlich zur Darstellung kommt (Rawls 2002b, 51–151). Seine beiden nun hier dokumentierten Vorlesungen zu Hume beginnt Rawls mit einer Abgrenzung zwischen der Theorie des Utilitarismus, dessen Anhänger Hume war, und der Tradition des Gesellschaftsvertrags, welche er in den zuvor dargelegten Vorlesungen betrachtet hat (vgl. ebd., 243). Nachdem Rawls Hume porträtiert hat, betrachtet er diesen in Abgrenzung von Locke. So stellt er Humes Kritik an Lockes Gesellschaftsvertrag dar (vgl. ebd., 251–262). Laut Rawls sei dessen Kritik historisch einflussreich gewesen, insofern sie die Theorie des Gesellschaftsvertrags geschwächt habe (vgl. ebd., 258). Allerdings unterstellt Rawls Hume einige Fehler in dessen Interpretation von Lockes Theorie. Anders als Hume behaupte, sage Locke nicht, dass unsere „jetzige Loyalität gegen die Regierung von einer vor etlichen Generationen gegebenen ursprünglichen Zustimmung […] abhänge und daß es diese Zustimmung sei, die uns jetzt verpflichte“ (ebd., 259). Rawls wirft Hume hier vor, sowohl über Lockes Unterscheidung zwischen ‚erzeugender‘ und ‚verbindender‘ Zustimmung als auch über jene zwischen ‚ausdrücklicher‘ und ‚passiver‘ bzw. ‚stillschweigender‘ Zustimmung hinwegzusehen (vgl. ebd., 259). Außerdem übersehe Hume, dass Lockes Theorie aus zwei Teilen bestehe und die verbindende Zustimmung nur dann verpflichtend sei, „wenn das Regierungssystem gemäß dem ersten Teil des Kriteriums des Gesellschaftsvertrags legitim ist“ (ebd., 260). Den eigentlich relevanten Streitpunkt zwischen Locke und Hume erkennt Rawls in folgender Frage, welche Hume nicht behandle: „Wenn man Lockes Theorie des Gesellschaftsvertrags als hypothetisches Kriterium auf die Form eines politischen Regierungssystems anwendet, würde genau die gleiche Familie

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politischer Regierungssysteme oder Verfassungen als richtig und gerecht ausgewählt werden wie dann, wenn man Humes Begriff der allgemeinen Erfordernisse und Interessen der Gesellschaft – mit anderen Worten: seinen Nutzenbegriff – zu Anwendung brächte“ (ebd., 261). Nach Rawls beruhen beide Prinzipien auf vollkommen unterschiedlichen Grundlagen, dennoch mache die allgemeine Formulierung dieser es schwierig, wirklich konkrete Unterschiede zwischen diesen zu benennen (ebd., 264). Hume, welcher künstliche Pflichten wie Gerechtigkeit durch den Nutzenbegriff erklärt (ebd., 256 f.), versuche eine „idealisierte Erklärung der Art und Weise, in der die Institution des Eigentums und Tugenden wie Gerechtigkeit, Integrität usw. entstehen können“ (ebd., 275) zu geben. Insofern entspreche sie Humes Absicht einer psychologischen Erklärung (ebd., 275 f.), welche von der normativen Erklärung Lockes völlig verschieden sei (ebd., 276). Dieser Unterschied wird auch im Folgenden Abschnitt deutlich. So widmet sich Rawls zuletzt der Idee des ‚verständnisvollen Beobachters‘, welche zu „den wichtigsten und interessantesten Ideen der Moralphilosophie“ (ebd., 280) zähle. Die Grundlage des Prinzips der Menschlichkeit sowie „unsere Fähigkeit, den Standpunkt des verständnisvollen Beobachters einzunehmen und uns in seine Lage hineinzuversetzen“ (ebd., 279), seien nach Hume ausschlaggebend für die Übereinstimmung unserer moralischen Urteile (vgl. ebd., 279 f.). Auch hier gehe es Hume um eine Erklärung unseres moralischen Denkens und dementsprechend werde wieder deutlich, inwiefern sich Hume von Locke unterscheidet (vgl. ebd., 280). Abschließend verdeutlicht Rawls die unterschiedlichen Herangehensweisen der beiden Autoren, indem er Locke mit dem Bild eines Juristen vergleicht, „der im Rahmen einer Verfassung disputiert, deren Gesetze von Gott stammen“ (ebd., 281), wohingegen Hume als Naturforscher betrachtet werden könne (vgl. ebd., 250), welcher an die Rechtfertigung von Eigentum und Regierung empirisch herangehe (vgl. ebd., 281).

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Eine widerspruchsfreie Interpretation Rousseaus Rawls stellt Jean-Jacques Rousseau (1712– 1778), dessen Interessen weitreichender seien als jene von Hobbes und Locke (ebd., 316), als einen „Kritiker der Kultur und der Zivilisation“ (ebd., 287) mit tiefen und konsequenten Ideen dar, dessen Denken in ihrer Gesamtstruktur einen Zusammenhang sowie eine einheitliche Auffassung bilden (ebd., 286 f.). Dabei bezieht Rawls sich in seinen drei Vorlesungen zu Rousseau vor allem auf dessen beiden Werke Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts (GV) aus dem Jahr 1762 sowie Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit (Zweite Abhandlung = ZA), die 1755 veröffentlicht wurde. Während die ZA, „in der es um die gesamte Menschengeschichte und den Ursprung der Ungleichheit, um politische Unterdrückung und gesellschaftliche Lasten geht“ (ebd., 288), „eher düster und pessimistisch“ sei, entwerfe Rousseau mit dem GV eine optimistischere realistische Utopie, indem er versuche, „die Basis eines durch und durch gerechten und funktionsfähigen, aber zugleich stabilen und erfolgreichen Regierungssystems aufzuzeigen“ (ebd., 288). Die ZA biete notwendige Hintergrundinformationen für das Problem, mit welchem Rousseau sich im GV auseinandersetze (ebd., 290). Dabei schließt sich Rawls Kants umstrittener weiter Leseart des Begriffs ‚amour-propre‘ an (ebd., 296 f.). Demnach könne zwischen einer natürlichen amour-propre, welche dem angemessenen Ziel des Menschen entspreche, sich die gleiche Stellung zu sichern, die auch anderen Menschen zukommt, und einer unnatürlichen amour-propre, welche eine pervertierte Version dieser sei und sich „in dem Verlangen, anderen überlegen zu sein, sie zu beherrschen und von ihnen bewundert zu werden“ äußere (ebd., 296). Rawls merkt hier an, dass diese weite Lesart des Begriffs nicht allgemein akzeptiert werde und die Mehrheit den Begriff im Sinne der unnatürlichen Version verstehe (ebd., 296). Die weite Lesart sei jedoch notwendig, um eine widerspruchs-

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freie Interpretation Rousseaus Theorie zu ermöglichen und dessen Werke miteinander in Verbindung zu bringen (vgl. ebd., 297 f.). Rousseaus These aus der ZA, dass der Mensch gut sei und erst durch soziale Institutionen böse werde, sei nach Rawls von Bedeutung für dessen Theorie des GV, insofern sie darauf hinauslaufe, dass soziale Institutionen einen Einfluss auf die Neigungen des Menschen haben und dass ein System „gerechter, stabiler und erfreulicher politischer Institutionen“ per se möglich ist (ebd., 307). Wie Locke gehe Rousseau davon aus, dass politische Autorität auf einem Gesellschaftsvertrag beruhen müsse (ebd., 320), weiche aber insofern von dessen Theorie ab, als dass er allen Bürgern – bzw. allen männlichen Bürgern – „gleiche Anteile an der Macht des Souveräns“ (ebd., 328) zuspreche. Ausschlaggebend für die Legitimität grundlegender Gesetze sei nach Rousseau, dass diese aufrichtige Äußerungen des Gemeinwillens, welcher die Grundinteressen der Bürger sichere, seien (vgl. ebd., 329; 339). Sowohl dieser Gemeinwille, der die Menschen zur Willensfreiheit befähige (ebd., 344), als auch die Gleichheit (ebd., 342) seien bei Rousseau grundlegende Bedingungen für Freiheit. Diesen Zusammenhang zwischen dem Gemeinwillen, Gleichheit und Freiheit erörtert Rawls innerhalb der Vorlesungen und schlussfolgert, dass der Mensch bei Rousseau durch den Gesellschaftsvertrag Freiheit „in einem höheren und ganz anderen Sinn“ (ebd., 357) sowie „Gleichheit auf der höchsten Ebene“ (ebd., 363) erlange.

Mills Prinzipien und ihre Nähe zur Fairness-Konzeption Auch den Philosophen John Stuart Mill (1806– 1873) beschreibt Rawls auf eine konstruktive Weise, indem er dessen Werke im Augenschein dessen selbst erwählter Aufgabe betrachtet: „Er sieht sich als Erzieher, der zur Bildung einer einflußreichen Meinung beiträgt. Das ist sein Ziel“ (ebd., 418). Mit diesem gezielten Blick werde auch die Einsicht in die Mängel seiner Schriften, wie beispielsweise

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die teilweise lockere und mehrdeutige Terminologie dieser, möglich (ebd., 369). Da Rawls eine „große inhaltliche Nähe zwischen Mills Prinzipien der politischen und sozialen Gerechtigkeit einerseits und den beiden Prinzipien der Fairneß-Konzeption der Gerechtigkeit andererseits“ (ebd., 388) erkennt, widmet er sich in der Betrachtung von Mills Werken vor allem folgender komplexer Frage: „Wie kommt es, daß eine offenbar utilitaristische Auffassung zu inhaltlich substantiell gleichen Grundsätzen (zu den gleichen Gerechtigkeitsprinzipien) führt wie die Fairneß-Konzeption der Gerechtigkeit“ (ebd., 389)? Dabei nimmt Rawls an, dass es ein hochbegabter Autor wie Mill sich bei der Herleitung dieser Grundsätze, welche Grundpfeiler dessen Theorie darstellen, nicht geirrt haben könne und will deshalb im Rahmen seiner Vorlesungen zeigen, dass sich die Prinzipien im Rahmen beider Theorien etwa im Sinne eines übergreifenden Konsenses rechtfertigen lassen (ebd., 389). Rawls geht – anders als andere Autor*innen – davon aus, dass Mills Konzeption des Utilitarismus von der Auffassung seines Vaters James Mill und jener Jeremy Benthams abweiche (vgl. ebd., 372). Mill betrachte das Glück als „Endzweck einer Lebensweise oder Lebensform“ (ebd., 378) und unterscheide zwischen qualitativ verschiedenen Arten von Freuden – im Sinne von Tätigkeiten –, wobei der Mensch eine Lebensweise bevorzuge, deren Struktur höhere Fähigkeiten in den Mittelpunkt rücke (vgl. ebd., 382 f.). Diese Vorstellung von Glück werde vom Prinzip der Würde getragen (vgl. ebd., 384). Für sein Prinzip der Gerechtigkeit beziehe Mill sich auf die ‚fundamentale Sanktion des Nutzenprinzips‘, welche durch den Wunsch der Menschen nach ‚einträchtigem Zusammenleben mit anderen Menschen‘ gestützt würde und grundlegend für die Bereitschaft der Menschen zu gerechtem Verhalten sei (vgl. ebd., 412). Mills Prinzip der Freiheit beziehe sich nicht auf das philosophische Problem der Willensfreiheit, sondern jenes der bürgerlichen Freiheit, welches „Mißbräuche seitens der demokratischen Regierung selbst, insbesondere den Fall, in dem Mehrheiten ihre Macht über Minderheiten mißbrauchen“ (ebd.,

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413), betreffe. Dabei betrachte Mill sein Prinzip der Freiheit als „ein Prinzip für den öffentlichen Vernunftgebrauch im heraufziehenden demokratischen Zeitalter“ (ebd., 416), und ziele auf die Verhütung möglicher, zukünftiger Tyrannei demokratischer Mehrheiten ab (vgl. ebd., 418). Wie auch die Fairness-Konzeption gelte das Prinzip dabei für eine bestimmte Liste von Freiheiten (vgl. ebd., 418 f.) und lasse nur gewisse Gründe für die Inanspruchnahme des öffentlichen Vernunftgebrauchs zu (vgl. ebd., 425). Gegenüber der Fairness-Konzeption seien die Gründe für Mills Vorstellung des Gebrauchs der öffentlichen Vernunft verschieden, stünden aber nicht im Widerspruch zu jener (vgl. ebd., 430). Auch Mills Freiheitsprinzip müsse dem Nutzenprinzip untergeordnet werden, gehöre jedoch zu den Grundinstitutionen der Gesellschaft (vgl. ebd., 430). Abschließend konstatiert Rawls zwar, dass Mills Theorie perfektionistische Werte anerkenne, jedoch den grundlegenden Werten seiner politischen und sozialen Theorie – der Freiheit sowie der Gerechtigkeit – einen gewissen Vorrang gewähre (vgl. ebd., 451–453). Mills Prinzipien der Gerechtigkeit und Freiheit seien „nicht sehr weit von der Fairneß-Konzeption der Gerechtigkeit entfernt […], so daß sich seiner politischen und sozialen Theorie […] die Prinzipien eines modernen und umfassenden Liberalismus entnehmen lassen“ (ebd., 453). Damit erkennt Rawls das Ergebnis Mills Theorie an, auch wenn er dessen Methode der Verwendung des Nutzenprinzips vorwirft, gegenüber der Fairness-Konzeption auf eine sehr spezifische Psychologie angewiesen zu sein, um zu eindeutigen Schlussfolgerungen gelangen zu können (vgl. ebd., 393).

Marx’ Gesellschaft ‚jenseits der Gerechtigkeit‘ Rawls betrachtet Karl Marx (1818–1883) als einen „isolierten Gelehrten“ (ebd., 461), dessen „Theorie als Theoretiker der Ökonomie und der politischen Soziologie des Kapitalismus außerordentlich, ja nachgerade heroisch“ sei (ebd., 462). Marx’ Werke seien von enormer

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Reichweite und stellen die Leser*innen laut Rawls vor gewaltige Schwierigkeiten (vgl. ebd., 463). In seinen Vorlesungen zu Marx begnügte Rawls sich mit dem bescheidenen Ziel, diesen als Kritiker des Liberalismus zu betrachten und dessen Ideen zu Recht und Gerechtigkeit, insbesondere in Bezug auf die Frage der Gerechtigkeit des Kapitalismus zu erörtern (vgl. ebd., 462 f.). Dabei beantwortet Rawls gleich zu Beginn einige Einwände, welche Marx hinsichtlich seiner Kritik am Liberalismus erhebe (vgl. ebd., 463–465). Rawls erläutert Marx’ Auffassung des kapitalistischen Gesellschaftssystems, welches in seiner Endphase durch den immer weiter zunehmenden Antagonismus zwischen den Klassen der Arbeiter*innen und Kapitalist*innen im Zusammenbruch des Kapitalismus münde. Im Anschluss befasst er sich mit Marx’ Arbeitswerttheorie, mit welcher dieser zeigen wolle, dass selbst „ein völlig gerechtes […] kapitalistisches System ein System der Ausbeutung“ (vgl. ebd., 478) sei. Rawls folgt dieser Theorie nicht und geht hingegen davon aus, dass „Marx’ Ansichten [hätten] besser formuliert werden können, wenn man diese Theorie gar nicht verwendet“ (ebd., 478). Im Anschluss widmet er sich der umstrittenen Frage, ob Marx’ Missbilligung des Kapitalismus auf Werten einer Gerechtigkeitskonzeption oder auf anderen Werten wie Freiheit beruht (ebd., 484). Dabei kommt Rawls zu dem Ergebnis, dass Marx „den Kapitalismus tatsächlich wegen seiner Ungerechtigkeit verurteilt“ (ebd., 484) habe und „zumindest implizit eine im weiten Sinn gedeutete Konzeption der Gerechtigkeit“ (ebd., 485) vertrete. Da Marx die menschliche Arbeit für die einzige gesellschaftliche relevante Ressource halte und allen Mitgliedern der Gesellschaft den gleichen Zugang zu Produktionsmitteln und natürlichen Ressourcen zugestehe, erkläre dieser das Privateigentum an diesen Mitteln für illegitim, insofern es im Widerspruch zur grundlegenden Gerechtigkeit stehe (vgl. ebd., 506). Systematisch über Gerechtigkeit nachgedacht habe Marx jedoch nie (vgl. ebd., 511). Rawls erörtert Marx’ Idealgesellschaft – eine „Gemeinschaft frei vergesellschafteter Produzenten“ (ebd., 515) –,

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welche sich in ein sozialistisches Stadium sowie in ein Stadium des vollendeten Kommunismus einteilen lasse (vgl. ebd., 515). Diese Gemeinschaft sei frei von einem ideologischen – falschen – Bewusstsein, Entfremdung und Ausbeutung (vgl. ebd., 515). Während es im ersten Stadium noch unumgängliche Mängel der Ungleichheit und Arbeitsteilung gebe (vgl. ebd., 525), entspreche das zweite Stadium einem radikalen „Egalitarismus ohne Zwang“ (ebd., 531), so dass dieses, wenn Gerechtigkeit im Sinne von Gleichheit verstanden wird, als gerecht bezeichnet werden könne (vgl. ebd., 531 f.). Wird jedoch ein anderes Verständnis von Gerechtigkeit vorausgesetzt, liege die Gesellschaft des vollendeten Kommunismus „jenseits der Gerechtigkeit“ (ebd., 532), insofern den Menschen jener Gesellschaft kein Sinn für Gerechtigkeit zukomme und diese nicht von den Tugenden und Prinzipien der Gerechtigkeit motiviert würden (vgl. ebd., 532). Nach Rawls seien uns diese Menschen fremd (vgl. ebd., 532). Seine Abneigung gegenüber dem „Verschwinden der Gerechtigkeit“ (ebd., 532) macht er deutlich, wenn er schreibt: „Das Fehlen jeglichen Interesses an Gerechtigkeit ist schon als solches unerwünscht, denn daß man einen solchen Sinn […] hat, ist ein Bestandteil des menschlichen Lebens und eine Voraussetzung dafür, daß man andere Menschen versteht und ihre Ansprüche erkennt“ (ebd., 533).

Sidgwicks systematische Darstellung des Utilitarismus Im Anhang des Werkes von Rawls werden dessen Vorlesungen zu Sidgwick und Butler abgedruckt, welche – wie bereits zu Beginn angemerkt – aus Sicht des Herausgebers die am wenigsten abgerundeten Teile des Buches darstellen. Rawls stellt den Philosophen Henry Sidgwick (1838–1900) – neben Bentham und Edgeworth – als einen Repräsentanten der ‚klassischen‘ Linie des Utilitarismus, deren moralisches Endziel „gesellschaftlichen und individuellen Handelns die größtmögliche Summe des Glücks aller fühlenden Wesen“ (ebd., 542) sei,

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dar (ebd., 539). Dessen 1874 erschienenes Werk Methods of Ethics betrachtet er als „die am besten aufgearbeitete und vollständigste philosophische Formulierung dieser Theorie“ (ebd., 539). Die Originalität des Werkes liege in der Vorstellung, die Sidgwick sich von der Moralphilosophie selbst mache (ebd., 539). Er sei sich „in höherem Maße als andere klassische Autoren über die vielen Schwierigkeiten im klaren“ (ebd., 543), mit denen der Utilitarismus zurechtkommen müsse, ohne dabei von seiner Linie abzuweichen. Dieser erachte es als seine Aufgabe, die Moralkonzeptionen des egoistischen Hedonismus, des Intuitionismus sowie des allgemeinen Hedonismus auf systematische Weise zu untersuchen und miteinander zu vergleichen (ebd., 543). Dabei komme er zu dem Schluss, dass der Hedonismus dem Intuitionismus überlegen sei, müsse sich jedoch eingestehen, dass beide Varianten des Hedonismus die von ihm formulierten Kriterien der vernünftigen Begründung erfüllen und sein Werk nicht in der Lage sei, eine Überlegenheit des allgemeinen gegenüber dem egoistischen Hedonismus nachzuweisen (ebd., 543 f.). Hieraus folgere Sidgwick einen „Dualismus der praktischen Vernunft, ohne daß eine objektive Lösung in Sicht wäre“ (ebd., 550). Rawls wirft dem Werk Sidgwicks „zwei schwerwiegende Mängel“ (ebd., 544) vor: Er lasse einige Aspekte grundlegender moralischer Konzeptionen unbeachtet und erkenne Kants Theorie nicht als eigene moralische Konzeption an (ebd., 544). Auch bei Sidgwick erörtert Rawls dessen Theorie der Gerechtigkeit, welche seiner Analyse der „intuitiven Prinzipien des Common sense“ (ebd., 554) zuzuordnen sei. Bei diesen handle es sich nicht um authentische, rationale und objektive Grundprinzipien, weshalb es ein weiteres, höheres Prinzip – das Nutzenprinzip – geben müsse (ebd., 554). In der dritten Vorlesung zu Sidgwick deutet Rawls den klassischen Utilitarismus als Antwort auf Hobbes’ Theorie, mit dem Ziel eine systematische Moralkonzeption innerhalb einer säkularen Gesellschaft zu schaffen, welche die politische Autorität anhand moralischer Prinzipien erklärt (vgl. ebd., 567). Damit beruhe dieser auf dem gleichen Gedanken wie

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die Vorstellung einer wohlgeordneten Gesellschaft (ebd., 568). Rawls widmet sich anschließend einem ganz  bestimmten Kriterium des Utilitarismus: dem interpersonellen Vergleich. Er vertritt die Ansicht, dass ein Vergleich des absoluten Wohlergehens der Individuen nicht notwendig ist, sondern die Vergleichbarkeit der Einheiten genüge (ebd., 577).Rawls sieht das Problem nun darin, „daß jedes System von Entsprechungsregeln offenbar tiefgreifende ethische Voraussetzungen verkörpert, die nur unter Schwierigkeiten aus dem Utilitarismus entfernt werden können“ (ebd., 590.) Abschließend fasst Rawls in seiner letzten Vorlesung zu Sidgwick die „großartige[n] Merkmale“ (ebd., 592) sowie die Schwierigkeiten des Utilitarismus (ebd., 593) zusammen. Schließlich kommt er zu dem Schluss, dass die Konzeption „nicht so unkompliziert ist, wie sie zunächst erscheint“ (ebd., 593). Seiner Ansicht nach weise jede vernünftige politische Konzeption komplexe Strukturen auf (vgl. ebd., 593).

Butlers Konstitution der menschlichen Natur Auch wenn Rawls dem englischen Theologen Joseph Butler (1692–1752) fünf Vorlesungen widmet, umfasst dessen Darstellung – im Verhältnis zur Anzahl der Vorlesungen – nur wenige Seiten des Buches. Dies liegt vermutlich daran, dass sie wie anfangs erwähnt auf Vorlesungsnotizen und handschriftlichen Aufzeichnungen beruhen. Rawls erläutert vor allem jenen Teil Butlers Werkes, welchen er als „Hauptteil seiner Replik“ (ebd., 602) versteht: „Butlers eigene Konzeption der Konstitution der menschlichen Natur“ (ebd., 602). Dabei macht er innerhalb seiner Erörterung immer wieder deutlich, welch große Relevanz die Hintergrundvorstellungen Butlers auf den Inhalt von dessen Ausführungen haben. So beschreibt Rawls ihn als einen „Verteidiger der Moral und des vernünftigen Glaubens“ (ebd., 600), dessen Ziel darin bestehe, „uns in unserer moralischen und religiösen Alltagspraxis zu bestärken“ (ebd., 600 f.). Er setze die gleichen Prämissen wie die Deisten, welche

9  Geschichte der politischen Philosophie (2007/2008)

als Kritiker seiner Theorie gelten, insofern er die Existenz Gottes als Schöpfer der Welt als selbstverständlich voraussetze (ebd., 603) und den Zweck der menschlichen Natur darin sehe, Gottes Absichten, welche von den Menschen nur unzureichend begriffen würden, zu dienen (ebd., 606). Auf diese Grundannahmen verweist Rawls auch, wenn er Butlers methodisches Vorgehen erläutert und die Konsequenzen dessen deistischer Voraussetzungen beschreibt (vgl. ebd., 624–628). Außerdem betrachtet Rawls Butler als Gegner Hobbes, welcher eine vernünftige Grundlage der Moral sowie die Fähigkeiten der Menschen für das Leben in einer Gesellschaft leugne und davon ausgehe, dass politische Verpflichtungen auf Machtverhältnissen beruhen (vgl. ebd., 501 f.). Anders als dieser schreibe Butler der menschlichen Natur ein Prinzip der Güte zu und gehe von einem höchsten Prinzip des Gewissens, welchem Butler eine „autoritative und oberste regulative Rolle“ (605) zuspreche, aus. Das Gewissen führe uns zu den moralischen Tugenden hin und veranlasse uns dazu, „um dieser Tugenden selbst willen ihnen entsprechend zu handeln“ (ebd., 602). Rawls macht auch darauf aufmerksam, welch hohen Wert Butler dem gesellschaftlichen Aspekt der menschlichen Natur – im Gegensatz zu Hobbes – beimesse (vgl. ebd., 621), wobei auch dieses Vorgehen gegen Formen des Individualismus einem herkömmlichen christlichen Thema und damit Butlers Grundannahmen entspreche (Ebd., 622 f.). Neben dem Gewissen ordnet Rawls Butlers psychischen Komponenten der Konstitution der menschlichen Natur zwei weitere Teile zu: „Diverse Formen von Begierden, Neigungen und Affekten […] [sowie die] beiden allgemeinen und rationalen bzw. deliberativen Prinzipien der Güte und der vernünftigen Eigenliebe“ (ebd., 604). Butler versuche nachzuweisen, dass „ein der Wohltätigkeit und Tugend gewidmetes Leben eine natürliche Verträglichkeit mit unserem Glück aufweist“ (ebd., 640). Hiermit führt Rawls bereits auf seine Antwort hin, die er auf die Frage nach dem „vermeintlichen Konflikt“ gibt (ebd., 641–648): Zwischen dem Gewissen, welches uns als Führer von Gott zugewiesen worden sei und dem wir zu folgen

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verpflichtet seien (645), und der Eigenliebe. Es entspreche dem Grundprinzip des Gewissens, dass eine gute Neigung zur Tugend auch eine gute Neigung zu sich selbst erzeuge (vgl. ebd., 648 f.). Aus diesem Grund könne der Mensch nicht gegen das Gewissen verstoßen, ohne sich dabei selbst zu verurteilen (vgl. ebd., 649).

Zusammenfassung und Ausblick Im englischen Original erschien Lectures on the History of Political Philosophy im Jahre 2007, also fünf Jahre nach Rawls’ Tod. Der deutschsprachige Titel „Geschichte der politischen Philosophie“ ist insofern irreführend, als dass hier kein Gesamtüberblick zur Geschichte des politischen Denkens geboten wird, wie das etwa Otfried Höffe in seiner Darstellung in der erwartbaren Weise umsetzt und sachgemäß mit Denkern der Antike beginnt (Höffe 2021), sondern der Fokus der dokumentierten Vorlesungen ausschließlich auf der Neuzeit liegt. Dies findet seinen Ausdruck bereits im ursprünglichen Titel der Vorlesung, die Rawls unter der Überschrift „Politische Philosophie der Neuzeit“ von der Mitte der 1960er bis zur Mitte der 1990er Jahren gehalten hat (vgl. Rawls 2008, 9) und wie sie inzwischen als Audiomitschnitte auch auf Youtube verfügbar sind. Auch die von Manfred Brocker herausgegebenen Bände zur Geschichte des politischen Denkens sind gänzlich anders angelegt: Sie sind einführende Überblicksdarstellungen zu einer Vielzahl politischer Denker (Brocker 2018a, 2018b, 2021). Bei Rawls hingegen steht die persönliche Auseinandersetzung und die Relevanz einzelner Theorieentwürfe ausgewählter Denker für sein eigenes politischen Denken im Mittelpunkt. Überdies ist die Komposition der hier dokumentierten Vorlesungen nicht zu vergleichen mit Rawls großen Theoriewerken wie Eine Theorie der Gerechtigkeit oder Politischer Liberalismus. Rawls kommt uns in dieser Schrift weniger als Theoretiker, sondern vielmehr als Lehrender, als Universitätsprofessor nahe. Dies wird vor allem in der Sprache, im Stil, in der Ausdrucksweise und im Aufbau der Texte einschließlich vereinzelter

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„Anhänge“ deutlich. Zudem sollte man wissen, dass Rawls Vorlesungsmanuskripte und -notizen nicht für eine Veröffentlichung, gegen die er sich zu Lebzeiten gesträubt habe, vorgesehen waren (vgl. Rawls 2008, 17). Auch wenn hier kein Theoriewerk Rawls’ vorliegt, so sind doch immer Spuren seines Denkansatzes und zu seinen Themen zu identifizieren. Vor allem wenn es um die Frage der Gerechtigkeit, aber auch wenn es um Gesellschaft, Freiheit, utilitaristisches Denken, die menschliche Natur und andere Themen geht. Vor allem seine Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness spielt immer wieder eine Rolle. Überdies wird punktuell auch deutlich, welche Denker Rawls näher standen (etwa Mill) und welche nicht (etwa Marx). Und selbst eine humorvolle Seite Rawls’ tritt zutage, wenn man exemplarisch die Fußnoteneinträge 2 und 3 auf den Seiten 285 und 286 mit launigen Anmerkungen zu einem Song von John Denver sowie zum „Freiheit“-Diktum Rousseaus sichtet. Die Rezeptionsund Wirkungsgeschichte der beiden Vorlesungsdokumentationen sowohl zur Moralphilosophie als auch zur politischen Philosophie (Rawls 2002b und Rawls 2008), lässt sich noch nicht abschätzen. Da sie deutlich weniger Reflexionsstoff

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und Diskursimpulse bieten als die Theoriewerke von Rawls, ist anzunehmen, dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung eher punktuell über die einzelnen von Rawls dargestellten und analysierten Denker erfolgen wird, sofern dies Gegenstand von Forschungsvorhaben sein werden, als dass sie jeweils in ihrer Gesamtheit größeres Forschungsinteresse wecken werden.

Literatur Brocker, Manfred (Hg.): Geschichte des politischen Denkens. Berlin 52018a. Brocker, Manfred (Hg.): Geschichte des politischen Denkens. Das 20. Jahrhundert. Berlin 2018b. Brocker, Manfred (Hg.): Geschichte des politischen Denkens. Das 19. Jahrhundert. Berlin 2021. Höffe, Otfried: Geschichte des politischen Denkens. München 2021. Pogge, Thomas W.: John Rawls. München 1994. Rawls, John: Recht der Völker. Das Recht der Völker. Enthält: „Nochmals: die Idee der öffentlichen Vernunft“. Berlin/New York 2002. Rawls, John: Geschichte der Moralphilosophie. Frankfurt a. M. 2002. Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. 2003. Rawls, John: Geschichte der politischen Philosophie. Frankfurt a. M. 2008 (engl. 2007).

Teil IV

Werk: Sonstiges

Die Idee des politischen Liberalismus (1992)

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Tim Reiß

Der Band Die Idee des politischen Liberalismus vereint eine Reihe wichtiger Aufsätze von John Rawls in deutscher Übersetzung, die zwischen 1978 und 1988 entstanden sind. Sie sind – in allerdings teilweise erheblich modifizierter Form (auch wenn die Aufsatztitel als Kapitelüberschriften beibehalten worden sind) – in das zweite Hauptwerk Politischer Liberalismus (1993) eingegangen. (Einzig „Die Grundstruktur als Gegenstand“ und „Der Vorrang der Grundfreiheiten“ sind ohne Änderungen als Kap. 7 und 8 in den Politischen Liberalismus aufgenommen worden.) Die in diesem Band versammelten Aufsätze sind für die werkgeschichtliche Entwicklung von der Theorie der Gerechtigkeit zum Politischen Liberalismus von zentraler Bedeutung: Sie stellen die Scharnierstelle zwischen beiden Hauptwerken dar. Rawls bereitet hier die wichtigsten Argumente seines Spätwerks vor. Mitunter ist zwischen den beiden Hauptwerken Rawls’ eine scharfe Zäsur gesetzt worden. Die Behauptung eines Bruchs in der Werkgeschichte ist allerdings überzogen. Die Wendung zum politischen Liberalismus bedeutet keineswegs eine Revision der Gerechtigkeitskonzeption Gerechtigkeit als Fairneß. Vielmehr lässt sich

T. Reiß (*)  Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

Rawls’ Spätwerk so lesen, dass es den Anspruch hat zu zeigen, dass eine durch Gerechtigkeit als Fairneß (oder eine alternative liberale politische Gerechtigkeitskonzeption) geordnete Gesellschaft auch dann denkbar ist, wenn diese Gesellschaft durch einen tiefgreifenden weltanschaulich-religiösen Pluralismus gekennzeichnet ist. Die in Die Idee des politischen Liberalismus gesammelten Aufsätze sollen unter folgender thematischer Gliederung vorgestellt werden: moraltheoretischer und/oder politischer Konstruktivismus, moralischer Begriff der Person und Vorrang der Grundfreiheiten, Faktum des Pluralismus und übergreifender Konsens. Abschließend skizziere ich zusammenfassend die werkgeschichtliche Bedeutung sowie Rezeption und Wirkung. Konstruktivismus Die drei Vorlesungen, die unter dem Titel „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ (1980) veröffentlicht wurden (im Folgenden kurz: Dewey-Vorlesungen), sind in mehrfacher Hinsicht Schlüsseltexte der Werkentwicklung. Sie erfahren später, im Zuge ihrer Einarbeitung in den Politischen Liberalismus, eine ganz erhebliche Modifikation. Rawls unternimmt hier den später nicht weiterverfolgten Versuch, den konstruktivistischen Ansatz der Theorie der Gerechtigkeit zu einer allgemeinen Moralphilosophie auszuarbeiten. Zudem führt Rawls hier einen neu akzentuierten und erweiterten Personenbegriff ein, der für die Systematik

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_10

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von Gerechtigkeit als Fairneß, insbesondere für die Begründung des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes (Vorrang der Grundfreiheiten), entscheidende Auswirkungen haben wird. Der Grundgedanke des kantischen Konstruktivismus ist: Objektivität im Gebiet der Moral muss mit der Autonomie derjenigen vereinbar sein, an die sich moralische Verpflichtungen richten. Deshalb darf moralische Objektivität nicht im Sinne einer Einsicht in bloß Vorgegebenes verstanden werden – seien dies der moralischen Reflexion vorausgesetzte natürliche Bedürfnisse, sei dies eine durch Intuition erkennbare moralische Ordnung (vgl. Rawls 1992, 133–158). Mit dem kantischen Autonomiebegriff ist deshalb nicht bloß der „psychologische Naturalismus“, sondern gleichermaßen auch der „rationale Intuitionismus“ unvereinbar (ebd., 139). Konstruktivismus darf dabei auf keinen Fall in einem verflachten Sinn verstanden werden, wonach ihr konstruktivistischer Begriff mit der Allgemeingültigkeit (und in diesem Sinn: Objektivität) moralischer Normen unvereinbar wäre. Einer solchen Ansicht liegt nämlich gerade das Missverständnis zugrunde, man müsse sich zwischen Allgemeingültigkeit der Normen und Autonomie der Subjekte entscheiden. Der Anspruch der kantischen Position ist es dagegen gerade zu zeigen, dass eine konstruktivistische Moralauffassung in der Lage ist, den Allgemeinheitsanspruch der Moral so zu erläutern, dass er mit der Voraussetzung der Autonomie aller moralischen Subjekte vereinbar ist – nämlich genau dann, wenn Objektivität nicht im Sinne einer Repräsentation von Vorgegebenem, sondern als Einnahme eines „auf geeignete Weise konstruierten [...] Standpunkts verstanden“ wird (ebd., 85, vgl. 155). In den folgenden Veröffentlichungen Rawls’ erfährt der kantische Konstruktivismus erhebliche Modifikationen. In „Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch“ (1985) schränkt Rawls sowohl den Gegenstandsbereich als auch die Reichweite des Geltungsanspruchs des konstruktivistischen Ansatzes erheblich ein: Der Gegenstandsbereich wird auf Fragen der politischen Gerechtigkeit, und das heißt auf die Einrichtung der gesellschaftlichen Grund-

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struktur eingeengt (vgl. Rawls 1992, 256, Fn. 2). Was seine metaethischen Voraussetzungen bzw. Implikationen betrifft, so betont Rawls nun nicht mehr die Unvereinbarkeit des Konstruktivismus mit bestimmten metaethischen Auffassungen (wie dem rationalen Intuitionismus), sondern seine grundsätzliche Indifferenz ihnen gegenüber (ebd., 264); Rawls’ konstruktivistische Auffassung wird gegenüber der Frage nach der Existenz vorgegebener moralischer Tatsachen oder Werte agnostisch (Galvin 2011). Diese Entwicklung setzt sich später fort; im Politischen Liberalismus spricht Rawls dann ausschließlich vom politischen Konstruktivismus. Anders als der kantische ist der politische Konstruktivismus keine umfassende Lehre oder Moraltheorie (Rawls 1998, 180), sondern beschränkt sich auf diejenigen politischen Werte, die das öffentliche Zusammenleben orientieren. Im Politischen Liberalismus stehen sich deshalb, im Unterschied zu den Dewey-Vorlesungen von 1980, nicht mehr der kantische Konstruktivismus und der rationale Intuitionismus gegenüber, sondern Rawls stellt nun beiden den politischen Konstruktivismus gegenüber. Während der kantische Konstruktivismus den alleinigen Ursprung moralischer Werte und Verpflichtungen in uns selbst, in der praktischen Vernunft („konstitutive Autonomie“, Rawls 1998, 181) sieht, macht der politische Konstruktivismus eine viel schwächere Voraussetzung: Moralische Werte und Verpflichtungen müssen im Bereich des Politischen als selbsterzeugt dargestellt werden können („doktrinale Autonomie“, Rawls 1998, 179). Die weitergehende Frage, ob moralische Werte im Ganzen selbsterzeugt sind, kann offenbleiben (Rawls 1998, 211–213, vgl. Freeman 2007, 353–355). Dadurch wird der politische Konstruktivismus laut Rawls für ganz unterschiedliche, auch für nichtkantische Moralauffassungen annehmbar. Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen kantischem und politischem Konstruktivismus muss vor dem Hintergrund verstanden werden, dass die Frage, ob moralische Autorität und Erkenntnis auf der Einsicht in Vorgegebenes oder auf dem Bewusstsein ihrer freien Hervorbringung durch autonome Subjekte

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beruht, keine bloß akademische Frage ist, sondern die entscheidende Bruchlinie eines Kulturkampfes zwischen traditionalistischen und progressiven Moralauffassungen in der amerikanischen Kultur darstellt (Hunter 1997). Diese Konkurrenz zwischen orthodoxem und progressivem Moralbegriff unterliegt einer ganzen Reihe intensiver gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen (um Abtreibung, Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften usw.). Eine politische Konzeption, die im Bereich des Politischen für beide Lager akzeptabel sein möchte, darf sich deshalb in der Frage moralischer Ontologie und Epistemologie nicht auf eine Seite festlegen. Die Modifikationen, die der kantische Konstruktivismus bei Rawls erfährt, stehen insofern paradigmatisch für den zentralen werkgeschichtlichen Umbruch im Spätwerk, der 1985 mit „Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch“ einsetzt: der Idee einer Autonomisierung des Bereichs des Politischen gegenüber umfassenden Moralvorstellungen und auch gegenüber philosophischen Lehren (Rawls 1992, 255–292). Personenbegriff und Vorrang der Grundfreiheiten Rawls weist mehrfach darauf hin, dass ein zentrales Missverständnis die Rezeption der Theorie der Gerechtigkeit belastet hat: Das in die Urzustandsfiktion eingebaute entscheidungstheoretische Argument ist nämlich in der Rezeption vielfach gegen den argumentativen Gesamtzusammenhang verselbständigt worden. Rawls will in der Theorie der Gerechtigkeit zeigen, dass sich rationale, allein an ihren eigenen Interessen orientierte Parteien unter Bedingungen des Nichtwissens um die eigene gesellschaftliche Position und die eigene Konzeption des Guten auf diejenigen beiden Gerechtigkeitsprinzipien einigen würden, die Rawls unter dem Titel Gerechtigkeit als Fairneß zusammenfasst: Dies sind (1) der Vorrang der Grundfreiheiten sowie (2) das Prinzip der fairen Chancengleichheit und das Differenzprinzip. Nun sind zwar tatsächlich die Parteien im Urzustand bloß kluge Egoisten – und genau deshalb

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kann man, um zu erklären, worauf die Parteien im Urzustand sich einigen würden, auf die Theorie rationaler Entscheidung zurückgreifen. Es ist aber keineswegs das übergreifende Begründungsziel, Gerechtigkeitsprinzipien allein aus dem aufgeklärten Eigeninteresse der Bürger*innen abzuleiten (vgl. Rawls 1992, 177, Fn. 21, 273 f., Fn. 20). Die Theorie der Gerechtigkeit ist keine Theorie des strategischen Kontraktualismus. Die Urzustandsfiktion soll vielmehr als Gesamtkonstruktion eine adäquate Operationalisierung des Gedankens der Freiheit und Gleichheit aller Bürger*innen leisten und damit die Auswahl von Gerechtigkeitsprinzipien anleiten, die zur Beurteilung gesellschaftlicher Institutionen dienen können (ebd., 104, 176). Die Urzustandsfiktion ist insofern ein „Darstellungsmittel“ (ebd., 271, 274, 357) und ein „einheitsstiftender Gedanke“ (ebd., 274). Sie hat nicht das Ziel, Gerechtigkeitsprinzipien aus Zweckrationalität zu begründen. Vielmehr geht es Rawls um eine „arbeitsteilige Kooperation von Zweckrationalität und Normativität“ (Maus 2013, 82). Zwar ist das Beratschlagen der Parteien im Urzustand nicht durch Gerechtigkeitsüberlegungen angeleitet. Aber in die Modellierung des Urzustands gehen Annahmen über Gerechtigkeit ein, die wiederum der Bedingung unterstehen, mit „unseren wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen“ (Rawls 1979, 37) verträglich zu sein. Auch wenn also bereits die Theorie der Gerechtigkeit nicht zu den zweckrationalstrategisch enggeführten Varianten des Kontraktualismus gezählt werden kann, so liegt doch eine der wichtigsten Modifikationen, die Rawls in den Schriften der 1980er Jahre vornimmt, in einem neu akzentuierten Begriff der Person und dessen herausragender systematischer Bedeutung. Personen sind diesem Verständnis zufolge dadurch charakterisiert, dass sie zwei moralische Vermögen besitzen: Dies ist zum einen der Gerechtigkeitssinn, d. h. die Bereitschaft, mit anderen unter fairen Bedingungen zusammenzuarbeiten. Das andere Vermögen ist die Befähigung zu einer Konzeption des Guten, welche auch die Fähigkeit einschließt, die eigene Konzeption des Guten revidieren zu können (vgl. Rawls 1992, 93, 119, 172, 268).

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Eine Person, die über beide Vermögen verfügt, kann zum einen die Frage stellen: ‚Was ist für mich gut?‘. Zum anderen hat sie die Bereitschaft und den Wunsch, in der Verfolgung des eigenen Guten fair mit anderen zusammenzuarbeiten. Diesen beiden Vermögen korrespondieren nun laut Rawls zwei „höchstrangige Interessen“ an ihrer Ausbildung und Ausübung (ebd., 93 f., 125) – sowie ein diesen beiden höchstrangigen Interessen untergeordnetes „höherrangiges Interesse“, die eigene konkrete Konzeption des Guten zu verfolgen (Rawls 1992, 94). Die entscheidende systematische Umakzen­ tuierung liegt nicht so sehr darin, dass Rawls den Bürger*innen diese beiden moralischen Vermögen zuspricht (dies lässt sich auch schon der Theorie der Gerechtigkeit entnehmen, Rawls 1979, 29, 36 f., 548), sondern dass er den Parteien im Urzustand das Wissen um die höchstrangigen Interessen der von ihnen repräsentierten Bürger*innen an der Ausübung dieser beiden moralischen Vermögen zuspricht (Siep 1997). Die Urzustandsfiktion muss, so Rawls, berücksichtigen, „daß die Beweggründe der Parteien der Repräsentation moralischer Personen angemessen sind“ (Rawls 1992, 125). Welche große Bedeutung die Modifikation der Urzustandsfiktion und ihres Personenbegriffs seit den Vorlesungen über Kantischen Konstruktivismus in der Moraltheorie besitzt, wird ganz besonders im Zusammenhang der neuen Begründung des Vorrangs der Grundfreiheiten ganz deutlich. Der große Aufsatz „Der Vorrang der Grundfreiheiten“ geht auf eine doppelte Kritik ein, die H. Hart an der Begründung dieses Vorrangs in der ursprünglichen Fassung der Theorie der Gerechtigkeit geübt hat (Hart 1973). (Diese Kritik hat Rawls bereits in die für die deutsche Übersetzung revidierte Fassung der Theorie der Gerechtigkeit eingearbeitet [vgl. Rawls 1986/2013].) Harts Kritik besagt zum einen, dass es Rawls nicht gelinge, eine überzeugende Interpretation des Inhalts der Grundfreiheiten zu geben, weil das Prinzip, wonach jede Bürger*in ein Recht „auf das umfangreichste Gesamtsystem von

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gleichen Grundfreiheiten“ habe (Rawls 1979, 282, Hervorhebung hinzugefügt), keiner kohärenten Interpretation zugänglich sei. Aus dieser maximalisierenden Bestimmung lasse sich nämlich kein Kriterium ableiten, das die Kompatibilisierung, Ausgestaltung und Interpretation der einzelnen Grundrechte anleiten könnte. Zudem lasse sich der unbedingte Vorrang der Grundfreiheiten durch die Urzustandsfiktion nicht begründen. Es sei nicht zwingend, dass sich rationale Akteure unter dem Schleier des Nichtwissens für den absoluten Vorrang der ‚umfangreichsten‘ Freiheit entscheiden müssten. Es sei nämlich nicht einzusehen, warum rationale Nutzenmaximierer grundsätzlich nicht bereit sein sollten, Einschränkungen ihrer Freiheit zugunsten eines höheren Maßes an gesellschaftlicher Wohlfahrt in Kauf zu nehmen. Rawls akzeptiert sowohl Harts Kritik an der maximalisierenden Formulierung als auch an der unzureichenden Begründung der Grundfreiheiten. Der in den Vorlesungen über Kantischen Konstruktivismus ausgearbeitete moralische Personenbegriff soll (in Verbindung mit einemdiesem korrespondierenden Begriff sozialer Kooperation, Rawls 1992, 169–174) beide Probleme zugleich lösen (Rawls 1992, 160; dazu Hinsch 2002, 23–49): Er soll den Vorrang der Grundfreiheiten begründen und einen Maßstab für ihre Ausgestaltung und Kompatibilisierung angeben. Die Grundfreiheiten werden nämlich von Rawls nun primär unter dem Gesichtspunkt thematisiert, dass diese Freiheiten die sozialen Bedingungen für die Ausbildung und Ausübung der moralischen Vermögen sichern (Rawls 1992, 179, vgl. 94 f.). Dies ist zugleich das Kriterium, welches Ausgestaltung und Kompatibilisierung einzelner Grundfreiheiten anleiten kann – die Bedeutung der einzelnen Grundfreiheiten bemisst sich daran, welche Funktion ihr im Hinblick auf die Sicherung der Bedingungen der Ausbildung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen zukommt (ebd., 208). Statt vom umfangreichsten spricht Rawls jetzt von einem „völlig adäquaten System gleicher Grundfreiheiten“ (ebd., 160).

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Das neue Argument für die Wahl des Vorrangs der Grundfreiheiten im Urzustand lautet dann folgendermaßen. Prämisse (1): Die Grundfreiheiten sichern die notwendigen sozialen Bedingungen für die Ausbildung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen (ebd., 178 f.; vgl. ebd., 94 f.). Prämisse (2): Die Parteien im Urzustand wissen, dass sie Bürger*innen repräsentieren, die über die beiden moralischen Vermögen und die ihnen korrespondierenden höchstrangigen Interessen verfügen, d. h. sie wissen, dass sie moralische Personen repräsentieren, die ein Interesse an der Erhaltung ihrer moralischen Personalität haben. Also (Konklusion): Die Parteien einigen sich auf den Vorrang der Grundfreiheiten (ebd., 196 f.). Beide Prämissen des Schlusses stellen gegenüber der Theorie der Gerechtigkeit ganz erhebliche Akzentverschiebungen dar. Grundgüter wurden dort als allgemeine Währung für die Verfolgung beliebiger Ziele eingeführt (Rawls 1979, 83). Dagegen betont Rawls jetzt, dass Grundgüter, und zwar zuvorderst die Grundfreiheiten, die herausgehobene Bedeutung besitzen, die sozialen Bedingungen für die Ausbildung und Erhaltung der moralischen Personalität zu sichern (Rawls 1992, 67, 96, 178). Die zweite Prämisse wirft die Frage auf, ob Rawls hier nicht jene „arbeitsteilige Kooperation von Zweckrationalität und Normativität“ (Maus 2013, 82) aufgibt, die der ursprünglichen Anlage der Urzustandsfiktion zugrunde liegt. Denn die zweite Prämisse setzt eben nicht nur voraus, dass die Bürger*innen über die beiden moralischen Vermögen verfügen. Sie behauptet, dass die Parteien im Urzustand um das ‚höchstrangige Interesse‘ wissen, dass die von ihnen repräsentierten Bürger*innen an der Ausbildung und Ausübung dieser Vermögen besitzen und diesen Umstand berücksichtigen. Wie lässt sich dies begründen? Darauf gibt Rawls zwei ganz unterschiedliche Antworten (vgl. Alexy 1997, 277–280): Hält man an der bisherigen Trennung fest – die Parteien im Urzustand verfügen allein über ‚rationale Autonomie‘, das heißt sie haben allein den Vorteil der von ihnen Vertretenen im Blick, wohingegen die ‚vernünftige Autonomie‘ ausschließlich

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durch die äußeren Bedingungen repräsentiert wird, denen ihre Überlegungen unterstehen (vgl. Rawls 1992, 247) –, dann muss man für die Wahl des unbedingten Vorrangs der Grundfreiheiten über einen Umweg argumentieren: Und zwar so, dass man zeigt, dass es für die Verfolgung beliebiger konkreter Interessen förderlich ist, höherrangige Interessen auszubilden und zu fördern (so Rawls 1992, 180–196; vgl. dazu Maus 2013, 74–76; Pogge 1994, 66). Das heißt: Während die Bürger*innen ein intrinsisches Interesse an ihren moralischen Vermögen besitzen, haben die Parteien im Urzustand zu ihren moralischen Vermögen ein rein instrumentelles Verhältnis (so in Rawls 1992, 186 f., 189, 191; vgl. Cohen 2015, 190–194; Freeman 2007, 151, 167 f., 297–299, 303, 343). Das Verhältnis zwischen ‚bloß rationaler‘ und ‚vollständiger‘ Autonomie ist, in der Perspektive der Parteien im Urzustand, genau auf den Kopf gestellt: Für die Parteien im Urzustand ist es strategisch sinnvoll, vernünftig zu sein (während für die Bürger*innen, das Vernünftige der rationalen Autonomie einen begrenzenden Rahmen setzt, vgl. Rawls 1992, 100). Eine andere, weniger umweghafte Antwort auf die Frage nach der Begründung des unbedingten Vorrangs der Grundfreiheiten lautet: Den Parteien im Urzustand wird das Wissen darum, dass sie Bürger*innen mit höchstrangigen Interessen an der Ausübung ihrer moralischen Vermögen repräsentieren, einfach auferlegt. Dabei ergibt sich aber folgende Schwierigkeit: Die Parteien im Urzustand müssen einen Begriff der moralischen Person und der vollständigen Autonomie, über den sie selbst gar nicht verfügen – denn die Parteien im Urzustand sind, anders als die Bürger*innen, strategische Kontraktualist*innen –, gleichwohl in seiner Bedeutung verstehen und berücksichtigen können (vgl. Alexy 1997, 266; Habermas 1996, 69 f.). Das für die Urzustandsfiktion charakteristische Modell der Treuhänderschaft, das üblicherweise die stellvertretende Wahrnehmung selbstbezogener Interessen bezeichnet, gerät an seine Grenzen, wenn höchstrangige Interessen stellvertretend wahrgenommen werden sollen.

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Die neue Begründung des Vorrangs der Grundfreiheiten durch den Begriff der moralischen Person mit den beiden moralischen Vermögen wirft deshalb sehr grundsätzliche Fragen nach der Reichweite und der Leistungsfähigkeit des „Darstellungsmittels“ (vgl. Rawls 1992, 271, 357) der Urzustandsfiktion auf. Durch die Urzustandsfiktion soll eine intersubjektive Rechtfertigung, die vollständige Autonomie erfordert, in der Form einer Einigung zwischen bloß ‚rational autonomen‘ strategischen Kontraktualist*innen dargestellt werden (deren Verhandlungen allerdings unter bestimmten einschränkenden äußerlichen Bedingungen stehen). Darin liegt die Pointe und zugleich die Grenze der Urzustandsfiktion als Rechtfertigungsparadigma. Denn es ist fraglich, ob eine solche Übersetzung wirklich gelingen kann – bzw., und vor allem: ob eine solche bloß ‚rational-autonom‘ motivierte Einigung wieder in eine genuin intersubjektive Rechtfertigung zurückübersetzt werden kann (vgl. Habermas 1996; Scanlon 1982, 123–128). Die Parteien im Urzustand stimmen dem Vorrang der Grundfreiheiten zu, weil das in ihrem eigenen Interesse bzw. im Interesse der jeweils von ihnen repräsentierten Person liegt (Rawls 1992, 187). Wir Bürger*innen stimmen dem Vorrang der Grundfreiheiten zu, weil dem Vorrang der Grundfreiheiten aus der Perspektive einer jeden zugestimmt werden kann. Rationale Autonomie ist die Freiheit, solchen Regeln zu folgen, denen ich zustimmen kann, weil sie in meinem Interesse liegen. Volle Autonomie ist die Freiheit, Regeln zu folgen, denen ich deshalb zustimmen kann, weil ihnen eine jede zustimmen kann (vgl. Cohen 2015, 197 f.). Es bleibt somit eine unaufgelöste Ambivalenz: Einerseits sollen die Parteien im Urzustand bloß ‚rational autonom‘ entscheiden, das heißt allein durch instrumentelle Klugheit angeleitet, andererseits aber bereits im Wissen darum, dass die von ihnen repräsentierten Bürger*innen über höchstrangige Interessen an Ausbildung und Ausübung ihrer beiden moralischen Vermögen verfügen. Damit ist die Arbeitsteilung im ursprünglichen Urzustandsmodell – die vollständige Autonomie wird im Unterschied zur ra-

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tionalen Autonomie nicht im Bewusstsein der Vertragspartner*innen, sondern allein durch die äußeren Bedingungen repräsentiert – tendenziell aufgehoben (vgl. Habermas 1996, 70). Die Entfaltung und Verteidigung des Begriffs der moralischen Person mit den beiden moralischen Vermögen schließt endgültig die Möglichkeit aus, das Begründungsziel der Theorie der Gerechtigkeit als entscheidungstheoretische Reduktion des Gerechtigkeitsproblems misszuverstehen: Personen haben nicht nur Ziele und Interessen, sondern auch das höherstufige Interesse, ihre Zielverfolgung anderen gegenüber als legitim ausweisen zu können. Zudem deutet sich hier bereits die wesentliche werkgeschichtliche Schwerpunktverlagerung an: vom Urzustandsmodell auf das Rechtfertigungsmodell des öffentlichen Vernunftgebrauchs (vgl. Scanlon 2003). Eine entscheidende Differenz gibt es jedoch, die die Aufsätze bzw. Vorträge der frühen achtziger Jahre sowohl von der Theorie der Gerechtigkeit als auch vom Spätwerk trennen. Die Auswahl der Grundgüter, insbesondere die Begründung des Vorrangs der Grundfreiheiten, hängt jetzt an einem gehaltvollen Personenbegriff: Personen verfügen über die zwei skizzierten moralischen Vermögen. Hieraus erklärt sich ihr unbedingtes Interesse an der Sicherung ihrer Grundfreiheiten. Dieser Personenbegriff sei, so Rawls’ spätere Einschätzung, in den Vorlesungen über Kantischen Konstruktivismus noch im Rahmen einer umfassenden Moraltheorie entwickelt worden. Seit „Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch“ ist Rawls dann aber der Auffassung, dass der moralische Begriff der Person sich aus dieser umfassenden Moraltheorie herauslösen und als politischer Personenbegriff reformulieren bzw. darstellen lässt (Rawls 1992, 267–269, 277–283). Dass es sich um einen politischen Personenbegriff handelt, hat dabei eine doppelte Bedeutung: Dieser Begriff der Person ist erstens „selbst ein grundlegender intuitiver Gedanke, von dem angenommen wird, daß er in der öffentlichen Kultur einer demokratischen Gesellschaft implizit enthalten ist“ (ebd., 269, vgl. 280 f.). Zweitens beschreibt er den Status

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einer Person als Bürger*in, d. h. ausschließlich die öffentliche Identität von Personen (ebd., 170, 277–283). Zusammengenommen heißt das: Der politische Personenbegriff beschreibt, was die Bürger*innen selbst über sich denken, wenn sie ihre Rolle als Bürger*innen beschreiben. Faktum des Pluralismus und übergreifender Konsens Mit „Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch“ (1985) sowie den nachfolgenden Aufsätzen vollzieht Rawls die Wendung zum politischen Liberalismus (vgl. dazu Weithman 2010). Diese Wendung nimmt ihren Ausgangspunkt von einem Einwand, den er selbst gegen den systematischen Aufbau der Theorie der Gerechtigkeit formuliert. Rawls kommt zunehmend zu der Auffassung, dass er in seinem ersten Hauptwerk den für moderne demokratische Gesellschaften kennzeichnenden religiösen, weltanschaulichen und philosophischen Pluralismus nicht ernst genug genommen habe (vgl. Rawls 1992, 354). Moderne Gesellschaften sind nämlich – dies eine der wichtigsten begrifflichen Innovationen von Rawls’ Spätwerk – durch das „Faktum des Pluralismus“ (ebd., 294, vgl. aber auch schon ebd., 174) gekennzeichnet. Dieser Begriff verbindet eine empirische Beobachtung mit einer konzeptuellen Deutung. Es ist eine empirische Beobachtung, dass in modernen Gesellschaften eine Vielzahl religiöser, weltanschaulicher und philosophischer Lehren koexistieren. Diese Koexistenz ist, so die konzeptuelle Deutung, nicht die Folge vermeidbarer Irrtümer, sondern den „Bürden der Vernunft“ (ebd., 336– 339) geschuldet. Die Bürden der Vernunft (oder: „Bürden des Urteilens“, Rawls 1998, 127–132) erklären, warum es ‚vernünftige Meinungsverschiedenheiten‘ immer geben wird, d. h. unaufgelöste Dissense zwischen Bürger*innen, die weder auf Irrtum noch auf Rationalitätsdefiziten beruhen. Das Faktum des Pluralismus ist deshalb „keine bald vorübergehende […] Erscheinung, sondern ein […] dauerhaftes Merkmal der politischen Kultur moderner Demokratien“ (Rawls 1992, 298, vgl. 174). Eine Einigung auf eine bestimmte umfassende Lehre könnte nur durch „repressive[n]

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Gebrauch staatlicher Macht“ bewirkt werden (ebd., 335, vgl. 117, 174, 299). Dies bedeutet insbesondere, dass das Faktum des Pluralismus nicht nur in bestehenden, sondern auch in einer (dem Rawlsschen Begriff nach) wohlgeordneten Gesellschaft, d. h. einer Gesellschaft, in der eine bestimmte Gerechtigkeitskonzeption allgemein anerkannt wird, unaufhebbar ist. Wenn es nun aber zu den Bedingungen der Legitimität einer politischen Ordnung gehört, dass ihren Grundprinzipien alle Bürger*innen freiwillig zustimmen können (ebd., 353, 356), dann, so die normative Schlussfolgerung, darf bei der Formulierung dieser Prinzipien nicht die Zustimmung zu einer besonderen Lehre vorausgesetzt werden. Die Theorie der Gerechtigkeit habe nun aber insbesondere zur Begründung der sog. Kongruenzthese auf Argumente zurückgegriffen, die Teil einer umfassenden, kantianisch geprägten moralischen Lehre seien (so Rawls’ Selbsteinschätzung in der „Einleitung“ (1995) zum Politischen Liberalismus, 39; vgl. Rawls 1992, 291 f., Fn. 34). Die Kongruenzthese (vgl. Freeman 2003) besagt, dass es für jede*n Bürger*in gut ist, einen Gerechtigkeitssinn auszubilden. Diese Frage ist nämlich durch die Urzustandsfiktion noch nicht beantwortet. Die Urzustandsfiktion soll zeigen, dass wir, wenn wir die gesellschaftliche Grundstruktur auf ihre Gerechtigkeit hin befragen, überlegen können, ob sie mit Regeln kompatibel ist, auf die sich Vertragsparteien einigen könnten, die jeweils ihren Vorteil maximieren wollen, solange sie unter dem Schleier des Nichtwissens stehen. Die Parteien im Urzustand sind strategische Kontraktualist*innen, die Bürger*innen aber sind es nicht. Das heißt, es kann nicht einfach vorausgesetzt werden, dass es im aufgeklärten Eigeninteresse aller Bürger*innen liegt, einen Gerechtigkeitssinn zu haben. Die Überlegung, auf welche Regeln sich strategische Kontraktualist*innen unter Bedingungen des Nichtwissens einigen würden, soll die Frage nach dem Inhalt der Gerechtigkeitsprinzipien beantworten. Damit ist aber noch keinesfalls die ganz andere Frage beantwortet, warum sich die Bürger*innen überhaupt am

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Maßstab der Gerechtigkeit orientieren sollten. Warum sollten die Bürger*innen aus Fleisch und Blut es zum Kriterium der Beurteilung der Grundstruktur ihrer Gesellschaft machen, ob sich künstliche Akteur*innen unter Bedingungen des Nichtwissens auf diese Grundstruktur einigen würden? Diese Frage nach der Motivation zur Ausbildung und Ausübung eines Gerechtigkeitssinns soll durch die Kongruenzthese beantwortet werden (vgl. Freeman 1994, 625 f.). Die Kongruenzthese besagt, dass der „beständige Wunsch, sich auf den Standpunkt der Gerechtigkeit zu stellen, für die Betreffenden etwas Gutes ist“ (Rawls 1979, 616). Die Theorie der Gerechtigkeit begründet diese Behauptung damit, dass der „Wunsch, gerecht zu handeln“ identisch sei mit dem „Wunsch, seine Natur als freies moralisches Subjekt auszudrücken“ (ebd., 620, vgl. 284, 288). In dieser Begründung sei allerdings – so Rawls’ spätere Selbstkritik – eine umfassende, und zwar kantianische Lehre vorausgesetzt, der zufolge nämlich unser tiefster Wesenszug darin besteht, dass wir uns in Freiheit selbst Regeln geben. Eine solche Anschauung ist aber in religiös-weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften kontrovers. So mögen manche Bürger*innen etwa unsere Natur nicht durch unsere Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung, sondern dadurch charakterisieren, dass sie uns zur Einsicht in Gebote Gottes oder zum Verständnis des von Natur aus Richtigen befähigt. Nun führt die Anerkennung des ‚Vorrangs der Grundfreiheiten‘ selbst gerade zu einer Stärkung dieses Pluralismus (Rawls 1992, 334). Die Theorie der Gerechtigkeit ist deshalb, so Rawls’ Argument, reflexiv inkohärent: Die gesellschaftliche Institutionalisierung derjenigen Grundsätze, die sie vorschlägt, verunmöglicht jenen Konsens über eine umfassende Lehre, auf den sie zugleich an wichtiger Stelle zurückgreift. Die Theorie der Gerechtigkeit stelle in ihrem dritten Teil „den Pluralismus nicht in Rechnung […], zu dem ihre eigenen Grundsätze führen“ (Rawls 1992, 355; vgl. Freeman 2003; Weithman 2010). Um diese reflexive Inkohärenz zu beheben, unterscheidet Rawls nun zwischen dem Liberalismus als einer umfassenden Lehre, die

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nicht allgemein teilbar ist, und dem Liberalismus als einer politischen Gerechtigkeitskonzeption, die aus der Perspektive ganz unterschiedlicher umfassender Lehren akzeptabel sein soll (Rawls 1992, 283–285, 300–302, 307, 322, 330). Die öffentliche Gerechtigkeitskonzeption soll „so weit wie möglich von kontroversen philosophischen und religiösen Lehren unabhängig sein“ (ebd., 255). Bei der Ausarbeitung der Gerechtigkeitskonzeption möchte Rawls daher einer „Methode der Vermeidung“ (ebd., 265, 277, Fn. 22, 312) möglichst aller strittigen philosophischen Grundlagenfragen folgen und das „Toleranzprinzip auf die Philosophie selbst anwenden“ (ebd., 265, vgl. 255, 313). Eine mit dem Pluralismus kompatible Gerechtigkeitskonzeption ist dabei laut Rawls in einem dreifachen Sinn ‚politisch‘ (ebd., 296– 306, 341–343, 365): Sie hat erstens einen eingeschränkten Gegenstandsbereich, denn sie bezieht sich ausschließlich auf die Grundstruktur der Gesellschaft. Sie wird zweitens unabhängig von umfassenden Lehren, auch unabhängig von einer umfassenden liberalen Lehre, formuliert. Sie ist eine „freistehende Auffassung“ (ebd., 346). Gleichwohl muss sie, drittens, nicht an einem Nullpunkt anfangen: Sie greift, statt auf eine umfassende Lehre, auf die normativen Gehalte bestimmter fundamentaler, implizit in der öffentlichen politischen Kultur enthaltener Begriffe und Gedanken zurück. Sie ist aber nicht in dem laut Rawls ‚falschen Sinn‘ politisch, dass sie einfach die Schnittmenge derjenigen Auffassungen bilden würde, die faktisch und gegenwärtig in einer bestimmten Gesellschaft akzeptiert werden (vgl. ebd., 333, 356–358, 396). Dabei ist der Pluralismus – auch das ist eine Innovation gegenüber der Theorie der Gerechtigkeit – keinesfalls auf die umfassenden Lehren und Konzeptionen des Guten beschränkt. Vielmehr gibt es ebenso eine vernünftige Pluralität liberaler Gerechtigkeitskonzeptionen. Rawls’ eigener Vorschlag einer Gerechtigkeitskonzeption, die Konzeption Gerechtigkeit als Fairneß (grob: Vorrang der Grundfreiheiten und Differenzprinzip), ist nurmehr eine unter möglichen anderen liberalen Gerechtigkeitskonzeptionen (Rawls 1992, 302 f., 319; vgl.

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Freeman 2007, 379 f., 395). Es sind drei Kennzeichen, die für eine generisch liberale politische Gerechtigkeitskonzeption konstitutiv sind (Rawls 1992, 321): Erstens beinhaltet jede liberale politische Konzeption eine Liste bestimmter Grundfreiheiten und -rechte, zweitens den Vorrang dieser Grundfreiheiten und -rechte und drittens enthält sie Vorkehrungen, die sicherstellen, dass die Bürger*innen ihre Grundrechte auch effektiv nutzen können. Die Pluralität möglicher liberaler politischer Konzeptionen ergibt sich daraus, dass der genaue Inhalt der Grundfreiheiten und insbesondere die Art der Vorkehrungen, die allen Bürger*innen eine effektive Nutzung ihrer Rechte ermöglichen sollen, unterschiedlichen Interpretationen zugänglich ist (vgl. Hinsch 2002, 17 f.). Diese Akzentverschiebung hängt mit Rawls’ an anderem Ort geäußerter Einschätzung zusammen, er habe in der Theorie der Gerechtigkeit zwei Argumente bzw. Beweisziele nicht hinreichend auseinandergehalten (vgl. Rawls 1986/2013, 272; vgl. dazu Hinsch 2002, 64 f.; Pogge 1994, 90): Erstens soll gezeigt werden, dass die beiden Gerechtigkeitsprinzipien (Vorrang der Grundfreiheiten, faire Chancengleichheit und Differenzprinzip) im ganzen dem utilitaristischen Prinzip des Durchschnittsnutzens überlegen sind. Zweitens soll gezeigt werden, dass die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze auch einer ‚gemischten Konzeption‘ vorzuziehen sind, d. h. einer Gerechtigkeitskonzeption, die den Vorrang der Grundfreiheiten und das Prinzip fairer Chancengleichheit anerkennt, aber diese statt mit dem Differenz- beispielsweise mit dem Durchschnittsnutzenprinzip kombiniert. Rawls hält an der Auffassung fest, dass sich beide Thesen begründen lassen. Jedoch geht er – im Angesicht einer veränderten Einschätzung der Reichweite des modernen Pluralismus – nun davon aus, dass die Begründung der ersten These nicht nur wesentlich dringlicher ist als die der zweiten. Die Vorzugswürdigkeit einer generisch liberalen Konzeption lasse sich zudem mit stärkeren Argumenten stützen als die Vorzugswürdigkeit von Gerechtigkeit als Fairneß (Vorrang der Grundfreiheiten, Differenzprinzip) gegenüber anderen Arten von libera-

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len Gerechtigkeitskonzeptionen (Rawls 2003, 153, 207). Dabei darf nicht übersehen werden: Rawls bleibt der Auffassung, dass eine liberale Gerechtigkeitskonzeption nicht bereits dann vorliegt, wenn der Vorrang der Grundfreiheiten zugestanden wird, treu. Eine liberale Konzeption muss zwingend Vorkehrungen vorsehen, die den Bürger*innen einen effektiven Gebrauch dieser Freiheiten ermöglichen – auch wenn über die Frage, welche Vorkehrungen überhaupt geeignet oder vorzugswürdig sind, ein liberaler Familienstreit besteht (vgl. Dreben 2003, 334). In Gerechtigkeit als Fairneß wird durch den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz allein der faire Wert der politischen Grundfreiheiten garantiert (Rawls 1992, 199). Das darf aber nicht zu der Fehlinterpretation führen, der faire Wert der anderen Grundfreiheiten spiele in Rawls’ eigenem Vorschlag für eine liberale Gerechtigkeitskonzeption keine Rolle. Im Gegenteil: Die Garantie des fairen Werts politischer Freiheiten verspricht die beste Aussicht darauf, dass durch den Gebrauch dieser Freiheiten auch der faire Wert der anderen Grundfreiheiten gesichert werden kann (ebd., 203). Die besondere Bedeutung der politischen Grundfreiheiten leitet sich nämlich aus „ihrer fundamentalen Rolle für die Regulierung der gesamten Grundstruktur ab“ (Rawls 1992, 180; vgl. Pogge 1994, 127). Das Differenzprinzip wird, anders als die Grundfreiheiten, nicht bereits auf Verfassungsebene festgeschrieben, sondern formuliert einen Auftrag an den Gesetzgeber (Rawls 1992, 210 f.). Rawls spielt also gerade nicht den Gerechtigkeitsbegriff gegen die politische Freiheit der Bürger*innen aus und auch nicht die politischen gegen die Freiheitsgrundrechte. Eine weitere zentrale Innovation, die sich in den im Band Die Idee des politischen Liberalismus gesammelten Aufsätzen findet, ist die von Rawls hier bereits entwickelte, für das Spätwerk dann zentrale Idee, dass die öffentliche Gerechtigkeitskonzeption in einer pluralistischen Gesellschaft auch als Gegenstand eines übergreifenden Konsenses umfassender Lehren verstanden werden können muss. Eine politische

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Gerechtigkeitskonzeption muss demnach zwei Bedingungen erfüllen (ebd., 350–353) bzw. „zwei Stufen der Darstellung“ durchlaufen: Sie muss, erstens, „freistehend“ ausgearbeitet und begründet werden können, d. h. ohne Bezug auf umfassende Lehren (ebd., 357 f., 396). Sie muss dann allerdings zugleich zweitens den Gegenstand eines ‚übergreifenden Konsenses‘ ausmachen können, d. h. von allen Bürger*innen, in Kenntnis der jeweils vertretenen umfassenden Lehre, akzeptiert werden können. Wie das Verhältnis zwischen diesen beiden Bedingungen näher bestimmt werden kann, wird allerdings – wie auch die Frage, was genau den Gegenstand des übergreifenden Konsenses eigentlich ausmacht, d. h. worin genau die umfassenden Lehren ‚überlappen’ – nicht ganz klar (Zoffoli 2013, 64 f.). Folgende drei Interpretationen sind möglich: (a) Durch den übergreifenden Konsens findet eine tiefergehende Begründung statt. Die politische Konzeption kann als eine Menge von ‚Theoremen‘ angesehen werden (Rawls 1992, 287, 307), die durch unterschiedliche Axiome gestützt werden können. Die politische Konzeption ist, was ihre Begründung angeht, sozusagen gewollt oberflächlich, um für möglichst unterschiedliche weitergehende Begründungen anschlussfähig zu sein. Diese Deutung verschiebt allerdings den Hauptakzent des übergreifenden Konsenses: Dessen Inhalt bilden dann nicht unmittelbar die beiden Gerechtigkeitsprinzipien, sondern diejenigen zur Begründung der Gerechtigkeitskonzeption herangezogenen, aus der politischen Kultur aufgelesenen fundamentalen Ideen und politische Werte, die nun ihrerseits eine weitergehende Begründung durch die jeweilige umfassende Lehre erfahren (Quong 2011, Kap. 6, 161–191). Demzufolge kombiniert Rawls in einem zweistufigen Modell ein Konsensmodell der Rechtfertigung auf der ersten Stufe – die zur Begründung der Inhalte der Gerechtigkeitskonzeption herangezogenen politischen Ideen müssen allgemein geteilt werden – mit einem Konvergenzmodell der Rechtfertigung auf zweiter Stufe – die weitergehende Begründung der politischen Ideen erfolgt durch differierende Gründe.

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(b) Die freistehende Begründung ist eine notwendige, aber keine hinreichende Begründung. Es kann nämlich nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die auf der ersten Stufe gelieferten, in Absehung von allen umfassenden Lehren entwickelten Begründungen zwar von allen Bürger*innen geteilt werden können, dass sich aber aus den umfassenden Lehren, die die Bürger*innen vertreten, Gegengründe entwickeln lassen. Die zweite Stufe räumt demzufolge den umfassenden Lehren eine Art Vetorecht ein. Es besteht eine Asymmetrie: Umfassende Lehren können die politische Konzeption zwar nicht begründen, aber sie können legitime Einwände liefern (vgl. Hinsch 1997, 104; Zoffoli, 2013, 62 f., 85 f.). Jürgen Habermas und Rainer Forst haben kritisiert, dass Rawls mit diesem Argument Geltungs- und Stabilitätsfragen vermische. Anders als Rawls behaupte, sei eine freistehende Begründung im Hinblick auf die Geltung der Gerechtigkeitskonzeption völlig hinreichend (Forst 1997). Habermas hat den Einwand formuliert, Rawls übergehe hier eine wichtige Differenz: In der Theorie der Gerechtigkeit sei es um die Prüfung der Stabilität einer wohlgeordneten, d. h. einer durch eine Gerechtigkeitskonzeption regulierten Gesellschaft (die es noch nirgendwo gibt) gegangen. Nun behandle Rawls unter dem Titel des Stabilitätsproblems aber die ganz andere Frage nach faktischer Akzeptanz der Gerechtigkeitsprinzipien in bestehenden Gesellschaften (Habermas 1996, 80). Auf diesen Einwand lässt sich allerdings antworten, dass diese Verschiebung im Zusammenhang mit Rawls’ veränderter Einschätzung der Reichweite des Pluralismus steht: Auch eine wohlgeordnete Gesellschaft wird durch das Faktum eines vernünftigen Pluralismus gekennzeichnet sein. Die Aufgabenstellung, eine liberale Gerechtigkeitskonzeption Bürger*innen gegenüber zu rechtfertigen, die ganz unterschiedliche umfassende Lehren vertreten, bleibt damit auch für eine wohlgeordnete Gesellschaft bestehen. (c) Eine weitere Interpretationsmöglichkeit ist folgende: Rawls kommt, wie erwähnt, zu der Auffassung, dass die Theorie der Gerechtigkeit

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nicht hinreichend mit dem religiös-weltanschaulichen Pluralismus kompatibel ist, weil sie das Kongruenzproblem – warum ist es gut, gerecht zu sein? – nur um den Preis des Rückgriffs auf eine partikulare umfassende Lehre gelöst habe. Die Idee eines übergreifenden Konsenses kann nun so verstanden werden, dass sie genau dieses Problem lösen und die Möglichkeit der Kongruenz des Guten mit dem Gerechten aufzeigen soll, ohne auf eine bestimmte umfassende Lehre zurückzugreifen (Freeman 1994 und 2003, 303– 308; Scanlon 2003, 159 f.; Weithman 2010). Auf der zweiten Stufe ginge es also darum, dass geprüft werden muss, ob die jeweiligen umfassenden Lehren Gründe liefern können, die zeigen, dass es für die jeweiligen Bürger*innen gut ist, sich an der Gerechtigkeit zu orientieren. Debatten und Wirkung Die in Die Idee des politischen Liberalismus versammelten Aufsätze sind ein zentrales Dokument des werkgeschichtlichen Umbruchs zum politischen Liberalismus. Rawls entwickelt hier die Schlüsselbegriffe und -konzepte des Spätwerks, die bis heute die Diskussion prägen. Teilweise haben sich die Begriffe gegenüber dem Kontext ihrer Einführung bei Rawls verselbständigt. Auch sind von Rawls nicht mehr weiterverfolgte Ansätze von anderen Autor*innen aufgegriffen und weitergeführt worden. So ist beispielsweise das von Rawls nach den Dewey-Vorlesungen nicht mehr weiterverfolgte Vorhaben, einen konstruktivistischen Ansatz im Sinne einer allgemeinen Moralphilosophie auszuarbeiten, von einer Reihe von Autor*innen weitergeführt worden (Galvin 2011, Hill 1989, 71–92, Milo 1995, O’Neill 2003). Rawls wechselt in den Aufsätzen der achtziger Jahre gewissermaßen auf eine höhere Abstraktionsstufe (vgl. Cohen 1994, 1510): Während die Theorie der Gerechtigkeit zu wesentlichen Teilen als normative politische Ethik, als Ausarbeitung des Inhalts einer Gerechtigkeitskonzeption verstanden werden kann, haben die Überlegungen in den auf den Politischen Liberalismus hinführenden Schriften zunehmend einen metaethischen Charakter: Es geht nun primär um die Frage, inwiefern und

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unter welchen Bedingungen eine allgemein teilbare, politische Gerechtigkeitskonzeption unter Bedingungen eines tiefgreifenden religiös-weltanschaulichen Pluralismus überhaupt möglich ist. Der Schwerpunkt verschiebt sich damit von Fragen der (Verteilungs-)Gerechtigkeit auf die Frage nach den Bedingungen der Legitimität allgemeinverbindlicher Regelungen (Freeman 2007, 395). Die Legitimität einer allgemeinverbindlichen Konzeption ergibt sich in pluralistischen Gesellschaften nicht einfach aus ihrer inhaltlichen Richtigkeit oder objektiven Begründbarkeit. Sie muss nicht nur begründet, sondern prinzipiell auch allen Bürger*innen gegenüber gerechtfertigt werden können. Rechtfertigungen haben aber, im Unterschied zu Begründungen, einen intrinsischen Adressatenbezug (vgl. Rawls 1992, 301). Das „liberale[] Ideal[] politischer Legitimität“ (ebd., 356, vgl. 349) fordert, dass allgemeinverbindliche Regelungen prinzipiell für alle Bürger*innen akzeptabel sein müssen. Das Prinzip öffentlicher Rechtfertigung (ebd., 263, 301, 353, 357, 377) und die Idee öffentlichen Vernunftgebrauchs (ebd., 230, 306, 316, 353, 357) gewinnen bei Rawls ein immer stärkeres Gewicht. In der Folge wird auch das Darstellungsmittel des Urzustands zunehmend durch das Prinzip öffentlicher Rechtfertigung bzw. des öffentlichen Vernunftgebrauchs abgelöst (vgl. Scanlon 2003). Wie sich das liberale Legitimitätsideal und das Prinzip öffentlicher Rechtfertigung zum Rechtfertigungsmodell des Urzustands genau verhalten, ist dabei Gegenstand anhaltender Kontroversen. Ist das Prinzip öffentlicher Rechtfertigung ein weiteres derjenigen Prinzipien, von denen sich zeigen lässt, dass sich die Parteien im Urzustand auf sie einigen würden? Oder ist umgekehrt die Frage, ob sich Parteien im Urzustand auf einen bestimmten Gerechtigkeitsgrundsatz einigen könnten, eine Möglichkeit zu prüfen, ob dieser Grundsatz öffentlich gerechtfertigt werden kann? Das Urzustandsmodell wäre dann eine unter anderen Möglichkeiten der Operationalisierung des Prinzips öffentlichen Vernunftgebrauchs (vgl. Hinsch 1997, 108). Ebenfalls ein Gegenstand anhaltender Diskussionen und Kontroversen ist die Frage,

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inwiefern das Modell des übergreifenden Konsenses ein attraktives Modell des Verhältnisses von Religion und demokratischer Öffentlichkeit darstellt. Rawls betont, dass auch traditionalistische Konzeptionen des Guten einen legitimen Platz in einer pluralistischen Gesellschaft beanspruchen können (Rawls 1992, 185). Es ist dies eines der für das Spätwerk zentralen Motive: Der politische Liberalismus muss, will er allgemein akzeptiert werden können, zeigen, dass sich der religiöse, weltanschauliche und philosophische Pluralismus bejahen lässt, ohne dass dies auf Skeptizismus oder Indifferenz gegenüber religiösen Wahrheiten verpflichten würde (ebd., 117, 312–316). Die liberale Ordnung und ihr Schutz individueller Rechte dürfen nicht so verstanden werden, als müssten sie zwingend durch individualistische Wertvorstellungen begründet werden; die liberale politische Ordnung soll sich auch von einem orthodoxen religiösen Standpunkt aus anerkennen lassen (Nagel 2003, 75). Der Anspruch des politischen Liberalismus ist es, dass eine politische Gerechtigkeitskonzeption auch von einer Vielzahl vernünftiger, aber nichtliberaler umfassender Lehren anerkannt werden kann (vgl. Dreben 2003, 326). Die These, eine liberale politische Konzeption könne von einer großen Zahl vernünftiger umfassender Lehren anerkannt werden, ist nicht trivial, wenn man sie so versteht, dass eine zunächst freistehend begründete Konzeption von den Anhänger*innen unterschiedlicher Lehren auch aus den Ressourcen ihrer eigenen Lehren begründet werden können muss (Freeman 1994, 638–640). Ob dies der Fall ist, lässt sich nicht abstrakt und im Vorhinein entscheiden. Es ist eine (letztlich empirische) Hypothese, ob und in welchem Ausmaß eine Pluralität vernünftiger (auch nichtliberaler) umfassender Lehren eine liberale Gerechtigkeitskonzeption anerkennen können (Freeman 2007, 349–351). Aus der Perspektive einer Konvergenztheorie öffentlicher Rechtfertigung ist wiederholt der Einwand formuliert worden, warum, falls es einen solchen übergreifenden Konsens gibt, eine freistehende Begründung überhaupt noch notwendig sein sollte. Reicht es nicht vollkommen

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aus, dass jede*r Bürger*in jeweils eigene Gründe hat, der politischen Konzeption bzw. allgemeinen Regeln zuzustimmen? Darauf lässt sich allerdings antworten, dass die politische Autonomie der Bürger*innen an der Möglichkeit eines durch die freistehende Begründung repräsentierten gemeinsamen Standpunkts hängt (Habermas 1996; Weithman 2016, 168–190). Nach dieser Auffassung von politischer Autonomie verletzt eine ausschließlich in Begriffen einer bestimmten umfassenden Lehre erfolgende Begründung allgemeinverbindlicher Prinzipien die politische Autonomie auch derjenigen Bürger*innen, die diese umfassende Lehre vertreten. Ein zusätzliches und möglicherweise gravierendes Problem ist Rawls’ strikte Stufenfolge, der zufolge die politische Konzeption zunächst in Absehung von allen umfassenden Lehren freistehend begründet wird und erst, wenn ihr Inhalt bereits feststeht, im Hinblick darauf getestet werden kann, ob sie als Grundlage eines übergreifenden Konsenses geeignet ist. Diese Reihenfolge soll davor schützen, dass die liberale Konzeption im falschen Sinn politisch wird (vgl. Rawls 1992, 356–358, 396), d. h. einfach als Schnittmenge einer faktisch zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Gesellschaft gegebenen Verteilung umfassender Lehren formuliert wird. Damit ist aber zugleich die Möglichkeit ausgeschlossen zu prüfen, ob innovative Gehalte umfassender Lehren, die nicht bereits Teil der politischen Kultur sind, gleichwohl auch einer freistehenden Begründung zugänglich sein – also ‚übersetzt‘ (Habermas) werden könnten. Es droht damit eine konventionalistische Verengung des Begriffs öffentlicher Rechtfertigung. Die Rawlsche Art der Versöhnung von Liberalismus und Religion hat einen Preis: Religion hat zwar einen legitimen Platz in der liberalen Demokratie, kann aber nicht als Ressource öffentlichen Vernunftgebrauchs in einer lebendigen Öffentlichkeit wahrgenommen werden (vgl. dazu ausführlich Reiß 2019). Eine andere grundsätzliche Kontroverse hat sich an der Frage entzündet, ob Rawls’ Wendung zum politischen Liberalismus im Sinne

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einer Wendung vom Universalismus zum Kontextualismus verstanden werden kann oder muss. Dies hängt insbesondere damit zusammen, dass Rawls weite Teile seiner Gerechtigkeitstheorie nun als Explikation des normativen Gehalts bestimmter bereits in der politischen Kultur vorfindlicher Begriffe und Gedanken (wie des politischen Begriffs der Person als freie*r und gleiche*r Bürger*in) versteht. Allerdings ist eine Deutung alles andere als zwingend, wonach Rawls hiermit – wie von vielen begrüßt und einigen beklagt – von den universalistischen Ansprüchen des ersten Hauptwerks abrückt. Das Beweisziel wird im Spätwerk in gewisser Weise sogar ambitionierter: Die in der Theorie der Gerechtigkeit entwickelte Gerechtigkeitskonzeption lässt sich auch dann verteidigen, wenn auf bestimmte dort zugrunde gelegte Prämissen, deren allgemeine Akzeptabilität in pluralistischen Gesellschaften aber nicht vorausgesetzt werden kann, verzichtet wird. Gegen eine kontextualistische Interpretation des politischen Liberalismus spricht zudem Folgendes: Der politische Liberalismus greift auf Begriffe, Gedanken und Prinzipien zurück, die in der politischen Kultur implizit vorhanden sind (Rawls 1992, 262, 266, 269, 281, 302, 335, 342, 365, 377). Ihre Explikation und Systematisierung erfordert deshalb eigenständige systematisierende Arbeit und theoretische Kreativität (ebd., 262). Dass Rawls auf in der politischen Kultur vorfindliche Gedanken und Begriffe zurückgreift, heißt vor allem aber nicht, dass diese beliebig sind. Denn das Vorhandensein dieser Gedanken und Begriffe entscheidet auf der anderen Seite darüber, ob eine politische Kultur überhaupt als demokratische identifiziert werden kann (Forst 2007, 137). Der Gegensatz zwischen universeller Vernunft und partikularer Tradition verliert in dem Maße an Schärfe, ja an Relevanz, in dem wir die politische Kultur unter dem Gesichtspunkt der in ihr enthaltenen universalistischen Gehalte wahrnehmen. Die fundamentalen Ideen, auf die Rawls zurückgreift, sind beides: Ideen der praktischen Vernunft und vorfindliche Gehalte der politischen Kultur. Deshalb kann Rawls behaupten, dass der „Inhalt der Gerechtigkeit […] durch Vernunft entdeckt

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werden [muss]“ (Rawls 1992, 62), und zugleich darauf verweisen, dass wir dies nur deshalb können, weil wir „die Nutznießer von drei Jahrhunderten demokratischen Denkens und der Entwicklung einer konstitutionellen Praxis“ sind (ebd., 295).

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Collected Papers (1999)

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Tim Fritjof Huttel

Die Collected Papers sind eine fast vollständige Sammlung der zuvor an anderer Stelle veröffentlichten Artikel, in denen John Rawls die Gedanken seiner Hauptwerke entwickelt, präzisiert und auf Kritik hin verteidigt oder revidiert. Das Werk ist äußerlich überschaubar. Es umfasst 26 Artikel in chronologischer Reihenfolge, gefolgt von einem Interview, in dem sich Rawls dem liberal-katholischen Commonweal zu seinem politischen Liberalismus erklärt. Dem vorangestellt ist die Widmung an Rawls’ Studierende und Kolleginnen sowie ein knappes Vorwort des Herausgebers Samuel Freeman. Abgeschlossen werden die Collected Papers durch die „Credits“, in denen Rawls Quellen benennt und Dank ausspricht, sowie ein sehr hilfreiches Personenund Stichwortverzeichnis. In die Auswahl aufgenommen sind, wie Freeman erklärt, die systematischen Aufsätze, die zuvor in Zeitschriften verstreut der breiten Öffentlichkeit nicht leicht zugänglich waren. Keinen Eingang gefunden haben deshalb drei bedeutende Artikel. „The Basic Structure as Subject“ (1978), „The Basic Liberties and Their Priority“ (1983) und „Reply to Habermas“ (1995) sind überarbeitet als siebte, achte und neunte Vorlesung in der originalsprachlichen Taschenbuchausgabe

T. F. Huttel  (*)  Universität Rostock, Rostock, Deutschland E-Mail: [email protected]

von Political Liberalism zu finden. Direkt übersetzt finden sich die zwei erstgenannten Artikel in Die Idee des Politischen Liberalismus, sowie überarbeitet auch in der deutschen Übersetzung von Political Liberalism. Daneben wurden Rezensionen und Paper, die Rawls für eine erneute Veröffentlichung überarbeiten sollte, ausgelassen. Da die Artikel sämtlich zuvor schon in Umlauf waren, zog die Veröffentlichung der Collected Papers keine neuen inhaltlichen Diskussionen nach sich. Ihre Resonanz hatte eher feierlichen Charakter, da Freunde und Weggefährten sie zum Anlass nahmen, auf Rawls’ Gesamtwerk würdigend zurück- oder auch auf weitere Entwicklungen erwartungsvoll vorauszublicken (vgl. Waldron 1999; Hill 2001). Bieten programmatische Artikel wie „Justice as Fairness: Political not Metaphysical“ (Kap. 18) auch einen guten Einstieg, geben die Collected Papers in ihrer Gesamtheit eher Forschenden einen genauen Überblick über die Entwicklung des Werks als auch einen Eindruck von dessen Autor. Rawls hatte die Veröffentlichung zurückgehalten, weil er die Artikel als vorläufig und experimentell wahrnahm. Entsprechend zeichnen die Collected Papers ein Bild nicht nur von dem erhabenen Denker Rawls, der mit der Konstruktion des Urzustandes (original position) seine große Idee hatte, sondern auch von den vielen Vor- und Nacharbeiten, in denen er für diese über knapp 50 Jahre hinweg in größter Gründlichkeit und Bescheidenheit eintrat und

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_11

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so in Werk als auch Person dem Glauben an die realistische Möglichkeit einer gerechten Gesellschaft gute Gründe gab.

Ansatz und Gliederung Angesichts des Umfangs der Collected Papers hält sich die Struktur dieses Eintrags an die chronologische Abfolge der Aufsätze, über die jeweils ein kurzer inhaltlicher Überblick gegeben wird. Im übergeordneten Fokus steht die Modellierung der Ursituation, ihr normativer Anspruch und ihre Rechtfertigung. In schlichter Deutung der Werkentwicklung werden die Artikel in fünf Phasen gruppiert, in denen Rawls je ein Hauptziel verfolgt. In der ersten Phase (Kap. 1–2) greift Rawls methodische Fragen aus seiner Dissertation auf und erhebt die Institution zum Gegenstand seiner Theorie. Hiervon ausgehend stößt er in der zweiten (Kap. 3–10) mit „Justice as Fairness“ im Jahr 1958 auf sein Grundmodell, das er bis 1971 zu A Theory of Justice ausbaut. Dieses verteidigt Rawls in der dritten Phase (Kap. 11–17), in der jedoch die starke Zielsetzung einer ‚true community‘ auf zu anspruchsvolle Voraussetzungen aufbaut. Das Grundmodell wird deshalb in der vierten Phase (Kap. 18–22), die zu Political Liberalism (1993) hinführt, mit ermäßigten Ansprüchen verteidigt und in der fünften Phase (Kap. 23–27), die den Auftakt zu Law of the Peoples (1999) gibt, sowohl präzisiert als auch auf globale Zusammenhänge übertragen.

Erste Phase: Gute Urteile, gute Regeln (1) In den zwei Artikeln, mit denen die Collected Papers einsetzen, nimmt Rawls grundsätzliche Weichenstellungen vor, die für sein gesamtes Werk bestimmend bleiben. Für die Philosophie seiner Zeit untypisch sucht Rawls schon in seinen Graduiertenjahren nach einem Entscheidungsverfahren, um über die ‚objektive‘ Geltung moralischer Normen zu urteilen und widerstreitende Ansprüche zu klären (vgl. Gališanka 2019). In „Outline of a Decision

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Procedure for Ethics“ greift Rawls 1951 den Gedanken seiner kurz zuvor fertiggestellten Dissertation auf, die gesuchte Methode sollte analog zur induktiven Logik in den Naturwissenschaften verfahren. Diese prüft die Wahrheit einer Theorie, indem sie feststellt, ob sie die für sie relevanten Fälle erklärt. Dabei hängt das Urteil darüber, was die relevanten Fälle sind, an den Beobachtungssätzen kompetenter Forscherinnen. Analog soll die gesuchte Moraltheorie die vernünftigen Regeln explizieren, die das ‚wohlüberlegte Urteil‘ ‚kompetenter Richter‘ erklären würden. Rawls wird dieses Modell bald verwerfen. Doch lassen sich in seiner Zweistufigkeit Parallelen zum späteren Ansatz entdecken. An die Stelle des Richters als unbeteiligtem Beobachtenden treten die Parteien der Ursituation. Diese werden so modelliert, dass ihre Entscheidung eindeutig ist. Dies war zuvor nicht gegeben. Analog zur Naturwissenschaft hatte Rawls deshalb vorgesehen, dass wir als ‚Prüferinnen‘ Gewichtungsprinzipien anwenden sollten, um Widersprüchlichkeiten aufzulösen. In dieser zweiten prüfenden Perspektive deutet sich der Gedanke an, die Konstruktion sollte zu ihrer Rechtfertigung mit unseren Urteilen und Prinzipien im Überlegungsgleichgewicht stehen (vgl. Daniels 1996a). (2) In „Two Concepts of Rules“ (1955) arbeitet Rawls die Bedeutung der Unterscheidung der Rechtfertigung einer Handlung einerseits und der Rechtfertigung einer Praxis andererseits aus. Hierfür stellt er dem Aktutilitarismus, der Einzelhandlungen bewerten will, den Regelutilitarismus gegenüber, der dieselbe Nutzenregel einem anderen Verständnis von Regel folgend als Maßstab für soziale Praxen bzw. Institutionen auslegt. Der Aktutilitarismus missverstehe die Regel auf induktive, prudentielle Weise. Da eine Regel als Verallgemeinerung der Erfahrung von ähnlichen Einzelfällen verstanden wird, muss ihr nur gefolgt werden, sofern sie mit Blick auf den vorliegenden Fall Erfolg verspricht. So kann es, wie die Kritiker oft betonen, dann geboten erscheinen, was unseren moralischen Grundintuitionen widerspricht: Unschuldige zu strafen und Versprechen zu

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brechen, wo es von Vorteil ist. Gegen diese Einwände glaubt Rawls 1955 noch, den Utilitarismus retten zu können, indem er ihm die Vorstellung unterlegt, erst die Regel definiere die Handlung. ‚Praxis‘ verweist hier auf ‚Institution‘ und meint die „Tätigkeit, die durch ein Regelsystem spezifiziert wird, das Ämter, Rollen, Bewegungen [moves], Verteidigungen und Strafen festlegt und die Tätigkeit strukturiert“ (20, Fn. 1). Das bedeutet, die Fälle, die unter die Regeln einer Praxis fallen, und der Sinn einzelner Handlungen, werden erst durch diese Praxis bestimmt, an der man teilhat, insofern man sich an ihre Regeln hält. An einer Praxis teilzunehmen, bedeutet manch kluge Handlungen zu unterlassen: Das Versprechen kann es nur geben, wenn es auch gehalten wird, wo es vorteilhaft ist, es zu brechen. Rawls optiert für den Vorrang etablierter Praktiken bzw. Institutionen vor den Einzelhandlungen. Da der Sinn und der moralische Wert der Einzelhandlungen von den Praktiken abhängt, in die sie eingebettet sind, erhebt Rawls in Folge die Praktiken bzw. Institutionen zum Gegenstand, auf den sich die Prinzipien der Gerechtigkeit zu beziehen haben.

Zweite Phase: „Justice as Fairness“ – Making-of (3) Mit dem Artikel „Justice as Fairness“ macht Rawls 1958 seine Antwort auf das Problem publik, wie sich Prinzipien der Gerechtigkeit finden lassen, die Institutionen einen Rahmen vorgeben, in dem sie Positionen und Ämter definieren und Güter, Rechte und Pflichten zuweisen dürfen (48). Dieser und fünf weitere der acht Artikel, die Rawls bis 1971 schreiben wird, gehen später in jeweils ein Kapitel von Theorie der Gerechtigkeit über (vgl. Rawls 1979 § 11). Hier präsentiert er seine zwei Prinzipien und begründet sie über seine noch unzureichend modellierte Konstruktion: Sie seien die der Gerechtigkeit, weil sie in einer fairen Ursituation gleicher Freiheit von den Beteiligten gewählt würden, um über widerstreitende Ansprüche in bestehenden Praxen zu urteilen. Fairness sei die primitive moralische Grundidee, die ‚wir‘, wie

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es bei Rawls lange heißen wird, in gerechten Institutionen verwirklicht sehen wollten. Denn in der Bereitschaft, unparteiische Regeln anzuerkennen und sowohl Vorteile wie auch Nachteile, die aus ihnen folgen, in Kauf zu nehmen, drücke sich die gegenseitige Anerkennung als frei und gleich aus. Das Modell hat 1958 noch seine Schwächen. Hierzu gehört insbesondere, dass anstelle des Schleiers der Unwissenheit, der für die Unparteilichkeit der Wahl und so für ihre Fairness bürgen soll, noch die sowohl unzureichende als auch abwegige Annahme steht, Streitparteien glichen sich typischerweise in ihren Kräften. In den Artikeln bis 1971 lässt sich dann jenes ‚back and forth‘-Arbeiten beobachten, mit dem Rawls die Elemente des Urzustands in eine schlüssige Form und mit ‚unseren‘ grundlegenden Intuitionen ins Überlegungsgleichgewicht bringen will. Doch der Grundgedanke ist klar: die Regeln des Spiels sollen beschlossen werden, bevor die Karten verteilt sind. Damit ist schon 1958 gegen den Utilitarismus die Position artikuliert, eine Institution sei nicht durch höheren Durchschnittsnutzen per se gerecht, sondern nur indem sie sich auch noch gegenüber den Schlechtestgestellten in ihr rechtfertigen lasse. Das Nutzenprinzip sei dem Fairnessprinzip nachzuordnen. (4) In „Constitutional Liberty and the Concept of Justice“ (1963) betont Rawls, dass seine Gerechtigkeit als Fairness zwar eine beschränkte Konzeption, sie nicht für alle Bereiche des Lebens tauglich sei, aber für die Gestaltung der sozialen Grundstruktur einer liberalen Demokratie mit einer Pluralität religiöser und politischer Überzeugungen sei sie zur Begründung der Freiheitsrechte dem Nützlichkeitsprinzip klar überlegen. Das Kriterium liegt bei der rationalen Wahl in der Ursituation, weil diese die Beschränkungen verkörpert, die der Begriff von Moralität uns auferlegt (79). Doch da die Parteien in ihr nur kein Wissen um die Zukunft haben, muss Rawls nachhelfen, damit ihre Wahl eindeutig für seine Prinzipien ausfällt. Er argumentiert für die Angemessenheit der Risikoaversion und gegen John Harsanyi, der eine risikoaffinere Entscheidung, die für das Nutzenprinzip ausfiele, für plausibler hält. Angesichts

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der gravierenden Auswirkungen, die eine Benachteiligung in den Institutionen der sozialen Grundstruktur nach sich zöge, erscheine jedes unkalkulierbare Risiko, das unsere spätere Position betrifft, als zu groß. Selbst für untalentierte Draufgänger sei der Erwartungsnutzen zu gering, um etwa für die Prinzipien einer Kastengesellschaft zu optieren – und Rawls führt nun zusätzlich die Annahme ein, die Parteien fühlten sich in ihrer Wahl – wenig draufgängerisch – als Väter oder Gemeindeangehörige auch für andere verantwortlich, gegenüber denen sie sich rechtfertigen müssten. Die Wahl würde daher auf Prinzipien fallen, die die Startposition gleicher Staatsbürgerschaft unter den Bedingungen einer gerechten Grundstruktur sicherten. Schließlich behauptet Rawls, erst von dort aus dürfte tatsächlich gewagtes riskantes Handeln der Einzelnen zur Rechtfertigung von Vorteilen dienen. Rawls will damit im Beispiel die Behauptung eines Sklavenhalters, er hätte in einem solchen Urzustand auch ohne Wissen um seine spätere Position aus Gesamtnutzenerwägungen für die Sklavenhaltergesellschaft optiert, die rechtfertigende Kraft gegenüber dem Sklaven nehmen, weil er aus der Position gesicherten Vorteils spreche. Das Argument des tatsächlichen Risikos vertritt Rawls dieses eine Mal. Im Folgenden wird die rein hypothetische und nun auch wissensbeschränkte Ursituation in ihrem Anspruch gestärkt. (5) Der Artikel „The Sense of Justice“ (1963) widmet sich dem Gerechtigkeitssinn, den Rawls gegen Theorien rein zweckrationalen Handelns als die tief in der menschlichen Psyche verwurzelte Kapazität beschreibt, auch da noch seinen fairen Beitrag zu leisten, wo es nicht dem eigenen Vorteil dient. Damit rechtfertigt er, weshalb wir uns bei der Rechtfertigung von Ansprüchen durch das Argument der Ursituation leiten lassen sollten. Dies scheint umso nötiger als er die wählenden Parteien im Modell jetzt einem Nichtwissen um die eigenen Vorteile unterwirft. Dadurch soll ausgeschlossen werden, dass sie sich bei ihrer Wahl und wir uns im Rechtfertigen auf moralisch irrelevante Motive stützen. Rawls stützt sich nun noch nicht auf ein normativ gebotenes Personenideal, son-

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dern argumentiert über ein realistisches Modell moralischer Entwicklung. Jean Piaget folgend rekonstruiert er, wie sich menschliches Pflichtempfinden in der Abfolge von Autoritätsschuld gegenüber den Eltern, Assoziationsschuld gegenüber Spiel- und Sportsfreunden und Prinzipienschuld zunehmend verallgemeinert. Schließlich löse sich der Gerechtigkeitssinn in diesem dritten Entwicklungsschritt von allen konkreten Bezügen und hefte sich an das Prinzip fairer Reziprozität. Gewisse moralische Gefühle, wie Kränkung oder Zorn, die menschliches Dasein kennzeichneten, könnten wir als solche gar nicht haben, wenn wir sie nicht im Licht von Prinzipien als solche deuten würden. Der kantischen Würde nachempfunden sei dieser Gerechtigkeitssinn sowohl das hinreichende als auch notwendige Merkmal der moralischen Person, gegenüber der wir zur Gerechtigkeit verpflichtet sind. Mehr ist nicht verlangt, weniger aber auch nicht zu entschuldigen. (6) In „Legal Obligation and the Duty of Fair Play“ (1964) zeigt Rawls, wie sich die Pflicht zum Gesetzesgehorsam auf das Fairplay-Prinzip stützen kann. Diese Pflicht sieht er in Demokratien prinzipiell als unproblematisch an. Denn das vertraute Fairplay-Prinzip besagt, dass jeder zur Beitragszahlung (Gehorsam) verpflichtet ist, der selbst Vorteile aus einem gerechten Kooperationssystem beansprucht hat, das für seine Funktion auf die Mitwirkung aller angewiesen sei. Ein solches System sei die liberal-demokratische Verfassung. In ihr kooperierten freie und gleiche Mitbürgerinnen. Die Gehorsamsbereitschaft schwanke jedoch im Fall zweier Widersprüche. Zunächst, wenn die Übertretung besonders vorteilhaft erscheint, was Rawls nicht als Rechtfertigungsgrund anerkennt. Anders sähe es im Fall einer als ungerecht empfundenen Gesetzgebung aus. Hier stellt Rawls klar, die verfassungsmäßige Wahl bezwecke nicht, die wahre Meinung zu finden. Nicht alles, was eine legitime Legislative erlasse, müsse gerecht sein. Und auch bei gemeinsamen Urteilsmaßstäben käme es zu Uneinigkeiten. Die Wahl sei der zwar defizitäre, aber beste Mechanismus, um zu bestimmen, wessen Meinung über die Gesetze bestimmen soll. Dies bedeutet, dass

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wir als Demokraten keinesfalls glauben müssen, was die Mehrheit glaubt, sondern im Gegenteil gewissenhaft und klug abwägen müssen, ob ein Gesetz die fairen Bedingungen der Kooperation so sehr verletzt, dass ziviler Ungehorsam geboten erscheint, um seine Einführung zu verhindern. (7) Hatten es die letzten Artikel entweder mit dem Inhalt des Freiheitsprinzips oder mit der Darstellung und Rechtfertigung der Ursituation zu tun, präsentiert Rawls in „Distributive Justice“ (1967) erstens sein Differenzprinzip als Antwort auf die Frage, was eine Verteilung zum Vorteil aller sei. Da der kantische Kontraktualismus die rationale Wahl der Prinzipien, die für die Regulierung der sozialen Grundstruktur geeignet scheinen, einem „veil of ignorance“ (132) unterwerfe, hinter dem niemand um seine jetzigen Chancen auf spätere Vorteile wisse, würde in ihr das Differenzprinzip gewählt, nach dem sich alle zulässige Ungleichheit aus der Perspektive des „most unfortunate representative man“ (138) als vorteilhaft erweisen muss. Dagegen sei Humes Ermittlung von Vorteilen durch Vergleiche zu historischen oder hypothetischen Zeitpunkten irrelevant und Paretos Kriterium unterbestimmt. Zweitens möchte er mit der Beschreibung staatlicher Maßnahmen und Wege zur Festlegung eines sozialen Minimums und einer gerechten Sparquote zeigen, dass es möglich ist, dieses Prinzip in Einklang mit dem Freiheitsprinzip zu verwirklichen. Dadurch ergibt sich eine Skizze der Institutionen, die Rawls der Grundstruktur zurechnet. Sind ihre Verfahren gerecht, würden nach der Vorstellung prozeduraler Gleichheit auch ihre Ergebnisse gerecht. Schließlich rechtfertigt Rawls die nun umrissene Gerechtigkeitskonzeption nicht, indem er behauptet, sie bilde Commonsense-Urteile lediglich ab. Da dieser einer wilden Kombinatorik folge, liege der Wert der Konzeption nicht darin, ihm zu entsprechen, sondern darin, ihn konstruktiv in eine kohärentere, vollständigere Rangordnung zu bringen. (8) Ein Jahr später legt Rawls „Distributive Justice: Some Addenda“ (1968) nach. Erneut wird der Grundgedanke rekapituliert und präzisierend ergänzt. Das Differenzprinzip beziehe

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sich lediglich auf Vorteile im Sozialsystem, im Sinne zu erwartender ‚Grundgüter‘ wie Freiheit, Einkommen, Gesundheit, die Rawls hier nur in grober Aufzählung einführt als solche Güter, die rationale Personen wollen, unabhängig davon, was sie sonst wollen. Im Mittelpunkt des Artikels steht der Vergleich von vier Interpretationen des Differenzprinzips: Allein nach Leistung belohnt das ‚System natürlicher Freiheit‘ Gleichtalentierte. Die ‚liberale Gleichheit‘ unternimmt zwar Maßnahmen für die Chancengleichheit, belohnt aber ebenso das Talent. Die ‚Democratic Equality‘, für die Rawls plädiert, belohnt die Vorteilserweiterung für die Schlechtestgestellten. Von der ‚natürlichen Aristokratie‘, die dies auch tut, unterscheidet sie sich darin, dass sie keine Ansprüche auf Talent oder günstige Bedingungen und in umstrittener Konsequenz daher auch deren Ergebnisse nicht als zu entlohnendes Verdienst anerkennt. Gegen den Eindruck, dies sei „unworkable if not eccentric“ (164) unterstreicht Rawls, so könne das Prinzip als Deutung der Brüderlichkeitslosung und der kantischen Selbstzweckformel verstanden werden. Mitbürgerinnen seien anzuerkennen, indem man nur solche Vorteile genieße, die man ihnen gegenüber auch rechtfertigen könnte. Das hierin erfüllte Prinzip der Reziprozität, stärke den Selbstwert jedermanns, damit die Loyalität zur Gemeinschaft und hierin schließlich die hier erstmalig bedachte Stabilität der Gerechtigkeitskonzeption. (9) Mit der Frage des nächsten Artikels „The Justification of Civil Disobedience“ (1969), unter welchen Bedingungen es erlaubt, sich demokratisch legitimierter Autorität zu widersetzen, bekennt sich Rawls in konfliktiver Zeit zu einem weitgefassten Begriff von Bürgerrechten. Allgemein seien wir zwar dazu verpflichtet, gerechten Institutionen zu gehorchen. Allerdings ließe sich durch die Anwendung der Gerechtigkeitsprinzipien nicht die Gerechtigkeit der Gesetze garantieren. Rawls führt hier die dreistufige Lüftung des Schleiers ein, bei der auf jeder Stufe ein neues Abkommen unter erweitertem Wissen möglich ist, das jeweils so allgemein ist, dass es keiner Partei die Vorteilnahme erlaubt. Auf die Wahl der Prinzipien,

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folgt die Wahl der gerechten, d.h. demokratischen Verfassung. Doch die Wahl von Gesetzen lässt sich nicht durch eine Modellierung der Unwissenheit von den normativen Irrtümern der Bürger befreien. Die prozedurale Gerechtigkeit ist der beste, aber doch ein unvollkommener Ansatz. Ob ein Gesetz (un)gerecht ist, ist mithin immer eine Deutungsfrage. Eine Verlagerung dieser Deutung auf eine über der Bürgerschaft stehende Instanz lehnt Rawls deutlich ab. Ziviler Ungehorsam als öffentlicher gewaltloser und bewusster Akt ist deshalb immer kommunikativ als Appell an die Mitbürgerinnen zu verstehen, ein umstrittenes Gesetz im Lichte der gemeinsamen Gerechtigkeitsprinzipien zu bedenken. Die Ungehorsamen müssen hierfür auch zivil sein im Sinne eines ostentativen Gewaltverzichts, dem Inkaufnehmen von Strafe, womit die Aufrichtigkeit unterstrichen wird. Die Legitimation ist in diesem Kommunikativen bedingt. Ungehorsam soll (a) letztes Mittel sein und (b) nur bei schweren und klaren Gerechtigkeitsverletzungen gewählt werden, (c) auch der Gegenseite zugestanden werden und schließlich (d) mit Blick auf seine symbolische Wirkung klug gewählt sein. (10) „Justice as Reciprocity“ (1971) erscheint nicht zufällig im Jahr von Theory of Justice. Der Artikel soll in erneuter Abgrenzung gegen den Utilitarismus, der alle sozialen Pflichten auf den Nutzen zurückführt, Reziprozität, d. h. das Verhältnis wechselseitiger Anerkennung als normatives Leitmotiv des Kontraktualismus hervorheben. Zunächst formuliert und plausibilisiert Rawls seine zwei Gerechtigkeitsprinzipien für das Ensemble aller sozialen Praktiken, „how they jointly, as a system, work together“. Zur Begründung dieser Prinzipien, ihres Zusammenhangs und ihres Vorzugs gegenüber alternativen Prinzipien, führt er seine Wahl in der Ursituation ein. Das den Parteien unterstellte Nutzenstreben modelliere keine allgemein menschliche Motivation, sondern den Streit um Ansprüche, wie er typisch ist in Situationen, in denen nach Gerechtigkeit gefragt würde. Diese gelte es solchen moralischen Prinzipien nachzuordnen, die rationale Personen sich unter Bedingungen, die

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niemanden bevorteilen, wechselseitig präsentieren könnten. Wahre Gemeinschaft, auf die Rawls hier noch hofft, basiere auf Handlungen, in denen dieser Wille, niemanden zu übervorteilen, sich ausdrückt. Der Utilitarismus hingegen fasse alle Personen zu einem kollektiven Nutzensystem zusammen und tilge den moralischen Wert ihrer Beziehungen und der darin erworbenen Ansprüche. Dadurch werde – entgegen aller utilitaristischen Bemühungen – die Rechtfertigung von Sklaverei letztlich denkbar.

Dritte Phase: Der ethische Vorrang der wohlgeordneten Gesellschaft Nach der Veröffentlichung von A Theory of Justice verschiebt sich der Fokus der Artikel. Zielten sie bis 1971 vorrangig darauf, die Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness als Alternative zum Utilitarismus auszuformulieren, tritt in Reaktion auf die Kritiken das Bemühen um eine Fundierung des Ansatzes in den Vordergrund (für die Kritiken vgl. Kukathas/Pettit 1990). Die leitende Frage ist, warum steht die Konstruktion in ihrer nun erarbeiteten Form mit ‚unseren‘ Überzeugungen im weiten Überlegungsgleichgewicht? Welche Überzeugungen sind dies, wer ist mit ‚wir‘ gemeint? Rawls expliziert nun mit seiner konstruktivistischen Moraltheorie die im Hintergrund vermutete „deep theory“ (Dworkin 1973). Deren Wert sieht er nicht darin, ‚unseren‘ Urteilen allein zu entsprechen, sondern sie in die Kohärenz zu bringen, die den umfassenden Rechtsfertigungsanforderungen einer ‚wohlgeordneten Gesellschaft‘ entspricht. Dies rechtfertigt auch starke Anleihen bei Kant. (11) Den Auftakt hierzu stellt „Some Reasons for the Maximin Criterion“ (1974) dar, in dem Rawls die Entscheidungsregel im Urzustand gegen die Utilitaristen Kenneth Arrow (1973) und John C. Harsanyi (1975) verteidigt. Deren Kritik an der Maximin-Regel, bei der das beste Ergebnis für den worst case gesichert wird, sie sei unvernünftig risikoavers, weist Rawls erneut zurück mit dem Hinweis auf den Gegenstand der Regulierung, die soziale Grundstruktur

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inklusive der Freiheitsrechte. Zudem verlange die Regel (a) weniger und oft nicht verfügbare Information über Präferenzen, Gewinne und Verluste. (b) Die ihr folgenden Prinzipien taugten als öffentliche, weil man sich in ihrer Einfachheit für jeden nachvollziehbar auf sie berufen kann. (c) Sie sichere die Akzeptanz der Prinzipien psychologisch, weil das Differenzprinzip die Benachteiligten am Vorteil anderer beteiligt. Rawls räumt ein, dies seien keine zwingenden Gründe für die Regel. (d) Doch mit der Hochachtung der „free person“ (228), die ihre Interessen nicht nur verfolge, sondern auch revidieren könne, deren gleicher moralischer Wert nicht durch Leistung und Talent bedingt ist, sei jede Wette auf Freiheit und ungleichen Vorteil bei der Wahl der Prinzipien hinfällig. In der Verteidigung der Wahl in der Ursituation geht Rawls von der Behauptung ihrer Rationalität zu ihrer Moralisierung, zur kantischen Interpretation über, die in Eine Theorie der Gerechtigkeit nur optional wirkte. (12) Bei „Reply to Alexander and Musgrave“ (1974) überrascht zuerst der Aufbau. Rawls folgt Dworkins Hinweis (vgl. 233, Fn. 1) und expliziert seine deep theory, indem er der Darstellung der Ursituation das formal an 12 Merkmalen definierte Ziel einer ‚wohlgeordneten Gesellschaft‘ voranstellt: Ihre Grundstruktur soll durch eine öffentliche Gerechtigkeitskonzeption reguliert sein, die alle teilen und die sich auf allseitig akzeptierte Methoden stützt. Ihre Mitglieder sollten einen effektiven Gerechtigkeitssinn und eine Vorstellung von ihrem Wohl haben und das gleiche Recht auf Respekt und legislative Teilhabe genießen. Neben Bestimmungen, die eine Gerechtigkeitskonzeption anhaltend nötig machen, führt Rawls sein Stabilitätskriterium aus. Die Wahl der Konzeption sollte nach sozio- und psychologischen Gesichtspunkten berücksichtigen, ob eine durch sie regulierte Gesellschaft durch den Gerechtigkeitssinn der Bürger, die in ihr sozialisiert sind, gestützt werde. Nur unter der Voraussetzung dieses Zieles der wohlgeordneten Gesellschaft, könne Rawls Lehre überzeugen (236). Auf dieser Basis weist Rawls Richard Musgraves Idee (1974) zurück, Marx‘ Formel, ‚jeder nach sei-

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nen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen‘ sei dem Differenzprinzip überlegen, da sie keine Freiheit berücksichtige und unklar sei, wie ihre Elemente zu messen seien. Wäre die Knappheit überwunden und die Muße, die Musgrave als Primärgut zählen will, allseits verfügbar, wäre des Prinzip tauglich. Vorher sei der Anreiz aber zu groß, sein Talent zu verbergen, um sich Freiheit zu erhalten. Sidney Alexander (1974) wirft Rawls vor, die Überlegenheit seiner Lehre durch eine abwegige Verzerrung der Grundidee des Utilitarismus zu belegen. Recht und Nutzen ließen sich durch eine schlichte Funktion vernünftig verteilen. Dagegen betont Rawls die Diskontinuität moralischer Sprachen, die Grundbegriffe stets anders arrangierten und konzipierten, und zwischen denen zu wählen sei (242–245). Nach Gerechtigkeit als Fairness sei die Konzeption am besten für eine Gesellschaft, die in der fairen Ursituation von für sie typischen Personen einstimmig gewählt würde. Für die wohlgeordnete Gesellschaft seien dies freie und gleiche moralische Personen. Der Alternative geht Rawls wohl nicht nach, weil er die Freien und Gleichen für die typischen Personen der liberalen Gesellschaft hält. Ihrem ‚Interesse höchster Ordnung‘, für ihre Vorstellungen vom Guten verantwortlich zu bleiben, folgend, würden sie seine zwei Prinzipien in lexikalischer Ordnung wählen, die sie nur auf Institutionen verpflichten, die diese Freiheit berücksichtigen. (13) „A Kantian Conception of Equality“ (1975) unterstreicht erneut, dass jede Gerechtigkeitsvorstellung ein Person- und ein Gesellschaftsideal ausdrücke, deren Verwobenheit ihre Prinzipien berücksichtigen müssen. Die soziale Grundstruktur muss deren Gegenstand sein, weil diese erstens schon immer durch Verteilungen geprägt ist und faire Verträge, anders als Nozicks libertärer Entwurf es ein Jahr zuvor nahelegt, nur faire Verteilungen erzielen, wenn die background conditions schon fair sind. Zweitens beeinflusst diese Gesellschaft die Beschaffenheit der Personen, ihr Fühlen, Streben, Hoffen etc. umfassend. Da es keine Personen gibt, die nicht sozial geprägt sind, könnten auch keine quasinatürlichen Ansprüche geltend gemacht werden. Umso dringender stellt sich die Frage, mit Blick

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auf welches Personenideal die Grundstruktur zu regulieren sei. Aus den zwei Prinzipien arbeitet Rawls nun die moralische Gleichheit als gleiche Berücksichtigung und Verantwortlichkeit heraus. Das erste Prinzip schütze gleichermaßen die Freiheit der Personen, Ziele zu verfolgen und zu revidieren. Es halte sie verantwortlich. Das Differenzprinzip berücksichtigt alle gleich, wobei (Un)gleichheit anhand eines Primärgüterindex festgestellt wird. Wir haben etwa nicht, wie Nozick fordert, einen Anspruch auf die Früchte unseres ungleichen Talents bzw. nur in dem Maß, wie unser Vorteil auch der der Schlechtestgestellten ist. Das Differenzprinzip verpflichtet beide Seiten zur Verantwortlichkeit, d.h. zur Mäßigung ihrer Ansprüche. Die einen dürfen nicht fordern, was die Natur ihnen zuzusprechen scheint, die anderen nicht, was nicht durch den Index ausgewiesen wird. Kantisch sei diese Gleichheit darin, wie sie in der Freiheit der Person gründet. Ihr Prinzip wird entdeckt, indem der Schleier des Nichtwissens alle irrelevante Information ausblendet (negative Freiheit), die Personen in ihrer Freiheit als gleich erschließt, und die Regeln, die ihnen gemäß sind, in die Institutionen einschreibt (positive Freiheit). Insofern kann Rawls sagen, dass wir mit den Prinzipien auch das zugehörige Personenideal akzeptieren und es realisieren, wenn wir ihnen entsprechend handeln (254). Nur so könne „civic friendship“ erhalten werden. (14) „Fairnesss to Goodness“ (1975) argumentiert gegen den Verdacht, die Ursituation sei selbst parteiisch, da sie moralisch relevante Informationen ausschließe und die Primärgüter, die der rationalen Wahl ihre Richtung geben, nicht für alle Ziele gleich bedeutsam seien. Der Schleier des Nichtwissens dient, wie Rawls betont, der Konstruktion des moralischen Standpunkts, der nicht Lehren, sondern Personen fair berücksichtigt, um so Prinzipien für eine „accommodation between different moralities“ (271) zu finden. Hierzu schirme er die Wahl oberster Prinzipien gegen für sie irrelevante Selbstund Gruppeninteressen ab, um Unparteilichkeit gegenüber den Personen zu sichern und neutralisiere kontingent gegebene Vorstellungen vom

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Guten (und Rechten), um im Sinne der kantischen Interpretation aus „more basic and abstract“ (269) Begriffen wie dem der Fairness oder der wohlgeordnete Gesellschaft Prinzipien zu gewinnen. Diese seien sicher nicht neutral gegenüber allen Vorstellungen des Guten. Doch abgesehen von Lehren, die in direktem Widerspruch zu den Prinzipien stünden und solchen, die nur unter illiberalen Bedingungen gedeihen, sei damit keine ausgeschlossen. Zwar ziele das unterstellte Interesse höchster Ordnung auf Institutionen, in denen Individuen ihre Ziele unter freien Bedingungen (um)formen könnten. Aber individualistisch sei seine Lehre nicht. Das partikulare Streben nach Wohlstand in der Ursituation soll Kriterien für gerechte Verteilungen in der wohlgeordneten Gesellschaft ermitteln, die einerseits gerade dieses Streben abmildern und den kommunitären Verpflichtungen, die Menschen freiwillig eingehen, Raum geben, und anderseits die Einzelnen verpflichten, nur solche Ansprüche zu erheben, die sie auch rechtfertigen können. (15) In „Indepencence of Moral Theory“ (1975) separiert Rawls innerhalb der Moralphilosophie eine Moraltheorie, die die empirisch vorfindliche Struktur moralischer Vorstellungen untersucht, von der Philosophie des Geistes, der Bedeutungs- und Erkenntnistheorie und Metaphysik. Die zentrale These des Artikels ist, die Moraltheorie sei von jenen unabhängig und ihre Untersuchung für den Fortschritt der Moralphilosophie entscheidend. Dabei drängt sie über das bloße Vorfinden ins Konstruktive. Informiert durch die philosophische Tradition, Psychologie und Sozialtheorie suche sie nach Überlegungsgleichgewichten, die sich vernünftigerweise im Vorfindlichen bilden ließen. Rawls geht zwar von einer Pluralität der Gleichgewichte aus. Doch da die Aufgabe einer moralischen Konzeption in der Regulierung der Grundstruktur liege, die die Bürgerinnen präge und zwinge, wird schnell deutlich, dass nur eine umfassende kantische Konzeption, mit ihrem Ideal der „autonomous persons“, die darauf drängen sich in einer institutionellen Ordnung als Freie und Gleiche zu verwirklichen, „full justification“ und Stabilität leisten kann.

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(16) Der Artikel „Kantian Constructivism in Moral Theory“ umfasst Rawls’ Dewey-Lectures von 1980. Sie markieren den Höhepunkt der mittleren Phase, blicken einordnend zurück, nehmen implizit spätere Überlegungen vorweg. Mit dem Hauptanliegen, anhand der Gerechtigkeit als Fairness eine kantische Variante des Begriffs der konstruktivistischen Moralauffassung zu untersuchen, sind zwei Ziele verbunden. Zum einen will Rawls das Potenzial des Konstruktivismus verdeutlichen. Hatte er in Eine Theorie der Gerechtigkeit solche Moraltheorien als ‚konstruktiv‘ bezeichnet, die anders als der Intuitionismus Vorrangregeln formulieren können, hebt er den Konstruktivismus nun vom ‚rationalen Intuitionismus‘ (Realismus) ab, der solchen Vorrang einer unabhängigen moralischen Ordnung entnehmen will. Rawls lässt sich dazu hinreißen, eine solche Ordnung allgemein in Abrede zu stellen, weshalb er auch metaethisch gedeutet wird (vgl. Brink 1987). Doch lässt er diese Position später fallen. Denn das Ziel des Konstruktivismus liegt ganz praktisch darin, oberste Prinzipien in einem vernünftigen Verfahren zu konstruieren, wo keine entdeckt werden können, die für die öffentliche Rechtfertigung von Ansprüchen geeignet wären. Die kantische Variante kennzeichnet, dass sie hierfür eine besondere Auffassung der Person ausarbeitet. Rawls’ zweites Ziel, mit dem er das erste weitertreibt, liegt darin, seine Anleihen bei dieser Variante auszuweisen. Hierfür rekapituliert er seine Lehre in drei Modellkonzeptionen. In der (a) Ursituation wählten (b) rationale, freie und gleiche Personen unter vernünftigen Bedingungen Prinzipien für die (c) wohlgeordnete Gesellschaft, in der schließlich volle Autonomie als unter den Bürgern allseitig bestätigtes umfassendes Ideal der Person verwirklicht würde (vgl. 322). Rawls beansprucht auch hier für sein Verfahren, dessen Voraussetzungen und Folgerungen, sie würden ‚unsere‘ Urteile und Prinzipien, hier vor allem die Ideen der Freiheit und Gleichheit, um deren Verhältnis die liberale Tradition streitet, ins Überlegungsgleichgewicht führen. „[A] Kantian view, in addressing the public culture of a democratic society, hopes to bring to awareness a conception

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of the person and of social cooperation conjectured to be implicit in that culture, or at least congenial to its deepest tendencies when properly expressed and presented“ (355). Doch angesichts der Ansprüche des Ideals an uns, sind Rawls‘ Belege dafür, dass es sich auf ‚unsere‘ Überzeugungen stützt, sehr dünn (und das Argument nicht sonderlich kantisch). (17) Der Vorrang des anspruchsvollen Gesellschaftsideals findet in „Social Unity and Primary Goods“ (1982) seine deutlichste Formulierung. In ihm führt Rawls seine Primärgüterlehre als Antwort auf die Frage ein, worauf wir einen Anspruch erheben können, welche Ungleichheiten in der liberalen Gesellschaft also als relevant gelten sollen. Für liberale Theorien, die das Streben nicht reglementieren wollen, ist dies ein Knackpunkt. Der Ansatz besteht darin, Primärgüter, die von allen als Gut anerkannt werden, auszuweisen und sie anhand seiner Konzeption in eine vernünftige Rangfolge zu bringen. Die Herleitung geht wie folgt: Zugeschnitten auf das Ideal einer wohlgeordneten Gesellschaft wird für die Bürgerrolle ein kantisches Personenideal konzipiert, das die Ausbildung seiner moralischen Vermögen über jede bestimmte Vorstellung des Guten hängt. Hinter den Schleier der Ursituation versetzt, würden solche Personen sich auf die zwei bekannten Prinzipien einigen, die ihnen in vernünftiger Rangfolge die dafür nötigen Primärgüter zusichern. Während Grundrechte, Bewegungs- und Berufsfreiheit, die durch das Freiheits- bzw. den ersten Teil des Differenzprinzips vorgeordnet sind, kategorisch gleich verteilt werden, bedarf es für die Verteilung von Ämtern, Einkommen, Wohlstand und der sozialen Basis des Selbstrespekts eines Güterindex, der nun alle Güter einfangen soll, auf die wir einen Anspruch geltend machen können. Damit legt Rawls einen konstruktivistischen Ansatz vor, der unter der Bedingung des Pluralismus soziale Einheit in einem gemeinsamen Güterverständnis sichern soll. Doch dieser hat Grenzen. Zwar bedauert Rawls, die besonderen Bedürfnisse von Kranken nicht berücksichtigen zu können. Doch allen extravaganten Wünschen, „fluctuating wants and desires“, wie auch kommunitären „long-standing

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sentiments and commitments“ (372) scheint er eine Anpassung an das legitime Streben des kantischen Bürgers zu empfehlen.

Vierte Phase: Der Übergang zu Politischer Liberalismus Verteidigte Rawls Gerechtigkeit als Fairness in den 1970er Jahren vor allem gegen liberale Kritiker, zogen in den 1980er Jahren die Kommunitaristen gegen seine Konstruktion ins Feld. Anstelle des kantischen Personenideals, auf das sie offensichtlich zugeschneidert war (vgl. Williams 1993, O’Neill 1990; 2002), plädierte Michael Sandel (Sandel 1982) für das situierte Selbst. Statt kulturneutrale Güterverständnisse zu konstruieren, wollte Michael Walzer (Walzer 1983) sie in ‚shared understandings‘ vorfinden. Seine Lehre hatte Rawls im Streit mit den Utilitaristen als überlegen ausgegeben, indem er sie in ein allgemeines Überlegungsgleichgewicht setzen wollte, das in den Augen vieler Kritikerinnen verkannte, von welch tiefer kultureller Diversität die amerikanische liberale Gesellschaft geprägt war. Diese Diversität wurde nun in Gegenentwürfen eingeklagt. (18) In „Justice as Fairness: Political not Metaphysical“ (1985) stellt Rawls deshalb klar, dass sich an seiner Lehre wenig ändere, um dann programmatisch die neuen Motive anzureißen, denen sich die folgenden Artikel widmen, aus denen Political Liberalism hervorgeht. Rawls überbetont die Kontinuität. Er behauptet, auch in den Dewey-Lectures, die mit „Kantian Constructivism in Political Philosophy“ (389, Fn. 2, kursiv TFH) weniger missverständlich betitelt wären, eine politische und keine metaphysische Konzeption vertreten zu haben. Die metaphysische Lesart seiner Konzeption, prominent von Sandel vertreten, unterstelle, die Konstruktion des Urzustands beanspruche, verbindliche Prinzipien zu bestimmen, weil sie voraussetze, die Parteien verkörperten das wahre Wesen des Menschen. Für die Funktion, die die Ursituation erfüllen soll, sei dies aber, wie Rawls schreibt, so wenig nötig, wie wir uns für das MonopolySpiel als verzweifelt rivalisierende Vermieter

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begreifen müssten. Seine politische Konzeption der Gerechtigkeit kläre nicht, was wahr, sondern, was bezogen auf die soziale Grundstruktur unter Mitbürgerinnen rechtfertigbar ist, indem sie anstelle einer spezifischen umfassenden Lehre nur Ideen voraussetzen, die aus der allgemeinen politischen Kultur vertraut sind. Die Entscheidung in der Ursituation sei instruktiv, weil sie eindeutig ermittle, welche Gerechtigkeitskonzeption wir wohlüberlegt „here and now“ für bestbegründet halten. Doch hierin spielt Rawls, wie er später eingestehen wird (vgl. 617), den Umfang der Annahmen herunter, die er für seine Konstruktion als öffentlich gegeben voraussetzt. Diese wird er in den nächsten Artikeln, die Gerechtigkeit als Fairness ‚politisch‘ ausrichten, tatsächlich verkleinern. In der Neuausrichtung wird dasselbe Grundmodell mit beiden Prinzipien unter veränderten Gesichtspunkten herangezogen (vgl. Williams 1993). Gefragt ist nun nicht, was die Prinzipien seien, mit der eine ideale Ordnung umfänglich gegenüber Bürgern mit breitem Konsens gerechtfertigt werden könne, sondern wie faire Kooperationsbedingungen unter Bürgerinnen, die grundlegend uneins sind, langfristig aufrechterhalten werden könnten. (19) Das kurze Vorwort zur französischen Theorie der Gerechtigkeit-Ausgabe ordnet die Stoßrichtung des Werks erstaunlich parteiisch (sozial-demokratisch jenseits bloßer Sozialstaatlichkeit) ein und markiert die Elemente, die Rawls in der Zwischenzeit hatte korrigieren müssen (z. B. die ursprüngliche Formulierung des Freiheitsprinzips). (20) In „The Idea of an Overlapping Consensus“ (1987) arbeitet Rawls den übergreifenden Konsens als weniger anspruchsvolle Rechtfertigungsbasis aus. Ein solcher ist gegeben, wenn eine politische Konzeption durch eine Mehrheit umfassender Lehren über Generationen hinweg gestützt wird (430). Möglich sei er, weil sich die Prinzipien der politischen Konzeption nach der Methode der Vermeidung lediglich öffentlicher, unstrittiger Ideen und in ihrer Anwendung der öffentlichen Vernunft bedienen, die allgemeines Wissen und Methoden, öffentliche Standards darüber, was als Vorteil gilt, und die Prinzipien, nach denen ge-

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rechtfertigt wird, umfassen. Daher verlangt die Konzeption nicht, dass wir unsere Prämissen ihr angleichen. Wir können, so Rawls‘ Vorstellung, jeweils unsere Gründe haben, um sie zu stützen. Die Vision einer engen moralisch-politischen Gemeinschaft müsse aufgegeben werden. Doch umfasse die Konzeption gemeinsame Ziele und stütze sich auf die jeweiligen moralischen Gründe der Bürger, weshalb sie anders und stabiler als ein bloßer ‚modus vivendi‘ sei. Auch Skeptizismus oder Indifferenz in letzten Dingen seien nicht verlangt. Liberale Toleranz verlange jedoch Streitfragen auszuklammern, die kein Gegenstand politischer Entscheidung sein können, um in öffentlichen Dingen möglichst viel gemeinsamen Boden zu finden. Daraus entspringe die integrative Kraft der liberalen Werte der Verfassung und ihrer kooperativen Tugenden. Wo die Verfassung ihre Werte als Grundrechte gegen Einschränkungen schütze, die Einzelnen mit Mitteln ausstatte, diese Rechte auszuüben, und ihnen Prinzipien an die Hand gebe, um ihre Ansprüche voreinander zu rechtfertigen, löse sich das Vertrauen über die Generationen von der Voraussetzung der Zugehörigkeit umfassender Lehren. So bilde sich kontinuierlich eine Basis für Stabilität, die über bloße Interessenkonvergenz hinausgeht. (21) „The Priority of the Right and Ideas of the Good“ (1988) klärt das Verhältnis von Rechtem und Gutem in Rawls‘ liberaler politischer Konzeption auf. Im Kern besagt das Vorrangsprinzip, was als Recht gelte, gelte unabhängig davon, was jemandem als gut gilt und beschränke so alle ungerechtfertigten Ansprüche. Weiter gefasst bildet der Vorrang des Rechten in ‚Gerechtigkeit als Fairness‘ den Vorrang des Vernünftigen ab, der in der politischen Fassung verlangt, dass eine Konzeption der Gerechtigkeit sich nur auf „politische Ideen“ stützen darf, die allen aus der politischen Kultur bereits vertraut sind (451). „In a phrase: justice draws the limit, the good shows the point“ (ebd., 449). Doch damit scheint übersehen, dass Menschen Wesen sind, die ungeachtet ihrer Rechtfertigung solche Punkte brauchen, um ihr Leben fortzuführen. Scheint dieser Vorrang nicht ein Motivations- und damit auch ein Stabilitätsproblem

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zu markieren? Gegen den Eindruck, seine Lehre enthalte keine, nur instrumentelle oder bloß individuell gewählte Vorstellungen vom Guten, weist Rawls daher fünf Ideen des Guten in seiner Gerechtigkeit als Fairness aus. (a) Sie setze das Gute als das Rationale voraus, wenn sie von Bürgerinnen erwarte, dass sie nach Gütern streben, um ihre Lebenspläne zu verwirklichen. (b) Hierfür weise sie Primärgüter aus, die kulturunabhängig feststellen, was Bürgern öffentlich als relevantes Gut und Gegenstand eines Anspruchs gelten kann. Dabei sei sie jedoch keinesfalls ‚neutral‘. (c) Sie umfasse anders als etwa die Diskursethik substantielle Prinzipien, Personen- und Gesellschaftsbegriffe, die z. B. rassistische Lehren ausschlössen. Zwischen den zulässigen Lehren suche sie möglichst viel common ground, von dem aus in fairer Prozeduralität gerechte Prinzipien gesucht werden, die durchaus einschränken sollen. Nach dieser Konzeption dürften Lehren, die nur unter illiberalen Bedingungen gedeihen, untergehen und vermutlich würde politische Bildung die Lehren Kants und Mills näherlegen. (4) Sie umfasse zudem die liberalen Tugenden der Zivilität, Toleranz und Kooperation, die demokratische Institutionen verlangten und könne daher auch Charaktervorzüge von Bürgerinnen ausweisen. (5) Schließlich sei auch die wohlgeordnete Gesellschaft ein Gut für den Einzelnen wie für die Vielen, die miteinander agierten. Doch dürften die Tugenden und der Wert der Politik nicht zu einer umfassenden Lehre geformt und zur bevorzugten Lebensform erhoben werden. Gerechtigkeit als Fairness gebe also dem Guten Raum, ermutige zu manchen Vorstellungen von ihm und sei deshalb auch für das Leben nicht ohne Wert. (22) In „The Domain of the Political and the Overlapping Consensus“ (1989) reagiert Rawls auf den Verdacht, im Bemühen um Stabilität mache sich seine Konzeption den Machtkonstellationen zwischen umfassenden Lehren zu gefügig und sei daher „political in the wrong way“ (473). Hiergegen zeigt er, wie Gerechtigkeit als Fairness als „free-standing“ Konzeption eingeführt wird, indem er fünf allgemeine Fakten ausweist, die eine politische Konzeption nötig und möglich machen: (a) die anhaltende Viel-

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falt widerstreitender Lehren, die (b) nur durch Gewalt beseitigt werden kann, und angesichts der (c) Annahme, politische Stabilität setze eine mehrheitliche Anschlussfähigkeit voraus, zum Problem wird. Dabei seien (a) und (b) nicht auf Irrtum oder Irrationalität zurückzuführen, sondern auf die (d) »burdens of judgment«. Sie besagen, zur conditio humana gehörten fragmentierende Urteilsbedingungen, durch die die Annahme unvernünftig sei, eine vernünftige Diskussion müsse zu einer vernünftigen Lösung führen. Stabilität sei deshalb nicht dadurch zu erreichen, viele von einer umfassenden Lehre zu überzeugen. Sie müsse vielmehr auf (e) politischen Ideen beruhen, die in der politischen Kultur zu finden seien. Diese greife der politische Liberalismus in der Absicht auf, liberale Grundwerte so zu formulieren, dass Bürgerinnen sich in vernünftiger Weise in der politischen Sphäre, auf sie berufen können, um sich über ihre Ansprüche zu verständigen, ohne sich auf Gründe zu stützen, die ihrem Gegenüber fremd bleiben müssen. Indem die öffentliche Vernunft an die Stelle des Zwangs trete, wird, wie die Geschichte des Liberalismus zeige, im übergreifenden Konsens vertrauensvolle faire Kooperation und stabile politische Ordnung möglich. Die Aufgabe der Philosophie liege darin, für die langfristige Stabilität eine Konzeption politischer Legitimität bereitzustellen, die alle Bürger über Generationen hinweg adressiert. Bloß empirische Motive in die obersten Prinzipien einzuschmelzen, würde dem Ziel gar nicht genügen. Vielmehr sei es nötig, erst in der Ursituation Prinzipien zu wählen und dann psychologisch und sozialtheoretisch zu prüfen, ob eine ihnen genügende Gesellschaft auch stabil sein könnte.

Fünfte Phase: Politischer Liberalismus im Inneren und auf globaler Ebene Hatte sich Rawls zuletzt gegen den Vorwurf verteidigen müssen, mit der kontextuellen Fundierung seiner öffentlichen Konzeption Ordnungsstabilität nur um den Preis ihrer Kontingenz zu sichern, wobei sie „political in the wrong way“ (473) werde, geht die Bewegung der letzten fünf

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Artikel der Collected Papers wieder ins Universale. (23) Das Anliegen von „Themes in Kant’s Moral Philosophy“ (1989) ist, mit Kant Freiheit (528) als Kern der „constructivist and coherentist doctrine of practical reason“ (523) hochzuhalten. Hierfür zeigt Rawls, wie in der Anwendung des kategorischen Imperativs auf die „normal conditions of human life“ (502) ein moralischer Standpunkt konstruiert wird, der das Vernünftige dem Rationalen vorordne, indem er von allem nicht Verallgemeinerbaren abstrahiert. Dabei betont Rawls die Konzeptionen des Guten bei Kant und die Ansätze von „true human needs“ (501), um ihn vor dem Formalismusvorwurf zu schützen. Die Gültigkeit des kategorischen Imperativs hänge nicht an einer unabhängigen moralischen Ordnung. Er führe selbst erst zur Wahl von Prinzipien und markiere die moralischen Fakten, die für Personen, die ihn anwenden können, objektiv gelten, weil er deren Verkehr auf ein ihm gemäßes Reich der Zwecke ausrichte. Das Sittengesetz erschließe, beglaubigt durch das Faktum der Vernunft, den praktischen Standpunkt, von dem aus unsere Freiheit real sei. Auf eine objektive Ordnung lasse sie sich nicht zurückführen. (24) Die nächsten zwei Artikel weiten Rawls‘ Ansatz auf die internationale Ebene aus. Der Artikel „The Law of Peoples“ (1993), Grundlage für die spätere gleichnamige Monographie (1999), präsentiert den liberalen Ansatz für ein moralisches Völkerrechts, das den common ground im Recht aller Völker für die Rechtfertigung von Ansprüchen und Bewertung internationalen Rechts sondiert und dabei erstens die Idee der Souveränität revidiert und zweitens Prinzipien für die Toleranz gegenüber illiberalen Staaten enthält. Er basiert gleichwohl auf dem Primat der Staaten. Im ersten Durchgang der „two-level bottom-up procedure“ (550) wählen die Parteien des Urzustands, die hier Bürgerinnen repräsentieren, Prinzipien der Gerechtigkeit für ihre jeweilige liberale Gesellschaft. In einem zweiten Durchgang, in dem die Parteien liberale Völker repräsentieren, ermitteln sie sieben Prinzipien für den internationalen Verkehr, von denen Rawls dann zeigt, dass diese ebenso

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akzeptiert werden könnten durch vernünftige, aber hierarchische Gesellschaften, die (a) friedlich sind, (b) über eine innere Rechtsordnung verfügen, die alle Menschen unparteiisch bindet und über eine „consultation hierarchy“ eine Mitsprache erlaubt, und (c) die basalen Menschenrechte achtet (545). Dies zeige die Tauglichkeit der Prinzipien für ein idealtheoretisches Völkerrecht, das full compliance zwischen den Völkern erwarten könne, weil es keine partikular-liberale Lehre voraussetze. Der zweite Teil widmet sich den zwei Formen nichtidealer Umstände. Mit outlaw regimes sei, ohne politische oder ökonomische Einbindung, ein Modus Vivendi zu suchen, Krieg jedoch nur zur Verteidigung der Freiheit oder Verhinderung schlimmster Verbrechen, wie die der Nazis, zu führen (556 f.). Um von ungünstigen Bedingungen geplagte Völker in eine globale Gesellschaft einzubeziehen, postuliert Rawls schließlich eine „duty of assistance“ (559), die Hilfe zur Selbsthilfe gebietet. (25) In „Fifty Years after Hiroshima“ nutzt Rawls 1995 den Rückblick, um sechs Prinzipien für den gerechten Krieg aufzustellen, an denen er darlegt, dass der Atomangriff auf die japanische Stadt ein Verbrechen gewesen sei. Krieg dürfe nur mit dem (1) Ziel des langen gerechten Friedens gegen (2) undemokratische Staaten geführt werden, wobei (3) nach dem Prinzip der Verantwortlichkeit die Führung von einfachen Soldaten und Zivilistinnen, deren (4) Menschenrechte zu achten seien, zu unterscheiden sei. Dies sei wie (5) die offen zu kommunizierende angestrebte Friedensordnung durch Staatsmänner und -frauen durchzusetzen, die er emphatisch als Hüter und Hüterinnen der wahren langfristigen Interessen der Nation ausmalt. (6) Außer in Zeiten extremer Krise, seien alle Ziel-Mittel-Überlegungen durch diese Prinzipien zu beschränken. Diese Ausnahme sei für die Rechtfertigung des Umfangs der historischen Bombardements auf japanische Städte nicht, auf deutsche Städte wahrscheinlich ab einem Punkt nicht mehr gegeben gewesen. Rawls macht deutlich, dass die Errichtung solcher Gebote aber eine Aufgabe für Friedens- und nicht für hitzige Kriegszeiten sei. (26) „The Idea of Public Reason Revisited“ (1997) hat es mit den Gründen zu tun, auf

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die wir uns als Freie und Gleiche, vor allem aber die Amtsinhaberinnen verpflichten sollten, wenn das Faktum der vernünftigen Pluralität tiefgreifenden Konsens verhindert, wir aber das öffentliche Wohl doch politisch durch Zwangsmaßnahmen sichern müssen. Deren Legitimität beruht auf der Reziprozität ihrer Begründung, für die alle politischen Konzeptionen der Gerechtigkeit in Frage kommen. Ihre Konkurrenz ist sogar demokratisch wichtig, doch sollten sie möglichst kohärent sein. Religiöse Überzeugungen seien nur provisorisch geltend zu machen, wobei Rawls auch deren integrative Kraft betont, die es zu nutzen gelte. Für Ungleichheit in der Familie müsse es Raum geben, wenn diese etwa aus kulturellen Gründen gewählt würde und sie nicht die politische Gleichstellung der Frauen oder die Gleichheitsorientierung der Kinder gefährde. Doch neben den Gerechtigkeitskonzeptionen gäben auch Sozialtheorie und Psychologie öffentliche Gründe für die Gleichheit der Frau. Zuletzt weist Rawls Einwände zurück und betont: Anstelle der strittigen substanziellen Annahmen von Eine Theorie der Gerechtigkeit setze Politischer Liberalismus auf eine pluralistische Konzeption davon, wie wir begründen, um Konflikte, die sich aus sozialen, religiös-ethischen oder Unterschieden des Urteils ergeben, fair beizulegen. (27) Der Form nach fällt das kurze Interview aus dem liberal-katholischen Commonweal-Magazin von 1998, mit dem die Collected Papers enden, aus der Reihe. Doch Rawls‘ unbefangene Antworten geben einen leichten Zugang zu seinen oft eher technisch verhandelten Ideen, vor allem zur Idee der öffentlichen Vernunft. Seine Sorge um die Stabilität der Gesellschaft von Freien und Gleichen unter der Bedingung religiöser Pluralität gilt hier ganz konkret den Vereinigten Staaten. Und Rawls räumt ein, dieses Ideal der Person entspringe selbst biblischen Quellen. Hatte er sich vom christlichen Glauben auch längst verabschiedet, scheint dies wie ein Verweis auf die religiösen Anfänge seines philosophischen Denkens und dessen Verlauf nun wie der große Versuch, ein bewahrtes Ideal auf politische Gründe zu stützen, die keine umfassende Lehre voraussetzen.

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Teil V

Referenzautoren

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Bentham Peter Niesen

Die Wege von Rawls und Bentham haben sich mehrfach gekreuzt. Nach einer frühen Werkepoche, in der er sich an der Verteidigung eines utilitaristischen Moralverständnisses versucht, schreibt Rawls in Eine Theorie der Gerechtigkeit gegen eine dominante zeitgenössische Konzeption an, die er als Wiedergänger des ‚klassischen Utilitarismus‘ von Bentham, Edgeworth und Sidgwick identifiziert. Parallel dazu entdeckt die politische Ideengeschichtsschreibung seit den 1980er Jahren einen neuen, liberalen Bentham, der Rawls als Wegbegleiter anempfohlen wird (Kelly 1990). Während sich die liberale Benthamforschung Rawls annähert, nimmt gleichzeitig das Ansehen klassisch-utilitaristischer Ansätze in der politischen Theorie rapide ab, so dass der ‚dogmatische Benthamismus‘ (J.St. Mill), gegen den sich Rawls in erster Linie gewandt hatte, heute seine Hegemonie eingebüßt hat. Angesichts dieser Entwicklung ist die Wiederannäherung an Bentham, die Rawls’ Spätwerk unternimmt, unbemerkt geblieben oder dementiert worden. Eine Lektüre von Bentham als indirektem Utilitaristen vermag hier ein ausgewogeneres Gesamtbild nahezulegen. Rawls beginnt seine Karriere mit einer Verteidigung des Utilitarismus. In dem Auf-

P. Niesen (*)  Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

satz Zwei Regelbegriffe von 1955 weist er den Standardeinwand gegen die utilitaristische Straftheorie zurück, dass sie zugunsten der allgemeinen Wohlfahrt die Bestrafung Unschuldiger zulasse. Rawls’ Kritik beruht darauf, dem Utilitarismus das stärkere von zwei Regelmodellen zu unterstellen: keinen Faustregelbegriff, sondern einen Praxisbegriff, demzufolge Regeln konstitutive Funktionen für eine Praxis erfüllen: Wer wissentlich Unschuldige „bestraft“, so Bentham, so Rawls (1999, 36), betreibe keine Strafpraxis, sondern tue schlicht etwas anderes. Wie in den späteren Hauptwerken wendet Rawls sich hier gegen einen aktutilitaristischen Reduktionismus, der die Eigenlogik pro tanto gerechtfertigter rechtlicher und politischer Institutionen leugnet, und signalisiert gleichzeitig Sympathie für eine regelutilitaristische Konzeption. Da Rawls Benthams Arbeiten aber zumeist nicht als Plädoyers für einen Regel- oder indirekten Utilitarismus liest, fällt die Beschäftigung mit ihm – im Gegensatz zur Rezeption von John Stuart Mill, dessen Vorbildcharakter in den Vorlesungen über die Geschichte der politischen Philosophie in den Vordergrund tritt – in allen Werkepochen vornehmlich kritisch aus. Jeremy Bentham (1748–1832) hat die Folgen, die sich aus dem principle of utility (dem Nutzenprinzip oder ‚Prinzip des größten Glücks‘) in Moral, Recht und Politik ergeben, als erster systematisiert und auf alle

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_12

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Lebensbereiche angewandt. Bentham ist ein ­psychologischer Hedonist, vertritt also die Auffassung, dass aller Nutzen (utility) sich letztlich auf Glücksempfindungen zurückführen lässt, wobei er alle funktionierenden Glücksstrategien als gleichberechtigt behandelt und nicht wie sein Protegé John Stuart Mill zwischen höheren und niederen Freuden unterscheidet. Allein die Maximierung der Summe des gesellschaftlichen Glücks soll der Moral und der Gesetzgebung als Maßstab dienen. Bentham steht die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Nutzensummen- und Durchschnittsnutzenutilitarismus, den Rawls später als die modernere Variante auffassen wird, noch nicht klar vor Augen; es gibt Hinweise im Frühwerk, dass er den Durchschnittsnutzen zumindest nicht gegenüber der Nutzensumme privilegiert (Bentham 2013, 70). Auch der psychologische Hedonismus Benthams ist Rawls zufolge überholt; Rawls (2003, 154) folgt damit dem wohlfahrtsökonomischen Diskurs des 20. Jahrhunderts. Benthams vorrangiges Interesse gilt institutionellen Reformen, nicht der Konstruktion einer normativen politischen Theorie oder einer Moraltheorie. Er polemisiert gegen tradierte rechtliche Institutionen und Praktiken, die keine positiven Auswirkungen auf die Wohlfahrt der Bevölkerung haben, und setzt elektorale Kontrolle, parlamentarische Verantwortung, verfassungsförmige Sicherheiten und ein unbeschränkt diskutierendes ‚Tribunal der öffentlichen Meinung‘ an ihre Stelle. Nur vereinzelt versucht Bentham, zwischen mehreren Handlungsoptionen unter Umgehung intermediärer Prinzipien und Institutionen zugunsten unmittelbarer Glücksmaximierung zu entscheiden. In Anwendungsfragen kann er sich manchmal den direkten Rekurs auf das principle of utility nicht versagen, so etwa im Panoptikum-Brief über die Schulen, in der berühmten Fußnote zur Tierethik in seinem Hauptwerk Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung (Bentham 1970 [1789]) und in eher berüchtigten Ausführungen zu Infantizid oder Folter (Schofield 2009). Seine systematische Energie investiert Bentham seit den frühesten Schriften in die Theorie und Einrichtung der Verfassung und

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anderer Rechtskodifikationen. Eine produktive Konfrontation zwischen Bentham und Rawls lässt sich daher eher auf dem Gebiet der institutionellen Grundstruktur einer Gesellschaft ansiedeln als innerhalb der Moraltheorie, der public policy oder der juristischen Kasuistik. Rawls’ politische Philosophie begegnet Benthams Utilitarismus auf drei Ebenen. Erstens behauptet Rawls in Eine Theorie der Gerechtigkeit, die dort vorgetragene kontraktualistische Gerechtigkeitstheorie sei einer utilitaristischen Begründung der Gerechtigkeit überlegen (1). Zweitens schälten sich als Ergebnis des kontraktualistischen Urzustandes die beiden Gerechtigkeitsprinzipien, nicht das principle of utility heraus (2). Eine dritte Ebene der Auseinandersetzung wird in Rawls’ zweitem Hauptwerk, Politischer Liberalismus von 1993, eingeführt (3). Hier vertritt Rawls die Ansicht, dass eine Gerechtigkeitskonzeption freistehend im Rahmen eines politischen Ansatzes entwickelt werden müsse, keine umfassende Lehre voraussetzen und verschiedene vernünftige umfassende Lehren im Rahmen eines übergreifenden Konsenses integrieren solle. Auch auf dieser Ebene spielt die Konfrontation mit Benthams Utilitarismus eine Rolle, diesmal in Bezug auf die Frage, ob er sich innerhalb des gesellschaftlichen Pluralismus loyal zu einer liberalen Gerechtigkeitskonzeption verhalten kann. (1) Auf der Theorieebene stehen sich das Rawlssche Verfahren einer kontraktualistischen Wahl von Grundgütern und das utilitaristische Verfahren der Aggregation (sei es von Glücksempfindungen wie beim frühen Bentham, sei es von Präferenzen, die sich in Geldeinheiten abbilden lassen, wie beim mittleren Bentham und im heutigen Utilitarismus) gegenüber. In einem Aufsatz von 1971 erkennt Rawls (1999, 216) an, dass Bentham die institutionelle Gleichbehandlung aller Individuen fordert; es ließe sich ergänzen, dass er ihnen eine gleiche Befähigung, glücklich sein, zuschreibt, und damit die Möglichkeit Nozickscher utility monsters ausschließt (Bentham 2013, 70 f.). Bentham gilt Rawls als Entdecker des Prinzips des abnehmenden Grenznutzens, dem große Einkommensdifferenzen suspekt sein müssen. Die

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Prinzipien der Politik würden bei Bentham allerdings nicht von Repräsentant*innen freier und gleicher Bürger*innen gewählt, sondern als „kontingentes Ergebnis übergeordneter Verwaltungsentscheidungen“ (Rawls 1999, 216, Übers. P.N.) errechnet. Entscheidend für die Abgrenzung ist, dass die utilitaristische Aggregation schlechthin alle vorliegenden Glücksstrategien und Präferenzen berücksichtigen müsse, während Rawls „keinen moralischen Wert in der Befriedigung eines Anspruchs erkennt, der mit der Gerechtigkeit unverträglich ist“ (1999, 215, Übers. P.N.; vgl. 1975, 49). Der Vorteil, den etwa Sklavenhalter*innen oder eine gesamte Gesellschaft aus der Institution der Sklaverei ziehen, kann nach Rawls, sobald es um Gerechtigkeit geht, nicht ins Gewicht fallen: „Utilitarianism cannot account for the fact that slavery is always unjust, nor for the fact that it would be recognized as irrelevant in defeating the accusation of injustice for one person to say to another, engaged with him in a common practice and debating its merits, that nevertheless it allowed of the greatest satisfaction of desire“ (Rawls 1999, 219 f.). Bentham selbst darf als lebenslanger Gegner der Sklaverei gelten (Rosen 2005). Wenn die gleiche Berücksichtigung aller Personen aber bedeutet, dass alle, selbst ausbeuterische und diskriminierende Präferenzen gleichrangig sind, so lässt sich Rawls’ Einwand nicht abweisen: Was die Gerechtigkeit erfordert, wird bei Bentham auf falsche Weise ermittelt. (2) Gleichwohl muss Rawls konzedieren, dass sich das principle of utility nicht bereits von vornherein als mögliches Ergebnis des Urzustands disqualifiziert. Dieses Prinzip ist ein Kandidat von mehreren, die den Parteien des Urzustands zur Auswahl vorgelegt werden (Rawls 1975, 201–210). Die Debatte darüber, ob das Nutzenprinzip aus der Konstellation des Urzustands im Verfahren rationaler Wahl gefolgert werden könnte, dauert weiterhin an und kann nicht als abgeschlossen gelten (Hinsch 2002, 67–73). Rawls zufolge liegt der Hauptunterschied auf der Prinzipienebene darin, dass das principle of utility immer dann zulässt und sogar fordert, dass manche Personen große Nachteile auf sich nehmen, wenn für andere grö-

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ßere Vorteile dabei herausspringen. Dies widerspricht seiner Auffassung, dass eine gerechte Gesellschaft ein faires System der Kooperation ist, d. h. dass jemand, der in gesellschaftliche Zusammenarbeit investiert, am Ende nicht leer ausgehen soll. Der Utilitarismus missachte die „Getrenntheit“ von Personen (separateness of persons), die ein Fundament unserer Gerechtigkeitsintuitionen bildet (Rawls 1975, 44). Allerdings ist nicht ausgemacht, dass Bentham das principle of utility überhaupt als Basis der Einrichtung einer Grundstruktur (im Gegensatz zur Beurteilung ihrer Performanz) vorschlagen würde. Diese Unterscheidung zwischen Entscheidungs- oder Einrichtungsprinzipien einerseits, Beurteilungsprinzipien andererseits ist charakteristisch für indirekte Varianten des Utilitarismus. In den Principles of the Civil Code entwickelt Bentham die lexikalische Prinzipienordnung einer Gesellschaft, deren Grundstruktur nach den ‚sekundären‘ Werten von Sicherheit und Subsistenz, ferner Wohlstand und Gleichheit (security, subsistence, abundance, equality) eingerichtet werden soll (Kelly 1990). Das principle of utility soll erst nachträglich, als Evaluationsprinzip herangezogen werden. Daher fordert Bentham in seiner Verfassungstheorie – die bei Rawls (1975, 223–229) erst auf der zweiten Stufe des Urzustands ansteht – unter anderem das allgemeine, freie und geheime Wahlrecht, einschränkungsfreie Äußerungs- und Religionsfreiheit sowie ein Erbrecht im Dienste des Gemeinwohls (Bentham 2013). Da wir annehmen dürfen, dass Bentham auf indirekt utilitaristischer Basis zu ähnlichen Prinzipien für die verfassungsförmige Einrichtung einer Grundstruktur kommen könnte wie Rawls, ist das Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen ihnen auf der Prinzipienebene inkonklusiv. Wir wissen nicht, ob Bentham das principle of utility (so Postema 1986, 147–190) oder ein anderes, liberal-egalitäres Prinzip als Kandidat der Wahl für die Einrichtung der Grundstruktur im Urzustand ins Rennen schicken würde. (3) Im Gegensatz zu Eine Theorie der Gerechtigkeit und Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf enthält Rawls’ Politischer Liberalismus keine detaillierte Auseinandersetzung

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mit dem klassischen Utilitarismus Benthamscher Prägung. Allerdings steht dort auch nicht die Korrektheit von Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption im Mittelpunkt, sondern die Tauglichkeit dieser oder verwandter liberaler Konzeptionen der Gerechtigkeit, den Mittelpunkt eines übergreifenden Konsenses vernünftiger, in einer pluralistischen Gesellschaft dauerhaft vertretener umfassender Lehren zu bilden. Der Utilitarismus ist eine umfassende Lehre, insofern er sich auf alles erstreckt, was im menschlichen Leben von Wert ist, und Rawls hatte noch im Jahre 1987 argumentiert, Bentham und andere Vertreter*innen einer ‚direkten‘ Form des Utilitarismus könnten sich nicht am overlapping consensus beteiligen (Rawls 1999, 433). Im Politischen Liberalismus ändert er seine Ansicht und argumentiert, der klassische Utilitarismus von Bentham und Sidgwick sei in der Lage, sich zu einer liberalen politischen Gerechtigkeitstheorie im Sinn einer ‚Annäherung‘ zu bekennen: „Der Utilitarismus stützt die politische Konzeption aus Gründen wie der Begrenztheit unserer Kenntnisse über soziale Institutionen im allgemeinen und über die jeweils vorliegenden Umstände im besonderen. […] Diese und ähnliche Gründe mögen einen Utilitaristen davon überzeugen, daß eine politische Gerechtigkeitskonzeption mit liberalem Inhalt eine befriedigende, wenn nicht vielleicht die am besten funktionierende Annäherung an das ist, was das Nutzenprinzip fordert, wenn wir alles berücksichtigen“ (Rawls 1998, 263). Um den übergreifenden Konsens von einem bloßen Modus vivendi zu unterscheiden, verwirft Rawls rein taktische oder episodische (z. B. aus Irrtümern hervorgehende) Übereinstimmungen als instabil und normativ unzureichend. Erfolgt eine Zustimmung des Utilitarismus zu Gerechtigkeit als Fairness (oder einer nah verwandten Konzeption) mithin aus den richtigen Gründen? Erinnern wir uns an den Diskussionsstand zwischen Rawls und Bentham, der auf der Theorie- und Prinzipienebene erreicht worden war. Rawls muss einer Konzeption Benthamscher Prägung zutrauen, dass sie eine Tendenz zu näherungsweise egalitären Verteilungen

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hat und utility monsters ausschließt; dass sie für die Respektierung von Grundrechten im Sinn von Sicherheit und Subsistenz eintritt und sich unerschütterlich zur repräsentativen Demokratie bekennt. Die Begrenztheit unserer Voraussagefähigkeiten bringt Benthamsche Utilitaristen dann dazu, die gesellschaftlichen Grundgüter auf eine Weise zu verteilen, die auf indirektem Weg dem Nutzenprinzip so weit wie möglich zu seinem Recht verhelfen soll. Der ‚liberale Inhalt‘ einer politischen Gerechtigkeitskonzeption kann mithin von Benthamschen Utilitaristen nach bestem Wissen akzeptiert werden. Die in der zitierten Passage formulierte Überzeugung, dass es sich um die „am besten funktionierende Annäherung“ handeln könne, hat nichts Kompromisshaftes oder Episodisches an sich. Sie kann für stabile Loyalität auch für den Fall bürgen, dass sich Änderungen in den gesellschaftlichen Machtverhältnissen ergeben sollten, etwa wenn die Anhänger des Utilitarismus eines Tages die verfassungsändernde Mehrheit besitzen sollten. Auch wenn der Utilitarismus den Inhalt liberaler Gerechtigkeitsprinzipien auf die richtige Weise bejahen mag, ist damit doch seine mögliche Teilhabe am overlapping consensus noch nicht erwiesen. Dieser Konsens besteht für Rawls nicht allein in der Übereinstimmung über Prinzipien, sondern in einer Übereinstimmung über eine „politische Gerechtigkeitskonzeption mit liberalem Inhalt“ (1998, 238). Zur konstruktivistischen Gerechtigkeitskonzeption gehören aber nicht nur Gerechtigkeitsprinzipien, sondern auch die grundlegenden intuitiven Ideen freier und gleicher Personen (die Bentham teilt) sowie die Idee der Gesellschaft als eines fairen Systems der Kooperation (Scheffler 2003, 451). Wie wir oben gesehen haben, spricht Rawls dem Utilitarismus die Fähigkeit ab, die Gesellschaft als faires System der Kooperation anzusehen. Allerdings hatte Rawls bereits konzediert, dies sei abschließend angemerkt, dass eine konstitutionell eingebundene repräsentative Demokratie aus Benthams Perspektive als die vergleichsweise beste Hoffnung auf die Verwirklichung dessen, was immer das Nutzen-

12 Bentham

prinzip erfordern mag, erscheinen kann. Dies liegt Bentham zufolge an den epistemischen Eigenschaften des demokratischen Prozesses, der wiederum gewisse nicht-fungible Voraussetzungen für die Einrichtung einer gesellschaftlichen Grundstruktur mit sich bringt (Niesen 2013). Im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Sektoren (Wirtschaft, soziale Sicherheit, Gesundheits-Sektor) ist der politische Sektor demokratischer Gesellschaften daher nicht anders denn als kooperative Praxis vorstellbar, in dessen Ergebnissen zwar Vorteile für einige Nachteile für andere aufwiegen mögen, dessen Verfahren aber eine Verrechnung von Gewinnen durch Verluste in den Erzeugungsprozessen strikt ausschließen. Sind die politischen Institutionen egalitär eingerichtet, stimmt ihr Ergebnis „überein mit dem, was der öffentliche Nutzen erfordert (will be conformed to the decision of public utility)“ (Bentham 1999, 19). Wenn Demokratie ein Verfahren gesellschaftlicher Steuerung in Annäherung an das ist, was das Nutzenprinzip fordern mag, handelt es sich bei ihr um einen Prozess, auf dessen Ausgestaltung das Nutzenprinzip selbst nicht unmittelbar angewandt werden kann. Die Elemente dieses Prozesses – das einschränkungsfreie Agieren eines Tribunals der öffentlichen Meinung, das allgemeine und gleiche Wahlrecht, ein deliberierendes und entscheidendes Parlament – sind nicht disponibel. Insoweit die Gesellschaft die dafür notwendigen Mittel zur Verfügung stellt, kann sie als faires System politischer, wenn-

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gleich nicht umfassend sozialer Kooperation gelten.

Literatur Bentham, Jeremy: An introduction to the principles of morals and legislation. Hg. J. H. Burns, H. L. A. Hart. Oxford 1970 [1789]. Bentham, Jeremy: Unsinn auf Stelzen. Schriften zur Französischen Revolution. Hg. Peter Niesen, Berlin 2013. Bentham, Jeremy: Political tactics. Oxford 1999. Hinsch, Wilfried: Gerechtfertigte Ungleichheiten. Berlin 2002. Kelly, Paul: Utilitarianism and distributive justice. Oxford 1990. Niesen, Peter: Utilitarismus und Demokratie in Zeiten der Revolution. In: Peter Niesen (Hg.): Jeremy Bentham: Unsinn auf Stelzen. Schriften zur Französischen Revolution. Berlin 2013, 11–65. Postema, Gerald: Bentham and the common law tradition. Oxford 1986. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1975 (engl. 1971). Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: Collected Papers. Hg. Samuel Freeman, Cambridge 1999. Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf. Hg. Erin Kelly. Frankfurt a. M. 2003 (engl. 2001). Rosen, Frederick: Jeremy Bentham on slavery and the slave trade. In Barbara Schultz/Georgios Varouxakis (Hg.): Utilitarianism and empire. Lanham, Md. 2005, 33–56. Schofield, Philip: Bentham. A guide for the perplexed. London 2009. Scheffler, Samuel: Rawls and Utilitarianism. In Samuel Freeman (Hg.): The Cambridge companion to Rawls. Cambridge 2003, 428–459.

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Hegel Oliver Hidalgo

Hegels Philosophie steht für Rawls nicht im Zentrum seines Interesses. Entsprechend präsentiert sich die Forschung zur Hegel-Rezeption durch Rawls auch als verhältnismäßig wenig beackertes Feld. Am ehesten erfolgen einschlägige Bezüge noch im Zusammenhang mit Kants Theorie des rationalen Bürgers (z. B. Renker 2012; Sensat 2016), wobei Rawls bisweilen eine Rolle als Mediator zwischen Kant und Hegel zugeschrieben wird (vgl. Groen 1990; Peña 2017). Etwas unterbelichtet ist es bislang geblieben, dass Rawls doch erstaunlich kontinuierlich (und bisweilen sogar an einigen Schlüsselstellen seines Werks) auf den deutschen Philosophen zu sprechen kommt. Dies hat vereinzelt dazu motiviert, neben dem rousseauistischen auch ein hegelianisches Erbe von Rawls’ Justice as Fairness zu thematisieren (Bercuson 2014) sowie die bekannte kommunitaristische Wende bei Rawls direkt an Hegel selbst festzumachen (vgl. Schwarzenbach 1991, zur Diskussion Benson 1994). Auffällig ist in jedem Fall, dass Rawls in seinen zentralen Werken nahezu ausschließlich auf die Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) rekurriert, wenn er sich in seinen Überlegungen an bestimmten Stellen auf

O. Hidalgo (*)  Universität Regensburg, Regensburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

Hegel bezieht. Der (inhaltliche) Hintergrund für diese Ausflüge ist zwar unterschiedlich, impliziert aber fast durchweg eine Verteidigung oder Modifikation kantischer Argumente und Positionen, auf die Rawls sich selbst in affirmativer Weise bezieht. Auf diese Weise avanciert Hegel zu einer Art kritischem Maßstab sowie einem Referenzautor, von dem sich Rawls zunächst distanziert, um Hegels Gedanken im Anschluss jedoch verstärkt zur Weiterentwicklung seiner eigenen theoretischen Ausführungen zu nutzen. Sporadische Verweise Die nach dem Tod von Rawls wiederentdeckte Senior Thesis A Brief Inquiry into the Meaning of Sin and Faith (Rawls 2010, 129–300) aus dem Jahr 1942 belegt, dass schon der junge Student Hegel durchaus auf dem Schirm hatte. Er zitiert ihn jedoch nicht aus dem Original, sondern unter Verweis auf die Types of Modern Theology von Hugh Ross Macintosh (1937), um Hegels Dialektik als „manichäisch“ einzustufen und in diesem Kontext die Sünde als „notwendige Etappe“ auf dem Weg zur „Tugend“ zu identifizieren (Rawls 2010, 226, Anm. 11). Im Rahmen seiner (damals noch bezweckten) Rechtfertigung der Religion als zentrale Ressource einer menschlichen Gemeinschaft sowie des geteilten Ziels von Politik, Ethik und Theologie, die Herausforderung des ,Bösen‘ zu bekämpfen, wirkt Hegel für Rawls wie ein Stichwortgeber im Dienst einer fruchtbaren ganzheitlichen Perspektive.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_13

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In der Theory of Justice – knapp 30 Jahre später und unter im Grunde völliger Aussparung des religiös-politischen Themas – nimmt Rawls Kant gegenüber Hegel sowie der Tradition des Idealismus in Schutz, eine lediglich rein formale oder gar utilitaristische Ethik formuliert zu haben (Rawls 1998, 283 f., FN 29), ein Argument, das später von Henry Sidgwicks Methods of Ethics (1874) wieder aufgegriffen wurde. Für Rawls (1998, Kap. 40) war dieser Exkurs damals offensichtlich wichtig, um seine eigene „Kantische Deutung der Gerechtigkeit als Fairneß“ vom Utilitarismus abzugrenzen (vgl. ebd., Kap. 5). En passant wird Hegel zugleich als Vertreter von Relikten einer hierarchischen Gesellschaftsstruktur (vgl. Hegel 1986, § 306) und damit (wie der Konservative Burke) als Gegner fairer Chancengleichheit identifiziert, wie sie Rawls (1998, 334 f.) selbst zu vertreten beansprucht. Der Kantkritik Hegels soll dies gewissermaßen den Boden entziehen. Des Weiteren deutet Rawls Unterschiede seiner Gesellschaftstheorie zu Hegels Begriff der ganz von Privatinteressen dominierten bürgerlichen Gesellschaft an, ohne dies allerdings näher zu erläutern (ebd., 566, FN 3). Rawls’ Vorlesungen zum kantischen Konstruktivismus, die Kant noch stärker als zuvor als zentralen Anknüpfungspunkt des eigenen moralund politikphilosophischen Programms würdigen (Rawls 1994, 80–158), bestätigen Hegel als Kontrastfolie zu den eigenen Überlegungen. Eine Wiederholung erfährt folgerichtig das Argument, dass Sidgwicks auf Hegel zurückgehende Lesart Kants als Urheber einer bloß formalen, inhaltsleeren Ethik, ungerechtfertigt sei (ebd., 136). Hegel selbst wird bei dieser Gelegenheit immerhin als „wertvolle“ Inspirationsquelle für Deweys Pragmatismus bewertet (ebd., 81). Erwiderung auf Hegels Kritik der Vertragstheorie Alle bislang genannten Passagen in Rawls’ früher und mittlerer Werkphase lassen auf eine allenfalls sporadische Auseinandersetzung mit Hegel schließen, die zudem überwiegend von

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der einschlägigen Rezeption geprägt ist und keine Kommentierung von Originalquellen beinhaltet. Anders ist dies in dem Aufsatz „The Basic Structure as a Subject“ (1978), in welchem Rawls (1994, 76–79) Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts als relevante Kritik der klassischen Vertragstheorie identifiziert (vgl. ebd., 76, Anm. 21, welche auf Hegel 1986, 58 f., 70 f., 156 f., 186 verweist). Dabei räumt Rawls (1994, 77) zwar ein, dass etwa „[h]istorische Prozeß-Theorien wie die von Hobbes und Locke oder die libertäre Auffassung“ von Robert Nozick und anderen „der idealistischen Kritik [Hegels] nicht begegnen können“, da die Vertragspartner in diesen Konstellationen tatsächlich als ursprünglich unabhängig von ihrer sozialen Natur gedacht und mithin Staat und/oder Gesellschaft als „Zusammenschluß privater Personen verwechs[elt]“ oder unterschätzt werden (Rawls 1994, 76). Sein eigener kantianischer Ansatz der Justice as Fairness aber werde „der sozialen Natur des Menschen gerecht […], [d]a sie von einer angemessen individualistischen Grundlage ausgeht (der Urzustand wird als faires Verhältnis zwischen freien und gleichen moralischen Personen aufgefaßt)“ und „zugleich eine Moralkonzeption [ist], die sozialen Werten einen angemessenen Platz zuweist, ohne Freiheit und Integrität der Person zu opfern“ (ebd., 77). Mit anderen Worten, Rawls nimmt hier unter Bezugnahme auf den Gerechtigkeitssinn in Kap. 8 der Theory of Justice für sich in Anspruch, nicht hinter die hegelianische Kritik am klassischen Kontraktualismus zurückzufallen, eine Position, die er später im Politischen Liberalismus beibehält. In einem weiteren Aufsatz, nämlich „Justice as Fairness: Political not Metaphysical“ (1985), geht Rawls zudem implizit auf den besonders von Hume und Hegel lancierten Vorwurf ein, dass sich Vertragstheoretiker jedweder Couleur eines ahistorischen Zugangs befleißigen. Seine eigene Theorie der Gerechtigkeit sei nicht-abstrakt-universal-metaphysisch zu verstehen, sondern konkret politisch und somit auch historisch situiert (Rawls 1994, 255–292). Dies bringt Rawls dazu, sich mit dem ebenfalls bevorzugt von Hegel thematisierten Problem einer notwendigen Einbettung von Moral und Recht in die sittliche konkrete Realität näher

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zu beschäftigen. Der Auseinandersetzung mit Hegel verleiht dies eine neue Qualität. Hegel in der Geschichte der Moralphilosophie Am Ende seiner posthum veröffentlichten Vorlesungen zur Moralphilosophie, die er zwischen Mitte der 1960er Jahre bis 1995 in Harvard hielt, zitiert Rawls (2004, 472) Hegel als Gewährsmann für die Überzeugung, dass sich Menschen nur in sozialer Umgebung zu (moralischen) Personen heranzubilden vermögen: „Der Begriff der Person und der Begriff der Gesellschaft passen zusammen; jeder der beiden bedarf des jeweils anderen, und keiner von ihnen hat allein Bestand.“ Und nachdem zuvor bereits Kant als beispielhaft für die Anknüpfung einer rationalen Moral an den Common Sense gewürdigt wurde, der zufolge freie und gleiche Personen ein gesetzmäßig geordnetes soziales Ganzes bilden (ebd., 314–322), erscheinen Kant und Hegel letztlich als Autoren, die gemeinsam an dem gleichen Strang zogen, den Rawls später aufgreifen und weiterentwickeln konnte. Jene Konstellation wird von Jürgen Habermas (2010, 317 f.) im Nachwort zur wiederentdeckten Senior Thesis von Rawls ausdrücklich betont, wenngleich eben jene These belege, dass sich Rawls schon vor seiner intensiven Beschäftigung mit Kant und Hegel, das heißt aus den Rudimenten einer christlichen Ethik heraus, als Gegner eines Kontraktualismus entpuppt habe, der vom „aufgeklärten Selbstinteresse unabhängiger Individuen“ ausgegangen sei (ebd., 318). Vor diesem Hintergrund scheint die – von Hegel maßgeblich inspirierte – kommunitaristische Kritik am methodologischen Individualismus der Theory of Justice von vornherein auf einem Missverständnis zu beruhen respektive ins Leere zu laufen. Indes könnte es natürlich auch sein, dass Rawls in seinen späteren Werken zur Position der Senior Thesis auf einer höheren, in diesem Fall säkularen Ebene zurückkehrte. In der Geschichte der Moralphilosophie käme Hegel dadurch gewissermaßen das Verdienst zu, das wie gesehen schon die Senior Thesis betonte, nämlich widersprüchliche Argumente und Bausteine zu einer kohärenten Politischen Philosophie zu integrieren – ein Vorbild,

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an dem Rawls selbst sich zunehmend besser zu orientieren vermochte. Kein Zufall ist es daher sicher, dass in der Ideengeschichte à la Rawls (2004, 427–431) Hegel als Philosoph der „Versöhnung“ erscheint, der den freien Willen des Individuums (ebd., S. 434–438), sein Recht auf Privateigentum (ebd., 439–442) sowie seine soziale Situierung in der bürgerlichen Gesellschaft (ebd., 443–447) in den diversen Formen der Sittlichkeit (ebd., 450–461) verankert. Auch wenn die Abhandlung zu Hegel (auch) an dieser Stelle im Vergleich zu Kant signifikant kürzer ausfällt, ist es eben doch Hegel, bei dem die zuvor entsponnenen Fäden von Hume und Leibniz über Kant am Ende zusammenlaufen. Dezidierte Projekte des Kommunitarismus wie vor allem die Verbindung von negativer und positiver Freiheit, wie sie neben Charles Taylor (1992) und Michael Sandel (1998) etwa auch der kommunitäre Republikanismus von Philip Pettit (1997) vorantrieb, wirken dadurch wie eine Position, die Rawls qua Vermittlung von Kant (vgl. Herb 1999) und Hegel längst eingenommen hatte. Dass die Geschichte der Moralphilosophie Hegel daher zuletzt als Vorläufer von Rawls’ eigenem politischen Liberalismus suggeriert (Rawls 2004, 470–477), ist unter diesen Vorzeichen nur konsequent. Hegel und der Politische Liberalismus Die Rolle, die Rawls Hegel in seiner Geschichte der Moralphilosophie zuschreibt, bestätigt dem Grund nach, was Michael Walzer (1990) einst als Charakteristik und Funktion des Kommunitarismus überhaupt beschreibt: kein eigenes, selbständiges Theoriegerüst anzubieten, sondern lediglich eine periodische Korrektur des Liberalismus in Form von an der Gemeinschaft ausgerichteter Kritik am Individualismus. Dieser Lesart nach wäre dem politischen Liberalismus kantischer, hegelianischer und Rawlsscher Provenienz die Gemeinschaftsperspektive immer schon inhärent und würde der auf Hegel fokussierte Kommunitarismus (vgl. Taylor 1983 und 2015) nur das lautstark hervorheben, was Kant und Rawls unter dem Strich ohnehin immer gesagt haben: dass das auf sein privates Glück und eigenen Vorteil bedachte Individuum in Gesell-

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schaft und Politik nach fairer partnerschaftlicher Kooperation strebt. Tatsächlich drängt sich der ganze ,Kommunitarismusstreit‘ unter der Voraussetzung, mit Rawls Hegel als Vertreter des politischen Liberalismus zu klassifizieren, wie eine Art des Schattenboxens auf, das heißt als ein Scheinkampf gegen das eigene Spiegelbild. Die spätestens seit Mitte der 1980er Jahre kontinuierlich erkennbaren Versuche, den ,Liberalen‘ Hegel gegenüber einer individualismusfeindlichen Interpretation à la Karl Popper (1992) in Schutz zu nehmen, erhalten dadurch für Rawls offenbar besondere Motivation und Relevanz. Die im Aufsatz zum overlapping consensus (1987) getätigte Darstellung von Hegels Idee der Rechtfertigung und wechselseitigen Anerkennung als Alternative zur Hobbesschen Traditionslinie des Liberalismus erfüllt in dieser Hinsicht etwa unzweifelhaft ihren Zweck. Mit Hegel ließ sich für Rawls dabei hypostasieren, dass in der modernen, liberalen Gesellschaft keine umfassenden (religiösen) Lehren mehr als Grundlage des Gemeinwesens fungieren, sondern der Pluralismus. Umso mehr aber sei es unter diesen Bedingungen die Aufgabe der Politischen Philosophie, gleichwohl Einheit und Konvergenz herzustellen, wobei Hegel hier in einer Reihe mit Rousseau für eine Orientierung an übergreifenden, historisch-kulturell vermittelten Werten stehe, während Kant oder Mill mit ihrem Eintreten für eine universale Moral diesbezüglich Schwierigkeiten aufwürfen (Rawls 1994, 300 f.). Im Recht der Völker wird Hegel dann explizit als spezieller Anhänger des Politischen Liberalismus (Rawls 2002, 161), nicht aber der Demokratie tituliert (ebd., 234 f.). Der Neuentwurf Gerechtigkeit als Fairneß nimmt Hegel anschließend neuerlich als Referenzautor in Anspruch, der sich der Aufgabe der Versöhnung der Politischen Philosophie gewidmet habe (Rawls 2006, 22), eine Auffassung, die gut zur These einer liberalen rechtshegelianischen Filiationslinie passt, die von Hegel zu Rawls führt (Hendrick 2019, 106– 146; dazu auch Lange 2009 und 2014). Ebenfalls im Neuentwurf Gerechtigkeit als Fairneß kehrt Rawls (2006, 67, FN 25) mit

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Hegel überdies zur religiös-politischen Frage zurück, deren Aufspaltung er als Konsequenz der Reformation und als Beginn des politischen Liberalismus auffasst. Durch die Brille Hegels gesehen, sei diese Entwicklung zweifellos positiv zu deuten, konnte sich dadurch doch ein kooperatives Verhältnis zwischen Kirche und Staat herauskristallisieren, welches das zuvor gewachsene Konkurrenzverhältnis zwischen Religion und Politik überwand. Hierzu bezieht sich Rawls auf § 270 in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (Hegel 1986, 415–431), eine Passage, die durch ihre Unterscheidung der Religion von staatlicher Zwangsgewalt und Autorität bei gleichzeitigem Festhalten an ihrer politischen, die Gemeinschaft ethisch qualifizierenden Dimension als intellektuelle Geburtsstunde der (politischen) Zivilgesellschaft gelten kann (Hidalgo 2020). Auf letztere spielt Rawls (2006, 223) offenbar auch an, wenn er an späterer Stelle zwischen der mit Privatinteressen verflochtenen „bürgerlichen Gesellschaft“, die Hegel in den Paragraphen 182– 256 der Grundlinien entfaltet (ebd., Anm. 12), und einem „politischen Leben“ in der Moderne unterscheidet, wie es im Anschluss vor allem Tocqueville und Mill konturiert hätten: im Sinne der Existenz eines gemeinsamen politischen Bereichs, der sich fern von staatlicher Zwangsmacht auf die Werteüberzeugungen der Bürger*innen gründet. Die Passagen im Political Liberalism (1993), die sich bereits zuvor eingängig mit Hegel konfrontieren, fügen sich in dessen eigenwillige politisch-liberale Interpretation nahtlos ein. So betont Rawls (2017, 21) die Sensibilität Hegels für den Umstand, dass der Pluralismus die Religionsfreiheit ermöglicht hat und nicht umgekehrt, womit sich die postreformatorische Ära vom „Willen“ Luthers und Calvins entfernt habe. Als Beleg hierfür dient Rawls abermals § 270 der Grundlinien der Philosophie des Rechts (mit einem expliziten Verweis auf den langen Zusatz, siehe Hegel 1986, 428–431). Zur Eigentümlichkeit von Hegels ,kommunitärem‘ politischem Liberalismus bekennt sich Rawls (2017, 59, FN 34) weiterhin, wenn er sowohl für dessen eigene Kritik an bloß formal ge-

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dachten Freiheitsrechten als auch für diejenige von ,linkshegelianisch‘ imprägnierten sozialistischen und marxistischen Autoren Verständnis aufbringt. In diesem Zusammenhang akzeptiert Rawls eine materiale, idealistisch-normative Dimension der Gerechtigkeit nicht nur für den von ihm selbst aufgestellten zweiten Grundsatz, sondern ebenso für den ersten und grenzt diese Normativität von einer „verarmte[n] Form des Liberalismus“ oder gar einer „libertäre[n] Position“ im Sinne Nozicks ab, deren Widerlegung er sich an anderer Stelle ausführlich widmet (ebd., 443–450). Dass auch die Grundfreiheiten des ersten Grundsatzes im Sinne Hegels nicht allein formal zu denken sind, wird dort ebenfalls ausgiebig entfaltet (ebd., 415–420). Als hegelianisch-kommunitaristische Zugeständnisse kann im Political Liberalism mithin die gesamte Konzeption der Person und der sozialen Kooperation gelten, eine Perspektive, die sich in den Aufsätzen der 1980er Jahre bereits herauskristallisiert hatte (Schwarzenbach 1991). Eine besondere Pointe hält schließlich die implizite Klammer bereit, die sich zwischen den explizit konträren Hegel-Interpretationen in der Theory of Justice und im Political Liberalism ergibt. Wie oben erwähnt, hatte Rawls Hegel ursprünglich als einen tendenziell antiegalitären Denker wahrgenommen, von dem er seine Gerechtigkeitskonzeption von 1971 abgrenzen wollte. Im Politischen Liberalismus aber rudert Rawls im Hinblick auf das Egalitätsprinzip nun selbst zurück, indem er nicht nur insgesamt den Vorrang der Grundfreiheiten/des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes klarer und ausführlicher fasst als zuvor (Rawls 2017, 8. Vorlesung), sondern indem er sich nun obendrein mit einem „völlig angemessenen System von Grundfreiheiten“ (ebd., 451–455) begnügt, anstatt sich unverändert für eine strikte Gleichverteilung von Grundgütern sowie den Superlativ des „umfangreichsten Systems gleicher Grundfreiheiten“ (Rawls 1998, 81) auszusprechen. Die in dieser Hinsicht erkennbar ,liberalere‘ Ausrichtung von Rawls im Political Liberalism gegenüber den sozialdemokratischen Avancen in der Theory of Justice wird hier insofern von der parallelen Annäherung an Hegel gesäumt, als Rawls in sei-

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nem Spätwerk offenbar eine geringere Notwendigkeit erkennt, eine womöglich nur formale Dimension der Grundfreiheiten durch strikte Egalität bzw. eine vom Differenzprinzip des zweiten Grundsatzes gedeckte Redistribution zu kompensieren. Die Verteidigung der Freiheit unter stärkerer Hintanstellung der Gleichheit lässt sich im Politischen Liberalismus somit nicht zuletzt mit Hegel flankieren.

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Kant Jakob Huber

Immanuel Kant (1724–1804) gilt weithin als einer der bedeutendsten Philosoph*innen der Neuzeit. Seine Überlegungen zu den subjektiven Bedingungen menschlicher Erkenntnis haben sich für die theoretische Philosophie als ähnlich bahnbrechend erwiesen wie seine Untersuchung der Bestimmungsgründe vernünftigen Handelns und der Möglichkeit menschlicher Freiheit für die praktische Philosophie. Ohne Zweifel ist Kant auch diejenige historische Figur, der sich John Rawls am engsten verbunden fühlt. In der Tat lassen sich bereits auf den ersten Blick eine Reihe struktureller und methodischer Ähnlichkeiten zwischen beiden Philosophien feststellen: ein Bekenntnis zum Primat der praktischen Vernunft und dem Vorrang des Rechten vor dem Guten etwa, oder eine Ablehnung ‚erster Prinzipien‘ als Rechtfertigungsgrundlage. Auch auf substantieller Ebene wird Rawls nicht müde, den kantischen Ursprung zentraler Ideen seiner Theorie zu betonen. So überrascht es nicht, dass er weithin als einschlägigster Neokantianer der Gerechtigkeitstheorie gilt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass Rawls’ Bezugnahme auf Kant komplex ist und im Lauf seines Werkes Veränderungen unterliegt, die wichtige Entwicklungen in Rawls’ eigenen Gedanken spiegeln. J. Huber (*)  Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

Kant in der Theorie der Gerechtigkeit Das Projekt der Theorie der Gerechtigkeit besteht darin, so Rawls, „die herkömmliche Theorie des Gesellschaftsvertrags von Locke, Rousseau und Kant zu verallgemeinern und auf eine höhere Abstraktionsstufe zu heben“ (Rawls 1979, 12). Gemäß dem Grundgedanken dieser Tradition ist eine politische Ordnung gerecht, insofern ihr freie vernünftige Personen aus einer Position der Gleichheit heraus zustimmen könnten. Rawls wendet diese Idee einer hypothetischen Übereinkunft an, um Grundsätze der Gerechtigkeit zu rechtfertigen. Dass Kants Ideen dabei eine besonders prominente Rolle zukommt, ist unstrittig – Rawls selbst scheint die Bedeutung zentraler kantischer Motive für sein Projekt jedoch erst Anfang der 1960er Jahre erkannt zu haben und damit zu einem Zeitpunkt, an dem sich die zentralen Bausteine seine Theorie schon formiert haben dürften (vgl. Bok 2017). In der Theorie der Gerechtigkeit finden sich prominente Bezüge zu Kant sowohl auf inhaltlicher wie rechtfertigungstheorischer Ebene. Einerseits argumentiert Rawls, der substantielle Kern seiner Theorie, d. h. das Argument für die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit, sei als eine Version der Kantischen Selbstzweckformel (GMS AA IV, 427–31) – also des Gebots, Personen niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich zu behandeln – zu verstehen

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_14

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(Rawls 1979, 205–210). Die zugrunde liegende kantische Konzeption moralischer Personen als freie und gleiche Vernunftwesen spielt eine prominente Rolle vor allem in Rawls, Utilitarismuskritik. Der Utilitarismus, so Rawls, verletze dieses kantische Prinzip, indem er die Würde einzelner gegen den größtmöglichen Nutzen abzuwägen erlaube. Rawls artikuliert diese Kritik von Beginn an mit den Begriffen des Urzustands: die Parteien würden das Nützlichkeitsprinzip nicht wählen, so Rawls, da sie nicht wüssten, ob sie Teil einer Minderheit sein würden, deren Interessen der Mehrheit geopfert werden. Auf ähnliche Weise werden etwa Ansätze, die Glückseligkeit oder Wohlergehen zur ‚Währung‘ der Gerechtigkeit machen, dafür kritisiert, dass sie Personen nicht ausreichend für ihre Zwecke und Handlungen verantwortlich halten. Das Gedankenexperiment des Urzustands bzw. die sich daraus ergebenden Grundsätze der Gerechtigkeit sollen jeder*jedem Bürger*in ausreichend Grundgüter zur Verfügung zu stellen, um ihre*seine Fähigkeit zu freiem und verantwortlichem Handeln zu realisieren. Nun ist es zunächst erstaunlich, dass die Wahl der Parteien im Urzustand – welche ja eine Wahl von Gerechtigkeitsprinzipien darstellt – aus Eigennutz erfolgt. Aus kantischer Perspektive ließe sich eine solche Wahl als ‚heteronom‘ beschreiben, scheint sie doch nicht aus den gebotenen moralischen Erwägungen zu erfolgen (GMS AA IV, 440–441). Dagegen ließe sich einerseits entgegnen, dass der Urzustand ja gerade so konstruiert sein soll, dass Eigeninteresse und Unparteilichkeit, instrumentelle und reine praktische Vernunft, zusammenfallen. Darüber hinaus ist die relevante autonome Entscheidung Rawls zufolge gar nicht die der Teilnehmer*innen des Urzustands, sondern die der Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft, den im Urzustand gewählten Prinzipien zu folgen. Rawls stellt also den (kantischen) Inhalt seiner Grundsätze als von den spezifischen Beschränkungen des Urzustands vorgegeben dar. Wie diese Beschränkungen selbst gerechtfertigt werden, ist eine unabhängige Frage, die Rawls in der ‚kantischen Interpretation‘ von Gerechtigkeit als Fairness in Kap. 40 der Theorie der Ge-

J. Huber

rechtigkeit beantworten möchte. Der Urzustand, so Rawls, lasse sich als „verfahrensmäßige Deutung von Kants Begriff der Autonomie und des kategorischen Imperativs im Rahmen einer empirischen Theorie“ (Rawls 1979, 289) auffassen. Die Bestimmung des Urzustands sei ein Versuch, die Vorstellung „selbstgegebener“ moralischer Gesetze zu konkretisieren bzw. auf das Gerechtigkeitsproblem anzuwenden (GMS AA IV, 441-4). Den Menschen im Urzustand fehlen auf Grund des Schleiers des Nichtwissens jene Kenntnisse, die es ihnen ermöglichen würden, heteronome Grundsätze zu wählen. Sie kommen daher zu einer gemeinsamen Entscheidung als freie und gleiche Vernunftwesen, die nur diejenigen Umstände kennen, die Gerechtigkeitsgrundsätze überhaupt nötig machen. Die Grundsätze der Gerechtigkeit, so der Gedanke, drücken bestmöglich unsere Autonomie – von Rawls bestimmt durch zwei ‚moralische Vermögen‘, einem wirksamen Gerechtigkeitssinn sowie die Fähigkeit, eine Konzeption des Guten zu entwickeln – aus. Die Grundsätze der Gerechtigkeit sind folglich gleichzeitig kategorische Imperative (GMS AA IV, 420-1), da sie für jede*n als freie und gleiche Vernunftwesen gelten und keine besonderen Wünsche und Ziele voraussetzen. Umstritten ist, was die kantische Interpretation zur Rechtfertigung von Gerechtigkeit als Fairness tatsächlich hinzufügt (Krasnoff 2015, 400 f.). Skeptiker*innen einer kantischen Lesart verweisen einerseits darauf, dass Rawls die kantische Interpretation als eine mögliche darstellt und die Beschränkungen des Urzustands lediglich unsere in ein Überlegungsgleichgewicht gebrachten wohlüberlegten Urteile bezüglich Gerechtigkeit in einer demokratischen Gesellschaft artikulieren. Deren Befürworter*innen entgegnen, die Rechtfertigung der Grundsätze der Gerechtigkeit müsse über eine bestreitbare soziologische Verallgemeinerung hinsichtlich geteilter Überzeugungen hinausgehen und sei letztlich auf einen metaphysischen Begriff praktischer Vernunft und moralischer Akteurschaft angewiesen. Rawls selbst scheint diesen Gegensatz zwischen einer eher vernunftbasierten und einer

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eher soziologischen Lesart von Beginn an abzulehnen. Der Vorstellung der Person als freie und gleiche könne nicht losgelöst werden von ihrer sozialen Rolle für Moral und Gerechtigkeit. Kants eigener Begriff der Autonomie sei nicht metaphysisch zu interpretieren, als einsame, zeitlose Wahl eines reinen Vernunftwesens, sondern auf die spezifischen Umstände moderner Gesellschaften zugeschnitten. Die sich darin bereits abzeichnende Spannung, welche Rawls’ Verhältnis zu Kant und die Binnenlogik seiner eigenen Theorie gleichermaßen betrifft, wird in seinen an die Theorie der Gerechtigkeit anschließenden Ausführungen zum ‚kantischen Konstruktivismus‘ noch deutlicher.

Konstruktivismus mit und gegen Kant In den Dewey Lectures „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ (Rawls 1992) bezeichnet Rawls den Konstruktivismus ganz allgemein als eine Methode, auf antirealistische Weise objektiv gültige Normen zu begründen. Moralische Aussagen sind demzufolge grundsätzlich wahrheitsfähig, ohne jedoch (wie etwa von Vertretern des ‚rationalen Intuitionismus‘ wie Sidgwick, Moore oder Ross behauptet) unabhängigen moralischen Tatsachen zu entsprechen oder „durch den Standpunkt des Universums vorgegeben“ (Rawls 1992, 155) zu sein. Stattdessen sind sie das Ergebnis eines Konstruktionsverfahrens, in das bestimmte Vorannahmen eingehen. Objektivität wird mit Bezug auf einen angemessen ‚konstruierten‘ gesellschaftlichen, das heißt öffentlich geteilten Standpunkt definiert. Es gibt keine Gründe der Gerechtigkeit jenseits der Gründe, die sich aus der Konstruktion ergeben (Rawls 1992, 148; vgl. auch O’Neill 2003). Was Rawls’ Art des Konstruktivismus zu einer spezifisch kantischen macht, ist eine bestimmte Konzeption der moralischen Person (mit den oben erwähnten zwei Vermögen), die Ausganspunkt und wichtigstes Element der Gedankenfigur darstellt. Das Konstruktionsverfahren (der Urzustand), in welchem derart repräsentierte Personen unter vernünftigen

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Bedingungen öffentlichen Gerechtigkeitsgrundsätzen zustimmen, verbindet die Konzeption der moralischen Person mit den daraus hervorgehenden Prinzipien. Diese sind allgemein verbindlich, gerade da sie (per Definition) von einem Standpunkt aus formuliert sind, den Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft öffentlich teilen. Rawls’ explizites Ziel ist es, die „kantischen Wurzeln“ (Rawls 1992, 80) seiner Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness genauer darzulegen. Dabei scheint er sich zunächst zu einem metaethischen Kantianismus hinsichtlich moralischer Aussagen schlechthin zu bekennen. Gleichzeitig betont Rawls jedoch, dass der spezifische, Gerechtigkeit als Fairness zugrunde liegende Konstruktivismus von Kants eigener Lehre in wichtiger Hinsicht abweicht (Rawls 1992, 131). Zentral ist in diesem Kontext die von Rawls betonte praktisch-gesellschaftliche Aufgabe der Gerechtigkeit: Es geht ihm nicht um das Wesen der praktischen Vernunft schlechthin und damit nicht um Grundsätze, die für „alle Gesellschaften unabhängig von ihren sozialen und historischen Umständen“ (ebd., 83) gültig sind. Gerechtigkeit als Fairness entwirft vielmehr gezielt eine Lösung für das Problem, dass es in modernen Gesellschaften Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich moralischer Fragen, insbesondere nach dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit, gibt. Die Theorie muss einer öffentlichen Rechtfertigung unter Personen dienen, die divergierende Konzeptionen des guten Lebens haben, so dass unter diesen eine „wirksame und faire soziale Kooperation“ (ebd., 142) möglich ist. Sie tut dies, indem sie „einen Vorrat gemeinsamer Grundbegriffe und stillschweigend für wahr gehaltener Grundsätze“ (ebd., 83) expliziert, ohne jedoch Antworten auf alle moralischen Fragen zu liefern. Rawls’ Argument in den Dewey Lectures wird damit häufig als Übergangsphase (Freeman 2003, 28) oder sogar Wendepunkt (Krasnoff 2015, 297) seines Denkens aufgefasst, hin zu einer stärkeren Abgrenzung gegenüber Kant, die sein späteres Werk charakterisiert. Rawls scheint zunehmend besorgt über die Möglichkeit einer auf allgemeiner Zustimmung basieren-

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den Stabilität unter Bedingungen eines Pluralismus der Weltanschauungen. Er geht davon aus, dass moderne Gesellschaften unweigerlich (das heißt, alleine auf Grund der Bürden des Urteilens im Vernunftgebrauch jeder Einzelnen) von einem vernünftigen Pluralismus von Konzeptionen des Guten – oder umfassenden Lehren, wie Rawls sie nun nennt – geprägt sind. Das zentrale Argument des Politischen Liberalismus (2003) ist nun einerseits, dass ein Konsensus über Fragen des Guten daher ausgeschlossen ist, so dass wir in dieser Hinsicht neutral bleiben müssen. Dies heißt andererseits aber nicht, dass wir unsere Hoffnung auf eine Einigung hinsichtlich allgemein akzeptierter Gerechtigkeitsprinzipien aufgeben müssen – solange wir dem Faktum des vernünftigen Pluralismus dabei Rechnung tragen. Gerechtigkeit als Fairness wird nun im Rahmen eines Politischen Liberalismus verteidigt, das heißt, auf Basis rein politischer Gründe. Der kantische Konstruktivismus wird im Zuge dessen als Grundlage einer Gerechtigkeitstheorie explizit zurückgewiesen. Als metaphysisch kontroverse, umfassende Lehre sei dieser ungeeignet, so Rawls, in einer pluralistischen Gesellschaft einen übergreifenden Konsens herzustellen. So könnte es Bürger*innen geben – Anhänger*innen bestimmter Religionsgemeinschaften etwa – die Gerechtigkeit als Fairness zwar billigen, jedoch nicht die kantische Rechtfertigung für diese. Rawls (2003) stellt der kantischen Form des Konstruktivismus daher eine genuin ‚politische‘ gegenüber. Diese bietet explizit keine Theorie moralischer Objektivität schlechthin, sondern zielt vielmehr darauf ab, die gesellschaftliche Grundstruktur für alle annehmbar zu machen, indem sie öffentlich als ausreichend anerkannte Gründe anführt. Diese Gründe selbst ergeben sich aus einem übergreifenden Konsens (vernünftiger) umfassender Lehren. Diese Idee basiert auf der Annahme, dass vernünftige Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft eine freistehende, politische Gerechtigkeitskonzeption jeweils aus ihren jeweiligen Weltanschauungen heraus affirmieren können (vgl. Scanlon 2003, 160). Während Kantianer*innen die politische Gerechtig-

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keitskonzeption aus autonomiebezogenen Gründen akzeptieren, können (zumindest Millsche) Utilitarist*innen dies tun, da sie den gesamtgesellschaftlichen Nutzen maximiert, ‚vernünftige‘ Katholik*innen, da sie ein göttliches Gesetz ausdrückt und Pluralist*innen können sie sich zu eigen machen, da sie schlicht eine Rechtfertigung anbietet, die eben genau nicht auf einer umfassenden Lehre beruht. Letztlich bleibt Rawls’ Theorie daher auch nach seiner Abkehr von Kant in einer wichtigen Hinsicht von Kant inspiriert. Zentrales Element des übergreifenden Konsenses bildet nämlich weiterhin die zuvor als kantisch bezeichnete Konzeption der Person als frei, gleich und vernunftbegabt. Rawls versteht sie nun jedoch nicht mehr als Teil einer metaphysischen Theorie, die Moral in der praktischen Vernunft begründet, sondern als einen Begriff der Bürger*innen, welcher der demokratischen Tradition und Kultur immanent, also historisch und soziologisch kontingent, ist. Solange Bürger*innen diese Konzeption der Person affirmieren, können sie auch den beiden Grundsätzen der Gerechtigkeit zustimmen.

Rawlsianscher Kantianismus? Obgleich Rawls häufig betont, seine Ideen seien kantisch aber nicht Kants Ideen, ist die Grenze zwischen Interpretation, Aneignung und Weiterentwicklung häufig fließend. Dies wird besonders deutlich in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Moralphilosophie (2004), in denen er unter anderem eine detaillierte Exegese von Kants praktischer Philosophie vorlegt. Während Rawls darauf besteht, den Geist von Kants Ideen zu bewahren, wenn er diese mit seinem eigenen begrifflichen Instrumentarium verwebt, werfen ihm Kritiker*innen vor, sie dabei in entscheidender Weise zu verändern (vgl. z. B. Budde 2007). Rawls kritische Rekonstruktion ist geprägt von einer grundlegenden Skepsis gegenüber Kants praktischer Metaphysik und deren ‚Dualismen‘. Aus einer (von Kants hegelianischen Kritiker*innen bekannte) Sorge über

14 Kant

Kants „leere und unfruchtbaren Formalien“ entscheidet er sich, „die Rolle des Apriori und Formalen herunter[zu] spielen“ (Rawls 2004, 360) und diese durch empirische Elemente zu ergänzen. In der Interpretation des kategorischen Imperativs äußert sich dies dahingehend, dass das moralische Gesetz durch ein (offensichtlich nach dem Urzustand modellierten) ‚Entscheidungsverfahren‘ auf spezifisch menschliche Bedürfnisse angewendet werden müsse. Moralische Deliberation gleiche einer rationalen Entscheidungsprozedur, in der sich Akteur*innen fragen, ob sie wollen können, dass ihre jeweiligen Handlungsmaxime als allgemeines Gesetz in einer ‚angeglichenen sozialen Welt‘ gelte. Moralisches Handeln wird so als durch Rationalität eingeschränkte Zweckverfolgung konzipiert. Diese Lesart hat sich in der Folge – nicht zuletzt durch Rawls’-Schüler*innen wie Christine Korsgaard, Andrews Reath oder Barbara Herman – zu einer verbreiteten Position gerade in der anglophonen Kantforschung entwickelt. Ihren Anhänger*innen zufolge erlaubt das ‚KIVerfahren‘ es Akteur*innen, ihre individuellen Zwecke als Gut zu verstehen; das Gute existiert im Umkehrschluss nur als Eigenschaft von Maximen rational Handelnder. Kritiker*innen weisen darauf hin, dass diese Interpretation Kants grundlegende Unterscheidung zwischen instrumenteller und reiner praktischer Vernunft auflöst und damit letztlich außer Stande ist, der Unbedingtheit moralischen Sollens gerecht zu werden (vgl. z. B. Langton 2007). Moralität ist nicht als perfektionierte Form der Zweckrationalität zu verstehen, sondern verlangt uns ab, die Ansprüche anderer Akteur*innen unmittelbar anzuerkennen. Darüber hinaus beklagen Interpret*innen insbesondere von Kants politischer Philosophie, Rawls’ semi-politische Lesart des kategorischen Imperativs verschleiere die Unterscheidung zwischen Kants Ethik und seiner politischen Philosophie (z. B. Flikschuh 2009). So sind Prinzi-

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pien des Rechts im Gegensatz zum Moralgesetz gerade nicht selbstgegeben, sondern entspringen der Autorität des Gesetzgebers. Für Kant haben Freiheitsgesetze (einschließlich Grundsätze der Gerechtigkeit) nicht Geltung, da wir ihnen zustimmen, sondern wir stimmen ihnen (autonom) zu, da sie a priori (vernunftbasiert) Geltung beanspruchen. Rawls’ Voluntarismus, der sich in der Idee einer Republik der Mitgesetzgeber*innen spiegelt, zeugt daher eher von Rousseaus denn von Kants Einfluss.

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Locke Christian Spieß

John Locke (1632–1704) wird an mehreren Stellen von Rawls ausdrücklich als Referenzautor hervorgehoben. Insbesondere für die Theorie der Gerechtigkeit wird die „Idee des Gesellschaftsvertrags, wie wir sie bei Locke, Rousseau und Kant finden“ als Ausgangspunkt genannt (Rawls 2003, 34). Allerdings kann Lockes politische Philosophie gerade im Hinblick auf die Architektur der Vertragstheorie nur in einem sehr allgemeinen Verständnis als Vorbild für den neokontraktualistischen Ansatz von Rawls gelten. Die – freilich nicht immer affirmative, sondern häufig auch in kritischer Distanzierung durchgeführte – Rezeption der politischen Philosophie von Locke durch Rawls lässt sich auf vier Themenbereiche beziehen: 1). auf das liberale Grundanliegen der Legitimation politischer Herrschaft; 2). auf das damit in der liberalen Tradition verschränkte Anliegen der Limitation politischer Herrschaft; 3). auf das Spannungsverhältnis von Freiheit und Gleichheit; 4). auf den Zusammenhang von Eigentum und fairer demokratischer Beteiligung.

C. Spieß (*)  Katholische Privat-Universität Linz, Linz, Österreich E-Mail: [email protected]

Legitimation politischer Herrschaft Locke entfaltet seine Konzeption der Rechtfertigung politischer Herrschaft im zweiten der beiden 1689 (anonym) veröffentlichten, aber in Teilen bereits einige Jahre früher (um 1680) verfassten Two Treatises of Government (Locke 1998) unter dem Titel „Essay concerning the True Original, Extend, and End of Civil Government“. Das ist zwar nicht der einzige, aber sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht der bei weitem wichtigste Bezugstext für die Locke-Rezeption von Rawls. Anhand dreier für ihn wesentlichen Gesichtspunkte politischer Herrschaft – ihrem Ursprung, ihrer Reichweite und ihrem Zweck – bestimmt Locke bereits in wesentlichen Grundzügen die Legitimation und Limitation des modernen bürgerlichliberalen Staates. Er bedient sich dabei der kontraktualistischen Argumentationsfigur. Der Weg aus dem Lockeschen Naturzustand, der geprägt ist von Freiheit und Gleichheit sowie von einem natürlichen Gesetz, führt über einen Kriegszustand, der allerdings nicht als bellum omnium contra omnes wie zuvor bei Thomas Hobbes konzipiert ist (vgl. Hobbes 1996, 102–107), in den Vertragszustand. Während bei Hobbes das Streben des Menschen nach Verwirklichung des natürlichen ius in omnia et omnes in den Konflikt führt (vgl. Hobbes 1994, 82 f.), sind es bei Locke gerade die Verstöße gegen das natürliche Gesetz, mit denen sich Menschen ­ gegenüber

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_15

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anderen in den Kriegszustand versetzen (vgl. Locke 1998, §§ 17 f.). Der Angreifer – also derjenige, der Leben, Gesundheit, Selbstbestimmung oder Eigentum (vgl. Locke 1998, §  6) eines anderen Menschen beeinträchtigt oder angreift – verwirkt sogar selbst seine Rechte (vgl. Locke 1998, §§ 17 f.). Wichtig ist die deutliche Unterscheidung zwischen Naturund Kriegszustand, also zwischen einem Zustand der intakten natürlichen Rechte, des Friedens, des Wohlwollens, der gegenseitigen Hilfe und Erhaltung, in dem die Menschen „nach der Vernunft zusammenleben“ (Locke 1998, § 19) einerseits und einem Zustand der defekten natürlichen Rechte, der Feindschaft, der Bosheit, der Gewalttätigkeit andererseits. Es ist – jedenfalls nach Rawlsʼ Auffassung – geboten, Lockes Vertragstheorie als grundlegende Kritik der absolutistischen Königsherrschaft zu lesen, die nicht mit einer legitimen Regierungsform zu vereinbaren sei. Locke unterscheidet in der Zweiten Abhandlung über die Regierung (§§ 90– 94) den Naturzustand seiner eigenen Konzeption von einem durch den Absolutismus herbeigeführten unbeschränkten Naturzustand; im Gegensatz zu Hobbes glaube Locke, so Rawls, dass „der (königliche) Absolutismus […] noch schlimmer [sei] als der Naturzustand“ (Rawls 2012, 170).

Limitation politischer Herrschaft Für die Rezeption der Lockeschen Vertragskonzeption (und der Vertragstheorien im Allgemeinen) ist dies deshalb von Bedeutung, weil sich hier deutlich zeigt, wie scharf Rawls zwischen den unterschiedlichen Vertragstheorien unterscheidet. Im Hinblick auf Locke – und gegen Hobbes – hebt Rawls vor allem die Konzeption der Naturzustandsbewohner*innen als freie und gleichberechtigte, vernünftige und rationale Personen hervor. Nur aus der Zustimmung dieser so konzipierten regierten Personen, die im Naturzustand „alle sozusagen das gleiche Maß an Souveränität über sich selbst haben“, kann eine legitime Regierung hervorgehen, womit die absolutistische Königs-

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herrschaft als legitime Regierungsform ausgeschlossen und „der Widerstand gegen die Krone in einem gemischten Verfassungssystem gerechtfertigt wird“ (Rawls 2012, 171). Rawls erklärt diese durchaus konkrete politische Stoßrichtung der heute meist als abstrakte politischphilosophische Theorie gelesenen Vertragstheorie von Locke mit dem Hinweis auf die historische Situation und Lockes Involviertheit in die Auseinandersetzungen der Exclusion Crisis (1679–1682). Locke engagierte sich auf Seiten der Whigs gegen Karl II. bzw. gegen den (katholischen) Thronfolger Jakob II. und damit gegen die Etablierung einer absolutistischen Königsherrschaft mit französischer Unterstützung. Bei der Lektüre von Lockes Vertragstheorie „sollten wir uns darüber im klaren sein, daß Locke an zunehmend gefährlichen politischen Angelegenheiten beteiligt war“ (Rawls 2012, 172). Die Zweite Abhandlung war also auch politische Parteischrift gegen die absolutistische Königsherrschaft und für ein Verfassungssystem, zu dessen Grundlagen bereits das Majoritätsprinzip, ein Gewaltmonopol, eine (zwar nicht voll ausgereifte) Gewaltenteilung (insofern Exekutive und Legislative sich gegenseitig kontrollieren können, um eine Machtkonzentration zu verhindern) und eine mehr oder weniger strikte Limitation staatlicher Gewalt (nämlich deren Bindung an den Vertragszweck der Sicherung von Leben, Freiheit und Eigentum der Vertragspartner*innen) gehörte (vgl. Spieß 2004, 32–36). Erst angesichts dieser Konfrontationsstellung Locke versus Hobbes (bzw. versus absolutistische Königsherrschaft) und der mit dem Lockeschen Naturzustandsdesign verbundenen Ausstattung der Naturzustandsbewohner als freie und gleiche, rationale und vernünftige sowie autonome Personen gewinnt James Buchanans kritischer Gegenentwurf Plausibilität: Er entwickelte gegen Rawlsʼ Theorie der Gerechtigkeit als Fairness seine Vertragstheorie im Anschluss an (die Naturzustandskonzeption von) Hobbes und mit dementsprechend divergenten Konsequenzen für den Vertragszustand bzw. für die Bedeutung der natürlichen Verteilungssituation für den konstitutionellen Zustand (vgl. Buchanan 1984).

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Im konstitutionellen Zustand treten die Individuen dann wieder in den Kampf aller gegen alle ein, wenn auch nun dank des konstitutionellen Abrüstungsvertrags in einem rechtlich (sparsam) eingehegten Rahmen (bei bleibender Defektionsgefahr). Rawls dagegen schließt eindeutig und ausdrücklich an Locke an, wenn er davon ausgeht, dass „Personen zu einer gewissen natürlichen Tugend fähig sind und sich nicht in Widerstand und Revolution engagieren, solange nicht ihre soziale Position in der Grundstruktur ernsthaft ungerecht ist […]“ (Rawls 1992, 221). Auch in der damit zusammenhängenden wichtigen Unterscheidung zwischen der „Macht des Volkes, sich eine Verfassung zu geben“, also eine grundlegende Ordnung zu etablieren, und der „gewöhnlichen Macht der Inhaber staatlicher Ämter und der Wählerschaft in ihrer Tagespolitik“, schließt Rawls an Lockes Zwei Abhandlungen an (Rawls 2003, 334). Dem entspricht die stets sehr vorsichtige und gewissermaßen defensive Argumentation von Rawls in Bezug auf das Widerstandsrecht und den zivilen Ungehorsam (vgl. Rawls 1998, 399–430).

Freiheit und Gleichheit Während Rawls bei der Unterscheidung zwischen einer Naturzustands- und Vertragskonzeption Hobbesscher Prägung und jener Lockescher Prägung eindeutig an Locke anschließt, verhält es sich bei der Unterscheidung zwischen Locke und Rousseau etwas anders. Hier versucht Rawls abzuwägen zwischen den beiden für Locke einerseits und Rousseau andererseits maßgeblichen Orientierungen bzw. Anliegen. Es geht um die „zutiefst umstrittenen Vorstellungen darüber, wie die Werte der Freiheit und Gleichheit am besten in den Grundrechten und Freiheiten der Bürger zum Ausdruck gebracht werden, so daß sie sowohl die Forderungen der Freiheit als auch die der Gleichheit erfüllen“ (Rawls 2003, 68). Rawls skizziert diese „Meinungsverschiedenheit als einen Konflikt innerhalb der Tradition des demokratischen Denkens selbst“ (Rawls 2003, 68), in dem die (an Locke anschließende) vorrangige Orientierung an Ge-

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danken- und Gewissensfreiheit, freiheitliche Grundrechte und das Eigentumsrecht der Person sowie Rechtsstaatlichkeit auf der anderen Seite und die (an Rousseau anschließenden) vorrangige Orientierung an den gleichen politischen Rechten und Freiheiten sowie an den Werten des öffentlichen Lebens auf der anderen Seite konkurrieren. Die Antwort auf die Frage, wie die politische Philosophie eine gemeinsame Basis für die institutionelle bzw. strukturelle Sicherung der demokratischen Freiheit und Gleichheit finden kann, ist im Grunde die Pointe der Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness (vgl. u. a. Rawls 2003, 72). Rawls versucht, die liberale Position weiterzuentwickeln, indem er an beide Konzeptionen der politischen Philosophie anschließt, um „dann zu zeigen, wie die Grundfreiheiten und ihr Vorrang als Teil der fairen Bedingungen sozialer Kooperation den Bedingungen entspricht, die diese Konzeptionen selbst auferlegen“ (Rawls 1992, 174). Die erste damit verbundene Absicht ist, dass eine geteilte öffentliche Gerechtigkeitskonzeption, die der Vorstellung der Bürger*innen als freie und gleiche Personen angemessen ist, zur Grundlage der sozialen Einheit wird – und damit eine geteilte religiös oder weltanschaulich begründete Konzeption des Guten ablöst (vgl. ebd.). Die zweite Absicht ist, dass Freiheit und Gleichheit konzeptionell aufeinander verweisen bzw. miteinander verschränkt gedacht werden. So lassen sich zwar die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze einfach den Begriffen der Freiheit (erster Grundsatz) bzw. der Gleichheit (zweiter Grundsatz) zuordnen. Rawls betont aber, dass jeder der beiden Grundsätze die Institutionen eines bestimmten Bereichs nicht nur im Hinblick auf Rechte, Freiheiten und Chancen, sondern auch im Hinblick auf die Forderungen nach Gleichheit ordnet (Rawls 2003, 69 f.). Zwar besitzt der erste Grundsatz Vorrang vor dem zweiten, aber die Inhalte des ersten Grundsatzes werden bereits unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit betrachtet: Rawlsʼ egalitärer Liberalismus schließt bereits im Freiheitsverständnis des ersten Grundsatzes „die Garantie des fairen Werts der politischen Freiheiten“ ein, „so daß diese nicht nur formal bleiben“ (ebd., 70). Damit aber

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geht Rawls über das Freiheitsverständnis von Locke und insbesondere über dessen Verständnis des Zusammenhangs von Eigentum und Demokratie hinaus.

Eigentum und Klassenstaat Für Locke war die Legitimität von Eigentum eine zentrale Frage; mit seiner Bearbeitungstheorie hat er eine äußerst einflussreiche Eigentumstheorie vorgelegt. Auch bei Rawls ist die Verteilung von sozioökonomischen Gütern, von „Einkommen und Vermögen“, einerseits Gegenstand des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes bzw. des Differenzprinzips (vgl. beispielsweise Rawls 1998, 336). Andererseits ist das grundsätzliche „Recht auf persönliches Eigentum“ als Grundfreiheit Gegenstand des ersten Grundsatzes. Über bestimmte Arten des Eigentums oder über eine Eigentumsordnung ist damit noch nichts gesagt. Vielmehr erläutert Rawls, dass aus dem Recht auf persönliches Eigentum keineswegs auf die Vorzugswürdigkeit einer auf Privateigentum beruhenden Wirtschaftsordnung gegenüber einer Wirtschaftsordnung, die auf Gemeineigentum, öffentlichem oder staatlichem Eigentum an Produktionsmitteln beruht, geschlossen werden könne (vgl. Rawls 1998, 298– 308). Vielmehr lässt Rawls diese Frage ausdrücklich offen, weil sie seines Erachtens nicht Gegenstand einer auf grundsätzliche Fragen konzentrierten Theorie sein kann – was für eine liberale Theorie durchaus bemerkenswert ist, von Rawls aber auf die Eigentumstheorie von Locke zurückgeführt wird (vgl. Rawls 2012, 215–240). Unverzichtbar sei zwar „ein System von Märkten […], auf denen sich Preise frei gemäß Angebot und Nachfrage bilden“ (Rawls 1998, 304). Aber ein solches Marktsystem lasse sich – einschließlich freier Berufswahl, Dezentralisierung ökonomischer Macht, Chancengleichheit etc. – sowohl in einem privatwirtschaftlichen als auch in einem sozialistischen System realisieren (vgl.ebd., 304). In Rawlsʼ Auseinandersetzung mit der Eigentumsfrage bei Locke geht es nicht um die Eigentumstheorie als solche, sondern um die demokratietheoretischen

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Implikationen der Verteilung von Eigentum und Besitz. Rawls nimmt an, dass Lockes Vertragstheorie einen Klassenstaat zumindest nicht ausschließe, insofern nur Personen, die über ein gewisses Eigentum verfügen, wählen können. „Diese Eigentumsbesitzer sind […] die aktiven (im Gegensatz zu den passiven) Bürgern. Sie sind die einzigen Bürger, die politische Autorität wahrnehmen“ (Rawls 2012, 215). Rawls fragt, ob dieser „Klassenstaat“ mit Lockes Lehre zu vereinbaren ist, ob also eine solche eigentumsindizierte Unterscheidung aktiver und passiver Bürger*innen im Rahmen einer idealen historischen Entwicklung durch freie Zustimmung zustande kommen könnte. Rawls Antwort lautet: Ja, dies kann der Fall sein. Und aus dieser Diagnose, die „ein beunruhigendes Merkmal von Lockes Theorie zutage“ fördert (Rawls 2012, 239), resultiert die Einsicht in die Notwendigkeit, einen Weg zu finden, „um Lockes Vertragstheorie zu verbessern“ (Rawls 2012, 239). Um welche Verbesserung handelt es sich hier? Rawls’ Analyse von Lockes Theorie des Vertragsschlusses kann hier nur grob skizziert werden (vgl. Rawls 2012, 215–240). Er geht davon aus, dass der Gesellschaftsvertrag drei Kriterien erfüllen muss, nämlich 1). individuelle Rationalität (d. h. er muss aus Sicht aller Einzelnen vorteilhaft sein), 2). kollektive Rationalität (d. h. er muss das Pareto-Kriterium erfüllen) und 3). Koalitionsrationalität (d. h. er muss aus der Perspektive unterschiedlicher Gruppen, die sich dadurch unterscheiden, dass ihre Mitglieder Eigentum besitzen bzw. nicht besitzen, vorteilhaft sein). Rawls geht in seiner Analyse davon aus, dass es nur zwei solcher Gruppen gibt, nämlich jene, die bei Locke durch einen Besitz von mindestens 40 Schilling als aktive, wahlberechtigte Bürger klassifiziert sind, und jene, die weniger als 40 Schilling und keine Wahlberechtigung besitzen. Unter diesen Bedingungen gibt es vier Varianten in Bezug auf den Vertragsschluss: (a) den Klassenstaat (mit Stimmrecht ab 40 Schilling), (b) den demokratischen Staat mit allgemeinem Wahlrecht, (c) die Aufspaltung in zwei Staaten, nämlich einen Staat der Personen mit (genügend) Eigentum und einen Staat der Personen ohne

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(genügend) Eigentum, (d) die Beibehaltung des Status quo, also das Verbleiben im Naturzustand. Die Besitzenden, so nimmt Rawls an, weigern sich, dem demokratischen Staat zuzustimmen (und Locke scheint keinen systematischen Einwand gegen diese Weigerung zu haben). Die Besitzlosen haben also die Wahl zwischen den drei übrigen Varianten und würden unter diesen Umständen wohl den Klassenstaat bevorzugen. Wenn also der Klassenstaat „X“ als Gesellschaftsvertrag vorgeschlagen ist, liegt gemäß der oben skizzierten Kriteriologie (1.) individuelle Rationalität vor, wenn X für alle Einzelpersonen gegenüber dem Naturzustand vorzugswürdig ist, liegt (2.) kollektive Rationalität vor, wenn X paretooptimal ist, insofern keine gegenüber X bessere Alternative Y zur Verfügung steht, und liegt (3.) Koalitionsrationalität vor, wenn X gegenüber anderen möglicherweise realisierbaren bzw. durchsetzbaren Varianten aus Sicht der beiden Koalitionen vorzugswürdig ist. Die Koalitionen haben unter den vier oben genannten Varianten die folgenden Präferenzen: Die Besitzenden bevorzugen Klassenstaat gegenüber der Abspaltung, die sie wiederum dem demokratischen Staat und zuletzt dem Naturzustand vorziehen. Die Besitzlosen präferieren den demokratischen Staat vor dem Klassenstaat, den sie wiederum der Abspaltung und zuletzt dem Naturzustand vorziehen würden. Die Besitzlosen können den für die Koalition der Besitzenden nicht zustimmungsfähigen demokratischen Staat nicht durchsetzen und könnten die Abspaltung, die für sie weniger attraktiv wäre als der Klassenstaat, nicht verhindern, schließen sich also dem Klassenstaat als für sie günstigste erreichbare Variante an. Deshalb kann Lockes Gesellschaftsvertrag mit einer auf Besitzende beschränkte Wahlberechtigung („ab 40 Schilling“) zustande kommen. Rawls analysiert, dass dies aufgrund von Lockes vertragstheoretischen Rechtfertigungsdesigns möglich ist. Locke geht von Einzelpersonen aus, die ihren gesellschaftlichen Status und ihre besonderen sozioökonomischen Interessen kennen. Die Bestimmungen des Lockeschen Gesellschaftsvertrags hängen also nicht nur von

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(historischen) Zufällen ab, sondern auch von den Vertragsverhandlungen eigentlich äußerlichen Verhandlungsvorteilen einiger Personen bzw. einer beteiligten Koalition. Die Vertragspartner treten also nicht nur als freie und gleiche sowie rationale und vernünftige Personen in die Vertragssituation ein, sondern auch als Personen, die sich in der einen oder anderen sozioökonomischen Situation befinden, über mehr oder weniger oder kein Eigentum verfügen und darum wissen. Weil Rawls aber eine Theorie des fairen Gesellschaftsvertrags ausarbeiten möchte, d. h. eine Konzeption ohne einseitige Verhandlungsvorteile, muss er ein Verfahren finden, das von derartigen Zufällen und Verhandlungsvorteilen nicht deformiert wird. Vor diesem Hintergrund, also aus der Auseinandersetzung mit der Vertragstheorie von Locke generiert Rawls deshalb die Idee des Schleiers des Nichtwissens, mit der gerade das zentrale Problem an Lockes Vertrag, nämlich den auf historischen Zufällen beruhenden Verhandlungsvorteil eines Teils der Vertragspartner, vermieden werden kann. Insgesamt ist Locke ein wichtiger Referenzautor für Rawls. Er stellt speziell mit seiner Vertragstheorie ein wertvolles Instrument für die Bearbeitung von Fragen der Begründung, der Reichweite und des Zwecks politischer Herrschaft. Im Hinblick auf die Legitimation und Limitation staatlicher Gewalt nutzt Rawls vor allem eine Unterscheidung Lockes gegenüber Hobbes, im Hinblick auf den Aspekt der Gleichheit vor allem eine Unterscheidung Lockes gegenüber Rousseau. Dabei setzt er sich schließlich von Locke ab. Bei der Konstruktion seines eigenen vertragstheoretischen Modells weist Rawls dann grundsätzliche Defizite von Lockes Konzeption im Hinblick auf Eigentum und Klassenstaat aus. Der veil of ignorance ist maßgeblich von der Auseinandersetzung mit Lockes Vertragstheorie inspiriert: Nur mit einem solchen Schleier des Nichtwissens lassen sich historische Zufälligkeiten und unfaire Verhandlungspositionen beim Vertragsschluss, wie sie für Locke kennzeichnend sind, vermeiden.

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Literatur Buchanan, James: Die Grenzen der Freiheit. Zwischen Anarchie und Leviathan. Tübingen 1984 (engl. 1975). Hobbes, Thomas: Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III, Hamburg 1994. Hobbes, Thomas: Leviathan. Hamburg 1996 (engl. 1651). Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1689) [alle im Text angegebenen Verweise auf Paragraphen beziehen sich auf die Zweite Abhandlung über die Regierung]. Rawls, John: Der Vorrang der Grundfreiheiten. In: Ders.: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze

C. Spieß 1978–1989. Hg. Wolfgang Hinsch. Frankfurt a. M. 1992 (engl. 1983). Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 101998 (engl. 1975). Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 2003 (engl. 1993). Rawls, John: Geschichte der politischen Philosophie. Frankfurt a. M. 2012 (engl. 2007). Spieß, Christian: Sozialethik des Eigentums. Philosophische Grundlagen – kirchliche Sozialverkündigung – systematische Differenzierung. Münster 2004.

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Marx Michael Roseneck

Karl Marx, 1818 in Trier geboren und 1883 in London verstorben, kann als ein bis dato einflussreicher Sozialphilosoph angesehen werden. Mit Rawls verbindet ihn, so mag es zunächst scheinen, Weniges. Denn während Marx, von einer notwendigen historischen Evolution hin zu einer gerechten Gesellschaft ausgehend, primär eine kritische Analyse des Kapitalismus und seiner Widersprüche vornimmt (vgl. MEW 19, 335), arbeitet Rawls (1975, 540 f.) als dezidiert normativer Theoretiker die Struktur und Rechtfertigungsgrundlage einer wohlgeordneten, demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft aus. Gleichwohl interpretiert Rawls (2008, 21, 462 f.) Marx durchaus auch als einen Gerechtigkeitstheoretiker und behandelt daraufhin seine Werke als Literatur philosophischen Genres. Dies tut er teilweise distanziert, jedoch nicht notwendigerweise ablehnend. Der Bezug auf Marx dient ihm vielmehr dazu, seine eigenen Ausführungen auf möglicherweise berechtigte Kritikpunkte hin zu überprüfen und zu schärfen.

M. Roseneck (*)  Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected]

Die kapitalistische Klassengesellschaft als Ausbeutungsund Herrschaftsverhältnis Um Marx’ Werk als eine inspirative Ressource und Vergleichsfolie zu nutzen, ist es Rawls (2008, 465, 477) zufolge hilfreich, sich die kritische Stoßrichtung von Marx’ Arbeitswerttheorie zu vergegenwärtigen, nach der die kapitalistische Gesellschaft als ein Ausbeutungsund Herrschaftsverhältnis zu begreifen ist; dies selbst dort, wo die idealen Rahmenbedingungen eines freien, kompetitiven Marktes ohne verzerrende Faktoren wie Monopole oder Kartelle vorliegen. Damit positioniert sich Marx im Widerspruch zur klassischen Ökonomie Smiths oder Mills. Diese bewertete nämlich den freien Markt, vermittelt über den Mechanismus der „unsichtbaren Hand“ (Smith 1973, 43), als eine Institution, die zu einer*eines jeden Vorteil gereicht (Mill 1968, 365). Im Wertschöpfungsprozess, so Marx dagegen, erbringt das Proletariat nicht nur Arbeit, die zu seiner Reproduktion gereicht, sondern es leistet Mehrarbeit, die sich Kapitalist*innen aneignen (MEW 23, 231–237). Insofern ist die kapitalistische Form der Wertschöpfung was ihre Funktion anbelangt keineswegs normativ besser zu bewerten als etwa die Feudal- oder Sklavengesellschaft. „[E]s bleibt immer das alte Verfahren des Eroberers“ (ebd., 608). Was jedoch u. a. den Ausbeutungscharakter kapitalistischer

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_16

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Gesellschaften verdeckt, ist, dass das Proletariat im negativen Sinn frei über seine Arbeitskraft verfügen kann (MEW 23, 181 f.; vgl. Linß 2014, 124). Es kann, quasi geschützt durch rechtstaatlich garantierte Freiheitsrechte, wie dem auf Freizügigkeit oder freie Berufswahl, vermeintlich nach seinem ureigenen freien Willen seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anbieten, während Kapitalist*innen, geschützt durch Rechte wie dasjenige auf Privateigentum an Produktionsmitteln, diese Arbeitskraft mieten können. Eine solch liberale Interpretation des freien Markts scheitert gleichwohl an der Realität. Denn freie Märkte neigen etwa zur Kartell- und Monopolbildung (MEW 23, 654–658), was dazu führen kann, dass eine Masse von Arbeiter*innen vergleichsweise wenigen Arbeitsplätzen gegenübersteht. Phänomene wie die Automatisierung manueller Arbeit, die „schöpferische Zerstörung“ (Schumpeter 2018, 113–119) durch Innovation oder die Abwanderung des Kapitals in sogenannte Billig-Lohn-Länder bedingen dies ebenfalls. So agiert der*die Proletarier*in auf dem freien Arbeitsmarkt, unter dem Damoklesschwert der Arbeitslosigkeit stehend, in einem positiven Begriffsverständnis unfrei (MEW 4, 465). Kodifizierte negative Freiheitsrechte können dabei allein schon deswegen nicht emanzipativ wirken, weil sie aufgrund ihres hohen Abstraktionsniveaus nicht der gegebenen Diversität „wirkliche[r] Menschen“ (MEW 1, 361) hinreichend Beachtung schenken. Es mögen zwar in liberalen Demokratien gleiche politische Beteiligungsrechte den Anschein erwecken, alle Bürger*innen verfügten über die gleichgroße Kompetenz, die Grundstruktur und weitere soziale Entwicklung mitzubestimmen. Ähnlich zu den klassisch liberalen Freiheitsrechten verdecken aber auch die kodifizierten Partizipationsrechte faktische Unfreiheit (MEW 4, 464, 467). Da das (potenziell am Existenzminimum existierende) Proletariat nämlich primär mit seiner Lebenssicherung befasst ist, kann es die ihm zugesprochenen Partizipationsrechte nicht effektiv nutzen. Mehr noch: Indem die kapitalistische Klasse über Produktionsmittel und umfangreiche finanzielle

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Ressourcen zugunsten von Investitionen verfügt, kann sie willkürlich bestimmen, wohin sich Gesellschaften, zumindest im Bereich des Ökonomischen, entwickeln. Welches Bild einer gerechten Gesellschaft könnte man im Anschluss an Marx dem entgegensetzen, das auch für eine Rawlssche Gerechtigkeitstheorie zur Selbstvergewisserung dienen kann? Da Marx kein Gerechtigkeitstheoretiker im engen Sinne ist, der konstruktiv eine gerechte Grundstruktur begründet, ist hinsichtlich der Beantwortung dieser Frage eine gewisse Interpretationsleistung vonnöten. So nähert sich Rawls (2008, 493–495) in seinen Vorlesungen zur Geschichte der politischen Philosophie Marx’ implizitem Gerechtigkeitsverständnis, indem er im Anschluss an dessen politische Ökonomie ex negativo darstellt, was keine legitime Rechtfertigungsgrundlage einer gerechten Grundstruktur bilden könne: (1) Gegen voluntaristische, auf der negativen Freiheit des Individuums beruhende Gerechtigkeitskonzeptionen ist einzuwenden, dass diese u. a. insofern normativ defizitär sind, als die aktuale Zustimmung unter nötigenden sozialen Bedingungen zustande kommen kann. Hierbei wird also das Problem von Zwang und Beherrschung verkannt, z. B. in Form der Bedrohung durch Arbeitslosigkeit auf einem kompetitiven Arbeitsmarkt. (2) Leistungsgerechte Konzeptionen verkennen analog zum Abstraktionsgrad klassisch liberaler Freiheitsrechte die Verschiedenheit „wirkliche[r] Menschen“ (MEW 1, 361). Dieses Unvernehmen gegenüber der Pluralität des Menschen kann insbesondere für diejenigen zum Problem werden, die nicht die zu ihrer Selbstversorgung notwendige Leistung aufbringen können. (3) Marx verbindet seine Gerechtigkeitsvorstellung eng mit seiner ökonomischen Theorie. Daraus kann abgeleitet werden, dass die Frage nach Gerechtigkeit nicht in einer unrealistischen Utopie enden darf, sondern sich auch der „materiellen Bedingungen“ (Rawls 2008, 494) der Möglichkeit ihrer

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Verwirklichung vergewissern muss. „[W]er diese Tatsache außer acht läßt, stellt damit unter Beweis, daß es ihm an Realismus und Verstand mangelt“ (Rawls 2008, 494). (4) Die Klassische Ökonomie geht axiomatisch vom „Faktum des Privateigentums“ (MEW 40, 510) aus und thematisiert damit nicht, wie Eigentumstitel zustande kommen. Es gilt aber zu berücksichtigen, dass das Privateigentum (an Produktionsmitteln) durch kontingente Faktoren wie Schenkung, koloniale Inanspruchnahme et cetera bedingt sein kann und dass Eigentumstitel nur durch rechtsstaatlichen Schutz bestehen können, dementsprechend von der Allgemeinheit abhängig sind. Dies muss dadurch in einer überzeugenden Gerechtigkeitstheorie Beachtung finden, dass auch Eigentumstitel dem Rechtfertigungsanspruch unterworfen werden. Die historische Entwicklung hin zu einer gerechten Grundstruktur werde dabei Marx folgend, sobald die Widersprüche innerhalb des Kapitalismus ein bestimmtes Maß überschreiten, zu einem System der demokratischen Kontrolle der Produktionsinstrumente übergehen. In einer solchen Gesellschaft werde dann jedes Individuum frei nach seinem Willen tätig sein können und die Güter beziehen, welche es bedarf. Prominent ist diesbezügliche die Aussage aus der Kritik des Gothaer Programms: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ (MEW 19, 21). Ein solches Gerechtigkeitsprinzip ist u. a. insofern überzeugend, als es der Pluralität „wirkliche[r] Menschen“ (MEW 1, 361) entgegenkomme. Der Staatsapparat mitsamt dem positiven Recht hingegen werde im historischen Endstadium aufhören zu existieren.

Die kapitalistische Produktionsweise als verfehltes Leben Auch die kapitalistische Arbeitsteilung kaschiert insofern Ausbeutung, als sie es der*dem Arbeiter*in verunmöglicht zu erkennen, wie viel

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ihrer*seiner Arbeitsleistung darauf aufgewendet wird, sich selbst zu versorgen, und wie viel für ihre*seine Reproduktion unnötige Mehrarbeit ist, die sich die kapitalistische Klasse aneignet (MEW 23, 251). Daneben thematisiert Marx den Aspekt der Arbeitsteilung aber auch als Ursache für ein verfehltes entfremdetes Leben. (1) Nicht nur ist es der Fall, dass das Individuum nicht über das von ihm erzeugte Produkt verfügt (MEW 40, 519). Es ist vielmehr noch tiefergehender so, dass es ihm nicht möglich ist, innerhalb des kleinteilig organisierten Arbeitsprozesses seinen genuinen Beitrag zum Endprodukt noch zu identifizieren, was dazu führt, dass das Arbeitsprodukt nicht mehr als Ausdruck seiner selbst in der Welt identifiziert werden kann. (2) Ferner führt die kapitalistische Arbeitsteilung zum Phänomen der Selbstentfremdung und der Entfremdung vom Mitmenschen: Indem der*die Arbeiter*in im arbeitsteiligen Prozess weder ein autonomes Subjekt ist noch sich als ein solches erfährt, sondern lediglich, gleich einer Maschine, bloß ein Glied in einer anonymen Produktionskette darstellt, entwickelt sie*er ein entfremdetes Selbstverständnis. Dieses überträgt sich dann in einem zweiten Schritt auf die Wahrnehmung anderer Subjekte sowie der Natur, die ihr*ihm nun auch lediglich als Mittel zu seinem Zweck erscheinen. Die durch die kapitalistische Arbeitsteilung verursachte Entfremdung werde in einer gerechteren Gesellschaft dadurch aufgehoben, dass das Proletariat sich zu einer „freie[n] und gleiche[n] Assoziation der Produzenten“ (MEW 21, 168) transformiert. In einer solchen Gesellschaft komme es Marx zufolge dann auch nicht zu Kooperationskonflikten, die aus entgegengesetzten Interessen resultieren. Es kann zwar zu Koordinationsproblemen kommen, z. B. in welchem Umfang eine natürliche Ressource wann von verschiedenen Akteuren benutzt werden kann. Diese lassen sich aber durch die gemeinsame demokratische Bestimmung eines

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Wirtschaftsplans weitestgehend lösen (MEW 4, 48 f.).

M. Roseneck

reibungslos

„Ja, aber …“ – Rawls’ Marx-Rezeption Rawls’ Marx-Rezeption steht oft im Einklang mit der normativen Stoßrichtung von Marx’ Analysen, auch wenn sie entweder (ohne dies weiter zu begründen) die empirische Plausibilität der zugrundeliegenden Arbeitswerttheorie in Zweifel zieht (vgl. Rawls 2008, 478) oder andere als von Marx vorgeschlagenen Wege zur Verwirklichung einer gerechten Gesellschaft favorisiert. (1) Marx (MEW 21, 168) und Rawls (1975, 28 f.; 2006, 25) gleichen sich bezüglich der Prämisse, Menschen seien in moralischer Hinsicht als frei und gleich anzuerkennen. Während für Marx deswegen die Ungleichverteilung des Privateigentums an Produktionsmitteln das zentrale Hindernis auf dem Weg zu einer gerechten Gesellschaft darstellt, identifiziert Rawls (1975, 159) diverse natürlich und sozial bedingte Ungleichheiten als potentiell normativ defizitär. Nur das, was gleichgestaltige Akteur*innen in einem gedankenexperimentellen Urzustand unter einem Schleier des Nichtwissens als zustimmungswürdig anerkennen, könne die Grundlage eine gerechten Grundstruktur und deren Verteilung von Grundgütern bilden. Ein u. a. auch marxistisch inspirierter Kritikstrang an Rawls’ Gerechtigkeitstheorie bemängelt, analog zu Marx’ Kritik an der Abstraktheit des positiven Rechts, dass das hohe Abstraktionsniveau des Urzustandes dazu führe, die Verschiedenheit der Menschen aus dem Blick zu verlieren (vgl. Young 2007, 65). Nichtsdestotrotz ist zunächst festzuhalten, dass Rawls diesen hohen Abstraktionsgrad ganz im Sinne von Marx wählt, um bei der Frage, was gerecht ist, arbiträre Machtasymmetrien auszuschalten. (2) Das Gedankenexperiment des Urzustandes führt zu einer Konsequenz, die Marx’ In-

tention entgegenkommt, dass in einer gerechteren als der kapitalistischen Gesellschaft bezüglich der Verteilung von Grundgütern jedes Individuum zumindest „nach seinen Bedürfnissen“ (MEW 19, 21) Berücksichtigung finden solle. Indem die Akteur*innen im Urzustand, nicht wissend, welche Position sie in der künftigen Gesellschaft einnehmen werden, risikoavers agieren, werden sie diejenige institutionelle Ordnung wählen, welchen den Schlechtestgestellten am meisten zum Vorteil gereicht (Rawls 2006, 78). Eine aus dem Urzustand abgeleitete gerechte Grundstruktur verwirklicht damit quasi nebenbei das Prinzip „jeder nach seinen Bedürfnissen“ (MEW 19,21), indem eine nicht bedarfsgerechte Verteilung elementarer Grundgüter ausgeschlossen ist. (3) Ebenfalls werden sich die Akteur*innen des Urzustandes, im Bewusstsein der „materiellen Bedingungen“ (Rawls 2008, 494) der Möglichkeit eines freien und guten Lebens, nicht nur auf die klassisch liberalen Abwehrrechte einerseits und demokratische Partizipationsrechte andererseits verständigen, sondern auch auf soziale Rechte und sozialstaatliche Institutionen (Rawls 1975, 93 f.; 1998, 154, 275). Diese stehen dabei in einem besonderen Verhältnis zum Recht auf demokratische Partizipation. Die Marxsche Kritik am demokratischen Rechtsstaat lautet u. a., dass dieser vortäusche, jedem Bürger und jeder Bürgerin die gleichen Einwirkungsoptionen auf den politischen Prozess zu geben. Soziale Rechte und sozialstaatliche Institutionen müssen nach Rawls (2006, 214) deswegen in einer wohlgeordneten Gesellschaft erreichen, dass die politischen Rechte den gleichen „fairen Wert“ für alle Bürger*innen haben sowie Chancengleichheit existiert. Im Sinne von Marx erkennt Rawls dementsprechend das Problem einer mangelnden institutionellen Unterstützung der Freiheitsund Partizipationsrechte. Anders als dieser fasst Rawls aber das Rechtsmedium als durchaus fähig auf, dem entgegenzuwirken.

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(4) Wie auch Marx kommt der späte Rawls zu dem Schluss, dass kapitalistische Gesellschaften, selbst diejenigen, welche das kapitalistische Wirtschaftssystem wohlfahrtsstaatlich einhegen, oft nicht in der Lage sind, wirklich gerechte Zustände zu verwirklichen. Ein „wohlfahrtsstaatliche[r] Kapitalismus“ (ebd., 215), z. B. der Rheinische, sei ungerecht, weil er nur extrem unfaire Ungleichheiten etwa durch die Garantie eines Existenzminimums abmildert. Er lässt zum einen die Eigentumsverhältnisse (an Produktionsmitteln) weitgehend unangetastet und verhindert damit die demokratische Kontrolle des wirtschaftlichen Lebens, zum anderen realisiert er nicht vollumfängliche Chancengleichheit. Insofern sei ein demokratischer Sozialismus eine Option der faktischen Institutionalisierung einer gerechten Gesellschaft. Aber auch eine sogenannte property-owning-democracy, in der relativ gleichgroßes Eigentum diffus über die Gesellschaft verteilt ist und keiner über vergleichsweise exorbitant viel davon verfügt, könne dies leisten. Denn auch hier wäre verunmöglicht, dass „ein kleiner Teil der Gesellschaft die Wirtschaft und indirekt die Politik steuert“ (ebd., 216). (5) Marx kritisiert an der klassischen Ökonomie u. a., dass sie axiomatisch vom „Faktum des Privateigentums“ ausgeht. Auch für Rawls’ Gerechtigkeitstheorie können Eigentumstitel nicht unhinterfragt hingenommen werden. Die Frage nach dem Wirtschaftssystem und der Verteilung des Privateigentums an Produktionsmitteln ist damit nicht, wie etwa beim Libertarismus, moralischer, sondern nur pragmatischer Natur: Welches Wirtschaftssystem eignet sich, unter unbedingter Beachtung des ersten und zweiten Teils der zwei Gerechtigkeitsgrundsätze, dazu, derart Wohlstand zu generieren und zu verteilen, dass die sozial schwächsten Gruppen in einer Gesellschaft (im Vergleich zu anderen Formen des Wirtschaftens) dennoch am besten gestellt sind (Rawls 1975, 305; 1998, 414; 459 f.; 2008, 463). Ob und, wenn ja, wie weit zur Verwirklichung dieses Ziels

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dann das Privateigentum an Produktionsmitteln rechtlich garantiert werden soll, muss vor dem Hintergrund kontingenter sozioökonomischer Rahmenbedingungen beantwortet werden. Festzuhalten ist aber, dass für Rawls damit die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln nicht unbedingt notwendig für die Verwirklichung einer gerechteren Gesellschaftsordnung ist, während sie für Marx essentiell auf dem Weg zu einer emanzipierten Gesellschaft ist. (6) Für Marx ist die arbeitsteilige Produktionsweise insofern ein Übel, als sie zur Entfremdung des Individuums vom Produkt seines Tätig-Seins, seiner selbst und seiner Mitmenschen beiträgt, etwa indem es gezwungen wird, eine ihm widerstrebende Arbeit nur deswegen auszuüben, um Lohn zum Überleben zu erhalten. Rawls (1975, 568 f.; 2008, 529 f.) erkennt zwar dieses mit Arbeitsteilung potenziell verbundene Problem an. Es könne aber dadurch beseitigt werden, dass mithilfe eines ausgebauten Sozialstaats alle Bürger*innen die Option erhalten, diejenige Tätigkeit zu wählen, die sie wahrhaft ausüben möchten. Arbeitsteilung kann, aber muss nicht notwendigerweise zu Entfremdung führen, so Rawls. Die Möglichkeit aber, dass sie Entfremdung bedingen kann, ist ganz im Sinne von Marx ein gerechtigkeitstheoretisch relevantes Problem. (7) Marx (MEW 3, 32 f.) nimmt ferner an, dass in einer idealen kommunistischen Gesellschaft keine Kooperationskonflikte entstehen, etwa durch unterschiedliche umfassende Lehren verursachte Zielkonflikte politischen Handelns. Insofern sieht er auch nicht die Notwendigkeit für die Mitglieder eine gerechte Gesellschaft, Pflichten und Tugenden zu präskribieren, welche im Widerspruch zu ihren Interessen stehen könnten. Indem Rawls (2008, 526–528) gleichwohl von der Unhintergehbarkeit der Tatsache eines vernünftigen Pluralismus und daraus resultierender Kooperationskonflikte überzeugt ist, identifiziert er die Benennung von Pflichten, die der Verfolgung des individuell und auch gesamtgesellschaftlich Guten

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entgegengesetzt sind, als zentrale Aufgabe einer Gerechtigkeitstheorie. Damit verbunden ist auch eine disziplinäre Verortung beider Philosophen: Während für Marx eine gerechtere und freiere Gesellschaft notwendigerweise aus der geschichtlichen Evolution resultiert, bedarf es für Rawls als politischen Philosophen der Benennung, was vernünftige Bürger*innen aus Pflicht tun sollen.

Literatur Engels, Friedrich: Das Begräbnis von Karl Marx. MarxEngels-Werke, Bd. 19. Hg. Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED. Berlin 21969. Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Marx-Engels-Werke, Bd. 21. Hg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 51975. Linß, Vera: Die wichtigsten Wirtschaftsdenker. Wiesbaden 52014. Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. Marx-Engels-Werke, Bd. 40. Hg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1968. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1. Marx-Engels-Werke, Bd. 23. Hg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 41969a.

Marx, Karl: Kritik des Gothaer Programms. Marx-Engels-Werke, Bd. 19. Hg. Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED. Berlin 21969b. Marx, Karl: Zur Judenfrage. Marx-Engels-Werke, Bd. 1. Hg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 71970. Marx, Karl: Die deutsche Ideologie. Marx-EngelsWerke, Bd. 3. Hg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 41973. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei. Marx-Engels-Werke, Bd. 4. Hg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 41969. Mill, John Stuart: Grundsätze der politischen Ökonomie. Nebst einigen Anwendungen auf die Gesellschaftswissenschaften. Gesammelte Werke, Band 6. Aalen 1968 (engl. 1857). Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1975 (engl. 1971). Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Hg. Erin Kelly. Frankfurt a. M. 2006 (engl. 2001). Rawls, John: Geschichte der politischen Philosophie. Hg. Samuel Freeman. Frankfurt a. M. 2008 (engl. 2007). Schumpeter, Joseph A.: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Tübingen 92018 (engl. 1942). Smith, Adam: Eine Untersuchung über Wesen und Ursachen des Volkswohlstandes. 2. Buch 4–5. Gießen 1973 (engl. 1776). Young, Iris Marion: Structural injustice and the politics of difference. In: Anthony Simon Laden/David Owen (Hg.): Multiculturalism and political theory. Cambridge 2007, 60–88.

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Mill Annette Schmitt und Ruth Zimmerling

Auf den ersten Blick scheint John St. Mill (1806–1873) nur eine untergeordnete Rolle unter den Klassikern zu spielen, die Rawls’ Ansichten beeinflusst haben. Seine Gerechtigkeitstheorie jedenfalls verortet Rawls vielmehr in der vertragstheoretischen Tradition von Locke, Rousseau und Kant. Andererseits setzt er sich in seiner Gerechtigkeits- ebenso wie in seiner Demokratietheorie an deutlich mehr Stellen mit Mill auseinander als etwa mit Locke oder Rousseau; oft nennt er Mill in einem Atemzug mit Kant. Auch in seinen Vorlesungen zur politischen Philosophie widmet er Locke und Rousseau nur je drei Kapitel, Mill hingegen vier. Schon deshalb lohnt es sich, der Frage nachzugehen, was Rawls an Mills Konzeption für wert befand, einer so ausführlichen Analyse unterzogen zu werden. Eine erste Annahme könnte sein, dass Rawls deshalb so häufig auf Mill Bezug nimmt, weil er seine eigenen Überlegungen in Auseinandersetzung mit und vor allem in Abgrenzung von Mills Theorie entwickelt. Immerhin gilt Mill als Vertreter einer Spielart des Utilitarismus, und

A. Schmitt (*) · R. Zimmerling  Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] R. Zimmerling  E-Mail: [email protected]

Rawls zielt mit seiner Theorie ausdrücklich darauf ab, eine Alternative zum Utilitarismus in allen seinen Versionen (Rawls 1971, 22) zu entwickeln. Mill seinerseits ließ keine Gelegenheit aus, darauf hinzuweisen, dass er seine Überlegungen nicht als ein Plädoyer für (Freiheits-) Rechte verstanden haben will, die unabhängig von Nutzenüberlegungen existieren könnten: „I regard utility as the ultimate appeal on all ethical questions“ (Mill 1859/1977, 224). Dienen Mills Überlegungen Rawls also lediglich als Negativbeispiel dafür, wie ein liberaler politischer Philosoph nicht zu gerechtfertigten Prinzipien gelangen kann? Die vier Lectures, die Rawls Mills Überlegungen widmet, legen eine differenziertere Interpretation nahe: Seine ausführliche Auseinandersetzung mit Mills Schriften zeugt davon, dass er in Mill letztlich doch vor allem einen Liberalen und weniger einen Utilitaristen sieht. Mills Theorie sei wie auch die von Kant – so wiederholt Rawls immer wieder – eine von „various liberal philosophical doctrines“, die mit seinen Prinzipien der Gerechtigkeit als Fairness im Sinne eines „overlapping consensus“ vereinbar seien (Rawls 2001 § 11.2, 33; § 58.4, 194; § 59.2, 198; vgl. Rawls 1993, 145). Mill komme schließlich zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen wie Rawls selbst, wenn auch aus anderen Gründen (vgl. bereits Rawls 1958/1999, 48 f., FN 2). Da Mill nur ein einziges normatives Prinzip – das Nutzenprinzip – als mora-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_17

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lisch gerechtfertigt ansehe, benötige er mehrere psychologische Annahmen, um zu dem Schluss zu gelangen, dass das größte Glück der größten Zahl dadurch realisiert würde, dass die von ihm befürworteten „principles of the modern world“ (Mill 1869/1985, 323), die, so Rawls, mit den Rawlsschen Prinzipien der Gerechtigkeit weitgehend übereinstimmen (297 f.), in einer Gesellschaft implementiert werden. Und weil das Nutzenprinzip, aber auch die Haltbarkeit dieser psychologischen Annahmen umstritten sei, handele es sich bei Mills Theorie um eine „comprehensive moral doctrine“, die in einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft nicht als Grundlage für die Rechtfertigung von Zwangsinstitutionen herangezogen werden könne. Trotzdem sieht Rawls in Mill durchaus einen Verwandten im Geiste. Wie er diese Einschätzung begründet, ist höchst instruktiv für das Verständnis sowohl von Rawls als auch von Mill. Vom Utilitarismus zum Liberalismus Jeremy Bentham, der klassische Hauptstichwortgeber des Utilitarismus, mit dessen Gedanken John St. Mill sich Zeit seines Lebens auseinandersetzte, war der Überzeugung, dass alles menschliche Handeln darauf abziele, Schmerz zu vermeiden und Freude herbeizuführen, und dass dieses Motiv nicht nur die Ursache, sondern auch die Rechtfertigung allen Tuns sei (Bentham 1823/1907, 1). Mill verstand sich zunächst als Reformer im Sinne Benthams, erkannte im Laufe der Zeit aber psychologische Defizite im Utilitarismus, so dass fortan die Beschäftigung mit der „cultivation of the feelings“ die entscheidende Grundlage seiner ethischen und philosophischen Überzeugungen bildet (Mill 1873/1981, 147). Dass „happiness […] the test of all rules of conduct, and the end of life“ (ebd., 145) sei, stellt Mill allerdings an keiner Stelle in Frage. Nicht Freiheit, sondern Glück ist also die Basis von Mills Theorie, der zum Liberalen somit allenfalls indirekt, ‚um des Glücks willen‘, werden kann. Sein Liberalismus ist folglich, wie Nagel (2003, 65) konstatiert, zwangsläufig sehr verschieden von Rawls‘ liberaler Theorie:

A. Schmitt und R. Zimmerling

1) Während für Mill individuelle Rechte rein instrumentellen Wert haben, also nur im Hinblick auf ihre Ergebnisse gerechtfertigt werden können, sind für Rawls individuelle Rechte unabhängig von ihren eventuellen positiven gesellschaftlichen Konsequenzen zu begründen (ebd., 65 f.). 2) Während Rawls angesichts der Vielfalt unterschiedlicher Auffassungen vom guten Leben und der unüberwindbaren „burdens of judgment“ für einen politischen Liberalismus plädiert, der mit allen vernünftigen umfassenden Lehren kompatibel sein soll, handele es sich bei Mill um einen Vertreter einer solchen spezifischen umfassenden Lehre (ebd., 75). Es ist also zu erwarten, dass Rawls Mills Überlegungen durchaus kritisch gegenübersteht. Allerdings lässt er ihnen nicht die Art von Fundamentalkritik zuteil werden, wie man sie nach Nagels Analyse vielleicht erwarten würde. Rawls’ differenzierte Analyse von Mills Werk Rawls‘ Interesse an Mills Überlegungen wird verständlich, wenn man bedenkt, dass Mill etwas gelungen zu sein scheint, was Rawls selbst beansprucht: eine freiheitliche Theorie auf einer Grundlage zu entwickeln, die nicht schon Freiheit als Wert voraussetzt. Da Rawls diese Grundlage ablehnt und ausdrücklich ausschließt, dass Mill zu seinen Schlussfolgerungen aufgrund argumentativer Fehlschlüsse gelangt sein könnte (Rawls 2007, 268), macht er sich daran, die zentralen Werke Mills im Hinblick auf die Annahmen zu analysieren, die den Utilitaristen Mill zu Prinzipien leiten, die mit den liberalen Prinzipien des Anti-Utilitaristen Rawls übereinstimmen. Rawls findet eine normative und eine Reihe von psychologischen Prämissen. Die normative Annahme ist Mills Version des Nutzenprinzips, nämlich das moralische Gebot, Nutzen zu maximieren, und zwar „utility in the long run as defined by the permanent interests of humankind as a progressive being“ (ebd., 299). Die psychologischen Annahmen dienen der Feststellung, worin diese vermeintlichen permanenten Interessen bestehen (ebd., 300–301). Rawls’ Interpretation von Mills Nutzenprinzip: Mill sei zwar dem „Greatest Happiness

17 Mill

Principle“ verpflichtet, aber seine Vorstellung von Glück unterscheide sich grundlegend von der Benthams. Glück bestehe für ihn nicht darin, konkrete Freude zu erleben, sondern sei Folge einer Lebensgestaltung, die der Entwicklung der eigenen höheren – moralischen und intellektuellen – Fähigkeiten gewidmet ist. Der Mensch müsse sich zwar zunächst um die Befriedigung seiner niederen, überlebensnotwendigen Bedürfnisse kümmern; sobald diese Bedürfnisse aber hinreichend erfüllt seien, habe er – dies sei Mills erste psychologische Annahme – eine „decided preference“, seine höheren Fähigkeiten zu entfalten (vgl. ebd., 262). Um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, bedürfe Mill einer zweiten psychologischen Annahme: Er unterstelle, dass der Mensch ein Leben, das nicht auf die Entwicklung seiner höheren Fähigkeiten ausgerichtet ist, als entwürdigend erfahre. Infolgedessen habe der Mensch nicht nur den Wunsch, seine höheren Fähigkeiten zu entwickeln und zu entfalten, sondern darüber hinaus auch den Wunsch zweiter Ordnung, genau das stärker zu wünschen als alles andere (vgl. ebd., 264 f.). Wie aber führt diese Lesart des Utilitarismus zu Prinzipien ähnlich denen, die Rawls selbst vertritt? Das lasse sich, so Rawls, an Mills „wonderful discussion“ der Beziehung zwischen Nutzen und Gerechtigkeit (vgl. ebd. 270) nachvollziehen. Nutzen und Gerechtigkeit nach Mill: Ausgangspunkt von Mills Überlegungen zur Beziehung zwischen Nutzen und Gerechtigkeit, die er im letzten Kapitel von Utilitarianism (vgl. Mill 1861) darlegt, ist die (von ihm zu widerlegende) Intuition, dass es sich beim Gerechten und beim Nützlichen um grundsätzlich unterschiedliche Dinge handele: Das Gerechte, so scheine es zunächst, „must have an existence in nature as something absolute – generically distinct from every variety of the Expedient, and, in idea, opposed to it“ (Mill 1861/1985, 240). Das liege daran, dass es sich bei Gerechtigkeit um eine vollkommene Pflicht handele, d. h. um eine Pflicht, die mit entsprechenden Rechten konkreter Personen einhergehe (ebd., 247). Worauf aber haben Individuen ein solches moralisches Recht? Auf alles, so Mill, was dem Schutz

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ihrer grundlegendsten Interessen diene, also auf die Sicherheit, hinsichtlich „the very goundwork of our existence“ (ebd., 251), „the essentials of human wellbeing“ (ebd., 255) nicht verletzt oder geschädigt zu werden. Zu diesen essentiellen Bestandteilen des Wohlergehens gehöre auch die Gewähr, nicht ungerechtfertigterweise in seiner Freiheit eingeschränkt zu werden (vgl. ebd., 255) – eine Überlegung, die Mill ausführlich in On Liberty (1859) entwickelt. Warum aber sollte das Individuum ein Recht darauf haben, dass alles, was die Grundlagen seines Wohlergehens gefährdet, verhindert wird? Anders gefragt: Warum genügt es Mill nicht, im Einzelfall ein Nutzenkalkül durchzuführen, um herauszufinden, ob es opportun ist, eine konkrete Schädigung zu ahnden oder nicht? Weil es, so Mill, der Maximierung des Nutzens diene, dem Individuum Rechte einzuräumen und deren Verletzung ungeachtet der konkreten Umstände im Einzelfall immer zu ahnden. „[T]he instituting of rights“, so Rawls’ Analyse, „is designed to inhibit, indeed to make unnecessary, our calculating utilities in particular cases. The security that basic rights provide would be endangered if the belief were widespread that a right could be violated for the sake of small gains that such calculations might reveal“ (Rawls 2007, 275). Somit folge für Mill ganz abstrakt aus dem Nutzenprinzip eine Vorstellung von Gerechtigkeit in Form eines Anspruchs auf individuelle Freiheitsrechte. Gerechtigkeit im Dienst der permanenten Interessen: Wenn aber Nutzen verstanden wird im Sinne der von Mill postulierten „permanent interests of man as a progressive being“ (s. o.), hängt die Substanz der erforderlichen Freiheitsrechte von der Bestimmung dieser Interessen ab. Rawls identifiziert derer vier: 1) Individuen haben den Wunsch, nicht nur ihre lebensnotwendigen Bedürfnisse zu befriedigen, sondern vor allem auch ihre höheren Fähigkeiten zu entwickeln. Um über die dafür notwendigen Voraussetzungen zu verfügen, haben sie folglich ein permanentes Interesse an der Institutionalisierung der „basic rights of equal justice“ (ebd. 302), denn diese

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sichern ihr Überleben und die Bedingungen ihres Wohlergehens (vgl. ebd., 301). 2) Individuen als fortschrittliche, aber fehlbare Wesen haben den Wunsch zu wissen, ob die Positionen, die sie vertreten, zutreffen. Nur unter Bedingungen, die eine freie und öffentliche Diskussion ermöglichen, können sie sich der Güte ihrer Argumente vergewissern, und nur so können falsche Meinungen als solche entlarvt werden. Individuen haben folglich ein permanentes Interesse an den sozialen Bedingungen, unter denen sie ihrem Denken, Glauben und Meinen freien Ausdruck verleihen können (vgl. ebd. 304). 3) Individuen haben als Ausdruck ihrer Würde den dezidierten Wunsch nach Befriedigung ihrer höheren Fähigkeiten und wollen folglich frei sein in ihrem Handeln, um ihre Talente und Fähigkeiten vernünftig, selbstdiszipliniert und gemeinsam mit Gleichgesinnten entwickeln zu können. Diesem Wunsch – unter der alleinigen Einschränkung des Schadensprinzips – nachkommen zu können, diene ihrem individuellen Glück ebenso wie dem gesamtgesellschaftlichen Fortschritt. Folglich haben Individuen ein permanentes Interesse an der Implementierung der Bedingungen individueller Handlungsfreiheit, auch in Gemeinschaft mit anderen (vgl. ebd. 304). 4) In einer Gesellschaft, in der gleiche Grundrechte institutionalisiert sind und die sozialen, politischen und rechtlichen Bedingungen herrschen, die es jeder Person – innerhalb der Grenzen des Schadensprinzips – erlauben, in ihrem Denken und Handeln frei zu sein, entwickelt, so Mill, jedes Individuum als soziales Wesen den Wunsch, „in unity“ (Mill 1861/1985, 231) mit anderen zu leben, also unter Bedingungen, unter denen die Bedürfnisse und Interessen Aller berücksichtigt werden. (Dieser Wunsch erinnert an Rawls‘ Gerechtigkeitssinn, den dieser definiert als „a desire to apply and to act upon the principles of justice”; Rawls 1971, 474.) Wenn das der Fall ist, dann sei eine solche Gesellschaft nicht nur gerechtfertigt, sondern auch stabil. Folglich habe jedes Individuum ein per-

A. Schmitt und R. Zimmerling

manentes Interesse nicht nur an der Implementierung gerechter und freier Institutionen, sondern auch daran, dass Menschen die Einstellungen entwickeln, die erforderlich sind, um den „normal state“ der Gesellschaft herbeizuführen, der der psychischen Beschaffenheit des Menschen angemessen ist (Rawls 2007, 304 f.). Zusammengefasst: Mill geht davon aus, dass eine bestimmte Auffassung vom guten Leben in der Natur des Menschen psychologisch angelegt ist. Als würdevolles Wesen habe das Individuum den Wunsch, nicht auf die Befriedigung überlebensnotwendiger Bedürfnisse reduziert zu werden, als fortschrittliches Wesen den Wunsch, in Freiheit seine höheren Fähigkeiten zu entfalten, und als soziales Wesen den Wunsch, in Eintracht mit anderen zu leben. Unter bestimmten Bedingungen, nämlich bei Institutionalisierung gleicher Grundrechte und der Schaffung der Bedingungen für individuelle Meinungs- und Handlungsfreiheit, ist es, so Mills Überzeugung, möglich, dass jede und jeder Einzelne diese in der menschlichen Natur angelegte Auffassung vom guten Leben entwickelt und verfolgt und dass infolgedessen der gesamtgesellschaftliche Nutzen maximiert wird. Was bleibt: Zweifel an der Statik Die Kohärenz von Mills Theoriegebäude beruht demnach, wie Rawls bemerkt, auf der Haltbarkeit seiner moralpsychologischen Annahmen. Dass Mill sich solcher Erwägungen bedient, sei zur Konstruktion einer handlungsrelevanten Moraltheorie nicht ungewöhnlich; alle Moraltheorien enthielten solche Annahmen (vgl. Rawls 2007, 313). In Mills Theorie allerdings spielten sie eine wesentliche Rolle; sie übernehmen die Funktion, die in Rawls’ eigener Gerechtigkeitstheorie spezifische normative Annahmen haben (vgl. Rawls 2001, § 44.3). Zwar mache Mill keineswegs perfektionistische Aussagen über das vermeintlich moralisch geforderte gute Leben, wie man angesichts seiner normativen Schlussfolgerungen aus den psychologischen Annahmen meinen könnte; Mills einzige normative Annahme bleibe die des „Greatest Happiness Principle“ (Rawls 2007,

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313). Dass dieses Prinzip, das Mills Theorie zu einer umfassenden moralischen Lehre macht, zur Rechtfertigung einer liberalen Ordnung führt, die mit Rawls’ eigener Theorie „übergreifend vereinbar“ ist, hängt aber ausschließlich von den psychologischen Annahmen ab. Sollten diese sich als unhaltbar erweisen, kollabiert das Theoriegebäude des Millschen ‚utilitaristischen Liberalismus‘. In Lectures on the History of Political Philosophy lässt es Rawls weitgehend offen, für wie belastbar er die Annahmen hält, und weist nur darauf hin, dass Viele sie für unplausibel halten dürften (vgl. Rawls 2007, 269). Dass er sich zu diesen Vielen zählt, lässt folgender Hinweis in Justice as Fairness: A Restatement vermuten: „The unity of Mill’s view depends on a few psychological principles, among them the principles of dignity, individuality, and the increasing desire to live in unity with others […] But what happens should these psychological principles fail to hold […]? From commonsense knowledge and ordinary experience, Mill’s principles may seem an excessively optimistic view of our nature“ (Rawls 2001, § 44.3). Wenn man beim Bild des Theoriegebäudes bleibt, so sind sich Mill und Rawls im Hinblick auf die Dachkonstruktion einig: Beide Theorien dienen der Rechtfertigung einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Rawls’ Kritik betrifft die Statik von Mills Gebäude, indem er begründete Zweifel an der Tragfähigkeit der es stützenden An-

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nahmen äußert. Sollten sich diese Annahmen als unhaltbar erweisen, spricht das gegen Mills utilitaristische, nicht aber gegen seine liberalen Intuitionen. Und damit erweist er sich für Rawls als liberaler „Bruder im Geiste“.

Literatur Bentham, Jeremy: Introduction to the principles of morals and legislation. New edition. Oxford 21823/1907. Mill, John S.: On liberty [1859]. In: The Collected Works of John Stuart Mill. Hg. John M. Robson. 33 Bde. Toronto 1963–1991, Bd. XVIII, 1977, 213–310. Mill, John S.: Utilitarianism [1861]. In: The Collected Works of John Stuart Mill. Hg. John M. Robson. 33 Bde. Toronto 1963–1991, Bd. X, 1985, 203–260. Mill, John S.: The subjection of women [1869]. In: The Collected Works of John Stuart Mill. Hg. John M. Robson. 33 Bde. Toronto 1963–1991 Bd. XXI, 1985, 259–340. Mill, John S.: Autobiography [1873]. In: The Collected Works of John Stuart Mill. Hg. John M. Robson. 33 Bde. Toronto 1963–1991 Bd. I, 1981, 1–290. Nagel, Thomas: Rawls and liberalism. In: Samuel Freeman (Hg.): The Cambridge companion to Rawls. Cambridge 2003, 62–85. Rawls, John: Justice as fairness [1958]. In: Collected Papers. Hg. Samuel Freeman. Cambridge, Mass. 1999, 47–72. Rawls, John: A theory of justice. Cambridge/Mass. 1971. Rawls, John: Political liberalism. New York 1993. Rawls, John: Justice as fairness: A restatement. Hg. Erin Kelly, Cambridge/Mass. 2001. Rawls, John: Lectures on the history of political philosophy. Hg. Samuel Freeman. Cambridge, Mass. 2007.

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Rousseau Michael Roseneck

Bei dem Versuch, Kontinuitäten und Wahlverwandtschaften in der politischen Ideengeschichte auszumachen, könnte man versucht sein, Rawls als Vertreter des philosophischen Liberalismus in eine Traditionslinie mit Autoren wie John Locke oder James M. Buchanan einzuordnen. Dies verdecke gleichwohl deutlich republikanische und deliberativ-theoretische Züge in Rawls’ Werk, welche das folgende Kapitel anhand eines Vergleichs mit Jean-Jacques Rousseaus Kontraktualismus dekuvrieren möchte, auf den sich Rawls (2017, 34, 68 f.) explizit als einem intellektuellen Ahnen bezieht. Rousseau selbst, geboren 1712 in Genf und nach politisch bewegtem Leben 1778 in der Nähe von Paris verstorben, ist einer der bis heute wichtigsten politischen Theoretiker der Aufklärung und neben Thomas Hobbes und Locke kanonischer Vertreter des Kontraktualismus – dabei der erste von den Genannten, der einen dezidiert demokratischen Gesellschaftsvertrag konzipiert. Zugleich kann er mit seinen mehr politikökonomischen Überlegungen und Schriften auch als Autor des Frühsozialismus eingeordnet werden. Drei miteinander zusammenhängende Aspekte sind es, die signifikante Gemeinsamkeiten zwischen Rousseaus und Rawls’

M. Roseneck (*)  Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main , Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected]

Theorie ausmachen: 1) die Verwendung eines sozioökonomische Ungleichheiten nivellierenden Mechanismus bei der Begründung einer gerechten Grundstruktur, 2) die Betonung des öffentlichen Vernunftgebrauchs im Falle der Beratung verfassungsrechtlicher Angelegenheiten und 3) die sozialintegrative Funktion vernünftiger umfassender Lehren zugunsten der Gewährleistung politischer Stabilität in freiheitlichen, pluralistischen Gemeinwesen. Ungleichheit, Ungerechtigkeit und die Rechtfertigung politischer Herrschaft Bereits die knappe Einleitung des ersten Buches des contrat social erinnert sogleich an Rawls’ Theory of Justice, denn Rousseau (1977, 5) benennt hier zwei sich bedingende Tugenden, denen legitime Institutionen entsprechen müssen: „Gerechtigkeit und Nutzen“. Bei Rawls (2019, 19 f.) heißt es ähnlich, dass Gerechtigkeit die lexikalisch „erste Tugend sozialer Institutionen“ sei, wobei es auch andere normativ wertvolle Tugenden gebe, die dieser jedoch nachgeordnet sind – die Differenzierung zwischen dem Rechtem und dem Gutem kennt Rousseau noch nicht, wohlmöglich auch angesichts des geringeren Grads an gesellschaftlicher Pluralisierung zu seiner Zeit. Folglich sind die weiteren Ausführungen beider Autoren darum bemüht, mit Hilfe der Vertragsfigur eine gerechte Grundstruktur zu begründen, wobei Rousseau das Hauptaugenmerk auf die Legitimität politischer Herrschaft legt, Rawls (ebd.), welcher das

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_18

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Gedankenexperiment des Vertragsschlusses „auf einer höhere[n] Abstraktionsebene“ verwendet, gerechte Verteilungsprinzipien für gesellschaftlich bereitgestellte Güter entwickeln möchte. Dies aber gibt für Rawls noch keine unmittelbare Auskunft darüber, was politisch legitim sei. In Political Liberalism wird er dann ausführen, dass seine Gerechtigkeitstheorie eine vernünftige umfassende Lehre sein könne, um aber unter Rahmenbedingungen eines unaufhebbaren gesellschaftlichen Pluralismus demokratisch legitim zu sein, der öffentlichen Akzeptanz im Zuge eines überlappenden Konsenses bedürfe (Rawls 2017, 68–76). Dennoch, eine ungerechte Verteilung von Gütern durch die institutionelle Grundstruktur könne offensichtlich nicht allgemein akzeptierbar, also auch nicht legitim sein. Rousseau (1977, 22; vgl. Fetscher 1968, 91; Rawls 2007, 192) wiederum bemüht sich um die Legitimitätsbegründung politischer Herrschaft, allerdings nicht bloß wie bei Hobbes als einem Ordnungs-, sondern dezidiert auch als ein Gerechtigkeitsproblem. Für beide Autoren besteht demnach trotz unterschiedlicher Erkenntnisinteressen ihrer Theorien ein Bedingungsverhältnis zwischen Gerechtigkeit und Legitimität. Auch die Fragestellung, was gerecht sei, beantworten sie methodisch ähnlich: Rawls (2019, 48), im Widerspruch zum zur Zeit der Theory in angelsächsischen akademischen Kontexten noch deutlich bedeutenderen Utilitarismus, weist diesen als intersubjektiv nicht nachvollziehbare und selbstwidersprüchliche Position zurück. Er spricht anschaulich von einer „Anomalie“ in der Begründungsarchitektur des Utilitarismus und favorisiert dagegen einen konstruktivistischen Ansatz der Rechtfertigung von Grundsätzen der Gerechtigkeit. Rousseau (1977, 39, vgl. Fetscher 1968, 91) wiederum wendet sich zugunsten eines konstruktivistischen Ansatzes gegen die zu seiner Zeit bedeutenden Naturrechtstheorien unter anderem mit einem epistemischen Einwand: „Alle Gerechtigkeit kommt von Gott, er allein ist ihre Quelle; aber wenn wir sie von so hoch oben zu empfangen wüßten, hätten wir weder Regierung noch Gesetz nötig. Sicher gibt es eine allumfassende Gerechtigkeit, die nur aus der Vernunft fließt; aber damit sie bei uns Geltung hat, muß diese Gerechtigkeit wechselseitig

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sein.“ Es bedürfe folglich für die faktische Verwirklichung gerechter Zustände einer institutionellen Ordnung und „Vereinbarungen“ (Rousseau 1977, 6; 2001, 209 f.). Ähnlich zueinander identifizieren daraufhin sowohl Rousseau als auch Rawls das zentrale Hindernis für die Beratung gerechter Strukturen in arbiträrer sozioökonomischer Ungleichheit. Rawls (2019, 159, 175) schaltet diese im Gedankenexperiment des Urzustands bekanntermaßen durch den Schleier des Nichtwissens aus, nach welchem die dort „deliberierenden“ Akteure kein Wissen von ihrer zukünftigen sozialen Position haben können. Und Rousseau (1977, 17; vgl. 2001, 219) setzt vor den Vertragsschluss über eine legitime Form politischer Herrschaft die „völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit all seinen Rechten“, wobei auch bei ihm dieses eine gedankenexperimentelle Qualität hat. Damit begeben sich beide in Opposition zu instrumentellrational fundierten Gesellschaftsvertragstheorien wie etwa derjenigen Buchanans (1984, 111 f.), welche absichtlich blind für bereits bestehende, nicht zu begründende Ungerechtigkeiten ist, wenn es um die Frage der Verbesserung einer gesellschaftlichen Grundstruktur geht. Nicht nur teilen demnach Rousseau und Rawls in Bezug auf die Frage, was gerecht sei, einen metaethisch konstruktivistischen Standpunkt, sondern auch die Ausgangslage vor der Konstruktion gerechter Normen gleicht sich bei beiden in der Ausschaltung von zufälligen Privilegien. Zu betonen ist hier insbesondere, dass Rawls ähnlich zu Rousseau deutlich sozioökonomische Ungleichheit, sollte sie ein gewisses Maß überschreiten, als hinderlich für die Ermöglichung einer freiheitlichen gerechten Gesellschaft identifiziert. Das differenziert sie von ebenfalls auf Freiheit fokussierte Strömungen in der zeitgenössischen Politischen Philosophie wie dem Libertarismus. Das Vorurteil zugunsten der Freiheit verbindet sich bei beiden mit einem politisch-ökonomisch geschulten Blick auf die Ungleichheiten, welche aufgehoben werden müssen, um faktisch die Freiheit und Gleichheit aller Bürger*innen zu ermöglichen. Insofern ist dann auch der politische Liberalismus, den Rawls begründet, trotz des Vorurteils zugunsten

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der individuellen Freiheit, ein sozialstaatsaffiner, der ein umfassendes Maß an Umverteilung zur Gewährleistung von Freiheit präskribiert. Zur Bedeutung öffentlicher Vernunft Rousseau (1977, 11) und Rawls (2017, 315) teilen ferner ähnliche Auffassungen in Bezug auf die Fragestellung, wie die Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft normativ angemessen zu rechtfertigen sei, sodass sie die Freiheit und Gleichheit aller Bürger*innen beachte – alltagspolitische Fragen lassen sie dabei außen vor (zur Kritik dieser Differenzierung vgl. Böckenförde 1991; Habermas 2011, 20 f.). In einigen Liberalismen wird versucht, die Grundstruktur des demokratischen Rechtsstaats als im egozentrischen Interesse eines*einer jeden Einzelnen liegend zu begründen (vgl. Becker 1982). Die damit vertretene These lautet: Demokratische Herrschaft mag die Freiheitsgrade prima facie einschränken, dies täuscht aber insofern, als man durch demokratischrechtsstaatliche Vergesellschaftung letztlich weitaus effektiver die eigenen Interessen verwirklichen könne. Der demokratische Rechtsstaat tritt aus dieser Perspektive also folglich als marktgleicher Ordnungsmechanismus auf und gewährleistet dadurch die Freiheit und Gleichheit eines jeden, indem jeder in gleichem Maße zweckmäßig nach seinem persönlichen Wohl streben kann. Ein Marktmodell demokratischer Politik ist gleichwohl normativ höchst defizitär: So erinnert Rawls (2019, 390 f., 396) daran, dass, anders als vielleicht ein gut funktionierender Markt, auf dem egozentrische Nutzenmaximierer interagieren, demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung keine vergleichbare Form von vollständiger Verfahrensgerechtigkeit verwirklicht. Vielmehr besteht die Gefahr, dass Bürger*innen auf Kosten sozial schwacher Ansprüche agierten, wenn sie lediglich nur ihr eigenes Wohl im Auge behielten. Dies aber liefe sowohl dem den demokratischen Rechtsstaat unterbauenden Wert der Anerkennung der Freiheit und Gleichheit aller als auch der Idee, dass Gesellschaft ein kooperatives Unternehmen zum Vorteile aller sei, zuwider. Darüber hin-

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aus kennzeichnet sich demokratische Politik unter Rahmenbedingungen eines vernünftigen Pluralismus nicht nur als Koordinationsproblem zwischen Bürger*innen mit gleichen Interessen, sondern auch in Teilen als Kooperationsproblem zwischen unterschiedlichen umfassenden Lehren und deren normativen Ansprüchen (Rawls 2017, 131 f.; vgl. Nagel 1987, 215 f.). Zu deren legitimen Regelung kann ein Marktmechanismus nicht dienen. Ob zum Beispiel moralisch umstrittene Praktiken wie Abtreibung oder Stammzellforschung erlaubt sein sollten, ist nichts, was durch die gut koordinierte Verfolgung von partikularen Interessen gelöst werden könnte. Folglich weisen Rawls und auch Rousseau darauf hin, dass die Filterung politische Gründe in Bezug auf ihre allgemeine Akzeptabilität eine normativ notwendige Bedingung der politischen Entscheidungsfindung ist. Im Falle von Rousseaus Philosophie konkretisiert sich diese Filterung darin, dass sich Bürger*innen im Gesetzgebungsprozess, das bedeutet also bei der Entwicklung beziehungsweise Weiterentwicklung der Verfassung (Rousseau 1977, 40 f.), von ihren zum Beispiel ökonomisch bedingten Partikularinteressen distanzieren, da diese nicht die allgemeine Akzeptanz von allen finden könnten. Vielmehr orientieren sie sich in ihrer Entscheidungsfindung an der Frage, was im Gemeininteresse aller liege, und bilden damit im Aggregat den Gemeinwillen, den volonté générale. Dieser nun ist berechtigt, Gesetze zu geben (ebd., 27). (Das übrigens, was heute als „Gesetz“ bezeichnet wird, benennt Rousseau als „Verordnung“ (ebd. 59).) Es wäre verfehlt, Rousseau in diesem Kontext autoritäre Absichten zu unterstellen. Indem sich der Gemeinwille an der Akzeptanz aller Bürger*innen ausrichtet, kann es sogar der Fall sein, dass nur die berechtigten Interessen einer Minderheit oder von Einzelnen diesen bestimmen. „Der Souverän kann sehr wohl sagen: In diesem Augenblick will ich, was ein bestimmter Mensch will“ (ebd., 27). In Rawls’ (2017, 313–316) Philosophie findet sich analog der Standpunkt vor, dass verfassungsrechtliche Materien nur durch öffent-

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lich vernünftige Gründe, welche also folglich die Akzeptanz aller Rechtsunterworfenen finden können, normiert werden dürfen. Nur dadurch werden die Freiheit und Gleichheit einer und eines jeden nicht verletzt. Denn die Filterung der Gründe gewährt, dass niemand „bloß zum Mittel“ (Kant GMS, AA IV, 429,12) zugunsten der Verfolgung eines arbiträren Zwecks entwürdigt wird, sondern unter politischen Normen lebt, die er sich selbst geben und akzeptieren kann. Es zeigt sich, dass sowohl in Bezug auf den Geltungsbereich als auch auf die Begründung Rousseau und Rawls gleiche Ansichten dahingehend teilen, wann und wieso das Prinzip öffentlicher Rechtfertigung greifen muss. Zur Stabilität eines freiheitlichen Gemeinwesens bei Rousseau Wie Rawls (2017, 13, 109, 139) widmet sich auch Rousseau (1977 47 f.; vgl. Rawls 2007, 210) schließlich der pragmatischen Frage, wie die Stabilität eines freiheitlichen, gerechten Gemeinwesens zu gewährleisten ist. Die Problematik besteht darin, dass diese Stabilität per definitionem nicht exogen zustande kommen darf, beispielsweise durch die gewaltsame Beherrschung von einer mit militärischen Mitteln ausgestatten Dynastie. Dies wäre offensichtlich nicht mit dem republikanischen Ideal der Selbstgesetzgebung zu vereinen. Dagegen könne endogene Stabilität durch ein kluges institutionelles Design begünstigt werden, zum Beispiel durch die Ermöglichung einer pluralistischen Landschaft von Parteiungen (Rousseau 1977, 32). Andererseits bedarf es aber auch eines gewissen Maßes an Tugendhaftigkeit vonseiten der Bürger*innen, um zum Wohle der Gemeinschaft von ihren egozentrischen Interessen abzusehen und entsprechend des Gemeinwohls zu agieren. Sowohl Rawls (2017, 120–127) als auch Rousseau (1977, 47 f., 58–60) teilen damit die Auffassung, dass der, um die bekannte Formulierung ErnstWolfgang Böckenfördes (2007, 71) heranzuziehen, demokratische Rechtsstaat von „Voraussetzungen lebe, die er selber nicht garantieren kann“. Beide identifizieren zudem lebensweltliche Strukturen, derer sich die Bürgertugenden bedienen können.

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Das für die Stabilität des Gemeinwesens notwendige Maß an Tugendhaftigkeit kann für Rousseau (ebd., 150) damit dauerhaft bereitgestellt werden, dass im Gemeinwesen eine Zivilreligion vorhanden ist, welche mithilfe von religiösen Überzeugungen die zunächst säkular scheinenden republikanischen Tugendpflichten überbaut, wodurch diese eine zusätzliche Dignität erhalten. „In diesem Fall heißt für sein Vaterland zu sterben zum Märtyrer werden, die Gesetze verletzen bedeutet Gottlosigkeit, und einen Schuldigen der öffentlichen Ächtung preisgeben heißt, ihn dem Zorn der Götter ausliefern“ (ebd., 146 f.). Doch es wäre gleichwohl mit den bürgerlichen Freiheiten offenkundig unvereinbar, wenn sich diese religiösen Vorstellungen in der Sozialform einer Staatsreligion realisierten. Ferner bemerkt Rousseau (2009, 21, 23) in seinen vergleichsweise weniger bekannten Friedenschriften, dass es einen friedensstiftenden Effekt habe, wenn Religionsgemeinschaften sich transnational ausbreiten. Denn indem die Bürger*innen des anderen Staats zwar nicht Mitglieder der eigenen Bürgerschaft, aber als Schwestern und Brüder im Glauben anerkannt werden, verhindert transnationale Religionszugehörigkeit nationale Egoismen, die internationale Konflikte bedingen könnten. Eine Staatsreligion sei also auch aus funktionalen Erwägungen abzulehnen. Die Zivilreligion muss sich dementsprechend für Rousseau (1977; 150 f.) nur als ein Modul in den im Staat vorzufindenden diversen Glaubensvorstellungen verwirklichen. Als ein solches enthält sie die folgenden absichtlich abstrakten Annahmen, deren konkrete „Erklärungen und Erläuterungen“ (ebd., 151) den spezifischen Glaubenssystemen vorbehalten bleibt: Positiv muss sie sowohl von (1) der Existenz eines „allmächtigen, allwissenden, wohltätigen, vorhersehenden und sorgenden“ (ebd.) Gottes als auch (2) eines „zukünftige[n] Lebens“ (ebd.) ausgehen, in dem spätestens das „Glück des Gerechten und die Bestrafung des Bösen“ erfolgt. Ferner muss sie wie auch immer von der (3) „Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze“ (ebd.) überzeugt sein. Nega-

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tiv muss sie lediglich (4) religiös-weltanschauliche Intoleranz ächten; etwas, das zum Beispiel von Jürgen Habermas (2005, 143) später in seiner Behandlung des Verhältnisses von Religion und demokratischer Politik als wichtige Voraussetzung für die Teilnahme religiöser Bürger*innen am öffentlichen Vernunftgebrauch identifiziert wird. Es ist intuitiv einleuchtend, wie sich das Verbot von Intoleranz (4) sowie die Sakralisierung des contrat social (3) bezüglich ihrer sozialintegrativen Funktion erklären lassen. Der Glaube an einen theistisch verstandenen Gott (1) und die eigene Unsterblichkeit (2) ließe sich im Anschluss an Immanuel Kants Postulatenlehre und Religionsphilosophie (KpV AA VI, 122–124; RGV AA VI), die ebenfalls aus praktischen Erwägungen Gottes Existenz und die eines Jenseits postuliert, in der Hinsicht als sozialintegrativ deuten, dass nur durch diese Annahmen die unbedingte Einhaltung der Bürgerpflichten durch die Androhung entsprechender Sanktionen bei Fehlverhalten vonseiten einer allwissenden Entität sichergestellt wird, und sei es auch in jenseitiger Zukunft. Diese beiden zivilreligiösen Glaubensartikel können also folglich der Gefahr des Trittbrettfahrens entgegenwirken. Zur Stabilität eines freiheitlichen Gemeinwesens bei Rawls Die hier von Rousseau systematisch beschriebene Zivilreligion wurde des Öfteren in mehr empirisch orientierten Arbeiten in der USamerikanischen Gesellschaft realisiert gesehen (de Tocqueville 1962 [1835], 160–162; Lipset 1983, 68; Bellah 2005; vgl. Reese-Schäfer 1997, 310–334; Weithman 2002, 91). Unter anderem in dieser identifiziert Rawls (1989) nun auch die Existenz eines überlappenden Konsenses, der unter anderem für die Stabilität des Gemeinwesens Sorge trägt (vgl. Thrasher/Vallier 2015). Der überlappende Konsens bildet sich aus verschiedenen vernünftigen umfassenden Lehren, die analog zu Rousseaus politischer Theorie die normative Ordnung des demokratischen Rechtsstaats mit dichten „Erklärungen und Erläuterungen“ (Rousseau 1977,

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151) auf je ihre eigene Art und Weise dem Individuum umfassend begründen und damit Adhärenz erzeugen können. Wie bei Rousseau ist damit das demokratische Ethos in den umfassenden Lehren ein Modul in einem größeren Narrativ, welches der überzeugten Person darüber hinaus auch spezifische Informationen darüber gibt, in welchen umfänglichen, vielleicht kosmologischen Gesamtzusammenhang dieses Ethos eingewoben ist und wie sich die individuelle Identität darin verortet (Rawls 2017, 133; vgl. Schmidt 2008, 96–99); eine Idee, die sich übrigens dann auch in der Staatstheorie Hegels (1986 [1832], 236–246) wiederfindet. Wenn es um die notwendigen Inhalte einer als vernünftig zu klassifizierenden umfassenden Lehre geht, ist Rawls (ebd., 133 f.) wie auch Rousseau Kind seiner Zeit und in der Hinsicht zurückhaltender, als er nicht mehr dezidiert monotheistische Annahmen für notwendig erachtet. Unter Rahmenbedingungen pluralistischer Gesellschaften, in der Menschen auch keinen Gottesglauben haben, scheint ihm dies nur adäquat. Eine vernünftige umfassende Lehre muss vielmehr wie auch immer die Freiheit und Gleichheit einer und eines jeden, Toleranz und die daraus resultierende Bereitschaft zum öffentlich Vernunftgebrauch beinhalten, darin auch dezidiert enthalten, die Bereitschaft die Autorität wissenschaftlicher Erkenntnis und des common sense anzuerkennen (Rawls 2017, 133 f., 142). Sie kann dies auf genuin religiöse Weise tun, aber auch mithilfe von gänzlich anders gelagerten Vorstellungen. Vernünftige umfassende Lehren überlappen sich folglich dort, wo sich allgemein akzeptierbare Werte und Handlungsdispositionen vorfinden, die für die Stabilität des demokratischen Rechtsstaats von Bedeutung sind. Dies könnte zu einem Missverständnis beitragen, das abschließend auszuräumen ist: Der Überlappungspunkt der umfassenden Lehren respektive der diversen religiösen Überzeugungen ist weder für Rawls noch Rousseau rechtfertigungstheoretisch von Interesse, sondern beiden geht es um die Beschreibung dessen, was für die Stabilität des Gemeinwesens innerhalb einer politischen Kultur notwendig ist. Überlappung allein begründet

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nicht das, was gerecht ist. Insofern kann das empirische Auffinden von Überlappungspunkten für sich allein genommen, kein Indiz für gerechte Normen sein (vgl. Forst 2013, 129).

Literatur Becker, Werner: Die Freiheit, die wir meinen. Entscheidung für die liberale Demokratie. München 1982. Bellah, Robert N.: Civil religion in America. In: Daedalus 134/4 2005, 40–55. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik. In: Ders.: Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt a. M. 1991, 159–199. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Heinrich Meier (Hg.): Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert. München 2007 [1967], 43–72. Buchanan, James M.: Die Grenzen der Freiheit. Tübingen 1984. de Tocqueville, Alexis: Über die Demokratie in Amerika, zweiter Teil. Hg. I. P. Mayer. Stuttgart 1962 (frz. 1835). Fetscher, Iring: Rousseaus Politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs. Neuwied a.Rh. 21968. Forst, Rainer: Gerechtigkeit und Demokratie in transnationalen Kontexten. Eine realistische Betrachtung, In: Hubertus Buchstein (Hg.): Die Versprechen der Demokratie. Baden-Baden 2013, 125–139. Habermas, Jürgen: Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den „öffentlichen Vernunftgebrauch“ religiöser und säkularer Bürger. In: Ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 2005, 119–154. Habermas, Jürgen: Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte. In: Ders.: Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Berlin 2011, 13–38. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. Frankfurt a. M. 1986 [1832].

M. Roseneck Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Kants gesammelte Schriften. Hg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften. Berlin 1911, Bd. 4. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. In: Kants gesammelte Schriften. Hg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften. Berlin 1913, Bd. 5. Kant, Immanuel. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In: Kants gesammelte Schriften. Hg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften. Berlin 1914, Bd. 6. Lipset, Seymour Martin: Political man. The social basis of politics. London 1983. Nagel, Thomas. Moral conflict and political legitimacy. In: Philosophy & Public Affairs 16/3, 215–240. Rawls, John: The domain of the political and overlapping consensus. In: New York University Law Review 64/2 1989, 233–255. Rawls, John: Lectures on the History of Political Philosophy. Hg. von Samuel Freeman. Cambridge, Mass. 2007. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 2017 62017 (engl. 1993). Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 212019 (engl. 1971). Reese-Schäfer, Walter: Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik. Frankfurt a. M. 1997. Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Hg. Hans Brockard. Stuttgart 1977 (frz. 1762). Rousseau, Jean-Jacques: Diskurs über die Ungleichheit. Hg. Heinrich Meier. Paderborn 52001. Rousseau, Jean-Jacques: Entwurf eines fortdauernden Friedens. In: Friedenschriften. Hg. Michael Köhler. Hamburg 2009 (frz. 1761). Schmidt, Thomas M.: Öffentliche Vernunft – vernünftige Öffentlichkeit? Zum Verhältnis von Rationalität und Normativität in Rawls’ politischem Liberalismus: In: Thomas M. Schmidt/Michael G. Parker (Hg.): Religion in der pluralistischen Öffentlichkeit. Würzburg 2008, 87–103. Thrasher, John/Vallier, Kevin: The fragility of consensus: public reason, diversity and stability. In: European Journal of Philosophy 23/4 2015, 933–954. Weithman, Paul J.: Religion and the obligations of citizenship. Cambridge 2002.

Teil VI

Begriffe und Konzepte

Altruismus/Egoismus

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Henriette Hufgard

Die Begriffe Egoismus (Selbstsucht oder Eigenliebe) und Altruismus (Nächstenliebe oder Uneigennützigkeit) bilden ein konzeptuelles Gegen­ satzpaar. Im Allgemeinen bedeutet egoistisches Handeln, ausschließlich auf den eigenen Vorteil zu achten und altruistisches Handeln, nicht von Eigeninteressen geleitet und zum Wohl der Anderen zu handeln. Dabei ist es für altruistisches Handeln nicht zwingend, dass man sich in egalitärer Weise für die Vorteile jedes*jeder Einzelnen einsetzt. Die eigenen Ziele und Wünsche können auch nur für eine bestimmte Gruppe, z. B. die eigene Familie oder Mitglieder einer Gemeinschaft, aufgegeben werden (vgl. Mandle 2015, 9). Rawls verwendet die Begriffe Egoismus und Altruismus in erster Linie, um seine Theorie der Gerechtigkeit als Fairness vom Utilitarismus abzugrenzen, den er als Ethik der „vollkommenen Altruisten“ (Rawls 1975, 216) bezeichnet. Er arbeitet anhand von Egoismus und Altruismus in Theorie der Gerechtigkeit entscheidende Konzepte seiner Vertragstheorie heraus: die Reziprozität oder Gegenseitigkeit, den beiderseitigen Vorteil, das gegenseitige Desinteresse, die Unparteilichkeit und den Gerechtigkeitssinn.

H. Hufgard (*)  Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland

In Politischer Liberalismus entwickelt Rawls sein Konzept des Vernünftigen aus Theorie der Gerechtigkeit in Abgrenzung zu Utilitarist*innen wie Bentham Hobbes und Sidgwick für eine demokratische Gesellschaft weiter. Er betont, dass vernünftiges Handeln weder altruistisch noch egoistisch motiviert ist. In einer vernünftigen Gesellschaft können sich alle Bürger*innen als Freie und Gleiche begegnen – sie sind „weder eine Gesellschaft von Heiligen noch eine Gesellschaft von Egozentrikern“ (Rawls 2013, 127). Des Weiteren baut er die Tragweite des Konzeptes der Reziprozität und des Gerechtigkeitssinnes als konstitutiv für eine demokratische Gesellschaftsordnung aus. Eine stabile, demokratische Gesellschaft stützt sich weder auf einen starken Altruismus als moralisches Prinzip noch auf einen starken Egoismus, welcher jegliche Art altruistischen Handelns grundsätzlich ausschließen würde. Wenn hingegen in einer Gesellschaft von einigen Mitgliedern zum Wohle der Mehrheit ein nicht mit der Vernunft des Einzelnen vereinbares Maß an Altruismus erwartet wird, verletzt dies das Prinzip der Gegenseitigkeit. Dies ist der Fall, „wann immer Grundfreiheiten verweigert werden“ (Rawls 2002, 173). Verletzungen des Gegenseitigkeitsprinzips liegen z.  B. vor, wenn bestimmten Personen die Religionsfreiheit vorenthalten wird, Sklaverei toleriert wird, das Wahlrecht vom persönlichen Besitz abhängt oder es Frauen bzw. weiblich gelesenen Personen ganz verweigert wird (vgl. ebd.).

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_19

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Die Überwindung der Schwächen des Utilitarismus Rawls konzipiert seine Gerechtigkeitstheorie mitunter zur Überwindung zentraler Schwächen des Utilitarismus. Eine der Schwächen des Nutzenprinzips ist, dass es zur Ordnung der Gesellschaft „starke und beständige altruistische Motive“ (Rawls 1975, 31) voraussetzt. Diese starken altruistischen Motive verlangen vom Menschen gegebenenfalls langfristig auf eigene Vorteile und auf die Verwirklichung eigener Interessen und Lebensziele zu verzichten, weil es „die Summe der Annehmlichkeiten für alle zusammengenommen erhöht“ (ebd.). Dies birgt die Gefahr einer wachsenden Instabilität für die gesellschaftliche Ordnung, denn auf „vernünftige, langfristige Pläne“ (Rawls 1975, 151) und Ziele zu verzichten, ist nicht mit Rawls theoretischer Vorannahme eines vernünftigen Menschen vereinbar. Vernünftige Menschen richten ihr Handeln, anders als altruistisch oder egoistisch motivierte Menschen, weder nach dem größtmöglichen Allgemeingut noch nach der ausschließlichen Erfüllung ihrer Eigeninteressen. Stattdessen streben sie nach einer sozialen Welt, in welcher sie sich als freie und gleiche Personen begegnen können (vgl. Laden 2015, 214) und in der eine Zusammenarbeit unter Bedingungen ermöglicht wird, die alle vernünftigerweise akzeptieren können. Statt des moralisch Guten als höchstem Prinzip wählt Rawls deswegen das Gerechte als Maßgabe für die Konzeption seiner Gesellschaftstheorie. Weder wird dem Menschen abgesprochen, sich mehrheitlich für seine eigenen Interessen einzusetzen und sein Recht einzufordern, noch wird ihm abgesprochen, zu altruistischem Handeln fähig zu sein – beispielsweise gegenüber Freund*innen oder Familienmitgliedern. Indem Rawls – im Gegensatz zum Utilitarismus, welcher beispielsweise eine Sklav*innengesellschaft nicht nur erlaubt, sondern in einigen Fällen sogar moralisch gebieten kann – in seiner Theorie den Rechten der Einzelnen Vorrang vor dem kollektiven Nutzen gewährt (vgl. Höffe 2013, 13), schließt er an demokratische Gesellschaftskonzepte an und fördert zugleich die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung.

H. Hufgard

Altruismus und Egoismus im Urzustand Im Urzustand in Theorie der Gerechtigkeit sind weder ein starker Altruismus noch ein starker Egoismus geeignete moralische Vorannahmen für die Natur des Menschen. Zu unterscheiden sind zudem im Fall des Egoismus der Egoismus als psychologisches Gesetz und der Egoismus als Leitmotiv moralisch gebotenen Handelns. Beim Egoismus als ethischem Handlungsprinzip wird davon ausgegangen, dass alle Entscheidungen des Menschen egoistisch und darin normativ gut sind. Rawls führt den Egoismus zwar anfänglich in drei Formen als mögliches Grundprinzip der Gerechtigkeit auf, aus denen die Menschen im Urzustand wählen dürfen. Alle drei Formen werden jedoch bereits im nächsten Schritt disqualifiziert, weil sie den fünf formalen Bedingungen des Gerechten nicht genügen. Rawls nennt die „Ein-Mann-Diktatur: Jeder hat meinen Interessen zu dienen“, den „Sonderstatus: Jeder hat gerecht zu handeln, aber ich kann mich ausnehmen“ und den „Allgemeinen Egoismus: Jeder kann ihre Interessen verfolgen, wie er gerade will“ (Rawls 1975, 146 f.). Die Ein-MannDiktatur und der Sonderstatus verstoßen gegen die Bedingung der Allgemeinheit. Der Allgemeine Egoismus genügt zwar der Allgemeinheitsbedingung, da er für alle gilt, aber er verstößt gegen die Bedingung der Rangordnung, denn die einzelnen Ansprüche der verschiedenen Egoist*innen lassen sich nicht in eine generelle Hierarchie von Interessen gliedern (ebd., 158 f.). Der Egoismus ist für Rawls letztendlich „nicht wirklich ein moralisches Konzept“ (Rawls 1999, 290 Übers. d. A.,), sondern eine Herausforderung, die es für jegliche moralische Konzeption zu überwinden gilt. Der Egoismus im psychologischen Sinne als Selbstsucht oder Eigenliebe diente bereits Utilitarist*innen wie Bentham zur Konzeption ihrer Vertragstheorie (vgl. Rawls 1975, 495). In Rawls Gedankenexperiment des Urzustands zeichnen sich die Menschen hinter dem Schleier des Nichtwissens, statt durch perfekten Altruismus oder perfekten Egoismus, durch ihre Vernünftigkeit und durch ihr gegenseitiges Desinteresse aus.

19 Altruismus/Egoismus

Das gegenseitige Desinteresse, das Rawls auch „begrenzte[n] Altruismus“ (ebd., 170) nennt, hat den Vorteil, eine schwache, einfache und klare Vorannahme zu sein, was der Stabilität der Theorie dient. Die Menschen im Urzustand vertreten ihre eigenen Interessen in ihrer Funktion als Repräsentant*innen einer späteren Gesellschaft, ohne Blick auf die Interessen der Anderen und ohne Neid. Sie sind dabei aber keine „rationalen Egoisten“ (Rivera-Castro 2015, 93; Übers. d. A.,) im Sinne Sidgwicks, die genuin unfähig zu altruistischem Handeln sind. Vielmehr erfüllen sie ihre Pflicht, wenn sie die Interessen ihres Selbst vertreten (vgl. Audard 2007, 126 f.). Sie treten für ihre Grundrechte und Grundfreiheiten ein und damit stellvertretend für die Rechte aller möglichen Menschen einer zukünftigen, pluralistischen Gesellschaft. Diese pluralistischen Interessen betreffen nicht nur den Zugang zu natürlichen Ressourcen oder Hilfsmitteln, sondern beziehen sich auch auf „philosophische, religiöse, politische und gesellschaftliche Anschauungen“ (Rawls 1975, 150). Der Altruismus ist, wenn er nicht als perfekter oder unparteilicher Altruismus verstanden wird (vgl. Mandle 2015, 9), auf Personen beschränkt, die dem jeweiligen Individuum nahestehen. Das macht den Altruismus als moralische Idee für Rawls nicht unmöglich oder zum verdeckten Egoismus, sondern qualifiziert ihn lediglich nicht als konstitutive Eigenschaft für Menschen im Urzustand. Aber auch eine mögliche perfekte, unparteiliche Altruistin bildet für Rawls keinen Ausgangspunkt für die Menschen im Urzustand. Denn für ein Funktionieren des Gedankenexperiments sind gerade die entstehenden Interessenkonflikte konstitutiv, da nur über die Grundsätze der Gerechtigkeit entschieden werden kann, wenn eine „gewisse Knappheit“ (Rawls 1975, 149) der verschiedenen Ressourcen besteht. Wenn unter solchen Umständen niemand Ansprüche erhebt, sondern seine*ihre Interessen nur im Wohlergehen seiner*ihrer Nächsten erfüllt fände, käme kein Konflikt zustande und das Experiment des Urzustandes wäre unfruchtbar. Nur, wenn jede*r „Bedürfnisse erster Ordnung“ (ebd., 216) hat, die nicht in zweiter Ordnung

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von Wünschen anderer abhängig sind, treten die unterschiedlichen Ansprüche gezwungenermaßen in Konkurrenz zueinander und die Wahl eines Gerechtigkeitsprinzips wird erforderlich. Wären natürliche Ressourcen und andere Hilfsmittel im Überfluss vorhanden, wäre eine „planvolle Zusammenarbeit nicht notwendig“ (ebd., 149) und kein Anwendungsverhältnis für die Gerechtigkeit gegeben. Ob es sich bei einem Interesse um ein egoistisches Interesse handelt oder lediglich um das Interesse eines Ichs, ist im ersten Schritt der Prinzipienwahl zunächst unerheblich. Rawls macht es vom Ziel des jeweiligen Interesses abhängig, ob ein Mensch egoistisch ist: „Seine Ziele haben mit ihm selbst zu tun: seinem Besitz und seiner Stellung, seinen Freunden und seinem Ansehen usw.“ (ebd., 616). Interessen eines Ichs, die nicht egoistisch sind, nennt er hingegen „vernünftige[] Lebenspläne[]“ (ebd., 286). Wer hinter dem Schleier des Nichtwissens ihre*seine Grundrechte verteidigt, ist im Rawlsschen Sinne nicht egoistisch, sondern in gerechter Weise eigeninteressiert. Reziprozität zwischen altruistischer Unparteilichkeit und gegenseitigem Vorteil Das gegenseitige Desinteresse, welches Rawls in Theorie der Gerechtigkeit zur Beschreibung der Menschen im Urzustand einführt, wird ergänzt durch die Begriffe der Gegenseitigkeit oder Reziprozität, der Unparteilichkeit und des Gerechtigkeitssinns. Ausgehend von evolutionstheoretischen Erkenntnissen argumentiert Rawls dafür, dass es neben Altruismus und Egoismus noch eine dritte Form moralischen Verhaltens gebe, nämlich den gegenseitigen Altruismus oder nach Rawls „einfach Gegenseitigkeit“ (ebd., 546). Reziprozität ist das moralische Konzept, von welchem aus Rawls das Differenzprinzip entwickelt. Es ist ein Konzept, welches einen gegenseitigen Vorteil für alle Beteiligten annimmt und soziale Kooperation begünstigt, da davon ausgegangen wird, dass vernünftige Menschen nur Zustimmung für etwas verlangen, was auch vernünftiger Weise von allen akzeptiert werden kann. Rawls verortet die Reziprozität konzeptuell „zwischen der Vorstellung der

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Unparteilichkeit, die altruistisch ist, […] und derjenigen des gegenseitigen Vorteils“ (Rawls 2013, 82). Reziprozität kann im Unterschied zum Altruismus von den anderen Akteur*innen erwartet werden, ohne dass eine der Parteien weder auf ihren eigenen, vernünftiger Weise vertretbaren Vorteil verzichten muss, noch gänzlich egoistisch handeln muss. Diese Konzeption gestattet es, Dinge, die bei rein egoistischem Handeln nicht möglich wären – wie Freundschaft, Liebesbeziehungen oder gegenseitiges Vertrauen – als handlungsleitende Motive in das zugrundeliegende Menschenbild zu integrieren. Rawls unterscheidet Reziprozität in Politischer Liberalismus des Weiteren von der Idee des gegenseitigen Vorteils, da ein gegenseitiger Vorteil nur erwachsen kann, wenn beide Seiten gleichermaßen etwas zu geben haben. Ungleichverteilungen können so nicht behoben werden. Im Konzept der Gegenseitigkeit hingegen liegt der Fokus auf dem Erschaffen eines sozialen Raums, in dem sich alle Bürger*innen respektvoll als freie und gleiche Menschen begegnen können, ohne stärkere altruistische oder egoistische Bande zueinander zu hegen. Indem Rawls das Konzept der Gegenseitigkeit als schwach altruistisches formuliert, macht er sein Gerechtigkeitsprinzip von anderen moralischen Prinzipien unabhängiger. Seine Theorie genügt damit sowohl Kantschen Maßstäben der Vernunft als sie auch für Menschen einsehbar ist, die beispielsweise „das gottgefällige Leben für das beste halten“ (Pogge 1994, 198) oder anderweitige Moralvorstellungen haben. Der Gerechtigkeitssinn als vernünftiges Moralprinzip Indem Rawls sich sowohl gegen ein rein altruistisches als auch gegen ein rein egoistisches Menschenbild entscheidet, bildet er die Grundlage für sein Konzept des Gerechtigkeitssinns. Der menschliche Gerechtigkeitssinn ist für Rawls, ähnlich wie bereits für Rousseau in Emile, grundlegend für „die Gesellschaftsfähigkeit des Menschen“ (Rawls 1975, 537). Er darf nicht mit Altruismus oder generellem Wohlwollen

H. Hufgard

verwechselt werden. Der Gerechtigkeitssinn drückt nicht das Verlangen nach einer bestimmten Sache oder einem naturgemäßen Zustand aus, sondern äußert sich als Bedürfnis danach, Normen und Konventionen gemäß zu handeln. Solche Normen kommen in einer wohlgeordneten demokratischen Gesellschaft in Form von Gesetzen, Regeln oder Gerechtigkeitsprinzipien zum Ausdruck (vgl. Freeman 2007, 249). Rawls erhebt die Bürger*innen einer wohlgeordneten demokratischen Gesellschaft zu den Expert*innen, welche mittels ihrer moralischen Vermögen im Urzustand die Grundprinzipien der Gerechtigkeit festlegen können (vgl. Audard 2007, 227). Statt von egoistisch oder altruistisch motivierten Menschen auszugehen, zeichnen sich die Menschen bei Rawls durch ihren Gerechtigkeitssinn aus. Richard Rorty analysiert dies als Verbindung von Philosophie und Demokratie (vgl. Rorty 1991, 189). Der Gerechtigkeitssinn der Bürger*innen verweist darauf, dass diese in einer freien Gesellschaft leben, sie ungehinderten Zugang zu Informationen haben, welche sie diskutieren und reflektieren können, und die Möglichkeit zu politischer Partizipation gegeben ist. Martha Nussbaum weist im Rahmen einer feministischen Rezeption von Rawls Gerechtigkeitstheorie in Rawls and Feminism darauf hin, dass der Rawlssche Gerechtigkeitssinn altruistisches Handeln (z. B. in Form von Mitgefühl, Kindererziehung oder sonstiger Care-Arbeit) nicht ausschließt, es jedoch auch nicht ersetzen kann. Rawls unterscheidet, um zu begründen „warum der Altruismus keine angemessene motivationale Disposition“ (Frühbauer 2007, 79) für das Setzen von Gerechtigkeitsprinzipien sei, zwischen Gerechtigkeitssinn und Menschenliebe. „[Z]u beiden gehört ja das Streben nach Gerechtigkeit“ (Rawls 1975, 219), die Menschenliebe ist jedoch umfassender ausgerichtet als der Gerechtigkeitssinn. Da die Menschenliebe als Begriff zweiter Ordnung bereits inhaltlich gefüllt ist, eignet sie sich nicht als formales Axiom: Liebe und Altruismus „suchen das Wohl geliebter Menschen zu fördern, das bereits bestimmt ist.“ (ebd., 219). Dagegen versteht Rawls den

19 Altruismus/Egoismus

Gerechtigkeitssinn als formalen Leitsatz, dessen inhaltliche Ausdeutung noch nicht festgelegt ist. Er zählt zu den Voraussetzungen im Urzustand, die die gegenseitig desinteressierte Wahl der Grundprinzipien der Gerechtigkeit absichern und in Politischer Liberalismus die Stabilität der demokratischen Gesellschaft ermöglichen.

Literatur Audard, Catherine: John Rawls. Stocksfield 2007. Freeman, Samuel: Rawls. Oxon/New York 2007. Frühbauer, Johannes: John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“. Darmstadt 2007. Höffe, Otfried: Einführung in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. In: John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Hg. Otfried Höffe. Berlin 32013.

195 Laden, Anthony S.: Difference principle. In: Jon Mandle/ David A. Reidy (Hg.): The Cambridge Rawls lexicon. Cambridge 2015. Mandle, Jon: Altruism. In: Jon Mandle/David A. Reidy (Hg.): The Cambridge Rawls lexicon. Cambridge 2015. Pogge, Thomas W.: John Rawls. München 1994. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 1975 (engl. 1971). Rawls, John: The Independence of Moral Theory [1975]. In: John Rawls: Collected Papers. Hg. Samuel Freeman. Cambridge/London 1999. Rawls, John: Das Recht der Völker. Berlin/New York 2002 (engl. 1999). Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt am Main 42013 (engl. 1993). Rivera-Castro, Faviola: Circumstances of justice. In: Jon Mandle/David A. Reidy (Hg.): The Cambridge Rawls lexicon. Cambridge 2015. Rorty, Richard: Objectivity, relativism and truth. Cambridge 1991.

Bereich des Politischen

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Christian Schwaabe

Der Bereich des Politischen ist ein für das Verständnis des Rawlsschen Liberalismus zentrales Konzept. Es gewinnt in einer Reihe von Aufsätzen der 1980er Jahre an Bedeutung, mit denen Rawls die Theorie der Gerechtigkeit kommentiert und weiterentwickelt sowie mit denen vor allem seine Theorie eines politischen Liberalismus immer mehr an Gestalt gewinnt. Im Zentrum dieser Veränderungen stehen thematisch u. a. das Faktum des Pluralismus, der übergreifende Konsens und eben die Fokussierung auf den Bereich des Politischen. Hervorzuheben sind die Aufsätze „Justice as fairness: Political not metaphysical“ (1985), „The idea of an overlapping consensus“ (1987) und „The domain of the political and overlapping consensus“ (1989) sowie Rawls’ Vorlesungen aus den 1980er Jahren, die 2001 als „Justice as fairness. A restatement“ veröffentlicht wurden. In gebündelter Form präsentiert Rawls seine Überlegungen in Political liberalism (1993). Dort bemerkt er einleitend: „In A Theory of Justice wird eine in ihrem Anwendungsbereich allgemeine moralische Gerechtigkeitslehre nicht von einer im strengeren Sinne politischen Gerechtigkeitskonzeption unterschieden. Der Unterschied zwi-

C. Schwaabe (*)  Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

schen umfassenden philosophischen und moralischen Lehren auf der einen Seite und Konzeptionen, die auf den Bereich des Politischen beschränkt sind, auf der anderen spielt keine Rolle. Für die Vorlesungen in diesem Band dagegen sind diese Unterscheidungen und die damit verbundenen Ideen von grundlegender Bedeutung“ (Rawls 1998, 11). Political, not metaphysical – Ausgangspunkte und Grundzüge einer politischen Gerechtigkeitskonzeption „Die Umwandlung der Konzeption der Gerechtigkeit als Fairneß in eine politische Konzeption erfordert es, die Ideen, die zusammen die umfassende Lehre der Gerechtigkeit als Fairneß bilden, in politische Ideen umzuformulieren“ (ebd., 40). Diese Akzentverschiebungen sind für eine Theorie des Politischen überaus wichtig, obwohl sich der Inhalt der Gerechtigkeitskonzeption selbst dabei keineswegs grundlegend ändert. Ausgangspunkt und zentrale Herausforderung, der sich eine politische Gerechtigkeitskonzeption stellen muss, ist das Faktum des Pluralismus. Moderne Gesellschaften sind geprägt von einem unüberwindlichen Pluralismus von Vorstellungen vom Guten und entsprechenden umfassenden Lehren. Daraus leitet sich auch die Leitfrage des Liberalismus ab: „Wie kann eine gerechte und stabile Gesellschaft von freien und gleichen Bürgern

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_20

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dauerhaft bestehen, wenn diese durch ihre vernünftigen religiösen, philosophischen und moralischen Lehren voneinander getrennt sind“ (ebd., 35)? Der politische Liberalismus liefert mit seinem Vorrang des Rechten in dieser Situation eine letztlich alternativlose politische Antwort. Um den Streit über letzte Wahrheiten zu vermeiden, bedarf es aber einer überaus wichtigen Beschränkung sowohl der politischen Akteur*innen wie auch der politischen Philosophie: der bewussten Beschränkung auf den Bereich des Politischen. „Da es keine vernünftige religiöse oder moralische Lehre gibt, die von allen Bürgern bejaht wird, muß die in einer wohlgeordneten Gesellschaft bejahte Gerechtigkeitskonzeption auf das beschränkt bleiben, was ich den ‚Bereich des Politischen‘ und seine Werte nenne“ (ebd., 109). Eine moderne demokratische Gesellschaft ist notwendiger Weise – als Ergebnis ihrer eigenen Freiheit – gekennzeichnet durch das Nebeneinander einander ausschließender, aber gleichwohl vernünftiger umfassender Lehren. Die liberale Antwort auf diesen Pluralismus führt zu einem der Leitmotive des Rawlsschen Denkens: Justice as fairness – Political not metaphysical. Die umfassenden Lehren, also das Trennende und notorisch Strittige, sind möglichst aus dem Politischen herauszuhalten: „Kurz gesagt, es geht darum, dass in einem demokratischen Verfassungsstaat das öffentliche Verständnis von Gerechtigkeit so weit wie möglich von kontroversen philosophischen und religiösen Lehren unabhängig sein sollte. Indem wir eine entsprechende Konzeption ausarbeiten, wenden wir das Prinzip der Toleranz auf die Philosophie selbst an: die öffentliche Gerechtigkeitskonzeption muß politisch und darf nicht metaphysisch sein“ (Rawls 1992b, 255). Mit dieser „Methode der Vermeidung“ (ebd., 264), die strittige Wahrheitsfragen ausklammert, ist der politische Liberalismus in seiner Darstellungsweise eine „freistehende“ Auffassung. „Er bietet keine spezifische metaphysische oder erkenntnistheoretische Lehre, die über das hinausginge, was von der politischen Konzeption selbst vorausgesetzt wird. Als Darstellung politischer Werte bestreitet eine freistehende

C. Schwaabe

politische Konzeption nicht, dass es andere Werte gibt, die etwa auf das persönliche, familiäre und gemeinschaftliche Leben Anwendung finden; auch behauptet er nicht, dass politische Werte von anderen Werten losgelöst oder ohne Verbindung mit ihnen wäre. Ein Ziel liegt […] darin, den Bereich des Politischen und die auf ihn bezogene Gerechtigkeitskonzeption so zu beschreiben, dass seine Institutionen die Unterstützung eines übergreifenden Konsenses gewinnen können“ (Rawls 1998, 75 f.). Die genannte Vermeidungsstrategie gilt aber auch für die politische Praxis selbst: Die umfassenden Lehren – so wichtig sie für die Menschen auch sind – sollen sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen, sie sollen den öffentlichen Vernunftgebrauch nicht stören. „Der öffentliche Vernunftgebrauch – die öffentlich vorgetragenen Argumente der Bürger über wesentliche Verfassungsinhalte und grundlegende Fragen der Gerechtigkeit – wird jetzt am besten durch eine politische Konzeption geleitet, deren Grundsätze und Werte alle Bürger bejahen können“ (ebd., 75). Das heißt beispielsweise, dass genuin religiöse Gründe bei der politischen Suche nach Lösungen für gesellschaftliche Probleme keine entscheidende Rolle spielen dürfen, weil diese nur für die jeweiligen Glaubensschwestern und Glaubensbrüder, nicht aber für alle anderen Bürger*innen Gültigkeit beanspruchen können. In Dingen religiöser Überzeugung kann es schlechterdings keinen Konsens geben. Worauf sich vernünftige Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft aber einigen können und müssen, das ist der genuin politische übergreifende Konsens. Er bildet die normative Basis der Gesellschaft. Dieser liberale Basiskonsens ist ein aus Sicht der verschiedenen, in Fragen des Guten inkommensurablen umfassenden Lehren zustimmungsfähiges Ensemble gerechter Grundregeln, ohne das Kooperation und ein friedliches Miteinander gar nicht funktionieren würden. Dieser Konsens soll keineswegs völlig isoliert neben den umfassenden Lehren stehen, sondern sich in die verschiedenen umfassenden Lehren wie ein „Modul“ einfügen, und zwar so, dass „die Bürger selbst im Rahmen der Ausübung

20  Bereich des Politischen

ihrer Gedanken- und Gewissensfreiheit mit Blick auf ihre umfassenden Lehren die politische Konzeption als abgeleitet von oder übereinstimmend oder zumindest vereinbar mit ihren sonstigen Werten betrachten“ (ebd., 75 f.). Zuletzt sei eine nicht unwichtige Besonderheit einer politischen Konzeption genannt, die den normativen Anspruch mit einem pragmatischen Realitätssinn verbindet: Rawls beharrt darauf, „daß eine politische Konzeption praktikabel sein muß, also in den Bereich der Kunst des Möglichen fällt. Hier besteht ein Gegensatz zu einer moralischen Konzeption, die nicht politisch ist“ (Rawls 2003, 282). Der Bereich des Politischen und seine Besonderheiten Drei Merkmale kennzeichnen eine politische Gerechtigkeitskonzeption (Rawls 1998, 76–81): 1) Den Gegenstand einer politischen Konzeption bildet die Grundstruktur einer Gesellschaft, also deren wichtigste politische, soziale und wirtschaftliche Institutionen wie auch die Art und Weise, in der sie sich zu einem Generationen übergreifenden System sozialer Kooperation zusammenfügen. 2) In ihrer Darstellungsweise präsentiert sich eine politische Gerechtigkeitskonzeption als freistehende Auffassung, sie wird also ohne Bezug zu einer umfassenden Lehre entwickelt (siehe oben). 3) Ihr Inhalt wird in Begriffen grundlegender Ideen ausgedrückt, die als Bestandteil der öffentlichen Kultur einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden (dazu im Folgenden mehr). Rawls ist es wichtig zu betonen, „dass Gerechtigkeit als Fairneß keine angewandte Moralphilosophie ist“. Vielmehr ist sie „die Formulierung eines Bündels sehr bedeutender (moralischer) Werte, die zur Anwendung auf politische Institutionen geeignet sind; sie bestimmt diese Werte mit Blick auf die besonderen Merkmale der politischen Beziehung, die sich von anderen Beziehungen unterscheidet“ (Rawls 1992c, 345). Zwei besondere Merkmale der politischen Beziehungen in einer konstitutionellen Ordnung hebt Rawls hervor (Rawls 1998, 221): 1) Politische Beziehungen sind Beziehungen innerhalb der grundlegenden Institutionen der Gesell-

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schaft, in die wir durch Geburt eintreten und im Normalfall nur durch den Tod wieder austreten; die politische Gesellschaft ist geschlossen, und wir können in sie nicht ähnlich einfach und nach Belieben ein- und austreten, wie dies im Falle anderer Vereinigungen weithin problemlos möglich ist: 2) Politische Macht ist stets die von staatlichen Sanktionen getragene Zwangsmacht, und nur der Staat hat die Möglichkeit, kollektiv uneingeschränkt verbindliche Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen; diese Macht ist in einer konstitutionellen Ordnung letztlich die kollektive Macht freier und gleicher Bürger*innen. Beide Aspekte lassen in besonderer Weise die Frage nach der Legitimierung dieser Form von Macht stellen. „Der politische Liberalismus ist also der Ansicht, daß es einen besonderen Bereich des Politischen gibt, der (unter anderem) durch diese Merkmale bestimmt wird. So verstanden ist der Bereich des Politischen unterschieden vom Bereich der Vereinigungen, für den eine Form von Freiwilligkeit charakteristisch ist, die für das Politische nicht gilt. Das Politische unterscheidet sich auch vom Persönlichen und vom Familiären, die in einer Weise gefühlsbezogen sind, wie es das Politische wiederum nicht ist“ (Rawls 1992c, 346). Gegen Vorstellungen substantieller Formen von Sittlichkeit im Politischen, wie sie u. a. von Hegel und in seiner Nachfolge eingefordert werden, setzt Rawls die klassisch liberale Überzeugung, „daß eine demokratische Gesellschaft keine Gemeinschaft ist und keine Gemeinschaft sein kann“ (Rawls 2003, 22). Moderne liberale Gesellschaften sollten den Bereich des Politischen auch in dieser Hinsicht klug beschränken und sich selbst (lediglich) als ein faires System langfristiger Kooperation begreifen. Als weiteres Charakteristikum des Bereichs des Politischen kann man anführen, dass hier die Bürden des Urteilens besonders ins Gewicht fallen und für Konflikte sorgen, die ohne eine liberale Handhabung schnell und gefährlich eskalieren könnten: „Besonders akut sind diese Schwierigkeiten, wenn es um politische Urteile geht, denn hier sind die aufgeworfenen Fragen äußerst komplex, die Belege oft verschwommen

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und die üblicherweise angesprochenen Konflikte heftig“ (ebd., 70). Nebenbei bemerkt lässt sich an dieser Stelle die Kritik an Rawls‘ Liberalismus zurückweisen, dieser übersehe dank seiner Suche nach einem vernünftigen Basiskonsens das grundsätzlich Agonale als Kennzeichen des Politischen (so bei Laclau oder Mouffe) – Rawls übersieht dies keineswegs, sondern er bietet eine Lösung. Und auf diese Lösung könnten am Ende nur Anhänger*innen eines wirklich konsequenten, nämlich bellizistischen Schmittianismus verzichten. Auf der Grundlage dieser Ausweisung und Bewusstmachung eines besonderen Bereichs des Politischen stellt sich dann schließlich die alles entscheidende Frage: wie nämlich dieser politische Liberalismus überhaupt möglich ist, „das heißt, wie es möglich ist, daß die Werte des besonderen Bereichs des Politischen – die Werte eines Teilbereichs des Reiches aller Werte – normalerweise gegenüber allen Werten, die mit ihnen in Konflikt geraten können, den Ausschlag geben“ (Rawls 1998, 225) bzw. diese „ausstechen“ (Rawls 2003, 280). Von der Antwort auf diese Frage hängt nicht nur die Stabilität, sondern das Überleben einer liberalen Ordnung ab. Rawls‘ Antwort besteht aus zwei Teilen: Erstens müssen die Werte des Politischen als „sehr bedeutende Werte“ anerkannt werden. Diese politischen Werte (der Freiheit und der Gerechtigkeit, des öffentlichen Vernunftgebrauchs, zudem kognitive Fähigkeiten wie auch ethische Tugenden sozialer Kooperation) werden von den Bürger*innen in ihrem vernünftigen und fairen Umgang miteinander praktiziert und im Zweifelsfall über die Werte strittiger umfassender Lehren gestellt. Zweitens zeigt die Geschichte der Religion und der Philosophie, so Rawls, dass es tatsächlich eine Vielzahl nicht unvernünftiger umfassender Lehren gibt, die mit den im Bereich des Politischen wichtigen Werten in der einen oder anderen Form harmonieren. Offensichtlich, so könnte man sagen, sind die Menschen durchaus in der Lage, ihre eigenen höchsten Werte und Lehren als Privatsache zu betrachten und aus dem Politischen herauszuhalten – zumindest diese stritti-

C. Schwaabe

gen Werte nicht mit den politischen Mitteln des kollektiven Zwangs den Mitbürger*innen aufzuoktroyieren. Ein*e vernünftige*r Bürger*in mag an das katholische „Extra ecclesia nulla salus“ mit vollem Herzen glauben und es natürlich für wahr halten; aber sie*er würde es zugleich für unvernünftig und ungerecht halten, diese ihre*seine persönliche Glaubenswahrheit mit Hilfe politischer Macht gegen alle anderen Lehren und Wahrheiten durchzusetzen (vgl. ebd., 280 f.). Damit ist im Kern nichts anderes beschrieben als eben jene Haltung, die westliche Verfassungen von ihren Bürger*innen selbstverständlich erwarten. Das Politische als argumentativer Ausgangsund Bezugspunkt Rawls’ politischer Liberalismus will das Selbstverständnis und die Grundlagen einer modernen liberalen Demokratie klären helfen. Weder will Rawls das ewig gültige Bild einer wahren gesellschaftlichen Ordnung einem platonischen Ideenhimmel abschauen, noch beansprucht er, dass sein Konzept zu allen Zeiten und in allen Kulturen auf Zustimmung stoßen müsse. Die politische Gerechtigkeitskonzeption von justice as fairness soll zu einer modernen demokratischen pluralistischen Gesellschaft passen, sie ist für diese gedacht, auf diese zugeschnitten. Mehr noch: Aus der Geschichte und den Erfahrungen des demokratischen Zusammenlebens destilliert Rawls die Ideen seines politischen Liberalismus und bringt sie auf den philosophischen Begriff. „Was eine Gerechtigkeitskonzeption rechtfertigt, ist nicht ihr Wahrsein bezüglich einer vorgängigen, uns vorgegebenen Ordnung, sondern ihre Übereinstimmung mit einem tieferen Verständnis unserer selbst und unserer Bestrebungen, sowie unsere Einsicht, daß diese Lehre in Anbetracht unserer Geschichte und der in unser Leben eingebetteten Traditionen die vernünftigste für uns ist“ (Rawls 1992a, 85). Das Politische, so zeigt sich, dient auch als argumentativer Ausgangs- und Bezugspunkt: „Wir sammeln solche gefestigten Überzeugungen wie den Glauben an religiöse Toleranz und die Ablehnung der Sklaverei und be-

20  Bereich des Politischen

mühen uns, die ihnen zugrunde liegenden Ideen und Grundsätze in einer kohärenten politischen Gerechtigkeitskonzeption zusammenzubringen. […] Wir beginnen demnach mit einem Blick auf die politische Kultur selbst, die wir als Fundus implizit anerkannter Ideen und Grundsätze betrachten“ (Rawls 1998, 72 f.). Indem Rawls von den vorgefundenen, eingelebten und „stillschweigend bejahten“ Überzeugungen und Gewohnheiten ausgeht, nimmt er erkennbar kontextualistische Momente in seine Argumentation auf. Diese realen politischen Kontexte sind auch dort wichtig, wo es um die Reproduktion der systemrelevanten Einstellungen geht. Der fortlaufende freie öffentliche Vernunftgebrauch fördert die politischen Tugenden der Kooperation und das gegenseitige Vertrauen und verstärkt so den Konsens – auch dort, wo zuvor bzw. anfangs nur ein modus vivendi herrschte. Unabhängig von der Beantwortung von Wahrheitsfragen plausibilisiert sich der politische Liberalismus auf dem Wege eines learning by doing (Rawls 2003, 186, 301). Und so entsteht auch, was das Fundament einer liberalen Demokratie bildet: die „kooperativen Tugenden des politischen Lebens“. Es sind dies vor allem „die Tugenden der Toleranz und der Bereitschaft, anderen auf halbem Wege entgegenzukommen“, der „Sinn für Fairneß“ und „Kompromissbereitschaft“ (Rawls 1998, 248). „Diese Tugenden garantieren die Bereitschaft, wenn nicht gar den Wunsch, mit anderen unter Bedingungen zu kooperieren, die von allen auf der Ebene der Gleichheit und der wechselseitigen Achtung öffentlich akzeptiert werden können“ (Rawls 2003, 183 f.). Diese Tugenden bilden das „politische Kapital einer Gesellschaft“ (Rawls 1998, 248). Sie werden durch Gewöhnung und eine entsprechende Praxis allmählich aufgebaut (ebd., 248, Anm.), verdichten sich zu einem liberalen Ethos. An kaum einer

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anderen wichtigen Stelle seiner Argumentation kommt der kantische Konstruktivist Rawls dem Tugendethiker Aristoteles so nahe: Es sind die „Kooperationstugenden, durch die diese Prinzipien in den Charakter des Menschen aufgenommen und im öffentlichen Leben zum Ausdruck gebracht werden“ (Rawls 2003, 297). Dies verdeutlicht zuletzt, dass Rawls nicht nur allen metaphysischen Fundamentalismen eine Absage erteilt, sondern auch auf Distanz zu jedem überzogenen Rationalismus geht. Den Bereich des Politischen in der von Rawls beschriebenen Weise in seiner Eigenart und in seinen Grenzen zu erkennen wie auch entsprechend politisch zu handeln, ist nicht nur ein Zeichen politischer Reife, sondern Voraussetzung für das Gelingen einer liberalen pluralistischen Gesellschaft.

Literatur Rawls, John: Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie. In: Ders.: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Frankfurt a. M. 1992a, 80–158. Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch. In: Ders.: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Frankfurt a. M. 1992b, 255–292. Rawls, John: Der Bereich des Politischen und der Gedanke eines übergreifenden Konsenses. In: Ders.: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978– 1989. Frankfurt a. M. 1992c, 333–363. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. 2003 (engl. 2001).

Bürden des Urteilens

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Michael Roseneck und Thomas M. Schmidt

Die „Bürden des Urteilens anzuerkennen und ihre Konsequenzen zu akzeptieren“ (Rawls 1998, 120 Anm.) stellt für Rawls, neben der Bereitschaft zur fairen Kooperation, eine der zwei grundlegenden Tugenden des öffentlichen Vernunftgebrauchs dar. Die Bürden des Urteilens oder der Urteilskraft repräsentieren die epistemischen Voraussetzungen eines vernünftigen Pluralismus. Sie sollen erklären, warum ein Pluralismus von Überzeugungen nicht nur wahrscheinlich, sondern geradezu erwartbar und unvermeidlich ist. Die Bürden des Urteilens begründen die Annahme, dass es sich dabei um einen vernünftigen Pluralismus handelt, da die Vielheit der Überzeugungen geradezu aus dem Charakter der öffentlichen Vernunft entspringt. Zugleich bieten die Bürden des Urteilens Kriterien, welche Art von Einschränkungen und Pflichten sich die Anhänger*innen der divergierenden umfassenden Lehren wechselseitig auferlegen sollten. Sie verbieten nämlich sowohl die Beschränkung als auch die Exklusivität einer bestimmten umfassenden Lehre.

M. Roseneck (*) · T. M. Schmidt  Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] T. M. Schmidt  E-Mail: [email protected]

Die Bürden der Urteilskraft sind unvermeidbar, da sie mit den strukturellen Merkmalen eines Überlegungsgleichgewichts verknüpft sind. In einem reflexiven Equilibrium werden nämlich verschiedene Auffassungen gegeneinander abgewogen, die für unsere Lebensziele eine zentrale Bedeutung besitzen. Im Reflexionsgleichgewicht beurteilen wir die „Stärke der Ansprüche“ von anderen „und zwar nicht nur gegenüber unseren Ansprüchen, sondern auch untereinander und gegenüber unseren vertrauten Institutionen“ (Rawls 1998, 129). Eine erste Form der Bürden des Urteilens resultiert nun daraus, dass nicht erwartet werden kann, dass dieses reflexive Verfahren der Abwägung eine Art von Objektivität herbeiführen könnte, wie sie im Fall von naturwissenschaftlichen Diskursen unterstellt wird. Daher ist nicht denkbar, dass sich soziale Institutionen und Staatsgewalt vollkommen frei, das heißt ohne Zwang und ausschließlich auf gesellschaftlichen Konsens gestützt, erhalten können. Ferner unterliegt jede Urteilsbildung empirischen und begrifflichen Beschränkungen. Widersprüchliche und komplexe Beweislagen erschweren in vielen Fällen die Einschätzung und Bewertung relevanter Fakten. Schließlich sind Urteile abhängig von der Bewertung und Gewichtung einzelner Sachverhalte vor einem je individuellen Erfahrungshintergrund. Die Bürden des Urteilens tragen also dem Umstand Rechnung, dass selbst wenn Einmütigkeit darüber erzielt

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_21

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werden kann, welche Fakten relevant und welche Überlegungen maßgeblich sind, immer noch unterschiedliche Auffassungen über ihr Gewicht und ihre Bedeutung bestehen können, da sie im Licht unterschiedlicher individueller Erfahrung gedeutet werden. Die Bürden verweisen auf die Tatsache, dass nicht nur verschiedene Interpretationen empirischer Daten und ihrer Erklärungen möglich sind, sondern auch inkompatible moralische und politische Werte vorliegen können, die mit den unterschiedlichen Geschichten und Erfahrungen von Personen einhergehen. Ein weiterer Aspekt der Bürden des Urteilens verdient es, eigens hervorgehoben zu werden. Er besteht in einer unaufhebbaren Unbestimmtheit und Vagheit begrifflichen Gehalts, in den „offenen Grenzen des korrekten Gebrauchs von Begriffen“ (Rawls 1994, 24). Rawls betont ausdrücklich, dass in „gewissem Umfang […] alle unsere Begriffe – und nicht nur die moralischen und politischen – vage und auf Grenzfälle schwierig anzuwenden [sind]. Diese Unbestimmtheit führt dazu, dass wir uns auf Beurteilungen und Interpretationen […] verlassen müssen, die innerhalb unscharfer Grenzen einen Spielraum lassen, in dem vernünftige Personen verschiedener Ansicht sein können“ (Rawls 1994, 337). Im Rahmen der Konzeption der Bürden des Urteilens werden also Elemente eines Vernunftbegriffs in Anspruch genommen, die vielleicht nicht epistemischer, aber als logisch-semantische Kriterien doch in einem solchen Maße theoretischer Natur sind, dass sie über den engen Rahmen einer bloß politischen Theorie der öffentlichen Vernunft hinausgehen. Der politische Liberalismus scheint an diesem Punkt Argumente einer „erkenntnistheoretischen Lehre“ (Rawls 1998, 75) zu gebrauchen, die über das hinausgehen, „was von der politischen Konzeption selbst vorausgesetzt wird“ (ebd.). Die Bürden des Urteilens sollen sich aber Rawls zufolge strikt auf ein Konzept von Vernunft beziehen, das ausdrücklich nicht als epistemologische Idee verstanden wird. Der Begriff der Bürden des Urteilens wird ausschließlich im Rahmen einer politischen Theorie demokratischer Staatsbürgerschaft thematisiert und bestimmt.

M. Roseneck und T. M. Schmidt

Als zentrales Element eines Konzepts des öffentlichen Vernunftgebrauchs sollen die Bürden des Urteilens die Ursachen und Kriterien eines vernünftigen Pluralismus benennen. Die Bürden des Urteilens erklären, warum ein Pluralismus vernünftiger Überzeugungen wahrscheinlich, weshalb also reasonable disagreement erwartbar und unvermeidlich ist. Sie liefern darüber hinaus Kriterien, welche Art von Einschränkungen und Pflichten sich die Anhänger*innen der divergierenden umfassenden Lehren wechselseitig auferlegen sollten. Rawls’ Annahmen zum Zusammenhang zwischen den Bürden des Urteilens und der Tatsache des vernünftigen Pluralismus korrespondieren zur sozialwissenschaftlichen Forschung, etwa zu der Peter Bergers (1980, 75 f.) Theorem eines Zwangs zur Häresie in der Moderne: Der moderne Mensch sei bedingt durch die funktionale Differenzierung und Diversifizierung der Lebenswelt vor die Wahl verschiedener Weltanschauungen gestellt, wobei ihr*ihm insbesondere diejenigen als plausibel erscheinen, die im Einklang zu ihrer*seiner persönlichen Erfahrungswelt stehen. Für Rawls’ demokratietheoretisches Spätwerk übernehmen die Bürden des Urteilens dabei eine elementar wichtige Begründungsleistung: Nicht allein die Anerkennung des Anderen als freies und gleiches Rechtfertigungssubjekt sowie die Absicht, Gesellschaft als ein kooperatives Projekt zu eines jeden Vorteil zu verwirklichen, begründen den öffentlichen Vernunftgebrauch. Dieses wäre eine allein moralische Rechtfertigung der deliberativen Demokratie. Die aus den Bürden des Urteilens resultierende Einseitigkeit beziehungsweise potentielle Fehlerhaftigkeit des Wissens der einzelnen Bürger*innen lassen den öffentlichen Vernunftgebrauch auch aus epistemologischen Gründen notwendig erscheinen (Rawls 1997, vgl. Schnädelbach 2014, 28). Vernünftige Bürger*innen erkennen an, dass ihre persönliche Sicht der Dinge aufgrund der (insbesondere in modernen Gesellschaften massiv wirkenden) Bürden des Urteilens epistemisch umstritten sein wird und im Hier und Jetzt diesbezüglich kein Konsens erreicht werden kann. Dies führt

21  Bürden des Urteilens

dazu, dass sie sich im Prozess der politischen Entscheidungsfindung von ihren subjektiven umfassenden Lehren distanzieren, um dem Anspruch öffentlicher Rechtfertigung gerecht werden. Ferner begründen die Bürden des Urteilens auch eine wichtige methodologische Weichenstellung von Rawls’ Theorieaufbau: Da auch praktische Philosoph*innen durch die Bürden des Urteilens in seinem Erkenntnisvermögen eingeschränkt sind, können sie nicht eine metaphysisch aufgeladene Begründung der liberalen Demokratie entwickeln, wie es etwa frühere Autor*innen wie Locke taten, indem sie beispielsweise auf naturrechtliche Annahmen verwiesen (Rawls 1985; 1989, 241). Unter Rahmenbedingungen eines vernünftigen Pluralismus muss eine intersubjektiv nachvollziehbare politische Philosophie vielmehr nichtmetaphysisch, in Rawls’ Begriffen „politisch“ sein. Die Begründungsleistung der Bürden des Urteilens sowohl für einen dezidiert Politischen Liberalismus als auch für eine nichtmetaphysische politische Philosophie ist dabei im akademischen Diskurs von unterschiedlicher Seite bemängelt worden. Der Kritik kann man sich anhand der Frage nähern, wie eine demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung dauerhaft stabil sein könne, wenn aus den Bürden des Urteilens doch ein unhintergehbarer Pluralismus „vernünftiger und gleichwohl nicht miteinander zu vereinbarender umfassender Lehren“ (Rawls 1998, 13) folge. Rawls (1987; 1989; vgl. Thrasher und Vallier 2015) nimmt nun an, dass sich die verschiedenen Lehren in einem stabilen demokratischen Gemeinwesen, obwohl sie inkommensurabel sind, dennoch hinsichtlich der Werte des demokratischen Rechtsstaats überlappen werden. Hier existiert also eine Kongruenzbeziehung. Han van Wietmarschen (2018, 501 f.) wendet gleichwohl ein, dass man angesichts von neuen Entwicklungen in der Erkenntnistheorie schwerlich von der Möglichkeit einer solchen Kongruenz ausgehen kann: Die Tatsache, dass epistemisch gleichermaßen kompetente Bürger*innen deutlich unterschiedliche umfassende Lehren vertreten, müsse für vernünftige Personen ein

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Indiz sein, dass sie nicht intellektuell redlich von ihren umfassenden Lehren überzeugt sein können. Zu dieser Konklusion gelangt van Wietmarschen dadurch, aus der Epistemologie des disagreements das Konzept von epistemic peers zu entnehmen und es auf die Bürger*innen demokratischer Gesellschaften anzuwenden. Allerdings werden für gewöhnlich epistemic peers beispielsweise als Forscher*innen einer Disziplin (McGrath 2018, 75), Freund*innen (Christensen 2007, 188) oder Mitglieder derselben Glaubensgemeinschaft (Plantinga 1998, 329) bezeichnet, welche wie auch immer konkretisiert über dieselbe Evidenzgrundlage verfügen. Dementsprechend mag es vielleicht überzeugen, wenn eine empirische Forscherin ihre Überzeugungen ablegt oder unter Vorbehalt stellt, wenn eine Kollegin bei derselben Datengrundlage zu anderen Schlüssen gelangt. Für demokratische Gesellschaften ist dies jedoch insofern nicht passend, als deren Mitglieder angesichts der Bürden des Urteilens keine epistemic peers sind. Folglich ist van Wietmarschens Einwand gegen die epistemische Rechtfertigung des Politischen Liberalismus über die Bürden des Urteilens nicht treffend. Ein Rechtfertigungsproblem für den Politischen Liberalismus ergibt sich allerdings daraus, dass nur die demokratisch-rechtstaatlichen Werte Elemente eines überlappenden Konsenses bilden. Die Rechtfertigungsverfahren, durch welche vernünftige Bürger*innen zu diesem Konsens gelangen, bleiben gleichwohl bedingt durch die Bürden des Urteilens, so scheint es teilweise Rawls (1995) zufolge zu sein, nicht konsensuell teilbar. Daraus resultiert aber, dass Rawls’ Begründung des Politischen Liberalismus entweder kulturell relativ ist oder seine Theorie in der Hinsicht Leerstellen aufweist, dass unklar bleibt, welche guten Gründe es geben könnte, unabhängig von persönlich partikularen Standpunkten, die Geltung einer demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung anzuerkennen (Habermas 1996; O’Neill 1997; Schmidt 2008). Die Bürden der Urteilskraft erklären, warum ein Pluralismus vernünftiger Überzeugungen wahrscheinlich, weshalb also reasonable

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­disagreement erwartbar und unvermeidlich ist. Sie liefern darüber hinaus Kriterien, welche Art von Einschränkungen und Pflichten sich die Anhänger*innen der divergierenden umfassenden Lehren wechselseitig auferlegen sollten. Wenn aber bereits die Bürden des Urteilens normative Kriterien für einen fairen, toleranten und respektvollen Umgang der Bürger*innen miteinander bieten, warum bedarf es dann noch der Idee eines übergreifenden Konsenses? Es lässt sich der Einwand erheben, dass die Idee eines über den divergierenden Überzeugungen hinausgreifenden Konsenses weder in epistemologischer Hinsicht begründet erscheint, noch in normativer Hinsicht notwendig.

Literatur Berger, Peter L.: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1980. Christensen, David: Epistemology of disagreement: the good news. In: The Philosophical Review 116/2 (2007), 187–217. Habermas, Jürgen: ,Vernünftig‘ versus ,wahr‘ – oder die Moral der Weltbilder. In: Ders.: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. Frankfurt a. M. 1996, 95–127. McGrath, Alister E.: The territories of human reason. Science and theology in an age of multiple rationalities. Oxford 2018. O’Neill, Onora: Political liberalism and public reason: a critical notice of John Rawls political liberalism. In: The Philosophical Review 106/3 (1997), 411–428.

M. Roseneck und T. M. Schmidt Plantinga, Alvin: Ist der Glaube an Gott berechtigterweise basal? In: Christoph Jäger (Hg.): Analytische Religionsphilosophie. Paderborn 1998, 317–330. Rawls, John: Justice as fairness: political not metaphysical. In: Philosophy & Public Affairs 14/3 (1985), 223–251. Rawls, John: The idea of an overlapping consensus. In: Oxford Journal of Legal Studies 7/1 (1987), 1–25. Rawls, John: The domain of the political and overlapping consensus. In: New York University Law Review 64/2 (1989), 233–255. Rawls, John: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Hg. Wilfried Hinsch. Frankfurt a. M. 1994. Rawls, John: Political liberalism: reply to Habermas. In: The Journal of Philosophy 92/3 (1995), 132–180. Rawls, John: The idea of public reason revisited. In: The University of Chicago Law Review 64/3 (1997), 765– 807. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998. Schmidt, Thomas M.: Öffentliche Vernunft – vernünftige Öffentlichkeit? Zum Verhältnis von Rationalität und Normativität in Rawls’ politischem Liberalismus. In: Thomas M. Schmidt/Michael G. Parker (Hg.): Religion in der pluralistischen Öffentlichkeit. Würzburg 2008, 87–103. Schnädelbach, Herbert: Aufklärung und Religionskritik. In: Ders.: Religion in der modernen Welt. Vorträge, Abhandlungen Streitschriften. Frankfurt a. M. 42014, 11–34. Thrasher, John/Vallier, Kevin: The fragility of consensus: public reason, diversity and stability. In: European Journal of Philosophy 23/4 (2015), 933–954. van Wietmarschen, Han: Reasonable citizens and epistemic peers: a skeptical problem for political liberalism. In: The Journal of Political Philosophy 26/4 (2018), 486–507.

Bürger*innen (Tugend)

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Tim Reiß

Der Begriff der Bürger*in als freie und gleiche Person ist – neben der Idee der „Gesellschaft als eines fairen generationenübergreifenden Systems der Kooperation“ und dem Begriff einer wohlgeordneten, durch eine politische Gerechtigkeitskonzeption integrierten Gesellschaft – einer der drei tragenden Grundbegriffe der Gerechtigkeitstheorie des politischen Liberalismus. Der Begriff der Bürger*in steht für den politischen Begriff der Person (Rawls 1998, 84 f., 97–105, 155). Die Differenzierung zwischen (moralischer) Person und Bürger*in ist eine der wichtigsten begrifflichen Innovationen im Übergang zum Politischen Liberalismus. Sie besitzt entscheidendes argumentatives Gewicht für Rawls‘ Vorhaben, seine Gerechtigkeitskonzeption als politische Konzeption zu reformulieren (Rawls 1992, 277–282, 284 f.), d. h. unabhängig von umfassenden liberalen Anschauungen und damit zustimmungsfähig aus der Perspektive einer Vielzahl unterschiedlicher, auch dezidiert nichtliberaler umfassender Lehren. Der Begriff der Bürger*in zielt auf ein rollenspezifisches Selbstverständnis von in einer demokratischen politischen Kultur sozialisierten Personen. Den Begriff der Bürger*in, der sich

T. Reiß (*)  Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

im Politischen Liberalismus findet, will Rawls nicht als ein metaphysisches, in den Debatten um personale Identität philosophisch positioniertes Konzept verstanden wissen. Der Begriff hat allein den Anspruch zu „beschreiben […], was Bürger über sich selber denken, wenn Fragen politischer Gerechtigkeit auftreten.“ (Rawls 1998, 102, Hervorhebungen hinzugefügt; T.R.; vgl. Rawls 2003, § 7.2, 45) Die Frage hingegen, was Personen über sich selbst denken, wenn Fragen des guten Lebens oder einer moralisch verantwortbaren Lebensführung auftreten, möchte Rawls nun ausdrücklich offenlassen – gibt es in pluralistischen Gesellschaften hierauf doch keine konsensfähigen Antworten. Der Begriff der Bürger*in zählt zu denjenigen für den politischen Liberalismus grundlegenden Ideen, „die als Bestandteil der öffentlichen politischen Kultur einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden.“ (Rawls 1998, 79) Dieser rekonstruktive Anspruch darf jedoch keinesfalls kontextualistisch oder historistisch missverstanden werden: Die Konzeption der Bürger*in als freie und gleiche Person gehört nämlich zugleich, so Rawls, zu den „Ideen der praktischen Vernunft“ (Rawls 1998, 193). Nach einer kurzen Erläuterung der entsch­ei­denden werkgeschichtlichen Ausdi­fferenz­ierung zwischen Personen- und Bürger­begriff (1) wird im Folgenden der im Politischen Liberalismus

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_22

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verwendete, qualifizierte Begriff der Bürger*in näher erläutert und insbesondere seine Verbindung mit der ‚Pflicht zur Bürgerlichkeit‘ und den ‚politischen Tugenden‘ dargestellt (2–3).

Person versus Bürger*in Die Theorie der Gerechtigkeit ist mitunter so verstanden worden, dass Rawls dort das Ziel verfolge, Gerechtigkeitsprinzipien ausschließlich unter Zugrundelegung eines der Spielund Entscheidungstheorie („rational choice“) entlehnten Begriffs der Person als rationale Egoist*in zu begründen. Dieses Missverständnis – gleichwohl durch eine Nebenbemerkung Rawls‘ selbst nahegelegt (Rawls 1979, 33) – verwundert insofern, als dass Rawls in der Theorie der Gerechtigkeit mehrfach explizit darauf hinweist, dass er einen solchen ökonomistisch, d. h. auf die Befähigung zur Zweckrationalität verkürzten Personenbegriff zwar in einem bestimmten Zusammenhang benutzt, keinesfalls aber beabsichtigt, seine Gerechtigkeitstheorie auf diesen reduzierten Personenbegriff zu gründen. Rawls nimmt vielmehr, mittels des Gedankenspiels der Urzustandsfiktion, diesen rationalitätstheoretischen Personenbegriff in den Dienst der Gerechtigkeitstheorie; das ökonomistische Konzept der Person wird von Rawls gewissermaßen in normativitätstheoretischer Hinsicht zweckentfremdet. Rawls wird nicht müde zu betonen: Derjenige Begriff der Person, über den die fiktiven Parteien im Urzustand verfügen, ist nicht mit demjenigen Begriff der Person identisch, über den Bürger*innen einer nach Gerechtigkeitsprinzipien geordneten Gesellschaft verfügen (vgl. etwa Rawls 1979, 172). In den Dewey-Vorlesungen (1980) betont und erläutert Rawls den normativ gehaltvollen Hintergrund seines Personenbegriffs. Zu diesem Personenbegriff gehören insbesondere folgende beide Aspekte: 1. Personen sind frei und gleich. Während der Aspekt der Freiheit im Modell des Urzustands dadurch zur Darstellung kommt, dass

T. Reiß

den Vertragsparteien die Freiheit zur Verfolgung beliebiger Zwecke zugeschrieben wird, so kommt der Aspekt der Gleichheit durch die Anlage des Urzustandsmodells im Ganzen (insbesondere durch den für ihn zentralen Schleier des Nichtwissens) zum Ausdruck. 2. Personen besitzen zwei moralische Vermögen: den Gerechtigkeitssinn und die Befähigung zu einer Konzeption des Guten. Diesen beiden moralischen Vermögen entsprechen die beiden „höchstrangingen Interessen“ moralischer Personen an Verwirklichung und Ausübung dieser Vermögen (Rawls 1992, 93). Personen haben damit ein allen ihren sonstigen Interessen übergeordnetes Interesse am Erhalt ihrer Personalität (Siep 1997). Rawls‘ Klarstellung, dass seiner Gerechtigkeitstheorie ein emphatischer Begriff der Person als Subjekt moralischer Vermögen zugrunde liegt, hat die kontroverse Frage aufgeworfen, ob nicht seiner Gerechtigkeitstheorie entgegen ihrem universalistischen Selbstverständnis doch ein umfassender, historisch spezifischer und damit so partikularer wie umstrittener Personenbegriff zugrunde liege (Galston 1982, 504). Diese Kritik bezieht sich insbesondere darauf, dass Rawls zu den für moralische Personalität konstitutiven Vermögen auch die Fähigkeit zählt, sich zur eigenen Konzeption des Guten in kritischer Distanz verhalten und sie gegebenenfalls revidieren zu können; in dieser Hochschätzung des Vermögens reflektierender Distanzierung gegenüber den eigenen letzten Zielen artikuliere sich, so der Einwand, ein spezifisch moderner, liberaler Personenbegriff. Rawls‘ hat sich den Einwand, dass dieser Begriff der moralischen Person von einer umfassenden, und zwar kantianisch geprägten Lehre abhängig sei, im Folgenden zu eigen gemacht. Eines der zentralen Beweisziele, die Rawls im Politischen Liberalismus verfolgt, besteht deshalb darin, dass sich die Gerechtigkeitskonzeption Gerechtigkeit als Fairneß auch ohne Rückgriff auf einen umfassenden, etwa kantianisch geprägten Personenbegriff entwickeln und begründen lässt. Dafür ist die Differenzierung entscheidend, die Rawls nun zwischen ethisch-moralischer Autonomie und

22  Bürger*innen (Tugend)

politischer Autonomie vornimmt (Rawls 1998, 155; vgl. Freeman 2007, 361–363); ihr entspricht die begriffliche Differenzierung zwischen moralischer Person und Bürger*in („politischer Personenbegriff“, Rawls 1998, 97–105, 155). Den entscheidenden Schritt im Übergang zum Politischen Liberalismus fasst Rawls selbst so zusammen: „Bei der Umwandlung der umfassenden Lehre der Gerechtigkeit als Fairneß [wie sie Rawls zufolge in der Theorie der Gerechtigkeit zugrunde gelegt wurde; T.R.] in die politische Konzeption von Gerechtigkeit als Fairneß verwandelt sich die Idee der Person als einer moralischen Persönlichkeit […] in die des Bürgers.“ (Rawls 1998, 42, Hervorhebungen hinzugefügt; T.R.) Durch diese Differenzierung soll insbesondere dem Einwand begegnet werden, dass der im Begriff der moralischen Person vorgenommenen Zuschreibung einer Distanzierungsfähigkeit gegenüber der eigenen Konzeption des Guten ein umfassendes und deshalb kontroverses liberales Personenideal zugrunde liege, wonach die Freiheit zur eigenen Wahl einer Konzeption des Guten gegenüber der Frage nach ihrer Wahrheit höherrangig sei. Das Vermögen zur Revision der eigenen Konzeption des Guten und zur Distanz gegenüber den eigenen letzten Zielen und höchsten Werten gilt nun bei Rawls nicht mehr als eine für moralische Personalität konstitutive Eigenschaft, sondern bezieht sich alleine auf die öffentliche Identität von Personen (Rawls 1998, 97–102; Rawls 2003, § 7.4, 48–50). Die Differenzierung zwischen einerseits „öffentliche[r] oder institutionelle[r]“ und andererseits „nicht-institutionelle[r] oder moralischer[r] Identität“ (Rawls 1998, 99) wirft allerdings – wie die kritische Diskussion gezeigt hat – wiederum neue Fragen auf: Lässt sich die öffentliche und die von einer individuellen Konzeption des Guten existentiell geprägte moralische Identität von Personen, wie Rawls anzunehmen scheint, im Grundsatz problemlos vermitteln – oder besteht nicht vielmehr die Möglichkeit, dass zwischen ihnen Konflikte aufbrechen, die möglicherweise sogar tragischer Natur sind (Menke 2004, 226–269)? Diese Frage ist auch im Hinblick auf das Verhältnis des politischen Liberalismus zur Religion bedeutsam: Wird hier nicht religiösen Bürger*innen mit einem

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integralistischen Glaubensverständnis eine Art Identitätsspaltung angesonnen, die nicht nur empirisch nicht erwartbar, sondern normativ unzumutbar ist (Habermas 2005, 132 f., 136)?

Die Tugenden der Bürger*in Der politische Liberalismus kann, ja er muss bestimmte Tugenden seiner Bürger*innen voraussetzen und in Anspruch nehmen – und auch der liberale Staat darf bestimmte Tugenden fördern. Angesichts der Deutlichkeit, mit der Rawls dies betont, verwundert es umso mehr, dass dem politischen Liberalismus von Kritiker*innen nicht selten zugeschrieben wird, er bestritte genau dies. Entscheidend ist Rawls zufolge allerdings, dass es sich bei den in Anspruch genommenen Tugenden um politische Tugenden handelt. Rawls erläutert die politischen Tugenden als die „Tugenden der fairen sozialen Kooperation: Höflichkeit und Toleranz, Vernünftigkeit und Sinn für Fairneß“ (Rawls 1998, 291, vgl. 248). Die entscheidende Differenz liegt zwischen politischen Tugenden und solchen Tugenden, „die für bestimmte Lebensweisen charakteristisch sind und zu umfassenden religiösen und philosophischen Lehren gehören“ (Rawls 1998, 291). Dass der liberale Staat bestimmte Tugenden seiner Bürger*innen fördert, macht ihn, solange es sich um politische Tugenden handelt, noch keinesfalls „zum perfektionistischen Staat einer umfassenden Lehre“ (Rawls 1998, 291). Die Debatte zwischen dem politischen Liberalismus und seinen kommunitaristischen Kritiker*innen wird insofern verzerrt dargestellt, wenn sie als Debatte zwischen solchen politischen Theorien verstanden wird, die allein auf die Inklusionskraft demokratischer Verfahren vertrauen, und solchen Theorien, die an die motivationale Ausstattung der Bürger*innen hohe Anforderungen (‚Gemeinwohlorientierung‘) stellen. Rawls ist – wie auch Habermas (was häufig verkannt wird) und wohl anders als Kant (vgl. Maus 1994) – mit Sicherheit kein ‚reiner‘ Prozeduralist. Ein entscheidender Teil seines Werks dreht sich um die Frage, wie es eine wohlgeordnete Gesellschaft schafft, die Tugendhaftigkeit ihrer

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Bürger*innen zu erhalten und zu fördern. Die Debatte zwischen dem politischen Liberalismus und seinen kommunitaristischen und liberalkonservativen Kritiker*innen sollte deshalb nicht so verstanden werden, dass sie um die Frage kreiste, ob Bürger*innen eines liberalen Gemeinwesens nicht nur rechtstreu, sondern auch tugendhaft sein sollten. Sie hat vielmehr zum Gegenstand, welche Tugenden für Bürger*innen einer liberaldemokratischen Gesellschaft grundlegend sind. Die eigentlich strittige grundsätzliche Frage ist, ob auch in liberalen Gesellschaften ein bereits vorpolitisch tradiertes Ethos unverzichtbar ist, von dem die liberalen Institutionen bloß parasitär zehren, oder ob – und dies ist Rawls‘ feste und durchgängige Überzeugung – eine wohlgeordnete liberale Gesellschaft in der Lage sein wird, die motivationale Disposition zu bürgerschaftlichem Handeln aus ihren eigenen Ressourcen zu reproduzieren (vgl. Habermas 2005). Der politische Liberalismus teilt damit bemerkenswerterweise genau diejenige Auffassung, die ihm des Öfteren in kritischer Absicht entgegengehalten wird: dass nämlich „die Bürger einer demokratischen Gesellschaft die politischen Tugenden […] in ausreichendem Maße besitzen und zur Teilnahme am öffentlichen Leben bereit sein müssen, wenn sie ihre Grundrechte und Grundfreiheiten bewahren wollen“ (Rawls 1998, 303 f.). Der entscheidende Punkt ist allerdings, dass Rawls zufolge die Alternative zwischen striktem ethisch-moralischen Agnostizismus – so wird das liberale Neutralitätsprinzip mitunter verzeichnet – und Tugendwächterstaat viel zu eng ist. Eine wohlgeordnete liberale Gesellschaft ist weder eine durch eine umfassende Lehre integrierte sittliche Gemeinschaft noch aber eine „private Gesellschaft“, deren Mitglieder zu ihren politischen Institutionen ein bloß instrumentelles Verhältnis besitzen (Rawls 1998, 299). Dass die Bürger*innen einer liberalen Gesellschaft nicht durch eine gemeinsam geteilte umfassende Lehre verbunden sind, daraus folgt für Rawls nämlich keineswegs, sie teilten keine gemeinsamen letzten Ziele (Rawls 1998, 299): Die liberale Gesellschaft ist für ihre Bürger*innen ein „um seiner selbst willen erstrebenswertes Gut“

T. Reiß

(Rawls 1998, 307). Der politische Liberalismus ist, so Rawls, in dieser Hinsicht mit dem „klassischen Republikanismus“ vereinbar (Rawls 1998, 304). Auch eine liberale Gerechtigkeitstheorie kann an der Idee republikanischer Solidarität zwischen Bürger*innen festhalten (vgl. Rawls 1998, 304).

Pflicht zur Bürgerlichkeit Das „Ideal des Staatsbürgers“ impliziert nun Rawls zufolge eine „Pflicht zur Bürgerlichkeit“ (Rawls 1998, 317). Diese „Pflicht zur Bürgerlichkeit“ gehört – wie die kritische Debatte gezeigt hat – zu den umstrittensten Tugendpflichten, die Rawls zufolge Bürger*innen einer liberalen Gesellschaft angesonnen werden kann und muss. Ihr genauer Inhalt ist ebenso wie ihre genaue Reichweite nicht abschließend geklärt und in der Rawls-Rezeption umstritten. Rawls erläutert die Pflicht zur Bürgerlichkeit durch die „Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs“ (Rawls 1998, 6. Vorlesung, 312–363): Die Pflicht zur Bürgerlichkeit bedeutet demnach, „daß Bürger verpflichtet sind […] dem Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs nachzustreben“ (Rawls 1997, 136). Gleichwohl ist die Orientierung auf öffentlichen Vernunftgebrauch nicht ihr einziger Inhalt, zur Pflicht zur Bürgerlichkeit gehört beispielsweise auch, „die Bereitschaft, anderen zuzuhören, und eine faire Gesinnung“ (Rawls 1998, 317). Die Pflicht zum öffentlichen Vernunftgebrauch selbst beruht dabei wiederum auf einem für die Legitimation einer liberalen politischen Ordnung schlechthin fundamentalen Reziprozitätskriterium (vgl. Rawls 1998, 41, 43, 49, 121 f.). Worauf verpflichtet nun aber die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs konkret? Rawls erläutert die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs in erster Linie durch ein Prinzip öffentlicher Rechtfertigung (Rawls 2003, § 9, 55–59): In politischen Grundsatzdiskussionen sollten sich Bürger*innen nur solcher Argumente und Gründe bedienen, die für ihre Mitbürger*innen nicht nur verständlich, sondern

22  Bürger*innen (Tugend)

auch akzeptabel sind (Rawls 1998, 50). Es ist Gegenstand einer anhaltenden und kontroversen Diskussion, wie das genau zu verstehen ist – was es also eigentlich heißt, eine Begründung oder ein Argument sei allgemein akzeptabel. Heißt das beispielsweise, dass es jeweils identische Gründe sein müssen, die Bürger*innen dazu motivieren, einer allgemeinverbindlichen Regelung zuzustimmen, oder ist dem Akzeptabilitätskriterium auch dann genügt, wenn dies jeweils unterschiedliche Gründe sind (Konsens- vs. Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung)? Das Prinzip öffentlicher Rechtfertigung berührt vor allem auch eine zentrale Streitfrage der Grundsatzdebatte um das Verhältnis von liberaler politischer Öffentlichkeit und Religion. Rawls selbst geht nämlich davon aus, dass sich aus dem Prinzip öffentlicher Rechtfertigung – und damit aus der Pflicht zur Bürgerlichkeit eine Selbstbeschränkungsverpflichtung im Hinblick auf das Einbringen religiöser Beiträge in die politische Öffentlichkeit ableiten lässt. Diese Enthaltsamkeitsverpflichtung ist hochgradig kontrovers. Rawls modifiziert und relativiert diese Beschränkungsforderung allerdings selbst mehrfach (vgl. Rawls 1997, 132–136; Rawls 1998, 50 f., 354– 363). Nicht übersehen werden darf auch, dass sie Rawls zufolge gleichermaßen auch im Hinblick auf das Einbringen von Beiträgen nichtreligiöser, aber umfassender Lehren gilt. Rawls scheint davon auszugehen, dass zwischen der Pflicht zur Bürgerlichkeit, der Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs und dem Prinzip öffentlicher Rechtfertigung ein sehr enger Zusammenhang besteht. Insbesondere die Debatte um das Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit hat gezeigt, dass zwischen diesen verschiedenen Ebenen und Prinzipien stärker differenziert werden kann. Zudem handelt es sich insbesondere bei dem Schluss vom Prinzip öffentlicher Rechtfertigung auf die Forderung nach Enthaltsamkeit in Bezug auf religiöse Beiträge um einen eigenständigen, alles andere als trivialen Schluss, der eine ganze Menge

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streitbarer sprach- und bedeutungstheoretischer, epistemologischer und religionsphilosophischer Voraussetzungen hat (vgl. Breul 2015, Roseneck 2021, Reiß 2019, Winandy 2014). Die Pflicht zur Bürgerlichkeit ist im politischen Liberalismus gewissermaßen das gesellschaftliche Gegenstück zu dem für liberale Ordnungen charakteristischen staatlichen Neutralitätsprinzip (Huster 2002). Unstrittig ist dabei, dass es sich bei der Pflicht zur Bürgerlichkeit um eine Tugendpflicht, d. h. um eine moralische, nicht um eine rechtliche Verpflichtung handelt (Rawls 1998, 317). Alles weitere, insbesondere was die genaue Reichweite der Verpflichtung zum öffentlichen Vernunftgebrauch betrifft, ist kontrovers: Bindet sie, neben Inhaber*innen öffentlicher Ämter, auch Kandidat*innen für solche? Gilt sie auch für Abgeordnete (und wenn ja, nur bei Beschlussfassungen oder allgemein in Deliberationen)? Oder gilt sie ganz grundsätzlich – wie Rawls selbst anzunehmen scheint – für alle Bürger*innen, „wenn sie vor dem Forum der Öffentlichkeit politisch Stellung beziehen“ (Rawls 1998, 315)? Und: Gilt die Pflicht zum öffentlichen Vernunftgebrauch nur bei Diskussionen um ordnungspolitische Grundsatzfragen, d. h. wenn „wesentliche Verfassungsinhalte“ und „Fragen grundlegender Gerechtigkeit“ berührt sind (Rawls 1998, 314, 329–333), oder gilt sie auch „auf der Ebene konkreter Statute und Gesetze“ (Rawls 1998, 43; vgl. Rawls 1998, 215)? Dazu kommt: Zugestanden, die Verpflichtung zum öffentlichen Vernunftgebrauch lasse sich für Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft zweifelsfrei begründen – gilt sie auch (und ggf. in welchem Umfang) für die Bürger*innen realexistierender liberaldemokratischer Verfassungsstaaten, die dem Begriff der wohlgeordneten Gesellschaft nicht unterfallen (vgl. Weithman 2016, 119 f.)? Dieser Punkt berührt ein tiefsitzendes systematisches Problem: Die Pflicht zur Bürgerlichkeit hält Rawls zufolge Bürger*innen dazu an, in politischen Grundsatzdiskussionen Argumente und Gründe anzuführen, die für alle

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Bürger*innen akzeptabel sind. Es darf aber nicht übersehen werden, dass der Begriff der Bürger*in bei Rawls, wie beschrieben, ein stark qualifizierter und gehaltvoller Begriff ist. Bürger*innen verfügen insbesondere über eine anspruchsvolle motivationale Disposition: Rawls schreibt ihnen zu, dass sie „nicht nur normale und voll kooperative Gesellschaftsmitglieder sind, sondern solche Mitglieder auch sein und als solche anerkannt werden wollen.“ (Rawls 1998, 160, Hervorhebung hinzugefügt; T.R.) Bürger*innen „wünschen, in ihrer Person das Ideal des Bürgers zu verwirklichen und darin anerkannt zu werden, daß sie es verwirklichen.“ (Rawls 1998, 163, Hervorhebung hinzugefügt; T.R.) Es ist nun eine interessante und durchaus streitbare Frage, was aus dieser – im Hinblick auf empirische Bürgerschaften teils kontrafaktischen – Zuschreibung im Hinblick auf das Ideal öffentlichen Vernunftgebrauchs folgt: Gilt die Verpflichtung, wechselseitig akzeptable Gründe zu liefern, in derselben Weise gegenüber empirischen Personen wie gegenüber ihrem idealisierten Gegenüber? Genügt es, die Akzeptabilität von Gründen ausschließlich aus der Perspektive von Bürger*innen im qualifizierten Sinn auszuweisen, d. h. aus der Perspektive von Personen, die den Wunsch haben, nach Regeln zu kooperieren, denen andere vernünftigerweise zustimmen können? Wie verhält sich die Perspektive von Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft zur Perspektive und zum Gründehorizont empirischer Bürger*innen in nicht-wohlgeordneten Gesellschaften?

T. Reiß

Literatur Breul, Martin: Religion in der politischen Öffentlichkeit. Zum Verhältnis von religiösen Überzeugungen und öffentlicher Rechtfertigung. Paderborn 2015. Freeman, Samuel: Rawls. London/New York 2007. Galston, William A.: Moral personality and liberal theory. John Rawls’s „Dewey Lectures“. In: Political Theory 10/4 (1982), 492–519. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 2005. Huster, Stefan: Die ethische Neutralität des Staates. Eine liberale Interpretation der Verfassung. Tübingen 2002. Maus, Ingeborg: Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant [1992]. Frankfurt a. M. 21994. Menke, Christoph: Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida. Frankfurt a. M. 2004. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1979 (engl. 1971). Rawls, John: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Hg. Wilfried Hinsch. Frankfurt a. M. 1992. Rawls, John: Das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs. In: Zur Idee des politischen Liberalismus. Hg. Philosophische Gesellschaft Bad Homburg/Wilfried Hinsch. Frankfurt a. M. 1997, 116–141. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998 (engl. 1993). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, Frankfurt a. M. 2003 (engl. 2001). Reiß, Tim: Diskurstheorie der Demokratie und Religion. Baden-Baden 2019. Roseneck, Michael: Zwischen Tradition und Geltung. Religion als Herausforderung und Ressource für die öffentliche Vernunft. Baden-Baden 2021. Siep, Ludwig: Rawls‘ politische Theorie der Person. In: Philosophische Gesellschaft Bad Homburg/Wilfried Hinsch (Hg.): Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls in der Diskussion. Frankfurt a. M. 1997, 380–395. Weithman, Paul: Rawls, political liberalism and reasonable faith. Cambridge 2016. Winandy, Julian: Normativität im Konflikt. Zum Verhältnis von religiösen Überzeugungen und politischen Entscheidungen. Baden-Baden 2014.

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Demokratie Julian Culp

Die Staatsform einer konstitutionellen Demokratie ist von zentraler Bedeutung für John Rawls’ Gerechtigkeitstheorie. Sie stellt das grundlegendste, rechtlich verfasste Institutionensystem einer Gesellschaft dar, welches Bürger*innen gleiche Grundfreiheiten ermöglichen soll, einschließlich der hierfür erforderlichen kulturellen, ökonomischen und sozialen Voraussetzungen. Diese Form der Demokratie soll die wichtigsten institutionellen Anforderungen Rawls’ liberal-egalitärer Auffassung binnenstaatlicher Gerechtigkeit verwirklichen. Allerdings hat Rawls im Laufe der Zeit seine Verständnisweise der Selbsterhaltungsbedingungen einer konstitutionellen Demokratie grundlegend geändert. In Eine Theorie der Gerechtigkeit geht Rawls noch davon aus, dass eine konstitutionelle Demokratie deswegen stabil sei, weil alle Bürger*innen, die in einer den liberal-egalitären Gerechtigkeitsgrundsätzen genügenden Gesellschaft aufwachsen, den Liberalismus als eine umfassende Lehre akzeptieren würden, die sowohl für den Bereich der Politik als auch für den nicht-politischen Bereich der individuellen Lebensführung maßgeblich sei. Bereits in dem 1985 auf Englisch erschienenen Aufsatz „Gerechtigkeit als Fairneß:

J. Culp (*)  The American University of Paris, Paris, Frankreich E-Mail: [email protected]

politisch und nicht metaphysisch“ weicht Rawls (1994) jedoch von dieser Annahme ab. Denn, so Rawls in Politischer Liberalismus (1998, 13), „eine Pluralität vernünftiger und dennoch einander ausschließender umfassender Lehren [ist] das natürliche Ergebnis des Gebrauchs der menschlichen Vernunft innerhalb des Rahmens der freien Institutionen einer konstitutionellen Demokratie“. Rawls (ebd.,62) geht daher der Frage nach, ob und wie eine demokratische Gesellschaft stabil sein kann, obwohl sie von einem vernünftigen Pluralismus an umfassenden Lehren charakterisiert ist. Rawls (ebd., 38) sucht somit „nach der vernünftigsten Basis sozialer Einheit […], die für die Bürger einer modernen demokratischen Gesellschaft zugänglich ist“. In dem Aufsatz „Noch einmal: Die Idee der öffentlichen Vernunft“ spezifiziert Rawls (2002, 173– 175) die von ihm verteidigte Form der Demokratie als ‚deliberativ‘ und betont, dass die Idee der öffentlichen Vernunft selbst Teil der Auffassung einer wohlgeordneten konstitutionellen Demokratie ist. Schließlich untersucht Rawls (2002) in Das Recht der Völker aus der Perspektive einer demokratischen Gesellschaft, welche Gerechtigkeitsgrundsätze für eine globale Gesellschaft gelten, die sowohl aus demokratischen Gesellschaften sowie aus nicht-demokratischen, aber anständigen (decent), Gesellschaften zusammengesetzt ist. Er argumentiert, dass es das tolerante Selbstverständnis einer politisch liberalen

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_23

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Demokratie erfordere, nicht-demokratische, anständige Gesellschaften als gleichwertige Mitglieder einer global gerechten Gesellschaft sich selbst bestimmender Gesellschaften zu akzeptieren. Da die Grundstruktur anständiger Gesellschaften nämlich auf einer gemeinwohlorientieren Gerechtigkeitsauffassung beruhe, könnten diese nicht als unvernünftig bezeichnet werden. Eine Theorie der Gerechtigkeit In Eine Theorie der Gerechtigkeit liefert Rawls eine kontraktualistische Begründung der konstitutionellen Demokratie und beansprucht, dass diese besser als utilitaristische und intuitionistische Begründungen eines solchen Institutionensystems sei. Eine konstitutionelle demokratische Ordnung gilt Rawls zufolge deswegen als gerechtfertigt, weil sie die für die gesellschaftliche Grundstruktur entwickelten Gerechtigkeitsgrundsätze zu erfüllen vermag. „Die wichtigsten Institutionen“ einer gerechten gesellschaftlichen Grundstruktur, so Rawls, „sind die einer konstitutionellen Demokratie“ (1976, 223). Rawls (1976, 314 f.; 2006, 215) lässt jedoch offen, ob die konstitutionelle Demokratie in Form einer eigentumsbasierten Demokratie oder in Form eines demokratisch-liberalen Sozialismus zu realisieren sei. Der demokratisch-liberale Sozialismus ist in bestimmten Hinsichten demokratischer als eine eigentumsbasierte Demokratie, da in diesem Entscheidungsprozesse wirtschaftlicher Unternehmen demokratisch gestaltet werden. Beide dieser Formen der konstitutionellen Demokratie realisieren jedoch Rawls’ Auffassung sozioökonomischer Gerechtigkeit. Rawls bezeichnet diese u.  a. deswegen mit dem Begriff der „demokratischen Gleichheit“ (Rawls 1976, 95), weil „in der demokratischen Deutung der beiden Grundsätze“ (ebd., 127) das Unterschiedsprinzip dem „Brüderlichkeitsideal“ (ebd.) Ausdruck verleiht. Rawls’ Darstellung einer konstitutionellen Demokratie erfolgt auf der zweiten Stufe des von Rawls vollzogenen ‚Vier-Stufen-Gangs‘ zur Konkretisierung der praktischen Verwirklichung

J. Culp

seiner Gerechtigkeitsgrundsätze, nachdem auf der ersten Stufe die Gerechtigkeitsgrundsätze von den Vertragsparteien innerhalb des Urzustands hinter einem Schleier des Nichtwissens ausgewählt worden sind. Auf der zweiten Stufe muss dieser Schleier des Nichtwissens in bestimmten Hinsichten gelüftet werden, um eine den Gerechtigkeitsgrundsätzen genügende Verfassung zu bestimmen. Die Vertragsparteien in einer solchen „verfassungsgebenden Versammlung“, so Rawls (ebd., 224 f.), kennen nicht mehr nur die Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit, sondern auch „die Grundsätze der Sozialwissenschaft und […] die natürlichen Bedingungen und Hilfsquellen, [sowie] den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungsstand“ ihrer Gesellschaft. Rawls dient insbesondere der erste Grundsatz der gleichen Freiheit für alle als Richtschnur für die Bestimmung einer gerechten Verfassung, während der zweite Grundsatz, welcher insbesondere Sozial- und Wirtschaftspolitik betrifft, erst auf der dritten Stufe bei der Bestimmung einer gerechten Gesetzgebung Anwendung findet, nachdem die konstitutionelle Demokratie bereits als gerechte Verfassung bestimmt ist. Nichtsdestotrotz ist der zweite Grundsatz auch bereits bei der Wahl des Verfassungsdesigns von Bedeutung, da ceteris paribus diejenige Verfassung zu bevorzugen ist, die „am ehesten zu einer gerechten und wirksamen Gesetzgebung“ führt (ebd., 251). Die Wahl einer gerechten Verfassung stellt einen Fall unvollkommener Verfahrensgerechtigkeit dar, da durch den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz zwar ein unabhängiger Standard für ein gerechtes Ergebnis bekannt ist, dieser aber nicht durchgängig von dem Institutionensystem der konstitutionellen Demokratie erfüllt werden kann. Die vierte Stufe des Vier-Stufen-Gangs besteht daher schließlich in der Ermittlung bürgerlicher Pflichten unter besonderer Berücksichtigung des Umstands, dass eine gerechte Verfassung ungerechte Ergebnisse zulässt. Die Konkretisierung der Gerechtigkeitsgrundsätze anhand dieses Vier-Stufen-Gangs dient nicht der Anwendung bereits vollständig begründeter Gerechtigkeitsgrundsätze, sondern

23 Demokratie

ist selbst Teil der Begründung dieser Grundsätze. Rawls’ kohärentistische Rechtfertigungsmethode des Überlegungsgleichgewichts fordert nämlich, dass Gerechtigkeitsgrundsätze sowohl anhand eines von institutionellen Überlegungen losgelösten Verfahrens, also des Urzustands, als auch auf Basis der wohlüberlegten Urteile, die wir hinsichtlich derjenigen Institutionen fällen, welche diese Grundsätze erfüllen, zu begründen sind. Um dies erwägen zu können, bedarf es also – und zwar primär aus begründungstheoretischen und nicht aus anwendungsorientierten Gründen – einer wenigstens skizzenhaften Darstellung jener Institutionen, welche die Gerechtigkeitsgrundsätze erfüllen würden. Der Umstand, dass wohlüberlegte Urteile eine konstitutionelle Demokratie als Institutionensystem, das die Gerechtigkeitsgrundsätze realisiert, gutheißen, ist also Teil der Begründung Rawls’ Gerechtigkeitstheorie. Die politische Gerechtigkeit einer konstitutionellen Demokratie besteht nach Rawls (ebd., 251) in dem „Grundsatz der (gleichen) Teilnahme“, demzufolge alle Bürger*innen ein gleiches Recht haben, an der verfassungsgemäßen Bestimmung von Gesetzen mitzuwirken. Analog zur Idee, dass die Gerechtigkeitsgrundsätze in einer Situation ausgewählt werden, die alle fair repräsentieren, sollen die Gesetze einer gerechten gesellschaftlichen Ordnung ebenso in einer Situation bestimmt werden, in der alle Bürger*innen fair repräsentiert sind: „Soll der Staat eine letztinstanzliche Macht über ein bestimmtes geographisches Gebiet ausüben und so die Lebenschancen der Menschen ständig beeinflussen, dann sollte bei verfassungsgemäßen Verfahren die Gleichberechtigung des Urzustands so weit wie möglich beibehalten werden“ (1976, 252, übers. J.C.). Rawls (ebd., 252–255) listet folgende Merkmale einer dem Teilnahmegrundsatz entsprechenden konstitutionellen Demokratie auf: ein auf begrenzte Zeit gewähltes repräsentatives Organ, das über gesetzgebende Gewalt verfügt; politische Parteien, die einer bestimmten Auffassung des öffentlichen Wohls verpflichtet sind; das gleiche Recht aller „geistig gesunden Erwachsenen“ (ebd., 253) zu wählen, ­politischen

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Parteien beizutreten und sich wählen zu lassen; regelmäßige, freie und faire Wahlen; rechtlich gesicherte Rede- und Versammlungs- sowie Koalitionsfreiheiten; der Grundsatz der loyalen Opposition, wonach politische Meinungsverschiedenheiten unvermeidlich sind. Allerdings kann der Umfang der gleichen politischen Freiheit eingeschränkt werden, indem die Verfassung zum Schutz bestimmter Grundrechte den Anwendungsbereich von Mehrheitsentscheidungen eingrenzt. Rawls betont zudem, dass der „Wert der politischen Freiheit“ anhand einer Idee fairer Chancengleichheit bestimmt werden soll, wonach „[i]m Idealfall […] gleich Begabte und Motivierte ungefähr die gleiche Aussicht auf politische Ämter unabhängig von ihren wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen haben [sollten]“ (ebd., 255). Diese Forderung nach einem so verstandenen fairen Wert der politischen Freiheit zieht eine Reihe praktischer Konsequenzen nach sich, die über den engeren Bereich der politischen Verfassung hinausreichen. Alle Bürger*innen bedürfen der Möglichkeit, sich am „Forum der Öffentlichkeit“ (ebd.) zu beteiligen, weshalb politische relevante Informationen allen Bürger*innen verfügbar sein müssen und zudem wirtschaftliche Ungleichheiten nicht zu ungleichen politischen Beteiligungsmöglichkeiten führen dürfen. Privatvermögen sollten gesellschaftlich weit gestreut, öffentliche Diskussionen staatlich gefördert und politische Parteien nicht von privaten wirtschaftlichen Interessen beeinflusst sein. Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf In Gerechtigkeit als Fairneß – Ein Neuentwurf grenzt Rawls (2006, 225–230) die konstitutionelle von einer prozeduralen Demokratie ab, um seine Begründung ersterer weiter zu spezifizieren. Während eine konstitutionelle Demokratie fordert, dass alle Gesetze und Verordnungen mit bestimmten Grundrechten und -freiheiten vereinbar sein müssen, genügt es für eine prozedurale Demokratie, wenn alle Gesetze und Verordnungen rechtmäßigen Verfahren entspringen, die einer Mehrheitsregel folgen.

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In einer konstitutionellen Demokratie werden die „Vorstellungen von Person und Gesellschaft […] in der öffentlichen Charta der Verfassung ausführlicher artikuliert und deutlicher mit den von ihr garantierten Grundrechten und -freiheiten verknüpft“ (Rawls 2006, 227). Indem sich Richter in ihren Urteilen auf diese Verfassungsinhalte beziehen und diese politischen „Grundwerte“ (ebd.) öffentlich deuten, können „umstrittene Gerichtsentscheidungen […] nachdenkliche politische Diskussionen hervorrufen“ (ebd.). Solche Diskussionen stellen ein „öffentliche[s] Forum der Prinzipien“ (ebd.) dar, „das ein kennzeichnendes Merkmal eines konstitutionellen Staatswesens“ (ebd.) ist. Ein solches Forum kann auch „eine maßgebliche bildungsrelevante Rolle spielen“ (ebd.), weil es Bürger*innen formen kann, die fähig sind, Gründe für die wesentlichen Verfassungsinhalte zu artikulieren, und die Interesse daran haben, sich politisch zu beteiligen. Politischer Liberalismus In Eine Theorie der Gerechtigkeit unterscheidet Rawls nicht klar zwischen Moralphilosophie und politischer Philosophie. Rawls (1998, 11) begreift darin seine Auffassung von Gerechtigkeit als Fairneß als eine umfassende „moralische Gerechtigkeitslehre“, deren Geltungsbereich nicht auf den Bereich des Politischen eingegrenzt ist, sondern sich auch auf darüber hinausreichende Lebensbereiche erstreckt, die z. B. „Ideale persönlicher Tugend und persönlichen Charakters“ betreffen (Rawls 1994, 343). Als eine solche umfassende Lehre kann Rawls’ Auffassung von Gerechtigkeit als Fairneß jedoch nicht alle Bürger*innen einer konstitutionellen Demokratie überzeugen, weil es in einer freiheitlichen Ordnung aufgrund der von Rawls (1998, 127–132) so genannten „Bürden des Urteilens“ zu vernünftigen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich solcher umfassenden Lehren kommt. Dies ist ein fundamentales Problem für Rawls’ Gerechtigkeitstheorie, weil Gerechtigkeitsgrundsätze nur dann als gerechtfertigt anzuerkennen sind, wenn die sie erfüllenden Institutionen sich dauerhaft als stabil

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erweisen. Rawls (ebd., 110) untersucht daher, ob und wie eine stabile konstitutionelle Demokratie trotz dieser „Faktums eines vernünftigen Pluralismus“ dauerhaft möglich ist (vgl. Weithman 2011). In Politischer Liberalismus artikuliert Rawls (1998, 80  f.) eine dezidiert politische Auffassung der Gerechtigkeit, die in ihrer Geltung auf den politischen Bereich begrenzt ist, damit diese einen übergreifenden Konsens aller Bürger*innen darstellen kann. Die Gerechtigkeitsauffassung, die Rawls in Eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt hat, ist dabei nur eine unter vielen vernünftigen Auffassungen politischer Gerechtigkeit. Trotz des vernünftigen Pluralismus umfassender Lehren und vernünftiger Gerechtigkeitskonzeptionen können alle Bürger*innen allgemeine Kriterien einer Familie vernünftiger Gerechtigkeitsauffassungen anerkennen. Denn diese Kriterien lassen sich, so Rawls, anhand der politischen Ideen rechtfertigen, die implizit in der öffentlichen politischen Kultur einer konstitutionellen Demokratie vorhanden sind. Zu diesen Ideen zählen etwa die Vorstellung von Bürger*innen als freie und gleiche Personen oder die Vorstellung der Gesellschaft als ein System fairer Kooperation. Diese einer demokratischen politischen Kultur entnommenen Ideen dienen auch als Bausteine der Begründung vernünftiger politischer Gerechtigkeitskonzeptionen. Weil nun aber die in Demokratien herrschenden vernünftigen Meinungsverschiedenheiten nicht nur unterschiedliche umfassende säkulare oder religiöse Lehren betreffen, sondern auch unterschiedliche politische Gerechtigkeitsauffassungen, ist ein vernünftiger öffentlicher Austausch darüber notwendig, wie die wesentlichen Verfassungsinhalte ausgestaltet und Fragen grundlegender Gerechtigkeit beantwortet werden sollen. Die Idee der öffentlichen Vernunft, so Rawls in Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft, ist daher „Teil der Idee der Demokratie selbst“ (Rawls 2002, 165). Der Gebrauch der öffentlichen Vernunft durch Richter, Amtsträger und Mitglieder politischer Parteien, die für ein solches Amt zur Wahl stehen, ist für Rawls (ebd., 169) ein demokratisches Ideal.

23 Demokratie

Bürger*innen können diesem Ideal ebenso genügen, indem sie „ihre Pflicht zur Bürgerlichkeit“ erfüllen und sich „selbst so verstehen, als ob sie Gesetzgeber wären“ (ebd., 170). Der Gebrauch der öffentlichen Vernunft dient im Rahmen der öffentlichen politischen Kultur einer diskursiven Klärung darüber, welche zwangsbewehrten Gesetze sich auf Basis vernünftiger politischer Gerechtigkeitskonzeptionen als legitim erweisen. Rawls versteht die von ihm verteidigte konstitutionelle Demokratie daher auch als eine deliberative Demokratie. Das Recht der Völker In Das Recht der Völker verteidigt Rawls (2002) globale Gerechtigkeitsgrundsätze, die für die Grundstruktur der globalen Gesellschaft Geltung beanspruchen. Diese Grundstruktur ist gerecht, sofern sie es ermöglicht und zulässt, dass demokratische sowie auch nicht-demokratische, anständige Gesellschaften selbstbestimmt handeln und gleichberechtigt miteinander kooperieren (vgl. Williams 2011; Culp 2014). Anständige Gesellschaften erkennen grundlegende Menschenrechte wie körperliche Unversehrtheit, Recht auf Privateigentum sowie ein bestimmtes Maß an Gewissens- und Gedankenfreiheit an. Sie verfügen allerdings über eine hierarchische Konsultationsstruktur, innerhalb welcher die Interessen aller Gesellschaftsmitglieder berücksichtigt, nicht aber allen Individuen und Gruppen die gleichen politischen (Beteiligungs-) Rechte zugestanden werden. Rawls macht somit

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deutlich, dass seine binnenstaatliche Auffassung von Gerechtigkeit als Fairness lediglich innerhalb liberaler, demokratischer Gesellschaften Geltung beansprucht. Diese Gerechtigkeitsauffassung und das damit verbundene Institutionensystem einer konstitutionellen Demokratie erheben also weder für die Gestaltung der Beziehungen zwischen Gesellschaften noch für den Binnenbereich nicht-demokratischer, anständiger Gesellschaften einen Geltungsanspruch. Dies entspricht Rawls’ konstruktivistischem Begründungsansatz, dem zufolge „das richtige Ordnungsprinzip für irgendetwas von der Eigenart dieses Etwas abhängt“ (Rawls 1976, 47).

Literatur Culp, Julian: Global justice and development. New York 2014. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1976 (engl. 1971). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch. In: Ders.: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Hg. Winfried v. Hinsch. Frankfurt a. M. 1994. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: Das Recht der Völker. Berlin 2002 (engl. 1999). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. 2006 (engl. 2001). Weithman, Paul: Why political liberalism? On John Rawls’ political turn. Oxford 2011. Williams, Huw Lloyd: On Rawls, development and global justice: the freedoms of people. New York: 2011.

Differenzprinzip

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Cindy-Ricarda Roberts

Das Differenzprinzip (auch Unterschiedsprinzip) ist als zweiter Bestandteil des zweiten Gerechtigkeitsprinzips in John Rawls’ Hauptwerken Theorie der Gerechtigkeit sowie Politischer Liberalismus zu verorten (Rawls 2017, 79; Rawls 2019, 95–99). Als Teilergebnis des gesamten operationalen Prüfungsverfahrens, kommt dem Differenzprinzip in Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption eine zentrale Rolle zu. Das erste Gerechtigkeitsprinzip fokussiert sich auf die Verteilung immaterieller politischer Grundgüter und fordert eine Gleichverteilung grundlegender Freiheiten. Das zweite Gerechtigkeitsprinzip bezieht sich hingegen auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie auf die die Beschaffenheit von Organisationen, in denen Macht und Verantwortung unterschiedlich verteilt sind. Es regelt die Verteilung von Ungleichheiten in einer liberalen Gesellschaft. Während der erste Teil des zweiten Gerechtigkeitsprinzips faire Chancengleichheit verlangt, geht das Differenzprinzip darüber hinaus und fordert, dass Ungleichheiten so verteilt sind, dass diese zu „jedermanns Vorteil“ dienen (Rawls 2019, 81). Grundsätzlich stellt das Differenzprinzip somit eine Präzision des zweiten Grundsatzes dar. Insbesondere

C.-R. Roberts (*)  Technische Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

schreibt es vor, solange eine Gleichverteilung von sozialen und wirtschaftlichen Grundgütern zu bevorzugen, insofern ein anderer Verteilungsmechanismus nicht zu einer Verbesserung aller Beteiligten beitragen würde (ebd., 100 f.). Sind Ungleichheiten so gestaltet, dass diese zum größten möglichen Vorteil aller Gesellschaftsmitglieder führen, fordert das Differenzprinzip darüber hinaus, dass die Ungleichverteilung den am schlechtesten gestellten Personen die größten möglichen Vorteile bringen sollen (Rawls 2017, 69 f.). So folgt die Verteilung dem Prinzip: so gleich wie möglich, so ungleich wie nötig (Schwaabe 2007, 152).

Abgrenzung des Differenzprinzips zum Utilitarismus und der ParetoRegel Anhand des Differenzprinzips grenzt sich Rawls zunächst vom Utilitarismus als Gegenposition ab (Rawls 2019, 40). Grund hierfür ist, dass der Utilitarismus als Verteilungsregel eine Unbestimmtheit dahingehend aufweist, inwieweit eine gleichbleibende Summe von Nutzen verteilt werden sollte. Schließlich sieht dieser nur bis zu einer bestimmten Schwelle eine Gleichverteilung vor (ebd., 98, 355 f.). Ein ungerechter Verteilungsmechanismus würde, nach Rawls, vorwiegend von den Erwartungen und Interessen der Bessergestellten abhängen oder andere vorangestellte Gerechtigkeitsprinzipien

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_24

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verletzen. Hingegen soll eine gerechte Verteilung von Gütern gerade für die am meisten Benachteiligten möglichst fair und effizient gestaltet sein (ebd., 82, 395). Ausgehend von der durch den Utilitarismus vorgegebenen Gleichverteilung, kann eine effiziente Verteilung der Grundgüter nur dann erreicht werden, insofern andere Personen dadurch schlechter bzw. bessergestellt werden. Ungleiche Verteilung kann daher effizienter sein als Gleichverteilung. Umgekehrt bedeutet eine effiziente Konfiguration nicht zwingend Gleichverteilung. Nach der Pareto-Regel liegt eine effiziente Verteilungssituation genau dann vor, wenn niemand mehr mit einer anderen Person tauschen wollte und keiner mehr etwas hat, was er für etwas anderes eintauschen könnte. Dies erlaubt wiederum mehrere Formen möglicher Verteilungen (ebd., 85 f.). Innerhalb des Bereichs optimaler Verteilungsformen ist daher keine Form tatsächlicher Ungleichverteilung einer anderen vorzuziehen (ebd., 88–92). Insofern lässt das Pareto-Optimum als Effizienzprinzip offen, von welchem Standpunkt aus der Verteilung bewertet bzw. optimiert werden soll (ebd., 92). Gemäß Rawls ist eine demokratische Verfassung nicht in Einklang zu bringen mit dem bloßen Effizienzprinzip, insofern dieses nur Veränderungen erlaubt, die die Situation aller verbessert. Folglich kann das Effizienzprinzip allein nicht für Gerechtigkeit sorgen (ebd., 85 f.). Rawls grenzt das Differenzprinzip deshalb auch vom Prinzip der Pareto-Optimalität ab. In diesem Sinne ergänzt das Differenzprinzip das Effizienzprinzip bei der Verteilung von Grundgütern, indem es einen Standpunkt zur Beurteilung der Verteilung festlegt (ebd., 89– 101). Den institutionellen Rahmen aus liberalen Grundfreiheiten und fairer Chancengleichheit vorausgesetzt, dient es so als Prüfstein um diejenigen Überzeugungen der Bessergestellten einer Gesellschaft genau nur dann als gerecht zu bewerten, wenn diese auch die Position der am meisten Benachteiligten maximal verbessert. Für das operationale Prüfungsverfahren, d. h. vor der Stimmenabgabe im Urzustand, werden die Ergebnisse potenzieller alternativer Verteilungsgrundsätze zunächst also daraufhin

C.-R. Roberts

sortiert, inwiefern deren Ergebnisse, Auswirkungen für die am meisten benachteiligten Menschen einer Gesellschaft haben. Rawls geht nämlich davon aus, dass die Beteiligten im Urzustand der Maximin-Regel folgen, d. h. sich risikoavers verhalten. Die Maximin-Regel sortiert alle Alternativen nach ihren schlechtesten möglichen Ergebnissen. Sie hilft dabei, das schlechteste mögliche Ergebnis ausfindig zu machen, welches aber noch immer besser ist, als bei jeder anderen Alternative (ebd., 177–181). Da die Beteiligten im Urzustand versuchen, das eigene Risiko möglichst gering zu halten, indem sie sich an der möglichst besten unter den schlechtesten Optionen orientieren, folgen sie so der Maximin-Regel. Folglich richtet sich der Fokus der Beteiligten im Urzustand, anstatt auf die Maximierung des möglichen Vorteils (maximum maximorum), auf die Minimierung des möglichen Nachteils der am meisten benachteiligten Personen. Es geht also darum, ein Minimumziel festzulegen, ohne darüber hinaus noch etwas hinzugewinnen zu wollen (Rawls, 2017, 330 f.). Denn das Erreichen des Minimums, d. h. der beiden Gerechtigkeitsprinzipien, wird von den Gesellschaftsmitgliedern als in sich wertvoll erachtet und legt ein Streben darüber hinaus nicht nahe (Rawls, 2019, 180 f.). Demnach stellt das Differenzprinzip sicher, dass die Verteilung der Grundgüter wirklich dem Vorteil aller dient und gerade die Situation der am meisten Benachteiligten berücksichtigt. Aus diesem Grund begünstigt es eine stabilere Grundlage für eine andauernde Kooperation aller Bürgern*innen und wird deshalb von Rawls gegenüber dem Effizienzprinzip (Pareto-Regel) präferiert. Die Anwendung des Unterschiedsprinzips ist zudem nicht allein für die am besten oder am schlechtesten gestellten Personen günstig, sondern führt, durch eine von Rawls angenommene Verkettung, zum Vorteil aller Gesellschaftsmitglieder, womit das Differenzprinzip für Rawls ein Ausdruck demokratischer Gleichheit ist (ebd., 100–104). Wenn durch eine Maßnahme die Position der am schlechtesten gestellten Personen angehoben werden, dann wird dies auch für alle Beteiligten gelten, deren gesellschaftliche Position

24 Differenzprinzip

zwischen diesen und den am besten gestellten Personen liegen (ebd., 103). Rawls’ Überlegungen zum Differenzprinzip lassen sich an einem Beispiel erläutern. Angenommen, es existieren vier Länder mit vier verschiedenen Wirtschaftssystemen, in denen das erste die Einkommen und Vermögen vollkommen gleich verteilt. Ein zweites Wirtschaftssystem führt zu ungleich verteilten Einkommen und Vermögen, wobei diese noch relativ gleich verteilt sind, und außerdem zu einer minimalen Verbesserung aller, inklusive der am meisten benachteiligten Gruppe. Das dritte Wirtschaftssystem würde zwar eine Verbesserung für alle drei Personengruppen mit sich bringen, allerdings würden die am meisten Benachteiligten dabei am meisten von der Verbesserung profitieren. Das vierte Wirtschaftssystem würde ebenso eine Verbesserung des Einkommens und Vermögens aller Personengruppen bewirken, jedoch die meisten Vorteile für die am besten gestellten Personengruppen bewirken. Das Differenzprinzip schreibt hier die Wahl des dritten Wirtschaftssystems vor, da die Ungleichverteilung hier am meisten Einkommens- und Vermögensvorteile für alle und insbesondere für die am meisten benachteiligte Personengruppe erzeugt. Während eine vollkommene Gleichverteilung wie im ersten beschriebenen Wirtschaftssystem zu keinerlei Verbesserung jedweder Personengruppen führt, resultiert aus einer Ungleichverteilung, wie nach dem zweiten Schema, zwar eine Verbesserung aller, jedoch führt nur das dritte Verteilungsschema zum größeren Vorteil der am meisten Benachteiligten. Das vierte Wirtschaftssystem würde das Differenzprinzip gerade nicht zulassen, da es verbietet, dass die Reichsten auf Kosten der Ärmeren noch reicher würden (vgl. Wenar 2017, 4.3).

Globale Ausweitung des Differenzprinzips In Recht der Völker und dessen Anspruch eine realistische Utopie darzulegen, kann das Differenzprinzip nur mehr in abgeschwächter Form Anwendung finden (Rawls 2002, 4,

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13). Während Rawls in Eine Theorie der Gerechtigkeit und in Politischer Liberalismus das Differenzprinzip noch als grundlegend für seine Gerechtigkeitskonzeption erachtet, wird dieses auf internationaler Ebene in Recht der Völker als inadäquates Verteilungsprinzip zurückgewiesen. Daher fungiert das Differenzprinzip als fairer Verteilungsmechanismus ausschließlich innerhalb innergesellschaftlicher Zusammenhänge. Denn nur in Gesellschaften freier und gleicher Personen gibt das Differenzprinzip für die Grundgüterverteilung konkrete Zielpunkte vor, denen allseits zugestimmt werden kann. Der Index von Grundgütern resultiert dabei als Begleitidee aus Rawls’ spezifischer Idee der Gesellschaft, die als ein faires System der sozialen Kooperation verstanden wird (Rawls 2017, 110). Demnach kann das Differenzprinzip in der internationalen Arena nur mehr abgeschwächt als Unterstützungspflicht, d. h. als ein Übergangsprinzip fungieren, da auf internationaler Ebene der übergreifende Konsens sowie die zugrundeliegenden Gerechtigkeitsvorstellungen gerade nicht ausreichend geteilt werden. Infolgedessen kann das Differenzprinzip im globalen Kontext nicht zur allseitigen Zustimmung, d. h. nicht zu akzeptablen Ergebnissen für alle Gesellschaften führen (Rawls 2002, 145–149). Es bedarf zunächst der genaueren empirischen Klärung, wann einer Gesellschaft konkret, gemäß einem Index von Grundgütern (Rawls 2017, 110, 271–282), politische Autonomie zugeschrieben werden kann (Rawls 2017, 110; Rawls 2002, 147 f.). Hierüber kann es unterschiedliche Ansichten geben, jedoch lässt sich potenziell darüber Einigung erzielen (ebd., 148). Je nach Festlegung der jeweiligen Ziele einer Gesellschaft, resultiert auf globaler Ebne ein unterschiedlicher Grad an Übereinstimmungen zwischen den gesellschaftlichen Grundprinzipien. Nach Rawls ist die Idee der Gesellschaft als freie und gleiche Personen historisch und kulturell gewachsen. Folglich koexistiert diese in der Weltgemeinschaft, neben diversen anderen Gesellschaften, mit alternativen gesellschaftlichen Leitideen. So bedingt die Idee der Toleranz im internationalen Kontext, anstatt am egalitaristischen Grundsatz des

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Differenzprinzips, am Unterstützungsprinzip festzuhalten (Rawls 2002, 18 f.). Denn das Anliegen eines kosmopolitischen Differenzprinzips ist das individuelle Wohlergehen, während für Rawls das Wohlergehen bzw. die Gerechtigkeit der Gesellschaft im Vordergrund steht (ebd., 148). Ein globales Differenzprinzip, beispielsweise in Anlehnung an Charles Beitz, wird in Recht der Völker daher verworfen (ebd., 145).

Kontext und Entwicklungslinien des Differenzprinzips Das Differenzprinzip verkörpert eine auf Gleichheit basierende Reziprozität und stellt den egalitaristischen Kern Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption in Eine Theorie der Gerechtigkeit sowie in Politischer Liberalismus dar. Aus diesem Grund zählt Rawls, neben Ronald Dworkin, zu einem der bedeutendsten Vertreter des egalitaristischen Liberalismus. Im System demokratischer Gleichheit wird, unter dem Vorrang der Freiheit, faire Chancengleichheit mit dem Differenzprinzip kombiniert. Auf Grundlage dieses liberal-egalitaristischen Verteilungsmechanismus, können wechselseitig alle einen Vorteil aus der sozialen Kooperation ziehen sowie das „Los“ der Natur ausgeglichen werden (Rawls 2019, 29). Grundsätzlich basiert das Differenzprinzip auf der negativen Annahme, dass die Verteilung natürlicher Ressourcen und Talente ungerechtfertigt bzw. unverdient ist. Eine Person verdient demnach nicht einen größeren Anteil sozialer und ökonomischer Grundgüter allein deshalb, weil sie glücklicherweise mit größerem Talent und natürlichen Fähigkeiten geboren wurde, die sie schließlich bestimmte Kompetenzen entwickeln lässt, die soziale und ökonomische Prosperität versprechen. Umgekehrt bedeutet dies jedoch nicht, dass jede Person die genau gleichen Anteile sozialer und ökonomischer Grundgüter genießen können muss. Hingegen erachten in einer Gesellschaft, die dem Differenzprinzip folgt, deren Mitglieder die Verteilung natürlicher Talente und Fähigkeiten als Sache des Gemeinwohls, wovon wiederum alle

C.-R. Roberts

profitieren sollen. Die Bessergestellten können die ihnen gegebenen Talente dazu benutzen, sich selbst besser zu stellen, solange sie dabei zum Vorteil der weniger gut gestellten Personen beitragen. Zugleich verkörpert das Differenzprinzip das positive Ideal einer tieferen sozialen Verbundenheit (ebd., 521–527, 547). In einer Gesellschaft, die dem Differenzprinzip zustimmt, sollten die Beteiligten, nach Rawls, davon ausgehen können, dass ihr Gesellschafts- und Wirtschaftssystem jeder Person zum Vorteil dient. Ebenso, dass diejenigen, die so glücklich waren, mit größeren natürlichen Talenten geboren worden zu sein, sich nicht auf Kosten der weniger begünstigten Personen besserstellen. Als solches lässt sich Rawls’ positives Ideal mit Robert Nozicks Ideal der libertären Freiheit oder Ansätzen der economic justice, als Theoriefeld der Wohlfahrtsökonomie und sozialer Gerechtigkeit, gegenüberstellen, welche den heutigen Diskurs um Gerechtigkeit fortprägen. Das dem Differenzprinzip zugrunde liegende positive Ideal zeugt wiederum vom perfektionistischen Gehalt Rawls’ Theorie, der sich schließlich auch bezüglich der Verteilung von Ungleichheit wiederspiegelt. So wird von Rawls stets schon vorausgesetzt, dass worüber alle Gesellschaftsmitglieder Einigung erzielen sollen, bereits stillschweigend übergreifender Konsens bestehe. Anhand dessen lässt sich Rawls, neben dem (moralischen) Instrumentalismus, in Anlehnung an David Hume, kommunitaristischen Theorien wie der Charles Taylors oder kantischen Ansätzen der praktischen Vernunft, wie dem Onora O’Neills, gegenüberstellen. Aufgrund des Anwendungsfelds des Differenzprinzips, welches nicht äquivalent auf den internationalen Rahmen übertragen werden kann, sondern lediglich auf alle vernünftigen Gesellschaften, die aus freien und gleichen Personen bestehen, zählt die Gerechtigkeitskonzeption Rawls’ als Alternative zu kommunitaristischen als auch kosmopolitischen Gerechtigkeitskonzeptionen. Kritik richtet sich dabei an das zugrunde gelegte liberale Personenbild, welches einerseits nicht ausreichend erklären kann, weshalb ein Gefühl sozialer Verbundenheit unter den Beteiligten vorliegt oder woraus sich dieses ergibt. Andererseits

24 Differenzprinzip

postulierte das liberale Personenbild gerade keinen universalistischen Anspruch, der das Differenzprinzip global anwenden ließe, sondern folgt, wie zuvor dargelegt, der Idee der Toleranz. Als liberal-egalitaristischer Verteilungsmechanismus weist das Differenzprinzip, in Abgrenzung zum Utilitarismus, einen Zwischenweg zum radikalen Egalitarismus sowie non-egalitaristischen Ansätzen der Gerechtigkeit auf. Rawls’ Gerechtigkeitstheorie ist nicht zuletzt aufgrund des Differenzprinzips als besonders originell zu werten. Anhand des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes, insbesondere unter Berücksichtigung von in den USA weit verbreiteten neo-liberalen und libertären Auffassungen, lässt sich behaupten, dass Rawls eine relativ sozialdemokratische Perspektive hinsichtlich des Umgangs mit Ungleichheiten in einer Gesellschaft darlegt. Im Vergleich zu anderen liberalen Denkansätzen, liegt das Gewicht der Gerechtigkeitskonzepte, aufgrund des Differenzprinzips, stärker auf dem Wert der Gleichheit. Wesentliche Kritik an Rawls’

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Gerechtigkeitskonzeption bezieht sich deshalb auch auf das zweite Gerechtigkeitsprinzip und dessen egalitaristischen Kern. In der Kombination von klassischen Elementen der Vertragstheorie mit modernen Elementen der Spieltheorie erhielt die Debatte um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit im letzten Jahrhundert, durch das Differenzprinzip, einen grundlegend neuen Anstoß (Schwaabe 2007, 148, 153).

Literatur Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.21 2019. Rawls, John: Die Idee des Politischen Liberalismus. Frankfurt a. M.6 2017. Rawls, John: Das Recht der Völker. Berlin/New York 2002. Schwaabe, Christian: Politische Theorie 2. Von Rousseau bis Rawls. Paderborn 2007. Wenar, Leif: John Rawls. 4.3. the two principles of justice as fairness. In: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford encyclopedia of philosophy (Spring 2017 Edition). https://plato.stanford.edu/archives/spr2017/entries/rawls/.

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Eigentum Tilo Wesche

Freiheit ist mit Eigentum untrennbar verknüpft. Sie konkretisiert sich im Verhältnis zur materialen Welt als das Recht einer Person, über ihre Güter selbst zu bestimmen. Dieses Freiheitsrecht wird als das Recht des Eigentums ausgeübt. In Bezug zu äußeren Gütern nimmt Freiheit demnach die Gestalt von Eigentum an. Klassische Theorien der Freiheit von Hobbes und Locke bis Kant und Hegel haben dieser engen Verbindung von Freiheit und Eigentum Rechnung getragen, indem sie dem Eigentum einen zentralen Stellenwert in ihrer jeweiligen Theorie eingeräumt haben; nicht minder wichtig ist das Eigentumsrecht für den politischen Liberalismus (vgl. z. B. Dagan 2021). Im Unterschied dazu fällt auf, dass eine eigenständige Theorie des Eigentums bei Rawls fehlt. So sehr sein Liberalismus vom Freiheitsgedanken lebt, gibt es in ihm doch keine systematische Untersuchung des Eigentums. Der Eigentumsbegriff kommt in Rawls Werk vielmehr verstreut vor, weil er von Rawls in den Kontext einer Theorie der Gerechtigkeit eingebettet wird. Eigentum ist insoweit bei Rawls der Gegenstand nicht einer eigenständigen Eigentumstheorie, sondern einer übergeordneten Gerechtigkeitstheorie. „In Rawls’s theory individual property rights are the

T. Wesche (*)  Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Oldenburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

consequence, and not the foundation, of the justice of economic institutions“ (Nagel 2003, 68). Indem nun Eigentum vor dem Hintergrund einer Gerechtigkeitstheorie betrachtet wird, rückt die Frage nach der Begrenzung des Eigentums in den Mittelpunkt. Eigentum wird laut Rawls als ein Freiheitsrecht ausgeübt, das unvermeidlich durch Standards der Gerechtigkeit begrenzt wird. In Rawls Eigentumskonzeption lassen sich Freiheit und ihre Grenzen nicht trennen, die dem Eigentum durch Gerechtigkeitsstandards gezogen werden. Das Grundrecht auf persönliches Privateigentum Rawls verbindet zwei eigentumstheoretische Ansätze miteinander. Zum einen knüpft er an der subjektiven Theorie an, in der Eigentum vom Rechtssubjekt her betrachtet wird; Eigentum wird insoweit als der berechtigte Anspruch einer Person vorgestellt. Zum anderen verfolgt er einen objektiven Ansatz, in dem das Eigentumsrecht vom Objekt aus bestimmt wird; unterschiedliche Arten von Gütern, über die Eigentumsrechte ausgeübt werden, führen zu unterschiedlichen Rechten des Eigentums. Insbesondere werden das persönliche Privateigentum einerseits und das Eigentum an Produktionsmitteln und natürlichen Ressourcen andererseits unterschieden. Im Unterscheid zu diesen gehört das persönliche Privateigentum zu den sozialen Grundlagen der Selbstachtung und besitzt insoweit den Status eines

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_25

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­Grundrechts (Rawls 1990, 82; Rawls 1998, 414). „Ein Grund für dieses Recht ist die Gewährleistung einer ausreichenden materiellen Basis für persönliche Unabhängigkeit und das Gefühl der Selbstachtung, die beide unerlässlich sind für die adäquate Entfaltung und Ausübung der moralischen Vermögen“ (Rawls 2003, 180) Persönliches Privateigentum ermöglicht es, dass Personen sowohl die Fähigkeit zur sozialen Kooperation als auch die Fähigkeit anwenden, eine Vorstellung vom guten Leben zu verwirklichen. Rawls Vorstellung von persönlichem Privateigentum zeichnet sich durch drei Merkmale aus: Persönliches Privateigentum ist erstens ein Freiheitsrecht, das in Gestalt des Rechts auf materielle Selbstbestimmung ausgeübt wird (a); das Recht auf persönliches Privateigentum wird zweitens instrumentell begründet (b); und drittens ist das Recht auf persönliches Privateigentum mit einer Besteuerung zum Zweck der Verteilungsgerechtigkeit vereinbar (c). a) Persönliches Privateigentum stellt ein Grundrecht der materiellen Selbstbestimmung dar. Materielle Selbstbestimmung ermächtigt dazu, frei von dirigistischen Zuteilungen sich mit Gütern aus eigener Kraft zu versorgen. Personen bestreiten hier ihren Lebensunterhalt frei von einem bevormundenden Versorger und Ernährer, der den Seinen gibt, was sie brauchen. Damit können sie frei von Angst vor Sanktionen einen Willen ausbilden und öffentlich vertreten. Materielle Selbstbestimmung wird nun durch das allgemeine Recht auf Eigentum garantiert. Das Eigentumsrecht verbürgt, dass Personen sich unabhängig von sozialer Stellung, Herkunft, Ansehen, Gesinnung und Geschlecht mit lebensrelevanten Gütern versorgen können. Es befreit somit aus feudalen, paternalistischen und hegemonialen Abhängigkeiten. b) Persönliches Privateigentum wird von Rawls instrumentell begründet. Mit der instrumentellen Eigentumsbegründung grenzt sich Rawls von den Naturrechtslehren des Eigentums und von insbesondere Robert Nozicks Eigentumsverständnis ab (Freeman 2007, 49 f.); in diesen wird Eigentum mit der Frei-

T. Wesche

heit als Selbstzweck gleichgesetzt. Zwar ist persönliches Privateigentum für Rawls ein Grundrecht; es ist trotzdem kein Selbstzweck. Persönliches Privateigentum ist nicht um seiner selbst willen erstrebens- und schützenswert. Vielmehr rechtfertigt sich persönliches Eigentum als ein Mittel, das zur Verwirklichung der beiden moralischen Vermögen dient. Rawls vertritt demnach eine instrumentelle Eigentumsbegründung, derzufolge Eigentum nicht ein Wert an sich ist. Eigentum ist nicht zwangsläufig mit der Vorstellung verbunden, dass sein Schutz und seine Vermehrung intrinsisch wertvoll sind. c) Die instrumentelle Eigentumsbegründung schafft drittens die Voraussetzung dafür, dass Eigentumsrechte durch gemeinnützige Besteuerung nicht notwendigerweise verletzt werden. Das Differenzprinzip berechtigt zur steuerfinanzierten Umverteilung zugunsten derjenigen, die am schlechtesten gestellt sind. Diese steuerfinanzierte Umverteilung ist mit einem Schutz persönlichen Privateigentums vereinbar, weil letzteres nicht an sich schützenswert ist, sondern einen unbedingten Schutz nur verdient, solange es unentbehrlich für die Selbstachtung ist. Erst wenn eine Besteuerung die Grundlage der Selbstachtung untergräbt, verletzt sie den Gerechtigkeitsgrundsatz der Freiheit. Soweit aber persönliches Privateigentum eine Grundlage für Selbstachtung bleibt, kann es zum Zweck der Gerechtigkeit besteuert werden (Van Parijs 2003, 223). Die Gerechtigkeitsvorstellung des Eigentums an Wirtschaftsgütern Rawls begründet Eigentum als einen berechtigten Anspruch und bestimmt es im Sinne einer objektiven Theorie zugleich von den verschiedenen Gütern her. Von den persönlichen Gebrauchsgütern unterscheidet er Produktionsmittel und natürliche Ressourcen. Auf diese Wirtschafts- und Naturgüter trifft nun das Grundrecht auf Privateigentum nicht zu, das vielmehr auf die persönlichen Gebrauchsgüter beschränkt ist (Rawls 1990, 83). Das Eigentum an Wirtschafts- und Naturgütern ist als

25 Eigentum

­rivateigentum wie auch als Gemeineigentum P berechtigt. Denn beide Eigentumsformen erfüllen die Grundsätze der Gerechtigkeit gleichermaßen und führen zu unterschiedlichen Gesellschaftsformen, die im selben Maße gerecht sind (Rawls 1990, 314; Rawls 2003, 215). Die Gerechtigkeitsvorstellung des Privateigentums an Produktionsmitteln konkretisiert sich als die Gesellschaftsform einer Demokratie mit Eigentumsbesitz (property-owning democracy); der Begriff der property-owning democracy geht auf James Meade zurück und wird von Rawls auf eigenständige Weise neu interpretiert. Die Gerechtigkeitsvorstellung des Gemeineigentums an Produktionsmitteln nimmt hingegen die Gestalt des liberalen (demokratischen) Sozialismus an, der vom Staatssozialismus abgehoben wird. Beide Gesellschaftsformen werden von Rawls als gleichberechtigte „Alternativen zum Kapitalismus“ (Rawls 2003, 211; vgl. Rawls 1990, 308) bezeichnet. Welche Gesellschaftsform sich durchsetzt, hängt vom kulturellen und historischen Kontext der jeweiligen Gesellschaft ab (Rawls 2003, 216). Rawls entwirft die Demokratie mit Eigentumsbesitz, die aufgrund der Privatrechtstradition eher zum US-amerikanischen Kontext passt, als eine alternative Gesellschaftsform im Kontrast zum Laissez-faire Kapitalismus (Neoliberalismus) und zum wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus. Die Demokratie mit Eigentumsbesitz wird von Rawls aus der Garantie des fairen Werts der politischen Freiheiten begründet; der faire Wert nur dieser Freiheit bedarf einer Gesellschaftsform, in der das Eigentum an Wirtschaftsgütern möglichst breit verteilt ist (Rawls 2003, 231, 233–236). Sie gewährleistet, dass die Mitglieder einer Gesellschaft mit einem privatorganisierten Markt wirksam ihre gleichen politischen Freiheiten ausüben können. Die Gleichheit der politischen Freiheiten wird durch Eigentumskonzentrationen und den ihnen einhergehenden Möglichkeiten unterlaufen, durch ökonomische Macht einen informellen Einfluss auf die Gesetzgebung auszuüben (Rawls 1998, 447). „Ein Hauptunterschied [zum wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus] besteht darin, daß die Hintergrundinstitutionen der Demokratie mit Eigentumsbesitz darauf hinwirken, den B ­ esitz

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an Vermögen und Kapital aufzusplittern und auf diese Weise zu verhindern, daß ein kleiner Teil der Gesellschaft die Wirtschaft und indirekt auch die Politik steuert“ (Rawls 2003, 216; vgl. ebd., 230). Nur unter Bedingungen annähernder ökonomischer und sozialer Gleichheit kann eine politische Gleichheit wirksam ausgeübt werden. Politische Freiheiten lassen sich in einer Gesellschaft mit ungleicher Verteilung von Eigentum an Produktionsmitteln nicht verwirklichen (Kerr 2017; Lister 2017). Es bedarf vielmehr einer breiten Streuung von wirtschaftlichem Eigentum. Rawls Theorie der Demokratie mit Eigentumsbesitz macht deutlich, dass politische Demokratie eine Demokratisierung der Wirtschaft voraussetzt. Die Demokratie mit Eigentumsbesitz zeichnet sich durch einen direkten und teilhabebezogenen Verteilungsmodus aus, der sich von traditionellen Umverteilungsmodellen unterscheidet. Die frühe Verteilung bereits der Eigentumsteilhabe steht im Kontrast zur späten Umverteilung längst erzeugter Werte. „Die Demokratie mit Eigentumsbesitz vermeidet das [Eigentumskonzentrationen], und zwar nicht durch Umverteilung des Einkommens an diejenigen, sie sozusagen am Ende jeder Phase weniger besitzen, sondern durch Gewährleistung weitverbreiteten Besitzes von Produktivkräften und Humankapital (d. h. Bildung und geschulten Fertigkeiten) am Beginn jeder Phase“ (Rawls 2003, 116 f.). Die Demokratie mit Eigentumsbesitz sorgt dafür, „daß genügend Produktionsmittel nicht nur in die Hände weniger, sondern von Anfang an in die Hände aller Bürger gelegt werden, so daß sie als Gleiche voll kooperierende Angehörige der Gesellschaft sein können“ (Rawls 2003, 218). Eine steuerfinanzierte Umverteilung der Ergebnisse (‚redistribution‘) erfolgt ex post, indem sie umverteilt werden, nachdem sie erzeugt worden sind. Im Unterschied dazu wird Eigentum in der Demokratie mit Eigentumsbesitz schon innerhalb des Wertschöpfungsprozesses verteilt. Das Eigentum an Vermögen wird also ex ante gestreut (‚predistribution‘), bevor es von den Eigentümer*innen unter anderem dazu genutzt wird, Reichtum zu erzeugen (vgl. O’Neill 2012;

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Thomas 2017). Durch die vorbeugende Teilhabe am Wirtschaftseigentum wird die starke Konzentration von Reichtum bereits im vorgelagerten Prozess der Produktion verhindert. So müssen die unheilvollen Folgen hochkonzentrierten Wirtschaftseigentums nicht durch eine verspätete Schadensbegrenzung nachkorrigiert werden. Im Anschluss an Rawls wird eine Debatte darüber geführt, was unter dem Wirtschaftseigentum verstanden werden kann, das breit gestreut werden soll. Für Thad Williamson (2013) gehören Geldvermögen, Wohneigentum und Aktienbesitz dazu; Thomas Piketty (2020; 1191) hingegen beschränkt es auf Bildungsgutscheine und eine Kapitalausstattung in Gestalt eines einmaligen Grundeinkommens. Die Demokratie mit Eigentumsbesitz erzielt rationalisierende Effekte für die politische Deliberation (vgl. Chambers 2012). Durch die breite Streuung von Wirtschaftseigentum „sollen die Verhältnisse der beratschlagenden Demokratie verbessert und Vorbereitungen für den öffentlichen Vernunftgebrauch getroffen werden.“ (Rawls 2003, 232) Insoweit wird deutlich, weshalb sich die Demokratie mit Eigentumsbesitz keineswegs in dem Ziel der Wohlstandsverteilung erschöpft. Positive Effekte für den politischen Prozess erzielt sie zunächst dadurch, dass, indem Eigentumskonzentrationen verhindert werden, die Möglichkeit informeller Einflussnahmen auf den politischen Prozess eingehegt wird. Über diese bloße Vermeidungsstrategie hinaus wird die politische Deliberation in der Demokratie mit Eigentumsbesitz aber auch in einer positiven Weise befördert (vgl. Wesche 2013). Eigentümerschaft mobilisiert, erstens, die Bereitschaft zur selbstverantwortlichen Urteilsbildung; wenn jemand als Eigentümer*in die Gestaltungsmöglichkeiten in den eigenen Händen hält, dann tritt die Frage, was ihm*ihr wichtig ist, unmittelbar handlungspraktisch in den Vordergrund. Eigentümerschaft erhöht, zweitens, die demokratische Erfahrung der Selbstwirksamkeit und damit die Bereitschaft zur politischen Partizipation; die Bereitschaft zur unvoreingenommen Verständigung wird gestärkt durch die demokratische Erfahrung, dass man

T. Wesche

in politischen Entscheidungen nicht nur unmittelbar adressiert wird, sondern an ihnen auch als handelndes Subjekt beteiligt ist. Drittens befördert Eigentümerschaft die Wahrnehmung von Deliberation als Prozess der sozialen Kooperation; Bürger*innen beteiligen sich hier nicht als Gegenspieler*innen, sondern als Mitspieler*innen an einer bürgerschaftlichen Willensbildung um die Streitfrage, in welcher Art von Gesellschaft sie leben wollen.

Literatur Chambers, Simone: Justice or legitimacy, barricades or public reason? In: Martin O’Neill/Thad Williamson (Hg.): Property-owning democracy. Rawls and beyond. Oxford 2012, 17–32. Dagan, Hanoch: A Liberal Theory of Property. Cambridge 2021. Freeman, Samuel: Rawls. New York/London 2007. Kerr, Gavin: The property-owning democracy. Freedom and capitalism in the twenty-first century. New York/ London 2017. Lister, Andrew: The difference principle, capitalism, and property-owning democracy. In: Moral Philosophy and Politics 5/1 (2017), 151–172. Nagel, Thomas: Rawls and liberalism. In: Samuel Freeman (Hg.): The Cambridge companion to Rawls. Cambridge 2003, 62–85. O’Neill, Martin: Free (and fair) markets without capitalism. Political values, principles of justice, and property-owning democracy. In: Martin O’Neill/Thad Williamson (Hg.): Property-owning democracy. Rawls and beyond. Oxford 2012,75–100. Piketty, Thomas: Kapital und Ideologie. München 2020. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 51990 (engl. 1971). Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. 2003 (engl. 2001). Thomas, Alan: Republic of equals. Predistribution and property-owning democracy. Oxford 2017. Van Parijs, Philippe: Difference principles. In: Samuel Freeman (Hg.): The Cambridge companion to Rawls. Cambridge 2003, 200–240. Wesche, Tilo: The concept of property in Rawls’ property-owning democracy. In: Analyse & Kritik. Zeitschrift für Sozialtheorie 35/1 (2013), 99–111. Williamson, Thad: Realizing property-owning democracy: A 20-year strategy to create an egalitarian distribution of assets in the United States. In: Martin O’Neill/Thad Williamson (Hg.): Property-owning democracy. Rawls and beyond. Oxford 2013, 225–248.

Fairness/ Verfahrensgerechtigkeit/ Verfahrenskonsens

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Claudia Landwehr

Im alltagssprachlichen Gebrauch beziehen wir den Begriff der Gerechtigkeit sowohl auf Verteilungen von Gütern als auch auf die Verfahren, durch die eine entsprechende Verteilung zustande gekommen ist. Rawls’ Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness (Rawls 1999) bezieht sich auf die Verteilung von Gütern und Rechten und ist somit eine Konzeption substantieller Gerechtigkeit. Zugleich ist die Begründung seiner Gerechtigkeitsprinzipien prozedural: durch die Konstruktion des Urzustandes, in dem Parteien hinter dem Schleier des Nichtwissens Prinzipien auswählen, wird die Auswahl ebendieser Prinzipien determiniert. Das Verhältnis von substantieller und prozeduraler Gerechtigkeit ist somit für Rawls’ Werk zentral und stellt, wie eine Debatte mit Jürgen Habermas zeigt (Habermas 1995; Rawls 1995) eine demokratietheoretisch äußerst relevante Fragestellung dar: Inwiefern begründet sich die Legitimität politischer Entscheidungen aus ihrer substantiellen Gerechtigkeit heraus oder nur aus der demokratischen Qualität der Verfahren, die sie hervorbringen? Mit der „politischen Wende“ (Weithman 2010), die Rawls mit Political Liberalism genommen

C. Landwehr (*)  Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected]

hat (Rawls 2005), gewinnt diese Fragestellung weiter an Bedeutung: Letztlich geht es hier um die Frage, wie unter Umständen eines legitimen Pluralismus umfassender Konzeptionen des Guten in einer demokratisch verfassten Gesellschaft durch entsprechende Verfahren und Praktiken gerechte Entscheidungen zu ermöglichen sind. In A Theory of Justice hatte Rawls (1999, 73–78) zunächst drei Formen der Verfahrensgerechtigkeit unterschieden: vollständige Verfahrensgerechtigkeit (perfect procedural justice), unvollständige Verfahrensgerechtigkeit (imperfect procedural justice) und reine Verfahrensgerechtigkeit (pure procedural justice). Vollständige Verfahrensgerechtigkeit liegt Rawls zufolge dann vor, wenn zum einen ein unabhängiger (akzeptierter) Maßstab für die Gerechtigkeit von Verteilungsergebnissen vorliegt, und das Verfahren zum anderen garantiert, dass seine Ergebnisse, gemessen an diesem Maßstab, gerecht sind. Berühmtes Beispiel hierfür sei das Teilen eines Kuchens: wenn wir als Maßstab für Gerechtigkeit die Gleichverteilung, also gleiche Größe der Kuchenstücke ansehen, dann kann sie durch folgendes Verfahren garantiert werden: die Person, die den Kuchen mit dem Messer teilt, ist als letzte an der Reihe, ein Stück zu wählen. Sie wird den Kuchen, soweit möglich, in gleich große Stücke schneiden, denn so wird das für sie selbst verbleibende Stück so groß wie möglich sein.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_26

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Unvollkommene Verfahrensgerechtigkeit liegt nach Rawls dann vor, wenn zwar ein unabhängiger Maßstab für die Beurteilung von Ergebnissen vorliegt, das Verfahren aber nicht garantiert, dass eine diesem Maßstab entsprechende Entscheidung erreicht wird. Klassisches Beispiel für unvollständige Verfahrensgerechtigkeit sei eine Gerichtsverhandlung, bei der es um die Feststellung der Schuld von Angeklagten in einem Strafverfahren geht. Die Entscheidung des Gerichts ist dann richtig und korrekt, wenn ein Schuldiger verurteilt und eine Unschuldige freigesprochen wird – lehnen wir diesen Maßstab ab, dann müssen wir das Gerichtsverfahren und das Strafrecht insgesamt ablehnen. Zugleich aber ist klar, dass Gerichte nicht immer in der Lage sind, die Schuld von Angeklagten korrekt festzustellen: gelegentlich werden Schuldige freigesprochen und Unschuldige verurteilt. Das Gerichtsverfahren ist also als Verfahren unvollkommen – aber es ist dennoch das Beste, das uns zur Verfügung steht, weshalb wir seine Ergebnisse zumindest vorläufig akzeptieren. Reine Verfahrensgerechtigkeit liegt für Rawls dann vor, wenn die Gerechtigkeit des Ergebnisses mit der Gerechtigkeit des Verfahrens zusammenfällt, wenn also kein verfahrensunabhängiger Maßstab für die Bewertung von Verfahrensergebnissen vorliegt (Rawls 1999, 74 f.). Klassisches Beispiel für reine Verfahrensgerechtigkeit sei die Lotterie: ob Gewinner*innen ihren Gewinn ‚verdient‘ haben, ob sie gute Menschen oder bereits Millionär*innen sind, ist für die Bewertung des Ergebnisses irrelevant. Entscheidend ist allein, dass das Verfahren gerecht war, dass also jedes Los die gleiche Gewinnchance hatte. Dabei handelt es sich bei der Gleichheit der Gewinnchancen, auf der die Gerechtigkeit des Verfahrens beruht, durchaus um ein substantielles Kriterium, das sich jedoch ausschließlich auf das Verfahren selbst, nicht auf seine Ergebnisse beziehen lässt. Anfechten lässt sich das Ergebnis einer Lotterie daher nur über den Nachweis von Verfahrensfehlern, nicht aufgrund einer an irgendwelchen anderen Maßstäben (wie Bedarf, Verdienst oder Pareto-Effizienz) gemessenen Ungerechtig-

C. Landwehr

keit seiner Ergebnisse: wie die vollständige Verfahrensgerechtigkeit garantiert auch die reine Verfahrensgerechtigkeit die Gerechtigkeit der Verfahrensergebnisse (vgl. Lafont 2003, 165; Landwehr 2011). Rawls führt die Unterscheidung zwischen den Typen der Verfahrensgerechtigkeit im Kontext der Diskussion des zweiten Teils des zweiten Gerechtigkeitsprinzips, also der Erfordernisse fairer Chancengleichheit ein (Rawls 1999, 73–78). Sein Argument hier ist, dass die konkrete Verteilung von Gütern durch den freien Markt einen Fall reiner Verfahrensgerechtigkeit darstellt, solange sie unter Bedingungen einer gerechten Grundstruktur sozialer Kooperation erfolgt: „Only against the backround of a just basic structure, including a just political constitution and social institutions, can one say that the requisite just procedure exists“ (ebd. 76). Die konkrete Güterverteilung sei Gegenstand von Fragen allokativer Gerechtigkeit, Fragen distributiver Gerechtigkeit richteten sich hingegen auf politische Institutionen, die einen Fall unvollständiger Verfahrensgerechtigkeit darstellten. Die Frage nach allokativer Gerechtigkeit ist für Rawls die nach der Verteilung einer gegebenen Menge von Gütern auf eine gegebene Zahl von Personen, unabhängig davon, durch welche Kooperationsbeziehungen die Güter zustande gekommen sind (ebd., 76 f.). Dieser Frage möchte sich Rawls dezidiert nicht widmen. Stattdessen geht es ihm um die Bewertung des institutionellen Gesamtzusammenhangs, der eine Güterverteilung hervorbringt: „A distribution cannot be judged in isolation from the system of which it is the outcome or from what individuals have done in good faith in light of established expectations“ (ebd., 76). Als zentrale Institutionen einer gerechten Grundstruktur diskutiert Rawls im Rahmen seines Vier-Stufen-Ganges die Institutionen der konstitutionellen Demokratie (ebd., 171–176). Während sich die Wahl der Gerechtigkeitsprinzipien im Gedankenexperiment des Urzustandes und hinter dem Schleier des Nichtwissens (erste Stufe) als Fall vollständiger Verfahrensgerechtigkeit sehen lässt, finden Verfassungsgebung (zweite Stufe) und Gesetz-

26 Fairness/Verfahrensgerechtigkeit/Verfahrenskonsens

gebung (dritte Stufe) unter Bedingungen jeweils vollständigerer Information über die gesellschaftlichen Gegebenheiten statt, während auf der Ebene der Anwendung von Gesetzen (vierte Stufe) der Schleier des Nichtwissens schließlich vollständig gelüftet ist. Auch wenn auf der Ebene der Verfassungsgebung noch mit einem weitgehenden Konsens zu rechnen ist, finden sich im Gesetzgebungsprozess konkurrierende und möglicherweise gleichermaßen vernünftige Ansichten über politische Programme und sinnvolle Gesetze. Somit werden einerseits Mehrheitsentscheidungen erforderlich und kann andererseits durch die Demokratie nur eine unvollständige Verfahrensgerechtigkeit garantiert werden. Auch wenn sie letztlich auf den im Urzustand gewählten Gerechtigkeitsprinzipien beruhen, versprechen demokratische Verfassungsund Gesetzesentscheidungen also nur gerechte Entscheidungen, können diese aber, genau wie das Gerichtsverfahren, nicht garantieren. Die Frage, welche Art von Verfahrensgerechtigkeit die Demokratie dann ermöglicht, ist demokratietheoretisch ausgesprochen fruchtbar, erhellt sie doch das Verhältnis von politischer Autonomie, Legitimität und Gerechtigkeit. Unter einer idealen Verfassung stellt sich Rawls die Gesetzgebung in der Legislative als diskursiven Prozess vor, wobei das Verfahren die Gerechtigkeit des Ergebnisses befördern, wenn auch nicht garantieren kann: „The legislative discussion must be conceived not as a contest between interests, but as an atttempt to find the best policy as defined by the principles of justice“ (ebd., 314). Die Tatsache, dass zur Illustration dieser Form der unvollständigen Verfahrensgerechtigkeit das Beispiel des Gerichtsverfahrens verwendet wurde, ist kein Zufall: Wie beim Gerichtsverfahren steht der Maßstab für eine gerechte Entscheidung fest – hier ist es die Schuld oder Unschuld der Täter*innen, dort die Übereinstimmung mit den Gerechtigkeitsprinzipien. Wie das Gerichtsverfahren hat der diskursive Entscheidungsprozess in der Legislative damit epistemischen, also erkenntnisfördernden Charakter. Diese Sichtweise ist durchaus prägend für die moderne amerikanische Demokratietheorie und findet sich etwa

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in den Schriften von Rawls’ Schülerin Amy Gutmann zur deliberativen Demokratie (Gutmann und Thompson 1996). Der notwendigen Mehrheitsentscheidung, durch die der diskursive Prozess vorläufig abgeschlossen wird, schreibt Rawls hingegen keinen eigenen epistemischen Wert zu. Vielmehr gewährleiste der Mehrheitsentscheid unter Bedingungen einer gerechten Verfassung „quasi-reine Verfahrensgerechtigkeit“ (Rawls 1999, 318). Der Mehrheitsentscheid sei insofern ein Fall reiner Verfahrensgerechtigkeit, als dass die Legitimität der Entscheidung auf der Fairness und Akzeptanz des Verfahrens beruhe, das sie hervorbringt, gleichzeitig ist die Verfahrensgerechtigkeit hier nur ‚quasi-rein‘, weil die Gerechtigkeit des Ergebnisses nicht allein durch die korrekte Durchführung des Verfahrens gesichert werde, wie etwa im Fall der Lotterie. Eine alternative Sichtweise zu Verfahrensgerechtigkeit und Demokratie zeichnet sich in der obengenannten Debatte mit Jürgen Habermas zum politischen Liberalismus ab (Habermas 1995; Rawls 1995). Habermas stellt statt der Gerechtigkeitsfrage die Frage nach demokratischer Legitimation in den Mittelpunkt und sieht in demokratischen Verfahren diese durch reine Verfahrensgerechtigkeit verwirklicht. Auch wenn Lafont überzeugend argumentiert, dass die Diskursethik, an die Habermas’ Verständnis deliberativer Demokratie anschließt, letztlich auch eine epistemische Dimension hat und somit unvollständige Verfahrensgerechtigkeit gewährleistet (Lafont 2003), bestehen zwischen Rawls und Habermas wichtige und instruktive Differenzen, insbesondere hinsichtlich des Zustandekommens von politischem Konsens und der Rolle der Verfassung. Während bei Rawls der Konsens über eine demokratische Verfassung und demokratische Verfahren auf der zweiten Stufe des Vier-StufenGanges durch die Ableitung von Konstruktionsprinzipien demokratischer Institutionen aus den Gerechtigkeitsprinzipien hinter einem immer noch weitgehend undurchsichtigen Schleier des Nichtwissens quasi deduktiv erzielt wird, betrachtet Habermas den Prozess der Konsensfindung durch Verständigung als induktiv und

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konstruktiv. Aus diesem Unterschied resultiert auch die unterschiedliche Sichtweise von Rawls und Habermas auf die Verfassung als Grundlage demokratischer Entscheidungen. Wo Habermas die Verfassung als prinzipiell unabgeschlossenes Projekt und Gegenstand eines fortwährenden demokratischen Lernprozesses sieht (Habermas 1994, 246), mag für Rawls zwar eine konkret verwirklichte Verfassung reformbedürftig sein, die ideale Verfassung kann es jedoch per Definition nicht sein. Wo für Habermas die Verfassung das Resultat der Ausübung politischer Autonomie durch die Bürger*innen ist, ist für Rawls die Verfassung die Grundlage und Voraussetzung für politische Autonomie: „In this sense, those already living in a just constitutional regime cannot found a just constitution; but they can fully reflect on it, endorse it, and so freely execute it in all way necessary“ (Rawls 1995, 156). Der starke Verfassungs- und Verfahrenskonsens, den Rawls begründet, bleibt prägend für die amerikanische Demokratietheorie, die die Gerechtigkeit der eigenen Verfassung kaum in Frage stellt und die Verfassung als Maßstab und Grundlage für legitime politische Entscheidungen betrachtet. In der kontinentaleuropäischen, von Jürgen Habermas begründeten Variante deliberativer Demo-

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kratietheorie hingegen wird die Verfassung als reformierbar und als andauerndes Projekt begriffen – eine Perspektive, die gerade auch mit Blick auf die Möglichkeit einer demokratischen Verfassung jenseits des Nationalstaats bedeutsam ist.

Literatur Gutmann, Amy/Thompson, Dennis: Democracy and disagreement. Why moral conflit cannout be avoided, and what should be done about it. Cambridge, Mass. 1996. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M. 41994. Habermas, Jürgen: Reconciliation through the public use of reason: remarks on John Rawls’s political liberalism. In: The Journal of Philosophy 92/3 (1995), 109– 131. Lafont, Cristina: Procedural justice? Implications of the Rawls-Habermas debate for discourse ethics. In: Philosophy and Social Criticism 29/2 (2003), 163–181. Landwehr, Claudia: Substantielle und prozedurale Gerechtigkeit in der Verteilung von Gesundheitsgütern. In: Politische Vierteljahresschrift 52/1 (2011), 29–50. Rawls, John: Reply to Habermas. In: The Journal of Philosophy 92/3 (1995), 132–180. Rawls, John: A theory of justice. Cambridge, Mass. rev.1999. Rawls, John: Political liberalism. New York erw.2005. Weithman, Paul: Why political liberalism? On John Rawls’s political turn. Oxford 2010.

Faktum des vernünftigen Pluralismus

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Julien Winandy

Man darf die These wagen, dass die gesamte politische Philosophie von John Rawls seit seiner Theorie der Gerechtigkeit von einer grundlegenden Annahme ausgeht: der Tatsache des vernünftigen Pluralismus. Zum ersten Mal systematisch eingeführt wird diese Annahme in seinem Werk Politischer Liberalismus, in dem sie als eine der Haupteigenschaften einer wohlgeordneten demokratischen Gesellschaft bezeichnet wird. Genauer entwickelt wird sie in einem als Reaktion auf diverse Kritikerinnen in der Chicago Law Review veröffentlichten, mittlerweile auch als klassisch zu bezeichnenden Aufsatz mit dem Titel „The Idea Of Public Reason Revisited“. Ich werde zunächst Rawls’ Idee des vernünftigen Pluralismus und ihre Rolle für seine normative politische Philosophie darstellen, um anschließend auf ein paar grundlegende Kritiken einzugehen. Der Bereich des Politischen In seiner politischen Philosophie entwickelt Rawls die Idee einer „Gesellschaft als eines Generationen übergreifenden fairen Systems der Kooperation“ (Rawls 1998, 105) von Bürgern als freien und gleichen Personen, „die von einer öffentlichen politischen Gerechtigkeits-

J. Winandy (*)  Sophie-Scholl-Schule Berlin-Schöneberg, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

konzeption wirksam geordnet wird“ (ebd.). Rawls’ Anliegen ist die Suche und Formulierung einer solchen Gerechtigkeitskonzeption. Die Grundvoraussetzung für die Suche nach einer öffentlichen politischen Gerechtigkeitskonzeption ist das Ideal einer demokratischen pluralistischen Gesellschaft. In einer solchen sind sich alle Bürgerinnen darin einig, dass politische Entscheidungen, vor allem dann, wenn sie mit legitimer Zwangsausübung zusammenhängen, in einem demokratischen Prozess getroffen werden müssen. Zudem müssen sie den Menschen, denen gegenüber sie angewandt werden sollen, in einer Art und Weise gerechtfertigt werden, dass sie von jeder und jedem akzeptiert werden können – so die Bedingung, wenn die Menschen als frei und gleich verstanden werden. Andererseits steht diese Rechtfertigung aber vor der Herausforderung der Tatsache des vernünftigen Pluralismus. Wir haben es nach Rawls nicht nur mit pluralistischen Gesellschaften zu tun, in denen die Bürger unterschiedlichsten religiösen, philosophischen und politischen Lehren anhängen, sondern mit Gesellschaften, die sich durch einen vernünftigen Pluralismus auszeichnen, also dem „Faktum, dass freie Institutionen tendenziell nicht nur eine Vielfalt von Lehren und Auffassungen hervorbringen, wie es die verschiedenen Interessen der Menschen und ihre Neigung, einen beschränkten Standpunkt einzunehmen, erwarten lassen – [dem] Faktum also, dass sich unter den Auffassungen, die

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_27

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sich entwickeln, eine Vielfalt vernünftiger umfassender Lehren befindet“ (ebd., 106, meine Hervorhebung). Dieses Faktum, so Rawls ist nicht nur eine Gegebenheit moderner Gesellschaften, sondern ein Umstand, der aus diesen Gesellschaften auch nur „durch den repressiven Gebrauch der Staatsgewalt aufgehoben werden könnte“ (ebd., 128). Wie kommt es aber, dass sich in modernen Gesellschaften ein solcher vernünftiger und gleichsam unaufhebbarer Pluralismus herausbildet? Das liegt nach Rawls an den Bürden der Vernunft. Kurz gefasst: Wenn wir auf Basis von Vernunftüberlegungen über unsere Welt nachdenken und uns fragen, wie wir in dieser am besten leben sollen, haben wir es mit einer derartigen empirischen und wissenschaftlichen wie auch normativen Komplexität zu tun, dass es unmöglich ist, dass wir alle zu denselben Folgerungen kommen. Insofern können all diese Überlegungen und die umfassenden Lehren, die wir aus ihnen ableiten, vernünftig sein – einander widersprechen werden sie in vielen zentralen Punkten allemal. (vgl. ebd., 129 f.) Dieses Faktum birgt für die Suche nach einer politischen Gerechtigkeitskonzeption einen Vorteil und einen Nachteil: der Vorteil liegt darin, dass es demnach eine Vielzahl umfassender Lehren gibt, die vernünftig sind, die jeder vernünftige Mensch also zumindest verstehen, möglicherweise nachvollziehen, und bestenfalls sogar – zumindest theoretisch – akzeptieren kann. Zur Formulierung einer politischen Gerechtigkeitskonzeption gibt es also für die Vertreterinnen unterschiedlichster umfassender Lehren eine Vielzahl an Anknüpfungspunkten. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass diese unterschiedlichen umfassenden Lehren, so vernünftig sie auch sein mögen, eben weil sie umfassend sind, notwendigerweise auch miteinander inkompatibel sein müssen. Rawls’ Lösung liegt in der Annahme eines spezifischen Bereichs des Politischen, in dem bindende Entscheidungen getroffen werden und der also von einer politischen Gerechtigkeitskonzeption gestaltet werden soll. (vgl. Rawls 1992a) Eine politische Konzeption innerhalb

J. Winandy

eines demokratischen, pluralistischen Gemeinwesens ist dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht umfassend sein muss, ja nicht umfassend sein soll. In ihrem Rahmen soll sich – idealerweise – in Fragen, die die „grundlegende Struktur“ der Gesellschaft und constitutional essentials betreffen, ein „überlappender Konsens“ (vgl. Rawls 1992b) bilden. Das bedeutet, dass diese Fragen auf Basis von Erwägungen entschieden werden, denen jeder Mensch unabhängig davon, welcher umfassenden Lehre er anhängt, zustimmen kann (auch wenn er es faktisch nicht tun muss). Die Rechtfertigung bindender politischer Entscheidungen in diesen Bereichen ist also vernünftig in dem Sinne, dass vernünftige Menschen ihr zustimmen können, aber nicht umfassend, in dem Sinne, dass sie nicht inkompatibel mit den umfassenden philosophischen, moralischen und religiösen Lehren sein muss. Im Bereich des Politischen findet die Diskussion und Rechtfertigung also unter Bezugnahme auf das, was Rawls den öffentlichen Vernunftgebrauch (vgl. dazu v. a. Rawls 1997) nennt, statt. Der Bereich des öffentlichen Vernunftgebrauchs: wirklich nur politisch? Da der Begriff des öffentlichen Vernunftgebrauchs Gegenstand anderer Beiträge in diesem Band ist, gehe ich an dieser Stelle nicht näher auf ihn ein, sondern werfe – freilich ohne sie zu lösen – zwei Schwierigkeiten auf, die mit Rawls postuliertem Faktum des vernünftigen Pluralismus einhergehen. Zum einen stellt die Kritik die Rawlssche Formulierung einer politischen Sphäre mit unterschiedlichen Stoßrichtungen infrage. Jürgen Habermas kritisiert die in Rawls’ Formulierung einer Sphäre des Politischen angelegte „a priori vorgenommene Grenzziehung zwischen privater und öffentlicher Autonomie“ (Habermas 1999, 91). Gerald Gaus hingegen fragt u. a., ob man wirklich davon ausgehen kann, dass es so etwas wie einen Bereich des Politischen gibt, in dem Konzeptionen der gerechten Gesellschaft weniger Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder comprehensiveness beanspruchen würden als es umfassende Leh-

27  Faktum des vernünftigen Pluralismus

ren in den anderen Bereichen – Philosophie, Moral, Religion – angeblich tun. Warum sollten vernünftige politische Konzeptionen also weniger umfassend sein als vernünftige anderweitige Lehren? (vgl. Gaus 1999). Die andere Kritik ist eher soziologischer Natur und stellt die Frage, ob Menschen sich bei der tatsächlichen Rechtfertigung von politischen Entscheidungen – auch über constitutional essentials – faktisch überhaupt auf umfassende Lehren als umfassende Lehren beziehen, wie Rawls behauptet. Ist es also überhaupt nötig, so etwas wie einen Bereich des Politischen zu postulieren, der von umfassenden Lehren unabhängig wäre? Dies ist meine eigene Kritik, die ich an anderer Stelle gegenüber Theorien der deliberativen Demokratie ausführlich formuliert habe (vgl. Winandy 2014, 2015). Habermas’ für unser Thema relevanter Vorwurf besteht darin, dass Rawls die „politische Wertsphäre, die sich in modernen Gesellschaften von anderen kulturellen Wertsphären abhebt […] als etwas Gegebenes“ (Habermas 1991,91) behandelt. Dabei ignoriert er, dass die Differenzierung zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre einerseits immer Gegenstand von Konflikten war – und ich füge hinzu, weiterhin ist – und dass andererseits, wie Habermas es formuliert „sich Volkssouveränität und Menschenrechte aus derselben Wurzel ableiten“ (ebd.). Auch wenn diese vereinfachte Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Sphäre Rawls’ eigener Unterscheidung nicht ganz gerecht wird, ist Rawls’ Behauptung konzeptionell wie empirisch fraglich, nämlich dass es einen politischen Bereich gibt, der nicht nur von anderen Sphären klar getrennt ist, sondern in dem auch nicht zur Debatte steht, dass die liberalen politischen Grundfreiheiten Vorrang vor weltanschaulichen Forderungen haben (vgl. Rawls 1992c). Für Gaus besteht das Problem der Sphäre des Politischen hingegen vorrangig darin, dass Rawls annimmt, es sei einerseits klar, was genau das Politische sei, und dass politische Konzeptionen somit notwendigerweise weniger umfassend seien, als es moralische, philosophische oder religiöse Lehren seien. Gaus hingegen stellt

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fest, dass das Konzept des Politischen selbst – nicht einzelne politische Konzeptionen – stets infrage steht. Dabei nimmt er auf die oben zitierten Passagen von Habermas Bezug, stellt aber noch deutlicher heraus, dass gerade die nicht-politischen umfassenden Lehren es sind, die unterschiedliche Auffassungen davon vertreten, was die Sphäre des Politischen sei, und dementsprechend auch, welche Gründe in politischen Entscheidungsprozessen Gültigkeit beanspruchen dürfen. (vgl. Gaus, 1999, 265 f.) Das scheint nicht nur ein gültiger konzeptioneller Einwand zu sein, sondern durchaus auch ein empirischer. Empirisch lässt sich auch die Frage stellen, ob Rawls’ Annahme, man habe es in liberalen Demokratien mit einem vernünftigen Pluralismus umfassender Lehren zu tun, korrekt ist, und welche Auswirkungen der Befund darüber auf seine Forderung nach öffentlichem Vernunftgebrauch hat. Es steht sicherlich außer Zweifel, dass von Philosophinnen, Theologen und Moraltheoretikerinnen Theorien mit Allgemeingültigkeitsanspruch formuliert worden sind, die mit etwas gutem Willen als umfassende Lehren bezeichnet werden können. Allerdings ist es mehr als fraglich, ob diese Theorien in ihrem Wesen als umfassende Lehren eine große Rolle bei der Formulierung politischer Gerechtigkeitskonzeptionen spielen, sodass sie durch Rawls’ Forderung nach öffentlichem Vernunftgebrauch eingeschränkt werden müssten. Im Zusammenhang mit der Frage nach der angemessenen Rolle religiöser Argumentationen bei der Rechtfertigung politischer Positionen und Entscheidungen in öffentlichen Diskursen habe ich an anderer Stelle (Winandy 2014) empirisch nachgewiesen, dass eine gewissermaßen theologische Kohärenz, die die öffentliche Stellungnahme zu Fragen grundlegender politischer Gerechtigkeit als eine Bezugnahme auf umfassende Lehren bezeichnen lassen könnte, nicht gegeben ist. Dort, wo religiöse Menschen im öffentlichen Raum ihre politischen Gerechtigkeitskonzeptionen diskutieren, treten sie nicht als Vertreter umfassender Lehren auf, sondern als Menschen, die bestimmte religiöse wie auch andere Überzeugungen

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haben, auf die sie sich berufen, um ihre Gerechtigkeitsvorstellungen zu artikulieren. Dabei sind sie weder theologisch bzw. doktrinär kohärent, noch vertreten sie ausschließlich religiöse Überzeugungen. (vgl. dazu auch Winandy 2015) Meines Erachtens ist das nicht ausschließlich ein Beleg dafür, dass sie ihre religiösen umfassenden Lehren bei der Behandlung politischer Fragen hintanstellen, sondern dass die „Lehren“, die sie vertreten, nicht so umfassend sind, wie Rawls das unterstellt, und eine apriorische Grenzziehung zwischen den Bereichen des Politischen und des Nicht-Politischen, zumindest in der Form, wie Rawls sie vorschlägt, nicht benötigen.

Literatur Gaus, Gerald F.: Reasonable pluralism and the domain of the political: how the weaknesses of John Rawls’s political liberalism can be overcome by a justificatory

J. Winandy liberalism. In: Inquiry: An Interdisciplinary Journal of Philosophy 42/2 (1999), 259–284. Habermas, Jürgen: Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch. In: Ders.: Die Einbeziehung des Anderen. Frankfurt/M. 1999 (1996), 65–94. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a.M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: The idea of public reason revisited. In: The Chicago Law Review 64/3 (1997), 765–807. Rawls, John: Der Bereich des Politischen und der Gedanke eines übergreifenden Konsenses. In: Ders.: Die Idee des politischen Liberalismus. Frankfurt a.M. 1992a, 333–363. Rawls, John: Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses. In: Ders.: Die Idee des politischen Liberalismus. Frankfurt a.M. 1992b, 293–332. Rawls, John: Der Vorrang der Grundfreiheiten. In: Ders. Die Idee des politischen Liberalismus. Frankfurt a.M. 1992c, 159–254. Winandy, Julien: Normativität im Konflikt. Zum Verhältnis von religiösen Überzeugungen und politischen Entscheidungen, Baden-Baden 2014. Winandy, Julien: ‘Religious citizens’ in post-secular democracies: a critical assessment of the debate on the use of religious argument in public discourse. In: Philosophy and Social Criticism 41/8 (2015), 837–852.

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Familie Franz-Josef Bormann

Die Familie bildet einen Bereich des sozialen Lebens, dessen Bedeutung zwar einerseits sowohl für den Einzelnen wie für die Gesellschaft insgesamt kaum zu überschätzen ist, der andererseits aber im Blick auf seine konkrete kulturelle Ausgestaltung, seine jeweiligen Sinndeutungen sowie legitimationstheoretischen Rechtfertigungsmuster auch seit jeher im Zentrum unterschiedlich motivierter Kontroversen steht. Im Gegensatz zum vorneuzeitlichen Begriff des ‚Hauses‘ (oikos, domus), der neben dem Vermögen an Sachen und Tieren auch die darin wohnenden Menschen (einschließlich Gesinde, Sklaven) umfasste, hat sich das Bedeutungsspektrum des sich volkssprachlich erst im ausgehenden 17. Jahrhundert einbürgernden, ursprünglich aus dem lat. familia abgeleiteten Ausdrucks ‚Familie‘ vor allem seit dem 19. Jahrhundert immer stärker auf die sog. Kernfamilie im Sinne einer dauerhaften Lebensgemeinschaft von Eltern und Kindern verengt. Für ein angemessenes Verständnis dieser modernen Kleinfamilie sind zwei Elemente konstitutiv: erstens die Konjugalität im Sinne der ehelichen Partnerschaft und zweitens die Fi-

F.-J. Bormann (*)  Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected]

liation im Sinne der Eltern-Kind-Beziehung. Beide Elemente stehen derzeit in unserer Gesellschaft insofern kulturell unter Druck, als die Aufnahme intimer Kontakte nicht mehr zwingend an einen formellen Eheabschluss gebunden ist, eine wachsende Zahl von Kindern außerehelich geboren wird und die Ehen selbst immer fragiler und kinderärmer werden. Aufgrund der historischen und kulturellen Vielfalt familialer Beziehungsformen lässt auch deren jeweilige Interpretation und Bewertung eine große Variationsbreite erkennen. Das Spektrum möglicher Positionen reicht von religiösen Deutungen der Familie als ‚Einrichtung göttlichen Rechts‘ über naturrechtliche Bestimmungen als ‚Keimzelle der Gesellschaft‘ oder ‚anthropologische Konstante‘ bis hin zu ideologiekritischen Ansätzen, die vor allem den vermeintlich freiheitsgefährdenden bzw. repressiven Charakter familialer Systeme betonen und emanzipativ überwinden wollen. Auch bezüglich ihrer existentiellen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Funktionen weisen familiale Ordnungsstrukturen unterschiedlicher Epochen und Kulturkreise erhebliche Differenzen auf, wobei mit Blick auf die modernitätstypischen Transformationsprozesse insgesamt eher von einem komplexen Funktionswandel als einem linearen Funktionsverlust auszugehen sein dürfte. Rawlsʼ einschlägige Überlegungen zur Familie müssen vor dem Hintergrund dieser wechselvollen Geschichte des Familienbegriffs gelesen

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_28

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werden und werfen im Wesentlichen drei Fragen auf: Erstens ist zu klären, was er überhaupt unter Familie versteht und welche Bedeutung er ihr für eine wohlgeordnete Gesellschaft zuschreibt. Zweitens ist angesichts verschiedener kritischer Anfragen an seine Überlegungen zu überprüfen, ob von einer Kontinuität seiner Sicht der Familie in seinen maßgeblichen Publikationen auszugehen ist. Drittens ist zu diskutieren, inwieweit seine einschlägigen Äußerungen zur Familie den gegenwärtigen Herausforderungen familialer Lebensformen gerecht werden. Hinsichtlich der ersten Fragestellung fällt auf, dass sich Rawls nirgends um eine formelle Definition des Familienbegriffs bemüht. In der Theorie der Gerechtigkeit von 1971 findet sich zunächst lediglich der negative Hinweis, die Familie sei „ihrer Idealvorstellung nach und oft auch in der Praxis ein Ort, wo der Grundsatz der Maximierung der Nutzensumme nicht gilt“, da „Familienmitglieder gewöhnlich keine Vorteile [suchen], die nicht auch den Interessen der anderen dienen“ (Rawls 1990, 127). Im Zuge seiner entwicklungspsychologischen Reflexionen zur gruppenorientierten Moralität weist er zusätzlich darauf hin, dass die Familie in diesem Stadium „selbst als eine Kleingruppe gesehen [wird], gewöhnlich mit einer wohlbestimmten Hierarchie, in der jedes Mitglied bestimmte Rechte und Pflichten hat“ (ebd., 508). Beide Aussagen sind jedoch zu unbestimmt, um daraus einen ethisch brauchbaren Familienbegriff ableiten zu können. Die Fokussierung auf die sog. Grundstruktur der Gesellschaft als dem primären Gegenstand der Fairnesskonzeption hat zur Folge, dass die Familie in Rawlsʼ opus magnum lediglich en passant unter drei unterschiedlichen Rücksichten thematisiert wird: Die erste Perspektive ist rein zeitlicher Natur und resultiert aus dem Umstand, dass die Gesellschaft einen viele Generationen überdauernden Sozialverband darstellt, der maßgeblich durch die ebenfalls langlebige Institution der Familie stabilisiert wird. Im Rahmen der Begründung bestimmter Verpflichtungen den Nachkommen gegenüber schlägt Rawls vor, sich die Parteien der urzuständlichen Prinzipienwahl als „Familienoberhäupter [vorzustellen], die […] am Wohlergehen mindestens ihrer un-

F.-J. Bormann

mittelbareren Nachkommen interessiert seien“ (ebd., 151). Die zweite Perspektive ist pädagogischer Art und identifiziert die Familie als wichtigen Lernort für die moralische Sozialisation der nachwachsenden Generationen. Familiale Strukturen bieten einen emotionalen Schutzraum, in dem Kinder durch die liebende Zuwendung der Eltern nicht nur die Erfahrung des eigenen Wertes machen, sondern auch den nötigen Respekt im Umgang mit Dritten erlernen können. Die rein umfangsmäßig wichtigste dritte Perspektive betrifft die negativen Auswirkungen der Familie für die Verwirklichung der Chancengleichheit, die einen integralen Bestandteil seines Fairnessmodells darstellt. Rawls zufolge „lässt sich der Grundsatz der fairen Chancen nur unvollkommen durchführen […] solange es die Familie in irgendeiner Form gibt“ (ebd., 94). Aufgrund der unterschiedlichen sozioökonomischen Voraussetzungen innerhalb der einzelnen Familien und der Tendenz, soziale Platzierungen und Statuszuweisungen entlang familialer Strukturen vorzunehmen, erweise sich die Familie zwar tatsächlich als ein Hindernis auf dem Wege zu gleicheren Chancen. Dennoch plädiert Rawls keineswegs für die Abschaffung der Familie, da man das Ideal der Chancengleichheit nicht isoliert für sich allein betrachten dürfe, sondern „im Gesamtzusammenhang der Gerechtigkeitstheorie“ (ebd., 555) interpretieren müsse. Wenn man den durch das Differenzprinzip abgesicherten Grundsätzen der Brüderlichkeit und des Ausgleichs ein entsprechendes Gewicht einräume, könne man „die natürliche Verteilung der Fähigkeiten und die Zufälligkeiten der gesellschaftlichen Verhältnisse leichter hinnehmen“ (ebd. 555 f.). Zur Beantwortung der zweiten Frage nach der Kontinuität der Rawlsschen Ausführungen ist es erforderlich, zwischen einer formalen und einer inhaltlichen Betrachtung zu unterscheiden. In formaler Hinsicht kann insofern von einer Weiterentwicklung seiner Position gesprochen werden, als die Theorie der Gerechtigkeit von 1971 nur einige verstreute Bemerkungen zur Familie enthält, während im Neuentwurf von 2001 mit dem § 50 immerhin ein ganzer Abschnitt der Familie als Basisinstitution gewidmet ist (Rawls

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2003, 250–259). Offenbar hielt es Rawls für erforderlich, seine Überlegungen kompakter zu entfalten, um Missverständnisse seiner Position auszuräumen und besser auf kritische Einwände reagieren zu können. Dieser veränderten Darstellungsweise entsprechen aber keine gravierenden inhaltlichen Neuerungen (vgl. Bormann 2006). Trotz der mittlerweile vollzogenen Wende zum politischen Liberalismus und der damit verbundenen Abkehr von einer Deutung der Fairnesskonzeption als sog. umfassender Lehre hält Rawls an seiner funktionalen Betrachtung der Familie fest. So lässt er seine Leser wissen, dass er „keine bestimmte Form von Familie (monogam, heterosexuell oder dergleichen)“ voraussetzt, „solange sie so eingerichtet ist, dass sie die genannten Aufgaben wirksam erfüllt und mit sonstigen politischen Werten nicht kollidiert“ (Rawls 2003, 251). Sein Interesse scheint dabei vor allem zwei Aspekten zu gelten: zum einen der Erläuterung der Beziehung zwischen der gesellschaftlichen Grundstruktur und der Familie und zum anderen der Entkräftung des Verdachtes, die Fairnesskonzeption erweise sich als blind gegenüber der Benachteiligung von Frauen innerhalb traditioneller Familie-Systeme. Relevant für die erste Thematik sind zunächst die Ausführungen in § 4 zur Idee der Grundstruktur. Rawls unterscheidet hier drei Ebenen der Gerechtigkeit voneinander: erstens die unmittelbar für Institutionen und Verbände geltende sog. lokale Gerechtigkeit, zweitens die sich auf die Grundstruktur der Gesellschaft beziehende sog. Binnengerechtigkeit und drittens die das internationale Rechtswesen regulierende sog. globale Gerechtigkeit. Die Prinzipien seiner Fairnesskonzeption setzen beim Spezialfall der sozialen Grundstruktur an, „ohne direkt für Institutionen und Verbände innerhalb der Gesellschaft zu gelten oder diese Institutionen und Verbände im Innern zu regulieren“ (ebd., 32). Ausdrücklich warnt er davor, „von vornherein an [zu]nehmen, daß Prinzipien, die für die Grundstruktur vernünftig und gerecht sind, auch im Hinblick auf Institutionen, Verbände und soziale Praktiken generell vernünftig und gerecht sind“ (ebd., 33). Zwar würden letz-

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tere durch Bedingungen eingeschränkt, die sich aus den Gerechtigkeitsprinzipien ergeben, doch gingen „diese Einschränkungen […] mittelbar aus gerechten Hintergrundinstitutionen hervor, in deren Rahmen Verbände und Gruppen existieren und von denen dem Verhalten ihrer Mitglieder Schranken gesetzt werden“ (ebd., 32). Da Rawls die Familie ausdrücklich Firmen, Gewerkschaften, Kirchen und Universitäten direkt an die Seite stellt, gewinnt man zunächst den Eindruck, dass sie – wie zahlreiche andere Institutionen innerhalb der Gesellschaft auch – selbst nicht zur Grundstruktur gehört und folglich durch eigene Prinzipien der lokalen Gerechtigkeit reguliert werden sollte. Dem widerstreitet jedoch die spätere Aussage in § 50, der zufolge „die Familie ein Teil der Grundstruktur ist“, wobei die Prinzipien der Fairnesskonzeption „für die Familie gelten, aber […] keinen detaillierten Hinweis auf das [geben], was diese Prinzipien verlangen“ (ebd., 250). Rawlsʼ Aussagen oszillieren also zwischen zwei Polen: Einerseits betont er die „Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Arten von Prinzipien“ und den notwendigen Freiraum von sozialen Institutionen wie der Familie, da wir es seines Erachtens doch „gar nicht wollen, dass politische Gerechtigkeitsprinzipien unmittelbar für das Innenleben der Familie gelten“ (ebd., 254). Andererseits wehrt er sich gegen Vorstellungen, den „politischen und den nichtpolitischen Bereich […] als zwei gleichsam getrennte, nicht miteinander verbundene Räume [zu betrachten], deren jeder ausschließlich von seinen eigenen charakteristischen Prinzipien regiert wird“ (ebd., 256). Statt sich die institutionellen Bereiche oder Lebenssphären als voneinander separierte ‚Räume‘ oder ‚Orte‘ vorzustellen, seien sie „einfach das Resultat oder Ergebnis der Art und Weise, in der die Prinzipien der politischen Gerechtigkeit unmittelbar auf die Grundstruktur und mittelbar auf die Verbände innerhalb dieser Struktur angewandt werden“ (ebd.). Trotz der an sich durchaus berechtigten Unterscheidung verschiedener Wirkweisen der Gerechtigkeitsprinzipien bleibt die genaue Beziehung zwischen der Familie und der gesellschaftlichen Grundstruktur damit letztlich ungeklärt.

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Diese Uneindeutigkeit resultiert aus zwei gegenläufigen Strategien, die in Rawlsʼ Auseinandersetzung mit kritischen Anfragen an seine Fairnesskonzeption zu Tage treten. Die eine Strategie besteht darin, die Leistungsfähigkeit der Gerechtigkeitsprinzipien gegenüber kritischen Einwänden dadurch verteidigen zu wollen, dass die Grenze zwischen dem Politischen und Privaten relativiert wird. Vor allem Susan Moller Okin hatte den Vorwurf erhoben, die Fairnesskonzeption biete in der vorliegenden Form noch keine ausreichende Antwort auf die massiven geschlechterbezogenen Ungerechtigkeiten innerhalb traditioneller Familienstrukturen, die zu massiven Benachteiligungen der Frauen führten. Zwar enthalte der Rawlssche Kontraktualismus etwa mit der Idee des ‚Schleiers des Nichtwissens‘ durchaus erste Ansatzpunkte dafür, derartige Missstände zu überwinden, indem etwa die Parteien im Urzustand nicht über das Geschlecht der von ihnen vertretenen Personen Bescheid wüssten. Doch bedürfe es einer gezielten Weiterentwicklung des Theoriedesigns, um all jene zum herrschenden Gender-System gehörenden Einrichtungen problematisieren zu können, die sich de facto negativ auf die Chancen und Freiheiten von Frauen auswirkten (vgl. Moller Okin 1989). Rawls stellt demgegenüber fest, dass die „Prinzipien, welche die gleichen Grundfreiheiten und die fairen Chancen der Bürger definieren, […] stets in allen sogenannten Bereichen und durch alle derartigen Bereiche“ (ebd., 256) gelten. Da die gleichen Rechte der Frauen und die Ansprüche ihrer Kinder als künftiger Bürgerinnen „unveräußerlich“ seien und sie schützten, „wo immer sie sein mögen“, erhielten die Sphären des Politischen und des Privaten gleichermaßen „ihr Gepräge durch den Inhalt und die Anwendung der Gerechtigkeitskonzeption und ihrer Prinzipien“ (ebd., 256 f.). Dem steht jedoch die andere Strategie entgegen, den Eigenwert der Familie und des Privaten gegenüber dem Politischen ausdrücklich abzugrenzen und zu verteidigen. In diesem Sinne betont Rawls ganz im Sinne seines ursprünglichen Ansatzes, dass der politische Bereich nicht nur „getrennt“ (vgl. ebd., 279) vom Bereich jener Verbände sei, die sich durch ihre

F.-J. Bormann

Freiwilligkeit auszeichnen. Auch unterscheide sich das Politische von den Bereichen der Familie und des Persönlichen durch jene charakteristische Form der „Zuneigung“, „die es in der Politik nicht gibt“ (ebd., 279). Beide Strategien stehen in einer Spannung zueinander, die von Rawls letztlich nicht aufgelöst wird. Eine wirklich integrative Gesamtsicht auf die Familie, in der die sozialreformerischen egalitaristischen bzw. anti-meritokratischen Denkmotive mit der sozialpsychologisch-pädagogischen Perspektive zu einem überzeugenden Ausgleich gebracht würden, ist auch im Neuentwurf kaum erkennbar. Hinsichtlich der dritten Frage nach der Relevanz seiner Ausführungen zur Familie für die Bewältigung aktueller Herausforderungen ist zunächst zu berücksichtigen, dass sich Rawlsʼ Reflexionen auf einem relativ hohen Abstraktionsniveau bewegen. Die Betonung von Grundfunktionen familialer Strukturen wie der Sicherung einer „geordnete[n] Schaffung und Regeneration der Gesellschaft und ihrer Kultur von einer Generation zur anderen“ (ebd., 250) oder der Fortpflanzungs- und Erziehungsarbeit hat zwar den Vorteil, dass sie auf unterschiedliche kulturelle Kontexte anwendbar ist, doch erweist sie sich als wenig hilfreich, wenn es um die Bewältigung konkreter Problemlagen geht, die zumeist ein spezifisches kulturelles Gepräge aufweisen. An zwei aktuellen Problemfeldern sei dies für die bundesrepublikanische Gesellschaft exemplarisch verdeutlicht. Das erste Beispiel betrifft die strukturelle Ungerechtigkeit unseres Sozialversicherungssystems, das im Bereich der Altersversorgung die Familie übergebührlich belastet und inzwischen zu einer dramatischen demographischen Schieflage geführt hat. Denn wir leben heute nicht nur in einer Wirtschaftsform, die die Kinderlosigkeit finanziell belohnt. Wir leben auch in einer Gesellschaftsform, die den Eltern als Eltern keine spezifische Wertschätzung mehr entgegenbringt, weil sie Kinder im Namen einer fragwürdigen atomistischen Glücksvorstellung zunehmend als ‚Privatvergnügen‘ begreift. Und wir leben schließlich immer stärker in einer Kultur, die die Selbst-

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bestimmung des Individuums zur obersten Norm erklärt und für die unbestreitbaren Bindungen, die sowohl mit dem Eingehen einer Ehe wie mit der Übernahme der Elternverantwortung notwendigerweise einhergehen, keine hinreichenden moralischen Begründungen mehr zu geben vermag (vgl. Kaufmann 1999). Erst wenn diese dreifach strukturelle ökonomische, soziale und kulturelle Diskriminierung einer familialen Lebensform mit Kindern durch dafür geeignete Strukturreformen etwa der Rentenversicherung überwunden wird, dürfte sich auch die Anzahl derjenigen Ehen in Deutschland wieder verringern, die gezielt auf Kinderlosigkeit ausgerichtet sind und damit den sowohl anthropologisch wie gesellschaftspolitisch bedeutsamen Zusammenhang von Ehe und Familie faktisch aufkündigen (vgl. Sinn 2013, Bormann 2014). Ein zweites, eng damit verbundenes Beispiel betrifft die enorme Bedeutung familialer Systeme für die Erbringung pflegerischer Leistungen. In einer alternden Gesellschaft wie der unseren stellen sich immer drängendere Fragen nach der Organisation und Finanzierung einer qualitativ hochwertigen und bezahlbaren Pflege. Da bislang noch ca. zwei Drittel aller Pflegeleistungen im informellen Sektor durch meist weibliche Familienangehörige erbracht werdenund eine vollständige Übernahme dieser Arbeiten durch professionelle Pflegedienste weder personell zu leisten noch finanziell für die Betroffenen erschwinglich sein dürfte, bedarf es neuer Lösungsmodelle, für die zwar die Rawlssche Perspektive einer geschlechtergerechten Arbeitsteilung im binnenfamilialen Bereich nach

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wie vor von Bedeutung ist, die aber doch angesichts zahlreicher neuer Herausforderungen deutlich über diesen Horizont hinausgeht. Beide Beispiele zeigen, dass es je nach sozioökonomischen, demographischen und kulturellen Rahmenbedingungen einzelner Gesellschaften sehr unterschiedlich gelagerte Belastungen und Leistungen familialer Systeme gibt, die verschiedene Erweiterungen, Ergänzungen und Korrekturen des abstrakten Rawlsschen Fairnessmodells unumgänglich machen.

Literatur Bormann, Franz-Josef: Soziale Gerechtigkeit zwischen Fairness und Partizipation. John Rawls und die katholische Soziallehre. Freiburg 2006. Bormann, Franz-Josef: Der „besondere Schutz von Ehe und Familie“ – nur noch eine Leerformel? Desiderate und Fehlentwicklungen in der Familienpolitik. In: George Augustin/Ingo Proft (Hg.): Ehe und Familie. Wege zum Gelingen aus katholischer Perspektive. Freiburg i. Br. 2014, 53–70. Kaufmann, Franz-Xaver: Familie als Herausforderung und Aufgabe von Kirche. In: Werner Schreer/Georg Steins (Hg.): Auf neue Art Kirche sein. Wirklichkeiten – Herausforderungen – Wandlungen. München 1999, 136–148. Moller Okin, Susan: Justice, gender, and the family. New York 1989. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 51990. Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. 2003. Sinn, Hans Werner: Das demographische Defizit – die Fakten, die Folgen, die Ursachen und die Politikimplikationen. München 2013.

Frieden, demokratischer

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Johannes J. Frühbauer

Das Thema Frieden gehört nicht zu den Kernbegriffen des Rawlsschen politischen Denkens – und doch ist es nicht vollkommen unbedeutend. So spielt Frieden in Eine Theorie der Gerechtigkeit nur indirekt eine Rolle. Als Rawls berechtigte Gründe zur Verweigerung des Kriegsdienstes erörtert, spielt er den Begriff des Pazifismus ein: zum einen als allgemeinen Pazifismus, den Rawls allerdings zurückweist; zum anderen als bedingten Pazifismus, der unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit eines gerechten Krieges zugesteht. Eine „differenzierte Weigerung aus Gewissensgründen, sich unter bestimmten Bedingungen an einem Krieg zu beteiligen“ (Rawls 1993, 419), sei erforderlich und legitim, da die Umstände der ungerechten Ziele und Verhaltensweisen von vor allem großen und mächtigen Staaten als problematisch zu betrachten sind. Insbesondere vor dem Hintergrund der neueren Positionen in den christlichen Kirchen ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass Rawls bereits zu Beginn der 1970er Jahre, also lange vor der Etablierung des offiziellen friedensethischen Leitbildes den Begriff des gerechten Friedens, wenngleich mit einer anderen Akzentuierung,

J. J. Frühbauer (*)  Katholische Stiftungshochschule München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

verwendet: Nur dieser dürfe das Ziel eines Krieges sein, dabei „dürfen die verwendeten Mittel nicht die Möglichkeit des Friedens zerstören oder eine Verachtung des menschlichen Lebens fördern, die unsere Sicherheit und die der Menschheit gefährdet“ (Rawls 1993, 417). Ausführlicher mit der Friedensthematik befasst Rawls sich dann durch seine Überlegungen zur Idee des demokratischen Friedens in Das Recht der Völker – „Rawls’ letztes Wort zur Frage internationaler Kooperation“ (Förster 2019, 76). Zu dieser Idee hat er ein eigenständiges Kapitel verfasst (Rawls 2002, § 5, 49–62). In diesen Ausführungen zum demokratischen Frieden bezieht sich Rawls vor allem auf Peace and War (Aron 1966), eine einschlägige Schrift des französischen Philosophen und Soziologen Raymond Aron (1905– 1983; vgl. Rawls 2002, 53; 231, Fn. 58.). Aus dem Gedanken eines demokratischen Friedens ergibt sich eine grundlegend andere Sichtweise des Krieges, als es Rawls’ Einschätzung nach in der Theorie des Realismus üblich ist. Mit dem Rawlsschen Friedensverständnis in einer Gesellschaft liberaler Völker wird ein Kontrapunkt zur Sichtweise des Krieges in der hegemonischen Theorie der realistischen Schule gesetzt. In dieser geht man unter anderem davon aus, dass die internationalen Beziehungen durch den Zustand globaler Anarchie weiterhin von einem andauernden Kampf um Macht, Einfluss und Wohlstand geprägt sind.

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Rawls zufolge ist es zunächst die „innere Natur der Völker konstitutioneller Demokratien und die mit ihr verbundene Veränderung in der Motivation von Bürgern“ (Rawls 2002, 227), die den Frieden zwischen liberalen und demokratischen Völkern ermöglicht. Bewahrheitet sich nun die kantische Idee eines foedus pacificum, so werden nicht nur bewaffnete Konflikte zwischen den Völkern in praktischer Annäherung an das Ideal dieser Idee verschwinden, sondern auch der Gedanke eines Rechts der Völker wird als realistische Utopie gestärkt (vgl. Rawls 2002, 61).

Gewährleistung von Stabilität Rawls wendet sich grundsätzlich gegen die Auffassung, dass sich internationale Stabilität nur aufgrund eines Kräftegleichgewichts oder eines modus vivendi ergebe. Er ist überzeugt davon, dass sich Stabilität aus den richtigen Gründen, zu denen auch die innere Bindung an das Recht der Völker gehört, ergebe (vgl. Rawls 2002, 51). Unter dem Gesichtspunkt der Gewährleistung von Stabilität werden bei Rawls nun in der Idee des liberalen demokratischen Friedens zwei Vorstellungen zusammengeführt: Erstens gibt es neben den unabänderlichen natürlichen oder schicksalshaften Einflüssen auf den Menschen soziale Einflüsse in Gestalt politischer Institutionen, die wiederum gestaltbar und veränderbar sind: „Politische und soziale Institutionen können mit dem Ziel verändert und reformiert werden, die Menschen glücklicher und zufriedener sein zu lassen“ (Rawls 2002, 52). Und zweitens bringt eine Gesellschaft, die Handel treibt, in der Verhaltensdisposition ihrer Mitglieder tendenziell bestimmte Tugenden – so genannte moeurs douces – hervor, zu denen Aufmerksamkeit, Fleiß, Pünktlichkeit und Redlichkeit gehören (vgl. Rawls 2002, 52). Beide genannten Vorstellungen – Gestaltbarkeit des Sozialen und Tugendhaftigkeit – münden in die These, dass Völker, die demokratisch strukturiert sind und miteinander Handel treiben, keinen Grund

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haben, Krieg gegeneinander zu führen. Fehlende Güter lassen sich durch Handel einfacher und billiger als durch Krieg erwerben (vgl. Rawls 2002, 53). Und für eine liberale Demokratie wird es zudem keine Bestrebungen geben, andere Völker zu einer umfassenden Lehre oder zu einer bestimmten Staatsreligion zu nötigen. Der Frieden zwischen annehmbar gerechten konstitutionellen demokratischen Gesellschaften wird umso sicherer, je mehr es diesen Gesellschaften gelingt, die Merkmale solcher sozialen Ordnungen – insbesondere die grundlegenden Werte der Freiheit und Gleichheit – vollständig zu verwirklichen. So wird es zum Merkmal liberaler Gesellschaften von „befriedigten Völkern“, dass deren Grundbedürfnisse gestillt und deren Interessen vollkommen vereinbar sind mit jenen anderer demokratischer Völker (vgl. Rawls 2002, 53). „Frieden durch Befriedigung“ wird als Gegenkonzept zu „Frieden durch Macht“ bzw. „Frieden durch Ohnmacht“ verstanden (vgl. Rawls 2002, 53f.). Dieser hat allerdings nur dann eine Aussicht dauerhaft zu sein, wenn er im Grunde genommen zwischen allen Gesellschaften besteht. Nur so lasse sich die Konkurrenz um Stärke und Überlegenheit verhindern. Denn „[e]in einziger von militärischer Macht besessener Staat, der auf Expansion und Ehre aus ist, genügt, um den Kreislauf von Krieg und Kriegsvorbereitung auf dem Laufenden zu halten“ (Rawls 2002, 54).

Bedingungen und Voraussetzungen des demokratischen Friedens Zu den Bedingungen, die für einen dauerhaften Frieden notwendig sind, zählt folglich, dass von einer politischen Einheit (wie z. B. Staat oder Gesellschaft) weder danach gestrebt werden darf, das eigene Territorium auszudehnen, noch danach über andere Bevölkerungen zu herrschen – weder um Ressourcen zu vermehren noch um die eigenen Institutionen zu verbreiten (vgl. Rawls 2002, 53). Die Friedensbereitschaft zwischen etablierten libe-

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ralen demokratischen Völkern sieht Rawls in der Geschichte der internationalen Beziehungen seit 1800 historisch belegt. Er kennzeichnet die Abwesenheit von Kriegen zwischen etablierten Demokratien, die zu früheren Zeiten durchaus von imperialen Bestrebungen motiviert waren, daher als einfache empirische Regularität in den internationalen Beziehungen zwischen den Gesellschaften (vgl. Rawls 2002, 58). Somit zeige die Geschichte, „dass eine Gesellschaft der Völker, deren grundlegende Institutionen durchweg durch eine liberale Konzeption des Rechten und der Gerechtigkeit wohlgeordnet sind, […] stabil aus den richtigen Gründen ist“ (Rawls 2002, 59). Durch eine Reihe struktureller Merkmale – faire Chancengleichheit, akzeptable Verteilung von Einkommen und Vermögen, Regierung sowie soziale und politische Programme im letztinstanzlichen gesellschaftlichen Regime, Gesundheitsfürsorge, allgemein zugängliche öffentliche Informationen – werde die erforderliche Stabilität erreicht und letztlich die Idee eines demokratischen Friedens in und zwischen demokratisch verfassten Völkern gesichert (vgl. Rawls 2002, 56 f.). Allerdings treffe durch Formen des Versagens in den Institutionen und Praktiken, die eine Demokratie wesentlich stützen sollten, die Idee des demokratischen Friedens in manchen Fällen nicht zu. Dass tatsächlich existierende Demokratien „durch beträchtliche Ungerechtigkeiten, oligarchische Tendenzen und monopolistische Interessen […] verdeckt in kleineren oder schwächeren Ländern“ oder „in weniger etablierten und gesicherten Demokratien“ intervenieren (Rawls 2002, 55), lasse sich dennoch mit der Idee des demokratischen Friedens vereinbaren und ist auf Unzulänglichkeiten tatsächlich existierender und vermeintlich konstitutioneller demokratischer Ordnungen zurückzuführen (vgl. ebd., 55). Nicht unproblematisch ist der Umstand, dass an sich nichtexpansionistische demokratische Völker unter dem rechtfertigenden Vorwand der Verteidigung ihrer Sicherheitsinteressen de facto durch wirtschaftliche Interessen zur „verdeckten Intervention“ motiviert sind (vgl. ebd., 60).

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Das Ziel des Friedens als Legitimationsgrund für Interventionen Unter der Voraussetzung, dass die Idee eines Weltstaates aufgegeben worden ist, ist die Gesellschaft der Völker jedoch herausgefordert, zur Friedenssicherung und zur Zähmung neu entstandener Schurkenstaaten, Institutionen und Praktiken zu entwickeln, zu denen auch die Förderung der Menschenrechte – als dauerhafte außenpolitische Aufgabe – gehört. Gefährden politische Programme von Schurkenstaaten und nicht befriedigten Gesellschaften Schutz und Sicherheit von demokratischen und liberalen Staaten, müssen diese sich jenen Staaten entgegenstellen, die ihre Unterwerfung und Beherrschung intendieren, um Freiheit und Unabhängigkeit ihrer liberalen Kultur zu verteidigen. Aus diesen Gründen sei es legitim, Krieg zu führen. Selbstverteidigung – auch zum Schutz von verbündeten Staaten – und Interventionen aus menschenrechtlichen Motiven und Gründen gelten dann grundsätzlich als legitime Kriegsgründe (vgl. Rawls 2002, 61). Rawls konzidiert also die mit der Idee des demokratischen Friedens zu vereinbarende Möglichkeit, dass liberale Völker Kriege führen: allerdings ausschließlich gegen nicht befriedete Gesellschaften sowie gegen Schurkenstaaten. Der legitimierende Grund liegt in der Gefährdung des Schutzes und der Sicherheit liberaler Völker (vgl. ebd., 61).

Fazit und Ausblick „Die Grundsätze des Rechts der Völker“ – so die Politikwissenschaftlerin Annette Förster in ihrer Bilanz zum Rawlsschen Konzept des demokratischen Friedens – „sind der Schlüssel zu einem stabilen, annehmbar gerechten Frieden zwischen wohlgeordneten liberalen und achtbaren Völkern, der am Endpunkt der realistischen Utopie globale Wirkung entfalten könnte – wenn allen belasteten Gesellschaften zu einer wohlgeordneten Grundstruktur verholfen wurde und Schurkenstaaten bekämpft und reformiert

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wurden“ (Förster 2019, 70). Rawls stelle mit seinen Überlegungen zum demokratischen Frieden „einen Gegenentwurf zu realistischen Theorien vor, da er die stabilen Beziehungen zwischen Völkern nicht auf ein Kräftegleichgewicht bzw. einen modus vivendi im internationalen ‚Kampf um Wohlstand und Macht‘ zurückführt. Aus dem moralischen Charakter liberaler Völker leitet Rawls eine ‚Stabilität aus den richtigen Gründen‘ ab, die zum (demokratischen) Frieden zwischen den Völkern führt“ (ebd., 73). Und je „befriedeter und stabiler Regime werden, umso wahrscheinlicher wird der Frieden zwischen ihnen“ (ebd., 76). Der von Rawls im Kontext seiner Ausführungen zum Recht der Völker übernommene Begriff des demokratischen Friedens ist in der Friedens- und Konfliktforschung ein fest etablierter Begriff (vgl. Tuschhoff 2015, 76–96). Seit mehreren Jahrzehnten wird über den Zusammenhang von Demokratie und Frieden diskutiert. Empirisch geht man von einer Gesetzmäßigkeit aus: Nämlich, dass Demokratien keine Kriege gegeneinander führen (vgl. Brock 2011, 281). Gefragt wird angesichts dieser Feststellung nach der zivilisierenden Wirkung von Demokratien, nach den Unterschieden zu NichtDemokratien und nach den Gründen für die Domestizierung von Gewalt. Nicht behauptet wird jedoch, dass die Beziehungen zwischen Demokratien gänzlich konfliktfrei wären oder dass Demokratien überhaupt keine Kriege mehr führen würden (vgl. Brock 2011, 281). Wie zuvor dargelegt, greift Rawls in einer sehr speziellen Weise diesen in der Friedens- und Konfliktforschung etablierten Begriff auf und integriert ihn in seine Konzeption eines Rechts der Völker (Rawls 2002, 49–67). Bezüge aus der Friedens- und Konfliktforschung auf das von Rawls

J. J. Frühbauer

entworfene Konzept eines demokratischen Friedens sucht man vergeblich. Das mag an der idealtheoretischen Verortung bei Rawls liegen, aber auch an den eigentümlichen Begrifflichkeiten und der fehlenden Stringenz in Rawls’ Darstellung. Dass jedoch Überlegungen zur Idee des demokratischen Friedens, auch und gerade mit den von Rawls eingebrachten Aspekten, hochaktuell sind, belegen die bedrängenden Entwicklungen angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine 2022, aber auch die zunehmenden Tendenzen zur Entstehung bzw. zum Ausbau autoritärer Systeme und die damit verbundenen Gefährdungen und Bedrohungen liberaler und demokratischer Gesellschaften. Eine systematische Untersuchung der Rawlsschen Konzeption eines demokratischen Friedens und dessen analytische Anwendung auf reale weltpolitische Zustände und Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart steht noch aus.

Literatur Aron, Raymond: Peace and war. Garden City 1966. (dt.: Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt, Frankfurt a. M. 1986). Brock, Lothar: Frieden und Demokratie. In: Hans J. Gießmann/Bernhard Rinke (Hg.): Handbuch Frieden. Wiesbaden 2011, 281–293. Förster, Annette: Die Charta des Rechts der Völker als Schlüssel zum Frieden. In: Henning Hahn/Reza Mosayebi (Hg.): John Rawls: Das Recht der Völker. Berlin/Boston 2019, 63–77. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1993 (engl. 1971). Rawls, John: Das Recht der Völker. Berlin/New York 2002 (engl. 1999). Tuschhoff, Christian: Internationale Beziehungen. Konstanz/München 2015.

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Gemeinschaft Michael Haus

‚Gemeinschaft‘ steht für eine dichte Form der Assoziation von Menschen – in normativer, kognitiver und emotionaler Hinsicht. In Gemeinschaften leben Menschen nicht nebeneinanderher – sie erfahren sich als eine Einheit, verfolgen gemeinsame Ziele, machen kollektive Erfahrungen, teilen Erinnerungen und praktizieren Formen von Solidarität. Der Begriff der Gemeinschaft steht am Beginn der westlichen politischen Philosophie. So versteht Aristoteles letztere als Nachdenken über das Wesen und die Formen der politischen Gemeinschaft (koinonia politika). Die Lebensweise der Bürger (bios politikos) ist für ihn die Verkörperung eines guten menschlichen Lebens schlechthin. Mit dem Christentum und noch stärker mit der politischen Moderne und dem Liberalismus ist diese Vorstellung in die Defensive geraten. Die politische Ordnung wurde nun als ein nützliches Werkzeug für die Schaffung von Frieden, die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung und den Schutz individueller Rechte betrachtet. Monarchistische Diskurse, in denen Fürsten und Könige als ‚Väter‘ ihrer Völker oder als ‚Hüter‘ einer Glaubensgemeinschaft

M. Haus (*)  Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected]

verklärt wurden, wurden vom Liberalismus kritisiert und politisch bekämpft. Dies gilt erst recht für ‚völkische‘ und ‚rassische‘ Gemeinschaftskonzeptionen, die im 19.  Jahrhundert aufkamen und im 20. Jahrhundert weite Verbreitung fanden. Zugleich ergab sich mit der Berufung auf das Prinzip der Volkssouveränität eine gewisse Affinität liberaler Ideen zur Idee der Nation (von Anderson (1991) als „imaginierte Gemeinschaft“ charakterisiert). Außerdem beruft sich die moderne Demokratie nicht nur auf den Liberalismus, sondern auch auf den Republikanismus. Der Begriff der Republik steht aber in einer historischen Verbindungslinie mit dem Begriff der politischen Gemeinschaft, die im antiken Griechenland und Rom ihren Ursprung hat und damit u. a. wieder auf Aristoteles’ Konzept der Bürgerschaft verweist. Aus der skizzierten Entwicklung ergeben sich für die Rawlssche Argumentation so mindestens zwei wichtige Fragen: Wie positioniert sich eine liberale Gerechtigkeitskonzeption gegenüber dem aristotelischen und republikanischen Erbe? Und: Wie geht sie mit der Idee der Nation als politischer Gemeinschaft um? Die deutsche Übersetzung von A Theory of Justice kann mit Blick auf das Konzept der Gemeinschaft bei Rawls in die Irre führen. So wird die Beschreibung der wohlgeordneten Gesellschaft als „social unit of social units“ (Rawls 1971, 527) mit der Wendung „soziale Gemeinschaft sozialer Gemeinschaften“ (Rawls 1975,

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_30

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572) und auch sonst ‚unit‘ mit ‚Gemeinschaft‘ übersetzt. In der Übersetzung von Political Liberalism ist dann an entsprechender Stelle von der „sozialen Einheit sozialer Einheiten“ die Rede (Rawls 1998, 439), was dem Original deutlich besser gerecht wird, freilich sprachlich sperrig ist. Der Begriff ‚community‘ (nun in der deutschen Fassung mit ‚Gemeinschaft‘ übersetzt) wird hierbei von Rawls in vorwiegend kritischer Absicht verwendet. Indessen wäre es verkehrt, aus diesen Befunden zu schließen, dass Rawls in seinen gerechtigkeitstheoretischen Werken keinerlei positive Gemeinschaftsbezüge entwickle. Denn in beiden Werken betont Rawls zugleich, dass die wohlgeordnete Gesellschaft sehr wohl dazu in der Lage ist, Werte des gemeinschaftlichen Lebens zu verwirklichen, und zwar nicht nur auf der Ebene sozialer Gruppen, sondern auch auf der Ebene der Gesamtgesellschaft und im politischen Bereich. Diesen Werten der Gemeinschaft wird zudem höchste Relevanz zugesprochen. Sowohl die geänderte Übersetzungsweise von ‚social unit (of social units)‘ als auch gewisse Reakzentuierungen in der Argumentation im Vergleich von A Theory of Justice und Political Liberalism haben offensichtlich mit der Verschiebung der Diskurskonstellationen zu tun, innerhalb derer die beiden Werke sich positionieren. Sind für das spätere Werk die kommunitaristischen Rawls-Kritiker*innen und Verfechter*innen der politischen Gemeinschaft wichtige Antipoden, so richtet sich Rawls’ Argumentation in Eine Theorie der Gerechtigkeit bekanntlich vor allem gegen die damalige Dominanz des Utilitarismus. Wird die Frage der Gemeinschaft im späten Werk so vor allem vor dem Hintergrund der Konzeption eines übergreifenden Konsenses für den Bereich des Politischen diskutiert, so geschieht dies in der frühen Fassung der Gerechtigkeitstheorie vor dem Hintergrund des Bekenntnisses zu einem anti-utilitaristisch verstandenen Kantischen Individualismus. Freilich sind die inhaltlichen Kontinuitäten zwischen den beiden Werken unverkennbar, wie im Folgenden dargelegt werden soll.

M. Haus

Abgrenzungen gegenüber verschiedenen Konzeptionen von Gemeinschaft In Eine Theorie der Gerechtigkeit wie auch in Politischer Liberalismus betont Rawls, dass es sich bei der wohlgeordneten Gesellschaft um mehr und qualitativ anderes handelt als eine Ansammlung von Individuen, die jeweils separat vom Rest der Gesellschaft ausschließlich ihre eigenen Zwecke verfolgen und dabei die institutionelle Ordnung bloß als Mittel zur Verwirklichung ihrer privaten Zwecken betrachten. Rawls nennt diese von ihm kritisierte Sicht einer Gesellschaft atomisierter und egozentrischer Individuen eine „private Gesellschaft“ (private society, Rawls 1975, 565; Rawls 1998, 300). Der Begriff ‚(social) unit‘ soll deutlich machen, dass die wohlgeordnete Gesellschaft einen eigenen, normativen Zusammenhalt und damit ihre eigene Stabilität generiert. Die Bürger*innen einer solchen Gesellschaft wissen sich in gemeinsamen normativen Überzeugungen verbunden und bilden auch eine entsprechende soziale Praxis aus. Darin liegt die Analogie zu anderen Formen gemeinschaftlicher Verfolgung von Zielen. Freilich ist dieser Zusammenhalt als ‚Einheit von Einheiten‘ von ganz besonderer Art. So ist die wohlgeordnete Gesellschaft unvereinbar mit einer „organizistischen Vorstellung von der Gesellschaft“ (Rawls 1975, 565), wonach „die Gesellschaft […] ein organisches Ganzes mit einem Eigenleben [sei], das verschieden von dem aller ihrer Mitglieder in ihren gegenseitigen Beziehungen und höherwertig als dieses sei“ (ebd., 299). In Politischer Liberalismus hält Rawls außerdem fest: „Eine wohlgeordnete Gesellschaft ist weder eine Gemeinschaft [community] noch, allgemeiner, eine Vereinigung [association]“ (Rawls 1998, 111). Dabei versteht er eine ‚Gemeinschaft‘ als „eine Gesellschaft […], die von einer gemeinsamen umfassenden religiösen, philosophischen oder moralischen Lehre gelenkt wird“ (ebd., 114), eine ‚Assoziation‘ (in nicht gänzlich scharfer Abgrenzung) als einen

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freiwilligen Zusammenschluss gleichgesinnter Personen auf der Grundlage einer solchen Lehre (ebd., 112). Eine organizistische Gesellschaftskonzeption (vgl. etwa die Darstellungen bei Tönnies 1979 und Sontheimer 1978) ist mit der Vorstellung von Gerechtigkeit als Fairness unvereinbar. Es ist begründungslogisch (mit Blick auf die Konzeption des Urzustandes) eine sinnlose Annahme, dass die Individuen ihre eigenen Ziele als per se weniger wichtig als die Ziele der Gemeinschaft betrachten würden oder diese gar aufzuopfern bereit sein könnten. Im linken Diskurs wird Gemeinschaft (im positiv bewerteten Sinn) demgegenüber meist als ‚Vereinigung‘ bzw. ‚Assoziation‘ verstanden – wobei letztlich auch die Utopie einer ‚(freien) Assoziation von Produzent*innen‘, wie es etwa im marxistischen Diskurs heißt, die Gesellschaft als Gemeinschaft einer bestimmten Art versteht. Die wohlgeordnete Gesellschaft ist jedoch nach Rawls auch keine ‚Assoziation‘. Vielmehr handelt es sich (so bereits die idealtheoretische Annahme in Eine Theorie der Gerechtigkeit) um eine Gesellschaft, deren Mitglieder qua Geburt in sie eintreten und sie mit dem Tod wieder verlassen. Der rationale und zugleich realistische Kern dieser Annahme liegt darin, dass es darum geht, wie Gesellschaften so verfasst sein können, dass sie zwar nicht auf einem freien Zusammenschluss beruhen, aber gleichwohl die Autonomie ihrer Mitglieder so ernst nehmen wie nur möglich. Gerade die auf gesellschaftlicher Ebene gegebene Garantie eines unhintergehbaren Status freier und gleicher Bürger*innen macht es nach Rawls erst moralisch zulässig, dass Assoziationen existieren, die ihren Mitgliedern letzte Ziele setzen (Rawls 1998, 113). Diese Sichtweise grenzt sich nicht nur von der erwähnten kommunistischen Utopie der Produzentenassoziation ab, sondern etwa auch von Rousseaus (im Émile dargelegten) Vorstellung der informierten Wahl einer Wunschrepublik im jungen Erwachsenenalter. Rawls’ Konzeption der wohlgeordneten Gesellschaft scheint indes auch in einer gewissen Spannung zu jenen liberal-egalitaristischen Theorien zu stehen, die (unter Berufung auf Rawls’

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Argument der ‚Lotterie der Natur‘) für offene Grenzen eintreten (Carens 1987). Die wohlgeordnete Gesellschaft ist nach Rawls als ein liberaler Nationalstaat (bei zunächst rein politischer Bestimmung von ‚Nation‘) verfasst. Wie Rawls in Das Recht der Völker betont, darf dies jedoch nicht als Freibrief für einen kollektiven nationalen Egoismus verstanden werden, sondern sind die verschiedenen nationalen Gesellschaften zur Solidarität auf der Grundlage liberaler und demokratischer Prinzipien sowie der Menschenrechte verpflichtet (Rawls 2002).

Die wohlgeordnete Gesellschaft als ‚soziale Einheit sozialer Einheiten‘ Die wohlgeordnete Gesellschaft ist nach Rawls gleichwohl eine ‚soziale Einheit‘ – und zwar eine von eminenter Bedeutung. Im Gegensatz zu einer ‚privaten Gesellschaft‘ teilen in ihr alle Individuen moralische Überzeugungen, auf denen die gesellschaftliche Ordnung selbst aufbaut, und in ihr bildet die gemeinsame Beförderung von Gerechtigkeit ein wichtiges Ziel individuellen Handelns. Ein erstes wichtiges Argument ist in diesem Zusammenhang, dass die Konzeptualisierung der (nur an ihrem eigenen Wohl interessierten) Parteien im Urzustand (entgegen der Kritik von Sandel (1993)) eben nicht als Beschreibung einer „tatsächlich vorhanden[en]“ Gesellschaftsordnung (Rawls 1975, 565 f.) zu verstehen ist. Beim Gedankenexperiment des Urzustands geht es um eine Art argumentativen Härtetest der Gerechtigkeit: Ist es möglich, dass unter fairen Bedingungen eine Einigkeit über Gerechtigkeitsgrundsätze selbst dann erreicht wird, wenn Gesellschaftsmitglieder denkbar gegensätzliche Ziele verfolgen und nur auf sich fokussiert sind? Falls sich solche Grundsätze finden lassen, so werden diese erst recht problemlos als gesellschaftliche Grundlage fungieren können, wenn die Ziele gar nicht so gegensätzlich sind wie zunächst angenommen – wovon Rawls überzeugt ist. Bereits die Parteien im Urzustand wissen, so die Kantische Deutung, dass die Bürger*innen in einer wohlgeordneten Gesellschaft über zwei

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moralische Vermögen verfügen: Sie lassen sich von einem Gerechtigkeitssinn leiten und sie sind imstande und daran interessiert, eine Konzeption des guten Lebens bzw. einen damit verbunden Lebensplan auszubilden bzw. zu verwirklichen. Das Rechte und das Gute sollen in der wohlgeordneten Gesellschaft kongruent (nicht: identisch) gemacht werden, was es erforderlich macht, den „Wert der Gemeinschaft“ zu berücksichtigen (ebd., 565). In dieser Kongruenz von dem Guten und dem Gerechten kann die zentrale konzeptionelle Herausforderung von Rawls’ Überlegungen zur sozialen Einheit als Teil einer Stabilitätskonzeption der Gerechtigkeit gesehen werden (Hinsch 2006, 256–258). Aus der Annahme eines Gerechtigkeitssinns folgt, dass Bürger*innen in einer wohlgeordneten Gesellschaft nicht durch Zwang oder Belohnung zur Einhaltung der Gerechtigkeitsgrundsätze motiviert werden müssen – sie sind dazu moralisch motiviert. In Politischer Liberalismus formuliert Rawls diesen Gedanken auch so, dass der übergreifende Konsens über gemeinsame Gerechtigkeitsgrundsätze etwas qualitativ Anderes sei als ein modus vivendi (Rawls 1998, 234–238). Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft sind moralische Subjekte, keine egoistischen Nutzenmaximierer*innen, und ihre soziale Einheit bzw. Einigkeit besteht darin, dass sie dies wechselseitig voneinander wissen und die gemeinsamen Institutionen diese Überzeugungen verkörpern. So mache die Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness als eine Kantische Deutung des Gesellschaftsvertrags auf einer individualistischen Grundlage deutlich, warum eine wohlgeordnete Gesellschaft zugleich „den Wert“ bzw. „das Gut der Gemeinschaft“ verwirklicht (Rawls 1975, 294 und 565, im Original „the value of community“ bzw. „the good of community“). In einer wohlgeordneten Gesellschaft bejahen die Bürger*innen also gerade auf der Grundlage eines moralischen Individualismus die gemeinsamen Institutionen als an sich gut. Wenn die Parteien im Urzustand darüber hinaus wissen, dass Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft das moralische Vermögen haben, eine Konzeption des Guten

M. Haus

auszubilden, so ist auch dies Ausgangspunkt nicht nur für Pluralität oder gar Konkurrenz, sondern ebenso für Gemeinsamkeit und Einheit. Denn die Parteien haben auch Kenntnis davon, wie Menschen im Allgemeinen dazu fähig werden, ein solches Vermögen auszubilden – nämlich in Gemeinschaft mit anderen, nicht als isolierte Held*innen ihres Daseins – und sie haben Kenntnis davon, wie Menschen Erfahrungen des Guten machen. Der Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness, so macht Rawls in Eine Theorie der Gerechtigkeit mit aller Klarheit deutlich, liegt keine ‚atomistische‘ Konzeption der Person (Taylor 1985) zugrunde, vielmehr die Einsicht in die „soziale Natur des Menschen“ (Rawls 1975, 567). Diese soziale Natur können Menschen nur dann zur Entfaltung bringen, wenn sie „gemeinsame letzte Ziele“ haben und „ihre gemeinsamen Institutionen und Tätigkeiten als gut an sich [betrachten]“, wenn sie „einander als Partner in Lebensformen [brauchen], die um ihrer selbst gewählt werden“, und wenn „Erfolg und Freude der anderen […] Ergänzungen des eigenen Wohls“ werden (ebd., 567). Die ‚soziale Einheit sozialer Einheiten‘ nimmt so erstens Bezug auf Wilhelm von Humboldts Vorstellung einer Gemeinschaft der Menschheit, in der „jeder […] an der Gesamtheit der verwirklichten natürlichen Fähigkeiten der anderen teilhaben“ kann (ebd., 568; vgl. 1998, 440). Zweitens verweist sie auf den Aristotelischen Grundsatz (Rawls 1975, 573), wonach „Menschen gern ihre […] Fähigkeiten einsetzen, und ihre Befriedigung […] desto größer [ist], je besser entwickelt oder je komplizierter die beanspruchte Fähigkeit ist“ (ebd., 464; vgl. – wenn auch offener formuliert – Rawls 1998, 301). Die Menschen können in einer wohlgeordneten Gesellschaft ihrer sozialen Natur und einem gemeinschaftsorientierten Streben nach Exzellenz also zum einen dadurch Ausdruck verleihen, dass sie die gerechten Institutionen gemeinsam erhalten, zum anderen dadurch, dass sie sich am inneren Leben der verschiedenartigen Gruppen beteiligen. „Die allgemeine Verwirklichung der Gerechtigkeit“, so schlussfolgert Rawls, „ist also ein Gemeinschaftswert“ (Rawls 1975, 573 f.). In Politischer

30 Gemeinschaft

Liberalismus nimmt sich Rawls etwas zurück: Er spricht lieber von den „Werten der Gemeinschaft“ und legt Wert auf die Feststellung, dass das „gemeinsame Ziel der politischen Gerechtigkeit […] nicht mit einer […] ‚Konzeption des Guten‘ verwechselt werden [darf]“ (Rawls 1998, 234 f., Fn. 13). Die voranstehenden Ausführungen machen deutlich, dass Rawls’ gerechtigkeitstheoretische Überlegungen sich als Versuch einer Aussöhnung von Individualismus und Gemeinschaftlichkeit interpretieren lassen. Die wohlgeordnete Gesellschaft ist nach Rawls selbst keine ‚Gemeinschaft‘. Sie ist dies weder im Sinne einer organizistischen Gesellschaftskonzeption, bei der der Wert des einzelnen Lebens von seinem Ort in einem gesellschaftlichen Ganzen bestimmt wird, noch im Sinne einer Assoziation, die auf einem freiwilligen Zusammenschluss von Individuen zwecks Verfolgung gemeinsamer Ziele gegründet wird, noch im Sinne einer politischen Gemeinschaft, in der das politische Leben zum höchstens aller Ziele und das politische Handeln zum Medium der Entscheidung über Wertfragen erklärt wird. In Theorie der Gerechtigkeit wird diese Argumentation von einem Bekenntnis zum Individualismus, in Politischer Liberalismus von der Ablehnung umfassender Lehren und der Notwendigkeit eines übergreifenden Konsenses zu einer politischen Gerechtigkeitskonzeption begleitet. In beiden Werken betont Rawls zugleich, dass die wohlgeordnete Gesellschaft etwas qualitativ Anderes als eine ‚private Gesellschaft‘ ist, in der rein private Interesse verfolgt und die gemeinsamen Institutionen nicht als Wert an sich erfahren werden. Es bleibt die Frage, inwiefern Rawls mit dieser Positionierung zum einen den Möglichkeitsrahmen einer mit liberalen Grundprinzipien vereinbaren Konzeption von (politischer) Gemeinschaft ausschöpft oder zumindest die konzeptionellen Grenzen nicht so eng zieht, dass entsprechende Überlegungen faktisch ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang kann auf drei alternative Diskurstraditionen verwiesen werden: den pragmatistischen Diskurs im Anschluss an John Dewey, den Gabendiskurs

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im Anschluss an Marcel Mauss und den Kommunitarismus als Variante des Neoaristotelismus. Deweys Hoffnung auf eine Transformation der ‚Großen Gesellschaft‘ in eine ‚Große Gemeinschaft‘ richtet sich auf die gemeinschaftsstiftende Kraft der Kommunikation. Gemeinschaft und Demokratie werden dabei als zwei Seiten derselben Medaille gefasst (Dewey 1927). Für den an Mauss anschließenden Gabendiskurs werden solidarische Beziehungen in modernen Gesellschaften von Praktiken des Schenkens getragen – nicht von einer vorgängigen Gerechtigkeitskonzeption (Adloff 2018). Und anders als Rawls suggeriert, versteht die kommunitaristische Position Michael Walzers die politische Gemeinschaft nicht als integriert durch eine umfassende Lehre, sondern durch eine politische Kultur, in der auf der Grundlage gesellschaftlich verankerter Deutungsmuster über den Sinn verschiedener Güter und der allen gemeinsamen Bürgerschaft (citizenship) öffentlich gestritten wird (Walzer 1983). Diese drei Gemeinschaftsdiskurse weisen vielfältige Überschneidungen auf. Sie vermögen das republikanische Erbe in einer pluralismusfreundlichen Weise zu integrieren. Zugleich räumen sie der philosophischen Klärung von Gerechtigkeitsgrundsätzen keine derartige Autorität ein, wie Rawls dies zumindest in der frühen Fassung seiner Gerechtigkeitstheorie getan hat. Sie vertreten eine Philosophie der Praxis, in der aus demokratisch-gemeinschaftlichen Formen des Zusammenlebens solidarische Formen von Gesellschaft hervorgehen.

Literatur Adloff, Frank: Politik der Gabe. Für ein anderes Zusammenleben. Hamburg 2018. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the origin and spread of nationalism. London 1991. Carens, Joseph H.: Aliens and citizens. The case for open borders. In: Review of Politics 49/2 (1987), 251–273. Dewey, John: The public and its problems. New York 1927. Hinsch, Wilfried: Das Gut der Gerechtigkeit. In: Otfried Höffe (Hg.): John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. München 2006, 251–269.

252 Rawls, John: A theory of justice. Cambridge, Mass 1971. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1975 (engl. 1971). Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: Das Recht der Völker. Berlin 2002 (engl. 1999). Sandel, Michael: Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst. In: Axel Honneth (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1993, 18–35.

M. Haus Sontheimer, Kurt: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933. München 1978. Taylor, Charles: Atomism. In: Ders.: Philosophical Papers 2. Cambridge 1985, 187–211. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt 1979 [1887]. Walzer, Michael: Spheres of justice. A defense of pluralism and equality. New York 1983.

Gerechtigkeit/Grundsätze der Gerechtigkeit

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Regina Kreide

Die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit John Rawls bezieht sich in seiner Theorie der Gerechtigkeit auf innergesellschaftliche Verhältnisse und erweitert die klassischen liberalen Theorien um die moralische Pflicht des Einzelnen zur Unterstützung anderer und um die Fürsorgepflicht des Staates (siehe dafür auch Kreide 2008, 66–102). Rawls versucht, die vernünftigsten Prinzipien politischer Gerechtigkeit für eine demokratische Gesellschaft mit Hilfe des Urzustandes (original position) zu begründen. Im Urzustand einigen sich die rational kalkulierenden Repräsentant*innen der Bürger*innen unter vernünftigen Bedingungen, die durch den Schleier der Unwissenheit (veil of ignorance) vorgegeben werden, auf zwei Prinzipien. Durch diese beide Prinzipien wird eine gerechte Verteilung der Grundgüter erreicht: Das erste Prinzip, das Gleichheitsprinzip, formuliert das gleiche Recht auf das umfassendste System gleicher Grundfreiheiten. Das zweite, das Differenzprinzip, legt fest, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten nur dann zulässig sind, wenn sie noch einen größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten Begünstigten bieten R. Kreide (*)  Justus-Liebig-Universität Gießen, Gießen, Deutschland E-Mail: [email protected]

(Rawls 1975, 336; 1992, 160; siehe für Folgendes auch Kreide 2008). Der Rawlsschen Konstruktion liegt ein Vorrang des ersten vor dem zweiten Prinzip zugrunde, der in zweierlei Hinsicht deutlich wird: Zum einen zeigt sich der Vorrang des Gleichheitsprinzips daran, dass zwar eine völlige Gleichheit der Grundrechte und Freiheiten vorgesehen ist, aber nur eine annähernde Gleichheit der materiellen Mittel, die nötig sind, um die allen zukommenden gleichen Grundfreiheiten nutzen zu können (Rawls 1992, 196; 1993, 324). Die Sicherung der Grundfreiheiten und die damit verbundenen gleichen Chancen sollen allerdings auch nicht bloß rein formaler Natur sein (Rawls 1992, 197; 1993, 325). Rawls ist sich durchaus darüber im Klaren, dass ohne die notwendigen materiellen Mittel zur Sicherung der Subsistenz (Wohnung, Nahrung, Kleidung) und ohne bestimmte Kompetenzen und notwendiges Wissen Menschen davon abgehalten werden, ihre Rechte und Freiheiten tatsächlich zu nutzen. Rawls sieht aber in fehlenden Mitteln und Wissen nicht eine Beschränkung der Freiheit, sondern ‚bloß‘ eine Beeinträchtigung des Werts der Freiheit. Materielle Voraussetzungen können Einfluss auf den Nutzen von Rechten und Freiheiten für die Bürger*innen haben, dennoch aber stellt ihr Fehlen keine Verletzung des ersten Gerechtigkeitsprinzips dar. Unabhängig davon, ob die Einzelnen ihre Rechte tatsäch-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_31

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lich nutzen können, besteht ihr Anspruch auf die verbürgten Freiheiten. Rawls lässt eine Ausnahme gelten. Den politischen Grundrechten kommt ein besonderer Rang zu. Bei ihnen ist es durchaus von Bedeutung, dass auch für den „fairen Wert der politischen Freiheit“ gesorgt wird. Der ist dann erreicht, wenn die Bürger*innen faire Chancen besitzen, ein öffentliches Amt zu bekleiden und den Ausgang einer politischen Entscheidung zu bestimmen. Der „faire Wert der Freiheit“ soll nicht von der sozialen oder wirtschaftlichen Situation eines*einer Bürgers*Bürgerin beeinträchtigt werden. Daher wird innerhalb des ersten Gerechtigkeitsprinzips festgelegt, dass Menschen mit gleichen Fähigkeiten und der Bereitschaft, sie einzusetzen, gleiche Erfolgsaussichten haben sollten. Um von einem „fairen Wert der Freiheiten“ (fair value of liberties) sprechen zu können, müssen die Mitglieder der Gesellschaft über genügend Ressourcen oder Chancen verfügen, um politische Ziele im Rahmen ihrer Freiheiten verfolgen zu können (Rawls 1993, 327). Rawls interessiert sich allerdings nur für „klassenspezifische“ Benachteiligungen der Bürger*innen, nicht dafür, ob auch andere Aspekte wie Geschlecht, ethnische oder religiöse Zugehörigkeit zu Benachteiligungen in der politischen Teilnahme führen, denen ebenso wie ökonomischer Deprivation entgegengewirkt werden müsse (Pogge 1994, 111). Zum anderen kommt bei Rawls’ Vorstellung von der Anwendung der Grundsätze auf die Grundstruktur der Gesellschaft ein weiteres Problem zum Tragen: die Nachrangigkeit sozialer Fragen. In einer vierstufigen Folge (four-stage sequence) (Rawls 1993, 151) erfolgt die Implementierung der Prinzipien. Ausgehend von der Begründung der Prinzipien im Urzustand und ihrer öffentlichen Bestätigung durch einen überlappenden Konsens (overlapping consensus) unter den Bürger*innen im Prozess des öffentlichen Vernunftgebrauchs, erfolgt die Verfassungsgebung im Lichte der beiden Prinzipien und werden die Gesetzgebung und die Auslegung der Verfassung und der Gesetze durch die Richter im Lichte der Prinzipien vorangetrieben. Von Interesse ist hierbei, dass die Umsetzung

R. Kreide

des ersten Gerechtigkeitsprinzips bereits auf der Ebene der Verfassungsgebung geschieht, während die Umsetzung des Differenzprinzips allein in den Händen des*der Gesetzgebenden liegt. Faire Chancengleichheit und das „Differenzprinzip“ gehören nicht zu den Verfassungsgrundlagen (constitutional essentials) (Rawls 1993, 227–230). Innergesellschaftlich zeigt sich der Vorrang subjektiver Freiheitsrechte und politischer Rechte vor sozialen Rechten zum einen in der Begründung der Gerechtigkeitsprinzipien sowie zum anderen in der Anwendung derselben auf die Grundstruktur der Gesellschaft. Ansprüche auf die Sicherung der notwendigsten Lebensgrundlagen sind auf die Bereitstellung des „fairen Werts der politischen Freiheit“ reduziert: Eine soziale Grundversorgung wird allein mit Blick auf die politische Autonomie der Bürger*innen als erforderlich angesehen. Rawls’ Gerechtigkeitstheorie geht von einer vollständigen Gleichheit der Grundrechte und Freiheiten aus, aber nur von einer annähernden Gleichheit der materiellen Mittel, die notwendig sind, um die allen zustehenden gleichen Grundfreiheiten nutzen zu können.

Globale Erweiterung der Gerechtigkeit Rawls hat Ende der 1990er Jahre eine „Pflicht zur Hilfeleistung“ (duty to assist other people) in seine Grundsätze des Rechts der Völker aufgenommen (Rawls 1999, 37). Dies kann als ein entscheidender Schritt in Richtung globale Gerechtigkeit verstanden werden, und es verdeutlicht, dass Rawls sich der Dringlichkeit des Problems weltweiter Armut bewusst geworden ist. Die Art und Weise, wie diese Pflichten eingeführt werden, unterstreichen allerdings, dass Rawls eine funktionalistische Begründung sozialer und ökonomischer Menschenrechte vorlegt (Kreide 2008, 50). Die Pflicht zur Hilfeleistung wird als Instrument gerechtfertigt, das dazu dient, Völker auf ein Entwicklungsniveau zu bringen, das dezidierten Kriterien politischer und rechtsstaatlicher Fairness und Stabili-

31  Gerechtigkeit/Grundsätze der Gerechtigkeit

tät genügt. Damit ist auch die Reichweite der Hilfspflicht klar definiert: Sie ist zum einen zielgerichtet, das heißt, Hilfeleistungen unter Völkern sind gerechtfertigt, insofern sie als angemessenes Mittel erscheinen, andere Prinzipien, wie etwa Rechtsstaatlichkeit, zu erfüllen, die zu den grundlegenden Interessen eines Volkes gehören. Daher ist der Gegenstand der Hilfe genau beschrieben. Hilfe sollen die Gesellschaften in Anspruch nehmen können, die keine aggressive Außenpolitik verfolgen und die weder die materiellen noch technologischen Mittel besitzen oder über eine politische Kultur verfügen, die es ihnen erlauben würde, Mitglied einer Gemeinschaft wohlgeordneter Völker zu werden (Kreide 2008, 106). Zweitens sollte das Ziel materieller und technischer Hilfeleistung darin liegen, die Länder in dem Prozess zu unterstützen, zu „wohlgeordneten“ Gesellschaften zu werden, und das heißt, zu Gesellschaften, die eine gerechte (oder doch achtbare) institutionelle Ordnung durchgesetzt haben. Unterstützungsmaßnahmen können die Förderung von Bildung und Erziehung (vor allem für Frauen), Programme zur Regulierung des Bevölkerungswachstums, die Etablierung kompetenter und integrer Richter*innen sein und in der Repräsentation von Gruppen oder Kasten (oder Individuen) in einem System politischer Konsultation liegen, in dem die verschiedenen gesellschaftlichen Stimmen zu Wort kommen können (Rawls 1999, 71–78.) Rawls grenzt seinen Ansatz von Vorstellungen globaler distributiver Gerechtigkeit ab. Er beschäftigt sich mit diesem As-

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pekt in der Auseinandersetzung mit einer Kritik von Charles Beitz (1979) und Thomas Pogge (1994), die ihn beide von einem internationalen Differenzprinzip überzeugen wollten. Rawls aber weist ein Prinzip globaler distributiver Gerechtigkeit zurück, da es keinen Schlusspunkt (cut-off point) bei der Verteilung anbietet, das heißt, es lässt keine Aussage darüber zu, wann ein befriedigendes Entwicklungsniveau erreicht wurde. Eine nicht erwünschte Konsequenz könnte sein, dass neue Ungerechtigkeiten entstehen, da arme Gesellschaften auch dann Zahlungen von reichen Ländern erwarten können, wenn sie unter den gleichen Bedingungen mit Reformen begannen wie andere Gesellschaften, aber dennoch eine gerechte Grundstruktur nicht etablieren konnten (Rawls 1999, 117).

Literatur Beitz, Charles (1979): Political Theory and International Relations, Princeton University Press. Kreide, Regina: Globale Politik und Menschenrechte. Macht und Ohnmacht eines politischen Instruments. Frankfurt a. M. 2008. Pogge, Thomas: An egalitarian law of peoples. In: Philosophy & Public Affairs 12/3 (1994), 195–224. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1975 (engl. 1971). Rawls, John (1992): Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978–1989, hrsg. von Wilfried Hinsch, Frankfurt am Main. Rawls, John: Politischer Liberalismus Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993) Rawls, John: The law of peoples. Cambridge, Mass. 1999.

Gesellschaft/ Gesellschaftsvertrag/ wohlgeordnete Gesellschaft

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Simon Faets

Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption im Kontext der Gesellschaftsvertragstheorie Rawls ordnet seinen gerechtigkeitstheoretischen Ansatz, den er zum ersten Mal in Eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, von Anfang an in die philosophische Tradition des Kontraktualismus ein und versteht seine Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness von daher als eine theoretische Variante des Gesellschaftsvertrags (Rawls 1975, 33). Gleichzeitig verbindet Rawls damit den Anspruch, die klassische Idee des Gesellschaftsvertrags, die er paradigmatisch in der politischen Philosophie von Locke, Rousseau und Kant vertreten sieht, zu erweitern und neu zu denken, und zwar indem er mit seiner Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness einen theoretischen Entwurf vorlegt, der „die herkömmliche Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag verallgemeinert und auf eine höhere Abstraktionsebene hebt“ (ebd., 19). Diese kontraktualistische Grundausrichtung durchzieht Rawls’ gesamte politische Philosophie und prägt dementsprechend auch dessen spätere Werke zum Politischen Liberalismus und zum Recht der Völker. Mit dem Projekt einer Neuinterpretation der kontraktualistischen Tradition wendet sich

S. Faets (*)  Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected]

Rawls dabei gegen klassische utilitaristische und perfektionistische Strömungen innerhalb der politischen Philosophie und reagiert auf deren philosophiegeschichtlich erhobene Einwände gegen den Kontraktualismus. Sein Konzept der Gerechtigkeit als Fairness begreift Rawls daher ausdrücklich als Revitalisierung der Gesellschaftsvertragstheorie, welches als eine überlegene Alternative zu „der lange Zeit vorherrschenden utilitaristischen Tradition“ (Rawls 1998, 35) etwa im Kontext der philosophischen Ansätze Jeremy Benthams oder John Stuart Mills angelegt ist. Dabei ist Rawls’ (1975, 34) eigene Konzeption der Gesellschaftsvertragstheorie gegenüber dem klassischen Kontraktualismus jedoch in mehreren entscheidenden Hinsichten abzugrenzen. Zwar spielt Rawls’ Konzept des Urzustands als ursprüngliche Situation der Gleichheit grundsätzlich dieselbe Rolle wie die Idee eines staatenlos gedachten Naturzustands in der kontraktualistischen Tradition (ebd., 28). Allerdings dient der Urzustand bei Rawls im Unterschied zu seinen vertragstheoretischen Vorgängern nicht der Einführung und Legitimierung bestimmter politischer Regierungsformen, sondern liefert einen rein theoretischen Rahmen für die gerechtigkeitstheoretische „Festlegung bestimmter moralischer Grundsätze“ (ebd., 33) mit Blick auf eine gesellschaftliche Grundstruktur. Während frühere Kontraktualisten wie Hobbes oder Rousseau aus den Bedingungen des jeweils

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_32

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konstruierten Naturzustands heraus unterschiedliche Herrschaftsformen ableiteten und begründeten, geht es Rawls darum, grundlegende Gerechtigkeitsgrundsätze für die Gestaltung der Gesellschaft aufzustellen, für die sich freie und vernünftige Subjekte in einer ursprünglichen Situation der Gleichheit entscheiden würden (ebd., 28). Außerdem steht der Urzustand bei Rawls unter besonderen normativen Anforderungen und unterscheidet sich deshalb von den als staatenlos und damit normativ ungeordnet-chaotisch konzeptualisierten Naturzustandsideen der klassischen Vertragstheorie. Die Menschen im Urzustand befinden sich nämlich bei Rawls hinter einem Schleier des Nichtwissens (ebd., 29), d. h. sie haben weder Kenntnis von ihrer eigenen gesellschaftlichen Stellung noch von der Stellung der anderen und sie kennen nicht ihre persönlichen Neigungen und Vorstellungen vom Guten. Dahinter steht die Idee, dass die Wahl der Grundsätze der Gerechtigkeit im Rahmen des ursprünglichen Vertragsschlusses nur dann fair sein kann, wenn sie bereits selbst als das Ergebnis einer fairen Ausgangssituation zustande kommt. Anders als der klassische Naturzustand muss der Urzustand bei Rawls also bereits selbst fair strukturiert sein. Auf diese Weise sollen alle partikularen Interessen und natürlichen Zufälle aus der Situation der Entscheidung für die Grundsätze der Gerechtigkeit im Urzustand ausgeschlossen werden. Daher beziehen sich die Gerechtigkeitsgrundsätze der Gerechtigkeit als Fairness nicht auf bestehende Gesellschaften, sondern werden in einer ursprünglichen Ausgangssituation festgelegt, die anders als im klassischen Verständnis bereits selbst normativen Bedingungen unterliegt, welche sich konzeptuell stark an Kants Autonomiebegriff anlehnen (ebd., 289). Der Stellenwert des Begriffs der Gesellschaft in Rawls’ politischer Philosophie In Rawls’ politischer Philosophie nimmt der Begriff der Gesellschaft eine zentrale Stellung ein. Rawls (1975, 23; vgl. 1998, 367) bestimmt die Grundstruktur der Gesellschaft bereits in Eine Theorie der Gerechtigkeit als den

S. Faets

„erste[n] Gegenstand der Gerechtigkeit“ (ebd.), worin Rawls zufolge ein wesentliches Merkmal der von ihm vertretenen Vertragskonzeption der Gerechtigkeit zum Ausdruck kommt. Unter der Grundstruktur der Gesellschaft versteht Rawls dabei die Art und Weise, in der die wichtigsten gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Institutionen zusammenwirken und dadurch grundlegende Rechte und Pflichten sowie die Erträge der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen. Als Beispiele solcher grundlegenden Institutionen nennt Rawls u. a. die politische Verfassung einer Gesellschaft, deren Wirtschaftsordnung sowie die Institutionen des Privateigentums und der Familie, aber auch die Gedanken- und Gewissensfreiheit. Rawls’ Gerechtigkeitstheorie setzt primär an diesen wesentlichen Institutionen an, weil sie den Ausgangspunkt für die Gestaltung aller weiteren gesellschaftlichen Verhältnisse darstellen: „Die Grundstruktur ist der Hauptgegenstand der Gerechtigkeit, weil ihre Wirkungen so tiefgreifend und von Anfang an vorhanden sind“ (Rawls 1975, 23). In seinem Gesellschaftsbegriff geht Rawls zudem konzeptuell von einem in sich geschlossenen Gesellschaftssystem aus, „das keine Verbindung mit anderen Gesellschaften hat“ (ebd., 24). Diese nationalstaatliche Perspektive einer abgeschlossenen und selbstständigen Gesellschaft (vgl. ebd., 498) vertritt Rawls auch noch in Das Recht der Völker, das explizit als eine Verallgemeinerung und internationale Erweiterung seiner ursprünglichen Gerechtigkeitstheorie angelegt ist: „Bei der Ausarbeitung des Rechts der Völker beginnen wir mit den Grundsätzen der politischen Gerechtigkeit für die Grundstruktur einer geschlossenen und autarken liberalen demokratischen Gesellschaft“ (Rawls 2002, 105 f.). Diese Grundsätze bezeichnet Rawls von Beginn an als „Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit“ (Rawls 1975, 20), da sie die Zuweisung und Verteilung der Rechte und Pflichten im Rahmen der grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen orientieren. Als „Grundsätze sozialer Gerechtigkeit“ beziehen sie sich dabei konkret in erster Linie auf die unterschiedlichen Lebenschancen der in einer

32  Gesellschaft/Gesellschaftsvertrag/wohlgeordnete Gesellschaft

Gesellschaft zusammenlebenden Menschen und setzen darin zugleich die Vorstellung der Gesellschaft als in sich geschlossenes soziales System voraus. Da die Lebenschancen innerhalb der gesellschaftlichen Grundstruktur ungleich verteilt sind und die Gesellschaft dementsprechend auch von Interessenkonflikten geprägt ist, konzentriert sich Rawls bereits zu Beginn seiner Gerechtigkeitstheorie auf die Ausarbeitung dieser gerechtigkeitstheoretischen Grundsätze, die ihm zufolge aus der ursprünglichen Situation der Gleichheit im Urzustand im Blick auf die „Verteilungseigenschaften der gesellschaftlichen Grundstruktur“ (ebd., 26) hervorgehen. Insgesamt begreift Rawls die Idee der Gesellschaft in der Tradition der Gesellschaftsvertragstheorie als eine Vereinigung von Menschen, die sich im Interesse ihres gelingenden Zusammenlebens auf die verbindliche Festlegung und gemeinschaftliche Einhaltung von bestimmten Verhaltensregeln einigen. Diese Regeln sind in der Form der Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit demnach der Ausdruck eines Systems der Zusammenarbeit, das im Dienst des gegenseitigen Wohles aller Gesellschaftsmitglieder steht (ebd., 20). Darüber hinaus ist Rawls’ Gesellschaftsbegriff normativ vorgeprägt, insofern er Grundmerkmale demokratischer Gesellschaften aufweist. In Politischer Liberalismus beschreibt Rawls „die Idee der Gesellschaft als eines fairen generationenübergreifenden Systems der Kooperation“ (Rawls 1998, 81) und betont die grundlegende Rolle dieser Gesellschaftsvorstellung für die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness. Damit erklärt Rawls eine Gesellschaftsidee, die das normative Konzept der Kooperation innerlich mit der Idee intergenerationeller Gerechtigkeit verbindet, zum systematischen Ausgangspunkt aller weiteren grundlegenden Ideen seines gerechtigkeitstheoretischen Ansatzes. Gleichzeitig verbindet Rawls damit die Annahme, dass eine solche normative Gesellschaftsvorstellung „in der öffentlichen Kultur einer demokratischen Gesellschaft impliziert ist“ (ebd.). Es ist demnach Rawls’ expliziter Anspruch, eine Gerechtigkeitskonzeption für den spezifischen gesellschaftlichen Rahmen einer liberalen konstitutionellen

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Demokratie zu entwickeln (ebd., 36–37). Diesen grundlegenden Gesellschaftsbegriff buchstabiert Rawls dann in seiner Konzeption der wohlgeordneten Gesellschaft weiter aus und spezifiziert ihn im Blick auf eine öffentlich wirksame Gerechtigkeitskonzeption (ebd., 105). Der Begriff der wohlgeordneten Gesellschaft und seine Transformation in Rawls’ Denken Rawls (1975, 24) führt den Begriff der wohlgeordneten Gesellschaft bereits am Anfang von Eine Theorie der Gerechtigkeit ein und erklärt dabei die wohlgeordnete Gesellschaft zum Hauptbezugspunkt und Grundanliegen seiner philosophischen Überlegungen im Rahmen der Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness. Als wohlgeordnet begreift Rawls eine Gesellschaft, „wenn sie nicht nur auf das Wohl ihrer Mitglieder zugeschnitten ist, sondern auch von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung wirksam gesteuert wird“ (ebd., 21). Diese von allen in einer Gesellschaft zusammenlebenden Menschen geteilte Gerechtigkeitsvorstellung kommt in den jeweiligen Grundsätzen der Gerechtigkeit zum Ausdruck. Rawls’ Konzeption der wohlgeordneten Gesellschaft ist dabei durch mehrere grundlegende Merkmale gekennzeichnet. In Politischer Liberalismus unterscheidet Rawls in diesem Zusammenhang drei zentrale Bedingungen, die im Fall einer wohlgeordneten Gesellschaft erfüllt sein müssen: Da die Gerechtigkeitsvorstellung von allen Gesellschaftsmitgliedern öffentlich geteilt und akzeptiert wird, zeichnet sich eine wohlgeordnete Gesellschaft erstens dadurch aus, dass jeder exakt dieselben Gerechtigkeitsgrundsätze anerkennt und weiß, dass auch jeder andere diese Grundsätze akzeptiert (vgl. Rawls 1998, 105). Zweitens wird öffentlich anerkannt bzw. gehen alle aus guten Gründen davon aus, dass die gesellschaftliche Grundstruktur tatsächlich den von allen Gesellschaftsmitgliedern anerkannten Gerechtigkeitsgrundsätzen entspricht (vgl. ebd.). Und drittens verfügen alle Bürger*innen innerhalb einer wohlgeordneten Gesellschaft über einen „normal wirksamen Gerechtigkeitssinn“ (ebd.), so dass alle vernünftigerweise von allen anderen erwarten können, dass sie in Übereinstimmung mit den

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­ erechtigkeitsgrundsätzen handeln, die in den G grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen verankert sind. Diese drei Bedingungen stehen damit allgemein unter der Prämisse einer öffentlich wirksamen und einheitlich anerkannten Gerechtigkeitsvorstellung. Um die auf diese Weise definierte wohlgeordnete Gesellschaft als hinreichend stabil auszuweisen leitet Rawls den Gerechtigkeitssinn der Bürger*innen aus einer moralpsychologischen Analyse der Theorie des moralischen Lernens sowie aus den natürlichen Fähigkeiten und Neigungen des Menschen im Allgemeinen her (vgl. Rawls 1975, 494–556). Somit entspricht die Konzeption der wohlgeordneten Gesellschaft zwar auf der einen Seite auch nach Rawls’ eigener Aussage einer „stark idealisierten“ (Rawls 1998, 105) Vorstellung gesellschaftlichen Zusammenlebens. Auf der anderen Seite geht mit dieser abstrakten Definition jedoch der Vorteil einher, dass die Bedingungen dafür, dass eine Gesellschaft als wohlgeordnet begriffen werden kann, unabhängig vom konkreten Gehalt der jeweiligen Gerechtigkeitsgrundsätze bestimmt werden können, so dass unter die Kategorie der wohlgeordneten Gesellschaft prinzipiell auch nicht liberal-demokratisch verfasste Gesellschaften subsumiert werden können, was dem Konzept insgesamt einen möglichst umfassenden und inklusiven Charakter verleiht. Im Recht der Völker überträgt Rawls (2002, 79) dementsprechend die drei erläuterten Bedingungen in den zwischenstaatlichen Raum, indem er die weitere Bestimmung hinzufügt, dass wohlgeordnete Gesellschaften ihre Ziele nicht aggressiv nach außen hin verfolgen. Dadurch weitet er die drei für den Binnenbereich einer einzelnen Gesellschaft aufgestellten Bedingungen in die internationale Staatengesellschaft hinein aus. Darüber hinaus hat Rawls den Begriff der wohlgeordneten Gesellschaft als grundlegenden Bezugspunkt seiner politischen Philosophie und Gerechtigkeitstheorie im Umbruch von Eine Theorie der Gerechtigkeit zum Politischen Liberalismus einer grundlegenden Revision unterzogen, indem er ihn in entscheidenden Hinsichten neu ausgerichtet und im Blick auf von ihm selbst diagnostizierte theoretische

S. Faets

­chwachstellen reformuliert hat. In der EinS leitung von 1992 zu Politischer Liberalismus bezeichnet Rawls die in Eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelte Konzeption der wohlgeordneten Gesellschaft als „unrealistische Idee“ (Rawls 1998, 12). Die Begründung, die Rawls für diese Selbstkritik anführt, besteht darin, dass er in Eine Theorie der Gerechtigkeit die Gerechtigkeitsvorstellung, die im Rahmen der wohlgeordneten Gesellschaft gesamtgesellschaftlich akzeptiert wird, als eine von allen Gesellschaftsmitgliedern geteilte umfassende Lehre konzeptualisiert habe. Dagegen geht Rawls (ebd., 36) im Politischen Liberalismus vom sogenannten Faktum eines vernünftigen Pluralismus aus, welcher ihm zufolge die Grundstruktur einer wohlgeordneten Gesellschaft kennzeichnet. Damit wird ausgedrückt, dass im Rahmen einer wohlgeordneten Gesellschaft nicht, wie in Eine Theorie der Gerechtigkeit noch angenommen, alle Bürger*innen dieselbe vernünftige umfassende Lehre vertreten, auf deren Grundlage sie dann der öffentlichen Gerechtigkeitskonzeption zustimmen (ebd., 12). Das Faktum des vernünftigen Pluralismus besagt vielmehr, dass die Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft eine Vielzahl verschiedener, einander ausschließender, aber dennoch vernünftiger Lehren und Weltanschauungen bejahen, wozu auch „konträre religiöse und nicht-religiöse, aber gleichwohl vernünftige umfassende Lehren“ (ebd., 39) gehören. Als Kriterium für die Vernünftigkeit einer umfassenden Lehre führt Rawls an, dass sie im Einklang mit den „wesentlichen Merkmale[n] einer demokratischen Ordnung“ (ebd., 13) steht. Diese Pluralität vernünftiger umfassender Lehren begreift Rawls dabei als das Produkt des natürlichen Vernunftgebrauchs des Menschen im Kontext der freien Institutionen einer konstitutionellen Demokratie (ebd.), so dass der Pluralismus vernünftiger umfassender Lehren als das Ergebnis der Verwirklichung der Gerechtigkeitsgrundsätze der Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness verstanden werden muss. Aus diesem Grund arbeitet Rawls in Politischer Liberalismus das Konzept der

32  Gesellschaft/Gesellschaftsvertrag/wohlgeordnete Gesellschaft

­ohlgeordneten Gesellschaft um, indem er w die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness von einer umfassenden Lehre in eine, wie er schreibt, politische Gerechtigkeitskonzeption umformuliert. Einer solchen politischen Gerechtigkeitskonzeption sollen die Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft auf der Grundlage eines übergreifenden Konsenses unabhängig von den durch sie vertretenen religiösen oder nicht-religiösen umfassenden Lehren zustimmen können, da eine solche politische Gerechtigkeitskonzeption insofern freistehend ist, als sie selbst von den verschiedenen umfassenden Lehren abstrahiert und nicht aus ihnen abgeleitet bzw. als Teil von ihnen begriffen werden kann (ebd., 40). Mit diesen konzeptuellen Umstellungen verfolgt Rawls das theoretische Ziel, seine Idee der wohlgeordneten Gesellschaft an die tatsächlichen Anforderungen eines welt-

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anschaulichen und religiösen Pluralismus im Rahmen moderner Gesellschaften ­ anzupassen und ­ dadurch die Widersprüche seiner eigenen Theorie zu überwinden, ohne die Hauptmerkmale und die Stabilität der Idee der wohlgeordneten Gesellschaft aufgeben zu müssen. Gleichzeitig erkennt Rawls damit die legitime Existenz mehrerer vernünftiger politischer Gerechtigkeitskonzeptionen in ein und derselben Gesellschaft an (ebd., 34).

Literatur Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1975 (engl. 1971). Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: Das Recht der Völker. Berlin/New York 2002 (engl. 1999).

Gewissensfreiheit

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Johannes J. Frühbauer

Die Freiheit des Gewissens ist zusammen mit der Glaubens- bzw. Religionsfreiheit in westlich-liberalen Gesellschaften ein zentraler Wert mit Verfassungsrang. Sie findet sich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (Art. 18) und in der Regel auch in den Verfassungstexten liberaler und demokratischer Staaten (Art. 4 Abs 1. im Grundgesetz der Bundesrepublik, indirekt im ersten Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten). Vor dem Hintergrund ihrer grundlegenden Bedeutung für eine liberale Gesellschaftsordnung ist es mehr als naheliegend, wenn John Rawls den Anspruch auf Gewissensfreiheit in Kap. 4 der Theorie der Gerechtigkeit, das sich ausführlich mit den gleichen Freiheitsansprüchen von Bürger*innen befasst, zum Thema macht (vgl. Rawls 1993, 223–290). Auch in seinen späteren Schriften greift Rawls die Frage nach der Gewissensfreiheit wiederum auf, wenn auch nicht in derselben Ausführlichkeit (vgl. Rawls 1994; Rawls 2003a; Rawls 2003b). In der Theorie der Gerechtigkeit befasst Rawls sich hier mit drei Problemen der gleichen Freiheit für alle: „gleiche Gewissensfreiheit, politische Gerechtigkeit

J. J. Frühbauer (*)  Katholische Stiftungshochschule München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

und politische Gleichberechtigung“; überdies mit der Frage nach der gleichen persönlichen Freiheit und ihrer Beziehung zur Gesetzlichkeit (vgl. Rawls 1993, 223). Zum Begriff der Freiheit Bevor Rawls sich eingehender mit dem Begriff der Gewissensfreiheit und deren Bedeutung im Kontext seiner Gerechtigkeitstheorie befasst, legt er zunächst dar, was aus seiner Sicht zum Begriff der Freiheit zu sagen ist. Der Grundsatz der gleichen Freiheit für alle, wie ihn das erste Gerechtigkeitsprinzip formuliert, ist der Hauptgrundsatz für die verfassungsgebende Versammlung im Rahmen des von Rawls konzipierten „Vier-Stufen-Ganges“ (vgl. ebd., 223– 229). Dieser Grundsatz erfordert in erster Linie, dass die persönlichen Grundfreiheiten und die Gewissens- und Gedankenfreiheit zu schützen sind und das politische Geschehen im Ganzen ein gerechtes Verfahren sein soll. In der Verfassung wird somit ein verlässlicher allgemeiner Status gleicher Bürger*innenrechte errichtet und infolgedessen die politische Gerechtigkeit verwirklicht (vgl. ebd., 227). Rawls unterscheidet in seiner Ausdifferenzierung des Freiheitsbegriffs zwischen politischer Freiheit, der Gedanken- und Gewissensfreiheit, der persönlichen Freiheit sowie den Bürger*innenrechten. Letztgenannte haben Vorrang vor der politischen Freiheit gleichberechtigt am politischen Leben mitzuwirken und sollten dieser „nicht geopfert werden“ (ebd., 230).

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_33

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Zur Grundkonzeption von Freiheit führt Rawls aus, dass sich diese mittels dreier Begriffe erklären ließe: Erstens geht es um die „Handelnden, die frei sein sollen“, zweitens um „Beschränkungen, von denen sie frei sein sollen“, und drittens darum, „was ihnen frei gestellt sein soll“ (ebd., 230). Was erforderlich über Freiheit zu sagen ist, werde laut Rawls über diese drei Elemente bestimmt. Ein weiteres Verständnis erschließe sich oft aus dem Zusammenhang (vgl. ebd., 230). Wird Freiheit nun allgemein bestimmt, dann hat diese Bestimmung die folgende Form: „Dieser oder jener Mensch (oder Menschen) ist frei (oder nicht frei) von dieser oder jener Einschränkung (oder Einschränkungen) und kann das und das tun (oder lassen). Es können natürliche Personen wie auch Vereinigungen frei oder unfrei sein, und die Einschränkungen können von gesetzlichen Pflichten und Verboten bis zum Druck der öffentlichen Meinung und sonstigen sozialen Einflüssen reichen“ (ebd., 230). Rawls erörtert in seinen weiteren Ausführungen zur Freiheit ihren Zusammenhang mit verfassungsmäßigen und gesetzlichen Beschränkungen. Freiheit meint zudem eine bestimmte Struktur der Institutionen sowie ein bestimmtes System öffentlicher Regeln, mit denen Rechte und Pflichten festgelegt werden (vgl. ebd., 231). Menschen sind in Rawls’ Verständnis dann zu etwas frei, „wenn sie frei sind von bestimmten Zwängen, es zu tun oder zu lassen, und wenn ihr Tun oder Lassen vor Eingriffen durch andere geschützt ist“ (ebd., 231). Zum Freiheitsverständnis bei Rawls gehört zudem, dass die Grundfreiheiten insgesamt als System zu betrachten sind. Somit hänge der Wert einer Grundfreiheit von der Bestimmung der übrigen Freiheiten ab. Rawls setzt voraus, „dass es unter einigermaßen günstigen Bedingungen stets eine Bestimmung dieser Freiheiten derart gibt, dass in den wichtigsten Punkten alle gleichzeitig verwirklicht und die grundlegenden Interessen geschützt werden können; oder mindestens, dass dies in absehbarer Zeit möglich wird, falls die beiden Grundsätze gemäß den Vorrangregeln konsequent befolgt werden“ (Rawls 1993, 231; Hervorh. J.J.F.). Werden die Grundfreiheiten auf diese Weise be-

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stimmt, so sei zumeist klar, ob eine der Grundfreiheiten durch eine Institution oder durch ein Gesetz tatsächlich eingeschränkt oder nur geregelt werde (vgl. ebd., 231). Freiheiten müssen für alle Bürger*innen die gleichen sein. Und doch können die gleichen Freiheiten laut Rawls verschieden umfangreich sein (vgl. Rawls 1993, 232). Gewissensfreiheit als Teil der Grundfreiheit Die Theorie der Gerechtigkeit liefere, so Rawls’ grundlegende These, „starke Argumente für eine gleiche Gewissensfreiheit“ (Rawls 1993, 241). Den Bürger*innen muss im Rahmen ihres Rechts auf Gewissensfreiheit nicht nur erlaubt sein, etwas zu tun oder zu lassen. Vielmehr haben sowohl die Regierung als auch die Mitbürger*innen die gesetzliche Verpflichtung der Praxis der Gewissensfreiheit von Bürger*innen keine Hindernisse in den Weg zu legen (vgl. Rawls 1993, 231). Rawls definiert die (gesetzlich festgelegte) Gewissensfreiheit als Freiheit der Menschen, „ihren moralischen, philosophischen oder religiösen Interessen nachgehen [zu] können, ohne gesetzlich verpflichtet zu sein, an bestimmten religiösen oder anderen Handlungen teilzunehmen“ (ebd.). Überdies sind Menschen gesetzlich verpflichtet, sich nicht in durch die Gewissensfreiheit geschützte Belange der Mitbürger*innen einzumischen (vgl. ebd.). Als Resultat der wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteile ist die Frage der gleichen Gewissensfreiheit für alle aus Rawls’ Sicht entschieden. Mit der Gewissensfreiheit lasse sich die Art der Begründung des Grundsatzes der gleichen Freiheit paradigmatisch aufzeigen. Diese Überlegung lasse sich folglich auf andere Freiheiten ausdehnen, jedoch nicht immer mit der gleichen Überzeugungskraft. „Was also die Gewissensfreiheit betrifft, so scheint es keinem Zweifel zu unterliegen, dass die Vertragsparteien Grundsätze wählen müssen, die ihnen religiöse und moralische Freiheiten sichern“ (Rawls 1993, 235). Entsprechend der Wirkung des Schleiers des Nichtwissens kennen sie weder „ihre religiösen und moralischen Überzeugungen oder den Inhalt ihrer persönlichen moralischen oder religiösen Verpflichtungen. Sie wissen nicht einmal, dass sie sich als Trä-

33 Gewissensfreiheit

ger solcher Verpflichtungen vorstellen“ (ebd., 235). Was die Urzustandsakteure in ihrer Entscheidungssituation auch nicht wissen, ist, ob sie zu einer Mehrheit oder Minderheit mit ihren religiösen oder moralischen Auffassungen gehören (vgl. ebd. 235). Und Rawls gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass sie ihre Freiheit keinesfalls aufs Spiel setzen können, „in dem sie der vorherrschenden religiösen oder moralischen Lehre die Verfolgung oder Unterdrückung anderer gestatten“; selbst wenn es wahrscheinlicher sein mag zur Mehrheit zu gehören als nicht zu ihr, wäre es höchtsproblematisch, würde dies doch sehr einem „Hazardspiel“ gleichkommen (Rawls 1993, 235). Begründete Beschränkung der Gewissensfreiheit Die gemeinsamen Interessen der Mitglieder einer Gesellschaft an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit bilden die Grenze der Gewissensfreiheit. Rawls zufolge lasse sich diese Beschränkung ohne weiteres aus der Vertragstheorie ableiten (vgl. Rawls 1993, 241). Dieses gemeinsame Interesse der Bürger*innen macht sich letztlich der Staat zu eigen. Folglich muss der Regierung eines Staates das Recht auf Bewahrung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zukommen. Nur so kann „sie ihrer Pflicht zur unparteilichen Aufrechterhaltung der Bedingungen nachkommen  (…), die notwendig sind, damit jeder seinen Interessen nachgehen und die von ihm empfundenen Verpflichtungen erfüllen kann“ (Rawls 1993, 242). Die Gewissensfreiheit sei jedoch nur dann zu beschränken, wenn vernünftigerweise zu erwarten sei, dass bei einer Nichtbeschränkung die öffentliche Ordnung beeinträchtigt würde (vgl. ebd., 242). Ganz allgemein gilt für Rawls, dass eine Grundfreiheit, die unter den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz fällt, ausschließlich um der Freiheit selbst willen eingeschränkt werden dürfe. Und zwar entweder um derselben oder einer anderen Grundfreiheit wegen – oder zur Optimierung des ganzen Systems der Freiheiten. Die Frage der Optimierung der Freiheiten wiederum hänge allein von der Bestimmung und vom Umfang der einzelnen Freiheiten ab (vgl. ebd., 232). Rawls stellt mit Blick auf die Beschränkung

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der Gewissensfreiheit auch die Überlegung an, ob man hinsichtlich des Grundsatzes der gleichen Freiheit einwenden könnte, dass etwa religiöse Sekten aufgrund ihrer Überzeugungsgehalte keinem Grundsatz zur Beschränkung ihres Absolutheitsanspruchs zustimmen könnten. Die gegenüber dem religiösen und göttlichen Gesetz empfundene Verpflichtung sei absolut und ließe von diesem Standpunkt aus keinen Kompromiss zwischen den Anhänger*innen verschiedener Glaubensrichtungen zu. Rawls ist hier der Auffassung, dass man von anderen nicht erwarten könne, dass sie sich mit einer geringeren Freiheit zufriedengeben könnten. Und noch viel weniger könne man von ihnen verlangen, dass sie andere als die Autorität für ihre religiösen Pflichten oder moralischen Verpflichtungen anerkennen würden. Rawls betont in diesem Zusammenhang die kategorische Bedeutung des Grundsatzes der gleichen Freiheit für alle (vgl. Rawls 1993, 237). Überdies dürfe der Staat keine bestimmte Religion bevorzugen, „und es dürfen keinerlei Nachteile damit verbunden sein, dass jemand Mitglied einer bestimmten Religionsgemeinschaft ist oder nicht ist“ (ebd., 241). In Verbindung mit der Gewissensfreiheit und ihrer Beschränkungsmöglichkeiten erörtert Rawls schließlich noch die Frage von Toleranz und Intoleranz (vgl. ebd., 241–251). Der Grundsatz der Aufrechterhaltung der gleichen Freiheit für alle schließt aus, Intoleranten die Freiheit zu verweigern, es sei denn die Verfassung selbst wäre in Gefahr (vgl. ebd., 249). Was die Gewissensfreiheit umfasst Rawls räumt der Gewissensfreiheit einen hohen Rang ein. Nicht zuletzt deshalb hat sie bei ihm die erkennbare paradigmatische Bedeutung für Grundfreiheiten an sich. Allerdings bleibt Rawls in seinen Überlegungen zu den Inhalten der Gewissensfreiheit doch recht theoretisch und abstrakt. Was wir wissen, ist, dass er diese auf die philosophischen, moralischen und religiösen Gehalte in der Betätigung des Menschen bezieht. Was wir auch wissen, ist die kategorische Bedeutung die Rawls der Freiheit des Menschen beimisst, seinen philosophischen, moralischen und religiösen Überzeugungen uneingeschränkt folgen zu können, weil von diesen eine hohe Bindungswirkung ausgeht. Das

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heißt: Rawls charakterisiert religiöse oder moralische Verpflichtungen als absolut bindend – mit der Konsequenz, dass man ihre Erfüllung nicht von anderen Interessen abhängig machen könne (vgl. Rawls 1993, 236) Diese Freiheit zu vernachlässigen würde implizieren, dass man seine religiösen oder moralischen Überzeugungen nicht ernst nehmen würde (vgl. ebd. 235). In seinem kritischen Beitrag zu Rawls’ Konzeption von Freiheit bzw. Grundfreiheiten, stellt der Rechtswissenschaftler H.L.A Hart die Überlegung an, ob etwa sexuelle Freiheit oder die Freiheit zum Alkohol- und Drogenkonsum, da diese nicht zu den Grundfreiheiten zu rechnen sind, unter die Gewissensfreiheit zu zählen sind – und zwar im Sinne der moralischen Dimension der Gewissensfreiheit. Andere Auffassungen, so Hart, würden diese Freiheiten der Freiheit der Person zuschreiben (vgl. Hart 1998, 127 Fn 9). Mit diesem konkretisierenden Beispiel bei Hare lässt sich zumindest die Problematik des bloß Ungefähren und Abstrakten in der Charakterisierung der Gewissensfreiheit bei Rawls aufzeigen. Auch im Kontext des politischen Liberalismus wird Rawls nicht konkreter und bleibt auch hier weiterhin im Allgemeinen, wenn er Gewissensfreiheit, nunmehr als Grundgut qualifiziert, in Verbindung mit den Konzeptionen des Guten setzt (vgl. Rawls 1994, 179– 186). Zusammenfassung und Ausblick Die Gewissensfreiheit gehört zu jener Reihe an Begriffen, die eher selten im Rekurs auf das Werk von John Rawls erörtert werden. Sie gehört nicht zu seinen prominenten und genuinen Wortbildungen wie etwa Urzustand, Differenzprinzip oder übergreifender Konsens, denen im

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Diskurs seit jeher hohe Aufmerksamkeit zukommt. Insofern Rawls der Gewissensfreiheit jedoch paradigmatische Bedeutung für den Anspruch auf im Urzustand festgelegte gleiche Grundfreiheiten für alle beimisst, ist das Desinteresse an der Auseinandersetzung mit der Gewissensfreiheit zumindest verwunderlich. Thomas Pogge etwa geht in seiner Analyse von Kap. 4 der Theorie der Gerechtigkeit nur mit einem Satz auf den Aspekt der Gewissensfreiheit ein, obwohl diese in der Darstellung breiten Raum einnimmt (vgl. Pogge 1998, 151). Ein Hinderungsgrund für die eingehendere Auseinandersetzung mit Rawls’ Konzeption der Gewissensfreiheit könnte der Tatsache geschuldet sein, dass er mit seinen Überlegungen zu sehr im Allgemeinen und Grundsätzlichen verbleibt, ohne das Prinzip der Gewissensfreiheit auf konkrete Anwendungssituationen zu veranschaulichen oder zu problematisieren.

Literatur Hart, H.L.A.: Rawls über Freiheit und ihren Vorrang. In: Otfried Höffe (Hg.): John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Berlin 1998, 117–147. Pogge, Thomas W.: Gleiche Freiheit für alle? In: Otfried Höffe (Hg.): John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Berlin 1998, 149–168. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. 71993 (engl. 1971). Rawls, John: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Hg. Wilfried Hinsch. Frankfurt a.M. 1994. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a.M. 2003a (engl. 1993). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf. Frankfurt a.M. 2003b (engl. 2001).

Gleichheit/ Chancengleichheit

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Tim Reiß

Der Begriff der Gleichheit spielt in Rawls’ Gerechtigkeitstheorie auf mehreren Ebenen eine zentrale Rolle. 1) Rawls sieht den Grund der Gleichheit aller Personen in ihrer moralischen Personalität. 2) Aus dieser basalen Gleichheit schließt Rawls auf diejenigen egalitaristischen Verteilungsprinzipien, die den Inhalt von Gerechtigkeit als Fairneß ausmachen. 3) Rawls unterscheidet zwischen einem liberalen und einem demokratischen Gleichheitsbegriff sowie zwischen formaler und fairer Chancengleichheit. 4) Umstritten ist, ob und inwiefern Rawls den starken Egalitarismus seiner Gerechtigkeitstheorie im Spätwerk abschwächt.

Der Grund der Gleichheit: Moralische Personalität Die Gleichheit aller Personen bzw. Bürger*innen zählt zu den grundlegenden Prämissen der Theorie der Gerechtigkeit. Grundlage der Gleichheit ist, dass alle Personen „in gleicher Weise moralische Subjekte“ (Rawls 1979, 364) sind. Der Grund der Gleichheit ist ihre moralische Personalität. Rawls geht davon aus,

T. Reiß (*)  Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

dass alle Personen über die beiden moralischen Vermögen – den Gerechtigkeitssinn und die Fähigkeit, eine Konzeption des Guten auszubilden – im notwendigen Maß verfügen (Rawls 1979, 36 f., 548–554; Rawls 1998, 85 f., 157 f., 191; Rawls 2003, 46). Man beachte: Da Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption eine Antwort auf die Frage formulieren möchte, welche Verpflichtungen zwischen Bürger*innen bestehen, die „als lebenslang uneingeschränkt kooperative Mitglieder einer Gesellschaft betrachtet werden“ (Rawls 1998, 74, vgl. 81–85; vgl. Rawls 2003, 28), folgt qua Voraussetzung, dass alle Bürger*innen über die beiden moralischen Vermögen im Mindestmaß verfügen (vgl. Rawls 1998; Rawls 1992, 128; Rawls 1998, 85 f., 277 f.). Denn diese gehören zu jenen Vermögen, die laut Rawls für uneingeschränkte Kooperationsfähigkeit erforderlich sind (Rawls 1998, 85). Das heißt: Aus der Zuschreibung des Status eines uneingeschränkt kooperativen Mitglieds folgt die Zuschreibung beider moralischer Vermögen. Es ist wichtig zu betonen, dass daraus umgekehrt nicht folgt, dass die Fähigkeit, uneingeschränkt kooperierendes Mitglied zu sein, auch notwendig ist, um beide moralischen Vermögen zugesprochen zu bekommen. Es folgt daraus auch noch keine Antwort auf die Frage, welche Verpflichtungen gegenüber denjenigen bestehen, denen der Status eines uneingeschränkt kooperativen Mitglieds und die bei-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_34

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den moralischen Vermögen nicht zugeschrieben werden (vgl. Rawls 1979, 549, 556; Rawls 1998, 88; vgl. Freeman 2007, 286 f.). Gleichwohl ist in der Rezeption vielfach kritisch darauf hingewiesen worden, dass in dieser Fokussierung eine Verengung der Gerechtigkeitstheorie liegt. Wie lassen sich innerhalb einer kontraktualistischen Gerechtigkeitstheorie Verpflichtungen denjenigen Gesellschaftsmitgliedern gegenüber begründen, die – nach dem Rawlsschen Begriff – (zeitweilig oder dauerhaft) nicht uneingeschränkt kooperierend bzw. kooperationsfähig sind? Rawls versteht dies als ein Problem der „Ausweitung“ (Rawls 1992, 122; Rawls 1998, 87) einer zunächst ausschließlich im Blick auf „uneingeschränkt kooperative Mitglieder“ formulierten Gerechtigkeitstheorie. Gegen dieses Vorgehen ist der Einwand formuliert worden, dass eine stärker inklusive Fassung des kontraktualistischen Gerechtigkeitsbegriffes substantiellere Änderungen verlangt: Bereits der bei Rawls zugrunde gelegte Begriff gesellschaftlicher Kooperation ist viel zu eng (vgl. Hartley 2018). Aus der Gleichheit aller Personen folgt nun, dass, wenn es um konkrete Verteilungsfragen geht, zunächst stets das Gebot der Gleichverteilung besteht und Ungleichheiten begründungspflichtig sind. Ungleichheiten in der Verteilung von Gütern müssen der grundlegenden wie anspruchsvollen Bedingung genügen, dass sie selbst wiederum vor dem „Standpunkt der gleichen Bürger“ (Rawls 2003, 206) gerechtfertigt werden können. Das bekannte ‚Darstellungsmittel‘ des Urzustands baut das Gebot der Gleichbehandlung deshalb in die Bedingungen ein, denen die Verhandlungen der Parteien unterliegen: Gleichheit der Vertragspartner wird im Urzustand durch den „Schleier der Unwissenheit“ (Rawls 1998, 157 f.; vgl. Rawls 1979, 159–166) hergestellt, der den Parteien die Kenntnis aller in moralischer Hinsicht irrelevanten persönlichen Eigenschaften wie auch die Kenntnis der eigenen sozialen Stellung entzieht (Rawls 1998, 91–93). Der Schleier der Unwissenheit bringt damit Rawls’ Grundüberzeugung zum Ausdruck, dass die Bürger*innen

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in der einzigen für Fragen der Gerechtigkeit tatsächlich relevanten Hinsicht – dem Verfügen über die beiden moralischen Vermögen – gleich sind. Begründet Rawls seine Gerechtigkeitstheorie zunächst mit Verweis auf den Begriff der gleichen und freien moralischen Person, so bezieht er sich später, nach seiner Wendung zum politischen Liberalismus, auf den Begriff der gleichen und freien Bürger*in. Damit möchte Rawls unterstreichen, dass die Begründung der Gerechtigkeitsprinzipien nicht mehr – wie etwa noch in den Dewey-Vorlesungen (1980) – mit einem philosophisch umstrittenen, kantianischen Personenbegriff arbeitet, sondern mit einem politischen Personenbegriff (vgl. Weithman 2010 und 2015), d. h. mit der „Idee demokratischer Bürger als freier und gleicher“ (Rawls 1998, 69). Die „Vorstellung der Bürger […] als freier und gleicher Personen“ (ebd., 80) und damit die „Idee der Gleichheit“ (ebd., 157) gehört Rawls zufolge nämlich zu jenen grundlegenden Ideen und Vorstellungen, die sich in der politischen Kultur demokratischer Gesellschaften finden lassen und auf die sich die Ausarbeitung einer politischen Gerechtigkeitskonzeption stützt. Der politische Liberalismus geht „von einer Idee der Person aus, die in der öffentlichen politischen Kultur impliziert ist“ (ebd., 87). Rawls’ Anspruch ist es, dass sein Personenbegriff beschreibt, was die Bürger*innen selbst über sich als Bürger*innen denken.

Inhalt der Gerechtigkeitskonzeption: Gleichheit der Verteilung Aus der Gleichheit aller Bürger*innen ergibt sich laut Rawls folgender allgemeiner Gerechtigkeitsgrundsatz: „Alle sozialen Werte – Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung – sind gleichmäßig zu verteilen, soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht“ (Rawls 1979, 83). Dieser allgemeine Gerechtigkeitsgrundsatz ist somit eine Konkretisierung des obersten Prinzips, dass jede ungleiche

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Verteilung vor dem „Standpunkt der gleichen Bürger“ (Rawls 2003, 206) gerechtfertigt werden können muss. Dies ist genau dann möglich – so der für Rawls’ Gerechtigkeitstheorie grundlegende Gedanke –, wenn jede*r einzelne Bürger*in einer ungleichen Verteilung deshalb zustimmen kann, weil sie*er selbst dadurch einen Vorteil erlangt. Dieser allgemeine Gerechtigkeitsgrundsatz lässt sich nun seinerseits zu den beiden bekannten Gerechtigkeitsprinzipien, die den Inhalt der Konzeption Gerechtigkeit als Fairneß ausmachen, konkretisieren: Vorrang der gleichen Grundfreiheiten und faire Chancengleichheit in Kombination mit dem Differenzprinzip. Die Gewährleistung gleicher Rechte auf das „umfangreichste“ (Rawls 1979, 282) bzw. auf ein „völlig adäquates“ System von Grundfreiheiten (Rawls 1998, 453) ist dabei unmittelbar Ausdruck der gleichen Achtung aller Bürger*innen (Rawls 1979, 555). Aufgrund der Unmittelbarkeit des Zusammenhangs zwischen gleicher Achtung und gleichen Grundfreiheiten genießt der erste Gerechtigkeitsgrundsatz einen absoluten (‚lexikalischen‘) Vorrang vor dem zweiten. Durch den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz werden zudem nicht nur die gleichen Grundfreiheiten, sondern auch der ‚faire Wert‘ der politischen Grundfreiheiten garantiert (die in dieser Hinsicht unter den Grundfreiheiten eine Sonderstellung besitzen). Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz beinhaltet das sog. Differenzprinzip, das besagt, dass jede ungleiche Verteilung der Bedingung genügen muss, dass diejenigen Bürger*innen, die durch die ungleiche Verteilung relativ am schlechtesten gestellt werden, im Ergebnis absolut bessergestellt sind als bei angenommener Gleichverteilung. Es könnte zunächst so erscheinen, als sei für Fragen der Verteilungsgerechtigkeit im engeren Sinn – also die Verteilung gesellschaftlich erzeugten Reichtums und materieller Güter – alleine das Differenzprinzip relevant. Es darf aber nicht übersehen werden, dass bereits der erste Gerechtigkeitsgrundsatz und auch das Prinzip der fairen Chancengleichheit ganz erhebliche Implikationen für Fragen distributiver Ge-

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rechtigkeit besitzen. Insbesondere begrenzt die vom ersten Gerechtigkeitsgrundsatz umfasste Garantie des fairen Werts politischer Freiheiten die Möglichkeit gravierender Ungleichverteilung. Denn der faire Wert politischer Freiheiten wird durch eine starke Ungleichverteilung materieller Güter regelmäßig untergraben. Es kann also durchaus sein, dass im Rahmen von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie bestimmte Ungleichheiten, die dem Differenzprinzip für sich genommen durchaus genügen würden, gleichwohl durch den dem Differenzprinzip lexikalisch vorgeordneten ersten Gerechtigkeitsgrundsatz (und auch durch das dem Differenzprinzip ebenfalls kategorisch vorgeordnete Prinzip fairer Chancengleichheit) verboten werden (White 2014, Freeman 2018). Zwischen beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen besteht überdies eine interne Beziehung. Der lexikalische Vorrang der Grundfreiheiten gegenüber dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz bedeutet gerade nicht, dass Verteilungsfragen als sekundär angesehen würden. Im Gegenteil: Rawls lässt sich so verstehen, dass in der durch den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz geleisteten Garantie des fairen Werts politischer Freiheiten zugleich die beste indirekte Garantie des fairen Werts auch der anderen Grundfreiheiten liegt. Während nämlich die Grundfreiheiten verfassungsunmittelbar gewährleistet werden, gibt es eine Reihe von sowohl pragmatischen als auch demokratietheoretischen Gründen dafür, dass über Fragen der Verteilung materieller Güter und damit über die konkrete Umsetzung des Differenzprinzips auf der Ebene der Gesetzgebung entschieden wird (Rawls 1998, 330–332, 458–462). Die Garantie des fairen Werts politischer Freiheiten verspricht deshalb die beste Aussicht darauf, dass durch den Gebrauch dieser Freiheiten auch der faire Wert der anderen Grundfreiheiten legislativ gesichert wird. Die besondere Bedeutung der politischen Grundfreiheiten leitet sich insofern aus „ihrer zentralen Stellung bei der Regulierung der gesamten Grundstruktur ab“ (Rawls 1998, 426, vgl. Rawls 1998, 450 f.; vgl. Pogge 1994, 127).

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Liberale vs. demokratische Gleichheit: Was bedeutet faire Chancengleichheit? Rawls unterscheidet an zentraler Stelle in der Theorie der Gerechtigkeit drei unterschiedliche Interpretationen des Gleichheitsbegriffs: Die Interpretation der Gleichheit im ‚System der natürlichen Freiheit‘, die liberale Interpretation des Gleichheitsbegriffs und den demokratischen Begriff der Gleichheit (vgl. Rawls 1979, 92–95, 121–129; vgl. schon Rawls 1968). Die drei Begriffe lassen sich als eine logische Abfolge lesen, die eine dialektische Entfaltung des Gleichheitsbegriffs widerspiegelt. Die beiden ersten Gleichheitsbegriffe sind nämlich Rawls zufolge „instabil“ (Rawls 1979, 95), d. h. sie durchzieht eine Spannung, die jeweils der nächsthöhere Gleichheitsbegriff auflöst. Das bedeutet, dass die Bestimmung von Gleichheit mit jedem Schritt gehaltvoller wird. Jede gesellschaftliche Ordnung, die dem demokratischen Gleichheitsbegriff genügt, genügt auch dem liberalen Gleichheitsbegriff (und dem formalen Begriff der Gleichheit des Systems der natürlichen Freiheit), aber nicht umgekehrt. Das System der natürlichen Freiheit umfasst ein Marktsystem und das Prinzip formaler Chancengleichheit. Dieses Prinzip fordert, dass der Zugang zu allen gesellschaftlichen Positionen allein von der jeweiligen Qualifikation abhängig sein sollte. Es verbietet somit Diskriminierungen aufgrund persönlicher Eigenschaften. Die Leitvorstellung in diesem System ist die „Vorstellung der den Fähigen offenstehenden Laufbahnen“ (ebd., 92). Die liberale Kritik am formalen Begriff der Chancengleichheit lautet nun, dass die „Forderung der Offenheit der Laufbahnen“ (ebd., 93) im System der natürlichen Freiheit eine innere Grenze hat, weil die Möglichkeit, die eigenen natürlichen Fähigkeiten und Begabungen zu entwickeln, in hohem Maße von sozialer Stellung und Schichtzugehörigkeit abhängt. Die liberale Interpretation des Gleichheitsbegriffs fordert deshalb nicht nur formale, sondern faire Chancengleichheit: „Man geht von einer Verteilung der natürlichen Fähigkeiten aus und verlangt, daß

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Menschen mit gleichen Fähigkeiten und gleicher Bereitschaft, sie einzusetzen, gleiche Erfolgsaussichten haben sollten, unabhängig von ihrer anfänglichen gesellschaftlichen Stellung“ (ebd.). Die liberale Interpretation der Gleichheit fordert mithin nicht nur gleiche Chancen für gleich Qualifizierte, sondern gleiche Chancen, Begabungen zu entwickeln und Qualifikationen zu erwerben, unabhängig von gesellschaftlicher Stellung und sozialem Umfeld. Das liberale (oder auch: sozialdemokratische) Verständnis von Gleichheit als fairer Chancengleichheit ist aber Rawls zufolge nun aus zwei Gründen ebenfalls noch ungenügend: Erstens wird sich der Grundsatz fairer Chancengleichheit jedenfalls nicht vollumfänglich verwirklichen lassen, solange die Institution der Familie besteht. Die Gesellschaft kann nämlich den Einfluss des familiären Umfelds auf die Chancen zur Entfaltung von Begabungen und Fähigkeiten unmöglich vollständig ausgleichen. Daraus zieht Rawls nicht den Schluss, dass die Familie als Institution abgeschafft werden müsse. Es gibt nämlich gute, gegenüber dem Prinzip der Chancengleichheit eigenständige normative Gründe, an der Institution der Familie festzuhalten (vgl. Rawls 1979, 555; Rawls 1997/2002, 182 f., 193– 201; Rawls 2003, 251). Deshalb handelt es sich hier nicht bloß um eine praktisch-empirische Grenze der Möglichkeit der Realisierung, sondern um eine selbst normativ begründete Grenze des Prinzips der fairen Chancengleichheit (vgl. dazu Freeman 2007, 97 f., 242). Zweitens ist es Rawls zufolge inkohärent, einerseits den Einfluss „gesellschaftlicher Zufälligkeiten“ auf die Erfolgschancen von Individuen für problematisch zu halten und andererseits gleichwohl an einer Verteilung von Erfolgschancen festzuhalten, die die Chancen einzelner von der Verteilung natürlicher Fähigkeiten und Begabungen, und damit laut Rawls vom „Ergebnis der Lotterie der Natur“ abhängig macht (Rawls 1979, 94). Unter moralischen Gesichtspunkten ist nämlich, so Rawls’ zentrales und höchst umstrittenes Argument, beides gleichermaßen irrelevant: „Für den Einfluß natürlicher Fähigkeiten auf die Einkommens- und Ver-

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mögensverteilung gibt es keine besseren Gründe als für den geschichtlicher und gesellschaftlicher Zufälle“ (ebd.). Denn: „Man hat seinen Platz in der Verteilung der natürlichen Gaben ebensowenig verdient wie seine Ausgangsposition in der Gesellschaft“ (ebd., 125). Die liberale Interpretation der Gleichheit – das Prinzip fairer Chancengleichheit – ist deshalb in sich „instabil“ (ebd., 95): Diejenigen Gründe, die dagegen sprechen, die Einkommensverteilung von gesellschaftlichen Zufällen abhängig zu machen, sprechen auch dagegen, sie von der Rawls zufolge ebenso zufälligen Verteilung natürlicher Begabungen abhängig zu machen. Der demokratische Gleichheitsbegriff geht deshalb über den liberalen nochmals substantiell hinaus. Der demokratische Begriff der Gleichheit kombiniert das Prinzip der fairen Chancengleichheit mit dem Differenzprinzip. Der Grundsatz fairer Chancengleichheit, der gleich Begabten gleiche Chancen garantiert, darf dem demokratischen Gleichheitsbegriff zufolge nicht nur den Talentierten selbst nützen. Er muss als im Interesse auch der weniger Talentierten liegend gerechtfertigt werden können. Wenn der Grundsatz fairer Chancengleichheit vor dem ‚Standpunkt gleicher Bürger*innen‘ gerechtfertigt werden können soll, dann muss seine gesellschaftliche Institutionalisierung sicherstellen, dass er auch für die weniger Talentierten vorteilhaft ist: „Wer von der Natur begünstigt ist, […] der darf sich der Früchte nur so weit erfreuen, wie das auch die Lage der Benachteiligten verbessert“ (ebd., 122). Nicht ganz klar ist allerdings, was der Grundsatz fairer Chancengleichheit für sich genommen Rawls zufolge beinhaltet (vgl. Martin 2015, Segall 2015). Es bieten sich hier zwei unterschiedliche Interpretationen an: 1) Der Grundsatz fairer Chancengleichheit verlangt „nur gleiche Lebenschancen auf allen Gebieten der Gesellschaft für gleich Begabte und Motivierte“ (Rawls 1979, 335, vgl. 93). Er ist deshalb mit solchen Ungleichheiten, die das Ergebnis der ungleichen Verteilung natürlicher Talente und Fähigkeiten sind, voll verträglich. Deshalb erfordert es die demokratische Interpretation der Gleichheit, den Grundsatz fairer Chancengleich-

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heit um das ihm selbst äußerliche Differenzprinzip zu ergänzen. Dieser ersten Interpretation zufolge ist es demnach vorstellbar, dass die gesellschaftliche Grundstruktur zwar dem Grundsatz fairer Chancengleichheit, aber nicht dem Differenzprinzip genügt. Der Grundsatz fairer Chancengleichheit und das Differenzprinzip sind gegeneinander vollkommen selbständig. (2) Die demokratische Interpretation des Gleichheitsbegriffs zeigt, dass der Begriff der fairen Chancengleichheit bereits innerlich widersprüchlich ist. Von fairer Chancengleichheit lässt sich nämlich auch dann noch nicht sprechen, wenn die gesellschaftliche Stellung keinerlei Einfluss auf die Erfolgschancen von Individuen besitzt, weil der Einfluss der natürlichen Verteilung von Begabungen unter moralischen Gesichtspunkten gleichermaßen irrelevant ist. Im Hinblick auf die Verteilung der einzigen tatsächlich relevanten Fähigkeiten – der beiden moralischen Vermögen – sind aber alle Bürger*innen (qua Voraussetzung, siehe oben) gleich. Dieser zweiten Interpretation zufolge impliziert bereits der Gedanke fairer Chancengleichheit selbst, konsequent zu Ende gedacht, das Differenzprinzip. Die Frage danach, welchen Inhalt das Prinzip der fairen Chancengleichheit für sich genommen besitzt, ist deshalb von großer Relevanz, weil Rawls nicht nur dem ersten vor dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz lexikalische Priorität einräumt, sondern auch innerhalb des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes dem Prinzip fairer Chancengleichheit einen kategorischen Vorrang vor dem Differenzprinzip zuspricht. Diese zweite lexikalische Priorität ist in ihrer konkreten Bedeutung wesentlich unklarer als die erste (vgl. Freeman 2007, 125–136).

Schwächt Rawls den Egalitarismus im Spätwerk ab? Eine der zentralen Pointen der Theorie der Gerechtigkeit ist ihr Anspruch zu zeigen, dass sich aus ziemlich konsensuellen Prämissen sehr gehaltvolle (und damit umstrittene) egalitaristische Verteilungsprinzipien ableiten lassen

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(Rawls 1979, 37; vgl. Cohen 1989). Grob lautet die Argumentation so: Wir sind uns in liberalen Gesellschaften einig, was den Vorrang gleicher Grundfreiheiten angeht. Diese Einigkeit besteht bei Fragen der Verteilungsgerechtigkeit nicht: „Doch wir sind viel weniger sicher, was die richtige Verteilung von Reichtum und Macht ist“ (Rawls 1979, 37). Wenn wir nun die besten Gründe für den allgemein akzeptierten Vorrang gleicher Grundfreiheiten angeben, dann, so Rawls, lässt sich zeigen, dass dieselben Gründe auf eine stark egalitaristische Position im Hinblick auf Fragen der Verteilungsgerechtigkeit hinführen. Die angemessene Begründung des Vorrangs der Grundfreiheiten impliziert egalitaristische Verteilungsprinzipien. Beispielsweise ist eine mögliche Begründung für den Vorrang der Grundfreiheiten (unter anderen), dass sich die Parteien im Urzustand auf dieses Prinzip einigen würden. Nun lässt sich aber, so Rawls, weiter zeigen, dass die Parteien im Urzustand sich gerade nicht auf ein utilitaristisches Verteilungsprinzip einigen könnten, sondern in Verteilungsfragen das Differenzprinzip vorziehen werden. Das heißt: Dieselben Gründe, die für die Vorzugswürdigkeit der beiden Gerechtigkeitsprinzipien insgesamt gegenüber einer utilitaristischen Gerechtigkeitskonzeption sprechen, sprechen auch für die Vorzugswürdigkeit der beiden Gerechtigkeitsprinzipien gegenüber einer gemischt-utilitaristischen Position, die den Vorrang der Grundfreiheiten statt mit dem Differenz- etwa mit dem utilitaristischen Prinzip der Maximierung des Durchschnittsnutzens kombiniert (vgl. Cohen 1989). Der Anspruch der Theorie der Gerechtigkeit ist es somit, eine einheitliche Begründung sowohl für den Vorrang gleicher Grundfreiheiten, der relativ unstrittig ist, und für ein egalitaristisches Verteilungsprinzip zu liefern, das faktisch stark umstritten ist. Es ist nun in der Rezeption diskutiert worden, inwiefern Rawls im Spätwerk von diesem starken egalitaristischen Begründungsanspruch abrückt. In diesem Zusammenhang ist es von großer Bedeutung, dass Rawls später davon ausgeht, dass es nicht nur eine Pluralität vernünftiger umfassender Lehren (‚Fak-

T. Reiß

tum eines vernünftigen Pluralismus‘), sondern auch eine Pluralität liberaler Gerechtigkeitskonzeptionen gibt: Rawls unterscheidet nun zwischen einer generisch liberalen Gerechtigkeitskonzeption und der Konzeption Gerechtigkeit als Fairneß als einer ihrer möglichen Konkretisierungen (Rawls 1998; Rawls 1992, 302 f.). Das heißt: Alle Eigenschaften, die einer liberalen Gerechtigkeitskonzeption zukommen, kommen auch Gerechtigkeit als Fairneß zu – aber nicht zwingend umgekehrt. Eine generisch liberale politische Gerechtigkeitskonzeption beinhaltet notwendig folgendes (Rawls 1992, 319, 321; Rawls 1998, 46, 70, 247; Rawls 1997/2002, 176 f.; vgl. Freeman 2007, 379 f., 395 f.; Wenner 2020, 133– 135): eine Liste bestimmter Grundfreiheiten und -rechte, den Vorrang dieser Grundfreiheiten und -rechte, sowie Vorkehrungen, die sicherstellen, dass die Bürger*innen ihre Grundrechte auch effektiv nutzen können. – Weil aber der genaue Inhalt der Grundfreiheiten unterschiedlichen Interpretationen zugänglich ist und weil insbesondere die Art der Vorkehrungen, die allen Bürger*innen eine effektive Nutzung ihrer Rechte ermöglichen sollen, unterschiedlich konkretisiert werden können, gibt es eine Pluralität liberaler Gerechtigkeitskonzeptionen (vgl. Hinsch 2002, 17 f.). Gerechtigkeit als Fairneß ist Rawls zufolge aufgrund folgender drei Eigenschaften eine egalitäre liberale Konzeption (Rawls 1998, 70): 1. Der Gewährleistung von Grundfreiheiten und Anerkennung ihres Vorrangs fügt sie die Garantie des ‚fairen Werts‘ der politischen Grundfreiheiten hinzu. 2. Sie versteht das Prinzip der Chancengleichheit in einem nicht bloß formalen, sondern substantiellen Sinn (‚faire Chancengleichheit‘). 3. Sie ergänzt den Vorrang der Grundfreiheiten und das Prinzip fairer Chancengleichheit um das Differenzprinzip. Liegt in dieser Differenzierung zwischen einer generisch liberalen Gerechtigkeitskonzeption und Gerechtigkeit als Fairneß als eine ihrer möglichen Konkretisierungen eine Abschwächung des Egalitarismus seiner Gerechtigkeitstheorie? Wenn man, so wie eben vorgeschlagen, den Anspruch der Theorie der Gerechtigkeit, ein egalitaristisches Ver-

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teilungsprinzip zu begründen, in dem starken Sinn versteht, wonach ihr Anspruch ist zu zeigen, dass, wer auch immer den Vorrang der Grundfreiheiten akzeptiert, aus Konsistenzgründen auch das Differenzprinzip akzeptieren muss, dann lässt sich hier tatsächlich eine Abschwächung erkennen. Denn Rawls gesteht nun ausdrücklich zu, dass nicht jede liberale Gerechtigkeitskonzeption das Differenzprinzip beinhalten muss. Rawls geht nun davon aus: Die Vorzugswürdigkeit einer generisch liberalen Gerechtigkeitskonzeption und der erste Gerechtigkeitsgrundsatz lassen sich mit stärkeren Argumenten stützen als das Differenzprinzip und die Vorzugswürdigkeit von Gerechtigkeit als Fairneß gegenüber Mischkonzeptionen, die den Vorrang der Grundfreiheiten mit dem Prinzip der Maximierung des Durchschnittsnutzens kombinieren (Rawls 2003, 153, 207). Jedoch bleibt Rawls der Auffassung, dass die egalitäre liberale Konzeption Gerechtigkeit als Fairneß die ‚vernünftigste‘ und am besten begründbare liberale Gerechtigkeitskonzeption ist und ihre egalitären Konkretisierungen der liberalen Prinzipien vorzugswürdig sind (vgl. Rawls 1998, 46, 71). Es darf außerdem auf keinen Fall übersehen werden, dass Rawls weiterhin daran festhält, dass eine liberale Gerechtigkeitskonzeption nicht bereits dann vorliegt, wenn der Vorrang der Grundfreiheiten zugestanden wird. Jede liberale Konzeption muss zwingend Vorkehrungen vorsehen, die den Bürger*innen einen effektiven Gebrauch dieser Freiheiten ermöglichen (weshalb der Libertarianismus Rawls zufolge keine liberale Konzeption darstellt) – auch wenn über die Frage, welche Vorkehrungen geeignet oder vorzugswürdig sind, ein liberaler Familienstreit besteht (vgl. Dreben 2003, 334). Die Differenzierung zwischen einer generisch liberalen Gerechtigkeitskonzeption und Gerechtigkeit als Fairneß als einer Möglichkeit ihrer egalitären Konkretisierung kann auch als Ergebnis einer stärkeren Differenzierung verstanden werden, die Rawls im Spätwerk zwischen Gerechtigkeit und Legitimität einer politischen Ordnung vornimmt (Freeman 2007, 395; vgl. Wenner 2020). Rawls ist von der Überzeugung nicht abgerückt, dass seine egalitä-

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ren Gerechtigkeitsprinzipien die am besten begründbaren sind. Das Spätwerk nimmt nicht diese Auffassung zurück, sondern weist darauf hin, dass in demokratischen Gesellschaften, die durch das ‚Faktum eines vernünftigen Pluralismus‘ gekennzeichnet sind, eine zusätzliche Frage beantwortet werden muss, die gegenüber der Frage nach dem bestbegründbaren Inhalt einer Gerechtigkeitskonzeption selbständig ist: und zwar die Frage danach, unter welchen Voraussetzungen in pluralistischen Gesellschaften, in denen die Bürger*innen gleichermaßen vernünftige wie unvereinbare umfassende Lehre vertreten, die Allgemeinverbindlichkeit einer Gerechtigkeitskonzeption mit der gleichen Freiheit und politischen Autonomie aller Bürger*innen vereinbar ist.

Literatur Cohen, Joshua: Democratic Equality. In: Ethics 99 (1989), H. 4, 727–751. Dreben, Burton: On Rawls and political liberalism. In: Samuel Freeman (Hg.): The Cambridge companion to Rawls. Cambridge 2003, 316–346. Freeman, Samuel: Rawls. London/New York 2007. Freeman, Samuel: Rawls on distributive justice and the difference principle. In: Serena Olsaretti (Hg.): The Oxford handbook of distributive justice. Oxford 2018, 13–40. Hartley, Christie: Contractualism, disability, and inclusion. In: Adam Cureton/David T. Wasserman (Hg.): The Oxford handbook of philosophy and disability. New York 2018, 195–211. Hinsch, Wilfried: Gerechtfertigte Ungleichheiten. Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Berlin/New York 2002. Martin, Rex: Equal opportunity, democratic interpretation. In: Jon Mandle/David A. Reidy (Hg.): The Cambridge Rawls lexicon. Cambridge 2015, 259–263. Pogge, Thomas W.: John Rawls. München 1994. Rawls, John: Distributive justice: Some Addenda. In: The American Journal of Jurisprudence 13 (1968), H. 1, 51–71. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1979 (1975). Rawls, John: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Hg. Wilfried Hinsch. Frankfurt a. M. 1992. Rawls, John: Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft (1997) In: Rawls, John: Das Recht der Völker. Berlin und New York 2002, 165–218. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998 (engl. 1993).

274 Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. 2003 (engl. 2001). Segall, Shlomi: Fair equality of opportunity. In: Jon Mandle/David A. Reidy (Hg.): The Cambridge Rawls lexicon. Cambridge 2015, 269–272. Wenner, Fabian: Liberal legitimacy. The justification of political power in the work of John Rawls. Baden-Baden 2020. Weithman, Paul: Why political liberalism? On John Rawls’s political turn. Oxford 2010.

T. Reiß Weithman, Paul: Stability and the original position from Theory to Political Liberalism. In: Timothy Hinton (Hg.): The original position. Cambridge 2015, 224– 246. White, Stuart: Democratic equality as a work-in-progress. In: Jon Mandle/David A. Reidy (Hg.): A companion to Rawls. Malden, MA und Oxford 2014, 185–199.

Grundfreiheiten/ Grundgüter/Bedürfnisse

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Andreas Gösele

Die Ideen der Grundgüter und der Grundfreiheiten (einer Untermenge der Grundgüter) sind ein wichtiger und charakteristischer Baustein der Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit, auch wenn Rawls sie nicht durch die Aufnahme in die Liste der Grundideen seiner Theorie geadelt hat. Sie sind grundlegend, weil sowohl die Formulierung seiner zwei Grundsätze der Gerechtigkeit als auch die Begründung der Grundsätze und insbesondere des Vorrangs der Grundfreiheiten im Urzustand und zuletzt auch Rawls’ Verständnis des Vorrangs des Rechten auf sie zurückgreifen. Die Idee der Grundgüter ermöglicht es, in einer vom Faktum des Pluralismus geprägten Gesellschaft zu einem Einverständnis darüber zu kommen, was berechtigte Ansprüche an die Gesellschaft sind, wie sie begründet werden können und wie sie gegeneinander abgewogen werden können. Ihr objektiver und sozialer Charakter ermöglicht interpersonelle Vergleiche des rationalen Vorteils von Bürger*innen, die sehr unterschiedliche Vorstellungen des Guten haben und zwar auf der Basis öffentlich zugänglicher Informationen. (1) Gemäß der von Rawls in Eine Theorie der Gerechtigkeit (Rawls 1979) vorgelegten Definition von Grundgütern handelt es sich dabei um

A. Gösele (*)  Saint Joseph’s University, Philadelphia, PA, USA E-Mail: [email protected]

Dinge, von denen man annehmen kann, dass jeder rationale Mensch sie haben möchte, da sie für alle rationalen Lebenspläne dienlich sind, und von denen jeder rationale Mensch eher mehr als weniger haben möchte. Auch wenn diese Definition den Begriff eines rationalen Lebensplans voraussetzt und Rawls sich später genötigt sah, sie zu revidieren, ist sie aufgrund ihrer intuitiven Plausibilität als Ausgangspunkt der Darstellung weiter hilfreich. Diese Definition wurde später revidiert, da sie die den Eindruck erwecken konnte, dass erstens die Bestimmung der Grundgüter einfach eine empirische Fragestellung wäre, die beantwortet wird, indem man untersucht, was die tatsächlich in einer Gesellschaft von Individuen verfolgten Ziele zu ihrer Verwirklichung brauchen, und zweitens deshalb die Bestimmung der Grundgüter von den von den Bürger*innen einer Gesellschaft faktisch vertretenen umfassenden Lehren abhängt. Das ist angesichts des Faktums des vernünftigen Pluralismus, und um die Theorie der Gerechtigkeit unabhängig von bestimmten umfassenden Lehren begründen zu können, zu vermeiden. Die revidierte Definition soll deshalb zum einen die normative Komponente der Bestimmung der Grundgüter deutlich machen und zum anderen ihren politischen Charakter. Die neue Definition baut dementsprechend auf der politischen (und damit normativen) Konzeption der Bürger*innen als frei und gleich und ihren drei höherrangigen Interessen

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_35

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auf: Grundgüter sind demgemäß „diverse soziale Bedingungen und Allzweckmittel, die generell nötig sind, um den Bürgern die Möglichkeit zu geben, ihre beiden moralischen Vermögen angemessen zu entfalten und voll zum Einsatz zu bringen [die ersten beiden höherrangigen Interessen] sowie ihre jeweiligen Vorstellungen vom Guten durchzusetzen [das dritte höherrangige Interesse]“ (Rawls 2006, 99). Auch diese neue Definition entgeht aber nicht vollständig der Abhängigkeit von umfassenden Lehren, da ja das dritte höherrangige Interesse gerade in der Verwirklichung der eigenen Vorstellung vom Guten besteht, und diese Vorstellung in aller Regel von solchen umfassenden Lehren beeinflusst sein wird. Rawls nimmt deshalb an, dass auch im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaft Vorstellungen vom Guten – bei aller Verschiedenheit dieser Vorstellungen selbst und der mit ihnen verbundenen umfassenden Lehren – doch mehr oder minder dieselben Grundgüter zu ihrer Verwirklichung brauchen. (2) Grundgüter werden von Rawls in der Form einer Liste vorgestellt. Diese Liste war im Laufe der Zeit gewissen Veränderungen unterworfen, aber beginnend mit der Formulierung in Eine Theorie der Gerechtigkeit überwiegen die Gemeinsamkeiten: Die späteren Versionen der Liste können im Wesentlichen als Entfaltungen und Präzisierungen der in Eine Theorie der Gerechtigkeit vorgelegten Liste gelten. Eine erste Liste findet sich in dem Aufsatz „Distribute Justice: Some Addenda“ (Rawls 1968, 63). Hier umfasste die – von Rawls als beispielhaft charakterisierte – Liste „Freiheit und Chancen  [oportunity], Einkommen und Vermögen, Gesundheit und geschulte Intelligenz“ und Selbstachtung. Schon  damals betonte Rawls – wie auch in seinen späteren Schriften immer wieder – die besondere Rolle der Selbstachtung, sowohl was ihre Bedeutung für ein menschliches Leben angeht, als auch was ihre Sonderrolle in der Begründung seiner Gerechtigkeitskonzeption betrifft. Beginnend mit der Originalausgabe von Eine Theorie der Gerechtigkeit entfernt Rawls Gesundheit und Intelligenz aus der für seine Konzeption relevanten Liste von Grund-

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gütern: Er erwähnt sie dort – neben Lebenskraft und Phantasie – noch als natürliche Grundgüter, aber da sie nicht direkt oder hauptsächlich durch die Grundstruktur der Gesellschaft – als der erste Gegenstand einer Gerechtigkeitstheorie – beeinflusst werden, spielen sie in der Theorie dann keine Rolle mehr. Die für die Theorie relevanten Grundgüter sind soziale Grundgüter. Natürlich könnte man auch in Bezug auf Selbstachtung vermuten, dass es sich dabei nicht eigentlich um ein soziales Grundgut handelt. Tatsächlich ist Rawls in der Folge (schon 1974 in „Reply to Alexander and Musgrave“) dazu übergegangen, nicht mehr von Selbstachtung selbst als Grundgut zu sprechen, sondern von den sozialen Grundlagen der Selbstachtung. Diese sozialen Grundlagen der Selbstachtung hat er als ‚Grundgut‘ beibehalten, da er Selbstachtung zum einem in hohem Maße vom Zusammenspiel sozialer, institutioneller und kultureller Faktoren bedingt ansah und zum anderen weiter von ihrer fundamentalen Bedeutung für die Verwirklichung unserer Ziele ausging. Neu sind in Eine Theorie der Gerechtigkeit die Erwähnung von Rechten zusammen mit Freiheiten und Chancen und die Erwähnung von mit Ämtern verbundenen Befugnissen und Vorrechten als einem Aspekt von gesellschaftlich ermöglichten Chancen. Als eine weitere Ausfaltung des Grundguts ‚Chancen‘ kommen in Politischer Liberalismus noch Freizügigkeit und freie Berufswahl als Grundgüter hinzu. Als die endgültige Liste kann deshalb die folgende aus Politischer Liberalismus gelten: • „Grundrechte und Grundfreiheiten, die ebenfalls in einer Liste angeführt werden; • Freizügigkeit und freie Berufswahl vor dem Hintergrund vielfältiger Möglichkeiten; • Befugnisse und Zugangsrechte zu Ämtern und Positionen innerhalb der politischen und ökonomischen Institutionen der Grundstruktur; • Einkommen und Besitz; und schließlich • die sozialen Grundlagen der Selbstachtung“ (Rawls 2003, 275). Wie die gerade zitierte Liste der Grundgüter explizit sagt, werden auch Grundrechte und Grund-

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freiheiten ihrerseits in einer Liste angeführt. (Rawls unterscheidet nicht systematisch zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten.) In Eine Theorie der Gerechtigkeit zählt Rawls als wichtig die folgenden Beispiele auf: „die politische Freiheit (das Recht, zu wählen und öffentliche Ämter zu bekleiden) und die Rede- und Versammlungsfreiheit; die Gewissens- und Gedankenfreiheit; die persönliche Freiheit, zu der der Schutz vor psychologischer Unterdrückung und körperlicher Misshandlung und Verstümmelung gehört (Unverletzlichkeit der Person); das Recht auf persönliches Eigentum und der Schutz vor willkürlicher Festnahme und Haft, wie es durch den Begriff der Gesetzesherrschaft festgelegt ist.“ (Rawls 1979, 82) Mit nur stilistischen Varianten hat Rawls diese Liste im Folgenden beibehalten. Erwähnenswert ist, dass anders als das Recht auf persönliches Eigentum, das Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln ausdrücklich nicht zu den Grundrechten gezählt wird. Auch wenn Rawls sich letztlich für eine bestimmte Liste entschieden hat, die er dann im Wesentlichen unverändert beibehalten hat, hat er doch immer wieder auch auf die grundsätzliche Flexibilität der Liste der Grundgüter betont. In Antwort auf einen bald nach der Veröffentlichung von Eine Theorie der Gerechtigkeit publizierten kritischen Artikel von Richard Musgrave (Musgrave 1974) hat Rawls etwa anerkannt, dass Freizeit in die Liste der Grundgüter aufgenommen werden könnte  (Rawls 1974). Ähnlich hat er mit Verweis auf Thomas Scanlon (Scanlon 1991) auch die Möglichkeit, mentale Zustände, wie die Freiheit von Schmerz, in die Liste von Grundgütern aufzunehmen, erwähnt (Rawls 2003, 276). (Das stünde aber in einer gewissen Spannung zum sozialen Charakter der Grundgüter und auch zur eingangs erwähnten Anforderung einer gewissen Objektivität.) Auch wenn er die Möglichkeit der Ergänzung immer wieder betont hat, hat er aber eine tatsächliche Ergänzung nie vorgenommen. (3) Rawls macht kein Geheimnis daraus, dass er jedenfalls die Liste der Grundfreiheiten nicht erfindet. Als ein Beispiel der Familie liberaler politischer Konzeption von Gerechtigkeit gilt auch für Gerechtigkeit als Fairness, dass die im ersten Grundsatz der Gerechtigkeit geschützten

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Rechte und Freiheiten aus Gesellschaften mit demokratischen Verfassungen bekannt sind. Dem entspricht eine der beiden Weisen, in der die Liste der Grundfreiheiten (die ja den Parteien im Urzustand als Teil der zwei Grundsätze der Gerechtigkeit mit vorgelegt wird) erstellt werden kann: Sie kann einer kritischen Verfassungsgeschichte demokratischer Staaten entnommen werden, die untersucht, welche Freiheiten in den entsprechenden Verfassungen geschützt wurden, und welche Rolle sie in gut funktionierenden Verfassungen gespielt haben. Die zweite Weise ist theoretischer Natur: Sie fragt danach, welche Freiheiten und Rechte Bürger*innen brauchen, sie fragt nach ihren Bedürfnissen als Bürger*innen. Diese Bedürfnisse werden aber dann primär nicht z. B. biologisch, soziologisch oder sonst empirisch bestimmt, sondern aufgrund der politischen Konzeption der Person als frei und gleich und ausgestattet mit zwei moralischen Vermögen: der „Anlage zu einem Gerechtigkeitssinn“ und der „Befähigung zu einer Konzeption des Guten“ (Rawls 2003, 85–86). Person in diesem Sinn zu sein, ermöglicht es Bürger*innen, ein ganzes Leben im vollen Sinn kooperierende Mitglieder ihrer Gesellschaft zu sein. Der für Rawls zentrale Begriff der Bedürfnisse der Bürger*innen ist also ein politischer und moralischer. Das gilt auch für die Grundbedürfnisse der Bürger*innen, die über ein soziales Minimum abgedeckt werden müssen und deren Befriedigung eine notwendige Voraussetzung der Ausübung der moralischen Vermögen darstellen, ja grundlegender eine notwendige Voraussetzung, um am politischen und sozialen Leben einer Gesellschaft überhaupt teilnehmen zu können. Dies bedeutet aber nicht, dass das soziale Minimum auf ahistorische Weise bestimmt werden könnte: Die spezifische Füllung, die über eine bloße Versorgung mit Nahrung, Kleidung und Wohnraum etc. hinausgehen muss und auch Bildung und Ausbildung mit einschließt, hängt von der historischen, kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen, technologischen und politischen Situation einer Gesellschaft ab. (4) Die Grundgüter gehen auf jeweils spezifische Weise in die zwei Grundsätze der Ge-

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rechtigkeit ein: Die Grundfreiheiten werden durch das erste – vorrangige – Prinzip geschützt, das in seiner letzten Fassung jeder Person „den gleichen, unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit dem selben System von Freiheiten für alle vereinbar ist“ (Rawls 2006, 78) zuspricht. Entscheidend ist hier, dass mit diesem Prinzip jenseits einer bloßen Liste von Grundfreiheiten ein ‚völlig adäquates System‘ von Grundfreiheiten verlangt wird. Dies ist deshalb notwendig, weil zum einen Grundrechte miteinander in Konflikt stehen können und weil zum anderen Grundrechte, wenn sie allen faktisch zustehen sollen, der Regulierung bedürfen. Man könnte ergänzen, dass auch die Plausibilität des Vorrangs des ersten Prinzips von der Konfiguration von Grundfreiheiten abhängt, die tatsächlich verlangt wird. Die Aufgabe, ein solches System zu erstellen, ist nicht eine Aufgabe der Parteien im Urzustand, sondern erfolgt in späteren Stadien der Konkretisierung der Forderungen der Prinzipien der Gerechtigkeit, genauer in einer verfassungsgebenden Versammlung, in der weiter die individuelle Identität hinter einem Schleier des Nichtwissens verborgen ist, aber spezifische Informationen über die jeweilige Gesellschaft zur Verfügung stehen. Die Kriterien, die benutzt werden, um dieses System zu bestimmen, unterscheiden sich zwischen Eine Theorie der Gerechtigkeit und dem späteren Rawls. In Eine Theorie der Gerechtigkeit hat Rawls – in seiner eigenen rückblickenden Darstellung – zwei, zueinander in Spannung stehende Kriterien vorgeschlagen: Zum einen das Maß des resultierenden Systems der Freiheiten und zum anderen den Standpunkt eines*einer repräsentativen Bürgers*Bürgerin. Rawls hat sich aber dann die kritischen Ausführungen Herbert Harts (Hart 1983) zum ersten Kriterium zu eigen gemacht: Für viele der Grundfreiheiten ist es nicht sinnvoll, von einem Mehr oder Weniger in einem einfachen quantitativen Sinn zu sprechen, und in der Abwägung zwischen Grundfreiheiten spielen Gesichtspunkte ihrer qualitativen Bedeutung eine entscheidende Rolle. Kohärent mit der neuen Definition von Grundgütern und der theoretischen

A. Gösele

Begründung der relevanten Grundfreiheiten schlägt Rawls deshalb vor, von einem adäquaten System der Grundfreiheiten dann zu sprechen, wenn es allen Bürger*innen ermöglicht, ihre – oben erwähnten – zwei moralischen Vermögen in „zwei grundlegenden Fällen“ zu entwickeln und uneingeschränkt und informiert anzuwenden (Rawls 2003, 452–452). Insbesondere geht es dabei um die Ausübung des Gerechtigkeitssinns in der „Anwendung auf die Grundstruktur einer Gesellschaft sowie die damit verbundene Gesellschaftspolitik“ (ebd.; das ist der erste Fall und fundiert die politischen Freiheiten und die Gedankenfreiheit) und die lebenslange rationale Ausübung der Befähigung zu einer Konzeption des Guten (das ist der zweite Fall und fundiert die Gewissensfreiheit und Vereinigungsfreiheit). Die übrigen Grundfreiheiten, wie z. B. die Freiheit und Integrität der Person, beziehen auf sich indirekte Weise auf beide Fälle, da sie zum Schutz der vorgenannten Freiheiten notwendig sind. Während die Grundfreiheiten dem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz zugeordnet sind, im theoretischen Gang der Argumentation auf der Stufe einer verfassungsgebenden Versammlung entschieden werden und zu den wesentlichen Verfassungselementen gehören, gilt das nicht für das Gesamt der übrigen Grundgüter. Abgesehen von den sozialen Grundlagen der Selbstachtung sind sie zunächst dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz zugeordnet. Die volle Umsetzung der Anforderungen des zweiten Grundsatzes, insbesondere der anspruchsvollen Anforderungen der fairen Chancengleichheit und des Differenzprinzips, sind dem (weiter theoretischen) Stadium einer gesetzgebenden Versammlung anvertraut. Eine Ausnahme bilden aber das soziale Minimum, das die Grundbedürfnisse der Bürger*innen abdeckt und Grundlage der sozialen und politischen Teilhabe überhaupt bildet, und auch Teilaspekte der Chancengleichheit wie Freizügigkeit und freie Berufswahl, die auf transparente Weise mit dem zweiten grundlegenden Fall der rationalen Verfolgung einer Konzeption des Guten verknüpft sind. Beides gehört zu den wesentlichen Verfassungselementen und für Grundbedürfnisse erwägt

35 Grundfreiheiten/Grundgüter/Bedürfnisse

Rawls sogar die Möglichkeit, ihre Erfüllung dem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz lexikalisch vorzuordnen. (Die Zuordnung von Aspekten der Chancengleichheit zu den wesentlichen Verfassungselementen dürfte auch der Grund für die weitere Ausfaltung des Grundguts ‚Chancen‘ in Politischer Liberalismus sein.) Ein Sonderstatus kommt zuletzt dem Grundgut der sozialen Grundlagen der Selbstachtung zu. Keiner der beiden Grundsätze der Gerechtigkeit ist direkt mit dem Recht auf dieses Grundgut befasst. Der Anspruch Rawls ist vielmehr, dass das konkrete Zusammenspiel und die institutionelle Verwirklichung der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze der beste Schutz dieses Grundgutes für alle Bürger*innen ist. Die Grundfreiheiten und ihr Vorrang sichern den Status der Bürger*innen als uneingeschränkt kooperative Mitglieder der Gesellschaft, als freie und gleiche Personen, indem sie ihre zwei moralischen Vermögen schützen. Die öffentliche Zusicherung der Grundfreiheiten kombiniert mit dem fairen Wert der politischen Freiheiten und dem Unterschiedsprinzip sind Ausdruck der Achtung und des Vertrauens, die Bürger*innen einander entgegenbringen und unverzichtbare Grundlagen von Selbstvertrauen und Selbstachtung. Die zentrale Bedeutung der Selbstachtung selbst wiederum ist darin begründet, dass ohne sie die Verfolgung eines rationalen Lebensplans als der Verwirklichung einer Konzeption des Guten als wertlos erscheinen kann und der Wille dazu verloren gehen wird. (5) Ein wichtiger Einwand gegen die zentrale Rolle von Grundgütern wurde in unterschiedlichen Variationen von Autoren wie Kenneth Arrow (Arrow 1973), Amartya Sen (Sen 1979, 2010) und Martha Nussbaum (Nussbaum 2006) vorgebracht. Letztlich geht es darum, dass Grundgüter keine geeignete Basis für interpersonelle Vergleiche und das Abwägen von gerechten Ansprüchen an die Gesellschaft darstellen würden, da abhängig von persönlichen Eigenschaften aber auch von sozialen Bedingungen die gleiche Versorgung mit Grundgütern zu einer ganz und gar verschiedenen Befriedigung von Bedürfnissen und zu ganz und gar verschiedenen Möglichkeiten zur Ver-

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wirklichung eigener Ziele führen kann. Rawls hat auf diesen Einwand im Wesentlichen damit geantwortet, dass er in seiner Theorie davon ausgehe, dass Bürger*innen zwar sehr verschieden sein können, aber alle grundsätzlich moralisch, intellektuell und physisch befähigt sind, ein ganzes Leben lang uneingeschränkt kooperative Mitglieder der Gesellschaft zu sein. Die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit stellen dann sicher, dass ihre Bedürfnisse als Bürger*innen auf faire Weise erfüllt werden. Rawls unterscheidet verschiedene Gründe für die Verschiedenheit von Bürger*innen. Die Betrachtung des besonderen Falls von Krankheiten und Unfällen, die dazu führen können, dass Bürger*innen zeitweise zur uneingeschränkten Kooperation nicht befähigt sind, führte ihn dazu, die Notwendigkeit eines Gesundheitssystems, das dazu dient, die vollständige Befähigung zur Kooperation wiederherzustellen und dessen Ausgestaltung einer gesetzgebenden Versammlung aufgetragen ist, explizit mit einzubeziehen. Die Frage der Ansprüche von Menschen, die dauerhaft so behindert sind, dass sie nie im vollen Sinn kooperierende Mitglieder der Gesellschaft sein können, bleibt damit unbeantwortet und ihre Beantwortung im Rahmen der Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit ein uneingelöstes Desiderat.

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Tim Reiß

Der Begriff der Konzeption des Guten („conception of the good“, in der deutschen Übersetzung der Theorie der Gerechtigkeit noch meist mit „Vorstellung vom Guten“ wiedergegeben) ist von einer doppelten Ambivalenz durchzogen, die auch in einer werkgeschichtlichen Umakzentuierung seiner Bedeutung ihren Ausdruck findet. Der Ausdruck ‚Konzeption des Guten‘ steht in enger begrifflicher Nachbarschaft einerseits zum Begriff des Lebensplans und andererseits zum Begriff einer umfassenden Lehre.

Konzeptionen des Guten: Begriffliche Ambivalenzen Der Begriff einer Konzeption des Guten bezeichnet – zunächst in einer groben Näherung – die (systematisierte) Menge der Ziele, die Personen verfolgen. Dass Personen über die Befähigung zu einer Konzeption des Guten verfügen, bedeutet Rawls zufolge, dass sie eine Vorstellung davon ausbilden, welche Ziele sie erreichen möchten und was ihnen im Leben wichtig ist, und dass sie diese Ziele kritisch prüfen, systematisieren und zu einer Einheit

T. Reiß (*)  Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

integrieren können. Der Begriff der Konzeption des Guten ist in diesem Sinn zunächst formal bestimmt: Jeder Mensch strebt danach, seine Konzeption des Guten zu verwirklichen. Über ihren möglichen Inhalt ist damit noch nichts gesagt (eine gewisse inhaltliche Bestimmung leistet bei Rawls dann die Grundgütertheorie). Der Begriff des Guten steht also ganz allgemein für das, wonach Personen streben. Vor dem in der Theorie der Gerechtigkeit stark präsenten entscheidungs- und rationalitätstheoretischen Hintergrund finden sich dort begriffliche Übersetzungen bzw. Konkretisierungen des Begriffs des Guten zu Begriffen wie rationaler Vorteil, Wohl oder Interesse. Eine Konzeption des Guten ließe sich demzufolge verstehen als systematisierte Einheit der Interessen einer Person oder der Vorteile, die sie anstrebt. Nun weist Rawls allerdings zum einen darauf hin, dass der Interessenbegriff nicht – wie es in der Entscheidungstheorie mitunter geschieht – verkürzt werden darf: Nicht alle „Interessen eines Ich“ sind Interessen, die notwendig „auf das eigene Ich gerichtet“ sind (Rawls 1979, 150). Dass alle Interessen die Interessen eines Ich sind, ist richtig, aber trivial (vgl. auch Feinberg 1965). Denn damit ist noch nichts darüber gesagt, worauf sich diese Interessen richten. Personen haben auch andere als nur selbstbezogene Interessen (Rawls 1979, 151; vgl. Rawls 1998, 123 f.). Zum anderen, und noch grundsätzlicher: Bereits in der Theorie der Gerechtigkeit steht

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_36

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Rawls’ kantianischer Personenbegriff in einer Spannung zu der entscheidungstheoretischen Begrifflichkeit von rationalem Vorteil und Interesse. Personen haben nicht nur Wünsche und Interessen, sondern auch die Fähigkeit, sich zu diesen reflexiv zu verhalten und sie im Hinblick auf ihre Vernünftigkeit und Angemessenheit zu beurteilen. Personen verfolgen nämlich, so Rawls, einen individuellen Lebensplan (Rawls 1979, Abs. 63, 445–454), der ihre einzelnen Ziele und Interessen erst in eine übergreifende Gesamtheit integriert (Rawls 1979, 113). Ihr Lebensplan ermöglicht es Personen somit zu beurteilen, welche Interessen auszubilden und zu befriedigen und welche Ziele zu verfolgen für sie vernünftig bzw. gut ist (Rawls 1979, 446 f.). Weil Rawls das Wohl eines Menschen als die „erfolgreiche Ausführung eines vernünftigen Lebensplans“ definiert (Rawls 1979, 472, vgl. 113, 460, 463, 595), kann auch das Wohlergehen einer Person nicht einfach im Sinne psychischen Wohlergehens oder einer maximalen Befriedigung bestehender Präferenzen verstanden werden. – Rawls arbeitet also bereits in der Theorie der Gerechtigkeit mit einem komplexen Personenbegriff, der dort allerdings oftmals in das ihm eigentlich viel zu enge begriffliche Korsett der ökonomistisch geprägten Rationalitätsund Entscheidungstheorie („rationaler Vorteil“) gepresst wird. Diese nivelliert in den Begriffen des rationalen Vorteils, der Präferenz oder des Interesses aber gerade die entscheidende kategoriale Differenz zwischen Wünschen auf der einen und Vorstellungen vom Guten auf der anderen Seite. Eine Konzeption des Guten ist nicht einfach die Summe angestrebter rationaler Vorteile, sondern ein systematisiertes System eigener letzter Ziele. Rawls stellt nun seit den Dewey-Vorlesungen (1980) deutlich heraus, dass der Begriff der Konzeption des Guten auch in einem noch grundlegenderen Sinn nicht verkürzt verstanden werden soll: Er ist weder auf die Summe angestrebter rationaler Vorteile noch auf „eine Ordnung letzter Ziele“ reduzierbar (Rawls 1992, 120 f.). Und zwar deshalb, weil eine Konzeption des Guten – so drückt es Rawls dann in dem für den Umbruch zum politischen Liberalismus zentralen

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Text „Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch“ (1985) aus –„auch ein Verständnis unserer Beziehung zur Welt ein[schließt] – sei es religiös, philosophisch oder moralisch –, durch das Wert und die Bedeutung unserer Ziele […] einsichtig werden.“ (Rawls 1992, 269). Konzeptionen des Guten beinhalten also nicht nur die Ziele, die eine Person verfolgt, sondern sie situieren diese Ziele in der Regel auch im Kontext eines weitergehenden Systems von für das Selbstund Weltverständnis von Personen fundamentalen Überzeugungen. Damit rückt der Begriff der Konzeption des Guten zunehmend in die Nähe des Begriffs einer umfassenden Lehre, einer der wichtigsten begrifflichen Innovationen des Spätwerks. Das genaue Verhältnis zwischen diesen beiden Begriffen bleibt in einigen Hinsichten ungeklärt (vgl. dazu Hildt 2016, 22–51). Gelegentlich hat es sogar den Anschein, Rawls verwende beide Begriffe einfach synonym (Rawls 1998, 274, 311). Im Allgemeinen scheint Rawls die Begriffe als eigenständig zu verstehen, jedoch einen engen Zusammenhang zwischen ihnen anzunehmen (Rawls 1998, 151, 159 sowie Rawls 2003, § 7.1, 44). Die Nähe zum Begriff der umfassenden Lehre macht nun die zweite, grundlegende Ambivalenz deutlich sichtbar, die den Begriff der Konzeption des Guten durchzieht (vgl. dazu Lister 2005, 686 f.). Konzeptionen des Guten beinhalten nämlich nicht nur Überzeugungen darüber, was für einen selbst gut ist, und welche Wünsche auszubilden deshalb vernünftig ist, sondern – aufgrund ihrer Verankerung in einer umfassenden philosophischen, moralischen oder religiösen Lehre (Rawls 1998, 86, vgl. Rawls 2003, 44) – in der Regel auch Überzeugungen darüber, was für alle gut ist. Diese Ambivalenz findet sich implizit auch bereits in der Theorie der Gerechtigkeit. Dort diskutiert Rawls die Frage nach den „subjektiven Anwendungsverhältnisse[n] der Gerechtigkeit“, das heißt die Frage danach, unter welchen Voraussetzungen – neben der objektiven Bedingung mäßiger Knappheit an zu verteilenden Gütern – sich Gerechtigkeitsfragen stellen. Welche Art von Konflikten ist es eigentlich, auf die Gerechtigkeitsprinzipien sinnvoll antworten? Rawls erwähnt

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schon dort, was er im Spätwerk unter den Begriff des ‚Faktum des Pluralismus‘ fassen und zum zentralen Thema machen wird: dass nämlich Personen nicht nur unterschiedliche Ziele und individuelle Lebenspläne verfolgen, „sondern auch ganz verschiedene philosophische, religiöse, politische und gesellschaftliche Anschauungen“ vertreten (Rawls 1979, 150). Es deutet sich damit hier bereits an, dass die subjektiven Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit durch zwei eigentlich ganz unterschiedliche Konfliktsituationen bestimmt werden: Personen erheben nicht nur „konkurrierende Ansprüche an die Verteilung gesellschaftlicher Güter“ (Rawls 1979, 150) und interpretieren den Wert dieser Güter im Lichte unterschiedlicher Weltsichten und unterschiedlicher Überzeugungen darüber, was ein gutes Leben ausmacht. Aufgrund der Pluralität der von ihnen vertretenen philosophischen, moralischen und religiösen Überzeugungen haben Personen auch unterschiedliche Auffassungen davon, was gut für alle ist. Im Fall von Interessenkonflikten verfolgen die Parteien unterschiedliche Ziele und Lebenspläne und konkurrieren um dieselben (mäßig knappen) Ressourcen. Zugleich gibt es ein Interesse an sozialer Kooperation, weil gesellschaftliche Zusammenarbeit einer*einem jeden einen Vorteil bringen kann. ‚Konzeptionen des Guten‘ sind hier eher geordnete Präferenzen rationaler Egoist*innen. Im Fall von Wertkonflikten und Überzeugungskonflikten haben die Parteien jedoch auch unterschiedliche Anschauungen davon, was für alle gut ist; die Personen vertreten mitunter konkurrierende Interpretationen bzw. Konkretisierungen des Standpunkts der Unparteilichkeit (vgl. Nagel 1987). Nicht nur rationale Egoist*innen, auch benevolente Personen, die den Anspruch erheben, bereits den Standpunkt der Unparteilichkeit zu vertreten, ja selbst reine Altruisten, ‚Heilige‘ und ‚Helden‘, haben, so sie nicht derselben sittlich integrierten Gemeinschaft angehören, ein Koordinationsproblem, das nur durch die Formulierung allgemein bindender Gerechtigkeitsprinzipien gelöst werden kann (Rawls 1979, 152) – erst recht gilt dies unter Bedingungen des ‚Faktum des

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Pluralismus‘, also des religiös-weltanschaulichen Pluralismus moderner demokratischer Gesellschaften (vgl. Caney 1991, 512 f.; Vanderschraaf 2006, 330, 342). Dieser zweite Konflikt, der in der Theorie der Gerechtigkeit noch hinter dem ersten zurücktritt, wird im Spätwerk zum zentralen Thema: Eine politische Gerechtigkeitstheorie hat nicht nur die Aufgabe, die Berechtigung konkurrierender Ansprüche auf gesellschaftlich produzierte Güter zu prüfen. Sie steht dazu in religiös-weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften vor der nicht weniger schwierigen Aufgabe, den Umgang mit Überzeugungskonflikten zu pazifizieren. Die Erfahrung, dass in pluralistischen Gesellschaften die Konzeptionen des Guten und umfassenden Lehren konfligierende Interpretationen auch des Unparteilichkeitsstandpunkts selbst generieren, motiviert zur Suche nach höherstufigen Prinzipien einer unparteilichen Regelung konkurrierender Unparteilichkeiten (Nagel 1987). Die Frage nach der Legitimität allgemein bindender Regelungen in pluralistischen Gesellschaften differenziert sich so werkgeschichtlich bei Rawls zunehmend als eigenständige Frage aus der Gerechtigkeitstheorie aus. Für das von Rawls weiterhin verfolgte Ziel, die Möglichkeit der dauerhaften Stabilität einer durch liberale Gerechtigkeitsgrundsätze wohlgeordneten Gesellschaft aufzuweisen, ergibt sich dadurch eine doppelte Aufgabe, weil Rawls nun davon ausgeht, dass auch eine wohlgeordnete Gesellschaft durch das ‚Faktum des Pluralismus‘ charakterisiert sein wird. Die Stabilität einer solchen Gesellschaft ist dann nicht nur durch die Gestalt der Trittbrettfahrer*in bedroht, die gegen die öffentlichen Gerechtigkeitsgrundsätze aus Motiven des (im engeren Sinne verstandenen) Eigennutzes zu verstoßen geneigt ist. Sie ist auch durch die Möglichkeit bedroht, dass Bürger*innen den Werten ihrer umfassenden Konzeptionen, Anschauungen und Lehren einen Vorrang vor den im Medium öffentlicher Vernunft begründbaren allgemein verbindlichen Grundsätzen und Normen (bzw. den von Rawls so genannten ‚politischen Werten‘) einräumen (vgl. Weithman 2010, 263 f., 277 f.).

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Die „Befähigung zu einer Konzeption des Guten“ als „höchstrangiges Interesse“ Die „Befähigung zu einer Konzeption des Guten“ bildet zusammen mit dem Gerechtigkeitssinn die beiden moralischen Vermögen, die Rawls zufolge die moralische Personalität bzw. den Bürgerstatus konstituieren (Rawls 1998, 85). Den beiden moralischen Vermögen entsprechen dabei zwei „höchstrangige Interessen an der Verwirklichung und Ausübung dieser Vermögen“ (Rawls 1992, 93). Neben diesen beiden „höchstrangigen Interessen“ haben moralische Personen (bzw. Bürger*innen) ein diesen nachgeordnetes „höherrangiges Interesse“ daran, die von ihnen vertretene konkrete Konzeption des Guten zu verwirklichen (Rawls 1992, 93 f.). Die Befähigung zu einer Konzeption des Guten erläutert Rawls als die „Befähigung, eine Konzeption des Guten auszubilden, zu revidieren und rational zu verfolgen“ (Rawls 1992, 93, Hervorhebungen hinzugefügt; T.R.; vgl. Rawls 1998, 86). Personen haben Rawls zufolge neben dem Interesse an der Verwirklichung ihrer Konzeption des Guten und ihrer Ziele ein Interesse höherer Ordnung daran, ihr Vermögen auszubilden und zu erhalten, sich gegenüber ihrer Konzeption des Guten und ihren letzten Zielen reflexiv verhalten zu können. In der Rawls-Rezeption hat diese Verhältnisbestimmung zwischen höchst- und höherrangigen Interessen einen zentralen Gegenstand der Kontroverse gebildet: Ist diese Überordnung des Interesses an der Befähigung zu kritischer Distanz und rationaler Kritik nicht selbst wiederum der Ausdruck einer partikularen, nämlich stark individualistisch geprägten Vorstellung vom Guten? Rawls hat darauf mit einer interessanten Differenzierung geantwortet (Rawls 1992, 183–185). Die Befähigung zu einer Konzeption des Guten lässt sich demnach in einer doppelten Perspektive betrachten: zum einen „als ein Mittel für das Gute“ – als Mittel im Dienste jeder Konzeption des Guten –, zum anderen aber auch als ein „wesentlicher Bestandteil einer bestimmten Konzeption des Guten“ (Rawls 1992, 185, Hervorhebungen hinzugefügt; T.R.). Die Hoch-

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schätzung des Vermögens reflektierender Distanzierung von vorgegebenen Inhalten und Traditionen ist nämlich charakteristisch für eine substantielle Konzeption des Guten, die durch das Ideal vernünftiger Selbstbestimmung und das Ideal individueller Authentizität geprägt ist. Dieser spezifisch modernen Konzeption des Guten zufolge ist es das allerhöchste Ziel, dass alle diejenigen Ziele, die wir sonst verfolgen, „die Prüfungen unserer Vernunft bestehen“ und zu unseren „tiefsten Wünsche[n] und Gefühle[n]“ passen (Rawls 1992, 185). – Rawls hat, nach seiner Wende zum politischen Liberalismus, in einer solchen Personenvorstellung allerdings selbst den Ausdruck einer umfassenden, weltanschaulich positionierten, durch Kant und Mill geprägten Lehre und Konzeption des Guten gesehen, deren allgemeine Akzeptanz in pluralistischen Gesellschaften nicht vorausgesetzt werden dürfte. In pluralistischen Gesellschaften – und auch eine wohlgeordnete liberale Gesellschaft wird, sollte es sie jemals geben, durch das Faktum des Pluralismus geprägt sein – haben, so Rawls, auch solche Weltanschauungen, Konzeptionen und Lehren einen legitimen Platz, denen zufolge das Vermögen individueller Selbstbestimmung gerade nicht den höchsten aller Werte darstellt. Für den politischen Liberalismus wird deshalb die Differenzierung zwischen ethischmoralischer und politischer Autonomie entscheidend, der die Differenzierung zwischen Person und Bürger*in entspricht. Die Fähigkeit, sich selbst als von seinen letzten Zielen unabhängig zu erfahren, zählt nicht mehr zu den für Personalität als solche konstitutiven Vermögen; es ist vielmehr allein für das rollenspezifische Selbstverständnis von Personen als Bürger*innen wesentlich, dass sie sich nicht als mit ihren letzten Zielen restlos identifiziert verstehen (Rawls 1998, 98–102).

Zulässige und unzulässige Konzeptionen des Guten Rawls unterscheidet im Politischen Liberalismus zwischen zulässigen und unzulässigen Konzeptionen des Guten. Zulässig sind alle diejenigen

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Konzeptionen, die die Gerechtigkeitsgrundsätze beachten (Rawls 1998, 274, 289). Bedingung der Zulässigkeit einer Konzeption des Guten in einer liberalen Gesellschaft ist es also keineswegs, dass diese – über die Zustimmung zu der in Gegenstandsbereich, Reichweite und Begründungstiefe stark beschränkten politischen Gerechtigkeitskonzeption hinaus – substantielle liberale Lehrinhalte vertritt. Rawls erklärt ausdrücklich, dass es sein Ziel im Politischen Liberalismus ist, eine liberale politische Gerechtigkeitskonzeption auszuarbeiten, der auch nicht-liberale umfassende Lehren und Konzeptionen ungezwungen zustimmen können (vgl. Rawls 1998 35 f., 38, 45). Gleichwohl liegt hier ein Problem, das Rawls sehr ernst nimmt und unter dem Titel der Frage der ‚Fairness‘ des politischen Liberalismus gegenüber unterschiedlichen Konzeptionen des Guten diskutiert (Rawls 1998, 292–298). Rawls räumt nämlich ein, dass in einer wohlgeordneten liberalen Gesellschaft vermutlich auch bestimmte zulässige, d. h. grundsätzlich mit den Ordnungsgrundsätzen einer liberalen Gesellschaft kompatible Konzeptionen untergehen werden, etwa stark traditionalistisch orientierte Lebensformen (Rawls 1998, 293–296). So ist zu erwarten, dass bestimmte Konzeptionen zwar nicht unzulässig sind – also nicht unmittelbar den Gerechtigkeitsgrundsätzen widersprechen –, aber unter dem Reflexionsdruck einer modernen Lebenswelt und unter den Bedingungen einer auf individuelle Rechte orientierten liberalen Ordnung zunehmend Anhänger*innen verlieren werden. Was aber folgt daraus für den Anspruch und das Selbstverständnis des politischen Liberalismus, im Streit der Vorstellungen vom guten Leben unparteilich zu bleiben und sich am Ideal „ethischer Neutralität des Staates“ (Huster 2002) zu orientieren? Rawls’ Antwort im Politischen Liberalismus lautet wie folgt: Dass eine liberale politische Ordnung im Ergebnis die Verbreitung bestimmter Konzeptionen des Guten fördert, diese Tatsache könne und müsse, wenn auch mit „mit Bedauern“, akzeptiert werden (Rawls 1998, 298), allerdings unter der Voraussetzung, dass diese unterschiedlichen Einflüsse weder intendiert noch vermeid-

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bar sind. Denn, so Rawls’ Argument, jede Implementierung von Ordnungsgrundsätzen habe auf die gesellschaftliche Verteilung von Konzeptionen des Guten faktisch stets asymmetrische Auswirkungen (Rawls 1998, 294); eine auf strikte Weise verstandene „Neutralität von Auswirkungen und Einflüssen“ ist deshalb „undurchführbar“ (Rawls 1998, 290). Eine faktische Asymmetrie der Auswirkungen und Einflüsse auf die unterschiedlichen Konzeptionen des Guten ist, so lässt sich Rawls’ Argument erläutern (vgl. dazu aber die Kritik bei Menke 2004, 262–269), normativ zumutbar, wenn es sich so verhält (und dies auch öffentlich bekannt ist), dass diese faktischen Asymmetrien nicht intendiert und nicht vermeidbar sind – und das heißt insbesondere, dass ihnen keine Verletzung des normativ entscheidenden Grundsatzes der Ziel- bzw. Begründungsneutralität zugrunde liegt (Rawls 1998, 290; vgl. Huster 2002, 98–104). Die Unterscheidung zwischen Ziel- und Ergebnisneutralität ist deshalb so bedeutsam, weil Rawls’ übergreifendes Projekt der Versöhnung von Liberalismus und Religion – und zwar unter ausdrücklichem Einbezug auch nicht-liberaler, orthodox oder traditionalistisch geprägter religiöser Lebensformen (Rawls 1998, 35) – wesentlich am Gelingen des Vorhabens hängt, eine politisch-liberale Konzeption ohne Rückgriff auf ethisch-liberale Hintergrundüberzeugungen zu formulieren und zu begründen.

Von der ‚vollständigen‘ Theorie zu den politischen Ideen des Guten Von den in freien Gesellschaften stets im Plural auftretenden Konzeptionen des Guten sind bei Rawls der (im Singular!) Begriff des Guten sowie. die Ideen des Guten zu unterscheiden. Der bei Rawls formulierte und sprichwörtlich gewordene Vorrang des Rechten bedeutet keinesfalls, dass eine philosophische Gerechtigkeitstheorie darauf verzichten könnte, selbst den Begriff des Guten in Anspruch zu nehmen. Der Begriff des Guten hat bei Rawls sogar in mehrfacher Hinsicht eine systematisch tragende Funktion. Dabei verschiebt sich allerdings werk-

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geschichtlich der Hauptakzent des Interesses: von einer allgemeinen und integrativen philosophischen Theorie des Guten zu den als politische Ideen darstellbaren Ideen des Guten. Rawls entwirft in der Theorie der Gerechtigkeit eine übergreifende, nicht auf den Bereich des Politischen beschränkte Theorie des Guten (Rawls 1979, 433–492). Rawls positioniert sich dort in einer sprachphilosophischen und metaethischen Debatte durch seine Grundthese, dass der „Ausdruck ‚gut‘ einen durchgehenden Sinn (eine durchgehende Bedeutung) hat“ (Rawls 1979, 443). Es ist also keine bloß oberflächengrammatische Einheit, dass Gutsein von so unterschiedlichen Entitäten wie Gegenständen, Lebensplänen, Personen und Gesellschaften ausgesagt werden kann. Die tiefenstrukturelle begriffliche Einheit liegt nach Rawls darin, dass das Gute formal als das rationalerweise Wünschenswerte bestimmt werden kann. Diese Bestimmung ermöglicht es Rawls zufolge auch, den Begriff des Guten auf Menschen anzuwenden (Rawls 1979, 472–479). Rawls vertritt hier die – durch die Rezeption tugendethischer Ansätze vermittelte – Auffassung, wonach sich das Gutsein eines Menschen danach bemisst, ob dieser über die Fähigkeiten und Eigenschaften (moralische Tugenden) verfügt, die vernünftigerweise wünschenswert sind – und zwar sowohl von ihm selbst als auch von seinen Mitmenschen (Rawls 1979, 476, 484). Rawls versteht seine Gerechtigkeitskonzeption in der Theorie der Gerechtigkeit noch als Entwurf einer allgemeinen Moralphilosophie, die sich vor allem in Auseinandersetzung mit teleologischen bzw. utilitaristischen Ethiken profiliert. Der schärfste Gegensatz besteht darin, dass Rawls die teleologische Verhältnisbestimmung zwischen Gutem und Rechtem (moralisch Richtigem), wonach das Rechte in der Maximierung des Guten besteht, umkehrt. Nicht nur besteht das Rechte nicht einfach in der Maximierung eines außersittlichen Guten. Ein vollständiger Begriff des Guten setzt den Begriff des Rechten bereits voraus und ist deshalb unabhängig von ihm gar nicht möglich. Die Befriedigung von Präferenzen und Interessen, die Erfüllung von Wünschen und die För-

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derung des Wohlergehens zählen nicht per se, sondern nur dann als etwas Gutes – und genau hierin liegt der schärfste Kontrast zu den hedonistisch oder präferenzutilitaristischen Formen der teleologischen Ethik –, wenn dies mit den Gerechtigkeitsgrundsätzen verträglich ist (Rawls 1979, 49; vgl. 490; Rawls 1998, 266, 269, 309). Das führt aber zu folgender Schwierigkeit: Dieser Begriff des Guten kann nicht derjenige Begriff des Guten sein, über den die Parteien im Urzustand verfügen. Denn das Gedankenexperiment bzw. ‚Darstellungsmittel‘ des Urzustands soll ja dazu dienen, die Prinzipien des Rechten überhaupt erst zu entwickeln. Das Gute, wonach die Vertragsparteien im Urzustand streben, kann deshalb auf diese Prinzipien noch nicht Bezug nehmen. Dieses Problem führt Rawls zu der Unterscheidung zwischen einer schwachen und einer vollständigen Theorie des Guten. Die schwache Theorie ist unvollständig und damit unselbständig; sie hat eine bloß heuristische Bedeutung. Die schwache Theorie des Guten wird benötigt, um die Gerechtigkeitsgrundsätze zu identifizieren, die im Urzustand beschlossen würden. Sie ermöglicht es, die Liste der Grundgüter zu erstellen, und bildet so die motivationale Basis der Vertragsparteien im Urzustand (nicht: der Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft). Die Parteien im Urzustand haben zudem qua Festlegung kein intrinsisches Interesse an der Ausbildung der moralischen Vermögen. Rawls beabsichtigt, mit Hilfe der schwachen – unvollständigen – Theorie des Guten zu zeigen, dass sie gleichwohl ein hinreichendes instrumentelles Interesse an ihren moralischen Vermögen und den Gerechtigkeitsprinzipien besitzen, d. h. dass sie über eine hinreichend begründete außermoralische Motivation zur Konsentierung der Gerechtigkeitsprinzipien verfügen. Wenn die Gerechtigkeitsgrundsätze entwickelt worden sind und damit der Begriff des Rechten verfügbar ist, dann erst lässt sich die vollständige Theorie des Guten entwickeln (vgl. Rawls 1979, 433 f.). Man darf diese Unterscheidung also auf keinen Fall missverstehen: Die schwache konkurriert bei Rawls nicht mit der vollständigen Theorie des Guten; es handelt sich hier nicht etwa um

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zwei alternative Theorien des Guten (vgl. Weithman 2015). Die schwache Theorie des Guten bildet vielmehr einen Teilaspekt des Guten ab; sie identifiziert zunächst diejenigen außersittlichen Güter, über deren Verteilung die Parteien im Urzustand beraten. Die vollständige Theorie des Guten integriert auch moralische Güter und intrinsische moralische Interessen in die Darstellung dessen, was gut ist, wonach also zu streben für Menschen vernünftig ist. Im dritten Teil der Theorie der Gerechtigkeit, der weitergehende sozialphilosophische Überlegungen beinhaltet und insbesondere Erkenntnisse der empirischen Moral- und Sozialpsychologie einbezieht, formuliert Rawls seine so berühmte wie in ihrer genauen Bedeutung und Reichweite umstrittene These, dass in einer wohlgeordneten Gesellschaft das Gute und das Rechte kongruieren (die sog. Kongruenzthese, vgl. insbesondere Rawls 1979, 614–626; vgl. Freeman 2003). Rawls betont, dass die Motivationen, Ziele, Lebenspläne und die Vorstellungen vom Guten, die Menschen ausbilden, stark von den gesellschaftlichen Verhältnissen beeinflusst werden, in denen sie aufwachsen und leben. Es kann deshalb nicht nur, so Rawls, gezeigt werden, dass es empirisch wahrscheinlich ist, dass die Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft einen Gerechtigkeitssinn erwerben und sich an diesem orientieren werden. Der Anspruch der Kongruenzthese ist noch viel weitergehend: Die Ausbildung und Ausübung eines Gerechtigkeitssinns und damit die Orientierung an den Gerechtigkeitsprinzipien ist – so kann aus der Perspektive einer integrativen philosophischen Theorie des Guten gezeigt werden – für die Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft auch objektiv etwas Gutes; das Festhalten an dem in einer solchen Gesellschaft sozialisatorisch erworbenen Gerechtigkeitssinn wird deshalb der rationalen Reflexion der Bürger*innen standhalten. – Nach der Wende zum politischen Liberalismus hat Rawls allerdings die Auffassung vertreten, der Theorie der Gerechtigkeit und vor allem ihrer Kongruenzthese unterliege selbst noch eine umfassende, in pluralistischen Gesellschaften nicht allgemein konsensfähige philosophische Lehre (genauer

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Weithman 2010). Rawls hält eine Bejahung der Gerechtigkeitsprinzipien aus der Perspektive einer allgemeinen philosophischen Theorie des Guten nun nicht mehr für möglich, aber zur Lösung des gesellschaftlichen Stabilitätsproblems auch nicht mehr für nötig: Diese Leistung bleibt nun den unterschiedlichen umfassenden Lehren überlassen, die an einem ‚übergreifenden Konsens‘ über die Gerechtigkeitsprinzipien beteiligt sind. Die umfassenden religiösen, philosophischen und moralischen Lehren liefern nun je eigene Begründungen dafür, warum es gut ist, sich an Gerechtigkeitsprinzipien zu orientieren. Das heißt aber nicht, dass der späte Rawls nun der – ihm mitunter irrtümlich zugeschriebenen – Auffassung wäre, eine liberale politische Gerechtigkeitskonzeption für pluralistische Gesellschaften müsse selbst auf jede Idee des Guten verzichten. Rawls dementiert explizit, dass eine liberale Gerechtigkeitskonzeption auf Ideen des Guten verzichten könne (Rawls 1998, 266). Der politische (nicht-umfassende) Charakter der liberalen Gerechtigkeitskonzeption – ihr ‚freistehender‘ Status gegenüber umfassenden Lehren – erfordert allerdings, „daß die in Anspruch genommenen Ideen des Guten politische Ideen sein müssen“ (Rawls 1998, 309). Zu diesen Ideen des Guten, auf die eine politische Gerechtigkeitskonzeption zurückgreifen darf und muss, zählt Rawls im Politischen Liberalismus unter anderem (vgl. Rawls 1998, 269–306): Rationalität, Grundgüter, die Pluralität von Lebensweisen, politische Tugenden – und schließlich auch das Gut einer wohlgeordneten Gesellschaft selbst.

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Ideale Theorie Jochen Bojanowski

Mit seiner Unterscheidung zwischen idealer und nicht-idealer Theorie hat John Rawls eine der zentralen Methodendiskussionen der gegenwärtigen politischen Philosophie angestoßen (vgl. Simmons 2010; Valentini 2012). An dieser Alternative entzündete sich später auch grundlegende Kritik an Rawls’ Werk. Die Unterscheidung wird in Eine Theorie der Gerechtigkeit eingeführt (Rawls 1971, 9), um die Zielsetzung und die Grenzen von Rawls’ Theorieansatz zu bestimmen. Ideale Gerechtigkeitstheorie befasst sich mit der Frage, was vollkommene Gerechtigkeit ist (ebd.). Sie geht nicht von tatsächlichen historischen Gegebenheiten aus, sondern setzt Bedingungen voraus, unter denen es möglich ist, die Ansprüche der Gerechtigkeit umzusetzen. Normative Gültigkeit darf die Theorie allerdings nur beanspruchen, wenn sie sich nicht an einer unrealistischen Utopie orientiert. Sie darf weder unmögliche gesellschaftliche Umstände erfordern noch von den Menschen Leistungen oder Einstellungen verlangen, die der menschlichen Natur widersprechen. Eine umfassende Gerechtigkeitstheorie besteht nach Rawls aus zwei „Teilen“: einem

J. Bojanowski (*)  University of Illinois Urbana-Champaign, Urbana, IL, USA E-Mail: [email protected]

idealen und einem nicht-idealen. Der ideale Teil „entwickelt die Konzeption einer vollkommenen Grundstruktur und die entsprechenden Pflichten und Verpflichtungen der Menschen unter den allgemeinen Beschränkungen des menschlichen Lebens“ (Rawls 1971, 245). Der nichtideale Teil befasst sich mit „Grundsätzen zur Berücksichtigung natürlicher Beschränkungen und geschichtlicher Zufälligkeiten“ einerseits und mit „Grundsätzen, nach denen man der Ungerechtigkeit entgegentreten soll“, andererseits (ebd., 245 f. Dabei kommt dem idealen Teil insofern eine Priorität zu, als die „bestehenden Institutionen“ im Licht der idealen Gerechtigkeitskonzeption betrachtet werden müssen und „in dem Maß als ungerecht zu beurteilen sind, wie sie von dieser [idealen] Konzeption abweichen“ (ebd.). Die idealen Gerechtigkeitsprinzipien können auf diese Weise „eine Zielvorstellung für soziale Reformen“ liefern (ebd.). In Eine Theorie der Gerechtigkeit beschränkt Rawls sich weitgehend auf die Artikulation der idealen Theorie. Nach Rawls kann ideale Theorie von zwei wesentlichen Vorbedingungen ausgehen: Zunächst darf sie voraussetzen, dass „jeder gerecht handelt und seinen Teil zur Aufrechterhaltung der gerechten Institutionen beiträgt“ (ebd., 8). Diese Bedingung der strikten Regelbefolgung („strict compliance“) ist aber allein noch nicht hinreichend für vollkommene Gerechtigkeit. Sie wird durch eine zweite not-

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wendige Bedingung ergänzt: Die Gerechtigkeitsprinzipien werden unter für Gerechtigkeit günstigen Bedingungen („favorable conditions“) gewählt (ebd., 245, 351). Zu den günstigen Bedingungen zählt ein ökonomischer Zustand von bloß moderater Güterknappheit, der es allen Individuen erlaubt, im Einklang miteinander zu leben. „Strikte Regelbefolgung“ und „günstige Bedingungen“ sind jeweils notwendig und zusammen hinreichend dafür, dass nach den Prinzipien der idealen Theorie eine gerechte Gesellschaft errichtet werden kann (ebd., 245). In Eine Theorie der Gerechtigkeit und Justice as Fairness deutet Rawls an, wie die ideale Gerechtigkeitstheorie in einem Vierstufengang („four-stage sequence“) sukzessiv realisiert wird (ebd., § 31). Mit jeder Stufe wird der Schleier des Nichtwissens weiter gelüftet und weitere Tatsachen der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit kommen in Betracht. Die erste Stufe ist der Urzustand. Die zweite Stufe ist die sogenannte „verfassungsgebende“, die dritte die „gesetzgebende“. Auf der vierten Stufe werden schließlich die Gesetze in gesellschaftlichen Institutionen und durch gesetzeskonform handelnde Bürger*innen „angewendet“. Auf dieser letzten Stufe „fallen alle Wissenseinschränkungen weg“ (ebd., 199 f.). Das bedeutet aber nicht, dass der Vierstufengang als Übergang von idealer Theorie zu nicht-idealer Theorie in Rawls’ spezifischem Sinn zu verstehen wäre, weil auf allen vier Stufen vollkommene Regelbefolgung vorausgesetzt wird. Erst in der nichtidealen Theorie wird die Frage aufgeworfen, wie der Tatsache der nur partiellen Regelbefolgung Rechnung getragen werden kann. Mit den nicht-idealen Bedingungen befasst sich Rawls in Eine Theorie der Gerechtigkeit nur am Rande (ebd., 391). Die Idealität wird deshalb von ihm neben der alleinigen Fokussierung auf die Grundstruktur der Gesellschaft ausdrücklich zu einer der zwei „Einschränkungen“ seiner Gerechtigkeitstheorie gezählt (ebd.; 2001, 12 f.). Mögliche ungünstige Bedingungen oder die Tatsache der nur partiellen Regelbefolgung („partial compliance“) werden von den Vertragspartner*innen bei der Wahl der Gerechtigkeitsprinzipien nicht berücksichtigt. Damit ist diese

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Wahl im Urzustand aber nicht gänzlich von Tatsachen unabhängig: Sie bleibt an die Grenzen der menschlichen Natur gebunden. „Sollen“ impliziert „Können“. Deshalb wäre es unzulässig, wenn die Prinzipien der Gerechtigkeit als Sollenssätze „über das Vermögen der menschlichen Natur hinaus[gehen]“. Vollständige Regelbefolgung ist nur dann möglich, wenn die Regeln nicht so beschaffen sind, dass sie zu viel von uns verlangen. Für Rawls muss eine ideale Theorie deshalb die „allgemeinen Tatsachen der moralischen Psychologie“ berücksichtigen (Rawls 1971, 145). Eine Gerechtigkeitstheorie, die über das uns Menschen Mögliche hinausgeht, ist nicht realistisch. Auch wenn Rawls seine Theorie im oben genannten Sinn als ideale Theorie bezeichnet, möchte er seine Prinzipien als Gerechtigkeitsprinzipien eines „realistischen Utopias“ verstanden wissen (Rawls 2001, 13). Die Bedeutung von realistischen Überlegungen für Rawls’ ideale Theorie zeigt sich auch im Begriff der „Lasten der eingegangenen Verpflichtung“ („strains of commitment“). Die Vertragspartner*innen werden keine Übereinkünfte eingehen, von denen sie wissen, dass sie sie nicht einhalten oder befolgen können (Rawls 1971, 145). Nur wenn man behaupten kann, dass die „Lasten der eingegangenen Verpflichtung“ auch nach der Lüftung des Schleiers des Nichtwissens für alle Vertragspartner*innen tragbar sind, sind die Prinzipien der Gerechtigkeit gültig. Und nur weil die Vertragspartner*innen wissen, dass sie alle mit einem Sinn für Gerechtigkeit ausgestattet sind, wissen sie auch, dass die Gerechtigkeitsprinzipien nicht über ihr Vermögen hinausgehen. Um die Gültigkeit der Gerechtigkeitsprinzipien zu prüfen, muss mit anderen Worten untersucht werden, ob alle Vertragspartner*innen die Prinzipien auch befolgen können. Auch hier operiert Rawls mit der idealen Voraussetzung der vollkommenen Regelbefolgung und prüft, ob die Vertragspartner*innen überfordert sind. Dabei stellt sich heraus, dass im Vergleich zwischen dem uneingeschränkten und dem eingeschränkten Utilitarismus auf der einen Seite und Rawls’ Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness auf der anderen Seite die Lasten des Utilitaris-

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mus zu hoch sind (Rawls 2001, § 38). Nach Rawls’ Auffassung kann von den am schlechtesten Gestellten nicht erwartet werden, dass sie die Prinzipien utilitaristischer Gerechtigkeit nach der Lüftung des Schleiers anerkennen und ihnen Folge leisten. Die Voraussetzung der vollkommenen Regelbefolgung ist also in diesem Fall nicht berechtigt. Die am schlechtesten Gestellten müssten vielmehr an der Neuverhandlung eines nach utilitaristischen Grundsätzen gestalteten Vertrags interessiert sein (ebd., 125). Damit wird noch eine weitere Implikation der idealen Voraussetzung vollkommener Regelbefolgung sichtbar: Nur ein Staat, dessen Prinzipien der Gerechtigkeit so beschaffen sind, dass von den Bürgern*innen vollkommene Regeleinhaltung erwartet werden kann, ist zugleich ein stabiler Staat (ebd., § 38). Diese Art der Stabilität des idealen Staats wird nicht gegen den aufgeklärten Willen der Bürger*innen erzwungen. Die Stabilität geht vielmehr auf die Gerechtigkeitsprinzipien selbst zurück, weil jede*r Bürger*in einsehen kann, dass diese Prinzipien von ihnen verlangen, was sie einander schuldig sind. Auch für Rawls’ Spätwerk ist die Unterscheidung zwischen idealer und nicht-idealer Theorie von grundlegender Bedeutung. In Das Recht der Völker artikuliert Rawls zunächst eine ideale Theorie für eine faire Kooperation der Völker (Rawls 1999, Teil I, II). Ideale Theorie fungiert hier wiederum als normative Zielvorstellung. Im Unterschied zu Eine Theorie der Gerechtigkeit wendet sich Rawls in Recht der Völker dann aber ausführlich auch dem nichtidealen Teil seiner Gerechtigkeitstheorie zu (ebd., Teil III). Dieser Teil orientiert sich an der Negation der zwei notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen für vollkommene Gerechtigkeit. Er setzt bei der Realität von nur partieller Regelbefolgung und ungünstigen Bedingungen an, wodurch sich folgende Fragen stellen, die das Völkerrecht beantworten muss: (1) Welche Interventionsrechte bestehen gegenüber Ländern, die nicht die Regeln fairer Kooperation befolgen, sogenannten „outlaw states“ (ebd., §§ 13–14)? (2) Welche Hilfspflichten bestehen gegenüber Ländern, die durch ungünstige

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Bedingungen belastet sind, sogenannten „burdened societies“ (ebd., § 15)? Die Kritik an Rawls hat sich teils gegen die ideale Zielrichtung der Theorie, teils gegen die Berücksichtigung von Aspekten der Wirklichkeit innerhalb einer idealen Theorie gewandt: Für manche Kritiker*innen, die Rawls Inkonsequenz vorwerfen, drückt sich in der Formulierung „realistisches Utopia“ bereits ein illegitimes Zugeständnis aus. Rawls mache die Begründung der Gerechtigkeitsprinzipien von faktischen oder realistischen Überlegungen abhängig. Dieses Vorgehen ist als „konzessiv“ zurückgewiesen worden (Estlund 2011; 2020, 6, Kap. 8). Rawls’ ideale Theorie sei ein Hybrid aus deskriptiven und normativen Überlegungen (Cohen 2008, 34 f.): Auf der einen Seite behaupte Rawls, seine Prinzipien der Gerechtigkeit seien „erste Prinzipien“ (Rawls 1971, 13), auf der anderen Seite gingen in die Begründung dieser Prinzipien Tatsachen ein, die selbst wiederum erst im Licht von höheren Prinzipien einschlägig sind. So basiert bei Rawls die Rechtfertigung des Differenzprinzips auf der Tatsache, dass in einer „Wettbewerbswirtschaft mit einem offenen Klassensystem übersteigerte Ungleichheit nicht die Regel sein wird“ (Rawls, 1971, 158). Diese Tatsache werde aber selbst wiederum nur vor dem Hintergrund eines höheren Prinzips „Man sollte keine übersteigerten Ungleichheiten hervorbringen“ einschlägig (Cohen 2008, 259 f.; vgl. ebd. Kap. 7). Amartya Sen hingegen hat ideale Theorien und insbesondere Rawls’ Theorie dafür kritisiert, dass sie uns keine konkrete Handlungsanleitung geben kann. Der Mangel sei in Rawls’ idealem Ansatz zu finden. Für Rawls bestehe die zentrale Aufgabe der politischen Philosophie in der Beantwortung der Frage „Was ist Gerechtigkeit?“. Rawls’ Theorie beantworte diese Frage mit der Bestimmung einer idealen oder „vollkommen gerechten sozialen Ordnung“ (Sen 2006, 216). Sen plädiert dafür, diesen idealistischen Ansatz durch einen komparativen Ansatz zu ersetzen. Danach geht es nicht mehr um die Frage, was Gerechtigkeit ist, vielmehr besteht unsere Aufgabe darin, den relativen Rang von mindestens zwei gesellschaftlichen Zuständen

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oder Anordnungen festzulegen (ebd.). Konkrete komparative Gerechtigkeitsurteile, so behauptet Sen, seien auf der Grundlage des idealen Ansatzes nicht in den Griff zu bekommen. Wir können beispielsweise die Sklaverei abschaffen, den Hunger vermindern oder die Anzahl der Analphabet*innen reduzieren. Diese Veränderungen stellen deutliche Verbesserungen zum vorhergehenden gesellschaftlichen Zustand dar, lassen sich jedoch nicht ohne weiteres in die Kategorien idealer Theorie übersetzen. Sen zufolge ist es eine offene Frage, wie die bestehenden Abweichungen vom Ideal auf der Grundlage der Kategorien idealer Theorie von gleichen Freiheiten, Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit genau zu veranschlagen sind. Der gesellschaftliche Zustand GZ1 könnte hinsichtlich der Freiheit der Bürger*innen näher am Ideal sein als der Zustand GZ2. Hinsichtlich der Gleichheit der Bürger*innen könnte GZ1 jedoch weiter vom Ideal entfernt liegen als GZ2. Das Ideal kann auf viele unterschiedliche Arten verfehlt werden. Selbst wenn wir uns auf einen bestimmten Ausgangspunkt einigen, von dem aus die Entfernung zweier Zustände zu messen ist, ist noch nicht unmittelbar klar, welche Art der Verfehlung die Entscheidende ist. Damit ist schließlich das Problem der Gewichtung von Verfehlungen angesprochen. Welche der Verfehlungen stellt ein besonders großes und welche ein weniger großes Gerechtigkeitsproblem dar? Mit diesen Überlegungen will Sen zeigen, warum Rawls’ ideale Theorie für die Transformation von einer ungerechten in eine gerechte Welt kaum hilfreich ist. Mehr noch: Aus dem Wissen, was ein vollkommen gerechter Zustand ist, könne nicht abgeleitet werden, welcher von zwei gesellschaftlichen Zuständen gerechter ist. Genau das macht dieses Wissen bei einem paarweisen Vergleich von GZ1 und GZ2 verzichtbar. So wie wir uns beim Größenvergleich zwischen dem Kanchenjunga und dem Mont Blanc nicht auf den Mount Everest als den größten Berg der Welt beziehen müssen, so müssen wir uns auch nicht auf den idealen Gerechtigkeitsgrad beziehen, wenn wir zwei Zustände von geringerem Gerechtigkeitsgrad miteinander vergleichen (Sen 2006, 222). Um zwei

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unvollkommene Optionen miteinander zu vergleichen, müssen wir nicht zuerst die beste Option identifiziert haben (Sen 2009, 102). Also sei ideale Gerechtigkeitstheorie für die Praxis der Gerechtigkeit überflüssig. Rawls hat den Kern dieser Kritik bereits in Eine Theorie der Gerechtigkeit antizipiert und anerkannt. Die Antworten auf konkrete Gerechtigkeitsprobleme hängen von bestehenden „Traditionen, Institutionen sowie von den sozialen Kräften eines jeden Landes und seiner partikularen historischen Umstände ab“ (Rawls 1971, 274). Rawls kann Sen dahingehend zustimmen, dass ideale Theorie nicht hinreichend ist, um konkrete Gerechtigkeitsprobleme zu lösen. Ideale Theorie kann aber dennoch in dem Sinne notwendig sein, als gerechtfertigte Idealisierungen uns erst befähigen, die wesentlichen Merkmale unserer Gerechtigkeitskonzeption zu identifizieren und im erforderlichen Grad zu klären. Auch nicht-ideale Theoretiker*innen gestehen zu, dass wir bei der Theoriebildung immer Idealisierungen vornehmen müssen (vgl. Gaus 2016, 37 f.). Die Frage ist dann nicht mehr ob, sondern welche Idealisierungen gerechtfertigt sind. Vor dem Hintergrund einer idealen Gerechtigkeitskonzeption werden für uns die Gerechtigkeitsprobleme, von denen Sen voraussetzt, dass wir sie erkennen, überhaupt erst als solche sichtbar. Für Rawls besteht die Aufgabe der idealen Theorie nicht darin, einen konkreten Gesellschaftszustand größtmöglicher Gerechtigkeit zu bestimmen. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, die „Was ist X?“-Frage zu beantworten. Diese zielt lediglich auf die Prinzipien der Gerechtigkeit. Diese Prinzipien lassen den empirischen Endzustand der Gesellschaft noch offen. Die „Was ist X?“-Frage darf nicht mit der Frage nach dem besten Gerechtigkeitszustand, den wir auf der Basis der Gegebenheiten entwerfen können, verwechselt werden. Auch nicht-ideale Theoretiker*innen räumen deshalb der idealen Theorie eine Orientierungsfunktion ein (ebd., 40). Eine Bewertung gesellschaftlicher Zustände müsse notwendig auch in Beziehung zum Idealzustand gesetzt werden, um das globale Optimum nicht aus den Augen zu verlieren (ebd.).

37  Ideale Theorie

Literatur Cohen, Gerald A.: Rescuing justice and equality. Cambridge, Mass. 2008. Estlund, David: Human nature and the limits (if any) of political philosophy. In: Philosophy & Public Affairs 39/3 (2011), 207–237. Estlund, David: Utopophobia: On the limits (if any) of political philosophy. Princeton 2020. Gaus, Gerald: The tyranny of the ideal: Justice in a diverse society. Princeton 2016. Rawls, John: A theory of justice. Cambridge, Mass. 1971.

293 Rawls, John: Law of the peoples. Cambridge, Mass. 1999. Rawls, John: Justice as fairness: a restatement. Cambridge, Mass. 2001. Sen, Amartya: What do we want from a theory of justice? In: Journal of Philosophy 103/5 (2006), 215– 238. Sen, Amartya: The idea of justice. Cambridge, Mass. 2009. Simmons, A. John: Ideal and nonideal theory. In: Philosophy and Public Affairs 38/1 (2010), 5–36. Valentini, Laura: Ideal vs. non-ideal theory: a conceptual map. In: Philosophy Compass 7/9 (2012), 654–664.

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Institutionen Tim Fritjof Huttel

John Rawls legt 1971 keine allgemeine Theorie der Gerechtigkeit vor. Solche Theorien formulieren Prinzipien der Gerechtigkeit, die sich (indirekt) auf alles Mögliche beziehen lassen. Mehrfach betont auch Rawls, vieles könne gerecht oder ungerecht genannt werden, z. B. Personen oder Handlungen. Ihn interessiert jedoch soziale Gerechtigkeit als „erste Tugend sozialer Institutionen“ (Rawls 2019, 19). Entsprechend wählen die Parteien im Urzustand die zwei Prinzipien der Gerechtigkeit für die Regulierung der institutionellen Grundstruktur der Gesellschaft. Durch dieses „Hauptmerkmal“ (Rawls 2003, 32) hebt sich Rawls‘ Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness, anders als er anfangs behauptet hatte (vgl. Rawls 2019, 27), sowohl von der philosophischen Tradition als auch von der zeitgenössischen Theorienkonkurrenz ab, wie er schließlich selbst einräumt (vgl. Rawls 1998, 369; Bedau 1999). Im Fokus seines liberalen Gerechtigkeitsdenkens stehen die Ansprüche von Individuen, die wir uns als Freie und Gleiche vorstellen sollen. Doch geraten diese fast nur in ihrem institutionellen Kontext in den Blick. Dies wird an Rawls’ Ausführungen zur ‚vollständigen Theorie des Rechten‘ (vgl. Rawls 2019, § 18) deutlich,

T. F. Huttel (*)  Universität Rostock, Rostock, Deutschland E-Mail: [email protected]

deren drei Teile über den Vorrang von Ansprüchen entscheiden sollen, wo diese in Konflikt geraten: Auf die zwei Prinzipien, die sich auf die institutionelle Grundstruktur beziehen, folgt bei der Wahl im Urzustand der Grundsatz der Fairness und der Grundsatz der natürlichen Pflicht. Unter dem ersten stehen die Verpflichtungen, die durch unser Handeln innerhalb von Institutionen entstehen (vgl. ebd., § 18). Unter den natürlichen Pflichten, die für alle „gleichen moralischen Subjekte[.]“ auch „unabhängig von ihren institutionellen Beziehungen“ (ebd., 136) gelten, erwähnt Rawls zwar noch andere, wie die Pflicht zur gegenseitigen Hilfe. Doch die Pflicht zur Gerechtigkeit, d. h. zur „Erhaltung und Förderung gerechter Institutionen“ tritt als die „wichtigste“ hervor (ebd., 368).

Entdeckung und Begriff der Institution Warum Rawls die Institutionen als Gegenstand der Gerechtigkeit wählt, lässt sich am besten über sein moraltheoretisches Grundproblem erläutern: Um über den ‚Intuitionismus‘ hinauszukommen, der konkurrierende Ansprüche und Maßstäbe in unklarem Verhältnis zueinanderstehen lässt, will Rawls Werte mit objektiven Prinzipien und Vorrangregeln in verbindlich hierarchisierte Schemata zusammenführen. Solange

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ihm noch die ‚Person‘ als Grundkonzept dient, bekommt er dieses Problem nicht in den Griff. Als deren Kernmerkmal betrachtet er anfangs allein die Autonomie, als die Fähigkeit, dem moralischen Gesetz zu folgen, unter dem sie unmittelbar steht. Hier fehlt es an Anhaltspunkten für die Objektivität der Prinzipien und die Begründung ihres Vorrangs. Sein Ansatz verschiebt sich allerdings in den frühen 1950er Jahren erheblich, als er sich unter dem Eindruck der Spieltheorie der sozialen Gerechtigkeit zuwendet und beginnt, Gesellschaft als Vielzahl von Spielen zu analysieren. An diese Spiele knüpft Rawls’ Institutionenverständnis an (vgl. Gališanka, 2019, 89–92; vgl. auch Rawls 1999b, 20, Fn. 1, dort noch ‚practice‘). Spiele und Institutionen verbindet, dass sie sich durch die Regeln beschreiben lassen, an denen sich das strategische Handeln in ihnen orientiert. Die Institution besteht bei Rawls aus ihren Regeln. In Anlehnung an H. L. A. Hart definiert er sie als „öffentliches Regelsystem, das Ämter und Positionen bestimmt mit ihren Rechten und Pflichten, Machtbefugnissen und Schutzzonen [immunities]“ (Rawls 2019, 74). Öffentlich müssen die Regeln sein, damit die Beteiligten wissen, was voneinander erwartet wird und sie ihr Handeln faktisch daran ausrichten können. Erst dadurch, dass Handeln sich regelmäßig an ihren Regeln ausrichtet, besteht die Institution (vgl. ebd., 75). Tatsächlich bewegt sich, wie Rawls in Abgrenzung gegen den Aktutilitarismus ausarbeitet, das meiste strategische Handeln innerhalb von Institutionen (Rawls 1999b). Rawls nimmt mit dieser Einsicht Abschied von der Vorstellung des isolierten moralischen Subjekts und siedelt das moralische Leben in soziale Institutionen um. Unter dem Einfluss der Spieltheorie erkennt er auch die Fähigkeit, eigene Ziele (‚Vorstellungen des Guten‘) zu entwickeln, als moralisches Vermögen der Person an und schätzt die Regeln, die über die Zuweisung der Mittel zu diesen Zielen entscheiden, als entsprechend relevant ein. Institutionen strukturieren die Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit. Die Streitfälle, in denen wir nach Gerechtigkeit fragen, betreffen im Regelfall Ansprüche und

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Verpflichtungen, die durch die kooperative Teilnahme an Institutionen erworben werden und nur durch ihre Regeln zu bewerten sind. Institutionen prägen durch die Rollen und Ämter, in denen wir handeln, durch Erlaubnisse und Verbote, Belohnungen und Strafen unser Verständnis von fairer Kooperation und der Rechtmäßigkeit von Ansprüchen, die sich aus ihr ergeben. Die Vorstellung, isolierte Handlungen und Ansprüche oder zu einem Zeitpunkt gegebene Güterverteilungen ließen sich anhand unabhängiger Maßstäbe als gerecht oder ungerecht beurteilen, weist Rawls deshalb fortan ab. Die Institutionen entsprechen im Sozialen faktisch dem, worum es Rawls in der Moraltheorie normativ geht: Sie sind Schemata, die Ansprüche regelhaft in eine hierarchische Ordnung bringen (vgl. Rawls‘ Gebrauch von „scheme“ in Theory of justice), indem ihre Regeln unser Verständnis von Ansprüchen strukturieren. Dabei können sie mehr oder weniger gerecht sein. Doch lassen sie sich in ihrer Regelhaftigkeit moralphilosophisch greifen und bewerten und daher – so die Hoffnung – auch politisch vernünftig reformieren.

Die Regulierung der Grundstruktur Rawls betrachtet die Institutionen aber nicht nur als ‚Gegenstände‘ der Gerechtigkeit. Dies würde die Vorstellung nahelegen, seinen Prinzipien der Gerechtigkeit entspräche ein feststehendes Set idealer Institutionen, in denen sie verwirklicht wären. Tatsächlich wird Rawls‘ ‚Idealtheorie‘ etwa von Amartya Sen so gelesen, der ihm einen „transzendentalen Institutionalismus“ vorwirft (vgl. Sen 2010), der für die Praxis ohne Bedeutung bleibe. Diese Deutung führt in die Irre (vgl. Valentini 2011). Doch auch die praktische Umkehrung dieser Vorstellung, nach der es gälte, ein ideales Institutionenset in der Welt zu verwirklichen, ermangelt nicht nur des vorausgesetzten Sets, sondern steht in direktem Gegensatz zu der Rolle, die Rawls‘ konstruktivistische Theorie den Institutionen zuweist (vgl. hierzu Freeman 2014). Die Institutionen leisten in ihrer prinzipiellen Regelhaftigkeit ihren grundlegenden Beitrag zur

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gerechten Regulierung der Grundstruktur. Indem sie ähnliche Fälle ähnlich, unähnliche Fälle aber unähnlich behandeln, sichern sie formale Gerechtigkeit, die manches Unrecht, etwa Fälle persönlicher Willkür, bereits ausschließt (vgl. Rawls 2019, § 10). Diese Regelhaftigkeit reicht aber aus zwei Gründen nicht zur sozialen Gerechtigkeit. Erstens können die Regeln parteilich sein. Dem ließe sich vorbeugen, wenn als Regeln nur solche akzeptiert würden, die aus einer freien und fairen Wahl zwischen denjenigen, die ihnen unterworfen sind, hätten hervorgehen können. Die Regeln wären „objektiv“ gerecht, weil sich gegen ein solches Verfahren kein Einspruch erheben ließe. In Rawls’ Theorie sind Institutionen keine Mittel zur Verwirklichung vorgegebener Verteilungen. Im Idealfall drückt sich in ihren Regeln vielmehr die wechselseitige Anerkennung der Freien und Gleichen aus, die an ihnen beteiligt sind. Doch wäre dies im Fall einzelner Institutionen für soziale Gerechtigkeit nicht genug. Denn zweitens können Institutionen, die für sich betrachtet völlig gerecht sind, in ihrem Zusammenspiel ungerecht sein, vice versa (vgl. ebd., 77 f.). Deshalb betrachtet Rawls nicht Institutionen per se oder bestimmte Institutionen, sondern die „Grundstruktur der Gesellschaft“ als „ersten Gegenstand“ der Gerechtigkeit. Sie definiert er als „die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen“ (Rawls 2019, 23; vgl. 1998, 367; 2003, 32). Sie ist das große Kooperationsschema, in dem die vielen kleinen Schemata, die Institutionen, in denen der Vorrang von Ansprüchen festgelegt wird, im Zusammenhang zu betrachten sind. Für sie bedarf es unparteiischer Prinzipien. Für die Regulierung der Grundstruktur als Ganze ist der politische Prozess zuständig, dessen wichtigste Institution, wenn man vom Ideal Freier und Gleicher ausgeht, die demokratische Staatsbürgerschaft ist. Über sie werden diejenigen, die den Regeln der Grundstruktur unterworfen sind, an drei Ebenen ihrer Regulierung (indirekt) beteiligt. Die „drei Arten von Urteilen, die ein Bürger fällen muß“ (Rawls 2019, 106)

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betreffen (1) die Ebene der Verfassungsgebung, (2) die der Gesetzgebung und schließlich (3) die der Rechtsprechung, der Administration und der politischen Entscheidungen von Bürgerinnen selbst. Jede dieser Ebenen wird durch die jeweils vorausgehende, allgemeinere reguliert. Doch natürlich sind die Institutionen auf diesen Ebenen noch nicht so fair, dass ihre Ergebnisse auch gerecht wären, „however things turn out“ (Rawls 1999a, 243). Was Rawls’ Theorie der Leserin als Bürgerin daher vor allem anbietet, ist ein ideales Verfahren, das in einem Vier-Stufen-Gang die für die jeweiligen Ebenen maßgeblichen fairen Standpunkte umreißt, von denen aus die entsprechenden gerechten Prinzipien zu wählen bzw. zu konkretisieren sind. Der erste dieser Standpunkte ist die berühmte Ursituation, in der die zwei ersten Prinzipien der Gerechtigkeit gewählt werden. Sie ist fair, da der Schleier des Nichtwissens den rationalen Parteien jegliches Wissen um die partikularen Vorteile der jeweiligen Prinzipien vorenthält. Auf jeder der drei Stufen, die der Ursituation folgen, lüftet sich der Schleier und gibt neue empirische Informationen preis, damit die Parteien, in die wir uns als Bürger hineinversetzen, in „angemessener Schrittfolge“ (Rawls 1998, 369) unter Maßgabe der zwei Prinzipien erst über die gerechte Verfassung, dann im konstitutionellen Rahmen über gerechte Gesetzgebung und schließlich in Fragen der Rechtsprechung bzw. des zivilen (Un-) Gehorsams gerecht urteilen (s. Art. 55). In diesem Verfahren werden die zwei Prinzipien der Gerechtigkeit und die Institutionen, die sie regulieren sollen, abgestimmt (vgl. anschaulich bei Freeman 2007, Kap. 5).

Der Umfang der Grundstruktur in der Diskussion In der Rezeption wurde die Grundstruktur stark anhand von drei Streitpunkten diskutiert. Der erste Einwand zweifelt an, es gäbe eine Grundstruktur, der zweite gesteht dies zu, verneint aber, dass wir sicher wissen könnten, welche Institutionen zu ihr gehören, was ebenso auf

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die Nichtanwendbarkeit des Ansatzes hinauslaufen soll (vgl. Bedau 1999, 99). Zu beiden Einwänden haben Rawls’ unklare Formulierungen beigetragen. Der zweite Teil von Eine Theorie der Gerechtigkeit stellt grob die Institutionen einer liberalen Demokratie als mögliche Elemente einer Grundstruktur dar, die die Prinzipien der Gerechtigkeit erfüllt (vgl. Rawls 2019, 223). Als verbindliche Hauptinstitutionen nennt Rawls nur knapp die „Verfassung und die wichtigsten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse“ (ebd., 23), um beispielhafte Auflistungen folgen zu lassen. Vor allem irritierte das zunächst überbestimmte Beispiel der „monogamen Familie“ (ebd., 25), die Rawls erst später zu der „in irgendeiner Form institutionalisierte[n] Familie“ (Rawls 2003, 32) verallgemeinert. Die feministische Kritik wirft Rawls Zögerlichkeit vor, die Familie klar zur Grundstruktur zu zählen und sie damit direkt den Prinzipien der Gerechtigkeit zu unterwerfen (vgl. Okin 1994). Ebenso wird hinterfragt, warum Rawls einflussreiche Vereinigungen, wie Kirchen, nicht hineinnimmt. Rawls räumt selbst ein, seine Aufzählung wirke unsystematisch und willkürlich. Doch die Grundstruktur ist anders als Leser wie Sen meinen, kein festes Institutionenset, das in allen Gesellschaften gleich sein müsste und sich daher allgemein beschreiben ließe. Sie ist das jeweils für die Anwendung der zwei Prinzipien der Gerechtigkeit in einer Gesellschaft maßgebliche Ensemble von Institutionen, das selbst erst im Vier-Stufen-Gang unter sukzessiv erweiterter empirischer Information als kohärentes Ganzes bestimmt werden kann. „Rawls‘ criterion of justice assesses a basic structure by the distribution it would tend to produce in the actual social system it organizes“ (Pogge 2000, 165). Zwar können Institutionen, ohne die moderne Gesellschaften nicht auskommen, sicher zur Grundstruktur gezählt werden (vgl. Freeman 2014, 95). Da der Gang den Prinzipien in ihrer Rangordnung folgt, ist auch eine entsprechend lexikalisch geordnete zweigeteilte Grundstruktur aus Verfassung und sozialen und ökonomischen Institutionen sicher. Doch führt dies kaum über

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jene oben zitierte vage Feststellung der Hauptinstitutionen hinaus. Die Ermittlung der jeweiligen Grundstruktur ist eine praktische Aufgabe. Der dritte Einwand wendet sich schließlich gegen eine so bestimme Grundstruktur. Wenn Rawls die Parteien im Urzustand Prinzipien für ein relativ geschlossenes politisches System wählen lässt, hat er hierfür zwar gute Gründe, weil die sozialen Beziehungen zwischen den moralischen Subjekten durch ihre Zugehörigkeit enger und erwartungsbeladener sind. Doch wiegen diese Unterschiede sicher nicht absolut. Dass der Zuschnitt von Rawls‘ Theorie auf die soziale Grundstruktur Perspektiven inter-, transnationaler oder globaler Gerechtigkeit blockiert, bleibt daher rechtfertigungsbedürftig.

Nur Grundstruktur oder auch Einstellungen? Vielbeachtet haben Liam Murphy und G. A. Cohen Rawls‘ Privilegierung der Grundstruktur gegenüber anderen Gegenständen der Gerechtigkeit kritisiert. Beide sind der Auffassung, es sei ein Fehler, nicht auch die Einstellungen der Personen, die an den Institutionen teilnehmen, den Prinzipien der Gerechtigkeit zu unterwerfen. Warum also sollten die Parteien in der Ursituation die Grundstruktur als ersten Gegenstand anerkennen? Neben dem schon erwähnten holistischen Grundgedanken nennt Rawls drei Hauptgründe (vgl. Scheffler 2012, 115). (1) Zunächst betont er, sie sei „Hauptgegenstand der Gerechtigkeit, weil ihre Wirkungen so tiefgreifend und von Anfang an vorhanden sind“ (Rawls 2019, 23). Die ungleichen Ausgangspositionen, in die wir hineingeboren werden, sind stark mit abweichenden Lebenschancen verbunden, zumal ein Nachteil im Verlauf des Lebens schnell den nächsten nach sich zieht. Da anfängliche Ungleichheit sich nicht durch Verdienst rechtfertigen lässt, stellt sich einer demokratischen Gesellschaft die Frage, wie der Einfluss moralisch willkürlicher materieller Umstände auf die sozialen

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Verhältnisse moralisch gleicher Bürgerinnen reguliert werden soll. (2) In der Tradition Rousseaus betont Rawls zudem den Einfluss der Institutionen auf die Ausprägung des Charakters, der Wünsche und Ziele der Individuen. „Der Charakter und die Interessen der Individuen“ sind nach Rawls „nicht festgelegt oder vorgegeben“ (Rawls 1998, 380). Zu einem großen Teil bestimmt die Grundstruktur, „welche Art von Person sie sein wollen und welche Art von Person sie sind“ (ebd.). Sie begrenzt über die Zuweisung von Mitteln auch Ambitionen und Hoffnungen, wodurch die soziale Ausgangsposition in das Selbstbild des Einzelnen eingeschmolzen wird. Insofern ist keine Wirtschaftsordnung bloß der Rahmen der „Befriedigung bestehender Wünsche und Bestrebungen, sondern auch etwas, in dem sich künftige Wünsche und Bestrebungen ausbilden“ (ebd.). Die Regulierung der Grundstruktur schlägt sich daher mittelbar auch in den Einstellungen nieder (vgl. hierzu Cohen 2001). (3) In Politischer Liberalismus betont Rawls zudem die Gewährleistung von Hintergrundgerechtigkeit als Funktion der Grundstruktur (vgl. Rawls 1998, 368 Fn. 2; GF §§ 3, 15 f.). In der Grundstruktur, die er später als den „soziale[n] Hintergrundrahmen“ beschreibt, „in dem die Tätigkeiten der Verbände und der Individuen ausgeübt werden“ (Rawls 2003, 32) sei eine „institutionelle Arbeitsteilung“ nötig, bei der eher weniger die Transaktionen der Bürger als die Institutionen reguliert werden sollten. Denn ganz gleich, wie gerecht das Ansinnen der Bürgerinnen in ihrem Handeln sei, arbeite die unsichtbare Hand auf lange Sicht gegen die Gerechtigkeit der Verteilung (vgl. Rawls 1998, 376 f.). Besonders die Rede von institutioneller Arbeitsteilung hat Liam Murphys und G. A. Cohens Kritiken veranlasst. Murphy (1998) kritisiert die in seinen Augen künstliche dualistische Trennung zwischen Regeln für Institutionen und Re-

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geln für Personen, die von der Absicht zur Entlastung getragen sei, „to take the business of securing justice off people’s plates in their dayto-day lives“ (ebd., 259). Er vertritt dagegen die monistische Position, fundamentale Prinzipien sollten für Institutionen wie für das Verhalten von Individuen gelten (vgl. ebd., 251). G.A. Cohen (1997) artikuliert sein Argument gegen die Trennung unter der populären Parole, das Private sei politisch, und betont die Notwendigkeit eines egalitären Ethos. Einstellungsmuster seien als Teil der Grundstruktur den Gerechtigkeitsprinzipien zu unterwerfen, da sie für deren vollständige Ausgestaltung unerlässlich seien. Cohen hat Rawls dagegen im Verdacht, „unlimited self-seekingness“ (ebd., 16) zu legitimieren. Zwei Paradoxien des Differenzprinzips sollen darlegen, wie wichtig die Regulierung der Einstellungen ist: Würden Einstellungen als unabänderlich betrachtet, könnte der Arzt, der für keinen geringeren Lohn arbeiten will, seine Wucherpreise gerechtfertigt auf das Differenzprinzip stützen; die Patientin wäre schließlich ohne ihn schlechter gestellt. Bei variabel gedachten Einstellungen wäre die Talentierte, die nie Ärztin werden wollte, doch dazu verpflichtet, wenn sonst ein anderer, der unbehandelte Patient, schlechter gestellt würde. So belegt Cohen, dass Rawls‘ Ansatz Ergebnisse zulässt, die gängige Gerechtigkeitsurteile verletzen, wenn er nicht das Ethos als Teil der Grundstruktur auffasse. Für Samuel Scheffler (Scheffler 2012) basiert Cohens Hauptkritik an Rawls auf einer Fehlinterpretation der Metapher der institutionellen Arbeitsteilung. Er weist auch darauf hin, dass Rawls mit der natürlichen Pflicht zur Gerechtigkeit Einzelnen außeralltägliche Pflichten auferlegt und er anders als seine ökonomistischen Kritikerinnen das Persönliche nicht als amoralische Sphäre konzipiere (vgl. auch Tan 2014, 40). Joshua Cohen (Cohen 2001) hält G. A. Cohen entgegen, während Rawls‘ Prinzipien für Institutionen manches Unrecht de jure ausschlössen, rechnete er damit, dass gerechte Institutionen de facto einen Gerechtigkeitssinn und Vorstellungen

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vom Guten begünstigten, die weiteres Unrecht und so auch raffgierige Einstellungen gar nicht erst aufkommen ließen.

Literatur Bedau, Hugo Adam: Social Justice and Social Institutions. In: Henry Richardson/ Paul Weithmann (Hg.): The Philosophy of Rawls. A Collection of Essays. Garland, New York/ London 1999, 91–107. Cohen, Gerald Adam: Where the Action Is: On the Site of Distributive Justice. In: Philosophy & Public Affairs 26/1 (1997), 3–30. Cohen, Joshua: Taking People as They Are? In: Philosophy & Public Affairs 30/4 (2001), 363–386. Freeman, Samuel: Rawls. London/New York 2007. Freeman, Samuel: The basic structure of society as the primary subject of justice. In: John Mandle/David A. Reidy (Hg.): A companion to Rawls. Hoboken, NJ 2014, 88–111. Gališanka, Andrius: John Rawls: The path to a theory of justice. Cambridge, MA 2019.

T. F. Huttel Murphy, Liam B: Institutions and the demands of justice. In: Philosophy & Public Affairs 27/4 (1998), 251–291. Okin, Susan Moller: Political liberalism, justice, and gender. In: Ethics 105/1 (1994), 23–43. Pogge, Thomas: On the site of distributive justice: reflections on Cohen and Murphy. In: Philosophy & Public Affairs 29/2 (2000), 137–169. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 2019. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: A theory of justice. Oxford ern.1999a. Rawls, John: Two concepts of rules. In: Collected Papers. Hg. Samuel Freeman. Cambridge, Mass. 1999b, 20– 46. Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. 2003 (engl. 2001). Scheffler, Samuel: Equality and tradition: questions of value in moral and political theory. Oxford 2012. Sen, Amartya: The idea of justice. London 2010. Tan, Kok-Chor: Justice, institutions, and luck: the site, ground, and scope of equality. Oxford 2014. Valentini, Laura: A paradigm shift in theorizing about justice? A critique of Sen. In: Economics & Philosophy 27/3 (2011), 297–315.

Intergenerationale Gerechtigkeit/ Spargrundsatz

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Andreas Gösele

Die Frage der intergenerationellen Gerechtigkeit stand nicht im Zentrum der politischen Philosophie von John Rawls. Trotzdem war er sich ihrer (1) Bedeutung für die Architektur seiner Theorie der Gerechtigkeit bewusst und hat deshalb in den verschiedenen Stadien der Entwicklung seiner Theorie eine Antwort auch auf diese Frage vorgeschlagen. Dabei kann man (wie auch bei anderen Theorieelementen) zwei Ebenen unterscheiden: (3) die substantielle Antwort auf die Frage, was Gerechtigkeit zwischen Generationen verlangt (u. a. Sparen entsprechend einem gerechten Spargrundsatz), und (2) die Begründung dieser substantiellen Antwort, die sowohl Überlegungen im Rahmen der idealen wie der nichtidealen Theorie umfasst (4). (1) Die Bedeutung für die Architektur wird besonders deutlich auf der Basis dessen, was der späte Rawls als „die fundamentalste Idee“ im Rahmen seiner Gerechtigkeitskonzeption bezeichnet: „die Vorstellung von der Gesellschaft als einem fairen und langfristig von einer Generation zur nächsten fortwirkenden System der sozialen Kooperation“ (Rawls 2006, 25). Damit wird zumindest implizit und architektonisch die Frage nach der Gerechtigkeit zwischen Generationen als Grundlagenfrage sei-

A. Gösele (*)  Saint Joseph’s University, Philadelphia, PA, USA E-Mail: [email protected]

ner Theorie der Gerechtigkeit als Fairness mit aufgeworfen. Aber schon in früheren Arbeiten und insbesondere auch in Eine Theorie der Gerechtigkeit war vorausgesetzt, dass die Gesellschaft, für die im Urzustand eine Gerechtigkeitskonzeption gefunden werden soll, sich über die Zeit erstreckt und deshalb viele Generationen umfasst: „The life of a people is conceived as a scheme of cooperation spread out in historical time“ (Rawls 1971, 289). Überlegungen über die Anforderungen der Gerechtigkeit zwischen Generationen gehören konsequenterweise zu den Aufgaben seiner Theorie der Gerechtigkeit. Unter anderem für Eine Theorie der Gerechtigkeit lässt sich jedoch der logische Ort, an dem sich die Frage nach der intergenerationellen Gerechtigkeit stellt, noch genauer angeben: Für Rawls stellt sich diese Frage im Zusammenhang der Bestimmung der Höhe des vom Differenzprinzip geforderten sozialen Minimums. Dieses ist nämlich nicht nur im Hinblick auf die im Urzustand vertretene Generation festzulegen. Vielmehr „muss man die langfristigen Aussichten der am wenigsten Bevorzugten unter Einschluss der späteren Generationen betrachten“ (Rawls 1979, 320). Dabei ist für Rawls die Erfüllung der intertemporalen Anforderungen der Gerechtigkeit der konkreten Bestimmung des korrekten sozialen Minimums auf der Basis des Differenzprinzips vorgelagert. Dieses ist erreicht, wenn es nicht mehr möglich ist, die soziale Situation der schlechtest

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gestellten sozialen Gruppe z. B. durch höhere dem Einkommenstransfer gewidmete Steuern zu steigern, oder wenn eine solche Erhöhung mit den Anforderungen der intertemporalen Gerechtigkeit in Konflikt gerät, weil z. B. die von der Gerechtigkeit geforderte gesellschaftliche Sparrate verfehlt wird. (2) Mit dieser Verortung der Frage nach der intergenerationellen Gerechtigkeit ist auch schon ein wichtiger Hinweis auf die Form der Begründung der substantiellen Antwort gegeben: Da es um eine Einschränkung bzw. Modifikation der zwei Prinzipien der Gerechtigkeit geht, ist sie – im Rahmen der Rawlsschen Theoriekonstruktion – innerhalb des Urzustands zu finden. Rawls gibt deshalb den Parteien im Urzustand die zusätzliche Aufgabe, sich auf die Anforderungen der intergenerationellen Gerechtigkeit zu einigen. Diese Aufgabenstellung ist auch einer der Gründe dafür, dass den Parteien im Urzustand Wissen darüber, welcher Generation sie angehören, verwehrt wird. Die Annahmen über die Parteien im Urzustand, die genaue Aufgabenstellung und die Argumentation haben sich dabei über die Jahre leicht geändert. Gemeinsam ist die grundlegende Aufgabenstellung, einen gerechten Spargrundsatz zu beschließen, der für die verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung eine Sparrate (oder eine Spanne möglicher Sparraten) festlegt, wobei die Parteien im Urzustand annehmen, dass jede Generation sich an diesen Spargrundsatz halten wird. In dem Aufsatz „Distributive Justice“ (Rawls 1967) schien Rawls noch davon auszugehen, dass Repräsentanten aller Generationen einer Gesellschaft im Urzustand vertreten sind, ohne dass diese allerdings wissen, welcher Generation sie angehören. Da alle Generationen bis auf die erste davon profitieren, dass frühere Generationen gespart haben, scheint der Beschluss eines Spargrundsatzes, der über viele Generationen eine positive reale Sparrate vorsieht, für alle Generationen bis auf die erste attraktiv. Um die Problematik dieser ersten Generation zu umgehen, nimmt Rawls zumindest für diese Generation an, dass sie sich um das Wohl der unmittelbaren Nachkommen kümmert.

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In Eine Theorie der Gerechtigkeit entschied sich Rawls dann dafür, die „Gegenwart als Eintrittszeit“ (Rawls 1979, 163; kritisch dazu Tremmel 2009) zu wählen: Die Parteien wissen zwar nicht, welcher Generation sie angehören, aber sie wissen, dass sie Zeitgenossen sind. Unter der Voraussetzung, dass die Parteien jeweils nur an ihrem eigenen Wohl interessiert sind, und der Vorgabe, dass sie sich für einen Spargrundsatz entscheiden sollen, der das Verhalten früherer Generationen nicht verändern kann (diese haben gespart oder nicht, ein nicht mehr zu änderndes Faktum der Vergangenheit), gibt es zunächst keinen Grund für die Parteien, für einen Grundsatz zu stimmen, der von ihnen Sparen verlangt. Deshalb nimmt Rawls nun an, dass alle Parteien als Familienoberhäupter „am Wohlergehen mindestens ihrer unmittelbaren Nachfahren interessiert sind“ (Rawls 1979, 151) oder dass sie „Vertreter von Nachkommenslinien sind, denen jedenfalls ihre näheren Nachkommen nicht gleichgültig sind“ (Rawls 1979, 323). Außerdem verlangt er in der revidierten Ausgabe (die der deutschen zugrundeliegt), dass die Parteien nicht nur davon ausgehen, dass der beschlossene Spargrundsatz von allen Generationen umgesetzt wird, sondern dass sie einen Grundsatz wählen, für den sie sich dieses wünschen. (Die Nähe zu Kants kategorischem Imperativ ist offensichtlich.) Eine weitere Einschränkung der Deliberation zum Spargrundsatz im Urzustand ergibt sich aus der systematischen Vorordnung der zwei Prinzipien der Gerechtigkeit: Bei ihren Überlegungen zum Spargrundsatz setzen die Parteien diese Prinzipien voraus und auch das Ziel des (von Gerechtigkeitsgesichtspunkten aus verlangten) Sparens steht schon fest: Sparen dient der Erreichung der Bedingungen einer gerechten Gesellschaft. Der Spargrundsatz dient der gerechten Verteilung der Lasten des Erreichens dieser Bedingungen über die Generationen. Rawls spezifiziert noch zwei weitere zusätzliche Anforderungen an die Deliberation im Urzustand, die zwar die konkreteren Ausführungen zur Ausgestaltung des Spargrundsatzes nicht weiter beeinflussen, aber für die Interpretation

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relevant sind. (Das gilt vor allem für die zweite dieser Bedingungen.) Als eine hilfreiche Zusatzüberlegung schlägt er zunächst vor, sich zu fragen, was – gegeben ein bestimmtes Entwicklungsstadium – eine Generation bereit wäre, zugunsten der näheren Nachkommen (Kinder und Enkel) zu sparen, und gleichzeitig, was sie von den näheren Vorfahren (Eltern und Großeltern) meint erwarten zu können. Der gerechte Spargrundsatz würde sich dann daraus ergeben, dass für jedes Entwicklungsstadium die Sparrate festgelegt wird, die aus beiden Richtungen fair zu sein scheint. Zuletzt stellt sich Rawls noch vor, dass der Spargrundsatz vom Standpunkt der in den verschiedenen Stadien der Entwicklung am wenigstens Bevorzugten aus festgelegt wird, da er ja das durch das Differenzprinzip bestimmte Minimum einschränkt und damit ihre Lage direkt beeinflusst. Da der Grundsatz aus dieser Perspektive festgelegt wird, und damit dem entspricht, was sie sich als Spargrundsatz wünschen würden, können sie sich über die entsprechende Ausgestaltung nicht beklagen. In Gerechtigkeit als Fairness schließlich (wo Rawls allerdings nur sehr kurz auf die Fragestellung eingeht) behält er die ‚Gegenwart der Eintrittszeit‘ bei, gibt aber die Annahme, dass die Parteien im Urzustand sich um ihre Nachfahren kümmern, auf. Diese Annahme modifiziert nämlich – nur um das Sparprinzip abzuleiten – die grundlegendere Voraussetzung, dass die Parteien im Urzustand nur an ihrem je eigenen Wohl interessiert sind. Außerdem geht Rawls jetzt offensichtlich davon aus, dass die in der revidierten Ausgabe eingeführte Forderung, dass die Parteien einen Spargrundsatz wählen, von dem sie wünschen müssen, dass er von früheren Generationen eingehalten wurde, ausreicht, um einen Spargrundsatz abzuleiten. (3) Zwei Konzeptionen intergenerationeller Gerechtigkeit lehnt Rawls explizit ab. Zum einen die utilitaristische Idee der intertemporalen Maximierung einer Nutzensumme, zum anderen die Anwendung des Differenzprinzips. Die erstere kann nach Rawls dazu führen, dass ärmeren, früheren Generationen zu große Lasten zugunsten von späteren, reicheren Generationen auferlegt

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werden. So kann die Kombination von variabler Bevölkerungsgröße, hoher Grenzproduktivität von Kapital und einem langen Zeithorizont eine übermäßige Kapitalakkumulation verlangen, insbesondere wenn auf eine Diskontierung künftigen Wohlergehens auf der Basis einer (moralisch fragwürdigen) reinen Zeitpräferenz verzichtet wird. Dass ein Prinzip mit dieser Konsequenz für Fragen der intergenerationellen Gerechtigkeit unangemessen ist, scheint Rawls „evident“. Die Anwendung des Differenzprinzips hätte als Konsequenz, dass entweder gar nicht oder zu wenig gespart wird und damit das Ziel einer gerechten Gesellschaft – gleiche Freiheiten für alle – verfehlt wird. (Das ist nach Rawls jedenfalls dann der Fall, wenn man von einer ersten Generation ausgeht, die von vorausgehender Kapitalakkumulation nicht profitieren kann.) Das Differenzprinzip ist nicht anwendbar, da die Beziehung zwischen früheren und späteren Generationen immer einseitig sein muss: Spätere Generationen können früheren und ärmeren nichts geben. Die Ablehnung dieser beiden Ideen wird allerdings nicht aus der Perspektive des Urzustands begründet: Es handelt sich vielmehr um Urteile moralischer Art, die der Gestaltung des Urzustandes vorausgehen und Anforderungen an eine angemessene moralische Theorie darstellen. Auch eine geringere Gewichtung der Zukunft in Grundfragen der Gerechtigkeit lehnt Rawls ab. Die Entscheidungssituation im Urzustand bringt es mit sich, dass es keinen Grund gibt, die Zukunft geringer zu gewichten als die Gegenwart. Die Parteien im Urzustand können ja jeder Generation angehören und es gibt keinen Grund irgendeinen Zeitpunkt zu bevorzugen. Die Situation im Blick auf zwei Zeitpunkte ist symmetrisch: Wenn es einen Grund gäbe, einen späteren Zeitpunkt geringer zu gewichten, einfach deshalb, weil er in einer gewissen Distanz zum früheren liegt, gäbe es einen entsprechenden Grund auch in der anderen Richtung. Mit diesem Argument schließt Rawls eine sog. reine Zeitpräferenz aus, der entsprechend spätere Zeitpunkte einfach deshalb geringer gewichtet werden, weil sie später kommen. Nicht ausgeschlossen ist dabei, dass für bestimmte

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Entscheidungen außerhalb des Urzustandes spätere Zeitpunkte geringer gewichtet werden, weil sie mit geringerer Wahrscheinlichkeit erreicht werden oder weil die Umstände sich geändert haben (weil die Menschen z. B. reicher sind). Auch die Verwendung eines Zinssatzes für Investitionsentscheidungen ist nicht ausgeschlossen. Entscheidend ist, dass die im Urzustand beschlossenen Gerechtigkeitsprinzipien spätere Generationen nicht geringer gewichten als frühere oder die jeweils gegenwärtige. Rawls weist allerdings darauf hin, dass eine reine Zeitpräferenz dazu dienen kann, ein Entscheidungskriterium zu korrigieren, falls es zu Ergebnissen führt, die intuitiv nicht überzeugen. Das ist seines Erachtens der Fall für die utilitaristische Idee der intertemporalen Maximierung einer Nutzensumme, da ohne Diskontierung, wie erwähnt, früheren Generationen zu große Lasten auferlegt werden könnten. Für Rawls ist diese Notwendigkeit einer Korrektur allerdings eher ein (weiterer) Hinweis dafür, dass der Ansatz der intertemporalen Nutzenmaximierung selbst falsch ist. Die Aufgabe der Parteien im Urzustand ist es, einen ‚Sparplan‘ festzulegen, der für jedes Entwicklungsstadium festlegt, wie viel (mit welcher Rate) gespart werden soll. Rawls macht keine genauen Angaben über die Höhe dieser Quote. Er geht davon aus, dass sein Ansatz und der eher intuitive Charakter der Überlegungen nur dazu ausreicht, einen weiten, grundsätzlich zulässigen Bereich abzustecken. Genauere Festlegungen verlangen mehr Information über die konkreten Umstände. Im Wesentlichen lassen sich nach Rawls drei Phasen im Verlauf des Sparplans unterscheiden: Da zum Aufbau einer gerechten Gesellschaft beizutragen Pflicht ist und alle Generationen ein Interesse daran haben, dass frühere Generationen gespart haben, haben Gesellschaften, die die Voraussetzungen für die Einrichtung einer gerechten Gesellschaft noch nicht erreicht haben, eine Pflicht zu sparen. Da die gleiche Sparrate in einer ärmeren Gesellschaft mit größeren Lasten verbunden ist als in reicheren, wird in ärmeren

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Gesellschaften die geforderte Sparrate niedriger sein, in reicheren Gesellschaften dann höher. Zu hohe Sparraten in frühen Phasen der Entwicklung könnte die Vertragstreue der Parteien überfordern, wenn sie sich in einer armen Gesellschaft wiederfinden. Wenn allerdings gerechte Institutionen einmal erreicht und gesichert sind, ist kein Sparen aus Gerechtigkeitsgründen mehr verlangt. Eine gerechte Gesellschaft hat nur die Pflicht, gerechte Institutionen und ihre auch ökonomischen Voraussetzungen zu bewahren. Drei Aspekte verdienen noch der Hervorhebung: (a) Rawls diskutiert die Frage des Sparens auch vor dem Hintergrund der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur seiner Zeit. Allerdings betont er ausdrücklich, dass er nicht nur produziertes Sachkapital im Blick hat, sondern auch „Wissen und Kultur“ und die „Methoden und Fähigkeiten, die gerechte Institutionen und den fairen Wert der Freiheit ermöglichen“ (Rawls 1979, 325) – was gut an die gegenwärtige Betonung von Institutionen und Humankapital für die wirtschaftliche Entwicklung anschließt. In einem anderen Kontext diskutiert er auch die Bedeutung natürlicher Ressourcen und der Umwelt für die Frage der Gerechtigkeit zwischen Generationen. Das legt nahe, auch natürliches Kapital als eine in der Diskussion der Sparrate zu berücksichtigende Kapitalform zu betrachten. Damit ist ein Ausgangspunkt für eine Umweltethik in Rawlsscher Tradition gegeben. (b) Die Bedingung dafür, dass die Sparrate auf Null fallen kann, ist nicht großer gesellschaftlicher Reichtum. Rawls geht davon aus, dass eine Gesellschaft nicht reich sein muss, um gerecht zu sein. Rawls hat sich nirgends auf eine bestimmte Höhe z. B. des Bruttoinlandsprodukts festgelegt, was schon allein aufgrund der Tatsache, dass u. a. auch kulturelle, institutionelle und natürliche Faktoren eine Rolle spielen, zu erwarten ist. In Das Recht der Völker (Rawls 2002) ordnet Rawls aber z. B. Spanien und Frankreich der frühen Neuzeit in die Kategorie von ‚Schurkenstaaten‘ ein und nicht in die von ‚belasteten Völkern‘, denen u. a. die materiellen Grundlagen einer gerechten Gesellschaft fehlen. Sie können trotz ihres wirtschaftlichen

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Vorsprungs und aufgrund institutioneller und kultureller Faktoren nicht zur Kategorie gerechter und wohlgeordneter Völker gerechnet werden. Das spricht für ein relativ niedriges Niveau wirtschaftlichen Reichtums als Vorbedingung einer gerechten Gesellschaft. Allerdings werden Stabilitätsüberlegungen dafür sprechen, auch über das absolut notwendige Minimum hinaus zu sparen. (c) Nur in der revidierten englischsprachigen Fassung von Eine Theorie der Gerechtigkeit findet sich ein Hinweis auf ein mögliches Missverständnis: Es könnte der Eindruck entstehen, dass es nur auf die letzte Phase ankommt, in der eine gerechte Gesellschaft verwirklicht ist, und dass frühere Generationen späteren gewissermaßen dienen. Rawls betont dagegen, dass es darauf ankommt, die Ansprüche der Angehörigen jeder Generation als berechtigt zu berücksichtigen. Ohne dass Rawls das erwähnt, ist einsichtig, dass ein Sparplan, der im Urzustand beschlossen wird, dies sicherstellen würde. (4) Auch wenn Rawls das nicht explizit feststellt, handelt es sich bei seinen Überlegungen zum Spargrundsatz zum Teil um Überlegungen der nicht idealen Theorie. Das Ziel des Sparens ist das Erreichen der materiellen und kulturellen Voraussetzungen für eine gerechte Gesellschaft. Solange diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, befinden wir uns in der nicht idealen Theorie. Wenn diese Voraussetzungen erreicht sind, ist, wie gesagt, kein weiteres Sparen aus Gerechtigkeitsgründen mehr verlangt. Möglicherweise ist Sparen weiter erlaubt: Erörterungen über die Bedingungen der Erlaubtheit von Sparen in einer gerechten Gesellschaft wären aber Teil einer idealen Theorie. Zur idealen Theorie des erlaubten Sparens in ein einer gerechten Gesellschaft gibt es keine expliziten Ausführungen bei Rawls. Eine angesichts der gegenwärtigen Diskussion um ‚degrowth‘ (vgl. z.B. Muraca 2012) interessante Frage könnte z. B. sein, ob es einer Gesellschaft erlaubt ist, zu ‚entsparen‘ für den Fall, dass sie weit über das notwendige Niveau hinaus Kapital akkumuliert hat. Wenn man berücksichtigt, dass den Parteien das Ziel des Sparens vorgegeben ist, und die Intuition Rawls’

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teilt, dass sich die Parteien im Urzustand unter den beschriebenen Bedingungen darauf einigen, dass kein Sparen mehr verlangt ist, wenn das notwendige Niveau einmal erreicht ist, scheint es plausibel, dass auch ‚Entsparen‘ unter Umständen erlaubt sein könnte. Eine andere Frage könnte sein, unter welchen Bedingungen Sparen über das notwendige Maß hinaus erlaubt ist. Zum einen wäre es im Geist der Theorie der Gerechtigkeit, dass Bürger*innen aus ihrem privaten Einkommen/Vermögen sparen, solange daraus resultierende künftige Einnahmen u. a. über entsprechende Transferleistungen mit dem Differenzprinzip vereinbar bleiben. Soweit es um staatliches Sparen (Investitionen) geht, so wäre im Rahmen von Eine Theorie der Gerechtigkeit dafür die Austauschabteilung verantwortlich. Das ist die fünfte Regierungsabteilung, die die Aufgabe hat, staatliche Ausgaben und damit verbundene Steuern zu organisieren, die nicht von den Gerechtigkeitsgrundsätzen (hier allgemeiner von Anforderungen der Gerechtigkeit) verlangt werden. Wie auch sonst müsste – so Rawls in Eine Theorie der Gerechtigkeit – das Ausgaben und Einnahmen verbindende Maßnahmenpaket, das zu höherem Sparen führt, einem Einstimmigkeitskriterium gehorchen. (Was u. a. sicher stellt, dass die am wenigsten Bevorzugten ihm zustimmen können.) Allerdings hat Rawls diese Bedingung später nicht mehr weiterverfolgt und man kann ihn so verstehen, dass allgemein Maßnahmenpakete, die nicht wesentliche Verfassungselemente (vgl. Rawls 2003) in Frage stellen oder gefährden (das heißt neben den Grunprinzipien des politischen Systems im Wesentlichen die Konkretisierung der Freiheiten des ersten Prinzips der Gerechtigkeit, ein Minimum von sozialen Ansprüchen und die Garantie der formalen Chancengleichheit) in einem normalen, kontroversen Gesetzgebungsverfahren beschlossen werden können. Der bemerkenswerteste Aspekt der Rawlsschen Überlegungen zur Gerechtigkeit zwischen den Generationen, die in den Bereich der idealen Theorie gehören, ist die These, dass in einer gerechten Gesellschaft, die die Voraussetzungen

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der Gerechtigkeit in einem zukunftsfähigen Maß gesichert hat, kein positives Sparen, keine Kapitalakkumulation gefordert ist. Das hat eine große Aktualität angesichts gegenwärtiger ökologischer Krisen, die nahelegen, dass ein grenzenloses Wachsen des globalen Ressourcenverbrauchs ökologisch nicht tragbar ist. Eine gerechte Gesellschaft verlangt die Bewahrung eines ausreichenden Kapitals, das explizit aber nicht nur produziertes Sachkapital sondern auch Naturkapital (vgl. Mathis 2009) und soziales und kulturelles Kapital umfasst.

Literatur Birnbacher, Dieter: Rawls’ ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ und das Problem der Gerechtigkeit zwischen den Generationen. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 31/3 (1977), 385–401.

A. Gösele Mathis, Klaus: Future generations in John Rawls’ Theory of justice. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 95/1 (2009), 49–61. Muraca, Barbara: Towards a fair degrowth-society: Justice and the right to a ‚good life‘ beyond growth. In: Futures 44/6 (2012), 535–545. Rawls, John: Distributive Justice. In: Peter Laslett/Walter Garrison Runciman (Hg.): Philosophy, politics and society. Third series. Oxford 1967, 58–82. Rawls, John: A Theory of justice. Cambridge 1971. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit [1979]. Frankfurt a. M. 202017 (engl. 1971). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß [2006]. Frankfurt a. M. 52017 (engl. 2001). Rawls, John: Das Recht der Völker. Enthält: ‚Nochmals. Die Idee der öffentlichen Vernunft‘. Berlin/New York 2002 (engl. 1999). Rawls, John: Politischer Liberalismus [2003]. Frankfurt a. M. 62017 (engl. 1993). Tremmel, Jörg: Welche Prinzipien der Generationengerechtigkeit würden Vertreter aller Generationen unter dem Rawls’schen Schleier der Unwissenheit festlegen? In: Zeitschrift für philosophische Forschung 63/2 (2009), 201–234.

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Kooperation Andreas Gösele

„Kooperation“ in Rawls’ Werkentwicklung Im Zusammenhang mit der inhaltlichen Entwicklung hin zum Politischen Liberalismus hat John Rawls auch die Darstellungsweise seiner Theorie geändert: Sowohl in Politischer Liberalismus wie auch in Gerechtigkeit als Fairneß beginnt Rawls nach der Entwicklung der Fragestellung mit der Darstellung grundlegender Ideen, die er zum einen der politischen Kultur moderner demokratischer Gesellschaften meint entnehmen zu können und die zum anderen grundlegend für die Artikulation der Theorie des Politischen Liberalismus oder der Gerechtigkeit als Fairness sind. Die grundlegendste dieser Ideen, auf die die anderen fundamentalen Ideen als eine Art Zentrum hingeordnet sind, ist „die Idee der Gesellschaft als eines fairen generationenübergreifenden Systems der Kooperation“ (Rawls 2003, 81) bzw. „eines fairen Systems sozialer Kooperation zwischen freien und gleichen Personen, die als lebenslang uneingeschränkt kooperative Mitglieder einer Gesellschaft betrachtet werden.“ (ebd., 74). (Rawls variiert die Formulierung leicht in unterschiedlichen Kontexten.) Noch vorgängig zur Ent-

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wicklung der grundlegenden Ideen hat er auch die erste grundlegende Frage „für die politische Gerechtigkeit in einer demokratischen Gesellschaft“ auf der Basis eines diesen Ideen entsprechenden Verständnisses von Gesellschaft formuliert: „Welches ist die angemessenste Gerechtigkeitskonzeption, um faire Bedingungen einer Generationen übergreifenden sozialen Kooperation unter Bürgern zu formulieren, die als freie und gleiche und lebenslang kooperative Gesellschaftsmitglieder betrachtet werden?“ (ebd., 67). Damit wird die Zentralität der Idee der Kooperation für die politische Philosophie Rawls’ besonders unterstrichen, aber tatsächlich finden sich erste Hinweise auf die Bedeutung der Idee der Kooperation für seine Theorie der Gerechtigkeit schon im ersten Entwurf einer Theorie der Gerechtigkeit als Fairness (Rawls 1958): Die Möglichkeit der fruchtbaren Zusammenarbeit gehört zu den „typical circumstances in which questions of justice arise“ (Rawls 1958, 171–172) und damit zu dem, was Rawls später die „Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit“ nennt, d. h. die „gewöhnlichen Bedingungen, unter denen menschliche Zusammenarbeit möglich und notwendig ist“ (Rawls 1979). In den folgenden, Eine Theorie der Gerechtigkeit vorbereitenden Artikeln nahm die Idee der Kooperation eine immer prominentere Rolle ein und spätestens in „Distributive Justice“ hat Rawls gleich einleitend „human s­ociety“

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_40

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e­ xplizit als ein „cooperative venture for mutual advantage“ charakterisiert (Rawls 1967, 130). Dieses grundsätzliche Verständnis von Gesellschaft „als ein Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil“ (Rawls 1979, 105) ist dann auch für Eine Theorie der Gerechtigkeit prägend. Das wichtigste Element, das gegenüber der Darstellung in Eine Theorie der Gerechtigkeit später dazukommt, ist die Explikation des normativen Charakters dieses Gesellschaftsverständnisses: Gesellschaft ist nicht einfach ein System der Kooperation, sondern ein System der fairen Kooperation.

Gesellschaft als System der fairen sozialen Kooperation Entsprechend der Bedeutung, die Rawls diesem grundlegenden Verständnis von Gesellschaft zumisst, hat er sich vor allem in den zentralen Schriften, in denen er seine Position dem ‚politischen Liberalismus‘ zuordnet, auch um eine sehr sorgfältige Darstellung dieser Grundidee bemüht. Ein System der sozialen Kooperation ist demnach ein System der sozialen Koordination der Tätigkeit unterschiedlicher Akteure, das aber durch drei eng verflochtene Elemente über ein bloßes System der sozialen Koordination hinausgeht (vgl. Rawls 2003, 82; Rawls 2006, 26–27): (a) Die Koordination erfolgt auf der Basis von öffentlich anerkannten und von den Beteiligten akzeptierten Regeln und Verfahren und nicht etwa einfach auf der Basis der Anordnungen einer zentralen Autorität. (b) Sie findet unter fairen Bedingungen statt, die also von allen Teilnehmer*innen ‚vernünftigerweise‘ akzeptiert werden können, solange sie von den anderen ebenfalls akzeptiert werden, und die eine Idee der Gegenseitigkeit ausdrücken, der gemäß „alle, die sich beteiligen und ihren Beitrag leisten, so wie es die Regeln fordern, […] nach Maßgabe einer geeigneten Vergleichsbasis in an-

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gemessener Weise davon profitieren“ (Rawls 2003, 82). (c) Sie ist verknüpft mit einer „Vorstellung vom rationalen Vorteil oder Wohl jedes Beteiligten“, die „bestimmt, was es eigentlich ist, das die Kooperierenden unter dem Gesichtspunkt ihres eigenen Wohls zu fördern bestrebt sind“ (Rawls 2006, 26–27). Die unter (b) angesprochene Idee der Gegenseitigkeit unterscheidet sich nach Rawls sowohl von der der Unparteilichkeit, die Altruismus voraussetzt und damit die Bereitschaft, sich unabhängig vom eigenen Wohl für das Wohl anderer bzw. das Gemeinwohl einzusetzen, als auch von der des gegenseitigen Vorteils, der dann gegeben ist, wenn alle gegenüber dem Status quo oder der unter den gegebenen Umständen zu erwartenden Entwicklung gewinnen. In einer von großer Ungleichheit geprägten Situation ist nicht zu erwarten, dass die Umsetzung der Rawlsschen zwei Prinzipien (oder wie Rawls weitergehend meint, einer jeden ‚vernünftigen Gerechtigkeitskonzeption‘) zum Vorteil aller sein könnte. Der Bezugspunkt, von dem aus die Umsetzung der Rawlsschen zwei Prinzipien zum Vorteil aller ist, und damit der Bezugspunkt, von dem aus Gegenseitigkeit zu verstehen ist, ist der einer angemessen definierten Gleichverteilung. Zusammengenommen schließen diese Elemente von vornherein bestimmte historische Gesellschaftsformationen vom Kreis möglicher gerechter Gesellschaften aus. Das gilt z. B. für Sklavenhaltergesellschaften und autoritäre, diktatoriale oder gar totalitäre politische Systeme. Grundsätzlich gilt es für alle Gesellschaften, in denen nicht alle, die ihnen dauerhaft und perspektivisch für ein ganzes Leben angehören und ihren Gesetzen und Regeln unterworfen sind, diese akzeptieren können und von ihnen profitieren. Jedenfalls verknüpft mit einer der zwei begleitenden Grundideen, genauer der Idee der Bürger*innen als freier und gleicher Personen (die Rawls oft in die erste Grundidee sprachlich integriert), sind auch historische Gesellschaftsformen ausgeschlossen, die zwischen unterschiedlichen Gruppen von Bürger*innen

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diskriminieren. Dazu gehören aristokratische Gesellschaften und auch solche, in denen z. B. Frauen oder Anhänger*innen bestimmter Religionen weniger Rechte als Männer oder Angehörige der dominierenden Religion besitzen. Vielleicht weniger offensichtlich, aber im Blick auf das Gesamtargument Rawls’ plausiblerweise (vgl. Rawls 2006, 212–215), gilt das auch für den Kapitalismus, sowohl in seiner Ausgestaltung als Laissez-faire-Kapitalismus als auch als kapitalistischer Wohlfahrtsstaat, also der in liberalen Demokratien dominierenden Gesellschaftsformation (vgl. O’Neil 2021). Auch verschiedene theoretische oder philosophische Konzeptionen von Gesellschaft werden durch die erste Grundidee ausgeschlossen. Rawls’ Grundverständnis von Gesellschaft ist in einer gewissen Weise individualistisch: Gesellschaft als System der Kooperation dient dem Vorteil, dem je eignen Wohl aller ihrer Mitglieder, ihren Interessen und Vorstellungen vom Guten und nicht einem vom Wohl der Mitglieder unabhängig bestimmbaren und ihm möglicherweise entgegenstehenden Wohl des Ganzen. Das schließt alle Gesellschaftskonzeptionen aus, die verlangen, dass Bürger*innen ihr eigenes Wohl dem Wohl der Gesellschaft unterordnen oder gar opfern. Das gilt auch für den Utilitarismus, der jedenfalls grundsätzlich verlangt, das Wohl einzelner zugunsten der größeren aggregierten Nutzensumme oder des größeren Durchschnittsnutzens und damit im Blick auf eine Art Ganzes zu opfern. Oder auch für perfektionistische Konzeptionen, bei denen Gesellschaft der Verwirklichung z. B. herausragender kultureller Errungenschaften oder der Hervorbringung großer Einzelpersönlichkeiten dient. Allerdings darf der individualistische Charakter des Rawlsschen Gesellschaftsverständnisses nicht missverstanden werden. Wie Rawls u. a. in seiner Auseinandersetzung mit einer Rezession Thomas Nagel’s (Nagel 1973; Rawls 1975) ausführt, setzt seine Position nicht voraus, dass die Mitglieder der Gesellschaft nur individualistische Ziele und Lebenspläne verfolgen oder ihre Interessen gewissermaßen vorgesellschaftlich gegeben sind. Sie können altruistische, gruppenund gemeinschaftsorientierte Ziele verfolgen

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und Rawls hält es für gegeben, dass ihre Ziele und Interessen von den Institutionen der Gesellschaft, in der sie leben, abhängig sind. Die Bürger*innen vertreten zwar sehr unterschiedliche umfassende Sichten des Guten. Die Gesellschaft ist aber trotzdem – wie Rawls schon in Eine Theorie der Gerechtigkeit und dann wieder in Politischer Liberalismus und Gerechtigkeit als Fairness ausführt – keine ‚Privatgesellschaft‘ in der Bürger*innen den (gerechten) gesellschaftlichen Institutionen keinen eigenen Wert zumessen, in der sie keine gemeinsamen Endziele haben, sondern nur Privatinteressen, und in der sie die Interessen anderer und gesellschaftliche Institutionen nur strategisch in Rechnung stellen. (Für Rawls ist das das Gesellschaftsbild der für die Wirtschaftswissenschaften zentralen Theorie des Wettbewerbsmarktes.) Noch weniger ist Gesellschaft – auch wenn Rawls das nicht explizit erwähnt – eine Ansammlung grundsätzlich antagonistischer Akteur*innen. Vielmehr sind die Mitglieder der Gesellschaft auf der Basis einer geteilten politischen Konzeption der Gerechtigkeit gemeinsam an der Verwirklichung und dem Erhalt gerechter Grundinstitutionen interessiert, sowie daran, einander gerecht zu behandeln. Diesem gemeinsamen Ziel wird ein hohes Gewicht beigemessen: Zunächst entspricht es dem grundlegenden Interesse der Bürger*innen, ihre zwei moralischen Vermögen – man denke hier vor allem an den Gerechtigkeitssinn – auch auszuüben. (Gerechte Institutionen sind auch notwendig dafür, dass alle Bürger*innen ihre Befähigung zu einer Konzeption des Guten in einem vollen Sinn verwirklichen können. Dem könnte aber – versus Rawls – auch ein bloß strategisches Interesse an gerechten Institutionen entsprechen.) Nachdem auf diese Weise der Einsatz für eine gerechte Gesellschaft als ein gemeinsames Gut und Ziel begründet ist, kann weitergehend darauf hingewiesen werden, dass dieses Gut ein soziales ist: Es ist auf die koordinierte Zusammenarbeit bzw. Kooperation vieler in ihren je spezifischen Rollen und Aufgaben für seine Realisierung angewiesen. Diese Zusammenarbeit im Dienst eines hohen sozialen Guts wird aber selbst wieder als in sich wert-

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voll, als ein Gut erfahren, was Rawls u. a. mit den Beispielen des Stolzes eines Orchesters auf eine gute Ausführung oder des Stolzes eines Volkes auf seine demokratischen Institutionen illustriert.

Kooperation in freien Vereinigungen und im Völkerrecht Im Zentrum der politischen Philosophie Rawls’ steht die Aufgabe, eine bestimmte Gerechtigkeitsvorstellung für die Grundstruktur einer Gesellschaft – verstanden als ein faires System der Kooperation zwischen freien und gleichen Bürger*innen – vorzuschlagen und zu begründen. Die Idee der Kooperation hat aber noch weitere Anwendungen. Schon in „Constitutional Liberty and the Concept of Justice“ (Rawls 1963) hat Rawls das (selbstverständliche) Faktum diskutiert, dass es natürlich Systeme der Kooperation gibt, die nicht die ganze Gesellschaft umfassen. Dies geschah im Zusammenhang der kurzen Begründung des Prinzips der Vereinigungsfreiheit. (Der in der deutschen Übersetzung von Eine Theorie der Gerechtigkeit verwendete Begriff der ‚Koalitionsfreiheit‘ betrifft nur einen Teilaspekt der Vereinigungsfreiheit.) Der entscheidende Punkt ist, dass Vereinigungen, die von rationalen Bürger*innen gegründet werden, deren gleiche Freiheit aufgrund der zwei Prinzipien der Gerechtigkeit gesichert ist, und die frei nach ihren Vorstellungen gestaltet und aufrecht erhalten werden, nicht selbst – intern – den zwei Prinzipien der Gerechtigkeit unterliegen müssen. Solange – anders als in Bezug auf die Gesellschaft als Ganzes – Bürger*innen effektiv frei sind, diesen Vereinigungen beizutreten oder sie zu verlassen, können sie unter den gegebenen Voraussetzungen als fair bezeichnet werden, ohne selbst den zwei Prinzipien zu genügen. (Eine vollständige Theorie solcher Vereinigungen würde allerdings weitere Bedingungen an ihre Fairness knüpfen. So dürfen sie z. B. den Status freier und gleicher Bürger*innen und ihre grundlegenden Rechte nicht effektiv gefährden.)

A. Gösele

Vereinigungen, die ohne die gesamte Gesellschaft zu umfassen, doch Systeme der Kooperation darstellen, bilden auch einen wichtigen Baustein in Rawls’ Moralpsychologie, insbesondere seiner Theorie der Moralentwicklung, die er in Teil 3 von Eine Theorie der Gerechtigkeit ausführlich darstellt. Die zweite Phase dieser Entwicklung – die ‚gruppenorientierte Moralität‘ – baut auf der positiven Erfahrung der fairen Kooperation in unterschiedlichen Vereinigungen – beginnend mit der Familie über die Nachbarschaft und Schule – aber auch z. B. in kurzzeitigen Gruppen des gemeinsamen kindlichen Spielens auf. Sie ist verknüpft mit einem wachsenden Verständnis des Ziels der Zusammenarbeit in den unterschiedlichen Vereinigungen; der Bedürfnisse, Ziele und Überzeugungen anderer Mitglieder; der eigenen Rolle in ihnen und der an diese Rolle geknüpften Erwartungen. Die Erfahrung, dass andere die an ihre Rolle geknüpften Erwartungen erfüllen, die als gerecht oder fair gewerteten Regeln einhalten und so ihren Teil zur Erreichung des gemeinsamen Ziels der Zusammenarbeit beitragen, führt zu Freundschaft und gegenseitigem Vertrauen und motiviert zu einem reziproken Verhalten. Rawls stellt sich vor, dass der Kreis der auf diese Weise durchlaufenen Vereinigungen schrittweise erweitert wird, und am Ende die Gesellschaft als Ganzes und auch Rollen in Institutionen, die für Grundstruktur der Gesellschaft relevant sind und deshalb von den zwei Grundsätzen der Gerechtigkeit regiert werden, erreicht werden: „Wir können also von einer Gruppenmoralität ausgehen, der gemäß die Mitglieder der Gesellschaft einander als Gleiche, Freunde und Genossen betrachten, die miteinander in einem System der Zusammenarbeit verbunden sind, das bekanntermaßen dem Vorteil aller dient und von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung beherrscht wird“ (Rawls 1979, 513). Rawls verwendet die Idee der Kooperation auch als wichtigen Baustein für seine normative Theorie des Völkerrechts, d. h. der Gerechtigkeit zwischen Völkern. Das ist insofern konsequent als er diese Theorie als eine ­Extension sei-

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ner liberalen Theorie der Gerechtigkeit demokratischer Gesellschaften entwickelt. Viele Elemente seiner Theorie der Gerechtigkeit als Fairness finden sich deshalb in geeignet modifizierter Form in seiner Theorie des Völkerrechts wieder, darunter eben auch die Idee der dauerhaften und fairen Kooperation – jetzt freier und gleicher Völker. Auch wenn Rawls die Elemente, die ein System der Kooperation ausmachen, in Das Recht der Völker nicht in der sorgfältigen und ausführlichen Form entwickelt, wie er das etwa in Politischer Liberalismus tut, so gibt es doch ausreichend Hinweise dafür, dass er alle drei oben genannten Elemente auch für die Theorie des Völkerrechts als relevant erachtet. Das Gesamt der korrekten Beziehungen von Völkern zueinander ist also eines der fairen Kooperation, aber bestimmter geht Rawls noch auf einige spezifische internationale Institutionen ein, die der Kooperation dienen sollen, wie eine dem Ziel des fairen Handels dienende Organisation, ein kooperatives Bankensystem und eine Art ideale Form der Vereinten Nationen. Zuletzt benutzt Rawls in Das Recht der Völker die Idee der Kooperation auch dazu, Gesellschaften zu beschreiben, die ohne liberal zu sein, doch angesehene, vollwertige und gleichberechtigte Mitglieder einer unter einem (liberalen) Recht der Völker geeinten Gemeinschaft von Völkern sein können. Liberale Völker haben die Pflicht, mit diesen Völkern zu kooperieren. Rawls nennt diese Völker ‚decent‘ (in der deutschen Übersetzung von Das Recht der Völker ‚achtbar‘) und beschreibt insbesondere die Klasse ‚achtbarer hierarchischer Völker‘, ohne auszuschließen, dass es auch andere achtbare Völker gibt. In achtbaren hierarchischen Völkern sind alle Personen über ihre Mitgliedschaft in bestimmten Gruppen und über Konsultationen in den politischen Entscheidungsprozess effektiv integriert, aber nicht auf der Basis der Gleichheit. Das Gewicht der unterschiedlichen Gruppen im politischen Prozess kann sehr verschieden sein. Innerhalb dieser Gruppen haben alle ein Recht, gehört zu werden und auch abweichende Auffassungen zu artikulieren. In unserem Zusammenhang ist entscheidend,

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dass Völker nur achtbar sein können, wenn sie ihren Mitgliedern einen Mindestbestand von Menschenrechten sichern. (Rawls spricht in Bezug auf diesen Mindestbestand von den Menschenrechten.) Nur unter dieser Bedingung können sie nämlich überhaupt als Systeme der Kooperation verstanden werden  (vgl. Freeman 2006, 36–38) und damit Teile eines umfassenderen Ganzen sein, das in seiner Ganzheit als ein System der Kooperation gelten kann. Nur Gesellschaften, die also die oben genannten Bedingungen sozialer Kooperation erfüllen, können als achtbare Völker gelten. Im Unterschied zu liberalen Völkern ist diese Kooperation aber keine zwischen als frei und gleich verstandenen Bürger*innen. In Bezug auf achtbare Gesellschaften als Ganze spricht Rawls deshalb nicht von fairen, sondern achtbaren (decent) Systemen der Kooperation. Rawls deutet aber an, dass auch in achtbaren Gesellschaften die Kooperation innerhalb der verschiedenen Gruppen gewissen Ansprüchen der Fairness genügen muss.

Literatur Freeman, Samuel: The law of peoples, social cooperation, human rights, and distributive justice. In: Social Philosophy and Policy 23/1 (2006), 29–68. Nagel, Thomas: Rawls on justice. In: The Philosophical Review 82/2 (1973), 220–234. O’Neill, Martin: Social justice and economic systems: on Rawls, democratic socialism, and alternatives to capitalism. In: Philosophical Topics 49/1 (2021), forthcoming. Rawls, John: Justice as fairness. In: The Philosophical Review 67/2 (1958), 164–194. Rawls, John: Constitutional Liberty and the Concept of Justice [1963]. In: John Rawls (Autor)/Samuel Freeman (Hg.): Collected Papers. Cambridge 1999, 130– 153. Rawls, John: Distributive justice [1967]. In: John Rawls: Collected Papers. Samuel Freeman (Hg.). Cambridge 1999, 130–153. Rawls, John: Fairness to goodness. In: The Philosophical Review 84/4 (1975), 536–554. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit [1979]. Frankfurt a. M. 202017 (engl. 1971). Rawls, John: Politischer Liberalismus [2003]. Frankfurt a. M. 62017 (engl. 1993). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß [2006]. Frankfurt a. M. 52017 (engl. 2001).

Liberalismus, politischer

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Johannes J. Frühbauer

Die Entwicklung des politischen Liberalismus Ebenso wenig wie eine Abhandlung zur Gerechtigkeit am Werk von John Rawls vorbeikommt, genauso wenig kann der Diskurs zum Liberalismus dieses ausblenden oder übergehen. Im Gegenteil: Neben dem Gerechtigkeitsdenken kommt der Idee des Liberalismus, genauer gesagt des politischen Liberalismus im Schrifttum von Rawls eine enorme Bedeutung zu. ‚Politischer Liberalismus‘ ist der zentrale und programmatische Leitbegriff einer späteren Phase in Rawls’ Gesamtwerk, die sich vor allem auf die 1980er Jahre datieren lässt. Der Begriff des ‚politischen Liberalismus‘ dient bei Rawls nicht zur allgemeinen Kennzeichnung einer ideengeschichtlichen Denkströmung, die er als umfassenden Liberalismus (wie er sich etwa bei Locke, Kant, Mill oder anderen liberalen Denkern der Neuzeit findet; vgl. Rawls 2003b, 25; 36; Rawls 1994, 330) bezeichnet, sondern er bezieht sich in erster Linie ganz konkret auf ein konzeptionelles Arrangement, das zur Aufgabe hat, eine politische Gerechtigkeitskonzeption für eine verfassungsbasierte demokratische

J. J. Frühbauer (*)  Katholische Stiftungshochschule München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

Gesellschaft und deren soziale Einheit und Stabilität auszuarbeiten. Erstmals findet sich der Terminus ‚politischer Liberalismus‘ bei Rawls in einem Aufsatz aus dem Jahre 1987: „The Idea of an Overlapping Consensus“ (Rawls 1999b, 421–448; vgl. Rawls 1994, 330 f.). Doch bereits in einem grundlegenden Beitrag von 1985 „Justice as Fairness – political, not metaphysical“ (Rawls 1999a) zeichnet sich die Programmatik eines politischen Liberalismus à la Rawls ab (vgl. Hinsch 1994, 33). In der erstmals 1993 im amerikanischen Original erschienenen Monographie Political Liberalism, in der vornehmlich Vorlesungen aus den 1980er Jahren enthalten und systematisch angeordnet sind, legt Rawls ausführlich erstens die „Grundelemente“ der Konzeption seines politischen Liberalismus dar, zweitens entfaltet er dessen Hauptideen, nämlich die Idee des übergreifenden Konsenses, die Idee des Vorrangs des Rechten vor dem Guten sowie die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs (vgl. Rawls 2003b, 219–363); und drittens schließlich legt er unter der Überschrift „Institutionen“ die Bedeutung der Grundstruktur sowie des Vorrangs der Grundfreiheiten für seine Konzeption dar. Einer der Hauptunterschiede von Rawls’ Darlegungen in Politischer Liberalismus im Vergleich zur Theorie der Gerechtigkeit liegt in der starken Konzentration auf das Politische, wie dies im Titel der Programmatik unübersehbar

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_41

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signalisiert wird. Ersichtlich ist dies zudem aus Rawlsschen Termini wie politische Gerechtigkeitskonzeption, Bereich des Politischen, politische Werte, politische Tugenden und zudem in der von Rawls betonten Unterscheidung zwischen politischer Philosophie und Moralphilosophie (vgl. Mieth 2002, 186; Rawls 2003b, 19; 23). Eine ganze Reihe der für seine Konzeption des politischen Liberalismus relevanten Begriffe zeigt, dass Rawls eng an die Theorie der Gerechtigkeit anknüpft: Urzustand, wohlgeordnete Gesellschaft, Bürden des Urteilens, Hintergrundgerechtigkeit, Grundfreiheiten, Vorrang des Rechten etc. Neue konzeptionelle Akzente setzt er hingegen mit zentralen Begriffen wie ‚Faktum des Pluralismus‘, ‚übergreifender Konsens‘ oder ‚öffentlicher Vernunftgebrauch‘. Als Leitfragen für die konzeptionelle Entwicklung des politischen Liberalismus formuliert Rawls: „Wie kann eine stabile und gerechte Gesellschaft freier und gleicher Bürger, die durch vernünftige und gleichwohl einander ausschließende religiöse, philosophische und moralische Lehren einschneidend voneinander getrennt sind, dauerhaft bestehen? Wie können einander zutiefst entgegengesetzte, aber vernünftige umfassende Lehren zusammen bestehen und alle dieselbe politische Konzeption einer konstitutionellen Ordnung bejahen? Wie müssen Strukturen, Inhalt einer politischen Konzeption beschaffen sein, damit diese die Unterstützung eines übergreifenden Konsenses für sich gewinnen kann?“ (Rawls 2003b, 14). Als den historischen Ursprung des politischen Liberalismus markiert Rawls die Reformation, ihre Folgen – insbesondere die konfessionelle Spaltung der Christenheit – und die sich daran anschließenden Kontroversen um die religiöse Toleranz im 16. und 17. Jahrhundert. Als spezifische Form des Liberalismus und als „Liberalismus der Freiheit“ bezieht er sich auf Inhalte wie bürgerliche Grundrechte und Grundfreiheiten. Und er hebt die Bedeutung der Werte des Politischen als Regulative für das Grundgefüge des gesellschaftlichen Lebens hervor. In einer frühen Explikation beschreibt Rawls den politischen Liberalismus als eine im Kontext einer konstitutionellen Demokratie zu ver-

J. J. Frühbauer

ortende Auffassung, derzufolge politische Institutionen, welche die Voraussetzungen einer liberalen Gerechtigkeitskonzeption erfüllen, bestimmte politische Werte und Ideale verwirklichen, die wiederum andere Werte überwiegen, die ihnen möglicherweise entgegenstehen (vgl. Rawls 1994, 330).

Die Aufgabe des politischen Liberalismus Ausgerichtet an den zuvor zitierten Leitfragen expliziert Rawls die Aufgabe des politischen Liberalismus: Er sieht sie „darin, eine politische Gerechtigkeitskonzeption für eine konstitutionelle Demokratie auszuarbeiten, die von einer Vielzahl vernünftiger religiöser und nicht-religiöser, liberaler und nicht-liberaler Lehren freiwillig bejaht werden kann; eine Konzeption, mit der diese Lehren unbeeinträchtigt leben und deren Tugenden sie verstehen können. Er versucht ausdrücklich nicht, umfassende religiöse oder nicht religiöse Lehren zu ersetzen, sondern zielt darauf, beiden gegenüber den gleichen Abstand zu halten und hofft so, für sie gleichermaßen akzeptabel zu sein“ (Rawls 2003b, 36). In dieser Äquidistanz zu umfassenden Lehren einerseits religiöser, andererseits nicht-religiöser Provenienz kann die politisch akzentuierte Konzeption somit nicht auf ein partikuläres Gutes rekurrieren, sondern hat sich dem Guten vorgeordneter, fundamentaler politischer Prinzipien wie die der Freiheit und Gleichheit zu bedienen (vgl. Rawls 2003b, 37). Der politische Liberalismus selbst ist keine umfassende Lehre, weder eine vollständige noch eine partielle – er ist keine Auffassung vom Leben als Ganzem (vgl. Rawls 1994, 343 f.). Der Kern des politischen Liberalismus bildet die Ausrichtung an einer liberalen politischen Gerechtigkeitskonzeption in einer pluralistisch verfassten Gesellschaft (Culp 2021, 152). Dabei hat für Rawls eine solche liberale Konzeption drei Bedingungen zu erfüllen: Erstens müssen durch sie gewisse Rechte, Freiheiten und Chancen demokratischer Art festgelegt werden; zweitens kommt diesen Rechten und Freiheiten

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besonderer Vorrang zu; und drittens sind Maßnahmen erforderlich, die allen Bürger*innen – und zwar unabhängig von ihrer sozialen Position – jene Mittel garantieren, derer sie zur sinnvollen und wirksamen Nutzung ihrer Freiheiten und Chancen bedürfen (vgl. Rawls 2003b, 46). In diesen Bedingungen schimmert unübersehbar die normative Substanz der beiden Gerechtigkeitsprinzipien aus der Theorie der Gerechtigkeit durch. Rawls skizziert die für seine Konzeption des politischen Liberalismus vernünftigste Grundlage sozialer Einheit für die Bürger*innen einer modernen liberalen Demokratie und deutet in elementarer Weise (Regulierung – Zustimmung – Begründung) an, wie sein politischer Liberalismus gerechtigkeitstheoretisch funktioniert: „(a) Die Grundstruktur der Gesellschaft wird von einer Konzeption (oder von einer Kombination von Konzeptionen) reguliert, die zu einer Familie von vernünftigen liberalen Gerechtigkeitskonzeptionen gehört, die die vernünftigste Konzeption einschließt. (b) Alle vernünftigen umfassenden Lehren in einer Gesellschaft bejahen irgendein Mitglied dieser Familie vernünftiger Konzeptionen, und die Bürger, die diese Lehren bejahen, sind gegenüber denen in einer dauerhaften Mehrheit, die jedes Mitglied dieser Familie ablehnen. (c) Öffentliche politische Diskussionen werden, wenn es um wesentliche Verfassungsinhalte oder Fragen grundlegender Gerechtigkeit geht, immer (oder fast immer) auf der Basis von Gründen entschieden, die zu einer Konzeption aus der Familie vernünftiger liberaler Konzeptionen gehören, von denen jeweils eine für jeden Bürger die vernünftigste (oder jedenfalls eine vernünftigere) ist“ (Rawls 2003b, 47 f.). Auffallend ist hier, dass Rawls eine Pluralität von vernünftigen liberalen Gerechtigkeitskonzeptionen annimmt, eine Pluralität, die er unter dem Terminus ‚Familie‘ subsummiert. Mit anderen Worten: Es gibt im Kontext des politischen Liberalismus nicht die eine und einzige Konzeption der Gerechtigkeit. Die Attribute ‚liberal‘ und ‚vernünftig‘ signalisieren jedoch wesentliche Bedingungen, die eine politische Gerechtigkeitskonzeption zu erfüllen hat.

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Eine politische Konzeption Rawls wird nicht müde zu betonen, dass es sich bei seinem revidierten Gerechtigkeitsentwurf nun explizit um eine politische Konzeption handele. Er artikuliert dies vor allem, um Unklarheiten und Interpretationsoffenheiten in der Theorie der Gerechtigkeit zu beseitigen bzw. zu schließen (vgl. Rawls 1994, 257). In aller Deutlichkeit hat Rawls die Hervorhebung des Politischen erstmals prominent in einem seiner zentralen Aufsätze – in: „Gerechtigkeit als Fairness: politisch und nicht metaphysisch“ – zum Ausdruck gebracht (Rawls 1994, 255–292). Dennoch sollte man den expliziten Akzent auf das Politische nicht nur auf diesen einen Beitrag Rawls’ reduzieren, sondern auch andere ‚Bausteine‘ der Weiterentwicklung seiner Theorie in den Blick nehmen. Denn der politische Umbau seiner Theorie durchzieht letztlich seine gesamte Konzeption eines politischen Liberalismus wie ein roter Faden, die theoretische Politisierung seiner Konzeption ist das Wesensmerkmal seiner gegenüber der Theorie der Gerechtigkeit jüngeren Programmatik und geht einher mit einer ausdrücklichen Distanzierung von metaphysischen Grundannahmen zur Vermeidung philosophischer Abhängigkeiten und damit verbundener tiefgehender Kontroversen (vgl. Rawls 1994, 255). Was ist das Besondere an der politischen Konzeption, was kennzeichnet sie? Zunächst umschreibt Rawls sie als eine Konzeption, die das Politische „als einen besonderen Bereich mit ihm eigenen Merkmalen“ betrachtet; diese Merkmale wiederum verlangen nach einer Konzeption, die Werte zum Ausdruck bringt, welche in einer spezifischen Weise zum Bereich des Politischen gehören (vgl. Rawls 1994, 333). Rawls geht nun davon aus, dass jede politische Konzeption der Gerechtigkeit eine Auffassung von der politischen und sozialen Welt voraussetze (vgl. Rawls 1994, 334). So ist der Bereich des Politischen – als „Teilbereich des Reiches aller Werte“ (Rawls 1994, 348) – fundamental für die strukturelle Verfasstheit einer Gesellschaft und somit ein Wesensmerkmal einer konstitutionellen Ordnung. Er gründet auf politischen Beziehungen, die sich als Beziehungen

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zwischen Personen innerhalb der Grundstruktur darstellen. Mit Blick auf entsprechende soziale Strukturen unterscheidet Rawls den Bereich des Politischen unter anderem vom Bereich der Vereinigungen sowie auch vom Bereich des Persönlichen und Familiären; während dieser sich durch seine „Gefühlsbezogenheit“ vom Bereich des Politischen unterscheidet, trifft dies für den Bereich der Vereinigungen durch die freiwillige Zugehörigkeit zu (vgl. Rawls 2003a, 224). Dem Bereich des Politischen hingegen gehört man unfreiwillig an: durch das Hineingeborenwerden. Und die Zugehörigkeit währt in aller Regel bis zum Tod, da Rawls von einem geschlossenen Gesellschaftssystem ausgeht (vgl. Rawls 2003a, 77; 111; Rawls 1994, 345). Die Bereiche der Vereinigungen, des Persönlichen und des Familiären lassen sich folglich als Beispiele für das Nicht-Politische verstehen (vgl. Rawls 2003a, 224). Diese Unterscheidung zwischen dem Bereich des Politischen und NichtPolitischen trifft sich im Wesentlichen mit Rawls’ Unterscheidung von öffentlich und nichtöffentlich (vgl. Rawls 2003a, 321–323). Eine politische Gerechtigkeitskonzeption hat für Rawls drei charakteristische Merkmale: Erstens ist ihr Gegenstand die Grundstruktur der Gesellschaft, für die Rawls explizit eine konstitutionelle Demokratie voraussetzt. Zweitens wird eine politische Gerechtigkeitskonzeption als eine „freistehende Auffassung“ präsentiert: Sie wird weder als eine einzelne auf die Grundstruktur angewandte umfassende Lehre dargestellt noch aus einer solchen abgeleitet – wenngleich es nach Rawls’ Ansicht wünschenswert ist, dass sich eine politische Konzeption von einer oder mehreren umfassenden Lehren begründen ließe. Drittens schließlich wird ihr Inhalt in Begriffen grundlegender Ideen ausgedrückt, die als Bestandteil der öffentlichen politischen Kultur einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden können (vgl. Rawls 2003a, 76–81; 40). Rawls warnt jedoch davor, seine politische Konzeption nicht in einem falschen Sinne politisch werden zu lassen: ‚Politisch‘ darf weder im Sinne eines funktionierenden Kompromisses zwischen vorhandenen Interessen, noch als Zuschnitt auf bestehende

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umfassende Lehren verstanden werden. Vielmehr sollte eine politische Konzeption „darauf ausgerichtet sein, eine kohärente Auffassung der sehr bedeutenden (moralischen) Werte zu formulieren, die für die politischen Beziehungen gelten und eine öffentliche Grundlage der Rechtfertigung für freie Institutionen in einer dem freien und öffentlichen Vernunftgebrauch zugänglichen Weise darzulegen“ (Rawls 1994, 357).

Politische Werte Wenngleich Rawls ‚politisch‘ als Attribut seiner Konzeption hervorhebt, so qualifiziert er seine Konzeption nichtsdestoweniger als moralisch. Eine moralische Konzeption kennzeichnet Rawls zufolge, „dass ihr Inhalt durch bestimmte Ideale, Grundsätze und Standards bestimmt wird und dass diese Normen bestimmte, in diesem Fall politische Werte ausdrücken“ (Rawls 2003a, 76, Fn. 11). Gerade hier kommt ein weiterer zentraler Gedanke für den Bereich des Politischen zum Tragen: Die ausschließliche Berufung auf politische Werte zur Lösung von Problemen, welche die wesentlichen Verfassungsinhalte und Fragen grundlegender Gerechtigkeit betreffen (vgl. Rawls 2003a, 224; Rawls 1994, 349 f.). Was zählt Rawls nun zu den politischen Werten? Die politischen Werte „bestimmen das Grundgerüst des sozialen Lebens – die eigentliche Grundlage unserer Existenz – und bestimmen die grundlegenden Bedingungen politischer und sozialer Kooperation“ (vgl. Rawls 2003a, 225 f.; Rawls 1995, 348). In seiner liberal-politischen Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness kommen als bedeutende politische Werte zum Tragen: Gleiche politische und bürgerliche Freiheiten, faire Chancengleichheit, wirtschaftliche Gegenseitigkeit, soziale Grundlagen gegenseitiger Achtung unter den Bürger*innen, Werte des öffentlichen Vernunftgebrauchs in Gestalt von Begriffen des Urteilens, Folgerns und Beweisens, Tugenden der Vernünftigkeit und fairer Gesinnung, Achtung der Regel vernünftiger politischer Diskussion (vgl. Rawls 2003a, 226): „Zusammengenommen

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sind diese Werte ein Ausdruck des liberalen politischen Ideals, dass politische Macht, da sie die kollektive Zwangsmacht freier und gleicher Bürger ist, wenn es um wesentliche Verfassungsinhalte oder Fragen grundlegender Gerechtigkeit geht, nur in Weisen auszuüben ist, die vernünftigerweise erwarten lassen, dass alle Bürger sie im Lichte ihrer gemeinsamen menschlichen Vernunft anerkennen können“ (Rawls 2003a, 226; vgl. Rawls 1994, 349). Mit anderen Worten: Die genannten politischen Werte spiegeln das Grundgerüst von Rawls jetzt betont politischer Gerechtigkeitskonzeption wider. Was klassifiziert Rawls darüber hinaus noch als ‚politisch‘? Politische Macht ist für Rawls demnach mit der Macht zu zwingen verbunden: Sie wird bei der Durchsetzung von Gesetzen unterstützt vom Staatsapparat. Zugleich versteht Rawls politische Macht als die Macht gleicher und freier Bürger*innen (vgl. Rawls 1994, 345). Zum liberalen politischen Ideal gehört es folglich, dass politische Macht – entsprechend der neuzeitlichen Tradition des Vertragsdenkens – ihre Legitimität aus der vernunftbegründeten Zustimmung aller bezieht. Die Werte des Bereichs des Politischen zeichnen sich für Rawls schließlich dadurch aus, dass sie durch ihr hinreichendes Gewicht eine Vorrangstellung gegenüber anderen Werten haben und in Konfliktfällen ausschlaggebend sind. Die politische Konzeption leugnet folglich weder, dass es andere Werte gibt, die vor allem in den Bereichen von Vereinigungen, des Persönlichen und des Familiären Bedeutung haben, noch dass das Politische völlig losgelöst von diesen anderen Werten ist (vgl. Rawls 1994, 346). Doch Fragen, die die wesentlichen Verfassungsinhalte betreffen, sollten möglichst nur im Rekurs auf die politischen Werte entschieden werden (vgl. Rawls 1994, 346). Rawls ordnet dem Bereich des Politischen und den politischen Werten zudem politische Tugenden zu, auf die vor allem der reale, problembezogene Diskurs in einer wohlgeordneten Gesellschaft angewiesen bleibt: „In ihren politischen Auseinandersetzungen wollen Bürger fair miteinander umgehen, sachbezogen argumentieren und auf die Argumente anderer eingehen.

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Sie wollen einander Vertrauen, Respekt und Toleranz entgegenbringen und bereit sein, einander ein Stück entgegenzukommen. Sie wollen alles daran setzen, die Behebung vermeintlicher Ungerechtigkeiten im Rahmen der politischen Spielregeln zu verfolgen“ (Pogge 1994, 135). Gelingt es nun im Sinne des politischen Liberalismus eine öffentlich anerkannte politische Gerechtigkeitskonzeption zu etablieren, mit der zugleich ein Standpunkt zur Verfügung steht, von dem aus es den Mitgliedern einer Gesellschaft möglich ist, voreinander zu prüfen, ob ihre politischen und gesellschaftlichen Institutionen gerecht sind oder nicht, dann ist das praktische Ziel von Gerechtigkeit als Fairness erreicht – im Unterschied zu einem metaphysischen oder epistemologischen Ziel, das gerade nicht angestrebt werden soll (vgl. Rawls 1994, 263). Die gemeinsam geteilte politische Konzeption und der damit einhergehende Konsens über wesentliche Verfassungsinhalte schließt politische Meinungsverschiedenheiten keineswegs aus: Denn „Differenzen bei der Beurteilung einigermaßen komplexer Einzelfragen selbst unter vernünftigen Personen gehören zum menschlichen Leben. Aber indem die strittigsten Fragen von der politischen Tagesordnung ausgeklammert werden, sollte es möglich sein, eine friedliche Lösung im Rahmen demokratischer Institutionen zu finden“ (Rawls 1994, 360). Für Rawls ist somit entscheidend, dass die grundlegendsten Fragen – konfliktenthoben – von der tagespolitischen Agenda genommen sind, sobald sie etwa in Gestalt von Grundrechten und Grundfreiheiten dauerhaft Eingang in die Verfassung gefunden haben: „Sie gelten ein für alle mal als politisch abgehandelt“ (Rawls 1994, 360). Auftretende politische Meinungsverschiedenheiten werden sich dann auf Bereiche mit geringerer Bedeutung beschränken. Nicht auszuschließen sind allerdings unterschiedliche Interpretationen von zentralen Verfassungsinhalten, die Rawls jedoch im Rahmen einer klar ausformulierten Rechtsstaatlichkeit als zulässig sieht. Der Rechtsstaatlichkeit kommt somit die „regulative Rolle bestimmter Institutionen und ihrer rechtlichen und rechtssprechenden Praktiken“ zu (Rawls 1994, 361).

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Kritik des politischen Liberalismus Rawls selbst diskutiert diverse Einwände gegen den politischen Liberalismus: Zu diesen zählt erstens der Vorwurf, dass der politische Liberalismus sich gegenüber der religiösen, philosophischen oder moralischen Wahrheit umfassender Lehren als skeptisch erweise und deren Werten gleichgültig gegenüberstehe. Zweitens könne gegen den politischen Liberalismus eingewandt werden, dass ihm nicht gelinge, eine ausreichende Unterstützung durch die Bürger*innen zu gewinnen (Rawls 1994, 331). Die beiden Einwände können jedoch entkräftet werden, „wenn eine vernünftige liberale Gerechtigkeitskonzeption gefunden wird, die durch einen übergreifenden Konsens unterstützt werden kann. Denn solch ein Konsens gewinnt Loyalität dadurch, dass zusammen mit der öffentlichen Anerkennung des sehr bedeutenden Wertes politischer Tugenden ein einträchtiges Miteinander zwischen der politischen Konzeption einerseits und den allgemeinen und umfassenden Lehren andererseits erreicht wird“ (Rawls 1994, 331). Ein dritter Einwand unterstelle dem politischen Liberalismus, dass er willkürliche Vorurteile gegen bestimmte umfassende Konzeptionen und zugunsten anderer habe. Ein ungerechtes Vorurteil gegenüber einer umfassenden Lehre hätte der politische Liberalismus beispielsweise dann, wenn durch an sich ungerechte Bedingungen und über die im politischen Liberalismus gründenden Institutionen auf der einen Seite eine ausschließlich individualistische Konzeption nachhaltig gefördert und auf der anderen Seite dadurch Verbände mit gemeinschaftlichen Werten benachteiligt würden und infolgedessen nicht gedeihen könnten. Auch der Mangel der Darstellung der sozialen Wurzeln der Demokratie im Rahmen des politischen Liberalismus gehört zur Reihe der Kritikpunkte und Einwände (vgl. Rawls 1994, 331–333). Zusammenfassend lässt sich hinsichtlich des Grundanliegens des Rawlsschen politischen Liberalismus von einem „Motiv einer Politisierung der Gerechtigkeitskonzeption“ sprechen; dieses ist ausgerichtet „auf wahrheits-

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unabhängige und daher pluralismuskompatible Gründe für die Anerkennung der Gerechtigkeitskonzeption als einer gesellschaftlich geltenden Grundlage öffentlicher Rechtfertigungspraxis. […] Der Dreh- und Angelpunkt dieser Politisierung ist die Einsicht, dass moderne Gesellschaften aufgrund der Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung spezifische Rechtfertigungsverfahren benötigen, die sich von den Voraussetzungen substantieller metaphysischer Theorien über Gott, Natur und Mensch unabhängig machen“ (Kersting 2001, 167; Hervorh. J.J.F.). Allzu neu erscheint Wolfgang Kersting zufolge der Ansatz des politischen Liberalismus allerdings nicht: Denn bereits der philosophische Liberalismus der Neuzeit habe sich der Herausforderung gestellt, allgemein zustimmungsfähige Grundsätze zu formulieren, die für moralische Konfliktsituationen eine Orientierung zu bieten vermögen (vgl. Kersting 2001, 168). Allerdings hegt Kersting Zweifel, ob sich in modernen demokratischen Gesellschaften, die durch Pluralismus und Differenz geprägt sind, so leicht eine Übereinstimmung bezüglich liberaler Gerechtigkeitsgrundsätze und Legitimitätsnormen herstellen lässt, wie Rawls sich dies vorstelle. Der politische Liberalismus werde hier mit der „Rolle eines gesellschaftlichen Versöhners“ betraut, die er letztlich nicht erfüllen könne. Rawls unterschätze die inneren ethischen und religiösen Spannungen moderner, kulturell heterogener Gesellschaften. Es komme daher nicht mehr darauf an, einen Konsens zu sichern, sondern mit unauflöslichen Dissensen zurecht zu kommen. Für Kersting besteht die Aufgabe darin, dass ein modernitätstauglicher politischer Liberalismus anstelle nach Konsens zu streben, Dissensmanagement nicht zuletzt mit zahlreichen Problemstellungen in den Diskursen der angewandten Ethik (z. B. Bioethik, Medizinethik) ermöglichen sollte. „Liberale Ordnungskunst erstreckt sich heute darauf, Frieden, Recht und Wohlstand zu sichern angesichts unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten über das Gute, das Richtige und das Wahre“ (Kersting 2001, 169). Und Peter Niesen gibt bezüglich der Dissensproblematik zu bedenken:

41  Liberalismus, politischer

„Reagieren sowohl Eine Theorie [der Gerechtigkeit] als auch Politischer Liberalismus auf politische Dissenserfahrung, so unterscheiden sich doch die jeweils ins Auge gefassten Phänomene. Waren die Probleme, die Eine Theorie im Auge hatte, politische Konflikte erster Ordnung wie Gleichberechtigung, politische Gleichheit, Verteilungskonflikte sowie Widerstand und ziviler Ungehorsam, so reagiert Politischer Liberalismus auf den weltanschaulichen Pluralismus als politische Entzweiung zweiter Ordnung – eine Entzweiung, die sich weder auf anerkannte Verfahren stützen könnte, nach denen inhaltliche Differenzen ausgeräumt werden können, noch über eine klare Vorstellung verfügt, auf welche Argumentgenres Bürger zur Beilegung ihrer Konflikte zurückgreifen können“ (Niesen 2001, 26).

Literatur Culp, Julian: John Rawls. In: Michael G. Festl (Hg.): Handbuch Liberalismus. Berlin 2021, 149–156. Frühbauer, Johannes J.: Rawls’ ‚Theorie der Gerechtigkeit‘. Darmstadt 2007, 106–127. Hinsch, Wilfried: Einleitung. In: John Rawls: Die Idee des Politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989, Hg. Wilfried Hinsch. Frankfurt a. M. 1994, 9–44.

319 Kersting, Wolfgang: John Rawls zur Einführung. Hamburg 2001. Mieth, Corinna: Rawls. In: Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha H. Werner (Hg.): Handbuch Ethik. Stuttgart/Weimar 2002, 179–190. Niesen, Peter: Die politische Theorie des politischen Liberalismus. In: André Brodocz/Gary S. Schaal (Hg.): Politische Theorien der Gegenwart, Bd. 2. Opladen 2001, 23–54. Pogge, Thomas W.: John Rawls. München 1994. Rawls, John: Die Idee des Politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Hg. Wilfried Hinsch. Frankfurt a. M. 1994. Rawls, John: Justice as Fairness – political, not metaphysical (1985). In: Freemann, Samuel (Hg.): John Rawls – Collected Papers. Cambridge/Mass. – London/England 1999a, 388–414. Rawls, John: The Idea of an Overlapping Consensus (1987). In: Freemann, Samuel (Hg.): John Rawls Collected Papers. Cambridge/Mass. – London/England 1999b, 421–448. Rawls, John: Fifty Years after Hiroshima (1995). In: Freemann, Samuel (Hg.): John Rawls - Collected Papers. Cambridge/Mass. – London/England 1999c, 565–572. Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. 2003a. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 2003b. Weithman, Paul: Rawls, political liberalism and reasonable faith. Cambridge, England u. a. 2016. Werner, Micha H.: Wann ist unser Zusammenleben fair? John Rawls’ Beitrag zur modernen Moralphilosophie. In: Ders.: Ethik. Berlin 2021, 167–194.

Moral/Moralität/Moralpsychologie

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Andreas Gösele

Theorie und Philosophie der Moral John Rawls wird gemeinhin und zu Recht primär als politischer Philosoph wahrgenommen. Aber nicht nur begann er seine philosophische Karriere als Moralphilosoph, sondern in seinem Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit situiert er seine eigene Theorie auch sachlich als der Moralphilosophie zugehörig. Auch war er noch offen für die Idee, dass der von ihm gewählte vertragstheoretische Ansatz geeignet sein könnte, als Basis für das Gesamt der Ethik zu dienen, soweit sie mit unserem Verhältnis zu Personen befasst ist. Nach seiner Wende hin zum Politischen Liberalismus betont Rawls allerdings, dass politische Philosophie keine angewandte Moralphilosophie ist: Weder ist die als Gerechtigkeit als Fairness entwickelte politische Philosophie Rawls’ selbst eine umfassende moralische Theorie, die auf alle möglichen moralische Fragen angewendet werden könnte, noch ist sie die Anwendung einer umfassenden moralischen Theorie (wie etwa des Utilitarismus oder der Kantschen Moralphilosophie) auf einen bestimmten Gegenstand. Vielmehr ist Gerechtigkeit als Fairness eine freistehende Konzeption der Gerechtigkeit, die unabhängig von

A. Gösele (*)  Saint Joseph’s University, Philadelphia, PA, USA E-Mail: [email protected]

allen umfassenden moralischen Theorien auf ihrem Gegenstand (der Grundstruktur der Gesellschaft) entsprechenden Prinzipien und Verfahren aufbaut. Auch im Rahmen des Politischen Liberalismus bleibt aber der grundsätzlich moralische Charakter der politischen Philosophie unangetastet: Die dem Politischen Liberalismus zugeordnete politische Gerechtigkeitskonzeption ist eine „moralische Konzeption […], die für einen bestimmten Gegenstand ausgearbeitet wird, nämlich die Grundstruktur eines demokratischen Verfassungsstaates“ (Rawls 2003, 267). Die politischen Urteile des Politischen Liberalismus sind „always moral“ (Rawls 1995, 149). Schon in Eine Theorie der Gerechtigkeit machte Rawls aber deutlich, dass er nicht beansprucht, einen Entwurf einer allgemeinen Moralphilosophie vorzulegen. Vielmehr hat er sein eigenes Unternehmen im Wesentlichen als eines der Moraltheorie, bezogen auf eine bestimmte Fragestellung (Prinzipien der Gerechtigkeit für die Grundstruktur einer Gesellschaft zu finden und zu entwickeln) verstanden. Moraltheorie war für Rawls ein Teilbereich der Moralphilosophie und hat als Aufgabe die Untersuchung „of substantive moral conceptions, that is, the study of how the basic notions of the right, the good, and moral worth may be arranged to form different moral structures“ (Rawls 1975, 5). So wie Rawls eine Unabhängigkeit der politischen Philosophie des Politischen Liberalismus von einer mög-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_42

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lichen allgemeinen Moralphilosophie betont hat, hat er schon davor in „The Independence of Moral Theory“ (Rawls 1975) die (nicht absolute) Unabhängigkeit der Moraltheorie von anderen philosophischen Disziplinen und von anderen Teilbereichen der Moralphilosophie, insoweit sie die Fragestellungen dieser Disziplinen bezogen auf den beschränkten Themenbereich der Moralphilosophie behandeln, herausgestellt: Moraltheorie hat ihre eigene Methoden – nach dem Vorschlag Rawls’, an dem Rawls von seinen frühesten bis zu seinen letzten Schriften festhält, insbesondere die des Überlegungsgleichgewichts. Fortschritte in der Moraltheorie hängen nicht einfach von Fortschritten in der Erkenntnistheorie, der Bedeutungstheorie oder der Philosophie des Geistes (‚theory of mind‘) ab. So sind z. B. ganz verschiedene Moraltheorien – auch wenn sie unterschiedliche Akzente setzen – mit nicht kontroversen Ergebnissen der Theorie der personalen Identität (als eine der Fragestellungen der Philosophie des Geistes) vereinbar (in unterschiedlichem Maß kritisch dazu u.a. Scheffler 1979, Daniels 1979, Stern 1992). Eine Hierarchisierung, die auf die Lösung der zentralen Fragen der angesprochenen Disziplinen wartet, bevor sie Fragen der Moraltheorie beantwortet, behindert den Fortschritt. Darüber hinaus kann die Beantwortung von z. B. erkenntnis- und bedeutungstheoretischen Fragestellungen sogar von Fortschritten in der Moraltheorie abhängen, wie Rawls u. a. am Beispiel der erkenntnistheoretischen Frage nach der Wahrheitsfähigkeit von moralischen Urteilen erläutert, deren Plausibilität – so Rawls – von der Existenz eines weiten Überlegungsgleichgewichts abhängt.

Moralpsychologie und Moralität Rawls hat sich in Eine Theorie der Gerechtigkeit intensiv mit Moralpsychologie beschäftigt und aufbauend auf einem ersten Entwurf 1963 eine in vielen Details entwickelte Theorie der Moralpsychologie vorgelegt. Diese Theorie ist aber keine wertfreie, empirische Psychologie des Phänomens der Moral, sondern setzt seine Theorie der Gerechtigkeit als Fairness als Bezugspunkt voraus.

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Zentral für seine Theorie ist ein Stufenmodel der moralischen Entwicklung, genauer der Entwicklung des Gerechtigkeitssinns „in einer wohlgeordneten Gesellschaft, in der die Grundsätze der Gerechtigkeit als Fairneß verwirklicht sind“ (Rawls 1979, 502). Das Stufenmodel ist von Jean Piagets Theorie der Entwicklung des moralischen Urteils von Kindern (Piaget 1932) inspiriert und steht – bei allen Unterschieden – in großer Nähe zu den auf Piaget aufbauenden Arbeiten Kohlbergs (z. B. Kohlberg 1973). Nach Rawls’ Theorie der moralischen Entwicklung durchlaufen Kinder auf dem Weg zum Erwachsensein unter günstigen Bedingungen, so wie sie in einer im Sinne der Gerechtigkeit als Fairness wohlgeordneten Gesellschaft gegeben sind, die drei Stufen der autoritäts-, gruppen- und grundsatzorientierten Moralität. Auf der ersten Stufe ist der Bezug auf Autoritätspersonen (normalerweise Eltern) entscheidend und Moralität besteht im Wesentlichen im Befolgen von Regeln, die von diesen Autoritätspersonen ausgehen. Entscheidend ist allerdings, dass diese Regeln nicht hauptsächlich deshalb befolgt werden (und ihre Verletzung schmerzt), weil das Kind Strafe fürchtet, sondern weil es den Autoritätspersonen vertraut und sie liebt. Auf der zweiten Stufe ist die Mitgliedschaft in unterschiedlichsten Gruppen entscheidend, und Moralität besteht im Wesentlichen in der regelgeleiteten Befolgung von angesichts des Ziels dieser Gruppen gerechtfertigten Erwartungen an die Rollen, die wir in diesen Gruppen einnehmen. Eine primäre Gruppe ist (im Normalfall) die Familie, weitere Gruppen werden von Kindern in der Nachbarschaft, der Schule aber auch im kurzfristigen gemeinsamen Spiel erfahren. Im Erwachsenenalter geht es um die Zusammenarbeit am Arbeitsplatz, innerhalb des Staatswesens, in Vereinen, in den Kirchen usw. Die entscheidende Motivation für die Erfüllung dieser Erwartungen sind Freundschaft und Vertrauen (vgl. Abbey 2022, kritisch Deigh 1982). Die letzte Stufe wird dadurch vorbereitet, dass der Kreis der relevanten Gruppen schließlich auf die Gesellschaft als Ganze erweitert wird. Auf dieser Stufe haben sich die Bürger*innen einen wirksamen Gerechtigkeitssinn angeeignet, der mit dem Bedürfnis verbunden ist, den Grundsätzen

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der Gerechtigkeit gemäß zu handeln. Man möchte seine den gerechten Institutionen entsprechenden Pflichten erfüllen und zu ihrer Errichtung und gerechten Weiterentwicklung beitragen. Das ist kein blinder Gehorsam oder direkter Ausdruck von Liebe, Freundschaft und des Vertrauens zu anderen, auch wenn diese weiter wirksam bleiben. Sondern es beruht auf dem Verständnis, dass es sich um Grundsätze (und davon in geeigneter Weise abgeleitete Regeln) handelt, „denen vernünftige [besser: rationale] Menschen in einer anfänglichen Situation zustimmen würden, die jeden gleichermaßen als moralisches Subjekt gelten läßt“ (Rawls 1979, 519). Das Erreichen der verschiedenen Stufen wird u. a. aufgrund der intellektuellen Entwicklung der Heranwachsenden ermöglicht. Entscheidender für Rawls sind aber drei als Tendenzen wirkende Gesetze der Moralpsychologie (Rawls 1979, 532–533), die spezifisch moralischen Charakter besitzen, da sie eine bestimmte Gerechtigkeitskonzeption und die Gerechtigkeit bestimmter institutioneller Kontexte (Familie, Gruppe, soziale Institutionen) voraussetzen. Da sie zu einem wachsenden Verständnis der vorausgesetzten und auf der letzten Stufe handlungsleitenden Gerechtigkeitskonzeption führen, beschreiben sie nicht einfach eine Abfolge, sondern eine Höherentwicklung. Gemeinsam ist diesen Gesetzen u. a. auch die Bedeutung natürlicher Gefühle wie Liebe, Vertrauen und Freundschaft und das Element der Gegenseitigkeit: Die angesprochenen Gefühle und „selbst der Gerechtigkeitssinn […] entstehen [daraus], daß andere Menschen mit offenkundiger Absicht unser Wohl fördern“ (Rawls 1979, 537): 1. Wenn ein Kind in einer den Anforderungen der Gerechtigkeit entsprechenden Familie Liebe erfährt, die sich in der offenkundigen Sorge um sein Wohl ausdrückt, dann entwickelt das Kind in Anerkennung dieser offenkundigen Liebe eine eigene Haltung der Liebe und Vertrauen zu seiner Familie. 2. Vorausgesetzt, eine Person hat die Fähigkeit zu Gemeinschaftsgefühlen entsprechend

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Gesetz 1 entwickelt, und ein spezifisches soziales Umfeld (eine Gruppe) ist gerecht und als solches bekannt, dann entwickelt sie freundschaftliche Empfindungen und Vertrauen zu denen, die in diesem Umfeld mit offenkundiger Absicht ihre Verpflichtungen erfüllen. 3. Vorausgesetzt, eine Person hat die Fähigkeit zu Gemeinschaftsgefühlen entsprechend der ersten beiden Gesetze entwickelt und die sozialen Institutionen der Gesellschaft sind gerecht und als solche bekannt, dann entwickelt die Person einen Gerechtigkeitssinn, da sie erkennt, dass sie selbst und diejenigen, die ihr lieb sind, von den gerechten Institutionen profitieren. In Eine Theorie der Gerechtigkeit weigerte sich Rawls explizit, entscheidende Punkte seiner Theorie aus Begriffsanalysen abzuleiten. Das dürfte einer der Gründe dafür sein, dass der Begriff der Moralität zwar in dem Gerechtigkeitssinn und der Moralpsychologie gewidmeten Kapitel dieses Werkes eine große Rolle spielt (später nicht mehr), aber nicht definiert wird. Der Begriff wird von ihm hauptsächlich im Kontext der Darstellung der Moralpsychologie verwendet und insbesondere im Zusammenhang der von Rawls angenommenen drei Stufen der Moralität. In einem sehr frühen Aufsatz definiert Rawls – einen Teil einer Formulierung Mills aufgreifend – Moralität als „the rules and precepts for human conduct“ (Rawls 1955, 21; vgl. Mill 2015, 126). In „Justice as Fairness“ (Rawls 1958) hat Rawls eine Reihe von Elementen aufgezählt, die gegeben sein müssen, damit man jemandem den Besitz einer Moralität zuschreiben kann. Dazu gehören u. a. die Anerkennung von Prinzipien, die unparteiisch auf einen selbst und andere angewendet werden, die die Verfolgung eigener Interessen beschränken, die auch dann akzeptiert werden, wenn sie zum eigenen Nachteil sind, und für deren Verletzung man sich entschuldigt oder schämt. Zusammen können diese Elemente als eine Art Arbeitsdefinition dienen, die sowohl die Verwendung des Begriffs in Eine

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Theorie der Gerechtigkeit (insbesondere für die dritte Stufe der Moralität) als auch Rawls’ Weiterentwicklung der Moralpsychologie hin zu einer Moralpsychologie des Vernünftigen gut trifft.

Die Rolle der Moralpsychologie in Rawls’ Projekt Rawls hat die wichtigsten Elemente seiner Moralpsychologie zunächst in „The Sense of Justice“ (Rawls 1963) vorgelegt. Sein Entwurf der Moralphilosophie dient hier primär der Beantwortung von zwei Fragen, die dann auch in Eine Theorie der Gerechtigkeit im Rahmen der Behandlung der Moralpsychologie beantwortet werden: Welchen Wesen ist Gerechtigkeit geschuldet? (Moralischen Subjekten bzw. all denen, die die Fähigkeit zur moralischen Persönlichkeit besitzen, also fähig zu einer Vorstellung ihres Wohles und zu einem Gerechtigkeitssinn sind.) Was erklärt, dass Menschen ihre Gerechtigkeitspflichten erfüllen? (Dass sie einen wirksamen Gerechtigkeitssinn besitzen.) Die Theorie der Moralpsychologie und insbesondere der Entwicklung des Gerechtigkeitssinns spielt aber eine zentrale Rolle vor allem in der Beurteilung der Stabilität der Gerechtigkeitskonzeption in einer wohlgeordneten Gesellschaft (vgl. auch Baldwin 2008, 261–264). Würden Bürger*innen in einer solchen Gesellschaft keinen Gerechtigkeitssinn entwickeln und damit keine Bereitschaft, entsprechend ihrer Gerechtigkeitskonzeption zu handeln und gerechte Institutionen zu unterstützen, zu bewahren und weiterzuentwickeln, dann bestünde die Gefahr, dass z. B. Trittbrettfahrerverhalten gerechte Institutionen und gerechtigkeitskonformes Verhalten unterminiert. Die von Rawls vorgeschlagenen Gesetze der moralischen Entwicklung stellen es dagegen sicher oder machen es jedenfalls plausibel (anders als im Fall des Utilitarismus), dass die Mitglieder einer entsprechend der zwei Prinzipien der Gerechtigkeit wohlgeordneten Gesellschaft einen wirksamen, motivierenden Gerechtigkeitssinn auf der Basisdieser zwei Prinzipien entwickeln, und tragen so

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zur Stabilität der Gerechtigkeitskonzeption dieser Gesellschaft bei. Die Frage der Stabilität hängt eng mit der Frage zusammen, ob für Bürger*innen der vorausgesetzte Besitz eines wirksamen Gerechtigkeitssinns (Eine Theorie der Gerechtigkeit) oder eine gerechte politische Gesellschaft (Politischer Liberalismus) ein großes Gut darstellt und es deshalb für sie – auch unabhängig von moralischen Gründen und ihrer Vernünftigkeit – im engeren Sinne rational, in ihrem Interesse ist, einen wirksamen Gerechtigkeitssinn zu besitzen und damit den bestimmenden Wunsch, gerecht zu handeln und sich für gerechte Institutionen einzusetzen. Wäre dies nicht der Fall, bestünde die Gefahr, dass der Wunsch gerecht zu handeln oder zu gerechten Institutionen beizutragen, von dem Wunsch nach anderen Gütern überlagert oder verdrängt wird. In der positiven Beantwortung dieser Frage greift Rawls wieder auf Elemente seiner Moralpsychologie zurück: in Eine Theorie der Gerechtigkeit u. a. auf das auf der dritten Stufe besonders weite Netz freundschaftlicher und vertrauensvoller Beziehungen, in Politischer Liberalismus u. a. auf das Bedürfnis, die zwei moralischen Vermögen freier und gleicher Bürger*innen auch auszuüben. Während die voll entwickelte Moralpsychologie vor allem in der Frage der Stabilität zum Tragen kommt, benutzt Rawls Teile seiner Moralpsychologie auch schon im ersten Teil des Arguments für die zwei Prinzipien, dem Vergleich der Attraktivität der verschiedenen Gerechtigkeitskonzeptionen, insbesondere der zwei Prinzipien und des Utilitarismus: Die Vertragstreue verlangt, dass die Parteien im Urzustand keine Gerechtigkeitskonzeption wählen, die ihre Fähigkeiten überfordert. Das wäre anders als für die zwei Prinzipien für den Utilitarismus der Fall, der nicht ausschließen kann, dass die Parteien „irgendwann in ihrem Leben um größerer Vorteile anderer willen auf Freiheit verzichten müssen“, ohne dass „die allgemeinen Tatsachen der Moralpsychologie“ (Rawls 1979, 202) begründen würden, dass sie dazu fähig sein könnten.

42 Moral/Moralität/Moralpsychologie

Moralische Gefühle Bemerkenswert ist das Gewicht, das Rawls Schuldgefühlen gibt. Wirkliche Schuldgefühle sind zu unterscheiden von Gefühlen der Angst vor Strafe oder der nachträglichen Unzufriedenheit angesichts negativer Folgen einer Handlung. Sie sind wie der Zorn („resentment“, die deutsche Übersetzung von Eine Theorie der Gerechtigkeit verwendet „Groll“) oder die Empörung („indignation“) über – gegen einen selbst oder andere begangenes – Unrecht genuin moralische Gefühle. Das gilt insbesondere für das dritte Stadium der grundsatzorientierten Moral: Diesem Stadium entsprechende Schuldgefühle sind Schuldgefühle im strikten Sinn und bedürfen zu ihrer Erklärung moralischer Begriffe und eines Bezugs auf die wirklich oder angenommenerweise verletzten moralischen Grundsätze des Rechten. Auch Schuldgefühle im Stadium der autoritäts- und gruppenorientierten Moralität sind entsprechend mit der Verletzung von dem jeweiligen Stadium entsprechenden moralischen Forderungen verknüpft, wie den Vorschriften von Autoritätspersonen (vor allem der Eltern) und von mit der Gruppenzugehörigkeit oder bestimmten Rollen in Gruppen verbundenen gerechtfertigten Erwartungen. Durch diesen Bezug auf moralische Grundsätze unterscheiden sich genuin moralische Gefühle von natürlichen Gefühlen, die ganz ohne Bezug auf moralische Grundsätze erklärt werden können und zu denen nach Rawls Gefühle wie Neid, Wut, Ärger, Furcht und Angst, aber auch Gefühle der Gemeinschaft, Freundschaft und des Vertrauens gehören. Neben den schon erwähnten moralischen Gefühlen der Schuld, des Zorns und der Empörung kann auch Scham ein genuin moralisches Gefühl sein. Rawls schlägt vor, Scham als das Gefühl der Verletzung der Selbstachtung zu definieren: im Fall der natürlichen (nicht moralischen) Scham „wegen des Fehlens oder der Nichtausübung bestimmter guter Eigenschaften oder Fähigkeiten“ (Rawls 1979, 483) oft jenseits der eigenen Kontrolle, die aber aufgrund des je eigenen Lebensplans „zur Verwirklichung der

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für uns wichtigeren menschlichen Beziehungen von Bedeutung wären“ (ebd.). Im Fall der moralischen Scham aufgrund des Fehlens oder der Verletzungen von moralischen Tugenden, die als eine besondere Form von persönlichen guten Eigenschaften wertgeschätzt und angestrebt werden, und „zum Handeln gemäß bestimmten Grundsätzen des Rechtens veranlassen“ (Rawls 1979, 476). Auch für moralische Scham ist also der Bezug auf moralische Grundsätze des Rechten und damit der Bezug zu anderen entscheidend. Im Unterschied zu Schuldgefühlen steht aber zum einen der Blick auf die eigene Person (und deren Versagen) und zum anderen eine bestimmte Form des Guten (das hier darin besteht, dem eigenen Ideal eines guten Menschen zu entsprechen) im Vordergrund, während bei Schuldgefühlen die Verletzung des Rechten und der gerechten Ansprüche anderer direkter im Blick ist. Die große Bedeutung, die Rawls Schuldgefühlen beimisst, hängt auch damit zusammen, dass seines Erachtens ihr Fehlen notwendig mit dem Fehlen gewisser natürlicher Einstellungen einhergeht: Einem Kind, das keine autoritätsorientierten Schuldgefühle kennt, fehlen die natürlichen Einstellungen der Liebe und des Vertrauens zu seinen Eltern (oder anderer primärer Bezugspersonen). Kinder werden unweigerlich Vorschriften ihrer Eltern verletzen und sich, wenn sie ihre Eltern wirklich lieben und ihnen vertrauen, schuldig fühlen. Ähnliches gilt auf der Stufe der gruppenorientierten Moral: Die Verletzung gerechtfertigter Erwartungen ist für uns Menschen unvermeidlich, und das Fehlen von Schuldgefühlen verrät das Fehlen von Gefühlen der Freundschaft und wiederum des Vertrauens gegenüber denen, mit denen wir in unterschiedlichen Gruppen und Gemeinschaften verbunden sind. Zwischen reinen Egoisten würde das entsprechende Fehlen eines wirksamen Gerechtigkeitssinns bedeuten, dass keine genuine Empörung über einem selbst oder anderen zugefügtes Unrecht empfunden werden kann. Eine solche Empörung setzt nämlich die wirkliche Anerkennung der verletzten Prinzipien der Gerechtigkeit voraus und damit den

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Wunsch auch entsprechend zu handeln. Das Fehlen von natürlichen Gefühlen wie Liebe, Freundschaft und Vertrauen, aber auch von moralischen Gefühlen wie Schuld und moralische Scham, würde anzeigen, dass wir nicht im vollen Sinn Mensch sind, ein Teil unseres Menschseins würde uns abgehen.

Moralpsychologie im Politischen Liberalismus Nach seiner Wende zum Politischen Liberalismus nimmt die Darstellung der Moralpsychologie im Werk Rawls’ einen deutlich kleineren Raum ein. Einer der Gründe dafür dürfte sein, dass er, insbesondere was die Theorie der moralischen Entwicklung angeht, keinen Bedarf einer substanziellen Überarbeitung sieht, worauf er in Bezug auf Kapitel 8, §§ 70–72 und 75–76 explizit hinweist. Dieser Verweis auf Eine Theorie der Gerechtigkeit lässt die Abschnitte 73– 74 aus. Das dürfte zwei Gründe haben: Zum einen schießen diese beiden Abschnitte gewissermaßen über das enge Ziel der Entwicklung der Moralpsychologie im Argumentationsgang Rawls’ hinaus. Differenzierte Erklärungen unterschiedlicher moralischer Gefühle und ihres Verhältnisses zu natürlichen Gefühlen sind angemessen im Rahmen eines Theorieentwurfs, der nicht ausschließt, ein adäquater Ansatz für eine allgemeine Theorie des Rechten unter Menschen überhaupt zu sein (vgl. Rawls 1979, 34), und zumindest Hinweise auf eine „vollständige Morallehre“ (ebd., 527) enthält. Für die Abschätzung der Stabilität von Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption und den Aufweis, dass eine Ausrichtung des eigenen Handelns der entsprechenden Gerechtigkeitsgrundsätze ein Gut darstellt, sind sie entbehrlich. Wichtiger ist aber, dass vor allem in Abschn. 74 deutlich wird, dass die entwickelte Moralpsychologie, wenn auch mit aller Vorsicht, so doch mit dem Anspruch vorgetragen wird, damit etwas allgemein Menschliches oder gar etwas wie die menschliche Natur zu treffen: Moralische „Empfindungen sind ein normaler Teil des menschlichen Lebens“ (Rawls 1979, 531),

A. Gösele

sind „Teil unserer Menschlichkeit“ (ebd.). Dieser Anspruch ist mit der Wendung zum Politischen Liberalismus aufgegeben: Der Anspruch ist nur noch, im Rahmen einer politischen Konzeption der Gerechtigkeit eine politische vernünftige Moralpsychologie von als gleich und frei verstandenen und mit den zwei moralischen Vermögen „der Anlage zu einem Gerechtigkeitssinn und der Befähigung zu einer Konzeption des Guten“ (Rawls 2003, 85) ausgestatteten Bürger*innen vorzulegen. Die wesentlich kürzere Darstellung dieser ‚vernünftigen Moralpsychologie‘ in Politischer Liberalismus und Gerechtigkeit als Fairneß ist eng auf die Voraussetzungen der Kooperation unter entsprechend verstandenen Bürger*innen und der Entwicklung hin zu einem übergreifenden Konsens zugeschnitten, nimmt Bezug auch auf die psychologischen Anforderungen der Kooperation angesichts des Faktums des vernünftigen Pluralismus, betont die Bedeutung der Gegenseitigkeit und verlässt sich wie schon in Eine Theorie der Gerechtigkeit auf Gesetze der moralischen Entwicklung, die wachsendes Vertrauen untereinander und zu gerechten Institutionen erklärt. Als Teil einer politischen Konzeption ist der Anspruch für diese vernünftige Moralpsychologie allerdings beachtlich: Wir können sie als „Psychologie des Vernünftigen selbst“ (Rawls 2006, 298) verstehen. Seine Moralpsychologie kann Rawls deshalb auf eine markante Formel bringen, die das für ihn durchgängig zentrale Element der Gegenseitigkeit betont: „Kurz, das Vernünftige erzeugt sich selbst und reagiert auf sich selbst in gleicher Form“ (ebd.).

Literatur Abbey, Ruth: The familiar value of friendship. In: Roberto Luppi (Hg.): John Rawls and the common good. New York/London 2022, 76–95. Baldwin, Thomas: Rawls and moral psychology. In: Russ Shafer-Landau (Hg.): Oxford studies in metaethics, Volume 3. Oxford 2008, 247–270. Daniels, Norman: Moral theory and the plasticity of persons. In: Monist, 62/3 (1979), 265–287. Deigh, John: Love, guilt, and the sense of justice. In: Inquiry 25/4 (1982), 391–416.

42 Moral/Moralität/Moralpsychologie Kohlberg, Lawrence: The claim to moral adequacy of a highest stage of moral judgment. In: The Journal of Philosophy 70/18 (1973), 630–646. Mandle, Jon: Sense of justice. In: Roberto Luppi (Hg.): John Rawls and the common good, New York/London 2022, 204–225. Mill, John Stuart: Utilitarianism [61871]. In: On liberty, utilitarianism, and other essays. Hg. Mark Philp, Frederick Rosen. Oxford 2015, 115–177. Piaget, Jean: Das moralische Urteil des Kindes. In: Schlüsseltexte in 6 Bänden. Hg. Richard Kohler. Stuttgart 2015. Bd. 3. (frz. 1932). Rawls, John: Two concepts of rules. In: The Philosophical Review 64/1 (1955) 3–32. Rawls, John: Justice as fairness. In: The Philosophical Review 67/2 (1958), 164–194. Rawls, John: The sense of justice. In: The Philosophical Review 72/3 (1963), 281–305.

327 Rawls, John: The independence of moral theory. In: Proceedings and addresses of the american philosophical association 48 (1975), 5–22. Rawls, John: Reply to Habermas. In: The Journal of Philosophy 92/3 (1995), 132–180. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit [1979]. Frankfurt a. M. 202017 (engl. 1971). Rawls, John: Politischer Liberalismus [2003]. Frankfurt a. M. 62017 (engl. 1993). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß [2006]. Frankfurt a. M. 52017 (engl. 2001). Scheffler, Samuel: Moral independence and the original position. In: Philosophical Studies 35/4 (1979), 397– 403. Stern, Robert: The relation between moral theory and metaphysics. In: Proceedings of the aristotelian society, 92/1 (1992), 143–160.

Öffentlicher Vernunftgebrauch/ Öffentlichkeit

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Thomas M. Schmidt

Das Konzept des öffentlichen Vernunftgebrauchs im Kontext der Theorie des politischen Liberalismus Im Zentrum der politischen Theorie des Liberalismus steht die Aufgabe, die Institutionen gesellschaftlicher Kooperation und staatlicher Rechtsordnung durch vernünftige Gründe zu legitimieren. Erst die Möglichkeit einer vernünftigen Zustimmung aller Betroffenen zeigt, dass die Vorstellung einer „gerechten und stabilen und darum wohlgeordneten Gesellschaft unter den Bedingungen moderner pluralistischer Demokratien […] mehr als eine bloße Fiktion“ (Hinsch 1997, 17 f.) ist. Dies setzt voraus, dass die Bürger*innen einer pluralistischen Gesellschaft, unabhängig von ihren jeweiligen partikularen Überzeugungen, die Legitimität ihres gemeinsamen politischen Handelns akzeptieren können. Ein solches Prinzip der Normativität muss vor allem in jenen Debatten zur Geltung gebracht werden, in denen es um die Rechtfertigung von Gesetzen und staatlicher Sanktionsgewalt geht. Sie müssen daher auf der Basis von Gründen gerechtfertigt werden, die prinzipiell von allen Betroffenen geteilt werden können.

T. M. Schmidt (*)  Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected]

Damit die Art der Zustimmung selbst als eine vernünftige qualifiziert werden kann, müssen die Bürger*innen freie und gleichberechtigte Individuen sein. Der öffentliche Vernunftgebrauch setzt somit eine gerechte Struktur der Öffentlichkeit im Sinne der gleichen Freiheit aller Bürger*innen voraus. Öffentliche Vernunft erfordert und begründet den Vorrang individueller Rechte und Freiheiten vor kollektiven Zielen und Werten. Das Konzept des öffentlichen Vernunftgebrauchs markiert zugleich einen Reflexionsschritt von der Theorie der Gerechtigkeit zu der in Politischer Liberalismus vertretenen Konzeption der vernünftigen Begründung. Rawls hat sich nämlich zunehmend mit den methodischen Konsequenzen auseinandergesetzt, die sich für eine Konzeption von Gerechtigkeit im Kontext einer pluralistischen Gesellschaft ergeben. Die Vorstellung von Gerechtigkeit als Fairness muss nämlich gegenüber Bürger*innen gerechtfertigt werden, die in grundlegenden ethischen, politischen und religiösen Fragen divergierende vernünftige Überzeugungen besitzen. Daher unterscheidet Rawls nun stärker zwischen einfachem und vernünftigem Pluralismus und betont den freistehenden Charakter der Idee der Gerechtigkeit als Fairness. Die Idee des übergreifenden Konsenses und eine genauere Bestimmung des Vernünftigen und des Rationalen gehören zu den weiteren öffentlichkeitstheoretischen Elementen, die das Programm des politischen Liberalismus

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_43

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von Theorie der Gerechtigkeit unterscheiden. Rawls erklärt es für eines der grundlegenden Ziele von Political Liberalism zu zeigen, „dass die Idee der wohlgeordneten Gesellschaft aus A Theory of Justice so umformuliert werden kann, dass sie dem Faktum eines vernünftigen Pluralismus gerecht wird“ (Rawls 1998, 39 f.). Das Faktum eines vernünftigen Pluralismus wird von Rawls ausdrücklich als „ein dauerhaftes Merkmal der öffentlichen Kultur einer Demokratie“ (Rawls 1998, 106) angesehen. Dieses Faktum anzuerkennen bedeutet daher auch einzusehen, dass nur die gewaltsame Ausgrenzung von Alternativen eine bestimmte Theorie der Gerechtigkeit als die einzig wahre auszeichnen könnte. Das Faktum des Pluralismus hat daher nicht nur die empirisch-historische Bedeutung, dass es sich dabei um eine permanente gesellschaftliche Erscheinung handelt und die politisch-normative Bedeutung, dass es nicht legitim erscheint, Pluralität mit staatlicher Macht zu unterdrücken. Das Faktum des Pluralismus besitzt auch einen epistemologischen Sinn: Die soziale Tatsache des Pluralismus ist ein Zeichen der immanenten Grenzen vernünftigen Argumentierens, der Endlichkeit menschlicher Vernunft und Erkenntniskraft. Genau aus diesem Grund geht der politische Liberalismus davon aus, dass es keine erkenntnistheoretische Möglichkeit gibt, eine bestimmte Gerechtigkeitskonzeption auszuzeichnen, die mit bestimmten Überzeugungen über das Wesen der Person, den Sinn und das Ziel menschlichen Lebens, kurzum, mit einer bestimmten inhaltlichen Vorstellung des Guten, verbunden ist. Die Gerechtigkeitskonzeption des politischen Liberalismus versteht sich daher als eine vernünftige Konstruktion, die auf Wahrheitsansprüche verzichtet. Sie gründet sich nicht auf den Anspruch, im Besitz einer bestimmten fundamentalen Wahrheit über den Menschen überhaupt zu sein. Mit der Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs will Rawls also die Frage beantworten, wie angesichts des Faktums eines dauerhaften Pluralismus vernünftiger umfassender Lehren eine stabile und gerechte Gesellschaftsordnung möglich ist. Das für alle Gültige und Akzeptable kann nur durch öffentlichen Vernunftgebrauch

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gerechtfertigt werden. Was die allen rationalen Personen gemeinsame menschliche Vernunft ausmacht, lässt sich nicht a priori bestimmen, sondern nur durch die reflexive Rekonstruktion jener normativen Prinzipien, die von allen vernünftigen Bürger*innen geteilt werden. Da prinzipiell mehrere divergierende Lehren als vernünftig angesehen werden können, verbietet sich die Auszeichnung einer bestimmten umfassenden Doktrin als einzig wahrer Lehre, die dann in einer intolerant ausgrenzenden Haltung die anderen Überzeugungen als unwahr diskreditiert oder in einem paternalistischen Gestus als vorläufige Gestalten und bloße Annäherungen an die eine Wahrheit integrieren könnte.

Vernunft und Rationalität Um zu erklären, wie es dann zu einem „vernünftigen übergreifenden Konsens“ (Rawls 1998, 119) der im Plural auftretenden vernünftigen umfassenden Lehren kommen kann, erscheint es notwendig, den Begriff des Vernünftigen näher zu bestimmen. Als wichtiger Schritt bietet sich an, in Rawls’ Sinne Vernunft von Rationalität zu unterscheiden. Das Vernünftige und das Rationale repräsentieren Rawls zufolge zwei logisch unabhängige Ideen, die sich ergänzen. Das Vernünftige wird nicht aus dem Rationalen abgeleitet, etwa auf dem Weg einer Generalisierung von Verhaltenserwartungen und Klugheitserwägungen. Rawls betont ausdrücklich, dass es ein Missverständnis sei, die Konzeption des Urzustandes in diesem Sinne zu interpretieren und korrigiert Formulierungen aus der Theorie der Gerechtigkeit, die solche Einschätzungen nahelegen. Das Rationale wird aber auch nicht dem Vernünftigen entgegengesetzt. Rationalität und Vernunft widersprechen sich nicht generell, sondern nur insofern sie als Quellen und Prinzipien moralischen Handelns in Betracht gezogen werden. Vernunft und Rationalität schließen sich zwar in moralischer Perspektive aus, nicht aber in jeder praktischen oder gar in theoretischer Hinsicht. Die Differenz zwischen dem Vernünftigen

43  Öffentlicher Vernunftgebrauch/Öffentlichkeit

und dem Rationalen wird von Rawls zunächst in Anlehnung an Kants Unterscheidung zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen eingeführt (Rawls 1998, 127). Diese Differenz wird genauer im Sinne einer Unterscheidung zwischen reiner praktischer und empirisch-praktischer Vernunft verstanden. Handlungen sind durch reine praktische Vernunft bestimmt, insofern sie von Prinzipien geleitet werden; solche Handlungen sind ‚vernünftig‘ (reasonable). ‚Rational‘ ist dagegen der Gebrauch der empirischen praktischen Vernunft zu nennen. Der Ausdruck bezeichnet das Verhalten, gegebene Zwecke mit intelligenten Mitteln zu verfolgen. Der öffentliche Charakter der Vernunft bildet das entscheidende Kriterium, das Rawls für diese Unterscheidung von praktischer Rationalität und Vernunft in Anspruch nimmt. Das Vernünftige ist im Gegensatz zum Rationalen in einer spezifischen Weise öffentlich. Um zu unterstellen, dass andere Menschen rational sind, müssen wir nämlich keine gemeinsame öffentliche Welt betreten. Mit bloß beobachteten Akteur*innen muss kein Kooperationsverhältnis eingegangen werden, um ihnen rationale Kompetenzen zuschreiben zu können. Es ist nicht nötig zu wissen, an welchen Zielen und Zwecken sich andere Personen orientieren, um sie als rationale Wesen zu behandeln. Es genügt zu unterstellen, dass sie diese Zwecke auf eine intelligente Weise verfolgen. Um hingegen andere Personen als vernünftige Wesen anzuerkennen, muss ein Zusammenhang gemeinsamen Handelns gegeben sein. Die Zuschreibung von Vernunft setzt eine gemeinsame Welt intersubjektiv geteilter Gründe und Prinzipien voraus; diese kann nicht allein aufgrund von Beobachtungen extrapoliert, sondern nur durch gemeinsame Argumentation erschlossen werden. Um andere Personen vernünftig nennen zu können, muss ihnen Rawls zufolge unterstellt werden, „dass sie bereit sind, ihr Handeln von einem Prinzip leiten zu lassen, auf dessen Grundlage sie und andere gemeinsam argumentieren (reason in common) können“ (Rawls 1998, 121 Anm.). Rawls vertritt allerdings nicht die Auffassung, dass der öffentliche Charakter der Vernunft mit ihrem moralischen identisch sei. Der

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öffentliche Vernunftgebrauch bezieht sich auf einen bestimmten moralischen Bereich, auf die Sphäre des Politischen. Handlungen, die in diesem Raum angesiedelt sind und als moralisch qualifiziert werden sollen, müssen einen bestimmten öffentlichen Charakter besitzen; sie müssen sich an der Leitidee einer fairen sozialen Kooperation orientieren. Daher sind auch rein rationale Handlungsorientierungen nicht als prinzipiell amoralisch zu verwerfen. Rationale Personen sind nicht einfach als kluge Egoisten zu betrachten; sie sind „nicht darauf beschränkt, Zweck-Mittel-Erwägungen anzustellen“ (Rawls 1998, 123). Was einer ausschließlich rational handelnden Person im Unterschied zu einer vernünftigen fehlt, ist die für den öffentlichen Gebrauch der Vernunft maßgebliche „moralische Sensibilität, die dem Wunsch zugrunde liegt, sich an fairer Kooperation als solcher zu beteiligen“ (Rawls 1998, 123). Menschen sind politisch nicht irrational, aber unvernünftig, „wenn sie an kooperativen Systemen teilnehmen wollen, aber nicht bereit sind, irgendwelche allgemeinen Grundsätze oder Standards, die faire Bedingungen der Kooperation festlegen, zu achten oder gar vorzuschlagen“ (Rawls 1998, 122). Das Kriterium der Öffentlichkeit genügt also, um den Unterschied zwischen dem Vernünftigen und dem Rationalen in moralisch-politischer Hinsicht ausreichend zu bestimmen. In diesem Sinn kann Rawls davon sprechen, dass Vernünftigsein „keine epistemologische Idee ist, auch wenn dazu epistemologische Elemente gehören“ (Rawls 1998, 136). Vernünftig zu sein gehört vielmehr „zu einem politischen Ideal demokratischer Staatsbürgerschaft, das die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs einschließt“ (Rawls 1998, 136 f.). Das Vernünftige ist „ein Element der Idee der Gesellschaft als eines Systems fairer Kooperation“ (Rawls 1998, 122). Der Gebrauch dieses – öffentlichen – Vernunftvermögens legt den Bürger*innen daher die moralische „Pflicht zur Bürgerlichkeit“ (duty of civility) auf, die darin besteht, bereit zu sein den Mitbürger*innen zu erklären, inwiefern die eigenen politischen Optionen von den „politischen Werten der öffentlichen Vernunft getragen werden“ (Rawls 1998, 317).

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Kritik an Rawls’ Konzeption des öffentlichen Vernunftgebrauchs Rawls definiert Vernunft nicht direkt und umfassend in einem epistemologischen Sinn, sondern in Bezug auf grundlegende Tugenden, die ihr öffentlicher Gebrauch erfordert. Es stellt sich aber die Frage, ob diese politische Konzeption des öffentlichen Vernunftgebrauchs die Ursachen eines permanenten Pluralismus vernünftiger Überzeugungen zufriedenstellend erklären kann. Es scheint nämlich nicht immer klar zu sein, ob Rawls die Quelle des vernünftigen Pluralismus in der Vernunft selbst oder in der Struktur einer vernünftig eingerichteten Öffentlichkeit sieht. Einerseits gehört der Pluralismus von vernünftigen Überzeugungen zu den charakteristischen Eigenschaften der Vernunft selbst – wie es die Konzeption der Bürden des Urteilens nahelegen. Andererseits ist er das Ergebnis des Gebrauchs vernünftiger Kompetenzen im Rahmen einer bereits nach liberaldemokratischen Maßstäben geordneten pluralistischen Gesellschaft. Das „Faktum eines vernünftigen Pluralismus“ wird von Rawls eben nicht nur als allgemeines Resultat der Bürden des Urteilens dargestellt, sondern eben auch als Resultat „des Gebrauchs der menschlichen Vernunftvermögen unter andauernd freien Institutionen“ (Rawls 1998, 67). Die freien Institutionen erscheinen in dieser Perspektive aber nicht nur als neutrale Rahmenbedingungen des Gebrauchs der Vernunft, sondern geradezu als Ursachen ihres pluralistischen Charakters, so dass Rawls bisweilen davon spricht, dass das Faktum des Pluralismus eine „unvermeidliche Konsequenz“ (Rawls 1998, 67) der freien Institutionen einer gerechten Gesellschaft sei. Diese Auffassung kann in einem kontextualistischen Sinn gelesen werden. Das Faktum eines vernünftigen Pluralismus wäre dann als Resultat bestimmter Gesellschaften zu verstehen, die durch ein bestimmtes Set an politischen Institutionen gekennzeichnet sind. Der vernünftige Pluralismus stellte dann weder ein verallgemeinerungsfähiges Merkmal noch ein

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universelles normatives Kriterium von legitimer politischer Ordnung überhaupt dar. Daher bleibt es bei Rawls mehrdeutig, ob die grundlegenden Ideen, „die als Bestandteil der öffentlichen politischen Kultur einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden“ (Rawls 1998, 79), lediglich der Ausdruck des faktischen common sense einer historisch kontingenten Gesellschaftsform sind oder notwendige Bedingungen jeder normativ gerechtfertigten politischen Ordnung. Aus diesen kontextualistischen Zügen, die Rawls’ Konzeption der öffentlichen Vernunft bisweilen trägt, ergeben sich vor allem angesichts der zunehmenden Globalisierung politischer und sozialer Institutionen Begründungsund Anwendungsprobleme. Solche Fragen hat Rawls seit seinem Aufsatz „The Law of Peoples“ (Rawls 1993) zunehmend thematisiert. Rawls setzt sich hier explizit mit dem Vorwurf des Ethnozentrismus auseinander, der gegen die liberale Vorstellung von Gerechtigkeit im Kontext globaler Rechtspolitik erhoben wird. Angesichts der internen Spannung von Universalisierung und Kontextualisierung steht die Konzeption des öffentlichen Vernunftgebrauchs in der Dimension globaler Politik vor der besonderen Herausforderung, das Verhältnis von idealer und nicht-idealer Theorie zu bestimmen. Ein weiterer Kritikpunkt an Rawls’ Konzeption des öffentlichen Vernunftgebrauchs zielt auf seine Konzeption des überlappenden Konsenses. Rawls zufolge ist eine Konzeption dann vernünftig, wenn ihr öffentlich zugestimmt werden kann. Der Wahrheitsanspruch, der von den partikularen ethischen oder religiösen Überzeugungen erhoben wird, bleibt hingegen vollkommen in jene religiösen und metaphysischen Weltbilder eingebettet, die selbst nicht mehr durch öffentlichen Vernunftgebrauch gerechtfertigt werden. Eine Verbindung zwischen ethischer und politischer Rechtfertigung zeigt sich bei Rawls daher nur in der Binnenperspektive der jeweiligen umfassenden Lehren, die aus ihrer Perspektive zentrale Gehalte der politischen Gerechtigkeitskonzeption als wahr akzeptieren können. Diese Wahrheit ist dem

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öffentlichen Vernunftgebrauch jedoch nicht zugänglich. Rainer Forst hat dies „einen privaten Gebrauch der Vernunft in politisch-öffentlicher Absicht“ (Forst 1994, 159) genannt. Die Art von Zustimmung, welche die allgemeine Gerechtigkeitskonzeption bei Rawls in Gestalt eines genannten übergreifenden Konsenses findet, ist daher nicht in Form eines anspruchsvollen moralischen Standpunktes zu verstehen, sondern als bloß öffentlich gemachte Konvergenz einer nicht-öffentlich begründeten Akzeptanz. Der „überlappende“ Konsens ist ein veröffentlichter, kein öffentlich vollzogener Konsens. Diese Kritik war im Jahre 1995 Gegenstand einer intensiven Kontroverse zwischen Jürgen Habermas (Habermas 1995) und John Rawls (Rawls 1995) in der Zeitschrift „Journal of Philosophy“. Rawls hat auf diese Kritik nicht zuletzt mit der Unterscheidung einer ausschließenden und einer einschließenden Sichtweise des öffentlichen Vernunftgebrauchs geantwortet. Einer ausschließenden Sichtweise zufolge dürften „in grundlegenden politischen Angelegenheiten niemals Argumente in die öffentliche Diskussion eingebracht werden, die ausdrücklich in Begriffen einer umfassenden Lehre formuliert sind“ (Rawls 1998, 354). Zwar dürften Argumente vorgetragen werden, die den umfassenden Lehren entstammen, sie dürften aber nicht unter Berufung auf diese Lehren begründet werden. Von dieser Auffassung unterscheidet sich die einschließende Sichtweise des öffentlichen Vernunftgebrauchs; sie gestattet Bürger*innen „unter Berufung auf diejenige umfassende Lehre“ zu argumentieren, „die aus ihrer Sicht die Grundlage politischer Werte darstellt“ (Rawls 1998, 354). Jedoch steht eine solche öffentliche Berufung auf umfassende Lehren unter der einschränkenden Bedingung, dass sie „das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs stärkt“ (ebd.). Das Ziel einer Stärkung des Ideals des öffentlichen Vernunftgebrauchs bildet auch das entscheidende Kriterium, aufgrund dessen Rawls die tolerantere, einschließende Sichtweise bevorzugt und – unter Auflagen – die öffentliche Berufung auf umfassende Lehren

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gestattet. Diese etwas paternalistisch und volkspädagogisch anmutende Klausel einer Stärkung des Ideals der öffentlichen Vernunft hat Rawls in The Idea of Public Reason Revisited aufgegeben, wo er das Konzept eines weiten Verständnisses öffentlicher Vernunft entwickelt. Diese weite Sicht des öffentlichen Vernunftgebrauchs erlaubt nun ausdrücklich, vernünftige umfassende Lehren, religiöser oder nicht-religiöser Art, jederzeit in die politische Diskussion einzuführen. Dabei wird allerdings vorausgesetzt, dass in gebührender Zeit angemessene öffentliche Gründe präsentiert werden, welche die Auffassungen der umfassenden Lehren unterstützen können (Rawls 1997, 783 f.). Rawls korrigiert damit ausdrücklich Formulierungen aus der ersten Auflage von Political Liberalism (Rawls 1998, 50). Die einzige Bedingung, die Rawls aufrecht erhält, ist der ‚Vorbehalt‘ (proviso), dass für das, was die vernünftigen umfassenden Lehren fordern oder vorschlagen, öffentliche Begründungen angeführt werden können, die auch einer vernünftigen politischen Konzeption entstammen könnten (Roseneck 2021, 423–447). Die Idee eines weiten öffentlichen Vernunftgebrauchs bleibt somit der Kernidee des politischen Liberalismus verpflichtet, nämlich einem bestimmten Prinzip allgemeiner vernünftiger Rechtfertigung. Auch im weiten Gebrauch der öffentlichen Vernunft erfolgt die Rechtfertigung politischer Prinzipien und rechtlicher Sanktionsgewalt immer noch „in Begriffen vernünftiger Konzeptionen der Gerechtigkeit“ (Rawls 1997, 784).

Literatur Forst, Rainer: Kontexte der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1994. Habermas, Jürgen: Reconciliation Through the Public use of Reason: Remarks on John Rawls’s Political Liberalism. The Journal of Philosophy 92/3 (1995), 109–131. Hinsch, Wilfried: Politischer Konsens in einer streitbaren Welt. In: Ders./Philosophische Gesellschaft Bad Homburg (Hg.): Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls in der Diskussion. Frankfurt am Main 1997.

334 Neufeld, Blain: Public reason and political autonomy. Realizing the ideal of a civic people. London 2022. Rawls, John: The law of peoples. In: Critical Inquiry20/1 (1993), 36–68. Rawls, John: Political liberalism: Reply to Habermas. In: The Journal of Philosophy 92/3 (1995), 132–180. Rawls, John: The idea of public reason revisited. In: The University of Chicago Law Review 64/3 (1997), 765–807.

T. M. Schmidt Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: Das Recht der Völker. enthält: ‚Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft‘. Berlin 2002 (engl. 1999). Roseneck, Michael: Zwischen Tradition und Geltung. Religion als Herausforderung und Ressource öffentlicher Vernunft. Baden-Baden 2021.

Perfektionismus

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Rebecca Gutwald

Der politische Perfektionismus beruft sich auf Theorien des objektiven Guten, meist des guten Lebens, um dieses als oberste Zielsetzung des menschlichen Lebens und des staatlichen Handelns auszuweisen. Politische Institutionen sind so zu gestalten, dass sie den Bürger*innen die Erreichung dieser Zielsetzungen ermöglichen bzw. diese befördern. Der Perfektionismus ist eine idealistische und, je nachdem wie stark er definiert wird, paternalistische Staatstheorie. Sie ist mit den Grundsätzen eines politischen Liberalismus, wie ihn Rawls entwirft, nicht vereinbar. Dieser Eintrag erläutert den Begriff des Perfektionismus in Rawls’ praktischer Philosophie und die Gründe dafür, warum Rawls den Perfektionismus als politischen Grundsatz ablehnt. Dazu werde ich am Anfang des Beitrags auf den Stellenwert des Perfektionismus in der politischen Philosophie allgemein eingehen, um danach den Begriff in Rawls’ Gesamtwerk zu verorten und ihn mit relevanten Konzepten in seinem Ansatz in Beziehung zu setzen. Perfektionismus in der politischen Philosophie Perfektionismus sollte nicht mit der politischen Idealisierung von menschlicher Perfektion in jeder Hinsicht verstanden werden. In seiR. Gutwald (*)  Hochschule für Philosophie München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

ner Analyse des Begriffs merkt der Philosoph Christoph Henning an, dass die meisten Vertreter*innen nicht Perfektion als solche als Ziel der menschlichen Entwicklung setzen, sondern eine „glücksförderliche menschliche Entwicklung“, die man „zum normativen Maßstab sozialer Institutionen machen kann.“ (Henning 2010, 696). Davon unterscheiden sollte man starke Interpretationen des Perfektionismus, die die Vervollkommnung der menschlichen Natur (Wall 2019) in den Mittelpunkt ihres normativen Ansatzes rücken. Sie beziehen sich meist auf den aristotelischen Grundsatz, dass der Mensch das seiner Natur gemäße Ziel (sein Ergon) verfolgen sollte, das in einer tugendhaften Charakterbildung besteht, auf deren Basis man Glückseligkeit (Eudamonia) erreicht. Diese Annahme findet man in modifizierter Form in der neo-aristotelischen Ethik und Moralphilosophie (Foot 2001). Der politische Perfektionismus bezieht sich in der Regel auf die von Henning definierte Form, die das gute menschliche Leben als normatives Richtmaß für die Ausgestaltung gesellschaftlich-politischer Institutionen zugrunde legt, ohne einen Rückgriff auf die menschliche Exzellenz. Die Definition des guten Lebens wird dabei oft auf Basis eines ethischen Perfektionismus formuliert, der definiert, was als gutes menschliches Leben gilt. Ein notwendiges Element im Perfektionismus ist also die Annahme, dass es einen objektiven Wert bzw. eine Liste

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_44

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objektiver Werte gibt, mit deren Erreichung Menschen das Ideal eines guten Lebens verwirklichen können (Arneson 2000; Griffin 1989). Damit steht der Perfektionismus vor zwei Herausforderungen. Erstens muss er eine plausible Definition vom objektiven Guten liefern. Zweitens braucht er eine schlüssige Begründung dafür, warum dieses Element bzw. diese Liste von Elementen objektiv gut ist, und wie es mit den politischen Prinzipien vereinbar ist, die man vertreten möchte. Häufig wird diese Begründung in einem philosophisch-anthropologischen Ansatz des menschlichen Guten verortet, wie etwa der (neo)aristotelischen Bestimmung der Eudaimonia als höchstes menschliches Gut, das der Mensch seiner Natur gemäß anstrebt. Indem der politische Perfektionismus das Verständnis von einem guten Leben in die politische Sphäre überträgt, entspricht er auch in der Methodik einem aristotelischen Ansatz. Während dieser Schritt in der antiken Ethik wenig kontrovers scheint, stellt er in der politischen Philosophie des Liberalismus, der diese beiden Bereiche strikt trennt, ein Problem dar (Mill 1863).

Rawls’ Ablehnung des Perfektionismus als politisches Prinzip in der Theorie der Gerechtigkeit In seiner Theorie der Gerechtigkeit unterscheidet Rawls zwischen zwei Varianten des politischen Perfektionismus. Erstens kann dieser als „der einzige Grundsatz einer teleologischen Theorie“ verstanden werden, „die die Gesellschaft anweist, Institutionen, Pflichten und Verpflichtungen so festzulegen, daß die menschlichen Errungenschaften auf dem Gebiet der Kunst, Wissenschaft und Kultur maximiert werden“ (Rawls 2017, 360). Ebenso zählen höhere Formen der Religion dazu (ebd.). Als Beispiel für diese starke Auffassung von Perfektionismus nennt er Nietzsches Philosophie, in der sich u. a. der Grundsatz findet, dass die Gesellschaft ständig danach streben sollte, „große Menschen“ hervorzubringen. Diese Auffassung kann man als strikten Perfektionismus bezeichnen.

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Die zweite von Rawls definierte Variante kann als moderat verstanden werden und wird von Rawls „aristotelisch“ genannt, weil sie das Perfektionismusprinzip nur als eines von mehreren innerhalb einer intuitionistischen Theorie versteht. Es muss abgewogen werden, welches Gewicht den Errungenschaften der Kultur zugemessen wird. Bestimmten Lebensformen, die als kultivierter oder höher entwickelt gelten, wird in diesem Ansatz der Vorzug gegeben. So kann die Umverteilung von Gütern gerechtfertigt werden, um die Erhaltung von Kulturwerten zu fördern, sofern keine Grundbedürfnisse verletzt werden. Den Perfektionismus versteht Rawls (genauso wie den Utilitarismus) als teleologische Theorie. Diese begründet objektive Werturteile unabhängig bzw. vorgeordnet zum Begriff des Rechten und zu Urteilen von Gerechtigkeit. Das Rechte wird in diesen Theorien als das konzipiert, was dieses Gute maximiert. So richtet sich dieses Rechte etwa im (Neo)-Aristotelismus am menschlichen Glück aus, und im Utilitarismus am Nutzenprinzip. In dieser Definition steckt bereits einer der Gründe, warum Rawls den Perfektionismus beider Arten ablehnt, denn in seiner deontologisch geprägten Theorie der Gerechtigkeit bzw. des politischen Liberalismus haben (Freiheits-)Rechte Vorrang vor den Anforderungen bestimmter Theorien des Guten bzw. sind davon unabhängig. Hier kann man von der Prioritätsthese sprechen (Özmen 2015). Die Rolle des Guten wird dementsprechend durch das Rechte eingeschränkt, was bedeutet, dass die Grundsätze der Gerechtigkeit die Bedingungen dafür liefern, was ein legitimes objektives Gut ist, das in der politischen Sphäre erstrebenswert ist. In der Theorie der Gerechtigkeit, § 50, formuliert Rawls sein Hauptargument gegen den Perfektionismus. Er führt an, dass hinter dem Schleier des Nichtwissens im Urzustand kein perfektionistischer Grundsatz beschlossen werden würde. Das lässt sich laut Rawls am besten am Beispiel des strikten Perfektionismus zeigen: Es gibt schlichtweg keinen Grund, diesen als Gerechtigkeitsprinzip zu wählen. Zunächst einmal gibt es im Urzustand keine ge-

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meinsame Vorstellung vom Guten. Die Parteien im Urzustand haben überhaupt keine inhaltlich bestimmten Interessen oder konkrete Vorstellungen. Sie wissen aber, dass sie diese nach dem Lüften des Schleiers besitzen werden. Sie wissen ebenso, dass sich die Interessen und Vorstellungen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder voneinander unterscheiden werden, d. h. keine klare gemeinsame Vorstellung vorliegen wird. Damit existiert keine Grundlage, überhaupt einen Maßstab für Perfektion zu formulieren. Es gibt also keine Gründe, ein Perfektionsprinzip im Urzustand zu akzeptieren, wohl aber einige, die dagegen sprechen. Je stärker das Maß der Perfektion, desto größer die Gefahr, dass die Anerkennung eines Perfektionsgrundsatzes zu Einschränkungen oder gar zum Verlust bestimmter Freiheiten führt – etwa zur Verringerung von religiöser oder kultureller Freiheit. Die Parteien können im Urzustand nicht wissen, ob ihre Ansprüche in diesen Bereichen hinter der Maximierung von Perfektion zurückstehen müssten. Sie hätten damit nicht die größtmöglichen gleichen Grundfreiheiten wie andere, deren Ansprüche mit dem Perfektionsgrundsatz konformgehen. Die Ablehnung des Perfektionsgrundsatzes speist sich aus den gleichen Überlegungen für den Grundsatz größtmöglicher gleicher Grundfreiheiten für alle. Um letztere zu wahren, dürfen sich politische Prinzipien nicht auf den Begriff des Guten in einer perfektionistischen Form beziehen. Relevant im politischen Sinn ist lediglich, dass die Parteien vernünftige, moralische Subjekte sind. Ob ihre Qualitäten in den anderen Hinsichten – etwa künstlerischen, wissenschaftlichen oder kulturellen – gleich gut sind, spielt keine Rolle, denn es ist nicht notwendig, dass Menschen gleich leistungsfähig sind, damit sie gleiche Freiheit erlangen. Umgekehrt wäre das Perfektionismusprinzip auch nicht hinreichend für die Begründung des Prinzips größtmöglicher gleicher Freiheiten. Wäre die Maximierung des Könnens in den genannten Bereichen der Maßstab für Gerechtig-

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keit, wäre es eher gerechtfertigt, die Grundfreiheiten ungleich zugunsten der höher begabten Menschen zu verteilen. Damit würde ein Perfektionsprinzip auch gegen das zweite Gerechtigkeitsprinzip der Theorie der Gerechtigkeit, insbesondere gegen das Differenzprinzip verstoßen. Diese Kritikpunkte formuliert Rawls gegen den strikten Perfektionismus, sie lassen sich jedoch ebenso auf die gemäßigten Formen anwenden. Da sich auch eine gemäßigte Form des Perfektionismus auf eine bestimmte Vorstellung vom guten Leben bezieht, besteht kein Grund, sie im Urzustand zu wählen bzw. sprechen die oben genannten Gründe dagegen, die sich auf die Garantie gleicher Grundfreiheiten für alle beziehen. Ein letztes Argument gegen den Perfektionismus in der Theorie der Gerechtigkeit besteht darin, dass perfektionistische Gründe auch nach der Lüftung des Schleiers des Nichtwissens zu unbestimmt wären, um auf ihrer Basis politische Grundsätze zu formulieren. Perfektionistische Überlegungen werden in der politischen Debatte laut Rawls oft dann ins Feld geführt, wenn die Gerechtigkeitsgrundsätze kein Argument mehr für eine Einschränkung von Freiheit liefern würden, und andere Rechtfertigungsgründe gesucht werden, die aber im liberalen Ansatz nicht akzeptabel sind. Rawls nennt Empfindungen der Ästhetik oder der persönlichen Sexualmoral als Beispiele. Diese sind oft durch Unterschiede in Gruppen und Klassen gefärbt. Damit sind sie im Gegensatz zu den klar hergeleiteten Gerechtigkeitsgrundsätzen zu subjektiv und unbestimmt, so dass sie nicht als legitime Prinzipien für alle Mitglieder einer politischen Gemeinschaft taugen. Rawls merkt an, dass die Folgen eines Verzichts auf Perfektion akzeptabel sind, weil dies nicht bedeutet, dass keine öffentlichen Mittel für Kunst und Wissenschaft zur Verfügung gestellt werden können. Es gilt lediglich die Einschränkung, dass dies nur im Rahmen und auf Basis der Gerechtigkeitsgrundsätze geschehen muss.

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Antiperfektionismus im Gesamtwerk von Rawls In Rawls Arbeiten zum politischen Liberalismus wird das Perfektionismusprinzip weniger explizit behandelt, da sich dieser mit anderen, begrifflich vorgelagerten Fragen der Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness beschäftigt (Wall 2019; Rawls 2016). Noch mehr als die Theorie der Gerechtigkeit betont der Politische Liberalismus die Stellung eines vernünftigen Pluralismus von Weltanschauungen in einer Gesellschaft, also einer Vielfalt umfassender Vorstellungen vom guten Leben („comprehensive doctrines“ (Rawls 2016)). Rawls behandelt die Fragen nach Legitimität politischer Macht und der Stabilität in liberalen Gesellschaften (Wall 2019). Ein Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation zur Stabilität ist der sog. „übergreifende Konsensus“ der Weltanschauungen vernünftiger Bürger*innen. Rawls geht davon aus, dass sich Menschen mit verschiedenen Weltanschauungen bzw. Vorstellungen vom guten Leben in Form dieses Konsensus auf gemeinsame Prinzipien einigen können, die sie alle akzeptieren können – wenn auch aus verschiedenen Gründen, die sich aus ihren Weltanschauungen ergeben. Rawls schränkt durch das Kriterium der Vernünftigkeit bereits die Zulässigkeit bestimmter Weltanschauungen ein. Aber auch die zulässigen Vorstellungen vom Guten können nicht als Grundlage für legitime politische Regelungen herangezogen werden. Vernünftige Bürger*innen sind kooperationsfähig und -willig, was Toleranz zu einem Teil ihrer Weltanschauung macht. Sie verstehen damit, dass sie mit Menschen, die andere Weltanschauungen haben, über die Fragen des Guten uneinig sein können, und werden daher nicht bereit sein, ihnen ihre eigenen Vorstellungen vom Guten aufzuzwingen. Im Gegenzug erwarten sie dasselbe von ihren Mitbürger*innen. Ein Perfektionismusprinzip kann also von vernünftigen Bürger*innen nicht im Rahmen eines übergreifenden Konsenses akzeptiert werden. Perfektionismus entspricht unabhängig

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davon, welche objektiven Werte er genau verfolgt, einer umfassenden Weltanschauung, vergleichbar mit Religionen oder anderen Theorien, die das Rechte über das Gute definieren, wie etwa der Utilitarismus. Daher dürfen Zielsetzungen perfektionistischer Art im politischen Liberalismus nicht von staatlicher Seite verfolgt werden. Gerechtigkeit als Fairness lehnt, so Rawls, die Vorstellung ab, dass der Vergleich und die Maximierung des guten Lebens eine politische Angelegenheit seien (Rawls 2016). Ebenso ist politisch ohne Belang, ob bzw. zu welchem Grad Menschen ihre Lebensentwürfe oder bestimmte andere Werte (etwa kulturelle oder wissenschaftliche) verwirklichen. Die Rawlssche Ablehnung des Perfektionismusgrundsatzes weist auf den Begriff der staatlichen Neutralität hin, einer zentralen Forderung in liberalen Staatstheorien. Rawls vermeidet es jedoch, diesen Begriff als zentralen Baustein seiner Theorie zu bezeichnen, weil er die damit verbundenen Konnotationen für missverständlich bzw. die in diesem Zusammenhang formulierten Prinzipien impraktikabel findet (Rawls 2016). Für die Definition von legitimer Staatsmacht und Stabilität der politischen Verhältnisse ist eine, wie auch immer näher zu definierende, neutrale Basis für die Struktur der Gesellschaft unerlässlich, um nicht einer umfassenden Weltanschauung den Vorzug zu geben und damit den Konsensus zu gefährden.

Kritik am Rawlsschen AntiPerfektionismus Kritiker*innen von Rawls haben den Einwand vorgebracht, dass sich im politischen Liberalismus dennoch Züge von Perfektionismus finden lassen bzw. Überlegungen des Guten eine Rolle spielen (Wall 2019). Dazu muss angemerkt werden, dass Rawls Ideen des Guten nicht völlig aus der politischen Sphäre ausschließt, diese jedoch auf eine dünne („thin“) Theorie des Guten beschränkt, wie Rawls es in der Theorie der Gerechtigkeit ausdrückt (Rawls 2017). Die Parteien hinter dem Schleier des Nichtwissens kön-

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nen kein ultimatives Ziel des menschlichen Lebens annehmen, und haben keine umfassende Vorstellung vom Guten. Zwar werden sie, wie Rawls es in seinem „aristotelischen Grundsatz“ (Rawls 2017, 463) formuliert, einen objektiv vernünftigen Lebensplan haben, das bedeutet aber nicht, dass alle Menschen inhaltlich denselben Lebensplan wählen würden (Kersting 2013). Die vernünftigen Gesellschaftsmitglieder können sich, wie im Politischen Liberalismus expliziert, in einem stabilen liberalen Staat nicht auf mehr als eine dünne Konzeption des Guten einigen, weil sie zu stark divergierende umfassende Weltanschauungen haben, die nur in diesem dünnen Bereich überlappen. Ein weiterer Einwand gegen Rawls Ablehnung des Perfektionismus verweist auf die Rolle der sozialen Grundlagen von Selbstrespekt, die Rawls in einer Gerechtigkeitstheorie als Primärgüter auffasst (Rawls 2017). Dazu gehörten u. a. ein stabiles Selbstbewusstsein und die jeweiligen Bedingungen, dieses auszubilden, um als kooperierende Gesellschaftsmitglieder auftreten zu können, die ihre eigene Vorstellung vom guten Leben verfolgen (Rawls 2016). Es wird eingewendet, dass perfektionistische staatliche Handlungen den Selbstrespekt von Menschen positiv beeinflussen können bzw. dass ein gewisser Perfektionismus dabei sogar nötig ist (Wall 2019). Dies kann Rawls in seiner Theorie des politischen Liberalismus nicht befürworten, weswegen der Begriff des Selbstrespekts aus Sicht seiner Kritiker*innen nicht adäquat ausgefüllt wird. Rawls ist ein konsequenter Anti-Perfektionist. Eine übergeordnete, substantiell be-

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stimmte Vorstellung vom guten Leben, die die gesellschaftliche Entwicklung bestimmt, gibt es nach seiner Auffassung nicht. Daher darf es auch keine perfektionistische Politik geben und es ist nicht zulässig, dass sich politische Institutionen in einem liberalen Staat in den Dienst von religiösen, kulturellen oder anderen umfassenden Weltanschauungen stellen. Perfektionismus ist mit dem politischen Liberalismus unvereinbar.

Literatur Arneson, Richard J.: Perfectionism and politics. In: Ethics 111/1(2000), 37–63. DOI: https://doi. org/10.1086/233418. Foot, Philippa: Natural goodness. Oxford 2001. Griffin, James: Well-being: Its meaning, measurement and moral importance. Oxford 1989. Henning, Christoph: Schwerpunkt: Perfektionismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58/5 (2010), 696–704. DOI: https://doi.org/10.1524/ dzph.2010.0054. Kersting, Wolfgang: Die Gerechtigkeit zieht die Grenze, und das Gute setzt das Ziel. In: Otfried Höffe/John Rawls (Hg.): John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Klassiker auslegen, Band 15. Berlin 32013, 191–210. Mill, John S.: On liberty. Boston 1863. Özmen, Elif: Der Vorrang des Rechten und die Ideen des Guten (Vorlesung V). In: Otfried Höffe (Hg.): John Rawls: Politischer Liberalismus. Klassiker auslegen, 49. Berlin/Boston 2015, 113–130. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 52016 (engl. 1993). Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 202017 (engl. 1971). Wall, Steven: Perfectionism in moral and political philosophy. In: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford encyclopedia of philosophy. Stanford 2019.

Person/freie und gleiche Person

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Cindy-Ricarda Roberts

Die normativen Beurteilungskriterien von John Rawls Gerechtigkeitstheorie richten sich primär auf grundlegende soziale Institutionen und zielen erst in zweiter Linie auf Handlungen und Personen ab. Dennoch ist das zugrunde gelegte liberale Personenbild von Rawls für seine Gerechtigkeitskonzeption zentral, da es im direkten Zusammenhang mit den Grundannahmen des Urzustands steht. Schließlich hängt davon das gesamte operationale Prüfungsunterfangen ab (Schwaabe 2007, 170). Da Rawls beansprucht, die in liberalen Gesellschaften vorhandene Intuition von Gerechtigkeit darzulegen, bezieht sich sein Begründungsmodell entsprechend nur auf solche Personen, die in modernen liberalen demokratischen Verfassungsstaaten leben und deren Intuition von Gerechtigkeit. So geht die liberale Gerechtigkeitskonzeption Rawls’ von freien und gleichen, moralischen und vernünftigen Personen aus, die überdies eine „faire Gesinnung“ aufweisen (vgl. Rawls, 2017a, 85). Die politische Konzeption der Person gehört dabei zur Idee der fairen Kooperation (vgl. Rawls, 2017a, 84–87), woraus Rawls auch die Pflicht der Bürgerlichkeit ableitet (Rawls, 2017a, 317; vgl. Lister 2015, 97–99).

C.-R. Roberts (*)  Technische Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

Die beiden moralischen Vermögen Kennzeichnend für die Idee der freien und gleichen Person, sind die „beiden moralischen Vermögen“ (Rawls, 2017b, 44–53), die Rawls diesen zuschreibt. Das erste Vermögen bezieht sich auf die „Anlage zum Gerechtigkeitssinn“ (ebd., 44). D. h. die Verständnisfähigkeit für die fairen Grundbedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens festlegende Grundsätze der politischen Gerechtigkeit. Dabei müssen die Personen auch in der Lage sein, diese anzuwenden und nicht nur im Einklang mit diesen zu handeln, sondern sich in ihren Handlungen tatsächlich von diesen motivieren zu lassen. Das zweite Vermögen von Personen ist sich eine Konzeption des Guten zu bilden. Eine solche Konzeption offenbart sich durch das Verfolgen eines vernünftigen Lebensplan (vgl. Rawls, 2019, 445). Das bedeutet, sich zu einer Vorstellung des Guten zu bekennen, diese rational anzuwenden und sich in seinem Leben danach zu richten. Ebenso diese gegebenenfalls anhand begründeter Zweifel zu korrigieren. Eine Konzeption des Guten stellt eine Ordnung von Endzielen- und Zwecken dar. Diese besagt, was im Leben individuell Wert zugeschrieben und als lebenswert erachtet wird, ist in der Regel Teil einer philosophischen, religiösen oder moralischen umfassenden Anschauung bzw. Lehre, wonach sich die verschiedenen individuellen Ziele und Zwecke ausrichten. In-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_45

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sofern Personen diese beiden Fähigkeiten aufweisen, sind sie der sozialen Kooperation fähig und als moralische und vernünftige Bürger*innen zu bezeichnen (Rawls 2017b, 45). Schließlich schreibt Rawls freien und gleichen Personen Vernunft zu, d. h. die Fähigkeiten des korrekten Schließens und Urteilens. Diese gehen einher mit den beiden moralischen Vermögen und sind für deren Ausübung sowie für die Anwendung notwendig (vgl. Rawls, 2017b, 52). Die Bürger*innen stimmen also als freie und gleiche ein, dass die Vernunft wie ein Modul in der Vorstellung des Guten platziert werden kann, sodass der übergreifende Konsens gewährleistet ist. Ausgehend von der Tradition des demokratischen Denkens, sind Bürger*innen so als freie und gleiche, moralische und vernünftige Personen zu verstehen, die an der sozialen Kooperation mitwirken (vgl. Rawls, 2017a, 85). Das Personenbild Rawls’ entstammt einer historisch und kulturell erwachsenen öffentlichpolitischen Auffassung von Personen wie sie in demokratischen Gesellschaften anhand deren Verfassungen beschrieben und gedeutet werden. Die zugrundeliegende Leitidee ist, dass die Personen aufgrund ihrer beiden „moralischen Vermögen“ frei sind. Gleich sind sie aufgrund ihrer hinreichenden Entwicklung der beiden Vermögen (vgl. Rawls, 2017a, 85).

Gleiche Personen Gleich sind Bürger*innen explizit insofern „[…] ihnen allen im unentbehrlichen Mindestmaß die moralischen Vermögen zugeschrieben werden, die nötig sind, um sich ein Leben lang an der sozialen Kooperation zu beteiligen und der Gesellschaft als gleiche Bürger an[zu]gehören“ (Rawls 2017b, 46). Das gleiche Potenzial dieser Fähigkeiten ist die Grundlage der Gleichheit zwischen Personen bzw. den Beteiligten im Urzustand. Damit geht eine gewisse Differenzierung zwischen politischer Gesellschaft und zivilen Vereinigungen einher. Während eine Person zivile Vereinigungen in der Art von Religionsgemeinschaften, oder einer spezifischen Kultur, grundsätzlich verlassen kann, ist dies bezüglich

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der politischen Gesellschaft (Staatsbürgerschaft) in der Regel nicht möglich. Das Staatswesen ist außerdem dazu befugt, in der Gesellschaft anhand des Rechtssystems Zwangsgewalt auszuüben. Zudem weist eine demokratische Gesellschaft keine (moralische) Konzeption des Guten auf, wohingegen zivile Gemeinschaften durchaus eine solche aufweisen können (Rawls 2017b, 46 f.). Während in der Gemeinschaft bestimmte Personen bevorzugt, andere hingegen benachteiligt werden können, gelten in der politischen Gemeinschaft, in der alle miteinander kooperieren, diese als Gleiche und „können nur in dem Maß unterschiedlich behandelt werden, als es die öffentliche politische Gerechtigkeitskonzeption erlaubt“ (Rawls 2017b, 47). Bezogen auf den Urzustand sind die Beteiligten gleich aufgrund des Schleiers des Nichtwissens. D. h. ihrem moralischen Vermögen entsprechend dem Nichtvorhandensein bestimmten Wissens zuzustimmen, womit dieser die Grundlage der politischen Gleichheit verkörpert (vgl. Rawls 2017b, 46). Auf Grundlage dessen sind konfessionell oder aristokratisch geprägte Gesellschafts- bzw. Staatsformen ausgeschlossen, da diese gerade eine (moralische) Konzeption des Guten aufweisen (vgl. Rawls 2017b, 47). Genau dann, wenn die Gesellschaftsmitglieder sich tatsächlich als gleich ansehen, müssen die Gerechtigkeitsprinzipien von Rawls den „wohlüberlegten Urteilen entsprechen“ (Rawls, 2019, § 9) und gleichen folglich der vorhandenen Intuition von Gerechtigkeit in liberalen Gesellschaften. Dieser Einklang führt zum Überlegungsgleichgewicht (vgl. Rawls 2019, § 4; § 9) und stellt zugleich das Hauptziel von Rawls gesamten operationalen Prüfungsverfahren dar (vgl. Schwaabe, 2007, 154).

Freie Personen Frei sind die Personen bei Rawls nicht im Sinne der Willensfreiheit der Philosophie des Geistes. Vielmehr ist gemäß Rawls die relevante Bedeutung „freier Personen“ der historisch bedingten „politischen Kultur“ einer Gemeinschaft zu entnehmen (vgl. Rawls 2017b,

45  Person/freie und gleiche Person

48). Hierfür führt Rawls zwei relevante Aspekte ins Feld: Zum einen die Natur der Identität der „freien Person“, zum anderen das Selbstverständnis der Person in demokratischen liberalen Gesellschaften. Der erste Aspekt bezieht sich auf das bereits erwähnte moralische Vermögen, anhand dessen einer Person eine Konzeption des Guten zugeschrieben werden kann. Diese erlaubt, im Gegensatz zu mancher religiösen bzw. philosophischen Überzeugung, dass ein Mensch von einer Religion zu einer anderen Religion, oder Weltanschauung wechseln kann, ohne dass dadurch die rechtlich-politische Identität einer Person betroffen wäre. Diese öffentlich-rechtliche Identität ist eine durch das Grundgesetz bzw. einer Verfassung festgelegte Identität. Die zweite, nicht-rechtliche moralische Identität (vgl. Rawls, 2017b, 49) bezieht sich auf die tieferliegenden Ziele und Bindungen der Bürger*innen. Diese müssen ihre beiden Identitäten aufeinander abstimmen. So ergeben politisches und nichtpolitisches Engagement zusammen mit den Bindungen eines Menschen, die moralische Identität einer Person (vgl. Rawls 2017b, 49 f.). Insofern eine Person solche Arten des individuellen Engagements und der Bindung verlieren würde, da sich die eigenen Endzwecke grundlegend verändern, kann diese sinnvollerweise von sich selbst behaupten, sie wäre wie eine andere Person. In wohlstrukturierten Gesellschaften sind die (allgemein) politischen Werte und Bindungen der Bürger*innen insofern weitestgehend die gleichen, wenn sie einen Teil bzw. Schnittmenge der nicht-politischen oder moralischen Identität sind (vgl. Rawls 2017b, 50). Der zweite Aspekt besagt, dass Personen, um frei zu sein, sich selbst als „selbst beglaubigende Quellen mit gültigen Ansprüchen begreifen“ (ebd., 50) müssen. Dies bedeutet, dass sie berechtigt sind, bestimmte Ansprüche an die Institutionen zu stellen, sodass es ihnen möglich ist, ihre Konzeption des guten Lebens zu verfolgen und sie sich selbst als Träger*innen dieser Rechte begreifen. Die Vorstellung des Guten muss dabei im Rahmen der Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness zugelassen sein. So lange die von den Bürger*innen bejahten

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Vorstellungen des Guten mit der öffentlichen Gerechtigkeitsvorstellung vereinbar sind, sind die daraus entstehenden Pflichten und Obliegenheiten vom politischen Standpunkt aus ebenso selbstbeglaubigend. Als Gegenbeispiel führt Rawls das Sklaventum an, in dem nicht alle Personen als gleiche Personen angesehen werden. Rawls versucht mit dieser Gegenüberstellung zu veranschaulichen, weshalb das Personenbild der freien Bürger*innen, aufgrund ihrer moralischen Vermögen und ihrer Konzeption des Guten, eine gewisse politische Gerechtigkeitskonzeption mit sich bringt (Rawls 2017b, 52).

Freie und gleiche Personen als normative politische Konzeption Explizit betont Rawls, dass er eine politisch normative Konzeption von Personen beschreibt, die gerade nicht einem psychologischen oder einem Menschenbild der Naturwissenschaften entspricht (Rawls 2017b, 52). Diese operieren ohne normative Begriffe wie dem des moralischen Vermögens, oder moralischen oder politischen Tugenden, weshalb Rawls sein Personenbild klar davon abgrenzt (ebd., 52). Das dargelegte Personenbild entspricht dem Personenbild in der Tradition der öffentlichen politischen Kultur einer demokratischen Gesellschaft (ebd., 52), sodass durch das Gesellschaftsbild, verstanden als einen ordnungsstiftenden Leitgedanken der Gesellschaft als faires Kooperationssystem, auch ein bestimmtes Personenbild festgelegt wird. Ein*e Bürger*in ist demnach, wer sein*ihr ganzes Leben lang als freie*r und gleiche*r Teilnehmer*in kooperierend partizipieren kann. Mit der Konzeption der Person wird demnach ein praktisches Ziel verfolgt. Rawls beansprucht dabei gerade nicht die Natur der Menschen in umfassender Weise darzulegen. Die Begründung für sein Personenbild liegt vielmehr in der pragmatischen Absicht seines Vorgehens: „Da unsere Darstellung der Gerechtigkeit als Fairneß von der Idee ausgeht, die Gesellschaft als faires, Generationen übergreifendes System sozialer Kooperation zu verstehen, wählen wir eine Personenkonzeption, die zu dieser Idee passt“

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(Rawls 2017a, 84). Rawls Überlegungen sind daher nicht ohne jeden Bezug. Vielmehr versucht er, nahe an der politischen Kultur und den impliziten Anschauungen (von demokratischen Staatsbürger*innen in liberalen Gesellschaften) zu argumentieren. Die Konzeption der Person ist damit nicht nur eine rein philosophische Argumentation, sondern stellt einen neuartigen politischen Theorieansatz dar, der insbesondere kulturellen Rahmenbedingungen größere Bedeutung zuschreibt (Schwaabe 2007, 170).

Veränderter Status der Konzeption freier und gleicher Personen In Eine Theorie der Gerechtigkeit liegt der Fokus noch auf der Darlegung des neuartigen operationalen Prüfungsverfahren, während in Politischer Liberalismus der Fokus auf der Gewährleistung von Stabilität und Legitimität dieser liegt. Der gewandelte Theorieanspruch spiegelt sich auch im Personenbild wider (Rawls 2019, 548). Während die Theorie der Gerechtigkeit von einer normativ moralischen Personenkonzeption ausgeht, liegt dem Politische[n] Liberalismus hingegen ein normativ politisches Personenbild zugrunde. So spricht Rawls explizit von Definitionsmerkmalen der „moralischen Person“ sowie der „moralischen Persönlichkeit“ in seinem ersten Werk (Rawls 2019, § 3, § 4). Frei sind die Bürger*innen in der Theorie der Gerechtigkeit aufgrund der geltenden Limitierungen, sodass „[d]as beste System der Freiheiten […] von der Gesamtheit der für sie geltenden Einschränkungen ab[hängt]“ (Rawls 2019, S. 232). Die Grundfreiheiten werden also dann eingeschränkt, wenn dies zum Erhalt der gleichen Freiheit für alle Mitglieder beiträgt sowie die Freiheit der am wenigsten Begünstigten mehrt (vgl. ebd., 233). Demnach zeigt sich hier bereits sowohl die Leitidee der freien und gleichen Personen im Urzustand, als auch die Idee des Schleiers des Nichtwissens, welche mit dem Personenbild einhergehen. Allerdings ist der Urzustand fair gegenüber moralischen Subjekten. Darunter versteht Rawls in Eine Theorie der Gerechtigkeit eine äquivalente

C.-R. Roberts

Vorstufe zur Idee der freien und gleichen Personen, worunter vernünftige Personen mit eignen Zielen und der Fähigkeit zu einem Gerechtigkeitssinn subsumiert werden (ebd., 29, 548; vgl. Rawls 2013). Die Bedingungen der Menschen im Urzustand in Eine Theorie der Gerechtigkeit sind gleich aufgrund ihrer Eigenschaft moralische Subjekte zu sein. Diese lassen sich kennzeichnen anhand zweier Eigenschaften, die den bereits erwähnten moralischen Vermögen aus Politischer Liberalismus entsprechen. Bereits in Eine Theorie der Gerechtigkeit gelten gleiche Rechte, da alle Vorschläge machen sowie Gründe dafür vorbringen können (vgl. Rawls 2019, 36). Die als Möglichkeit definierte „moralische Persönlichkeit“ verwirklicht sich mit der Zeit (vgl. ebd., 548). Äquivalent zum gewandelten Status in Politischer Liberalismus, ist die Fähigkeit zur moralischen Persönlichkeit bereits in Eine Theorie der Gerechtigkeit eine hinreichende Bedingung für den Anspruch auf gleiche Gerechtigkeit (vgl. ebd., 549). Rawls legt dabei eine bestimmte Deutung des Begriffs der „natürlichen Rechte“ zugrunde (vgl. ebd., 549, Fn. 30), wobei diese offenlässt, ob die Fähigkeit zur moralischen Persönlichkeit auch eine notwendige Bedingung für Gerechtigkeitsansprüche darstellt (vgl. ebd. 549). Nach Rawls ist eine Person, der diese Fähigkeit fehlt, trotzdem schützenwert, da das Fehlen dieser Fähigkeit natürlichen Gebrechen oder unglücklichen Umständen zugeschrieben werden muss. So schreibt er: „Falls das Mindestmaß für eine moralische Persönlichkeit vorhanden ist, stehen diesem Menschen alle Garantien der Gerechtigkeit zu“ (ebd. 549). Nichtsdestoweniger ist es trotzdem sinnvoll davon auszugehen, dass in der Regel alle Personen eine Konzeption des Guten haben (ebd. 549). So werden die Personen gleichbehandelt – und wo dies nicht der Fall ist, greift wiederum das Differenzprinzip, welches ungleiche Verteilung regelt. Insgesamt sind die Grundzüge der Personenkonzeption bereits in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit angelegt. Diese werden aber durch den veränderten Theorieanspruch und den damit einhergehenden gewandelten Anspruch im Hinblick auf Legitimität und Stabilität, in einem veränderten

45  Person/freie und gleiche Person

Verständnis des Personenbilds weiterentwickelt. Die Leitidee der Freiheit der Personen aufgrund der beiden moralischen Vermögen bleibt bestehen und versteht sich ab Politischer Liberalismus als normativ politische Konzeption. Ebenso die Gleichheit aufgrund der hinreichenden Entwicklung der beiden Fähigkeiten. Anstatt eines moralisch normativen Anspruchs an Personen, gilt äquivalent für das Personenbild ebenso ein normativ politischer Anspruch. Dieses trägt schließlich wesentlich zum Grundkonsens bei und verhindert Beeinträchtigungen des öffentlichen Vernunftgebrauch, sodass eine allgemeine Übereinstimmung möglich ist. Schließlich bedingt und gewährleistet es den Erfolg von Rawls’ gesamten kohärenztheoretischen Vorgehen.

Die tolerante Personenkonzeption in Recht der Völker In Das Recht der Völker wird im Zusammenhang mit der Ausweitung der Gerechtigkeit als Fairness-Konzeption auf internationaler Ebene, die Idee der freien und gleichen Person, dem Personenbild achtbarer, aber hierarchischer Gesellschaften gegenübergestellt (Rawls 2002, 81). Dabei vergleicht Rawls die Idee der Achtbarkeit mit der Idee der Vernunft. Die Idee der Achtbarkeit ist, ebenso wie die der Vernunft, ein normatives Konzept, wobei die Idee der Achtbarkeit weniger Bedingungen mit sich bringt (vgl. Rawls 2002, 82). Im Sinne der Idee der Toleranz, welche sowohl innerhalb liberaler Gesellschaften als auch in seiner Ausweitung in achtbaren, hierarchischen Gesellschaften ihre Gültigkeit bewahrt, stellt Rawls andere eigene Bedingungen als freie und gleiche Personen zu sein. In Das Recht der Völker, müssen die Personen aus achtbaren hierarchischen Gesellschaften als verantwortliche, kooperative Mitglieder dieser Gruppe, die auferlegten moralischen

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Pflichten und Verpflichtungen sowohl verstehen als auch in Übereinstimmung mit diesen handeln. Dies stellt eine signifikante Abschwächung zur Anforderung an die Idee der freien und gleichen Personen dar. Tatsächlich liegt dies in der Idee der Toleranz begründet. So müssen die Personen der Gerechtigkeitskonzeption aus Politischer Liberalismus sich von den Gerechtigkeitsprinzipien und deren fairen Ausgangslage tatsächlich motivieren lassen, anstatt nur in Übereinstimmung mit den Grundregeln zu leben. Folglich ist von diesen gerade nicht zu erwarten, dass sie Rawls liberale Vorstellung von Personen als freie und gleiche (äquivalent) teilen, d. h. mit dieser übereinstimmen (vgl. Rawls 2002, 81). Im Vergleich mit der eng korrelierenden Idee der Gesellschaft sowie achtbaren Gesellschaften, gibt Rawls in Das Recht der Völker eine Skizze eines Personenbildes wieder, die einerseits aufgrund der Idee der Toleranz keine liberalen Eigenschaften fordert, jedoch durchaus Merkmale aufweist, wodurch die Personen durch die strukturierte Gesellschaftsform zu achtbaren moralischen Status gelangen, sodass sie ordentliche Mitglieder in einer vernünftigen Gesellschaft der Völker sein können (vgl. Rawls 2002, 81).

Literatur Höffe, Otfried (Hg.): John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Berlin/München3 2013. Lister, Matt: Citizen. In: Jon Mandel/David A. Reidy (Hg.): The Cambridge rawls lexicon. Cambridge 2015, 97–99. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.21 2019. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M.6 2017a. Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairness. Frankfurt a. M.5 2017b. Rawls, John: Das Recht der Völker. Berlin/New York 2002. Schwaabe, Christian: Politische Theorie 2. Von Rousseau bis Rawls. Paderborn 2007.

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Pflicht Michael Roseneck

Während manch eine moderne Moraltheorie versucht, moralische Urteile durch die Rückführung auf individuelle Interessenskalküle zu rechtfertigen, Moral also als to-ut-des-Beziehung (re-)konstruiert, zählt Rawls’ (2002, 65; 2019, 46 f.) Gesamttheorie zu der dieser Haltung entgegengesetzten Familie von Ansätzen, die von einem Bestand vernünftiger, gleichwohl nicht bloß auf das individuelle Interesse zu reduzierender normativer Prinzipien ausgeht. Das bedeutet nicht, dass moralisches Handeln nicht auch akzidentiell mit positiven Effekten für Handelnde selbst verbunden sein kann; im Gegenteil bezieht der frühe Rawls (2019, 50) der Theory noch für eine Kongruenz des Richtigen und des Guten Position. Die Rawlssche Perspektive vertritt lediglich den Standpunkt, dass das moralisch Verbindliche nicht in egozentrische Erwägungen allein zu übersetzen sei. Daraus ergeben sich für jeden Menschen respektive für demokratisch gesinnte Bürger*innen ohne ihr Zutun gewisse natürliche Pflichten (duties). Diese Pflichten bilden eine Menge von Handlungsgeboten und Verboten, positiven und negativen Pflichten, welche Rawls (2019, 135 f.) inhaltlich nicht exhaustiv benennt, die j­edoch

M. Roseneck  Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected]

allesamt die folgenden formalen Charakteristika aufweisen: a) Eine Pflicht gilt unabhängig von Willensakten. Man entscheidet sich nicht dazu, eine Pflicht zu haben, sondern sie gilt für jeden Menschen als kategorisches Handlungsgebot bzw. -verbot. An einigen Stellen benutzt Rawls (ebd., 373 f.) zwar das Gedankenexperiment des Urzustandes, um zu konstruieren, was eine konkrete Pflicht gegenüber einem anderen Menschen inhaltlich ausmacht. Dies könnte zugegebenermaßen fälschlicherweise den Eindruck vermitteln, Pflichten seien auf Präferenzen zweckrational disponierter Personen zurückzuführen. Jedoch insistiert Rawls (ebd., 138) darauf, dass die Herleitung der natürlichen Pflichten über das, worauf sich rationale Akteure im Urzustand einigten, lediglich eine heuristische Funktion übernimmt. b) Pflichten gelten ferner unabhängig von den Regeln institutioneller oder konventioneller Ordnungen für alle Menschen als „moralische[] Subjekte[]“ (ebd., 136), woraus folgt, c) dass sie keine bestimmte Bezugsgruppe wie zum Beispiel eine Rechtsgemeinschaft angeben, derer gegenüber die Pflichten auszuführen seien, sondern jedes moralische Subjekt – für Rawls sind dies nur Menschen, durchaus aber auch zukünftige Generationen – die Pflichterfüllung des Anderen ihr*ihm gegenüber erwarten darf. Für die Theory als Gerechtigkeitstheorie ist die spezifische Pflicht zur Gerechtigkeit von herausgehobener Bedeutung (ebd., 137 f.,

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_46

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368 f.) Sie besagt, dass, sofern hinreichend gerechte Ordnungen existieren, jede*r die Pflicht habe, diese zu stabilisieren und sich ihren Regeln entsprechend zu verhalten. Existiert dagegen keine hinreichend gerechte Ordnung oder ist diese nur in Ansätzen vorhanden, so erfordere die Pflicht zur Gerechtigkeit darauf hinzuwirken, dass diese sich entwickeln bzw. weiterentwickeln. Zum Beispiel kann ein*e Bürger*in in einem gut ausgebauten demokratischen Rechtsstaat leben, aber feststellen, dass in der Bildungspolitik den Grundsätzen der Gerechtigkeit nur ungenügend entsprochen wird. In diesem Fall erfordere die Pflicht zur Gerechtigkeit, dass sie*er beispielsweise durch die eigene Wahlentscheidung für eine gewisse Partei an der Verwirklichung eines höheren Maßes von Gerechtigkeit im Bildungssystem mitwirkt (ebd., 370). Es irritiert, dass Rawls (2002, 132) im Recht der Völker dann, die natürliche Pflicht zur Gerechtigkeit nicht in dem Hinblick aufgreift, dass Weltbürger*innen auf die Herstellung von globalen gerechten Institutionen hinwirken sollten. Hier spricht er lediglich von einer Unterstützungspflicht, die sich Völker als normativ relevante Akteure in den internationalen Beziehungen zuerkennen werden. Diese fordert, dass ein Volk denjenigen Völkern gegenüber, die, beispielsweise bedingt durch eine koloniale Vergangenheit, von sich aus keine einigermaßen gerechte Grundstruktur hervorbringen können, bei deren Verwirklichung solange unterstützt, wie es notwendig ist. Die Pflicht, sich im innerstaatlichen Rahmen an von gerechten Ordnungen verabschiedete Regeln zu halten, birgt die Möglichkeit eines Dilemmas, denn diese können nichtsdestotrotz ungerechte Regeln entwickeln. Hier verlangt die Pflicht zur Gerechtigkeit um der Stabilität der gesamten Ordnung Willen bis zu einem gewissen Grad dennoch die Adhärenz zu eigentlich ungerechten Regeln (Rawls 2019, 391 f.), zugleich aber auch die legal angestrebte Besteigung ungerechter Normen. Überschreitet jedoch eine ungerechte Regel ein gewisses Maß, dann rechtfertigt die Pflicht zur Gerechtigkeit wiederum auch den zivilen Ungehorsam.

M. Roseneck

Von den jede*n adressierenden natürlichen Pflichten zu unterscheiden sind Verpflichtungen (obligations), die sich durch der Pflicht entgegengesetzte Eigenschaften (ebd., 137 f.) charakterisieren: a) Sie existieren nicht einfach, sondern kommen entweder explizit durch eine Vereinbarung oder implizit durch die Inanspruchnahme von persönlichen Vorteilen einer b) institutionellen oder konventionellen Ordnung zustande und c) verpflichten bestimmte Personen gegenüber anderen, zum Beispiel im Rahmen eines Mietvertrages. Die konzeptuelle Unterscheidung, derer sich Rawls bedient, findet sich anschaulich in unserem alltäglichen Sprachgebrauch dort vor, wo wir davon sprechen, dass jemand eine Verpflichtung eingehe,, die Formulierung dagegen, eine Pflicht einzugehen, nicht existiert. Während diverse Pflichten benannt werden können, existiere Rawls (ebd., 133–135, 378 f.) zufolge nur eine Art von Verpflichtung, die man eingehen könne; nämlich die Verpflichtung zur Fairness: Jemand sei demnach verpflichtet, sich an die von Institutionen oder Konventionen gegebenen Regeln zu halten, sofern zwei Bedingungen erfüllt sind. Zum einen müssen diese Institutionen oder Konventionen gerecht sein, das bedeutet den Ansprüchen der zwei Gerechtigkeitsgrundsätze genügen, zum anderen muss die zurecht verpflichtete Person willentlich dieser Verpflichtung zugestimmt haben bzw. durch ihr Handeln die ihr zukommenden Vorteile willentlich nutzen. Daraus folgt, dass nur in gerechten Ordnungen legitime Verpflichtungen gegeben sein können. „[G]egenüber autokratischen und willkürlichen Regierungsformen“ (ebd., 134) können sie dagegen nicht überzeugend begründet werden. Ja, so bemerkt Rawls (ebd., 419), dass man in massiv ungerechten Kontexten sogar im Gegenteil wiederum die natürliche Pflicht zur Verweigerung der Adhärenz habe, zum Beispiel als Soldat in einem ungerechten Krieg. Zwei Begründungen können für die Verpflichtung zur Fairness gegeben werden. So rücken einerseits die Parteien im Falle fairer Kooperation von ihrer ursprünglichen

46 Pflicht

Willkürfreiheit ab, um mit anderen ein für alle „nutzbringende[s] gemeinsame[s] Unternehmen“ (ebd., 378) zu ermöglichen. Die Gewährleistung der Ermöglichungsbedingungen eines solchen Unternehmens liegt demnach im Eigeninteresse aller an der kooperativen Praxis beteiligten. Aber nicht nur Klugheitserwägungen begründen die Verpflichtung zur Fairness, sie weist andererseits auch auf moralische Aspekte hin, die wiederum mit natürlichen Pflichten verbunden sind. Beispielsweise stabilisiert die Einhaltung fairer Verpflichtungen gleichsam die jeweilige gerechte Ordnung, aus der die einzuhaltenden Regeln entstammen. Auch wenn sich damit in der Verpflichtung zur Fairness auch die Pflicht zur Gerechtigkeit widerspiegeln kann, ist es für Rawls (ebd., 379  f.) ontologisch und politikphilosophisch relevant, zwischen Pflicht und Verpflichtung zu differenzieren. In realen demokratischen Rechtsstaaten leben diejenigen, die nur ein diffuses Nutzeneinkommen aus staatlichen Leistungen erhalten, und daneben aber auch jene Privilegierten, welche sich die rechtsstaatlichdemokratische Ordnung zunutze machen. Dazu zählt zum Beispiel Unternehmer*innen, die im Rahmen dieser demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung die Möglichkeit erhalten, einen hohen Profit zu erzielen. Da man bei der zweiten Gruppe der Privilegierten dezidiert auf Vorteile hinweisen kann, die sie aus dem „nutzbringenden gemeinsamen Unternehmen“ (ebd., 378) des demokratischen Rechtsstaats erhalten, entsteht für sie, neben der allgemeinen Pflicht zur Gerechtigkeit, auch zusätzlich eine Verpflichtung zur Einhaltung seiner Regeln. Das bedeutet, dass die Differenzierung zwischen Pflicht und Verpflichtung nicht nur eine ontologische Differenz zu bezeichnen, sondern auch eine moralische Gewichtung vorzunehmen erlaubt (ebd., 390). Auch wenn Rawls in der Theory bedingt durch deren gerechtigkeitstheoretisches Erkenntnisinteresse primär die Pflicht zur Gerechtigkeit thematisiert, findet sich mit der Pflicht zur gegenseitigen Achtung eine weitere spezifische Pflicht vor, die später als Pflicht zur Bürgerlichkeit leicht anders formuliert im

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­demokratietheoretischen Political Liberalism an Wichtigkeit gewinnt. Diese gebietet es, „einem Menschen die Achtung entgegenzubringen, die ihm als moralischem Subjekt zusteht. […] Gegenseitige Achtung äußert sich auf verschiedene Weise: in der Bereitschaft, die Lage anderer von ihrem Standpunkt, aus der Sicht ihrer Vorstellungen vom Guten zu sehen sowie Gründe für die eigenen Handlungen anzugeben, wenn die Interessen anderer wesentlich berührt werden“ (ebd., 372 f.). Wieso kommt dieser weiteren Pflicht eine besondere demokratietheoretische Bedeutung zu? Demokratische Systeme charakterisieren sich durch die normativ mühsame Gratwanderung zum einen Rechtsnormen hervorzubringen, mit denen staatliche Herrschaft ausgeübt werden kann, zum anderen aber diese Normen so zu begründen, dass sie von allen Rechtsunterworfenen akzeptiert werden können. Nur wenn zweiteres gegeben ist, wird die Autonomie der Mitglieder der Rechtsgemeinschaft nicht verletzt. Die in einem Prozess des öffentlichen Vernunftgebrauchs geübte Pflicht zur gegenseitigen Achtung von Anderen, „ihm Überlegungen vorzulegen, aufgrund derer er die seinem Verhalten auferlegten Beschränkungen anerkennen kann“ (ebd., 373), fungiert folglich als Ermöglichungsbedingung demokratischer Selbsteinwirkung. Sie bindet dabei nicht nur Amtsträger*innen, sondern alle demokratisch gesinnten Bürger*innen, sobald sie sich am politischen Prozess beteiligen, sei es auch (vermeintlich) nur durch die kommunikative Erhebung von Geltungsansprüchen. Grund für diese extensive Zuschreibung der Pflicht zur gegenseitigen Achtung ist, dass alle politisch aktiven Bürger*innen (zumindest mittelbar über den Wahlakt) an der politischen Willensbildung partizipiert, welche Folgen für die gesamte Rechtsgemeinschaft zeitigt (Rawls 2017, 315 f.). Demnach sei es nur folgerichtig, sobald man sich in die politische Öffentlichkeit begibt, der Pflicht zur gegenseitigen Achtung zu entsprechen. Wie sich im Vollzug des öffentlichen Gebens von Gründen für Rechtsnormen die Pflicht zur Achtung unter Rahmenbedingungen eines vernünftigen Pluralismus umfassender L ­ehren

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r­ealisiert, konzeptualisiert Rawls (ebd., 317; 1997) in drei Variationen der Pflicht zur Bürgerlichkeit: 1. Prima facie mag es in pluralistischen Gesellschaften notwendig scheinen, die Pflicht zur Bürgerlichkeit dadurch zu verwirklichen, alle aus den umfassenden Lehren entnommenen, nicht öffentlich teilbaren Gründe aus dem öffentlichen Diskurs herauszuhalten (Rawls 2017, 354 f.). Dies präskribiert die ausschließende Konzeption der Pflicht zur Bürgerlichkeit. 2. Gleichwohl sind real existierende demokratische Rechtsstaaten nur „einigermaßen“ (Rawls 2019, 387) gerecht und weisen folglich soziale Pathologien auf. Zugleich lässt sich beobachten, dass die Kritik dieser Missstände auch mit Bezug auf motivierende kritische Überzeugungen oder Semantiken aus den umfassenden Lehren erfolgen kann. Rawls (2017, 356–360) exemplifiziert dies unter anderem damit, auf die historische Rolle der vor allen Dingen aus Kirchengemeinden entstammenden US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung hinzuweisen, die mithilfe religiöser Semantik den erfahrenen Rassismus anprangerte. Da also Situationen existieren, in denen aus umfassenden Lehren abgeleitete Gründe eine Beförderung gerechter Strukturen und Haltungen bewirken, präferierte Rawls im Gegensatz zur ausschließenden Konzeption zunächst noch die einschließende Konzeption der Pflicht zur Bürgerlichkeit, nach der doch eigentlich nur bestimmten Gruppen zugängliche Gründe nichtsdestotrotz in der politischen Öffentlichkeit zulässig seien, „vorausgesetzt jedoch, sie tun dies in einer Weise, die das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs stärkt“ (ebd., 354). 3. Nach der Veröffentlichung von Political Liberalism jedoch revidierte Rawls (1997: 783– 787) die Parteinahme zugunsten der einschließenden Konzeption in der Hinsicht, dass er eine dritte, abermals weniger restriktive weite Konzeption der Pflicht zur Bürgerlichkeit als normativ angemessen einführte.

M. Roseneck

Nach dieser sei es zunächst zulässig, dass demokratisch überzeugte Bürger*innen all jene Gründe in der politischen Öffentlichkeit benennen, von denen sie wahrhaftig überzeugt sind. Dies gilt unabhängig davon, ob diese letztlich allgemein teilbar seien oder nicht, sofern sie mit der Zeit allgemein akzeptierbare Gründe angeben, welche wie auch immer äquivalent zu ihren vormalig geäußerten sind. Dieses Erfordernis bezeichnet das proviso Rawls’. Im Anschluss an Benhabib (1995, 108) könnte der zweite Schritt zur weiten Konzeption dahingehend epistemologisch begründet werden, dass erst, wenn Geltungsansprüche im öffentlichen Raum geäußert und von anderen geprüft wurden, sich sagen ließe, ob ihre Begründung allgemein akzeptierbar ausfällt. Eine individuelle Prüfung der Gründe vor dem Eintritt in die Öffentlichkeit stelle demnach für das Individuum eine kognitiv nicht zu leistende Aufgabe dar. Es ließen sich für ihn aber auch klassisch liberale Gründe anbringen: So sei es schlichtweg Versprechen einer freiheitlichen Ordnung, dass jede*r die Option haben solle, sich frei zu äußern, ohne, dass unmittelbar der deliberative Mehrwert dieser Stellungnahmen bedacht werden muss. Bemerkenswert ist nun, dass Rawls (1997, 784) als Vertreter des liberalen Paradigmas jedoch die Wende zur weiten Konzeption der Pflicht zur Bürgerlichkeit extrinsisch aufgrund stabilitätspolitischer Annahmen begründet. So nimmt er an, dass in wohlgeordneten Gesellschaften ein überlappender Hintergrundkonsens in Bezug auf die Werte des demokratischen Rechtsstaats vorhanden ist. Eine minimal restriktive Pflicht zur Bürgerlichkeit, wie sie die weite Konzeption vorsieht, habe in der Hinsicht nun einen für das Gemeinwesen stabilisierenden Effekt, als sich so die Bürger*innen durch ungehinderte Darstellung der aus ihren umfassenden Lehren stammenden Erwägungen gegenseitig dieses Hintergrundkonsenses vergewissern können, was Vertrauen in dessen Vorhandensein und dies wiederum Stabilität erzeugt.

46 Pflicht

Dies ist empirisch nicht abwegig (vgl. Putnam 2000, O’Neill 2002), doch ist in Bezug auf die weite Konzeption umstritten, ob das proviso ein geeignetes Scharnier zwischen dem frei flotierenden Pluralismus umfassender Lehren einerseits und den Ansprüchen öffentlicher Vernunft andererseits ist. Nicholas Wolterstorff (1997, 105) merkt an, dass eine von ihren umfassenden Lehren wahrhaftig überzeugte Person gegebenenfalls über keine anderen als die aus eben diesen Lehren stammenden Gründe verfüge, wenn allgemeine Angelegenheiten zur Deliberation stehen. Das proviso führe demnach potentiell sowohl zu kognitiven Dissonanzen als auch im Effekt zu unehrlichem sprachlichem Handeln. Theorieimmanent mag Rawls’ (1997, 780–783) Ansatz in der Hinsicht verteidigt werden, dass der angenommene Hintergrundkonsens sich unter anderem auch in dem Punkt überlappt, dass die Akzeptanz des proviso als ein Teilelement einer jeden vernünftigen umfassender Lehren ausgewiesen wird. Mit einer solchen Erwiderung akzeptiert man aber zwangsläufig eine kulturrelativistische Fundierung des Politischen Liberalismus. Institutionstheoretisch verfährt dagegen der Einwand Habermas’ (2005), der die gesamtgesellschaftliche Extension der Pflichten zur Bürgerlichkeit mitsamt des proviso als unangebracht beurteilt. Zwar stimmt Habermas (1992, 620–622) mit Rawls überein, dass den Bürger*innen eine entscheidende Rolle im Willensbildungsprozess zukommt, da sie einen „Pool von Gründen“ (Habermas ebd., 623) verwalten, deren sich das politische System bedienen könne, um dort als legitim angesehene Rechtfertigungen für die von ihm entwickelten Rechtsnormen zu finden. Allerdings gehe damit auch eine Differenzierung der Funktionen von dezentraler Öffentlichkeit und politischem System einher. Es sei die Funktion der Öffentlichkeit zu bearbeitende allgemeine Angelegenheiten zu benennen und nötigenfalls zu dramatisieren. Das politische System wiederum sei darauf spezialisiert, aus den diffusen Ansprüchen, welche es aus der Öffentlichkeit emp-

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fängt, allgemein akzeptierbare Rechtnormen zu formulieren und diese dann durchzusetzen. Folglich falle nur ihm die Aufgabe zu, Rechtfertigungen für Normen auf ihre allgemeine Akzeptierbarkeit hin zu überprüfen. Noch deutlicher distanziert sich Lafont (2019, 191–218) vom proviso: Vergegenwärtige man sich den Zweck der Pflicht zur Achtung, dem Gegenüber „Gründe für die eigenen Handlungen anzugeben, wenn […] [dessen] Interessen […] wesentlich berührt werden“ (Rawls 2019, 372 f.), so sei es nicht notwendig allgemein teilbare Gründe zu benennen. Vielmehr reiche es aus, Gründe zu finden, die die*der Andere, zum Beispiel mit Verweis auf eigene Ansprüche, nicht vernünftigerweise zurückweisen könne. Eine demokratietheoretisch angemessene Konzeptualisierung der Pflicht zur Bürgerlichkeit verlange dementsprechend erst bei berechtigter Kritik eines Betroffenen, akzeptable Gründe zu nennen, jedoch nicht immerzu eine Transformation von Gründen in allgemein teilbare.

Literatur Benhabib, Seyla: Modelle des „öffentlichen Raums“. Hannah Arendt, die liberale Tradition und Jürgen Habermas. In: Dies.: Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne. Frankfurt a. M. 1995 (engl. 1992), 96–130. Habermas, Jürgen: Volkssouveränität als Verfahren. In: Ders.: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M. 1992, 600–631. Habermas, Jürgen: Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den „öffentlichen Vernunftgebrauch“ religiöser und säkularer Bürger. In: Ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 2005, 119–154. Lafont, Cristina: Democracy without shortcuts. A participatory conception of deliberative democracy. Oxford: 2019. O’Neill, Onora: A question of trust. Cambridge 2002. Putnam, Robert D.: Bowling alone. The collapse and revival of American community. New York 2000. Rawls, John: The idea of public reason revisited. In: The University of Chicago Law Review 64/3 (1997), 765– 807.

352 Rawls, John: Das Recht der Völker. Berlin 2002 (engl. 1999). Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 62017 (engl. 1993). Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 212019 (engl. 1971).

M. Roseneck Wolterstorff, Nicholas: The role of religion in decision and discussion of political issues. In: Ders./Robert Audi (Hg.): Religion in the public square. The place of religious convictions in political debate. Lanham 1997, 67–120.

Politische Philosophie und Ethik

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Veronika Hilzensauer

Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit gilt für viele Philosoph*innen als die „Inspirationsquelle zeitgenössischer Moral- und Politiktheorie“ (Moller Okin 1993, 306), die die bereits totgesagte politische Philosophie nicht nur rehabilitierte, sondern auch revitalisierte. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geriet das philosophische Erbe der berühmten politischen Philosophen Hobbes, Locke, Rousseau und Hegel immer mehr in die Kritik. Angesichts einer szientistischen Grundstimmung bescheinigt der Philosoph Peter Laslett im Jahr 1956 den Tod der politischen Philosophie und hält die Tradition für abgebrochen: „political philosophy is dead“ (Laslett 1956, vii). Politische Philosophie als das Nachdenken über die Legitimation und Verfasstheit der Grundlagen des sozialen, menschlichen Zusammenlebens wird auf diese Weise unter das „Verdikt des Unsinns gestellt“ (Kersting 2015, 16). Mit der 1971 erscheinenden A Theory of Justice verhilft Rawls der politischen Philosophie zu neuer Berechtigung. Im Gegensatz zum Marxismus, der Kritischen Theorie oder der politischen Theorie Arendts bejaht Rawls die politische Moderne mit ihren demokratischen Idealen, anstatt sie radikal zu kritisieren und auf

V. Hilzensauer (*)  Hochschule für Philosophie München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

ihre politische und gesellschaftliche Wirklichkeit zu befragen. Rawls rehabilitiert das „kontraktualistische Paradigma“ (Frühbauer 2007, 20) der neuzeitlichen Vertragstheoretiker, indem er es einer demokratischen „Modernisierung“ (Niesen 2001, 25) unterwirft. Die spezifische Erneuerungsleistung liegt in der Wiederaufnahme und Rekonstruktion der normativen Ideen der Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Fairness (vgl. Audard 2007, 14) für die politische Philosophie – und insbesondere für die (links-)liberale politische Philosophie (vgl. Douglass 2012, 95). Mithilfe einer vertragstheoretischen Konzeption fragt Rawls auf welche Gerechtigkeitsprinzipien sich freie und gleiche Bürger*innen einer Gesellschaft einigen können, um dementsprechend faire Institutionen zu gestalten. Gleichzeitig führt Rawls’ Rückgriff auf sozialwissenschaftliche und wirtschaftswissenschaftliche Methoden sowie auf die Entscheidungsund Spieltheorie zu einer interdisziplinären Öffnung der politischen Philosophie, um gleichzeitig ihren normativen Gehalt wissenschaftlich einzubetten und somit ihre Akzeptanz zu steigern. Rawls’ Werk trug zu einer erheblichen Pluralisierung und Liberalisierung der Debatten über politische Philosophie bei (vgl. Özmen 2021, 74f.) und bewirkte, dass das Motiv der Gerechtigkeit die politische Philosophiedisziplin bis heute dominiert. Laut Rawls besteht das Ziel der politischen Philosophie darin, geteilte „notions and

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_47

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principles“ (Rawls 1980, 518), die im „common sense“ (ebd.) einer demokratischen Gesellschaft verankert und in der politischen Philosophiegeschichte verbürgt sind, öffentlich zu explizieren. Damit antwortet Rawls auf das problematisierte Signum der Moderne: auf die „Dissens- und Konfliktrealität“ (Frühbauer 2007, 151), die zur Fragmentierung der Gesellschaft beiträgt. In diesem Sinne hält Rawls fest: „Wir wenden uns gerade dann der politischen Philosophie zu, wenn unsere gemeinsamen politischen Überzeugungen […] nicht mehr tragen, und ebenso, wenn wir mit uns selbst uneins sind“ (Rawls 2003, 116 f.). So gilt es, eine „realistic conception“ (Rawls 2001, xvii) einer gerechten Gesellschaft zu entwerfen, der alle zustimmen könnten. Mit dem „Vier-Stufen-Gang“ (Rawls 1979, 223), bestehend aus Gerechtigkeitsgrundsätzen, Verfassungsgebung, Gesetzgebung und Rechtsanwendung, möchte Rawls diesem Anspruch gerecht werden. Die Aufgabe der politischen Philosophie besteht – neben der Entwicklung eines solchen Konzepts – aber vor allem in der Entwicklung von geeigneten Gerechtigkeitsgrundsätzen (vgl. Höffe 2006, 5). Während Rawls in der Theorie der Gerechtigkeit diese Aufgabe nicht näher darlegt, formuliert er in Gerechtigkeit als Fairness und in Geschichte der Politischen Philosophie den Aufgabenbereich der politischen Philosophie näher, indem er ihr vier „Rollen“ (Rawls 2008, 36) zuspricht.

Vier Rollen der politischen Philosophie Die erste Rolle der politischen Philosophie ist eine praktische, die sich aufgrund der ‚Dissensrealität‘ pluraler und ausdifferenzierter Gesellschaften ergibt. Die Aufgabe der politischen Philosophie besteht darin, auf umstrittene Fragen hinzuweisen und öffentlich zu formulieren. Des Weiteren soll sie ergründen, ob es eine gemeinsame „Basis philosophischer und moralischer Übereinstimmung“ (Rawls 2003, 20) gibt. Gelingt dies nicht, gilt es den Dissens einzugrenzen, um die „wechselseitige[r] Achtung“ (ebd.) der Bürger*innen zu Gunsten sozialer und

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respektvoller Kooperation zu erhalten bzw. zu stiften. Rawls spricht an dieser Stelle die stabilisierende Funktion der politischen Philosophie an. Durch ihr heuristisches Werkzeug lenkt sie den Blick weg von den sozialen und ökonomischen Interessen, die nicht allein zu den politischen Kämpfen führen. Stattdessen gilt es, die dahinterliegenden konzeptionellen Differenzen auf analytische Weise einzuordnen und nach jeweiligen Rechtfertigungsgründen zu suchen (ebd.). Dadurch sollen Leitideen und Konzepte ausfindig gemacht werden, die „neutral genug sind, um die Anerkennung von Bürger*innen mit unterschiedlichen weltanschaulichen Überzeugungen finden zu können“ (Kersting 2006, 177). Mithilfe historischer Beispiele verdeutlicht Rawls, inwiefern sich politische Philosophie und politische Ereignisse gegenseitig beeinflussen. Er nennt exemplarisch Hobbes’ Leviathan, als einen philosophischen Versuch „das Problem der Ordnung“ (Rawls 2003, 19) während des englischen Bürgerkriegs zu lösen. Die zweite Rolle der politischen Philosophie besteht darin, mittels der Vernunft „Orientierung“ (Rawls 2008, 37) zu geben. Die kantisch gedeutete Vernunft als das „Vermögen der Orientierung“ soll die Menschen darin beeinflussen, wie sie „ihre politischen und sozialen Institutionen insgesamt begreifen, sie sich selbst als Bürger*innen sehen und wie sie ihre grundlegenden Ziele und Zwecke als historische Gesellschaft – als Nation – im Gegensatz zu ihren Zielen und Zwecken als Individuen […] deuten“ (ebd.). In einer Demokratie sollen die Bürger*innen in ihrem Selbstverständnis als sich gegenseitig beeinflussende und gleichberechtigte „Gesellschaftsangehörige mit einem bestimmten politischen Status“ (Rawls 2003, 21) gefördert werden. Die dritte Rolle – hier bezieht sich Rawls auf Hegel – ist die der „Versöhnung“ (Rawls 2008, 37). Die politische Philosophie kann dazu beitragen, Bürger*innen in ihrer Wut und Enttäuschung über die Gesellschaft zu besänftigen, indem sie auf die rationale Entwicklungsgeschichte der heutigen gesellschaftlichen Institutionen verweist. Doch Versöhnung meint mehr als bloße Akzeptanz: Es gilt, die „soziale Welt“ (Rawls 2003, 22) zu bejahen. Die Bejahung

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muss sich – angesichts der Dissensrealität – nicht auf einzelne Überzeugungen beziehen, sondern auf das Faktum der Pluralität. Allerdings sollte diese Rolle stets selbstkritisch eingenommen werden, um keinen ungerechten Istzustand zu rechtfertigen und ideologisch zu werden. Die vierte und letzte Rolle besteht im „Ausloten der Grenzen praktikabler politischer Möglichkeiten“ (Rawls 2008, 38). Politische Philosophie soll einerseits innerhalb der (vermeintlichen) Grenzen des konzeptionell Umsetzbaren ein „ziemlich gerechtes, wenn auch nicht vollkommenes Staatswesen“ (Rawls 2003, 23 f.) ermöglichen. Andererseits soll die Philosophie die „Grenzen des Möglichen“ überschreiten, indem sie zeigt, dass sie „nicht allein durch das Wirkliche gegeben sind“ (ebd., 24). Jeder gesellschaftliche Zustand, jede Institution, kann in einem kleineren oder größeren Maße verändert werden; davon zeugt die transformative Kraft einer utopisch denkenden politischen Philosophie.

Vier Fragen zur politischen Philosophie In der Geschichte zur Politischen Philosophie stellt Rawls vier Fragen an die eigene Disziplin. In seinen Antworten versucht er, den Gegenstand der politischen Philosophie näher zu beschreiben. Zugleich kontextualisieren sie die vier Rollen der politischen Philosophie. Die Fragen können als Impuls für eine kritische Selbstbefragung verstanden werden, als normativer Prüfstein des eigenen Denkens. Rawls fragt zu Anfang nach dem Publikum der politischen Philosophie, um festzuhalten, dass es alle Bürger*innen einer konstitutionellen Demokratie (vgl. Rawls 2008, 24) sind. Aus der demokratischen Verfasstheit des Publikums leitet Rawls die quasi performative Anerkennung und Verteidigung der liberalen politischen Philosophie ab. Praktische Philosophie ist „nicht als Theorie“ (ebd.) aufzufassen und keinem Expertentum vorbehalten. Sie steht prinzipiell allen Bürger*innen offen und „hat keinen

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speziellen Zugang zu fundamentalen Wahrheiten oder Ideen über Gerechtigkeit“ (ebd.). Der Zugang zur Disziplin ist niederschwellig, weil sich das Feld durch bloßes „Studium und Nachdenken“ (ebd., 25) erschließt. Die zweite Frage ist die Frage nach der Autorität: „Worauf stützt sich die Befugnis der politischen Philosophie, wenn sie sich an ihr Publikum wendet“ (ebd.)? Rawls betont mit Nachdruck, dass sich die Philosophie auf keine staatliche, natürliche oder göttliche Autorität berufen kann. Sie verfügt weder über eine rechtlich legitimierte, noch im politischen Leben verankerte „Entscheidungsbefugnis“ (ebd.) und kann sich auch nicht aufgrund von „Gepflogenheiten und Gebräuche[n]“ (ebd.) auf eine „Sonderstellung“ (ebd.) berufen. Politische Philosoph*innen haben genauso viel oder wenig Autorität wie die Bürger*innen. Unter der Disziplin versteht Rawls die gesamte „Tradition der politischen Philosophie […] und in einer Demokratie ist diese Tradition stets die gemeinsame Leistung von Autoren und ihren Lesern“ (ebd.). Die einzige Autorität, auf die sich die Philosophie ebenso wie jeder mündige Mensch berufen kann, ist die „Autorität der menschlichen Vernunft“ (ebd., 26). Auf vernünftige Weise sollen die philosophischen Ansichten präsentiert werden, um über ihre Legitimität kollektiv urteilen zu können. Die dritte Frage beschäftigt sich mit den Möglichkeiten und Grenzen einer politischen Einflussnahme durch die politische Philosophie: „[I]n welcher Weise geschieht es, daß die politische Philosophie die Bühne der demokratischen Politik betritt und deren Resultate beeinflusst“ (ebd., 27)? Die Antwort hängt davon ab, ob die Rolle der politischen Philosophie „platonisch[en]“ oder „demokratisch[e]“ (ebd.) gedeutet wird. Im platonischen Modell beansprucht die Philosophie nicht nur die alleinige Autorität in der Definition von Gerechtigkeit, sondern sie setzt diesen Wahrheitsanspruch mit dem Anspruch „auf politische Kontrolle“ (ebd. 27) gleich. Im ‚demokratischen‘ Modell wird die politische Philosophie dagegen als „allgemeiner Kulturhintergrund“ (ebd., 27 f.) begriffen. Rawls lässt keine Zweifel daran, dass er

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sich eindeutig der demokratischen Auffassung von politischer Philosophie zuordnet und er ihr keine direkte Einmischung in die Alltagspolitik einräumt. Eine indirekte Einflussnahme ist jedoch besonders in Staatswesen mit „Normenkontrolle“ (ebd. 29) denkbar, weil hier z. B. auf Verfassungsfragen eingegangen werden kann. Zuletzt fragt Rawls nach dem Prozess der persönlichen Bindung der Bürger*innen an demokratische Ideale und wie diese Bindungen gestärkt werden können. Rawls schließt aus dem Bestehen konstitutioneller Regierungen auf die Anerkennung derselben durch die Bürger*innen. Diese Anerkennung wird auf die normative Bindung der Bürger*innen an die „Grundkonzeptionen und Ideale […] der Demokratie“ (ebd., 30 f.) zurückgeführt. Teilweise stammen diese Ideale „aus Schriften zur politischen Philosophie“ (ebd., 31). Rawls nennt verschiedene Bildungsinstitutionen, aber auch die Zeitungslektüre und das Verfolgen öffentlicher Diskussionen als Beispiele für die Auseinandersetzung mit Inhalten der politischen Philosophie. Manche Schriften erlangen eine derartig zentrale Stellung für das Selbstverständnis einer Gesellschaft (wie z. B. die amerikanische Unabhängigkeitserklärung), dass sie gelebte politische Werte widerspiegeln. Diese Werte darzustellen und sie auf Institutionen anzuwenden, ist die Aufgabe einer politischen Gerechtigkeitskonzeption. Ohne die Aussage näher zu spezifizieren, hält Rawls fest, dass die Bürger*innen sich zu Gunsten einer stabilen Demokratie mit den „grundlegenden Konzeptionen und Ideale[n]“ (ebd., 32) einer Zivilgesellschaft identifizieren sollten, bevor sie in das politische Leben eintreten. Die politische Philosophie hat die Bildungsaufgabe zu dieser Identifizierungsleistung beizutragen, indem sie „Idealvorstellungen von der Person und von der politischen Gesellschaft vermittelt“ (ebd., 32). Am Negativbeispiel des wilhelminischen Deutschlands betont Rawls abschließend die Notwendigkeit demokratisch gesinnter Bürger*innen, die sich aktiv dafür einsetzen, „eine funktionierende, ein politisches und sozialdemokratisches Programm unterstützende Mehrheit zusammenzubringen“ (ebd., 36).

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Rawls’ politische Wende Während Rawls in der Theorie der Gerechtigkeit noch von der Möglichkeit einer „umfassenden philosophischen Lehre“ (Rawls 2013, 12) ausging, nahm er davon im Laufe der 1970iger Jahre immer mehr Abstand. Angesichts einer durch und durch pluralistischen Gesellschaft und seines eigenen freiheitlichen Theorieanspruchs geht er nicht mehr von einer alle Lebensbereiche umfassenden Gerechtigkeitskonzeption aus. In Politischer Liberalismus wird eine freistehende politische Gerechtigkeitskonzeption entwickelt, die sich auf den Bereich des Politischen beschränkt und nur deshalb auf einen übergreifenden Konsens umfassender Lehren hoffen darf. Diese viel diskutierte (vgl. Weithman 2010) konzeptionelle „Wendung ins Politische“ (Hinsch 2015, 29) ist zugleich Ausdruck eines veränderten politischen Philosophieverständnisses, oder besser: eines politisierten Philosophieverständnisses. Rawls beschreibt seine Philosophieauffassung erst in Gerechtigkeit als Fairness und in der Geschichte der Politischen Philosophie in explizierter und detaillierter Weise, also bereits nach der politischen Wende. Rawls’ Philosophieauffassung vor dieser Wende kann daher nur implizit, auf Basis der in der Theorie der Gerechtigkeit formulierten Ziele und der dahinter vermuteten Haltung abgeleitet werden. Ziel der Theorie der Gerechtigkeit ist es, Gerechtigkeitsprinzipien zu konzipieren, die für die Grundstruktur einer Gesellschaft maßgebend sein sollen. Die Rolle der politischen Philosophie besteht darin, eine „allgemeingültige Ordnung des menschlichen Zusammenlebens zu entwerfen“ (Kersting 2015, 25) und den Mitbürger*innen bindende Gerechtigkeitsgrundsätze aufzuzeigen. Damit spricht Rawls – im Gegensatz zu seinem Spätwerk – der Philosophie einen direkten, weil direktiven Einfluss auf das demokratische Geschehen zu. In Gerechtigkeit als Fairness und in Politischer Liberalismus wird dagegen ein pragmatischeres Bild der Philosophie gezeichnet: Die Philosophie soll zur Konsensfindung beitragen

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und dabei auf normative Letztbegründungen – ganz im Sinne der Methode der Vermeidung (vgl. Rawls 2013, 74, 265) – verzichten. Sie rekonstruiert ihre Gerechtigkeitsprinzipien aus der politischen Praxis, anstatt sie zu konstruieren. Auf diese Weise soll ein „übergreifender Konsens“ und ein friedvolles, kooperatives und respektvolles Miteinander garantiert werden. Deutlich wird, dass das neue Verständnis stärker von dem Hobbesschen Motiv „der Sicherung der sozialen Einheit bei gleichzeitiger Anerkennung des Prinzips der individuellen Autonomie“ (Kersting 2015, 187) geprägt ist. Rawls’ politische Wende wird bis heute kontrovers diskutiert. Kritisiert wird die in dem politischen Liberalismus grundgelegte Rolle einer Philosophie, die lediglich mit pragmatischen Mitteln versucht Konsens herzustellen, anstatt nach wahren Erkenntnissen und moralischen Prinzipien zu suchen (vgl. stellvertretend Raz 1990). Genau diese Haltung wird dagegen von anderer Seite positiv betont: Der politische Liberalismus ist anders als bei Habermas keine ‚post-metaphysische‘, sondern eine ‚nicht-metaphysische‘ politische Theorie der Gerechtigkeit“, die als Ziel haben will, die ‚großen Fragen‘ der Philosophie unberührt zulassen“ (Pinzani/ Werle 2015, 71). Gerade durch die Anwendung der „Toleranz auf die Philosophie selbst“ (Rawls 2013, 74) möchte Rawls zu stabilen sozialen und politischen Verhältnissen beitragen.

Literatur Audard, Catherine: John Rawls. Philosophy now. Stocksfield 2007. Douglass, Bruce R.: John Rawls and the revival of political philosophy: where does he leave us? In: Theoria: A Journal of Social and Political Theory 59/133 (2012), 81–97.

357 Frühbauer, Johannes J.: John Rawls’ ‚Theorie der Gerechtigkeit‘. Darmstadt 2007. Hinsch, Wilfried: Gerechtigkeit, Stabilität und Legitimität. In: Otfried Höffe (Hg.): John Rawls: Politischer Liberalismus. Berlin 2015. Höffe, Otfried: Einführung in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. In: Ders. (Hg.): John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Berlin 22006, 3–26. Kersting, Wolfgang: Gerechtigkeit und öffentliche Vernunft: über John Rawls’ politischen Liberalismus. Paderborn 2006. Kersting, Wolfgang. John Rawls zur Einführung. Hamburg 42015. Laslett, Peter: Introduction. In: Ders. (Hg.): Philosophy, politics and society. Oxford 1956, vii. Moller Okin, Susan: Von Kant zu Rawls: Vernunft und Gefühl in Vorstellungen von Gerechtigkeit. In: Herta Nagl-Docekal/Herlinde Pauer-Studer (Hg.): Jenseits der Geschlechtermoral. Beiträge zur feministischen Ethik. Frankfurt a. M. 1993, 305–334. Niesen, Peter. Die politische Theorie des politischen Liberalismus: John Rawls. In: André Brodocz/Gary S. Schaal (Hg.): Politische Theorien der Gegenwart. Opladen 2001, 23–54. Özmen, Elif: Einleitung: 100 Jahre John Rawls, 50 Jahre "Eine Theorie der Gerechtigkeit": Ein Blick zurück nach vorne. In: Zeitschrift für Praktische Philosophie, 8/2 (2021), 71–88. Pinzani, Alessandro/Werle, Denilson: Die Vermögen der Bürger und ihre Darstellung. In: Otfried Höffe (Hg.): John Rawls: Politischer Liberalismus, Berlin 2015, 48–63. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. 1979 (engl. 1971). Rawls, John: Kantian constructivism in moral theory. In: The Journal of Philosophy 77/9 (1980), 515–572. Rawls, John: Justice as fairness. A restatement. Camebridge 2001. Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß: ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. 2003 (engl. 2001). Rawls, John: Geschichte der politischen Philosophie. Frankfurt a. M. 2008 (engl. 2007). Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 42013 (engl. 1993). Raz, Joseph: Facing diverstiy. The case of epistemic abstinence. In: Philosophy and Puplic Affairs 19/1 (1990), 3–46. Weithman, Paul J.: Why political liberalism? On John Rawls’s political turn. Oxford political philosophy. Oxford 2010.

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Rationalität Ruth Zimmerling

Zu den abstrakten Bausteinen, die Rawls als Material für die Konstruktion seiner Gerechtigkeitstheorie zusammenträgt, gehören u. a. Annahmen über die fundamentalen Eigenschaften von Menschen als handelnde Wesen. Die Fähigkeit, Handlungsentscheidungen zu treffen, zu begründen und zu bewerten, ist eine dieser Eigenschaften. Diese dem Menschen grundsätzlich gegebene ‚praktische Vernunft‘ im weiteren Sinn hat zwei unbedingt zu unterscheidende Ausprägungen, die in Rawls’ Konzeption beide unverzichtbar sind. Aus moraltheoretischer Sicht die übergeordnete ist die Vernünftigkeit (reasonableness), d. h. die Fähigkeit, in sozialen Kontexten eigene Ansprüche mithilfe des Gerechtigkeitssinns, der auch die Ansprüche Anderer berücksichtigt, zu reflektieren, zu bewerten und zu begründen. Zwar moralisch nachgeordnet, aber nicht weniger relevant ist die Rationalität (rationality), die die Reflektion, Bewertung und Begründung von Zielen – einschließlich der Mittel und sonstigen Bedingungen ihrer Umsetzung – ermöglicht. Beide Fähigkeiten so weit wie möglich zu schulen und einzusetzen mache die „Interessen höchster Ordnung“ von Menschen als

R. Zimmerling (*)  Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected]

moralischen Agenten aus (Rawls 1999c, 319: „their highest-order interests in developing and exercising their moral powers“; „these interests may be taken to specify their needs as moral persons“), welche partikularen Interessen sie auch entwickeln mögen. Die Parteien, die im Urzustand hinter dem Schleier des Nichtwissens über Gerechtigkeitsprinzipien nachdenken, kennen ihre konkreten Ziele und Lebenspläne nicht; sie kennen jedoch diese ihnen allen gleichermaßen gegebenen allgemeinen Interessen, deren bestmögliche Realisierung sie somit rational verfolgen können, womit die entscheidende Weiche für die Deliberation gestellt ist. Ohne Berücksichtigung der Beziehung zwischen Vernünftigkeit und Rationalität lässt sich Rawls’ Gerechtigkeitstheorie nicht verstehen; manche frühen Kritiken bezeugen das (vgl. etwa Barber 1975). Die Unterscheidung dieser beiden Fähigkeiten ist, wie Rawls betont, keineswegs neu. Er bezieht sich dafür einmal mehr auf Kant, aber auch auf Hobbes (vgl. Rawls 2007, 54–72). Schon Hobbes argumentierte, dass es rational sei, die von ihm postulierten Vernunftgesetze einzuhalten, sofern genügend Andere dies auch tun. Der Hobbessche absolute Souverän ist folglich ein früher Lösungsvorschlag für das von Rawls u. a. in A Theory of Justice (1971, 270) behandelte assurance problem, das auftritt, wenn die Rationalität einer kooperativen Handlungsentscheidung – etwa zur Einhaltung eines Gesetzes – davon abhängt, ob es Grund zu der

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_48

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Annahme gibt, dass auch Andere sich kooperativ verhalten werden. Rawls entwickelt jedoch eine eigene Vorstellung des Unterschieds und des Zusammenspiels zwischen Vernünftigkeit und Rationalität, die sich ganz knapp folgendermaßen skizzieren lässt: Einerseits wird Vernünftigkeit (als Grundlage für den Gerechtigkeitssinn) dann und nur dann benötigt, wenn Menschen Ziele und Lebenspläne haben, deren rationale Verfolgung miteinander in Konflikt geraten und Kooperation erfordern kann. Mit anderen Worten: Gerechtigkeit und damit auch Vernünftigkeit können nur relevant sein, wo auch Rationalität relevant ist. Andererseits ist die rationale Verfolgung von Zielen nur in dem Maße legitim, wie sie vernünftigerweise zu vertreten ist; die Vernünftigkeit gibt sozusagen den Rahmen vor, innerhalb dessen Rationalität operieren darf. Die beiden Fähigkeiten der praktischen Vernunft sind demnach eng verschränkt, aber nicht gleichrangig. Die Vernünftigkeit, die das ‚Rechte‘ bestimmt, geht vor; die Rationalität, die der Verfolgung des ‚Guten‘ dient, ist untergeordnet; das Rechte hat Vorrang vor dem Guten. Damit, so Rawls (1999c, 319), ist die Einheit der praktischen Vernunft gesichert: „the Reasonable and the Rational are unified within our scheme of practical reasoning which establishes the strict priority of the Reasonable with respect to the Rational“, also die „priority of the right over the good“. Eine umfassende Erörterung speziell seiner Konzeption von Rationalität bietet Rawls schon in A Theory of Justice in einem Kapitel, dessen Titel „Goodness as rationality“ die begriffliche Verknüpfung von Rationalität und Fragen des ‚Guten‘ ankündigt (Rawls 1971, Kap. VII, insbes. §§ 60–64). Allerdings findet sich dieses Kapitel in dem in der Rezeption oft vernachlässigten dritten Teil des Buchs. Das mag dazu beigetragen haben, dass die Rationalitätskonzeption zu den Aspekten gehört, die Rawls in späteren Arbeiten immer wieder aufgriff, um sie deutlicher und präziser zu fassen. Das gilt etwa für die erste seiner drei Dewey Lectures von 1980 zum „Kantian Constructivism in Moral Theory“ (Wiederabdruck als Kap. 16 der Collected Papers von 1999). Hier spezifiziert

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Rawls, dass Entscheidungen dann rational sind, wenn sie unter Berücksichtigung von „sensible principles of rational choice“ zustande kommen, und er nennt konkrete Beispiele solcher Grundsätze: „the adoption of effective means to ends; the balancing of final ends by their significance for our plan of life as a whole and by the extent to which these ends cohere with and support each other; and finally, the assigning of a greater weight to the more likely consequences; and so on“ (1999c, 316). Die Passage belegt, dass Rawls keineswegs eine enge Konzeption instrumenteller Rationalität vertritt. Nicht nur die Wahl von Mitteln, sondern auch die von Zwecken und v. a. die eines umfassenderen Lebensplans werden als Rationalitätsfragen angesehen. Eine ganz wesentliche Rolle spielt Rationalität an einer zentralen Stelle in A Theory of Justice, nämlich bei der Entscheidung der Modellagenten über angemessene Gerechtigkeitsprinzipien im Urzustand. Die teilnehmenden Parteien sind modelliert als vernünftig, haben also einen Gerechtigkeitssinn, aber noch keine substantielle Konzeption von Gerechtigkeit, denn die wird erst das Ergebnis der Deliberation sein. Und sie sind modelliert als rational, also fähig, Zwecke und Mittel abzuwägen, ohne aber hinter dem Schleier des Nichtwissens ihre spezifischen Interessen und Zwecke zu kennen. Das Einzige, worüber sie rational deliberieren können, sind folglich die für Alle gleichen Interessen höchster Ordnung daran, ihre Vernünftigkeit und Rationalität entwickeln und anwenden zu können (vgl. etwa Freeman 2019, Abs. 4); zudem haben sie ein allgemeines Interesse daran, sich möglichst viele der Mittel zu sichern, die für die Verfolgung jedweder spezifischen Ziele und Lebenspläne nützlich sind. Die Argumentation im Urzustand wird also wesentlich durch die Fähigkeit zur Rationalität getrieben. Dies geschieht jedoch unter Berücksichtigung der durch die Vernünftigkeit vorgegebenen Einschränkung, dass die Überlegungen für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen gelten und niemand von vornherein besondere Ansprüche geltend machen kann. Trotz der wesentlichen Rolle der Rationalität in der Herleitung der Prinzipien der Gerechtigkeit wäre es folglich falsch, dies so zu verstehen,

48 Rationalität

als würden die Gerechtigkeitsprinzipien allein aus rationalen Überlegungen abgeleitet: „In justice as fairness […] there is no thought of deriving the reasonable from the rational“ (Rawls 1993, 51). Ausdrücklich lehnt Rawls deswegen David Gauthiers prominenten Versuch (1986) ab, eine Moraltheorie zu entwickeln, die das Moralische auf das Rationale reduziert. Rawls reagiert mit diesen Erläuterungen in Political Liberalism auf gut zwei Jahrzehnte der Kritik an der Rolle von Rationalität in seiner Gerechtigkeitstheorie. Die Bedeutung der von ihm postulierten beiden Grundfähigkeiten des Menschen für die Gesamtkonstruktion sowohl der Gerechtigkeits- als auch der Demokratietheorie unterstreicht er dadurch, dass sie in seinem zweiten Hauptwerk unmittelbar nach der Einleitung behandelt werden (§ 1 von Lecture II; Rawls 1993, 48–54). Die Konzeption ist gegenüber A Theory of Justice im Wesentlichen unverändert. Erneut betont er, dass sich Rationalität weder in Zweck-Mittel-Abwägungen erschöpft noch Egoismus impliziert; ausschließliche Orientierung am Eigennutz sei kein Merkmal von Rationalität, sondern „psychopathisch“ (Rawls 1993, 51). In einem Punkt gehen Rawls’ Ausführungen zur Rationalität in Political Liberalism allerdings über A Theory of Justice hinaus: Quasi nebenbei und leicht übersehbar bietet er hier die lange überfällige ausdrückliche Klärung des Verhältnisses seiner Gerechtigkeitstheorie zur Rationalwahltheorie.

Rationale Wahl Gleich zu Beginn von A Theory of Justice (§ 3) hatte Rawls eine Einordnung seiner Theorie formuliert, die erhebliche Missverständnisse ausgelöst hatte: Sie sei „a part, perhaps the most significant part, of the theory of rational choice“ (Rawls 1971, 16). Die Genialität von A Theory of Justice zeigte sich bekanntlich u. a. darin, dass es wenig gab, was Rawls im Laufe seiner jahrzehntelangen ernsthaften Auseinandersetzung mit zahlreichen Kritikern grundlegend korrigieren musste.

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Zu diesen wenigen Dingen gehört die zitierte Einschätzung, die er später ausdrücklich und unmissverständlich für falsch erklärte, was ein längeres Zitat rechtfertigt: „I correct a remark in Theory, p. 16, where it is said that the theory of justice is a part of the theory of rational decision. […] this is simply incorrect. What should have been said is that the account of the parties, and of their reasoning, uses the theory of rational decision, though only in an intuitive way. This theory is itself part of a political conception of justice, one that tries to give an account of reasonable principles of justice. There is no thought of deriving these principles from the concept of rationality as the sole normative concept“ (Rawls 1993, 53, Fn. 7). Dass Rawls (1971, 17) es von vornherein wohl so gemeint und an der besagten Stelle in § 3 nur ungeschickt ausgedrückt hatte, zeigt allerdings schon seine zweite Formulierung zur Einordnung der Theorie nur eine Seite später: „we have to ascertain which principles it would be rational to adopt given the contractual situation. This connects the theory of justice with the theory of rational choice“. Mit der ausdrücklichen Korrektur in Political Liberalism entfiel endgültig der Grund für eine unfruchtbare und überflüssige Diskussion. Dass Rawls’ Gerechtigkeitstheorie kein ‚Teil der Rationalwahltheorie‘ war, hätte einer aufmerksamen Leserschaft ebenso selbstverständlich klar sein müssen wie die Tatsache, dass es zwischen einer Theorie, in der Rationalität eine so erhebliche Rolle spielt, und der Rationalwahltheorie zwangsläufig eine Verbindung geben muss (vgl. dazu auch Barry 1995, 53 f.). Diese besteht v. a. darin, dass sich sowohl Rawls’ Aussagen über Prinzipien rationaler Wahl im Allgemeinen als auch die Rationalität verschiedener Entscheidungen im Besonderen, die er den Parteien in seiner Theorie unterstellt, an rationalwahltheoretischen Erkenntnissen messen lassen müssen. Vor Allem zwei Aspekte der Theorie rationaler Wahl erfuhren diesbezüglich in der Auseinandersetzung um A Theory of Justice besondere Aufmerksamkeit: spieltheoretische Überlegungen und die MaximinRegel.

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Spieltheorie Spieltheoretische Überlegungen wurden öfters als vermeintlich einschlägig für die Kritik an Rawls’ Theorie herangezogen. Solche Verweise beruhen jedoch auf einem Irrtum. Gegenstand der Spieltheorie ist die rationale Lösung strategischer Entscheidungsprobleme. In Rawls’ idealer Theorie geht es aber nicht um strategische Entscheidungen oder Verhandlungen (also solche, deren Ergebnis für eine Partei davon abhängt, welche Handlungsentscheidungen andere Akteure treffen), sondern um Entscheidungen in (hypothetisch) parametrischen Situationen unter Unsicherheit (also solchen, deren Ergebnis nur von gegebenen Parametern abhängt, die allerdings nicht unbedingt alle bekannt sind). Für seine Fragestellungen ist die Spieltheorie folglich kein geeignetes Analyseinstrument. Der Versuch mancher Autoren (z. B. Kaye 1980), Rawls mit dem Einwand zu kritisieren, seine Analyse strategischer Entscheidungs- bzw. Verhandlungssituationen sei nicht überzeugend, läuft deswegen zwangsläufig ins Leere. Zwei mildernde Umstände kann man allerdings zumindest frühen Kritikern dafür einräumen: Zum einen hat Rawls durch seine irreführende Ausdrucksweise in den frühen Schriften selbst zu den Missverständnissen beigetragen; zum anderen waren der Rationalwahlansatz und die Spieltheorie in den Jahren, in denen Rawls seine Überlegungen zu publizieren begann, noch in den Kinderschuhen und kaum breit rezipiert und verstanden (vgl. auch Gališanka 2017). Die lange gehegte philosophische Hoffnung, dass Rationalität und Moralität so zusammengebracht werden könnten, dass moralisches Handeln immer die rationale Wahl und damit die Motivation zum moralischen Handeln für rationale Menschen unproblematisch würde, machte allerdings recht bald einige Philosophen auf die analytische Kraft der Spieltheorie aufmerksam. Erste Ansätze dessen, was in Gauthiers Morals by Agreement (1986) seinen bis heute wohl prominentesten und raffiniertesten Ausdruck fand, wurden schon in den 1950er Jahren vorgelegt. Diese

R. Zimmerling

Diskussion nahm Rawls sofort auf und positionierte sich dazu. In diesem – und nur in diesem – Kontext fand die Spieltheorie als solche frühe Erwähnung in „Justice as Fairness“ (1958/1999a) und später, wenn auch nur noch als Fußnote, in A Theory of Justice (Kap. III, § 23 „Constraints on the Concept of Right“, Fn. 10): Rawls kritisiert darin R. B. Braithwaite dafür, dass er meine, eine faire Lösung für einen Interessenkonflikt zwischen zwei Personen allein auf der Grundlage ihrer Verhandlungspositionen aus der Sicht rationaler Akteure ableiten zu können; und er erläutert, dass er den Urzustand genau zu dem Zweck konzipiert habe, um die bei Braithwaite vermisste moralisch angemessene Basis für Fairness-Überlegungen zu legen; denn bei der Suche nach Prinzipien der Gerechtigkeit gehe es gerade nicht darum, dass die Beteiligten „as in the theory of games […], decide on individual strategies adjusted to their respective circumstances in the game“ (Rawls 1999a, 57). Während strategische Überlegungen für die eigentliche Konstruktion von Rawls’ Theorie also keine Rolle spielen, erlangen sie durchaus Relevanz, wenn es um die Umsetzung der Theorie in der sozialen Realität geht. In seiner Erörterung der Auswirkungen der Gerechtigkeitsprinzipien auf die institutionellen Grundstrukturen befasst sich Rawls mit dem Wirtschaftssystem (§ 42) und in diesem Zusammenhang auch mit strategischem Handeln. Erst kurz zuvor erschienene Werke von James Buchanan und Mancur Olson zur Problematik einer angemessenen Produktion öffentlicher Güter finden hier frühe Rezeption. Rawls stellt das Trittbrettfahrerproblem dar und führt aus, dass seine Überwindung eine wesentliche Funktion einer legitimen, für alle Mitglieder einer Gesellschaft rationalerweise wünschenswerten staatlichen Zwangsordnung sei (Rawls 1971, 267 f.). Als Beispiel für negative Externalitäten nennt er (1971!) Umweltschäden, die bei der privaten Produktion von Gütern entstehen und in Marktpreisen nicht abgebildet werden (ebd., 268). Auch das Gefangenendilemma wird ausführlich dargestellt (ebd., 269), um zu zeigen,

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wie suboptimale Ergebnisse aus völlig rationalen individuellen strategischen Entscheidungen entstehen können. Rawls unterstellt nicht, dass der Gerechtigkeitssinn in solchen Situationen die Rationalität zuverlässig motivational übertrumpft, sondern argumentiert, dass vernünftige und rationale Menschen wirksame öffentliche Zwangsregeln wollen (müssten), die das Problem rational erzeugter Suboptimalität zugunsten gerechter Ergebnisse lösen und auf diese Weise die Individuen moralisch entlasten. In § 51 nimmt Rawls das damit angesprochene assurance problem schließlich noch einmal auf, wenn er die Frage der Stabilität gerechter Verhältnisse behandelt. Instabilität resultiert, so Rawls, keineswegs nur aus der Rationalität der Menschen, die sie zum Trittbrettfahren bei der Beteiligung an der Produktion öffentlicher Güter verleitet (Instabilität der ersten Art); sie ergibt sich auch aus ihrer Vernunft, die ihnen die eigene Einhaltung von Prinzipien nur dann geboten scheinen lässt, wenn sie davon ausgehen können, dass auch Andere sie einhalten werden (Instabilität der zweiten Art). Werde aber das erste Problem mithilfe öffentlicher Institutionen gelöst, die die Einhaltung rational machen, werde damit zugleich auch das zweite Problem gelöst (ebd., 336).

Maximin-Regel Ein ganz eigener Strang der Kritik an Rawls’ Gerechtigkeitstheorie ist die Auseinandersetzung um die sogenannte Maximin-Regel, die in der Literatur auch als Rawls-HarsanyiDebatte bekannt ist (vgl. etwa Harsanyi 1975; Shrader-Frechette 1991, Kap. 8; Gaus/Thrasher 2015; Moehler 2018). Rawls’ Verwendung dieser Regel, die besagt ‚Maximiere das Minimum‘, also ‚Wähle die Option, bei der das schlechteste Ergebnis, das jemanden ereilen kann, möglichst gut ist‘, hat zu dem Einwand geführt, dass er unbegründeterweise behaupte, Rationalität impliziere Risikoaversion (vgl. etwa Barber 1975). Nur deswegen ergebe sich aus der Situation der Parteien, die im Urzustand unter dem Schleier

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des Nichtwissens eine Entscheidung unter Unsicherheit (über ihre soziale Position) treffen müssen, das Differenzprinzip. Dem Einwand begegnet Rawls ausführlich in Justice as Fairness: A Restatement. Auch hier gibt er sich selbst die Schuld an den entstandenen Missverständnissen: „The widespread idea that the argument for the difference principle depends on extreme aversion to uncertainty is a mistake, although a mistake unhappily encouraged by the faults of exposition in Theory“ (Rawls 2001, 43, Fn. 3). Die Korrektur folgt in § 28: Anstatt um die Unterstellung einer Eigenschaft der Entscheider im Urzustand handele es sich lediglich um eine „nützliche Heuristik“ (ebd., 99), die bei der vergleichenden Bewertung verschiedener Kandidaten für Gerechtigkeitsprinzipien den Blick darauf lenkt, was sie für die jeweils Schlechtestgestellten bedeuten könnten. Zu begründen sei also nicht die generelle Rationalität der Regel, sondern nur, dass dies eine plausible Heuristik für den gegebenen Zweck ist. Unter folgenden Bedingungen sei die Maximin-Regel jedenfalls rational: a) Die Eintrittswahrscheinlichkeiten der verschiedenen möglichen Ergebnisse sind nicht bekannt (wären sie bekannt, wäre es rational, sie zu berücksichtigen). b) Die Sicherung eines akzeptablen Mindestergebnisses ist rationalerweise wichtiger als die unsichere Möglichkeit eines noch besseren Ergebnisses. c) Schlechtere Ergebnisse als das bestmögliche Mindestergebnis sind aus guten Gründen inakzeptabel. Alle drei Bedingungen seien im Urzustand erfüllt. Für die Wahl der Gerechtigkeitsprinzipien im Urzustand sei die Maximin-Regel also eine passende Heuristik und damit der argumentative Hebel, um den Vorzug des Differenzprinzips gegenüber dem utilitaristischen Prinzip der Maximierung des Durchschnittsnutzens zu begründen. Rawls’ Postulierung der Maximin-Regel beruht also nicht auf der Unterstellung von Risikoaversion, sondern auf der „fundamental nature of the interests the parties must protect, and the unusual features of the original position“ (ebd., 107). Dass diese besondere Konstellation es nur so scheinen lasse, als ob die Parteien

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im Urzustand risikoavers wären, hatte Rawls (1999b, 247) schon früh in seiner Replik auf eine Kritik von Sidney S. Alexander und Richard A. Musgrave (1974) glasklar formuliert. Der Grund dafür ist einmal mehr das Zusammenwirken von Rationalität und Vernünftigkeit. Die Folgen der verbindlichen Zustimmung zu den Gerechtigkeitsprinzipien, die sogenannten strains of commitment, sind vernünftigerweise zu antizipieren, und es ist folglich gar nicht die Rationalität, sondern die Vernünftigkeit, die der Maximin-Regel letztlich zugrunde liegt: „Even if it might be rational to take great risks, the contract condition imposes the stronger requirement: the parties must decline all risks each possible outcome of which they cannot agree in good faith to accept“ (Rawls 1999b, 251). Es fällt schwer zu entscheiden, was – trotz aller möglichen verbleibenden Einwände gegen seine Rationalitätskonzeption im Besonderen oder andere Elemente seiner Theorie im Allgemeinen – an Rawls bewunderungswürdiger ist: die Konsistenz seiner Überlegungen zur Beziehung zwischen Rationalität und Vernünftigkeit über fast ein halbes Jahrhundert oder seine ebenso lange Geduld mit den Missverständnissen seiner Kritiker.

Literatur Barber, Benjamin R.: Justifying justice: problems of psychology, politics and measurement in Rawls. In: Norman Daniels (Hg.): Reading Rawls. Critical studies of ‚a theory of justice‘. Oxford 1975, 292–318.

R. Zimmerling Barry, Brian: Justice as impartiality. A treatise on social justice, Vol. II. Oxford 1995. Freeman, Samuel: Original position. In: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford encyclopedia of philosophy (Summer 2019 Ed.). https://plato.stanford.edu/archives/sum2019/entries/original-position. Gališanka, Andrius: Just society as a fair game: John Rawls and game theory in the 1950s. Journal of the History of Ideas 78/2 (2017), 299–308. Gaus, Gerald/Thrasher, John: Rational choice and the original position: the (many) models of Rawls and Harsanyi. In: Timothy Hinton (Hg.): The original position. Cambridge 2015, 39–48. Gauthier, David: Morals by agreement. Oxford 1986. Harsanyi, John: Can the maximin principle serve as the basis for morality? A critique of John Rawls’s theory. In: American Political Science Review 69/2 (1975), 594–606. Kaye, David H.: Playing games with justice: Rawls and the maximin rule. In: Social Theory and Practice 6/1 (1980), 33–51. Moehler, Michael: The Rawls-Harsanyi dispute: a moral point of view. In: Pacific Philosophical Quarterly 99/1 (2018), 82–99. Rawls, John: A theory of justice. Cambridge, Mass. 1971. Rawls, John: Political liberalism. New York 1993. Rawls, John: Justice as fairness [1958]. In: Collected papers. Hg. Samuel Freeman. Cambridge, Mass. 1999a, 47–72. Rawls, John: Reply to Alexander and Musgrave [1974]. In: Collected papers. Hg. Samuel Freeman. Cambridge, Mass. 1999b, 232–253. Rawls, John: Kantian constructivism in moral theory [1980]. In: Collected papers. Hg. Samuel Freeman. Cambridge, Mass. 1999c, 303–358. Rawls, John: Justice as fairness: a restatement. Hg. Erin Kelly, Cambridge, Mass. 2001. Rawls, John: Lectures on the history of political philosophy. Hg. von Samuel Freeman. Cambridge, Mass. 2007. Shrader-Frechette, Kristin S.: Risk and rationality. Philosophical foundations for populist reforms. Berkeley: 1991.

Realistische Utopie

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Nejma Tamoudi

Der Begriff der realistischen Utopie ist zentraler Bestandteil des Rawlsschen Spätwerks Das Recht der Völker (Rawls 1999, I:6, IV:18). Bereits in der Einleitung spezifiziert Rawls (1999, 6) darin: „Political philosophy is realistically Utopian when it extends what are ordinarily thought of as the limits of practical political possibility.“ In der Folge findet das Utopische in zweifacher Weise Niederschlag in seinen Überlegungen: Einerseits aus methodischer Perspektive, wonach die realistische Utopie die zwischen Eine Theorie der Gerechtigkeit und Politischer Liberalismus vollzogene Wende hin zu einer stärkeren Rückbindung der normativen Gerechtigkeitstheorie an die Realitäten soziopolitischer Lebenswelten weiterführt. Andererseits fungiert das Utopische in konzeptioneller Hinsicht als konkreter Gesellschaftsentwurf, welcher das vertragstheoretische Prinzip der Gerechtigkeit als Fairness auf den Bereich des Internationalen überträgt, um darin die erweiterte Möglichkeit eines stabilen sowie gerechten Zusammenschlusses der Völker zu begründen. Rawls fragt dabei gerade nach den Bedingungen, unter welchen entsprechende Gesellschaften sowie ein globales Kooperationssystem des Friedens möglich seien. N. Tamoudi  Hochschule für Philosophie München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

Die realistische Utopie im Kontext der methodischen Revision Zunächst lässt sich die realistische Utopie in den Zusammenhang einer entscheidenden methodischen Revision der Politischen Philosophie Rawls’ einordnen, wonach sich diese nicht länger in einer transzendentalen Bestimmung des Gerechten entlang universaler Gültigkeitskriterien erschöpft, sondern mit verschiedenen naturgesetzlichen Voraussetzungen und soziohistorischen Bedingungen zu versöhnen sei (Rawls 1999, I:1, IV:18; Rawls 2001, I:1.4). D. h. das Utopische müsse im Kontext einer besonderen Form idealer Gerechtigkeitstheorie verstanden werden, deren normative Ansprüche eng verschränkt sind mit unseren gesellschaftlichen Umständen und zwischenstaatlichen Zuständen. Seine realistische Komponente verdankt es daher einem entsprechenden Verweis auf die Anschlussfähigkeit und Umsetzbarkeit sozialer, wie auch globaler Gerechtigkeitsprinzipien innerhalb der konkreten Situation des Hier und Jetzt. Die damit einhergehenden nichtidealen Herausforderungen eines dauerhaften stabilen Miteinanders wohlgeordneter Gesellschaften und Völker greift Rawls hierbei u. a. im Rahmen verschiedener Bürden des Urteilens, im Faktum des vernünftigen Pluralismus, dem Prinzip des demokratischen Friedens oder der Annahme eines basalen Menschenrechtsminimalismus auf.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_49

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Dabei argumentiert Rawls jedoch nicht im Sinne eines kulturellen Relativismus (Rawls 2001, I:11) oder des von E. H. Carr vertreten Realismus zwischenstaatlicher Machtstrukturen (Rawls 1999, I:5.2). Vielmehr verweist er die gesuchte Versöhnung von idealer Reflexion und non-idealer Situation in den Kontext des Utopischen selbst. Wobei es letztlich gerade dessen normativ-heuristischer Projektionskraft zuzuschreiben sei, dass sich die Prinzipien des Gebotenen mit den Aspekten des Gegebenen engführen lassen: „By showing how the social world may realize the features of a realistic utopia, political philosophy provides a long-term goal of political endeavor, and in working toward it gives meaning to what we can do today“ (Rawls 1999, 128). Dabei sei die realistische Utopie in besonderer Weise mit unserem praktischen Vermögen verbunden, insofern ihr nicht nur eine orientierende Funktion zukomme: „For until the ideal is identified, at least in outline […] nonideal theory lacks an objective, an aim, by reference to which it queries can be answered“ (Rawls 1999, 90). Ebenso verfüge sie über ein originär motivierendes Element, welches die potenziellen Hemmnisse der Resignation bzw. des Zynismus angesichts gegenwärtiger Ungerechtigkeiten (Sklaverei, religiöse Unterdrückung, ungerechter Krieg etc.) zu begrenzen und unsere Handlungsräume sowie -optionen dadurch allererst zu eröffnen vermag (Rawls 1999, 128).

Zwischen utopischer Konzeption und kritischen Einwänden Das konkrete Konzept der realistischen Utopie stellt den Rawlsschen Gesellschaftsentwurf dabei in den Zusammenhang eines besonderen Möglichkeitsbegriffs: „While realization is, of course, not unimportant, I believe that the very possibility of such a social order can itself reconcile us to the social world. The possibility is not a mere logical possibility, but one that connects with the deep tendencies and inclinations of the social world“ (Rawls 1999, 128). D. h. die Reichweite des Utopischen erschließt sich nicht

N. Tamoudi

alleine aus einer Wahrscheinlichkeit des (sich beständig wandelnden) Status quo. Vielmehr basiert sie zugleich auf einer konkreten Spekulation des Wünschenswerten: „It establishes that such a world can exist somewhere and at some time, but not that it must be, or will be“ (Rawls 1999, 127). Dabei rückt an die Stelle einer substanziellen Bejahung des Utopischen das Verfahren einer prozeduralen Aushandlung der darin vorgelegten Möglichkeiten im Rahmen eines öffentlichen Vernunftgebrauchs, dessen Grundlagen Rawls den Überlegungen des Politischen Liberalismus entnimmt. Obgleich er sich im Kontext des letzteren (1993, I:6.3, IV:6.1) explizit gegen das Utopische wendet, verstanden im Sinne der klassisch-idealen Ausrichtung von Eine Theorie der Gerechtigkeit, findet sich dort dennoch bereits die realistisch-utopische Perspektive seines späteren Werks angelegt. Dieser zufolge lasse sich das Prinzip der Gerechtigkeit als Fairness nicht auf eine deduktive Bestimmung allgemeingültiger Gerechtigkeitsgrundsätze zurückführen, sondern entspringe einer Rekonstruktion geteilter Rechtfertigungspraxen liberal-demokratischer Institutionen (Rawls 2001, I:5). Dabei basiere besagtes Prinzip einerseits auf einem hypothetischen Urzustandsmodell, welches verstanden als imaginärer Reflexionsraum eine Art kantischen Schematismus des gerechten Miteinanders unter sozialen sowie globalen Bedingungen des vernünftigen Pluralismus beschreibt – ein argumentatives Verfahren, ohne welches die Grundsätze leer und das Utopische blind blieben. Andererseits werden diese zugleich in den faktisch gegebenen Rahmen inkompatibler Lehren überführt, innerhalb dessen der Rawlssche Gesellschaftsentwurf selbst in den Rang einer dezidiert politischen Konzeption verwiesen wird. In der Folge ist die realistische Utopie für Rawls weder mit einem fantastischen Wunschtraum noch mit der vielkritisierten autoritären bzw. totalitären Abschließung umfassender Gesellschaftsentwürfe gleichzusetzen. Gerichtet auf eine schrittweise zu vollziehende Realisierung eines überlappenden Konsenses sozialer Gerechtigkeit (Rawls 1993, IV:6 f.) sowie der weiterführenden Begründung

49  Realistische Utopie

einer Gesellschaft liberaler Völker (Rawls 1999, IV:18) entspricht das realistisch Utopische somit schlussendlich einer vernünftigen Hoffnung aus den richtigen Gründen – angelehnt an die kantische Argumentation des Friedensbundes (Rawls 1999, IV:18.3). Kritiker*innen der Rawlsschen Gerechtigkeitskonzeption haben dabei mitunter das gesellschaftstransformierende Potential einer entsprechenden Hoffnung infrage gestellt, insofern die Möglichkeitshorizonte der realistischen Utopie von Wahrscheinlichkeiten getragen werden, die einem explizit liberal-demokratischen Verfassungsstaat und dessen marktökonomischen, aufklärungshumanistischen und sozialrechtlichen Perspektiven entspringen (Mouffe 2005). Dies zeigt sich insbesondere mit Blick auf die Unparteilichkeit generierenden Informationsbeschränkungen des Urzustandes durch den Schleier des Nichtwissens sowie die im Namen der praktischen Vernunft vollzogenen Grenzziehungen der Begründung (öffentlich/privat, vernünftig/rational, liberal/achtbar etc.). Übertragen auf die Perspektive eines internationalen Rechts des Völker wiederum schlägt sich besagte Kritik u.  a. in der Formulierung einer konkreten Eintrittsschwelle staatlicher Repräsentant*innen des zweiten (global ausgerichteten) Urzustandes nieder (Rawls 1999, I:3). Verglichen mit den individuellen Akteur*innen auf der Ebene sozialer Gerechtigkeit sowie angesichts der nicht-idealen Umstände internationaler Handlungs- und Entscheidungsoptionen erweitert Rawls seine Argumentation dabei durch die konzeptionelle Hinzunahme sogenannter achtbarer Völker, wie z. B. den islamischen Staat „Kazanistan“. Konzipiert als heuristische Fiktion dient letzterer dabei der Darstellung nicht-liberaler, aber dennoch wohlgeordneter Völker. Diese zeichnen sich einerseits durch eine Orientierung an partikularen (religiösen) Lehren des Guten aus, werden dabei aber nichtsdestotrotz begleitet von einer minimal-liberalen Integration andersgläubiger Gruppen im Rahmen assoziationsrechtlich verbürgter Konsultationshierarchien: „[I]t seems to me that something like Kazanistan is the best we can realistically – and coherently – hope for“ (Rawls 1999, 78). „Kazanistan“ ist folglich Teil jener

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realistischen Utopie eines stabilen und gerechten Zusammenschlusses der Völker. Eine entsprechend erweiterte Toleranz entspricht dabei dem Versuch Rawls’, ethnozentrischen Vorwürfen zuvorzukommen (Rawls 1999, II.9.3, IV:17.1). Da sich die Darstellung achtbarer Völker letztlich jedoch an der Umsetzung wohlgeordneter Grundstrukturen sowie der darin eröffneten Möglichkeiten der Vorstellung des Anderen misst, scheint Rawls’ Perspektive dennoch einer reststereotypen Verengung zu unterliegen. Die impliziten Grenzen solch einer rechtfertigungstheoretisch verbürgten realistischen Utopie bzw. vernünftigen Hoffnung bleiben schlussendlich bezogen auf eine nach innen, wie außen vertretene liberale politische Kultur. Die Möglichkeit alternativer demokratischer Gesellschaftsformen jenseits westlicher Verfassungsstaaten ist somit grundlegend beschränkt (Hatzenberger 2013). Indes ist es gerade das Alternativen generierende Potential des Utopischen, welches dieses seit Morus’ Überlegungen insbesondere auch für die normative Theoriebildung attraktiv macht. Zentral ist dabei die Hervorhebung eines gesellschaftskritischen Potenzials, welches getragen wird von der utopischen Grundspannung zwischen eu- (guter Ort) und outopia (Nicht-Ort). Ihr komme es letztlich zu, das normativ Geforderte von der Warte einer – konkrete Alternativen projizierenden – bestmöglichen Welt aus zu betrachten und zugleich mit der kritischen Beschreibung und Infragestellung gegenwärtiger Ungerechtigkeiten zu verbinden (Levitas 2013). Verstanden als erst noch zu realisierender Gerechtigkeitsentwurf vermag sie dabei einen normativen Mehrwert zu generieren, welcher das in Rawlsscher Hinsicht politisch Vernünftige auf regulative, wie transformative Weise zwischen Gegebenem und Erhofftem verortet. Eine entsprechend gesellschaftskritische Dimension der realistischen Utopie Rawls’ ist aufgrund deren eingeschränkter liberaler Entwurfsmöglichkeiten jedoch grundlegend limitiert, da das kritische Potential als den öffentlichen Vernunftgeboten nachgelagert verstanden werden muss. Diese erscheinen letztlich als transzendental-konstruktivistische Grenze einer

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v­ ermeintlichen Unparteilichkeit, an welcher sich alle weiterführenden Thematisierungen epistemischer Ungerechtigkeiten, soziohistorischer Machtasymmetrien oder solidarischer Handlungsmuster brechen. Die realistische Utopie steht folglich vor der Aufgabe auch die methodischen Anforderungen einer explizit politischen Argumentation im Rahmen ihrer konzeptionellen Ausgestaltung als umkämpfte Doktrin aufzugreifen, so dass sie sich nicht nur auf eine bestimmte (inter-)nationale Wohlordnung, sondern ebenso auf die dabei vorausgesetzten rechtfertigungstheoretischen Bedingungen selbst erstreckt (Böker 2017). Andernfalls befindet sich das realistisch Utopische unter einen dauerhaften Ideologieverdacht gestellt (Geuss 2008).

Idealistische und realistische Bezüge des Globalen Besagte konzeptionelle Ausgestaltung weiter reflektierend, beziehen sich Theoretiker*innen aus dem Bereich der globalen Gerechtigkeitstheorie insbesondere kritisch auf die Nähe der Rawlsschen Überlegungen zu der Ende der 1990er Jahre vorherrschenden Lage globaler Rechtsund Souveränitätsstandards. Diese schlage sich in einer kosmopolitischen Leerstelle nieder, welche sich u. a. in der Reduktion auf einen Menschenrechtsminimalismus (vgl. Rawls 1999, II:10.1) sowie ein fehlendes internationales Differenzprinzip (vgl. Rawls 1999, III:16.2) zeige (Beitz 1999). Auf diese Weise würden bestehende globale Asymmetrien zementiert, ohne zugleich die Möglichkeit globaler Umverteilung und Chancengleichheit zugunsten der weltweit am wenigsten Begünstigten in den utopischen Rahmen des normativ Anzustrebenden aufzunehmen (Buchanan 2000). Die realistische Utopie sei somit bezüglich ihres Realismusbegriffs als zu konservativ zu erachten, wodurch sie unweigerlich in ein Ausblenden weiteführender humanitärer Perspektiven oder multilateraler Veränderungsdynamiken münde. Auf der anderen Seite wiederum finden sich Kritiker*innen, welche die Rawlssche

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Grundannahme – „[T]he social world allows a reasonably just constitutional democracy exis­ ting as a member of a reasonably just Society of Peoples“ (Rawls 1999, 11) – als zu idealistisch verstehen. Die den acht globalen Gerechtigkeitsprinzipien entsprechenden Annahmen des demokratischen Friedens (Rawls 1999, I:5) sowie der nicht-idealen Einschränkung des interventionistischen Sonderfalls (Menschenrechtsdurchsetzung gegenüber Schurkenstaaten, Entwicklungsnothilfen gegenüber belasteten Staaten) (Rawls 1999, III) steht ein oftmals auf rationalem Eigeninteresse beruhendes Verhalten staatlicher Akteure gegenüber, welches sich mit der geforderten Vernünftigkeit liberaler politischer Kultur nicht zur Deckung bringen lässt. Rawls unterschätze folglich nicht nur die Tragweite des machtpolitischen Realismus internationaler Beziehungen (Brown 2002), sondern ebenso weitere zentrale Herausforderungen, wie z. B. einen die Menschenrechte instrumentalisierenden demokratischen Expansionsdrang, eine die Interdependenzen neoliberaler Ökonomien verschärfende Ressourcenungleichheit oder die Herausforderungen postkolonialer Hegemonien. Die realistische Utopie laufe daher Gefahr zu einer Verstärkung konflikthafter Instabilitäten des globalen Raumes beizutragen. Damit einher gehen des Weiteren Einwände, wonach Rawls letztendlich hinter seinem Anspruch zurückbleibe, die Spannungen zwischen dem Utopischen und dessen realistischer Rückbindung nachhaltig zu versöhnen. D. h. die Inkohärenzen zwischen idealen Forderungen einerseits und nicht-idealen Handlungsbedingungen anderseits fänden keine Auflösung in einer konkreten Angabe transformativer Schritte der politischen Orientierung hin auf eine Umsetzung des öffentlichen Vernunftgebrauchs in sozialer, wie globaler Perspektive (Förster 2014). Dabei lässt sich jedoch einschränkend hervorheben, dass das in Rawlsschem Sinne konkret Umzusetzende als der realistischen Utopie stets nachgelagert zu begreifen ist (Brown 2002). Das Recht der Völker fungiere demnach als ein im öffentlichen Diskurs anzuwendendes regulatives ­Entscheidungskriterium,

49  Realistische Utopie

basierend auf welchem sich eine Diskussion und Rechtfertigung des Politischen in seinen ­verschiedenen praktischen Zwischenschritten ermöglichen, nicht jedoch vollumfänglich erfüllen lässt. Rawls trägt auf diese Weise nicht nur dazu bei, den in Vergessenheit geratenen Begriff des Utopischen innerhalb des politiktheoretischen Feldes erneut aufzugreifen. Ebenso kann die realistische Utopie als ein erstes Angebot verstanden werden, ausgehend von welchem zweifelsohne weiterführende kritische und differenzierende Ausarbeitungen erforderlich sind (Rex/Reidy 2006).

Literatur Beitz, Charles R.: Social and cosmopolitan liberalism. In: International Affairs 75/3 (1999), 515–29. Böker, Marit: The concept of realistic utopia: Ideal theory as critique. In: Constellations 24/1 (2017), 89–100.

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Religion Thomas M. Schmidt und Michael Roseneck

Bei der Interpretation und Bewertung des Gesamtwerkes von Rawls kommt dem Thema Religion eine zentrale Bedeutung zu (Bailey/ Gentile 2014; Breul 2015; Junker-Kenny 2014; Reder 2013; Weithman 2018). Zwei Aspekte sind dafür entscheidend: Zum einen steht die Frage nach der angemessenen politischen Rolle von Religion in der pluralistischen Öffentlichkeit einer demokratischen Gesellschaft in kaum einer anderen politischen Theorie und Philosophie der Gegenwart so stark im Zentrum wie bei Rawls. Religion ist für ihn kein beliebiger Anwendungsfall einer normativen Theorie des Politischen, sondern betrifft als permanentes gesellschaftliches Faktum die methodische Grundstruktur einer Theorie des vernünftigen Pluralismus. Zum anderen wächst seit der 2009 durch Thomas Nagel erfolgten posthumen Veröffentlichung der theologischen Abschlussarbeit das Bewusstsein für die Bedeutung, die Religion für den jungen Rawls in der Formationsphase seines Denkens besessen hat (Rawls 2009/2010).

T. M. Schmidt (*) · M. Roseneck  Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Roseneck  E-Mail: [email protected]

Vernünftiger Pluralismus und umfassende Lehren: Religion als Herausforderung und Ressource für die öffentliche Vernunft Wie eine gerechte und stabile Gesellschaft von freien und gleichen Bürger*innen dauerhaft bestehen kann, „wenn diese durch ihre vernünftigen religiösen, politischen und moralischen Lehren einschneidend voneinander getrennt sind“ (Rawls 1998, 35), ist die Frage, deren Beantwortung Rawls als die grundsätzliche Aufgabe des politischen Liberalismus bezeichnet. Der politische Liberalismus verfolgt dieses Ziel auf dem Weg der Rekonstruktion eines minimalen Kerns von Vernunftgründen, die möglichst von allen geteilt werden können. Zugleich können religiöse Überzeugungen Rawls zufolge auch vernünftige Lehren darstellen. Ihr Ausschluss aus einer pluralistischen Öffentlichkeit ist daher nicht prinzipiell zu rechtfertigen. Normative Prinzipien der Gerechtigkeit müssen vielmehr so formuliert werden, dass sie auch aus religiöser Perspektive zustimmungswürdig erscheinen. Es kann prinzipiell von allen Bürger*innen eingesehen werden, dass Grundgüter der fairen Kooperation wie Freiheit und Gleichheit zentrale und konstitutive Elemente einer gerechten politischen Ordnung darstellen. Anhänger*innen ansonsten divergierender Konzeptionen des Guten können in ihr die für alle verbindliche Idee von Gerechtigkeit erblicken.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_50

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Diese Elemente sollen aus der Perspektive der Anhänger*innen verschiedener umfassender Lehren als verbindlich akzeptiert und angeeignet werden können, ohne dass diese Doktrinen selbst in die Rechtfertigungsgrundlage der freistehenden Gerechtigkeitskonzeption einflössen. Eine liberale Konzeption von Gerechtigkeit muss nämlich, wenn sie gerechtfertigt sein soll, von den Bürger*innen jener politischen Ordnung anerkannt werden können. Angesichts des Faktums des Pluralismus vernünftiger aber unterschiedlicher Überzeugungssysteme darf ein solcher Begriff von Gerechtigkeit nicht auf Voraussetzungen zurückgreifen, „die von den Bürgern einer pluralistischen Gesellschaft vor dem Hintergrund ihrer umfassenden normativen Überzeugungen kontrovers beurteilt werden“ (Hinsch in: Rawls 1997, 15). Um zu überprüfen, ob die politische Gerechtigkeitskonzeption auf unkontroversen Voraussetzungen beruht, bedarf es eines übergreifenden Konsenses der vernünftigen umfassenden Lehren. Die Idee einer politischen Gerechtigkeitskonzeption erscheint erst dann vollständig gerechtfertigt, wenn sie aus der jeweiligen Perspektive der divergierenden, aber vernünftigen umfassenden Lehren akzeptiert werden kann. Religionen gehören nach Rawls neben philosophischen und moralischen Auffassungen zu den umfassenden Lehren. Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen eine freistehende Konzeption von Gerechtigkeit aus der Perspektive religiöser Überzeugungen akzeptiert werden kann, stellt einen herausragenden Test für die Tragfähigkeit dieser Konzeption eines vernünftigen Pluralismus dar. Ein solcher Test entscheidet auch darüber, ob das liberale Ideal pluralistischer Demokratie verteidigt werden kann, ohne Religion zu trivialisieren. Er entscheidet ebenso darüber, ob religiöse Überzeugungen gerechtfertigt werden können, ohne die Idee eines vernünftigen Pluralismus zu untergraben. Der politische Liberalismus beansprucht nach seinem Selbstverständnis weder, religiöse und andere umfassende Lehren „zu ersetzen, noch ihnen eine wahre Grundlage zu verschaffen“ (Rawls 1998, 15). Rawls vertritt keine Moralkonzeption, die den substanziellen Gehalt

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der Religionen begrifflich aufzuheben und begründungslogisch an deren Stelle zu treten beansprucht. Säkulare Auffassungen und Lehren sollen gegenüber religiösen nicht als höherstufig eingeschätzt werden; gegenüber religiösen und säkularen Überzeugungen soll vielmehr ein ‚gleicher Abstand‘ gehalten werden. Daher stellen die liberalen Traditionen der Aufklärung aufgrund ihrer starken Betonung des Wertes der Autonomie für Rawls selbst umfassende Lehren dar, die mit religiösen Doktrinen konkurrieren. Darin bestehe gerade ein gewichtiger Nachteil dieser Liberalismuskonzepte. Aus der Rawlsschen Perspektive scheint es zudem so, dass die Hypothese, moderne Prozesse der Persönlichkeitsbildung würden tendenziell zu Identitätsbildungen auf einem hohen Abstraktionsniveau führen, als ein implizit ‚metaphysischer‘ Begriff der Person anzusehen ist. Er legt der Entwicklungstheorie individueller Kompetenzen und Bewusstseinsstrukturen nämlich die Vorstellung zugrunde, dass eine in abstrakten Prozessen gebildete personale Identität anderen, traditionelleren Formen vorzuziehen sei. Gleichzeitig müssen die religiösen Lehren aus ihrem eigenen Traditionsbestand Argumente gewinnen und mobilisieren können, die sie zu einer offenen und aufrichtigen Unterstützung und Aneignung der Grundprinzipien einer pluralistischen Gesellschaft veranlassen können. Denn in demokratischen Gesellschaften größeren Maßstabs werden die Bürger*innen unvermeidlich unterschiedlicher Meinung darüber sein, was als guter Grund für die Rechtfertigung von Überzeugungen und Handlungen gilt. Da unter pluralistischen Bedingungen nicht alle Bürger*innen religiöse Gründe, ja noch nicht einmal alle religiösen Bürger*innen dieselben religiösen Gründe akzeptieren, können auf der Basis solcher Gründe keine Maßnahmen gerechtfertigt werden, die potenziell alle betreffen; vor allem, wenn auf ihrer Grundlage mit rechtlichen Sanktionen in persönliche Handlungsfreiheiten eingegriffen werden soll. Auf Überlegungen dieser Art fußt die liberale Ablehnung einer öffentlichen Politik, die ausschließlich auf religiöser Basis begründet werden soll. Religiöse Personen haben in einer pluralistischen

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Gesellschaft in bestimmten politischen und rechtlichen Fragen die Pflicht, ihre Überzeugungen so zu rechtfertigen, dass sie im Licht allgemeiner vernünftiger Gründe beurteilt werden können. Sie müssen aber nicht befürchten, dass ihnen deswegen das Recht auf eine religiös integrierte Existenz, auf eine begründete Überzeugung und auf eine Kritik der säkularen Kultur bestritten wird.

Religion und Demokratie Die Thematisierung von Religion, genauer von religiösen Überzeugungen und Geltungsansprüchen in der politischen Öffentlichkeit, nimmt in Rawls’ demokratietheoretischen Schriften eine prominente Stellung ein, was auch durch deren Vitalität und Relevanz in der US-amerikanischen Gesellschaft bedingt ist. In pluralistischen Gesellschaften mit einer lebendigen religiösen Landschaft ist es dabei nicht selten der Fall, dass religiöse Akteur*innen insofern am Prozess des öffentlichen Vernunftgebrauchs partizipieren, als sie etwa in moralisch bedeutsamen Feldern wie der Asyloder Gesundheitspolitik mit Bezug auf ihre Glaubensvorstellungen religiös fundierte oder zumindest religiös konnotierte Geltungsansprüche erheben. Liberale Autor*innen wie Robert Audi (1993, 691 f.) präskribieren dementsprechend auch ihren gänzlichen Ausschluss zugunsten von rein „säkularen“ Gründen, wobei hier mit „säkular“ strikt areligiöse Gründe bezeichnet werden. Nicht nur ist aber fragwürdig, ob der Fokus auf „säkulare“ Gründe eine hinreichende Empfehlung ist, um Kooperationskonflikte in pluralistischen Gemeinwesen zu lösen – als ob es nicht auch widerstreitende säkulare Gründe und Lehren gibt und viele von ihnen durchaus auch den Werten von Freiheit und Gleichheit zuwiderlaufen. Rawls betont auch, dass ein solcher Fokus auf säkulare Rechtfertigungen seinerseits das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs selbst unterliefe, indem er die authentischen Gründe vernünftiger religiöser Bürger*innen nicht ernstnehme. „Wir müssen die

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öffentliche Vernunft von dem unterscheiden, was wir gelegentlich säkulare Vernunft oder säkulare Werte nennen. Diese sind nicht dasselbe wie öffentliche Vernunft. Denn ich definiere die säkulare Vernunft im Sinne eines Begründens in Begriffen umfassender nichtreligiöser Lehren. Solche Lehren und Werte sind viel zu breit angelegt, um den Zwecken der öffentlichen Vernunft zu dienen“ (Rawls 2002, 178). Dennoch kann eingewendet werden, dass, auch wenn mit Rawls der Parteinahme für säkulare Begründungsstrategien zu widersprechen ist, religiösen Gründen insofern kein Raum im demokratischen Diskurs pluralistischer Gesellschaften geboten werden kann, als sie nicht allgemein akzeptierbar sein werden. Man müsste dann, um es mit Thomas Nagel (1987) zu sagen, bei der Deliberation allgemeiner Angelegenheiten einen view from nowhere einnehmen, d. h. vollkommen von den eigenen umfassenden Lehren abstrahieren. Nicht nur ist aber umstritten, ob dies überhaupt möglich ist, sondern Rawls benennt dort, wo er deliberative Tugendpflichten demokratischer Bürgerschaft erörtert, Optionen, wie religiöse Überzeugungen doch eine qualifizierte Rolle im demokratischen Willensbildungsprozess wahrnehmen können, ohne dem Ideal öffentlicher Vernunft zu widersprechen. Bemerkenswert ist hier, dass er als Vertreter eines politischen Liberalismus dabei den Exzeptionalismus der Redefreiheit nur beiläufig als ein Argument angibt, weshalb religiöse Gründe auch in der politischen Öffentlichkeit genannt werden dürfen. Primär benennt er funktionalistische Erwägungen (Rawls 2002, 170): 1. Empirisch ist festzustellen, dass in gewissen historischen Situationen – Rawls erwähnt z. B. den Fall der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung – religiöse Rede weitaus mehr dazu geeignet zu sein scheint, Ungerechtigkeit anzuprangern und Handeln aus Pflicht zur Gerechtigkeit zu initiieren (Rawls 1998, 423). Es ist deswegen eine Sache der Klugheit, religiösen Gründen dann Raum im demokratischen Diskurs zuzugestehen, wenn sie effektiver der Verwirklichung des Ideals öffentlicher Vernunft dienen. Religiöse

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Semantik fungiert hier allerdings nur als ein ‚motivationaler Durchlauferhitzer‘, ohne, dass Rawls ihr eine eigenständige epistemische Kompetenz etwa bei der Lösung moralisch heikler Fragestellungen zuspricht oder ohne, dass sie für die Allgemeinheit erkenntnisreiche Lernprozesse in Ganz setzen kann. 2. Ferner sei es auch dann legitim, dass religiöse Gründe im deliberativen Verfahren Erwähnung finden, sofern sie „in gebührender Zeit“ (Rawls 2002, 179) in andere, öffentlich zugängliche Gründe, die funktional äquivalent sind, übertragen werden. Bekannt wurde diese zweite Option der qualifizierten Inklusion religiöser Gründe als Rawls’ Vorbehalt (proviso). Auch sie ist durch funktionalistische Überlegungen bedingt; genauer: stabilitätspolitische. So ist Rawls’ Spätwerk u. a. von der Fragestellung durchzogen, wie ein demokratischer Rechts- und Sozialstatt, trotz der diagnostizierten Tatsache eines vernünftigen Pluralismus, langfristig stabil existieren könne, insbesondere auch eingedenk der Voraussetzung, dass Bürger*innen nicht nur aus egozentrischen Nutzenkalkülen entsprechend dessen Regeln pflichtgemäß agieren, sondern aus vernünftigen Motiven aus Pflicht handeln. Bekanntermaßen beantwortet Rawls (1987) dies u. a. damit, dass sich in stabilen, wohlgeordneten Gesellschaften ein übergreifender Konsens herausgebildet habe, welcher die notwendige Adhärenz für die von diversen Religionen und Weltanschauungen Überzeugten auf je ihre eigene Art und Weise begründen könne. Während sich diese zum Beispiel für die gläubige Christin dadurch begründen könne, dass dieser die gottgegebene Würde eines jeden Menschen achte und schütze, könnte der säkulare Republikaner ihn als Produkt neuzeitlicher Revolutionen affirmieren. Selbst wenn aber in einer wohlgeordneten Gesellschaft ein gut ausgebauter übergreifender Konsens existiert, kann es dennoch der Fall sein, dass dieser nicht in vollem Ausmaß seine stabilisierende Wirkung entfaltet. Gerade in pluralis-

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tischen Massengesellschaften könnte es nämlich ferner an Wissen darüber fehlen, dass die*der doch eigentlich mir Fremde mit gänzlich anderen religiös-weltanschaulichen Überzeugungen dennoch dieselben demokratisch-rechtsstaatlichen Werte teilt wie ich selbst. Es tut sich hier folglich ein Reziprozitätsproblem auf: „Der erste grundlegende Aspekt des Vernünftigen ist […] die Bereitschaft, faire Bedingungen der Kooperation vorzuschlagen und sich an sie zu halten, vorausgesetzt, daß andere dies ebenfalls tun“ (Rawls 1998, 127). Rawls (2002, 190 f.) favorisiert nun deswegen die Möglichkeit, zunächst ungefiltert, aber authentisch die eigene Überzeugung darzulegen, weil so in einer wohlgeordneten Massengesellschaft ein „wechselseitige[s] Wissen“ voneinander und Vertrauen in die Existenz des überlappenden Konsenses entstehen kann, was wiederum stabilisierende Effekte zeitigt. Insbesondere Rawls’ proviso zog im akademischen Diskurs Kritik auf sich. Jürgen Habermas (2005, 132) etwa bewertete ihn aus institutionstheoretischen Gründen als eine für religiöse Bürger*innen überbordende und gleichsam unnötige Anforderung. Dagegen sollten nur Offizielle des politisch-administrativen Systems verpflichtet sein, allgemein zugängliche Gründe zu geben, wenn sie andere betreffende Entscheidungen fällen, etwa Parlamentarier*innen bei der Verabschiedung von Gesetzen. Die Differenz zwischen Habermas und Rawls begründet sich u. a. dadurch, dass Habermas’ (1992, 369) gesellschaftstheoretisch aufgeklärte Konzeption einer „zweigleisigen deliberativen Politik“ zwar ganz im Sinn von Rawls’ (1998, 318) politischer Theorie davon ausgeht, dass Demokratie für die Bürger*innen „Beteiligung an der politischen Zwangsgewalt [bedeutet]“, jedoch in einem deliberativen System den „einfachen“ Bürger*innen eine andere Aufgabe im Willensbildungsprozess zukommt als den offiziellen Amtsträger*innen. Bürger*innen identifizieren vielmehr politisch regelungsbedürftige Probleme und leiten diese dann zur Lösung an das administrative System weiter, gegebenenfalls dramatisiert durch Praktiken wie den zivilen Ungehorsam (Habermas

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1992, 431–435). Eine Übertragung in allgemein akzeptable Begründungen für policies obliegt ihnen aber nicht. Ferner ist im Anschluss an Habermas (2001, 22) oder Cecil Laborde (2017, 128) einzuwenden, dass Rawls’ Problematisierung religiöser Gründe von der zweifelhaften Annahme ausgeht, religiös konnotierte Begründungen seien nur für Gläubige zugänglich. Hingegen ist beobachtbar, dass religiöse Motive wie die „Gottesebenbildlichkeit des Menschen“ oder die „Bewahrung der Schöpfung“ auch für im Großen und Ganzen religiös Unmusikalische dennoch Überzeugungskraft ausüben und deswegen legitime Gründe im demokratischen Diskurs sein können, ohne dass sie in gemäß des proviso transformiert werden müssen. Folglich schließt Cristina Lafont (2009), dass angemessene demokratische Gründe formal nicht dergestalt sein können, dass sie inhaltlich von allen Rechtsunterworfenen geteilt werden, sondern vielmehr, dass sie nicht ohne allgemein teilbare Gegengründe zurückgewiesen werden können. Diese Bestimmung von normativ richtigen Gründen findet sich dabei bereits in der praktischen Philosophie Thomas Scanlons (1998, 191), auf die auch Rawls (1998, 121 f., Fn. 2) in Politischer Liberalismus Bezug nimmt. Von daher mag es zunächst irritieren, dass Rawls in seiner Behandlung von religiösen Geltungsansprüchen dennoch öffentlich vernünftige Gründe supererogatorisch mit allgemein teilbaren Gründen gleichsetzt.

Religiöse Motive und Denkfiguren in der Philosophie von Rawls Die posthume Veröffentlichung der Abschlussarbeit (Rawls 2009/2010), die Rawls 1942 am Philosophy Department der Universität Princeton zum Abschluss seines Bachelorstudiums eingereicht hatte, zeigt, dass die politische Theorie von Rawls „im Gegensatz zu der vieler anderer Liberaler, die kaum etwas über Religion wissen, auf einem lebhaften Sinn für die Bedeutung religiösen Glaubens und einem

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Verständnis des Unterschieds zwischen überzeugter und bloß konventioneller Religion“ (Rawls 2010, 31) beruht. Der Sinn für die Bedeutung religiösen Glaubens wird von Joshua Cohen und Nagel auf die religiöse Prägung und Orientierung des jungen Rawls zurückgeführt. Auch wenn sich Rawls später dezidiert vom religiösen Glauben distanziert hat, wie der ebenfalls in dem von Nagel im gleichen Band editierte autobiographische Text „Über meine Religion“ (der vermutlich aus dem Jahre 1997 stammt) zeigt, so bleibt doch die Bachelorarbeit aus dem Jahre 1942 höchst aufschlussreich für Rekonstruktion und Verständnis der zentralen Begriffe der Rawlsschen Philosophie. Die theologische Abschlussarbeit verdeutlicht, wie der frühe Rawls im Kontext dogmengeschichtlicher und systematisch-theologischer Fragestellungen Grundstrukturen des politischen und moralphilosophischen Denkens entfaltet hat. Dies erfolgt in einer methodischen Reflektiertheit und Stringenz, die für eine solche frühe Qualifikationsschrift überaus bemerkenswert ist. Mit Blick auf die weitere Entwicklung seiner Moralphilosophie und politischen Theorie sticht der Zusammenhang der Grundbegriffe Person und Gemeinschaft heraus. Die zentrale Rolle, die Rawls in seiner Konzeption eines vernünftigen Pluralismus der Religion in der politischen Öffentlichkeit einräumt, wird offenbar motiviert und bestimmt durch die eigene religiöse Sozialisation und Orientierung, die ihm ein Bewusstsein der Bedeutung religiösen Lehren für die Bildung ethischer und politischer Überzeugungen vermittelte. Die Tatsache, dass die von Rawls in Politischer Liberalismus entwickelte Konzeption einer stabilen und vernünftigen Form einer pluralistischen Gesellschaft der Religion einen bedeutenden Ort und Einfluss im Raum der politischen Öffentlichkeit einer demokratischen Gesellschaft einräumt, wird vor diesem biographischen Hintergrund noch besser verständlich. Denn anders als stark exklusivistische Positionen, setzt Rawls die „Säkularisierung der Staatsgewalt nicht mit der Säkularisierung der Bürgergesellschaft“ (Rawls 2010, 316) gleich, soHabermas. Verglichen mit stark säkularisti-

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schen oder laizistischen Begründungen der weltanschaulichen Neutralität des demokratischen Rechtsstaats, ist Rawls’ Version des politischen Liberalismus von einer größeren konzeptionellen Offenheit und einem inneren Verständnis religiöser Überzeugungen und Lebenswelten geprägt. Auch das für Rawls zentrale Thema der Gerechtigkeit wird durch Grundbegriffe und methodische Intuitionen bestimmt, die er im Kontext theologischer Debatten entwickelt hat. Nicht zuletzt bewahrt das Thema des Glaubens in der säkular transformierten Gestalt einer rationalen Hoffnung einen zentralen Stellenwert in seiner politischen Philosophie. Rawls untersucht in seiner Abschlussarbeit ein „spezifisch christliches Problem“ (Rawls 2010, 131), nämlich das Verhältnis von Sünde und Glaube, das er „anhand des Begriffs der Gemeinschaft“ (ebd., 129) auslegt. Dies hat eine Debatte darüber ausgelöst, ob theologische Denkfiguren und dogmatische Lehrinhalte nicht nur als Inspirationsquelle und zur Schärfung des eigenen Problembewusstseins gedient haben mögen, sondern auch als begriffliche Ressourcen im gesamten Werk von Rawls in systematischer Hinsicht einflussreich gewesen sein könnten. Neben Cohen und Nagel hat auch Habermas die Frage diskutiert, ob bestimmte Akzente der Rawlsschen Konzeption von Person, Gemeinschaft und Gerechtigkeit nicht auch als säkulare Übersetzung religiöser Gehalte verstanden werden könnten (Habermas 2005). Im Prozess des Aufbaus und der Reproduktion von Gemeinschaft unterscheidet er natürliche von personalen Konzepten der Beziehung. In natürlichen Beziehungen werden andere Personen wie Objekte behandelt, als Gegenstand der Begierde oder des Interesses. In personalen Beziehungen werden sie in ihrer Eigenständigkeit geachtet. Die Unterscheidung zwischen personalen und natürlichen Beziehungen dient dem jungen Rawls vor allem der Kritik an theologischen Auffassungen von Sünde und Glaube, die er für fragwürdig hält. So führe die theologische Auffassung, die Gott als das höchste erstrebenswertes Gut ansieht, zu einer Konzeptualisierung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch im Sinne einer

T. M. Schmidt und M. Roseneck

natürlichen Beziehung. Gott werde auf diese Weise als ein Objekt betrachtet, nicht als eine Person, die sich offenbart und mitteilt. Mit dieser Verfehlung des personalen Charakters Gottes und seines Verhältnisses zum Menschen würden auch die zwischenmenschlichen Beziehungen unsachgemäß verstanden, nämlich nicht als personale Relationen, die echte Gemeinschaft stiften. Damit werde in theologischer Hinsicht das Wesen der Sünde falsch verstanden; denn diese bestehe nicht in einem natürlichen Begehren falscher Güter, sondern in der Geltungssucht selbstbezüglicher Menschen, die sich auf diese Weise von der Gemeinschaft ausschließen und nur ein äußerliches und instrumentelles Verhältnis zu ihren Mitmenschen eingehen. Damit werde zugleich das Wesen des Glaubens missverstanden, dessen Ziel in der Überwindung der Sünde besteht. Erlösende Wirkung habe der religiöse Glaube nicht als Fürwahrhalten von Sätzen oder in Gestalt einer mystischen Sehnsucht nach Vereinigung mit dem göttlichen Objekt, sondern in der versöhnenden Wiederherstellung echter personaler Beziehung und Gemeinschaft, die durch die selbstsüchtige Sünde zerstört wurde. Die Kritik theologischer Ansätze durch den jungen Rawls hat weitreichende metaethische Folgen, die auch für die Grundbegriffe seiner ausgearbeiteten der Moralphilosophie und politischen Theorie bedeutsam geblieben sind, auch wenn sich Rawls durch persönliche Erlebnisse während der Kriegsjahre zunehmend vom Christentum entfremdet und schließlich ganz von ihm abgewendet hat. Cohen und Nagel haben in ihrem ausführlichen Kommentar die Auffassung vertreten, dass „die moralischen und sozialen Überzeugungen, die in der Abschlussarbeit in religiöser Form Ausdruck finden, auf komplexe und erhellende Weise mit den zentralen Ideen von Rawls’ späteren Schriften über Moraltheorie und Politische Philosophie verbunden“ (Rawls 2010, 15) sind. Zu den bleibenden Grundbegriffen und Einsichten, die Rawls in der Auseinandersetzung mit der theologischen Denkform gewonnen hat, gehört in besonderer Weise die Skepsis gegenüber einer politischen Anthropologie, welche die Bildungsprozesse von Gesellschaft entweder als Mechanismen

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zur Abwehr von Furcht oder Ausdruck des aufgeklärten Eigeninteresses verstehen. Dies schließt ausdrücklich die Kritik an der philosophischen Idee des Gesellschaftsvertrages ein. Besonders auffällig ist Rawls’ stark kritische Haltung gegenüber ethischen Theorien, die den Begriff des Guten zur zentralen Kategorie erheben. In seiner Abschlussarbeit bezeichnet er das Konzept des guten Lebens als eine „abscheuliche Phrase“ (Rawls 2010, 193). Anstelle der Idee des Guten plädiert Rawls für das Prinzip der Gerechtigkeit als Fairness und die damit verbundenen Vorstellungen einer Gemeinschaft, die auf reziproker Achtung gegenüber der gleichen personalen Würde beruhen. Diese Auffassungen, die Rawls zunächst im Kontext theologischer Debatten und vor dem Hintergrund seiner frühen religiösen Haltung entwickelt und artikuliert hat, prägen die Kernbegriffe seiner reifen Moralphilosophie und politischen Theorie.

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Schleier des Nichtwissens/der Unwissenheit

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Tim Fritjof Huttel

Aus gutem Grund ist der Schleier des Nichtwissens das populärste Element von John Rawls’ Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness. Mit der Gerechtigkeit geht es Rawls um Prinzipien, auf die Bürgerinnen sich in der Rechtfertigung oder Kritik ihrer Ansprüche stützen können. Diese Prinzipien will er durch die Wahl in seiner hypothetischen Vertragssituation ermitteln, in der dem Schleier die Aufgabe zufällt, die beteiligten rationalen Parteien in ein faires Verhältnis zueinander zu setzen. Er enthält ihnen hierzu Wissen um partikulare Merkmale vor, die sie bei ihrer Wahl zu ihrem eigenen Vorteil berücksichtigen könnten, die aber untauglich sind, Ansprüche zu rechtfertigen oder gerechtfertigt abzuweisen. Werden die Prinzipien dagegen aus einer fairen Position heraus gewählt, schließen sie alle Verteilungen von Gütern bzw. entsprechende Ansprüche aus, die sich gegenüber den jeweils Schlechtestgestellten nicht rechtfertigen lassen. Da das Verfahren durch den Schleier fair ist, d. h. niemand Grund hat, sich zu beschweren, sind die Prinzipien, die aus ihm hervorgehen, gerecht, so der Grundgedanke von ‚Gerechtigkeit als Fairness‘. Die Vorstellung, gerechte Urteile seien ‚ohne Ansehen der Person‘ zu treffen, ist geläufig. So mag die Augenbinde der Justitia als ikonische

T. F. Huttel (*)  Universität Rostock, Rostock, Deutschland E-Mail: [email protected]

Vorläuferin des Schleiers gelten. Doch führt die Parallele schnell an der Pointe des Schleiers vorbei. Denn Rawls’ Innovation besteht in der radikalen Anwendung methodischen Nichtwissens. Halten wir uns in einem konkreten Urteilsfall unparteilich an eine Regel, ist unser Urteil zwar formal gerecht. Im Fall parteilicher Regeln ist Regeltreue aber nicht hinreichend, um über die Ansprüche von Mitbürgern angemessen zu befinden. Daher beschränkt Rawls’ Schleier das Wissen gerade bei der Wahl der ersten Prinzipien, die für alle Regeln innerhalb der sozialen Grundstruktur maßgebend sind. Durch den Schleier des Nichtwissens „verkörpert der Urzustand […] reine Verfahrensgerechtigkeit auf der höchsten Stufe“ (Rawls 1994, 91).

Die Suche nach dem moralischen Standpunkt Das Grundproblem, auf das der Schleier Antwort gibt, ist das der Parteilichkeit. Wo Streit entbrennt, was die gerechte Verteilung ist, d. h. wer Anspruch auf was hat, scheitern die Versuche, ihn beizulegen, oft an der Pluralität plausibler Regeln. Sie geben mal dieser, mal jener Partei den Vortritt. So findet zwar jede Regel ihre Fürsprecherinnen, doch ohne allgemein akzeptables Kriterium für die Richtigkeit bzw. den Vorrang einer Regel stehen diese sich nur umso vehementer gegenüber. Methodisch beschäftigt

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_51

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dieses Problem der Parteilichkeit Rawls seit seinen Graduiertenjahren und er erprobt und verwirft einige gängige Lösungen, bevor er den Schleier der Unwissenheit einführt. In seiner Dissertation beginnt Rawls 1950, eine Methode zur rationalen Beurteilung der Gültigkeit moralischer Prinzipien zu entwickeln. Er geht davon aus, vernünftige Personen urteilten intuitiv gleich. Die gesuchten, gültigen Prinzipien seien die, die bewusst angewandt eben jene Urteile hervorbringen würden. Da der einstimmigen Vernünftigkeit aber faktisch stets die Parteilichkeit der Neigungen in die Quere kommt, erwägt Rawls in einem ersten Lösungsversuch, ob diese eher durch Unterdrückung oder Befriedigung neutralisiert werden sollten. Beides droht jedoch das Urteil zu verzerren (vgl. Mandle 2014). Deshalb folgt er in einem zweiten Anlauf 1951 dem Ansatz des idealen Beobachters und setzt schlichtweg Urteilende voraus, die neben Intelligenz, Wissen und Vernünftigkeit über die Fähigkeit verfügen, die Bedürfnisse anderer unparteilich in ihrer Intensität nachzuempfinden und so vorrangige Anliegen zu ermitteln (vgl. Rawls 1999, 2 f.). Im Urteil solcher Beobachter, so der Gedanke, seien die Prinzipien der Gerechtigkeit zu finden. Doch auch diesen Ansatz verwirft Rawls. Durch die Spieltheorie stößt er auf die Ursituation, die er ab dem Artikel Justice as Fairness von 1958 (vgl. Rawls 1999, Kap. 3) dem idealen Beobachter entgegenhält. Für die Abkehr lassen sich zumindest zwei Gründe nennen. Zum einen folgt Rawls nun einer anderen moraltheoretischen Tradition. Dem Utilitarismus, dem er den idealen Beobachter später zuordnet (vgl. Rawls 1999, 173), lastet er ab 1958 an, die Pluralität von Personen zu übergehen und im Zweifelsfall die Rechte der einen mit dem Nutzen der anderen zu verrechnen, was grundlegenden moralischen Überzeugungen widerspricht. Hingegen greift er mit der Ursituation den normativen Grundgedanken der Theorien des Gesellschaftsvertrags auf, laut dem als Prinzipien der Gerechtigkeit nur solche in Frage kommen, auf die sich die ihnen Unterworfenen durch einen freien Vertrag hätten einigen können. Daneben gibt Rawls den idealen Beobachter

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auch aus technischen Gründen auf (vgl. Rawls 1979, § 30). Die idealen Merkmale des Beobachters bleiben, wie Rawls feststellt, zu unterbestimmt, um zu deduzieren, wie dieser denn urteilen würde (vgl. Rawls 1979, 212, Fn. 34). Eben eine solche Deduktion soll die Ursituation leisten (vgl. Rawls 1979, 59, 211–214). Deshalb siedelt Rawls seine Übereinkunft in jenem hypothetischen Urzustand an, dessen ideale Bedingungen so fair, allgemein und zwingend modelliert sind, dass sich nicht nur dem Begriff reiner prozeduraler Gerechtigkeit folgend behaupten lässt, die Parteien wählten gültige Prinzipien der Gerechtigkeit, sondern auch welche dies sind: Rawls’ zwei Prinzipien der Gerechtigkeit.

Der Schleier und die Deduktion der Wahl im Urzustand In den anfänglichen Entwürfen nimmt Rawls noch an, seine zwei Prinzipien allein auf das Argument stützen zu können, dass rationale Akteurinnen, die wir uns aus Gründen der Fairness in einem Urzustand platziert denken, sie aus bloßem Kalkül allen anderen Prinzipien vorziehen würden. Einen Schleier des Nichtwissens gibt es hier noch nicht. In Justice as Fairness (Rawls 1999, Kap. 3) beschränkt sich das Unwissen der Parteien noch natürlich auf all ihre künftigen Lagen nach Inkrafttreten der Prinzipien. Sie wissen bei der Wahl nicht, wie sich ein Prinzip auf ihre Interessen auswirken wird. Doch nimmt Rawls hier noch irrig an, dies würde rationale Akteure dazu veranlassen, alle Prinzipien aus der Position der durch sie Schlechtestgestellten zu beurteilen, da diese Position ihnen schließlich selbst zufallen könnte. Doch solange die Akteurinnen um ihre eigenen Positionen und Talente wissen, haben sie Anhaltspunkt und Grund, auf ihre spätere Position zu wetten und Regeln zu wählen, die ihrem Vorteil wahrscheinlich dienen. Eben dieses Wissen schließt er deshalb 1963 in The Sense of Justice aus (Rawls 1999, 113). 1968 benennt Rawls diese Einschränkung erstmals als „veil of ignorance“ (ebd., 155). Ist dieser anfangs noch dünn konzipiert, wird Rawls ihn 1969 noch verdichten (vgl. ebd., 178)

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und ihm so die Gestalt geben, die er 1971 in A Theory of Justice schließlich hat. Von welchem Wissen schließt der Schleier nun die rationalen Parteien aus? Zunächst alles Wissen um Einzeltatsachen, die den Akteur direkt betreffen und ihm erlauben, auf seine besonderen Chancen zu schließen, durch ein Prinzip begünstigt zu werden. Im Falle des dünnen Schleiers wissen die Parteien nichts von ihrem Status, ihrer Klasse, von Geschlecht oder Hautfarbe usw. Sie wissen auch nichts von ihren ‚natürlichen Gaben‘ (Talent, Kraft), ihrer Konzeption des Guten (Lebensentwürfen, Glauben) oder den Besonderheiten ihrer Psyche, insbesondere ihrer Risikoaffinität. Was der dichte Schleier, der in A Theory of Justice zu finden ist, zudem ausschließt, ist das Wissen um die Sozialstruktur, für die die Parteien die Prinzipien wählen. Wüssten sie etwa, dass die übergroße Mehrheit der Religion A angehört, würden sie Prinzipien zustimmen, die diese bevorzugt, weil die Chancen gut stehen, selbst zu ihren Anhängern zu gehören (vgl. Freeman 2007). Mit der Unkenntnis um politische und sozioökonomische Verhältnisse und generationale Zugehörigkeit (vgl. Rawls 1979, 160) ist auch dies ausgeschlossen (vgl. ebd., 178). Daneben gibt Rawls den Parteien aber auch eigenes Wissen mit. Hierzu zählt zunächst ein Wissen um den Wert der Grundgüter. Sie werden anfangs zur Lösung eines Problems eingeführt, das der Schleier erst aufgeworfen hatte. Denn wenn die Parteien nicht wissen, was das für sie Gute ist, hat ihre Wahl keine Richtung und kann mithin auch nicht rational sein. Grundgüter sollen nun Güter sein, die alle in einer modernen Gesellschaft wollen, egal, was sie sonst noch wollen. Hierzu zählen Freiheiten, Ämter, Vermögen und Einkommen sowie die sozialen Grundlagen der Selbstachtung. An einem Index dieser Güter treffen die Parteien ihre Wahl. Daneben wissen sie um die Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit. So wissen die Parteien, dass es Knappheit und deshalb Konkurrenz gibt, Kooperation sich aber unter fairen Bedingungen lohnt und Menschen prinzipiell einen Gerechtigkeitssinn haben, an den sich appellieren lässt, weshalb es überhaupt zweckmäßig ist, Machtmittel zugunsten

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von Gerechtigkeit zu vernachlässigen (vgl. Rawls 1979, 168). Schließlich verfügen die Parteien noch über allgemeines Wissen aus Sozialwissenschaft und Moralpsychologie, „keine allgemeinen Tatsachen sind ihnen verborgen“ (ebd., 165). Worauf stützt Rawls seinen Anspruch, rationale Parteien würden unter fairen Bedingungen, die sein Schleier des Nichtwissens verkörpert, ausgerechnet seine zwei Prinzipien wählen? Durch das Verbergen der Einzeltatsachen vereinheitlicht der Schleier die Parteien, sodass es keinen Unterschied macht, wer wählt: Alle Parteien würden stets die gleichen Prinzipien wählen, weil die Wahl stets den gleichen Bedingungen folgt (vgl. Rawls 1979, 162). Da sie alle Prinzipien nach der Verteilung, die aus ihnen folgen würde, rational beurteilen, sie aber nicht wissen, welche Verteilung zu ihrem je eigenen Vorteil wäre und sie kein Motiv haben, Nachteile zu riskieren, wählen sie die Prinzipien der Maximin-Regel folgend, die für den worst case das beste Ergebnis absichert. Anders ausgedrückt beurteilen sie alle Prinzipien aus Perspektive der durch sie Schlechtestgestellten. Anstatt sich in „hoffnungslos verwickelt[e]“ (Rawls 1979, 164) Verhandlungen zu begeben, würden sie „einstimmig“ (ebd.) für die Gleichverteilung der Grundgüter plädieren. Die Freiheiten würden sie aber allem überordnen, weil sie von ihren jeweiligen Konzeptionen des Guten, also ihren Wertschätzungen keine Ahnung haben und keinen Grund sehen, sich auf sie festzulegen (vgl. Rawls 1979, 176). Dieser lexikalische Vorrang des Freiheitsprinzips beugt auch dem Fall vor, dass es gerecht erscheinen könnte, wenn eine Gruppe von Bürgerinnen Freiheiten aufgeben müsste, um Güter zu sichern, mit denen sie schlechter ausgestattet sind (vgl. Freeman 2007, 156). Sofern aber die wirtschaftliche Organisation Ungleichheiten, etwa als Anreizstruktur vorteilhaft erscheinen lässt, gibt es für die Parteien hinter dem Schleier keinen Grund an einer Gleichverteilung festzuhalten. Sie würden ein Prinzip wählen, das Ungleichheiten unter die Bedingung fairer Chancengleichheit stellt, und sie in genau dem Maße rechtfertigt, in dem die Schlechtestgestellten von diesen Ungleichheiten profitieren. Dies ist das Differenzprinzip.

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Vier-Stufen-Gang: Von den Prinzipien zur gerechten sozialen Grundstruktur

Die Kritik und Rechtfertigung des Schleiers des Nichtwissens

Rawls’ Prinzipien sind in ihrer Allgemeinheit allerdings zu unterbestimmt, um die Grundsätze einer gerechten Gesellschaft zu sein. Deshalb entwickelt er die Idee des Vier-Stufen-Gangs, in dem sich der Schleier, der die konkreten sozialen Umstände verbirgt, in drei Schritten lüftet. Indem wir uns als Bürger für verschiedene Fragestellungen in jeweils anders wissensbeschränkte Parteien hineindenken, hilft das Verfahren, die Prinzipien auf die Grundstruktur der jeweiligen Gesellschaft hin zu konkretisieren. Für die gerechte Regelung ihrer Verhältnisse verständigen sich die Parteien, indem sie sich nur solcher Prämissen und Maßstäbe bedienen, die für alle akzeptabel sind, und sie den jeweils zuvor getroffenen Regeln die Treue halten. Darin setzen sie die Vorrangregeln um, die das Verhältnis der Prinzipien untereinander regeln. So geben sich die Parteien auf der zweiten Stufe eine Verfassung. Diese muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit genügen und bedingt selbst dann alles weitere. Gemäß dem Vorrang des Prinzips gleicher Grundfreiheiten ist ihr Ziel, die Grundrechte und die Befugnisse der Regierung zu bestimmen. Um die „gangbarste gerechte Verfassung zu wählen“ (Rawls 1979, 225), brauchen die Parteien empirisches Wissen von ihrer Gesellschaft, das deren Geschichte, Entwicklungsstand, Ressourcen und politische Kultur betrifft (vgl. Rawls 1979, 225 f.). Dem folgt die Gesetzgebung auf der dritten Stufe, die es mit der Umsetzung des Differenzprinzips zu tun hat. Als Gesetzgeber beraten die Parteien also darüber, welche Gesetze geeignet sind, um faire Chancengleichheit und rechtfertigbare Ungleichheit zu sichern. Hierzu dürfen sie allgemeine wirtschaftliche und soziale Tatsachen heranziehen und wissen um die Unterschiede und Hierarchien, die das Wirtschaften bedingen (vgl. Rawls 1979, 227). Auf der vierten Stufe, der von Judikative, Verwaltung und zivilem (Un-)Gehorsam, wird für die Anwendung der ausbuchstabierten Prinzipien der Schleier schließlich vollständig gelüftet und gibt auch Einzeltatsachen wie die eigene soziale Position bekannt (vgl. Rawls 1979, 228).

Die Rechtfertigung normativer Prinzipien durch ihre Rückführung auf die rationale Übereinkunft, wie sie von Thomas Hobbes etabliert wurde, besticht in ihrem Verzicht auf moralische Voraussetzungen. So sahen manche Interpretinnen auch durch Formulierungen, die Rawls später bedauerte, nahegelegt, seine zwei Prinzipien seien als beste universale Antwort rationaler Akteure auf Verteilungsprobleme zu verstehen (vgl. Rawls 1999, 401, Fn. 20). Gegenüber dieser Suggestion schien nun gerade der Schleier des Nichtwissens ungebührlich voraussetzungsreich. Es fiel auf, dass er ‚geschneidert‘, also künstlich auf die zwei Prinzipien hingelenkt war (vgl. Williams 2015; O’Neill 1989). Er lässt in der Wahl nicht zufällig normativ gehaltvolle Annahmen wirksam werden. Rawls’ Modell erschien so als bloßes Vehikel einer „deep theory“, die unartikuliert im Hintergrund stand und in deren Mittelpunkt ein gleiches Recht auf Berücksichtigung (Dworkin 1973) postuliert wurde. Schließlich wurden die Dichte des Schleiers und die mit ihm verbundenen Annahmen wiederholt problematisiert. Rawls hatte jedoch nie eine bloß rationale Wahl im Sinn. Den Kontraktualismus begreift er von Anfang an moraltheoretisch. Wenn dieser eine hypothetische Vertragssituation aufsucht, um Fragen der Rechtfertigung zu klären, interessieren ihn deren idealisierte, unparteiliche Aspekte. Durch sie erhalten die Prinzipien des fiktiven Vertrags erst das moralische Gewicht, das ein realer Vertrag nie haben könnte. Deshalb betrachtet Rawls auch seine Wissensbeschränkung als implizit in der Theorie des Gesellschaftsvertrags angelegt (vgl. Rawls 1999, 178) und beschreibt das Verfahren, in dem er sie anwendet, als Verkörperung jener Einschränkungen, die uns Moralität auferlegt (vgl. Rawls 1999, 54; 201 f.). Tatsächlich waren die zwei Prinzipien Rawls werkgeschichtlich bekannt, bevor er wusste, unter welchen Bedingungen sie gewählt würden. Doch dies ist gerade Teil seiner Methode, die mithilfe eines „hin und her“ (Rawls 1979, 38) die Konstruktion des Urzustands,

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unsere Urteile, Prinzipien und Hintergrundtheorien in ein Überlegungsgleichgewicht bringen soll (vgl. Daniels 1996). Mit dem Vorwurf, die Ursituation über den Schleier in ungebührlicher Weise zu moralisieren, gerät Rawls in den Verdacht der Tautologie, der die Theorien des Gesellschaftsvertrags allgemein umgibt (vgl. Kersting 1994). Wenn diese Prinzipien validieren, indem sie aufzeigen, dass sie in einer Situation, die sie sich eigens hierfür ausdenken, in freier Übereinkunft hätten gewählt werden können, scheinen sie sich zu sehr von den unabhängigen Kriterien zu lösen, die eine vernünftige Diskussion verlangt. Doch Rawls’ Anspruch, der Schleier sei vernünftig, meint gerade, er verkörpere die Einschränkungen der Wahl, die wir angesichts ihres Gegenstands auf Basis unserer Überzeugungen für angemessen hielten. Die Vergegenwärtigung dieses praktischen Zwecks der Konstruktion hilft, „not to get too caught up in the fiction“ (Freeman 2007, 159). Rawls arbeitet ihn deutlicher in Repliken auf Kritikerinnen aus. Der Utilitarist John C. Harsanyi hatte die im Effekt egalitäre Maximin-Entscheidungsregel, die im Urzustand durch die Einführung des dichten Schleiers nötig wird, anhand von Alltagsbeispielen als unvernünftig risikoavers angegriffen (Harsayni 1975). Rawls gesteht nach der Auflistung einer Reihe guter technischer Gründe, die aber nicht zwingend sind, ein, letztlich gehe es um die Achtung vor der ‚freien Person‘ (vgl. Rawls 1999, Kap. 11), die in ihrem Vermögen, Ziele zu setzen und zu revidieren, gerade dort zu berücksichtigen sei, wo wir Prinzipien für die Regulierung der sozialen Grundstruktur wählten, die für das Leben der Bürger besonders folgenreich ist (vgl. ebd., Kap. 12–13). In Reaktion auf die Kritik pointiert Rawls seine normativen Vorannahmen stärker, wodurch er den Anspruch, es handele sich um unsere Vorannahmen, überreizt. Der dichte Schleier sollte anfangs nur negativ die Aspekte an Personen ausschließen, die bei der Wahl die Unparteilichkeit der Prinzipien gefährden. Dies scheint zumindest weniger problematisch. Nun arbeitet Rawls aber seine kantische Interpretation (Rawls 1979, § 40) aus, nach der der dichte Schleier

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die Menschen als Freie, Gleiche, Vernünftige und Rationale darstellt und so auch positiv die Eigenschaften hervorhebt, „um derentwillen sie gemäß den Gerechtigkeitsgrundsätzen zu behandeln sind“ (ebd., 547). Der Schleier isoliert die moralische Natur des Menschen. Diese Entwicklung findet in Kantian Constructivism in Moral Theory 1980 ihren Höhepunkt. Um zu wissen, was es heißt, einander als Freie und Gleiche zu behandeln, sind Freiheit und Gleichheit zu umstrittene Begriffe. Der Schleier erlaubt jedoch, Freie und Gleiche rational und vernünftig zu modellieren, um sie in der Ursituation die Prinzipien, die eine angemessene Deutung artikulieren, selbst wählen zu lassen. Wo wir uns nur auf Gründe berufen, die in Einklang stehen mit Prinzipien, die diesem Modell entspringen könnten, verwirklichen wir nach Rawls das Ideal dieser Bürgerinnen der wohlgeordneten Gesellschaft. In dieser Grundvorstellung des kantischen Konstruktivismus fällt dem Schleier nicht nur die Aufgabe zu, Unparteilichkeit zu schaffen, sondern von allem zu abstrahieren, was an Bürgern nicht Freiheit und Gleichheit und darum moralisch unerheblich ist (vgl. Rawls 1999, Kap. 16). Bezogen auf diese Prominenz der ‚freien Person‘ legte Michael Sandel 1982 die wohl folgenreichste Kritik vor. Für ihn ist der Schleier des Nichtwissens selbst keineswegs unparteilich, sondern drückt gerade das partikulare liberale Bild des ungebundenen Selbst aus. Indem der Schleier alle Wertbindungen für die Wahl erster Prinzipien ausblende, setze er das Selbst vor diese und drücke sie auf das Niveau moralisch unerheblicher Präferenzen herab, wogegen die Kommunitaristen noch lange Zeit anschreiben sollten (vgl. hierzu Kukhatas/Pettit 1995). Ähnlich wurde von feministischer Seite moniert, die fiktive Symmetrie im Nichtwissen verdecke die Asymmetrie realer Geschlechter- und Care-Beziehungen, die infolge nicht durch die Prinzipien der Gerechtigkeit korrigiert würden (vgl. Frühbauer 2007, 104 f.). Diese Einwände weist Rawls in seiner Spätphase mit Verweis auf die neuakzentuierte praktische Funktion seines Arguments aus dem Urzustand zurück. Ihm ginge es um jene Ansprüche, die wir angesichts

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inkompatibler ‚umfassender Lehren‘ öffentlich voreinander rechtfertigen und uns darin politisch als Freie und Gleiche achten können. Kommunitäre Werte bzw. solche, die den Eingriff in die Familie erlaubten, kommen als Basis der ‚öffentlichen Vernunft‘ nicht in Frage (vgl. Rawls 1999, Kap. 18, 26). In der ‚politischen‘ Deutung abstrahiert der Schleier von umfassenden Lehren. Damit bietet sich Rawls auch die Gelegenheit den universalen Anspruch seiner Konzeption zu erneuern, indem er sie anpasst und auf die internationale Ebene erweitert (vgl. Rawls 1999, Kap. 24). Die jüngsten Kritiken werfen nun die Frage auf, ob Rawls berechtigt das Politische für sich beansprucht, oder ob sein Schleier des Nichtwissens nicht auf eine Idealtheorie verpflichtet, die der Realität, mit der sich Politik zu befassen hat, niemals gerecht wird (vgl. hierzu Freeman 2019).

Literatur Daniels, Norman: Justice and justification. Reflective equlibrium in theory and practice. Cambridge 1996. Dworkin, Ronald: „The original position“. The University of Chicago Law Review 40/3 (1973), 500–533.

T. F. Huttel Freeman, Samuel: Rawls. London/New York 2007. Freeman, Samuel, “Original position”. In: The Stanford encyclopedia of philosophy (Summer 2019 Edition), Edward N. Zalta (Hg.). https://plato.stanford.edu/archives/sum2019/entries/original-position/. Frühbauer, Johannes J.: John Rawls’ ‘Theorie der Gerechtigkeit’. Darmstadt 2007. Harsanyi, John C. „Can the maximin principle serve as a basis for morality? A critique of John Rawls’s theory“. American Political Science Review 69/2 (1975), 594–606. Kersting, Wolfgang: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt 1994. Kukathas, Chandran/Pettit, Philip: Rawls. A theory of justice and its critics. Stanford 1995. Mandle, Jon: The choice from the original position. In: Ders./David Reidy (Hg.): A companion to Rawls. Malden 2014, 128–143. O’Neill, Onora: Constructivisms in ethics. In: Onora O’Neill: Constructions of Reason: Explorations of Kant’s Practical Philosophy. Cambridge 1989, 206– 218. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1979 (engl. 1971). Rawls, John: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Hg. Wilfried Hinsch. Frankfurt a. M. 1994. Rawls, John: Collected Papers. Hg. Samuel Freeman. Cambridge, MA. 1999. Williams, Bernard: “A Theory of Justice, by John Rawls”. In: Bernard Williams. Essays and Reviews 1959–2002. Princeton/Oxford. 2015, S. 82–87.

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Die Forderung nach Toleranz gewann im 16. und 17. Jahrhundert durch die religiösen Auseinandersetzungen zwischen Katholik*innen und Protestant*innen besondere Bedeutung: In dem Bemühen, die Sorge um das ewige Heil des Menschen mit einem richtigen Umgang mit ‚Andersgläubigen‘ und ‚Ungläubigen‘ zu verbinden, entwickelten Theoretiker wie Nikolaus von Kues, Erasmus von Rotterdam, Sebastian Franck, Sebastian Castellio und Jean Bodin erste umfassendere theoretische Entwürfe von Toleranz in Glaubensfragen. Als dann im 17. Jahrhundert in den Niederlanden liberalere Positionen mehr und mehr unter Druck gerieten, als in Frankreich Ludwig der XIV. das Edikt von Nantes durch das Edikt von Fontainebleau mit verheerenden Folgen für die Protestant*innen außer Kraft setzte und in England zwischen Anglikaner*innen, Katholik*innen und Non-Konformist*innen um die politische Herrschaft gekämpft wurde, haben Philosophen wie Baruch de Spinoza, Pierre Bayle und John Locke bis heute aktuelle Toleranzbegründungen vorgelegt. Zahlreiche Philosoph*innen des 18. Jahrhunderts knüpften hieran an, indem sie für einen säkularen Staat und das Recht auf Gewissens-

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freiheit plädierten (vgl. zur Geschichte von Toleranz, Forst 2000, 10–16; ders. 2003). Besonders anschaulich findet sich die Grundidee der Toleranz in der von G. E. Lessing in seinem Theaterstück Nathan der Weise aufgegriffenen Ringparabel: Da niemand wissen kann, wer die wahre Religion hat, auch wenn alle Konfessionen das für sich beanspruchen, sind Anhänger*innen anderer Religionen zu tolerieren. Heute ist Toleranz über den Kontext religiöser Differenzen hinaus ein Kennzeichen pluralistischer Gesellschaften, in denen ihre Bürger*innen akzeptieren, dass Menschen unterschiedliche Auffassungen vom Guten gleichermaßen berechtigt vertreten. Das Problem, wie Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen vom guten Leben in pluralistischen Gesellschaften dennoch friedlich miteinander leben können, bildet auch die Grundlage für John Rawls’ Konzeption von Toleranz, wie er sie zunächst in seiner Theorie der Gerechtigkeit skizziert und dann vor allem in seiner Schrift Politischer Liberalismus weiterentwickelt und in Das Recht der Völker auf den transnationalen Kontext ausgeweitet hat. Rawls beschreibt Toleranz als eine Tugend, die sich aus den Prinzipien der Gerechtigkeit ergibt und für den politischen Liberalismus seit seinen Anfängen im 17. Jahrhundert konstitutiv ist: Während die Forderung der Toleranz historisch zunächst als Antwort auf die Frage, wie Menschen mit verschiedenen Religionen ­ friedlich

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_52

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zusammenleben können, diente, erweitert Rawls den Anwendungsbereich und fragt, wie Menschen generell trotz unterschiedlicher Auffassungen von Moral, Metaphysik und Religion friedlich zusammenleben können. Dabei bewertet er die für moderne Gesellschaften charakteristische Diversität weder als gut noch als schlecht. Vielmehr handelt es sich für ihn um eine Tatsache, der er mit seiner Toleranzkonzeption Rechnung tragen will. Toleranz basiert für ihn auf der Idee, dass vernünftige Menschen darin übereinstimmen sollten, unterschiedliche Vorstellungen von gutem Leben und dem Wert privater Entscheidungen zu haben, die sich nicht vernünftig auflösen lassen. Gleichwohl ist seine Position nicht relativistisch zu nennen, denn für die Grundstruktur einer wohlgeordneten demokratischen Gesellschaft hält Rawls die Idee eines vernünftig zu erzielenden überlappenden Konsensus (Rawls 2003a, 80 f.) zwischen Bürger*innen für unerlässlich, auch wenn sie sich verschiedenen ethisch dichten umfassenden Lehren verpflichtet sehen. In seiner Theorie der Gerechtigkeit behandelt Rawls (vor allem in den §§ 34 und 35) die Frage der Toleranz mit Blick auf die allen Bürger*innen zu gewährende Gewissensfreiheit. Dass diese in der Verfassung eines Staates zu garantieren ist, folgt für Rawls aus dem seiner Gerechtigkeitstheorie zugrundeliegenden ‚Grundsatz der gleichen Freiheit‘. Diesem würden alle Bürger*innen in dem von Rawls in Form eines Gedankenexperiments hypothetisch angenommenen ‚Urzustand‘ zustimmen und dieses Prinzip dürfe nur eingeschränkt werden, um eine „größere[…] Ungerechtigkeit, eine[n] größeren Freiheitsverlust[…]“ zu vermeiden (Rawls 2005, 244) oder wenn sich aus ihr „eine wesentliche Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt“ (ebd.). Entsprechend habe die Regierung eines wohlgeordneten Staates die Pflicht, allen Bürger*innen die gleichen moralischen und religiösen Freiheiten zu garantieren (Rawls 2005, 242), während der Staat selbst in diesen Fragen neutral bleiben müsse (dazu ausführlich: Larmore 1995, Kap. 3; 1996, Abschn. 6.1; Meyerson 2012, 40– 44) und diese Freiheiten nur dann einschränken dürfe, wenn sie das allen Bürger*innen „ge-

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meinsame Interesse an öffentlicher Ordnung und Sicherheit“ gefährden (Rawls 2005, 241). Im § 35 bestimmt Rawls Grenzen der Toleranz und fragt, „ob die Gerechtigkeit die Toleranz gegenüber der Intoleranz verlangt, und wenn ja, unter welchen Bedingungen“ (ebd., 246). Wichtig sei es, zu unterscheiden zwischen dem vermeintlichen Recht einer intoleranten Sekte, „sich zu beklagen, wenn sie nicht toleriert wird“, sowie den Bedingungen, unter denen „tolerante Sekten das Recht [haben], intolerante nicht zu dulden“, also der Frage der legitimen Grenzen der Toleranz, und der Frage, „zu welchen Zwecken [tolerante Sekten dieses Recht] in Anspruch nehmen“ dürfen, das heißt der Frage, ob es Gründe geben kann, auch jenseits der legitimen Grenzen von Toleranz noch tolerant zu sein (ebd.). Rawls betont, das Problem der friedlichen Koexistenz von Menschen unterschiedlichen Glaubens in einer gerechten Gesellschaft lasse sich nicht mit Verweis auf das Gebot lösen, dass „Gottes Wille erfüllt und die Wahrheit anerkannt werden soll“ (ebd., 247). Denn damit jemand oder eine Institution anderen einen bestimmten Glauben oder Weltauffassung vorschreiben könne bzw. das Recht habe, „in [deren] Auffassungen über ihre religiösen Verpflichtungen einzugreifen“ (ebd.), müsste entschieden werden können, welche moralischen oder religiösen Vorstellungen die wahren sind. Da es Menschen aber verwehrt ist, sicher zu erkennen, ob ihre eigenen Urteile über das Gute im menschlichen Leben objektiv wahr sind, sei hier Toleranz geboten. Doch endet Toleranz dort, wo andere selbst nicht tolerant sind? Grundsätzlich, so erklärt Rawls, dürfe „die Freiheit der Intoleranten“ begrenzt werden, denn auch die Intoleranten würden in dem von Rawls hypothetisch angenommenen Urzustand dem einer gerechten Verfassung zugrundeliegenden Prinzip der gleichen Freiheit für alle zustimmen, auf dem das Gebot der Toleranz gründe (ebd., 250). Auf pragmatischer Ebene sei dies allerdings noch keine hinreichende Begründung. Erst wenn deren Intoleranz „die eigene Freiheit“ und damit „die Freiheit selbst“ oder andere „eigene[…]

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berechtigte[…] Interessen […] erheblich“ (ebd., 248, ohne hier allerdings ein Maß für die Bemessung von ‚erheblich‘ anzugeben) gefährde, sei es erlaubt, Intoleranten gegenüber intolerant zu sein und ihre Freiheit einzuschränken. Diese Grenzziehung trägt dem der Toleranz übergeordneten Ziel des friedlichen und stabilen Zusammenlebens in einer wohlgeordneten Gesellschaft Rechnung. Noch ausführlicher entwickelt Rawls seine Konzeption von Toleranz vor allem in seiner aus einer Reihe von Vorlesungen hervorgegangenen späteren Schrift Politischer Liberalismus. Er geht davon aus, dass die Grundsätze der Gerechtigkeit politische und nicht moralische Prinzipien seien (zur Kritik daran vgl. etwa Larmore 2008, 146–153). Denn weil Menschen einer Gesellschaft unterschiedliche moralische Prinzipien vertreten könnten, müssten sie sich politisch auf die ihrer Gesellschaft zugrundeliegenden Gerechtigkeitsprinzipien einigen. Mit Verweis auf die Religionskriege im Europa des 16. und 17. Jahrhundert, in denen der politische Liberalismus seine Wurzeln habe, macht Rawls geltend, dass die Menschen damals zwar überzeugt waren, das Wesen des höchsten Gutes sowie die Grundlage moralischer Verpflichtung richtig zu erkennen, andererseits aber feststellen mussten, dass Menschen anderen Glaubens diese Fragen mit derselben Gewissheit anders beantworteten. Daraus ergibt sich für Rawls das Grundproblem des politischen Liberalismus, nämlich wie eine gerechte Gesellschaft freier und gleicher Bürger*innen dauerhaft bestehen kann, auch wenn sie durch vernünftige, aber miteinander nicht zu vereinbarende umfassende religiöse, philosophische oder moralische Lehren gespalten ist. Während für die Menschen der frühen Neuzeit die Tatsache der bestehenden religiösen Unterschiede ebenso wie die daraus abgeleitete Forderung nach Toleranz zunächst eine Zumutung gewesen sei, die man nur „angesichts der Alternative eines nicht endenden Religionskrieges in Kauf“ genommen habe (Rawls 2003a, 21), hätten sie mit der Zeit gelernt, von der Verfolgung anderer Glaubensüberzeugungen Abstand zu nehmen und stattdessen „religiöse Toleranz“ als Wert anzuerkennen (ebd., 72).

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Grundlegend für Rawls’ Konzeption der Toleranz ist die Annahme, dass „[r]eligiöse und philosophische Lehren […] einzeln und zusammengenommen ganzheitliche Ansichten über die Welt und das Leben miteinander zum Ausdruck“ bringen (ebd., 132). Diese seien jedoch „zu vielfältig, als daß diese Lehren als Grundlage einer dauerhaften und begründeten politischen Übereinkunft dienen könnten“ (ebd.). Charakteristisch für moderne pluralistische Gesellschaften sei vielmehr, dass ihre Bürger*innen sehr „verschiedene[…] Standpunkte[…]“ vertreten, aus denen sie teilweise sehr „verschiedene vernünftige Weltanschauungen“ „entwickeln“ (ebd.). Solche vernünftige umfassende Lehren zeichnen sich nach Rawls durch drei Merkmale aus: Erstens resultierten sie aus dem Gebrauch der theoretischen Vernunft und deckten „die wichtigsten religiösen, philosophischen und moralischen Aspekte des menschlichen Lebens in mehr oder weniger widerspruchsfreier und kohärenter Weise ab“ (ebd., 133). Unterschiede zwischen den Lehren beruhten dabei auch auf unterschiedlicher Charakterisierung, Organisation und Ordnung der von ihnen anerkannten Werte. Damit seien sie zweitens auch Ergebnis des Gebrauchs der praktischen Vernunft: Diese entscheide darüber, „welche Werte als besonders bedeutsam gelten und wie sie im Konfliktfall gegeneinander abzuwägen sind“ (ebd.). Drittens stünden umfassende Lehren, auch wenn sie „nicht feststehend und unabänderlich“ seien, „doch normalerweise in einer intellektuellen oder doktrinalen Tradition“ (ebd.). Sofern diese umfassenden Lehren in dem hier beschriebenen Sinne vernünftig seien, hält Rawls es für „unrealistisch anzunehmen“, dass diese „Differenzen ausschließlich in Unwissenheit und Verdrehtheiten wurzeln oder andernfalls im Kampf um Macht, Status oder wirtschaftlichen Gewinn“ (ebd., 132), vielmehr sei davon auszugehen, dass auch gewissenhafte und vernünftige Menschen unterschiedliche Positionen vertreten. Mit Mitteln der Vernunft lasse sich nicht klären, welches der Urteile wahr ist, weshalb jede*r an die Wahrheit der eigenen Lehre glaube (ebd., 134). Darin sieht Rawls die „Bürden des

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Urteilens“, die „für die demokratische Idee der Toleranz von größter Bedeutung seien“ (ebd., 132). Denn somit haben vernünftige Bürger*innen keine vernünftigen Gründe, „politische Macht […] dafür zu nutzen, umfassende Ansichten zu unterdrücken, die nicht unvernünftig, aber von ihrer eigenen verschieden sind“ (ebd., 135). Denn „angesichts des Faktums eines vernünftigen Pluralismus in der öffentlichen Kultur“ fehle „einer demokratischen Gesellschaft eine öffentliche und gemeinsame Basis der Rechtfertigung […], die auf umfassende Lehren angewendet werden könnte“ (Rawls 2003a, 135; zu Rawls’ Verwendung von Pluralismus auch in Abgrenzung zu Isaiah Berlins Bestimmung des Begriffs vgl.: Larmore 1996, 154). Nur unter der Annahme einer solchen Basis lasse sich aber auf eine „für eine vernünftige Öffentlichkeit überzeugenden Weise zwischen umfassenden Überzeugungen als solchen und wahren umfassenden Überzeugungen unterscheiden“ (Rawls 2003a, 135). Ebenso werde unter der Bedingung „gleicher Repräsentation im Urzustand“ niemand anderen „die politische Autorität zugestehen“, anderen die Inhalte ihrer umfassenden Lehre vorzuschreiben. „Eine solche Autorität hat in der öffentlichen Vernunft keine Grundlage“ (ebd., 136). Nach Rawls gilt es, das Toleranzgebot auch auf die Philosophie selbst anzuwenden. Denn auch diese könne nicht vorgeben, welche umfassende Lehre die wahre sei. Stattdessen suche sie nach einer ‚Konzeption der Gerechtigkeit als Fairneß‘. Diese gehe aus dem „gemeinsamen öffentlich politischen Vernunftgebrauch“ hervor und habe weitgehend unabhängig „von den von Bürgern vertretenen entgegengesetzten und widerstreitenden philosophischen und religiösen Lehren“ „den Grundsätzen verfassungsmäßiger Regierungen Platz gemacht“ (ebd., 74). Gleichwohl: So neutral der politische Liberalismus auch gegenüber der Wahrheit verschiedener umfassender Lehren zu sein beansprucht, geht es ihm doch um deren vernünftige Akzeptabilität. Die politischen Prinzipien der Gerechtigkeit, die die gleichen Grundfreiheiten für alle Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft garantieren, werden dabei als nicht-relativ vorausgesetzt.

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Indem sie einander gegenseitig tolerieren, müssen Menschen unterstellen, dass jede*r gute Gründe für die eigenen Glaubensvorstellungen hat, selbst wenn sie sich darin widersprechen. Denn nur ein vernünftiger Pluralismus sei erstrebenswert. Auf Fragen und Einwände seiner Kritiker*innen antwortete Rawls in seiner Schrift Gerechtigkeit als Fairneß, wobei er zentrale Ideen seiner Gerechtigkeitstheorie weiter präzisierte. Dezidiert betont Rawls auch hier den politischen Charakter der von allen Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft geteilten Gerechtigkeitskonzeption, die damit selbst nicht Teil einer umfassenden Lehre sei. Und er erläutert die Idee eines überlappenden Konsenses als „vernünftigste Grundlage der politischen und sozialen Einheit“ (Rawls 2003b, 64) im Kontext einer politischen Konzeption der Gerechtigkeit, in der die Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft übereinkommen, auch wenn sie unterschiedliche umfassende Lehren vertreten. Dabei kommt Rawls noch einmal auf die Bürden des Urteilens zurück, die allein schon bewirken, dass freie demokratische Kulturen immer pluralistisch bleiben; denn deren Bürger*innen seien dadurch genötigt, nach einer „politischen Gerechtigkeitskonzeption“ zu suchen, „die von einem vernünftigen übergreifenden Konsens getragen werden kann und als öffentliche Basis der Rechtfertigung dienen soll“ (ebd., 70). Dazu erläutert Rawls: Das Toleranzprinzip habe sich zwar im Anschluss an die Reformation lange Zeit nur als eine Form des Modus vivendi behauptet, das heißt die Menschen haben es nur aus pragmatischen Gründen und „zunächst widerstrebend“ anerkannt. Jedoch seien sie mehr und mehr „zu der Einsicht“ gekommen, dass darin die „einzige Alternative zum unaufhörlichen und zerstörerischen Bürgerkrieg“ liege (ebd., 293). In Form eines Modus vivendi gelte das Toleranzprinzip, wie Rawls unterstreicht, jedoch nur solange, wie ein Machtgleichgewicht zwischen den sich tolerierenden Parteien bestehe. Denn es verliere seine Geltung, sobald eine Partei die Oberhand gewinne (ebd., 294). Da der gesuchte ‚übergreifende Konsens‘ aber die Stabilität einer politischen Ordnung sichern

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solle, müsse „die politische Konzeption von den Bürgern ohne Rücksicht auf die politische Stärke ihrer Globallehre bejaht“ werden können (ebd.). In seinem Spätwerk, Das Recht der Völker, weitet Rawls das Toleranzprinzip auf die Außenpolitik liberaler Gesellschaften aus. Ausgehend davon, dass es in der Welt sehr unterschiedliche Gesellschaften mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen vom Guten gebe, unterscheidet Rawls zunächst zwischen ‚liberalen‘ und ‚achtbaren Völkern‘ (vgl. zur Verwendung des Begriffs ‚Volk‘: Rawls 2002, § 2) auf der einen Seite, die zusammen die Gruppe der ‚wohlgeordneten Völker‘ bilden und auf der anderen Seite diversen Gesellschaften, die sich einem vernünftigen Völkerrecht verweigern, und diskutiert die Frage, wie die Außenpolitik liberaler Völker gegenüber illiberalen Staaten auszusehen habe. Analog zu der im Politischen Liberalismus formulierten Forderung nach Toleranz gegenüber Andersdenkenden innerhalb eines Staates fordert Rawls, dass „ein liberales Volk eine nichtliberale Gesellschaft tolerieren und akzeptieren muss, wenn die grundlegenden Institutionen dieser nichtliberalen Gesellschaft bestimmte festgelegte Bedingungen des politisch Rechten und Gerechten erfüllen und ihr Volk ein vernünftiges und gerechtes Recht für die Gesellschaft der Völker achten lassen“ (Rawls 2002, 71 f.). Andernfalls fehle es „der Idee des politischen Liberalismus an der gebührenden Toleranz gegenüber anderen Möglichkeiten der gesellschaftlichen Ordnung“ (ebd., 71). Erneut konzipiert Rawls eine Form des hypothetischen Urzustandes, in welchem Vertreter*innen liberaler Völker, sich auf die global geltenden Gerechtigkeitsgrundsätze einigen. In einem zweiten Schritt überlegt er, ob auch Vertreter*innen nicht-liberaler Gesellschaften diesen Prinzipien zustimmen würden. Rawls vertritt die Ansicht, dass diejenigen Staaten, die den Gerechtigkeitsprinzipien nicht zustimmen und die er als „Schurkenstaaten“ (ebd., 3, 114) bezeichnet, dafür öffentlich zu kritisieren seien, während er mit Blick auf die andere Gruppe nicht-liberaler, sondern hierarchischer, aber achtbarer Gesellschaften fordert,

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diese zu tolerieren. Denn auch wenn illiberale Gesellschaften gegen den Grundsatz gleicher Freiheit verstoßen, wenn sie Menschen nicht alle „als wahrhaft Freie und Gleiche […] behandeln“ (ebd., 72) und darin aus Sicht liberaler Völker abzulehnen sind, erfüllen sie zwei Kriterien, die liberale Gesellschaften ihnen gegenüber zu Toleranz verpflichtet: Erstens seien sie friedlich (ebd., 79), zweitens erfüllen sie das Rechtsstaatsgebot, d. h. sie achten basale Menschenrechte (ebd., 80) und die Idee der Gerechtigkeit ist in ihnen als eine ‚Gemeinwohlvorstellung‘ verankert (ebd., 80 f.), die auch in Exekutive und Judikative tatsächlich vertreten werde müsse (Rawls 2002, 81, vgl. hierzu Hahn 2019, 83–85, der von „drei Teilkriterien“ spricht). Rawls plädiert also dafür, dass solche nicht-demokratischen, nicht-liberalen Gesellschaften zu tolerieren seien; intern, innerhalb liberaler Gesellschaften könnten sie zwar weiterhin kritisiert werden, öffentliche Kritik auf der Ebene etwa supranationaler Institutionen sei jedoch unangemessen. Eine solche tolerante Zurückhaltung ergibt sich für Rawls aus dem liberalen Völkern eigenen gleichen Freiheitsgrundsatz. So, wie auf innerstaatlicher Ebene umfassende Lehren mit Blick auf religiöse, moralische und metaphysische Gehalte variieren können, hält Rawls auf zwischenstaatlicher Ebene Unterschiede mit Blick auf die politische Ausrichtung von Staaten dann für zulässig, wenn diese weiterhin die Kriterien für achtbare Völker erfüllen. Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit sowie ihre Weiterentwicklungen im Politischen Liberalismus sind von Beginn an breit rezipiert, aber auch kritisch kommentiert worden. An der in ihr enthaltenen Konzeption von Toleranz etwa ist kritisiert worden, dass sie „auf falsche Weise tolerant [sei], wenn sie die Gründe für die gerecht(fertigt)e Toleranz nicht als eigene, normativ vorrangige, geteilte Gründe benennt, die stark genug sind, um die geforderte Selbstrelativierung in normativen Konflikten, in denen ein reasonable disagreement besteht, zu motivieren“ (Forst 2003, 621). Will Kymlicka hält es für fraglich, dass Vertreter*innen nicht-liberaler umfassender Lehren das Ideal der Autonomie

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im politischen Kontext gelten lassen, wenn sie es nicht auch darüber hinaus akzeptieren (Kymlicka 1995, 160). Außerdem wurde kritisiert, dass für Rawls die auf transnationaler Ebene geforderte Toleranz gegenüber wohlgeordneten, hierarchischen Gesellschaften anders, als von ihm gefordert, nur als ein Modus vivendi fungieren könne, der allenfalls eine Form des Kompromisses, aber eben keine Stabilität im Sinne liberaler Gerechtigkeit darstelle (vgl. zuerst Tan 1998).

Literatur Forst, Rainer: Einleitung. In Ders. (Hg.): Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend. Frankfurt a. M. 2000, 7–25. Forst, Rainer: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt a. M. 2003.

E. Buddeberg Hahn, Henning: Toleranz gegenüber nicht-liberalen Völkern. In Henning Hahn/Reza Mosayebi (Hg.): John Rawls. Das Recht der Völker. Berlin 2019, 79–96. Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights. Oxford 1995. Larmore, Charles, Strukturen moralischer Komplexität, Stuttgart 1995 (engl. 1997). Larmore, Charles, The morals of modernity. Cambridge 1996. Larmore, Charles, The autonomy of morality. Cambridge 2008. Meyerson, Denise: Three versions of liberal tolerance: Dworkin, Rawls, Raz. In: Jurisprudence 2/1 (2012), 37–70. Rawls, John: Das Recht der Völker. Berlin 2002 (engl. 1999). Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit [1975]. Frankfurt a. M. 2003a (engl. 1971). Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 2003b (engl. 1993). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. 2003c (engl. 2001) Tan, Kok-Chor: Liberal toleration in Rawls’s Law of People. In: Ethics 108 (1998), 276–295.

Übergreifender Konsens

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Johannes J. Frühbauer

In seiner ausdifferenzierten und facettenreichen Konzeption eines politischen Liberalismus fügt Rawls seinem Theoriegebäude weitere Ideen und Begriffe hinzu. Dazu zählt vor allem auch die Idee des übergreifenden Konsenses als einer der zentralen Leitbegriffe, der gegenüber der Theorie der Gerechtigkeit eine substanzielle Neuerung darstellt. Die Idee des übergreifenden Konsenses ist bis heute in den Diskussionen um einen gesellschaftlichen Grundkonsens in freiheitlich-pluralen Gesellschaften sowie um einen, Kulturen übergreifenden Werte- und Normenkanon von Bedeutung und wird immer wieder aufgegriffen (vgl. Frühbauer 2019, 95–108). Erste ausführlichere Darstellungen zur Idee des übergreifenden Konsenses veröffentlichte Rawls zunächst in Aufsätzen, die im amerikanischen Original in den Jahren 1987 und 1989 erschienen sind (vgl. Rawls 1994, 293–363). Nach einem eigenständigen Vorlesungskapitel in Politischer Liberalismus (4. Vorlesung: vgl. Rawls 2003a, 219–265) widmet Rawls in seiner zuletzt veröffentlichten zusammenfassenden Gesamtdarstellung Gerechtigkeit als Fairness im Kapitel zu den Grundideen dem übergreifenden Konsens

J. J. Frühbauer (*)  Katholische Stiftungshochschule München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

nochmals einen eigenen Paragraphen (§ 11: vgl. Rawls 2003b, 63–72).

Zum Ausgangspunkt der Überlegungen Rawls sah sich durch die Entwicklung von Gesellschaften dazu herausgefordert, der Vielfalt und Verschiedenheit an religiösen, kulturellen und weltanschaulichen Zugehörigkeiten und damit einhergehenden Überzeugungen Rechnung zu tragen und in seine Gerechtigkeitskonzeption die Idee des übergreifenden Konsenses einzubauen. Seine Grundintention: Auch eine von Pluralität geprägte Gesellschaft benötigt für die Organisation der sozialen Ordnung, auf der das Zusammenleben der Bürger*innen gründet, eine gemeinsame Grundlage, die idealiter die Zustimmung aller finden kann. Diese Zustimmung soll trotz der Zugehörigkeit zu einer bestimmten partikulären Überzeugungs- und Wertegemeinschaft möglich sein. Ausgeschlossen wird von Rawls, dass eine bestimmte partikuläre Wertegemeinschaft allen Bürger*innen Grundwerte vorgibt, die von diesen anzuerkennen und zu befolgen sind. Im Grunde genommen geht es beim übergreifenden Konsens um eine normativ-integrative Aufgabe: Bürger*innen sollen einerseits die Anschauungen und Überzeugungen ihrer jeweiligen Gemeinschaft beibehalten können. Zugleich sollen sie mit allen anderen Bürger*innen im Bereich des Politischen,

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_53

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gewissermaßen auf einer darüberliegenden Ebene Grundwerte anerkennen, die als gemeinsame Grundlage einer normativen Ordnung für alle Mitglieder einer Gesellschaft Geltung besitzt. Eine solche gemeinsame Grundlage ist zur Regelung des Zusammenlebens unverzichtbar.

Zum Verständnis des übergreifenden Konsenses Im Rahmen seines Theorieentwurfes zu einem politischen Liberalismus zielt Rawls auf eine politische Gerechtigkeitskonzeption, zu deren zentralen Elementen die Idee des übergreifenden Konsenses gehört. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie keine allgemeine und umfassende Morallehre darstellt, die Werte, Normen und Tugenden für alle Lebensbereiche festlegt und auf Annahmen über Sinn und Zweck des menschlichen Lebens im Ganzen beruht. Die Aufgabe einer politischen Gerechtigkeitskonzeption ist vielmehr darauf beschränkt, Grundsätze für die Verteilung der für alle Mitglieder einer Gesellschaft wichtigen Grundgüter durch die institutionelle Grundstruktur einer Gesellschaft bereitzustellen. Der Reflexionshintergrund für die Konzeption des übergreifenden Konsenses liegt für Rawls in den historischen und sozialen Bedingungen einer modernen Gesellschaft, die vor allem in der Vielfalt und Verschiedenheit philosophischer, religiöser und moralischer Auffassungen bestehen. Diese soziohistorischen Rahmenbedingungen machen es erforderlich, die politische Konzeption der Gerechtigkeit für ihre Grundinstitutionen so zu betrachten, dass sie praktikabel und mit den Grenzen demokratischer Politik vereinbar ist (vgl. Rawls 1994, 296; Hinsch 1994, 28).

Stabilität und Gerechtigkeitssinn Den sachlichen Hintergrund für Rawls’ Überlegungen bilden die von ihm so genannten „vier allgemeine[n] Tatsachen“, die in seinen weiteren Ausführungen zum übergreifenden Konsens, aber auch in den Darlegungen zum freien und öf-

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fentlichen Vernunftgebrauch immer wieder thematisiert werden. Mit ihnen wird eine bestimmte, der politischen Gerechtigkeitskonzeption zugrunde liegende Auffassung von der politischen und sozialen Welt festgehalten. Nämlich erstens: Die Vielfalt der umfassenden Lehren, also das Faktum des Pluralismus, ist keine bloß historische und daher vorübergehende Erscheinung, sondern ein dauerhaftes Merkmal der öffentlichen Kultur von modernen Demokratien, das sich letztlich der Freiheit der Institutionen verdankt (vgl. Rawls 1994, 334). Zweitens: Ein dauerhaftes Einverständnis über eine religiöse, moralische oder philosophische Lehre könnte nur durch den repressiven Gebrauch staatlicher Macht aufrechterhalten werden (vgl. Rawls 1994, 335). Drittens: Ein dauerhafter und demokratischer Staat muss bereitwillig und aus freien Stücken von zumindest einer beachtlichen Mehrheit seiner politisch aktiven Bürger*innen unterstützt werden (vgl. Rawls 1994, 335). Viertens: Die politische Kultur einer demokratischen Gesellschaft enthält bestimmte grundlegende intuitive Gedanken, von denen aus es möglich ist, eine für einen Verfassungsstaat geeignete politische Gerechtigkeitskonzeption auszuarbeiten (vgl. Rawls 1994, 335). Rawls entwickelt seine Idee vom übergreifenden Konsens ausgehend von der Frage, die er als Stabilitätsproblem bezeichnet. Dieses umfasst zwei Aspekte: Erstens wird gefragt, ob Menschen, die unter gerechten Institutionen […] aufwachsen, normalerweise einen hinreichend starken Gerechtigkeitssinn entwickeln, so dass sie sich im allgemeinen diesen Institutionen fügen. Zweitens gilt es zu klären, ob unter den Voraussetzungen, die durch die öffentliche politische Kultur einer Demokratie gegeben sind – für die Rawls insbesondere das Faktum des vernünftigen Pluralismus annimmt –, die politische Konzeption zum Gegenstand eines übergreifenden Konsenses werden kann (Rawls 2003a, 228). Kurzum: Rawls entwickelt in der Verknüpfung von politischer Gerechtigkeitskonzeption und übergreifenden Konsens eine Perspektive, mit der es seiner Auffassung nach gelingen kann, Einheit und Stabilität einer Gesellschaft zu erzeugen bzw. zu bewahren.

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Mehr als ein bloßer modus vivendi Ein modus vivendi wird, kritisch betrachtet, verstanden als öffentliches Einverständnis, das noch keine politische Gemeinschaft zu konstituieren vermag (vgl. Rawls 2003a, 234). Der Pluralismus religiöser, philosophischer und moralischer Auffassungen macht in einer liberalen Perspektive zumindest einen modus vivendi erforderlich, um überhaupt das Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft zu ermöglichen. Historisch zurückblickend identifiziert Rawls im Toleranzprinzip, das nach der Reformation praktiziert wurde, einen modus vivendi (vgl. Rawls 1994, 313, Fn. 22; 322). Der entscheidende Gegensatz zwischen einem modus vivendi und einem übergreifenden Konsens liegt für Rawls in der Frage der Stabilität (vgl. Rawls 2003b, 297 f.; Rawls 2003a, 236). Der übergreifende Konsens ist im Gegensatz zum bloßen – und Rawls’ Auffassung nach unter bestimmten Umständen disponiblen – modus vivendi darauf angelegt, dauerhaft und beständig zu sein, um auf den Rückhalt aller am Konsens Beteiligten bauen zu können und somit die gerechte Verfasstheit der Gesellschaft auf lange Sicht hin zu sichern. Ein vertragsbasierter Konsens in Gestalt eines modus vivendi ist in seiner Wirkung und Beständigkeit von der jeweiligen Verteilung von Handlungs- und Verhandlungsmacht abhängig. Denn ein solcher, letztlich nur situativer Konsens verliert seine Bindekraft sobald sich die Rahmenbedingungen, Präferenzen und Interessen ändern und etwa Asymmetrien im Kräfteverhältnis sozialer Gruppen entstehen (vgl. Rähme 2002, 408). Eine Grundordnung, die in dieser Weise strategisch beeinflusst ist und auf Nutzenrationalität basiert, schafft aller Wahrscheinlichkeit nach ein Recht des (jeweils) Stärkeren – eine kaum mit Gerechtigkeit oder Gerechtigkeitsvorstellungen verträgliche Perspektive (vgl. Pogge 1994, 46). Als Folge aus einem derartigen Stärke-Schwäche-Verhältnis unter dem flüchtigen und unbeständigen Rahmen eines modus vivendi müssten Institutionen immer wieder neu ausgehandelt werden. Eine Gesellschaft wäre einem ständigen, wenngleich geregelten Machtkampf unterworfen, in dem letztlich auch die

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Regeln selbst fortwährend umkämpft wären (vgl. Pogge 1994, 46). Wie lässt sich nun die eindeutige Präferenz für eine stabile Grundordnung im Rahmen eines übergreifenden Konsenses gegenüber einem modus vivendi moralphilosophisch begründen? Thomas W. Pogge führt hierzu drei Gründe an: „Erstens haben Personen und Gruppen ein moralisches Interesse daran, das Überleben ihrer Werte und Lebensformen langfristig zu sichern, wozu eine stabile Grundordnung weit besser geeignet ist, als ein modus vivendi“ (Pogge 1994, 47). Als zweiten Grund hebt Pogge hervor, dass Personen und Gruppen ein moralisches Interesse daran hätten, in ihrem Tun und in ihrem Verhältnis zu anderen Personen den eigenen Werten gerecht zu werden; bei einem modus vivendi wäre dies nur unter Gefährdung der eigenen langfristigen Überlebenschancen möglich. Und drittens schließlich hätten wir Pogge zufolge ein moralisches Interesse daran, dass wir alle in einer friedlichen und harmonischen Gesellschaft leben; dies wiederum setze jedoch eine Grundordnung voraus, „die, von allgemeiner moralischer Loyalität getragen, den unvermeidlichen täglichen politischen Rivalitäten enthoben ist – die also politische Auseinandersetzungen regelt, ohne selbst Gegenstand solcher Auseinandersetzungen zu sein“ (Pogge 1994: 47). Trotz der markanten Abgrenzung zu einem bloßen modus vivendi sieht Rawls diesen durchaus als mögliches Vorstadium zu einem auf Beständigkeit und Stabilität angelegten übergreifenden Konsens (vgl. Rawls 2003a, 221). Für Rawls kann demnach ein übergreifender Konsens aus einem modus vivendi hervorgehen.

Zustimmung zur politischen Gerechtigkeitskonzeption als Inhalt eines übergreifenden Konsenses Der übergreifende Konsens unterscheidet sich von dialogisch-kommunikativen Typen rationaler Verständigung(-sprozesse) diskursethischer Prägung (vgl. Rähme 2002, 404) und bleibt im Wesentlichen bezogen auf die liberale politische Gerechtigkeitskonzeption, die er in ihrer

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Plausibilität, Akzeptanz und Wirkung unterstützen soll (vgl. Rawls 1994, 293). Dabei kennzeichnet das Verhältnis von Gerechtigkeitskonzeption und übergreifendem Konsens eine Zweistufigkeit: Zunächst geht es auf Stufe 1 darum, eine eigenständige politische und moralische Gerechtigkeitskonzeption für die Grundstruktur der Gesellschaft auszuarbeiten: Der Inhalt der Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness mit ihren Gerechtigkeitsgrundsätzen und Idealen wird bestimmt im Rekurs auf die politische Kultur einer liberalen und demokratischen Gesellschaft. Auf Stufe 2 ist zu klären, ob die Gerechtigkeitskonzeption hinreichend stabil ist. Die Antwort auf diese Frage führt Rawls schließlich zur Idee des übergreifenden Konsenses (vgl. Rawls 2003a, 228). Damit ein übergreifender Konsens über die Gerechtigkeitskonzeption möglich wird, wird diese ausdrücklich an das Faktum des vernünftigen Pluralismus angepasst (vgl. Rawls 2003a, 232). Auf der ersten Stufe geht es Rawls somit um die Begründung der Theorie als freistehende politisch-moralische Konzeption, während auf der zweiten Stufe die Erklärung sozialer Stabilität und Einheit erfolgt (vgl. Forst 1994, 152). Der übergreifende Konsens bildet, obgleich freistehend, gleichsam eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner unterschiedlicher und ansonsten inkommensurabler vernünftiger umfassender Lehren (vgl. Mieth, C. 2002, 187). Und in Rainer Forsts Terminologie lässt sich der Konsens im Wesentlichen als ein politisch-moralischer zwischen umfassenden Lehren qualifizieren, während er ethisch begründet nur aus der Perspektive der betreffenden Lehren ist (vgl. Forst 1994, 153). In Anerkennung der Verschiedenheit der konsensbildenden umfassenden Lehren ist daher mehr als eine Übereinstimmung, die sich über die Inhalte hinaus auch auf Gründe erstrecken würde, gerade nicht erforderlich: Ein übergreifender Konsens über eine Gerechtigkeitskonzeption G ist dementsprechend genau dann möglich, wenn jede beteiligte Partei die durch G spezifizierten Gerechtigkeitsgrundsätze im Licht ihrer eigenen Konzeption des Guten mit Gründen anerkennen kann und wenn keine der Parteien erwartet, dass

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ihre spezifischen Gründe für die Anerkennung von G auch von den anderen Parteien als die ‚eigentlich richtigen‘ übernommen werden müssen (vgl. Rähme 2002, 408). Die Zustimmung zum übergreifenden Konsens soll es erleichtern, so Rawls’ Annahme, dass die meisten Mitglieder der Gesellschaft sich nur partiell einer umfassenden Doktrin verpflichtet sehen. Zudem trügen sie ohnehin zwei Auffassungen in sich, das heißt ihre Gesamtauffassung hat zwei Teile: die politische Gerechtigkeitskonzeption und ihre eigene umfassende Lehre, der sie sich zurechnen (vgl. Rawls 1994, 354 f.; Forst 1994, 153). Die Übereinstimmung im Konsens wirkt praktisch zurück auf die jeweiligen umfassenden Lehren, die die gemeinsame Gerechtigkeitskonzeption quasi als ihre eigene ansehen und sie als Teil ihrer partikulären Auffassung des Guten deuten (vgl. Rawls 1994, 307; Forst 1994, 153). Rawls erläutert die Unterstützung des Konsenses wie folgt: In einen solchen Konsens stimmen die einzelnen Lehren der politischen Konzeption jeweils von ihrem eigenen Standpunkt aus zu. Die soziale Einheit gründet sich auf einen Konsens über die politische Konzeption; Stabilität ist möglich, wenn die im Konsens geformten Lehren von den politisch aktiven Bürger*innen der Gesellschaft bejaht werden und die Forderungen der Gesellschaft nicht allzu sehr mit denjenigen wesentlichen Interessen der Bürger*innen in Konflikt geraten, die von ihren sozialen Einrichtungen geformt und gefördert werden (vgl. Rawls 2003a, 219). Rawls hegt die Überzeugung, dass die von den Mitgliedern einer pluralistischen Gesellschaft vertretenen Konzeptionen des Guten tatsächlich in genügend vielen Punkten übereinstimmen, damit eine tragfähige Grundlage für die allgemeine und öffentliche Rechtfertigung einer politischen Gerechtigkeitskonzeption besteht (vgl. Hinsch 1994, 28). Was ist nun letztlich der tatsächliche Inhalt der politischen Gerechtigkeitskonzeption? Rawls spricht diesbezüglich von den wesentlichen Verfassungsinhalten. Über diese sei ein übergreifender Konsens nötig. Zu ihnen gehören: 1) Das Prinzip der Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative, 2) das Recht aller

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Bürger*innen zu wählen und sich an politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen, 3) die Festlegung der für politische Entscheidungen notwendigen Mehrheiten, 4) die Garantie des fairen Werts der politischen Freiheiten, 5) die Garantie der Grundrechte und Grundfreiheiten und schließlich 6) der Schutz der Rechtsstaatlichkeit. (vgl. Hinsch 1994, 30).

Menschenrechte als interkultureller übergreifender Konsens Über Rawls hinausgehend hat Heiner Bielefeldt aufgezeigt, wie sich Menschenrechte als Inhalt eines übergreifenden Konsenses aufzeigen lassen. Dabei kennzeichnet den übergreifenden Konsens als einen normativen und nicht bloß deskriptiven Begriff, denn es handele sich um einen gesollten und nicht bloß faktischen Konsens. Mit diesem Konsens werde zugleich eine Vielfalt weltanschaulicher Überzeugungen ermöglicht und (durch seinen normativen Inhalt) die Grenzen der Toleranz markiert (vgl. Bielefeldt 1998, 146). Infolgedessen bedeute der durch die Idee des menschenrechtlichen Universalismus angestrebte Konsens „nicht lediglich die Schnittmenge der weltweit faktisch vorhandenen kulturellen Wertorientierungen […], sondern beinhaltet die normative Zumutung der wechselseitigen Anerkennung von Menschen unterschiedlicher Orientierung und Lebensweise auf der Grundlage gleicher Freiheit und gleichberechtigter Partizipation“ (Bielefeldt 1998, 146). Für Bielefeldt ist der menschenrechtliche übergreifende Konsens folglich kein interkultureller Minimalkonsens, sondern er impliziere umgekehrt sogar einen kritischen Maßstab für moderne Interkulturalität (vgl. Bielefeldt 1998, 146). Die normative Prämisse des Menschenrechtsdenkens beruhe auf der Einsicht, „dass unter den Bedingungen der Moderne die Pluralität kultureller Lebensformen und religiöser und weltanschaulicher Orientierungen nur dann produktiv gestaltet werden kann, wenn Menschen einander in ihrer Differenz dadurch anerkennen, dass sie einander gleiche Freiheit und gleichberechtigte Mitwirkung zuerkennen“

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(Bielefeldt 1998, 146 f.). Allerdings sei zu bedenken, dass Menschenrechte – und andere vergleichbare universalmoralische Konzeptionen – keineswegs alle Aspekte des guten Lebens umfassen. Denn sie können mit ihrer spezifischen Aussagesubstanz letztlich „keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn menschlichen Lebens, Leidens und Sterbens“ geben und sie „enthalten keine umfassenden Weisungen für die rechte Lebensführung als Individuum und in der Gemeinschaft. Sie bieten keine Riten und Symbole, durch die Menschen (…) einander Achtung bezeugen und Verbundenheit oder auch Differenz zum Ausdruck bringen können“ (Bielefeldt 1998, 147).

Einwände gegen die Idee eines übergreifenden Konsenses Die Idee des übergreifenden Konsenses erscheint prima facie als äußerst attraktiv und plausibel. Nicht zuletzt die pluralen und multikulturell geprägten Gegenwartsgesellschaften lassen Rawls’ Idee hier als zeitgemäßen Ansatz für ein integratives politisch-ethisches Denken erscheinen. Doch ein zweiter und jeder weitere Blick auf den übergreifenden Konsenses muss unweigerlich zu Bedenken, Einwänden und Kritikpunkten führen. Rawls selbst ist sich möglicher Einwände gegen die Idee des übergreifenden Konsenses bewusst und behandelt daher von sich aus mögliche Einwände. Darunter der Einwand, dass der übergreifende Konsens nichts anderes als ein modus vivendi im Sinne eines öffentlichen Einverständnisses sei, und ebenso der Vorwurf, dass die Unabhängigkeit gegenüber umfassenden religiösen, philosophischen und moralischen Lehren Skeptizismus und Indifferenz gegenüber religiösen, philosophischen oder moralischen Wahrheiten impliziere. Weitere Einwände kennzeichnen den übergreifenden Konsens schlichtweg als utopisch oder bringen die Überlegung ins Spiel, ob ein übergreifender Konsens nicht doch auf eine allgemeine und umfassende politische Konzeption angewiesen bleibe, oder sie geben zu bedenken, ob mit der Idee des übergreifenden

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Konsenses nicht die Gefahr bestehe, dass die politische Philosophie von der übrigen Philosophie getrennt würde und somit zur bloßen Politik werde (vgl. Rawls 1994, 304; 312–327; 331; Pogge 1994, 45). Mit Bezug auf die von Rawls selbst thematisierten Einwände – und darüber hinausgehend – lassen sich als Problemanzeigen und Unklarheiten weitere Punkte anführen: Erstens erläutert Rawls nirgends en détail, wie man sich die überlappenden Teile im Konsens eigentlich vorzustellen hat: Was konkret überlappt sich in welcher Weise? Offenkundig setzt Rawls auf die Prima-facie-Plausibilität seiner letztlich abstrakten Idee, die ja unbestreitbar vorhanden ist; er verzichtet jedoch auf eine konkretisierende Bestimmung, die die materiale Dimension der ‚Überlappungen‘ über das bisher Bekannte erhellen würde. Zweitens bleibt die Wirkung der Loyalität, wie sie Rawls als Stabilitätsperspektive entwickelt, fragwürdig: Er rechnet damit, dass die Loyalität gegenüber dem übergreifenden Konsens sich langfristig prioritär im Vergleich zur Loyalität gegenüber den umfassenden Lehren auswirke. Die Folge: Die Inhalte der umfassenden Lehren würden sich im Laufe der Zeit an die normativen Vorgaben des übergreifenden Konsenses anpassen. Und doch ist gerade hier zurückzufragen, warum es scheinbar ausgeschlossen ist, dass sich aus den umfassenden Lehren korrektive Impulse für die materiale Weiterentwicklung des übergreifenden Konsenses ergeben können. Bleibt damit etwa das Potenzial sozialkritischen Denkens auf der Strecke, das seine moralischen Ressourcen auch und gerade aus umfassenden Lehren zu schöpfen vermag und wesentlich zur Entwicklung einer Gesellschaft beitragen kann? Äußerst fragwürdig muss daher Rawls’ Annahme bleiben, dass die Loyalität gegenüber umfassenden Lehren für das Individuum als nachrangig einzustufen ist. Weitaus überzeugender wäre es, die vorrangige Loyalität gegenüber der Liberalismuskonzeption auf Dissenssituationen oder Konfliktfälle zu begrenzen und sie durch pragmatische Vernunft, die den Erhalt des Konsenses und damit die Stabilität der Gesellschaft

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zum Ziel hat, zu begründen. Drittens thematisiert Rawls nirgends die Möglichkeit, dass ein bestehender übergreifenden Konsens verloren gehen könnte – wie dies für eine außerordentliche und unversöhnbare Konfliktsituation oder für zunehmende Bedrohungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts nicht zuletzt durch Auswirkungen etwa der Corona-Pandemie nicht auszuschließen ist. Was also passiert, wenn ein bestehender übergreifender Konsens in Frage gestellt oder aufgelöst wird, weil die bisherige Unterstützung bzw. seine integrative Wirkung verlorengeht. Viertens ist zu überlegen, ob es nicht vorteilhafter und aussichtsreicher wäre, einen in seiner Konstruktion und Tragweite weniger anspruchsvollen Konsens, als Rawls ihn entwirft, zu favorisieren. Dabei geht es konkret darum, die Einigung auf eine Grundordnung nicht zugleich mit der sie rechtfertigenden Gerechtigkeitskonzeption zu verbinden, sondern in einem übergreifenden Konsens ausschließlich die viel leichter erzielbare Einigung auf eine Grundordnung anzustreben und die Begründungsfrage zu öffnen bzw. offen zu halten (vgl. Pogge 1994, 47). Fünftens stellt sich die Frage, wie denn gegenüber jenen zu verfahren ist, die den übergreifenden Konsens nicht zu akzeptieren bereit sind? Gerade hier, „zwischen der legitimierten Zwangsausübung gegenüber denjenigen, die den vernünftigen Konsens nicht akzeptieren, und dem Toleranzprinzip, das uns anleitet, andere nicht dazu zu zwingen, unsere vernünftige umfassende Lehre zu übernehmen, besteht die Spannung der Rawlsschen Konzeption des Politischen Liberalismus“ (Mieth 2002, 188). Sechstens: Müsste Rawls – ganz im Sinne seines liberalen Ansatzes – nicht stärker die individuelle Autonomie zur Akzeptanz des übergreifenden Konsenses betonen, statt indirekt auf Kollektive als Träger umfassender Lehren zu setzen? Würde daher siebtens die Gerechtigkeitskonzeption nicht allein durch intersubjektiv anerkannte Argumente begründet, sondern auch im Licht der als vernünftig und überzeugend eingeschätzten spezifischen Gründe der einzelnen umfassenden Lehre verstanden und gedeutet

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werden, so erscheint es letztlich fragwürdig, ob denn die jeweilige Zustimmung der am übergreifenden Konsens Beteiligten wirklich demselben Inhalt gilt. Insofern diese Bedenken berechtigt sind, eröffnet sich ein letztlich nicht intendierter Spielraum für Dissens in der Deutung der zunächst gemeinsam akzeptierten Gerechtigkeitskonzeption als auch der Verfassungsprinzipien, die auf deren Grundlage aufgestellt wurden. Daraus lässt sich nun kritisch folgern: „Der Bedarf an deliberativer und diskursiver Verständigung, welcher im Rahmen der nicht-öffentlichen Begründung des übergreifenden Konsenses ungedeckt bleibt, wird auf jene öffentlichen Diskurse verschoben, innerhalb derer die präsumptiv gemeinsam anerkannte Gerechtigkeitskonzeption zur Begründung oder Kritik von Verfassungsinhalten mobilisiert werden soll“ (Rähme 2002, 408). Achtens: Nimmt Rawls zu Unrecht allzu homogene umfassende Lehren an? Setzt er zudem nicht ein solides Wissen in politisch-moralischen Fragen bei den Anhänger*innen der jeweils umfassenden Lehren voraus? Erfordert dies der Ansatz seiner idealistischen Theoriebildung? Diese Gegenüberlegungen ließen sich ohne Weiteres mit Blick auf unterschiedliche, oftmals sogar rivalisierende Strömungen innerhalb einzelner Religionen und Konfessionen, öffentliche Dissense und wechselseitige Ausgrenzungen belegen. Die aufgeführten Gesichtspunkte gehen prinzipiell von einer gewissen Evidenz des Rawlsschen Konzeptes aus, signalisieren aber zugleich weiteren Bedarf an Klärung und Präzisierung. Eine letzte Überlegung: Welches Element aus der Theorie der Gerechtigkeit beerbt eigentlich der übergreifende Konsens? Löst er die kontraktualistische Rechtfertigung ab? Oder ersetzt er etwa das Überlegungsgleichgewicht? Oder nimmt er die Stelle und Funktion von beidem ein? Oder tritt er als neues Element hinzu? Rawls gibt Elemente aus der Theorie der Gerechtigkeit zwar nicht auf, aber es ist erkennbar, dass sie gegenüber ihrer anfänglich prominenten Stellung etwas in den Hintergrund getreten sind. Das gilt sowohl für das Paradigma des Kontraktualismus, als auch für die Idee des Überlegungsgleichgewichts.

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Zusammenfassung und Ausblick Der übergreifende Konsens ist ein zentrales, wenn nicht sogar das bedeutendste Element in Rawls‘ Konzeption des politischen Liberalismus. Dennoch ist zu fragen, ob die die Grundlegung einer liberalen politischen Ordnung wirklich auf diesen hinausläuft. Wird mit einer solchen Einschätzung möglicherweise die Bedeutung des übergreifenden Konsenses enorm überschätzt und seine Funktion innerhalb von Rawls‘ politischem Liberalismus allzu sehr strapaziert? Zudem ist kritisch zu fragen, ob sich westliche Gesellschaften nicht doch eher auf der Stufe des modus vivendi als auf der eines übergreifende Konsens befinden (vgl. van den Brink 2002, 908). Allein diese Fragen und sich daran anschließende Überlegungen zeigen ebenso wie die notierten Kritikpunkte, dass es sowohl weiteren Klärungsbedarf, aber auch ein konzeptionelles Entwicklungspotenzial gibt. Rawls’ Konzeption des übergreifenden Konsenses hat sich vor allen der Frage zu stellen – und das abgesehen von den kritischen Einwänden und den damit einhergehenden zu klärenden Punkten –, ob er von der idealen Theorie in die reale politische Gestaltung transferiert werden und somit in heutigen Gesellschaften praktikabel sein kann. Zusammenfassend lässt sich nun sagen, dass John Rawls mit der Idee des übergreifenden Konsenses versucht, erstens der faktischen sozialen Realität mit ihrem weltanschaulichen und moralischen Pluralismus gerecht zu werden; zweitens trotz der Pluralität unterschiedlicher Konzeptionen des Guten eine für die gesellschaftliche Kooperation und Stabilität notwendige Übereinstimmung und damit Zustimmung zu einer gerechten politischen Ordnung zu postulieren; drittens seinem Anliegen der politischen Gerechtigkeitskonzeption in vernünftiger Weise mit deduktiven wie induktiven Komponenten Ausdruck zu verleihen; viertens auf diese Weise im Gesamtrahmen seines Politischen Liberalismus eine Art upgrade seines originären Anliegens einer liberalen Gerechtigkeitskonzeption anzubieten. Kurzum: Der übergreifende Konsens ist Rawls’ Antwort auf die

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Suche nach einer gemeinsamen Basis der öffentlichen Rechtfertigung in Fragen der Gerechtigkeit (vgl. Rawls 1994, 313). Und „trotz konkurrierender Ideale vom guten Menschen, vom besten Umgang mit Freunden, Verwandten, Nachbarn und Kollegen, können wir dennoch harmonisch zusammenleben, solange wir der Grundordnung unserer Gesellschaft moralisch verpflichtet sind und dies auch voneinander wissen“ (Pogge 1994, 44). Schließlich drängt sich der Gedanke auf, ob nicht nahezu jede demokratisch-freiheitliche Gesellschaft ihre moralisch-politische Grundordnung bereits auf eine Art übergreifender Konsens etabliert hat, gleichwohl dies oft nur latent geschieht und den wenigsten bewusst zu sein scheint. Diese Überlegung ließe sich fortführen in der Frage, ob nicht die Idee des Verfassungspatriotismus zumindest Berührungspunkte zur Idee des übergreifenden Konsenses besitzt. Mit dem Terminus ‚übergreifender Konsens‘ hat Rawls jedenfalls – über seine Theoriekonzeption hinaus – einen wichtigen Leitbegriff für plural geformte Gegenwartsgesellschaften geprägt. Die Idee wird, womöglich in modifizierter Weise, in den gegenwärtigen wie zukünftigen politischphilosophischen und sozialethischen Diskursen zur Verständigung auf ein gesellschaftliches Miteinander nicht nur ein zentraler Referenzpunkt und -begriff bleiben, sondern ein konkretes und nicht zu übergehendes Modell anbieten.

J. J. Frühbauer

Und dies nicht nur in nationalem, sondern zunehmend auch in internationalem Maßstab.

Literatur Bielefeldt, Heiner: Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos. Darmstadt 1998. Forst, Rainer: Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus. Frankfurt a. M. 1994. Frühbauer, Johannes J.: Moralische Ressourcen in Zeiten globaler Herausforderungen. Das Projekt Weltethos und die Friedenskompetenz der Religionen. In: Sarah Jäger/Reiner Anselm (Hg.): Ethik in pluralen Gesellschaften. Wiesbaden 2019, 93–117. Hinsch, Wilfried: Einleitung. In: Rawls, John: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Hg. Wilfried Hinsch. Frankfurt a. M. 1994, 9–44. Mieth, Corinna: Rawls. In: Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha H. Werner (Hg.): Handbuch Ethik. Stuttgart/Weimar 2002, 179–190. Pogge, Thomas W.: John Rawls. München 1994. Rähme, Boris: Konsens. In: Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha H. Werner (Hg.): Handbuch Ethik. Stuttgart/Weimar 2002, 404–409. Rawls, John: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Hg. Wilfried Hinsch. Frankfurt a. M. 1994. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 72003a (engl. 1993). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. 2003b (engl. 2001). Van den Brink, Bert: Politischer Liberalismus und ziviler Perfektionismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50/6 (2002), 907–924.

Überlegungsgleichgewicht

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Gerhard Kruip

Das Überlegungsgleichgewicht als Metapher für ein allgemeines Verfahren in Lebenswelt und Philosophie So gut wie jeder, der sich mit Moraltheorien befasst, kennt das Phänomen, dass er*sie möglicherweise unglücklich darüber ist, welche Ergebnisse sich in der Anwendung auf einzelne moralische Fragen ergeben, auch wenn diese Moraltheorien in sich jeweils durchaus stimmig sind und bei ihrer Anwendung auf den betreffenden Einzelfall keine Fehler gemacht wurden. Wenn solche theoretisch abgeleiteten Ergebnisse unseren moralischen Überzeugungen widersprechen, können wir entweder diese unsere Überzeugungen hinterfragen und verändern oder die Theorie modifizieren bzw. sogar nach einer anderen Theorie suchen. Wenn sich beispielsweise aus dem Ansatz des klassischen Utilitarismus die Erlaubnis der Opferung einzelner Menschenleben ergibt, sofern dies den Gesamtnutzen steigert, werden Utilitaristen versuchen, ihre Theorie durch regelutilitaristische oder präferenzutilitaristische Modifikationen

G. Kruip (*)  Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected]

zu retten, während andere sich für eine andere, z. B. eine kantische Moraltheorie entscheiden werden. Wenn sich Personen, die vom traditionellen Naturrechtsdenken geprägt sind, das homosexuelle Handlungen für ‚widernatürlich‘ und moralisch unerlaubt hält, auf Moraltheorien einlassen, die die Würde des Menschen und seine Autonomie betonen, werden sie bereit sein, ihre moralischen Gefühle hinsichtlich der Homosexualität zu korrigieren. Im Idealfall gibt es sowohl die Bereitschaft zum moralischen Lernen im Sinne einer Modifikation oder Erweiterung der eigenen Überzeugungen als auch die Offenheit für andere theoretische Ansätze oder deren Korrektur. Sowohl Einzelpersonen als auch ganze Gesellschaften können auf diese Weise durch intrapersonelle Reflexions- oder interpersonelle Deliberationsprozesse zu neuen und ‚besseren‘ Ergebnissen kommen. Rawls (1993, 38, Anm. 7) verweist selbst darauf, dass eine solche „wechselseitige Anpassung von Grundsätzen und überlegten Urteilen“ nicht auf die Moralphilosophie beschränkt sei, die ja auch „denselben Regeln der Methode wie andere Theorien“ unterliege (ebd., 70), sondern insgesamt für die Frage der Plausibilität von Schlussfolgerungen jeder Art zugrunde zu legen ist. Er bezieht sich dabei auf Nelson Goodman (1975). Selbst wenn man in der Logik und der Mathematik einem weitgehend formalisierten System folgt, so Goodman, hängt die Plausibilität seiner Regeln letztlich doch davon ab, ob wir

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_54

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sie in irgendeinem Sinn ‚intuitiv‘ akzeptieren. Goodman hat schon den Prozess des Hin- und Hergehens zwischen der Anwendung formaler Regeln und der Überprüfung an oder Modifikation von Intuitionen beschrieben. Der Begriff des Überlegungsgleichgewichts stammt jedoch offenbar von Rawls.

Das Überlegungsgleichgewicht bei John Rawls Eine besonders prägnante Formulierung für diesen viel diskutierten Begriff (vgl. allgemein Daniels 1996, 1–177; Daniels 2020 und besonders instruktiv Hahn 2000) findet sich in seiner Theorie der Gerechtigkeit in Bezug auf die Frage, wie man in seinem Gedankenexperiment den Urzustand konstruieren solle, so dass er „unseren wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen“ (Rawls 1993, 37) entspricht: „Wenn das gelingt […], ist es gut. Doch wahrscheinlich wird es Abweichungen geben. Dann können wir zweierlei tun. Wir können entweder die Konkretisierung des Urzustands oder unsere gegenwärtigen Urteile abändern, denn auch unsere vorläufigen Fixpunkte können ja revidiert werden. Wir gehen hin und her, einmal ändern wir die Bedingungen für die Vertragssituation, ein andermal geben wir unsere Urteile auf und passen sie den Grundsätzen an; so, glaube ich, gelangen wir schließlich zu einer Konkretisierung des Urzustandes, die sowohl vernünftigen Bedingungen genügt als auch zu Grundsätzen führt, die mit unseren – gebührend bereinigten – wohlüberlegten Urteilen übereinstimmen. Diesen Zustand nenne ich Überlegungs-Gleichgewicht“ (ebd., 38). Allerdings sind nicht alle seine Formulierungen konsequent. An einigen Textstellen scheint er weniger von einem „Hin- und Hergehen“ sprechen zu wollen, sondern sieht die „wohlüberlegten Urteile“ als nicht zu hinterfragende Fixpunkte, zu denen er beispielsweise die moralische Verurteilung von „religiöse[r] Unduldsamkeit und rassische[r] Benachteiligung“ (ebd., 37) zählt. Diese Fixpunkte werden dann zur Kontrollinstanz für die Konstruktion des Urzustands: „Wir möchten den Ur-

G. Kruip

zustand so bestimmen, daß die gewünschte Lösung herauskommt“ (ebd., 165). Klar ist aber trotzdem, dass auch im Verständnis von Rawls das Überlegungsgleichgewicht nicht stabil sein muss. Man könnte sogar denken, dass es besser ist, wenn es im Fluss bleibt. Es lässt sich auch nicht vorherbestimmen, ob es einen oder mehrere Gleichgewichtszustände gibt. Schließlich kann ein und dieselbe Person zwischen gegensätzlichen Auffassungen hin- und hergerissen sein und erst recht können sich die Überlegungsgleichgewichte zwischen verschiedenen Menschen unterscheiden. Es lässt sich nicht einmal eindeutig sagen, dass jedes Überlegungsgleichgewicht ‚richtige‘ moralische Auffassungen repräsentiert: „Ohne Zweifel kann es ein stabiles Gleichgewicht des Hasses und der Feindseligkeit geben“ (Rawls 1993, 142). Auf der Grundlage des Verständnisses von Rawls wird man in diesem Fall freilich in Frage stellen können, ob es wohlüberlegte Urteile waren, die in dieses Gleichgewicht eingegangen sind.

Wohlüberlegte Urteile Wenn Rawls von wohlüberlegten Urteilen spricht, die er sogar als „eine ganz bestimmte Klasse von Tatsachen“ (Rawls 1993, 70) auffasst, meint er freilich nicht spontane Reaktionen, wie sie von moralischen Gefühlen ausgelöst werden können. In einer frühen Publikation von 1951 (Rawls 2000) erläutert er sehr detailliert die Kriterien zur Identifikation „kompetenter Moralbeurteiler“, deren Urteile, wenn sie weiteren Kriterien, wie genaue Kenntnis der zu beurteilenden Situation, Unparteilichkeit, innere Gewissheit etc. entsprechen, dann als „wohlüberlegt“ gelten können. Dabei diskutiert er das Problem, dass in diese keine bewusst herangezogenen moralischen Prinzipien eingehen dürfen, weil sonst deren Verwendung als Gegenüber und Kontrollinstanz zu moralischen Prinzipien zu einem Zirkelschluss führen würde. Wie aber lassen sich Urteile, die ‚wohlüberlegt‘ sein sollen, ohne Reflexion der dabei zu verwendenden Prinzipien denken? Das bleibt

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auch bei Rawls ziemlich unklar. An anderen Stellen spricht er von wohlüberlegten Urteilen, die nicht eines der Pole in der Annäherung an ein Überlegungsgleichgewicht sind, sondern erst im Überlegungsgleichgewicht selbst gefällt werden (Rawls 1993, 68, 628).

Modifikationen des Verständnisses beim späten Rawls In seinen späteren Publikationen hat Rawls bekanntlich seine Konzeption weniger als eine freistehende Gerechtigkeitstheorie als vielmehr als eine durchaus kontextuell verankerte, politische Konzeption verstanden, die das grundlegende Selbstverständnis einer modernen demokratischen Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Dadurch gelingt es ihm, den vernünftigen Pluralismus unterschiedlicher umfassender Lehren ernst zu nehmen, wobei er auf einen übergreifenden Konsens hoffen muss, damit vor dem Hintergrund dieses Pluralismus eine Gerechtigkeitstheorie überhaupt als chancenreiches Projekt erscheinen kann (vgl. Frühbauer 2007, 107– 127). In seinem ‚Neuentwurf‘ Gerechtigkeit als Fairneß unterscheidet er verschiedene Arten von Überlegungsgleichgewichten (Rawls 2003, 61–63). Um ein enges Überlegungsgleichgewicht handelt es sich dann, wenn eine Einzelperson ihre Überzeugungen mit einer bestimmten Gerechtigkeitskonzeption in Übereinstimmung bringen kann, ohne sie mit anderen Konzeptionen zu vergleichen. Von einem weiten Überlegungsgleichgewicht spricht Rawls dann, wenn diese Einzelperson nach dem Vergleich mit anderen Konzeptionen, wie sie in der philosophischen Moraltradition vertreten wurden, und den diversen Argumenten für die verschiedenen Konzeptionen zu einer für sie plausiblen Auffassung kommt. Wenn in einer wohlgeordneten Gesellschaft alle Bürger*innen je für sich zu einem solchen weiten Überlegungsgleichgewicht gefunden haben und darin dann auch noch untereinander überstimmen, will Rawls von einem vollen Überlegungsgleichgewicht sprechen. Ohne Zweifel ist dies nur

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denkbar mit Hilfe deliberativer Prozesse, die einen durchaus auch an die Diskursethik von Jürgen Habermas denken lassen, obwohl das Verhältnis von Überlegungsgleichgewicht und Konsens bei Rawls unterbestimmt bleibt (Hahn 2000, 55–62). In älteren Texten meinte Rawls, im Überlegungsgleichgewicht „unsere öffentliche politische Kultur mit ihren wichtigsten Institutionen und den historischen Traditionen ihrer Interpretation“ (Rawls 1994, 262) repräsentiert sehen zu können oder, mit anderen Worten, eine „Common-sense-Soziologie demokratischer Gesellschaften“ (ebd., 299, Anm. 8).

Öffentliche Rechtfertigung ohne Objektivitätsanspruch „Die Idee des Überlegungsgleichgewichts steht im Zusammenhang mit der Idee der öffentlichen Rechtfertigung […]“ (Rawls 2003, 55). Dabei geht Rawls davon aus, dass die Rechtfertigung einer Gerechtigkeitstheorie in einer pluralen Gesellschaft nicht deduktiv von einer allen gemeinsamen substanziellen Moralvorstellung abgeleitet werden kann. Er bezeichnet seine Konzeption deshalb als „fundierungsfeindlich“ (ebd., 63). Vielmehr erscheint es ihm als ausreichend, eine Gerechtigkeitskonzeption so zu konstruieren, dass sie diesem vollen Überlegungsgleichgewicht entspricht. „Denn für das praktische Ziel einer vernünftigen Einigung über Angelegenheiten der politischen Gerechtigkeit ist nichts weiter erforderlich als Kohärenz der wohlerwogenen Überzeugungen auf allen Ebenen der Allgemeinheit im Rahmen eines weiten und generellen Überlegungsgleichgewichts“ (ebd.). Wegen des Faktums des vernünftigen Pluralismus und der Bürden der Vernunft (Rawls 1994, 336–339) müssen die Bürger*innen die von ihnen gemeinsam anerkannte Gerechtigkeitskonzeption durchaus nicht aus den gleichen Gründen akzeptieren (Rawls 2003, 64), getragen wird sie jedoch durch einen vernünftigen übergreifenden Konsens. Erst recht nicht müssen die Bürger*innen eine gemeinsame Auffassung darüber haben, welcher ontologische Status ihren Gerechtig-

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keitsprinzipien zukommt. Rawls nimmt für seine Gerechtigkeitstheorie nicht in Anspruch, dass ihre Prinzipien in dem Sinne ‚objektiv‘ wären, dass sie irgendwelchen, in einer bestimmten Realität existierenden oder vorgegebenen Normen entsprächen. Er bleibt ein in dieser Hinsicht bescheidener und zurückhaltender Konstruktivist und gibt sich sozusagen mit einem geringeren Grad an ‚Objektivität‘ zufrieden: „Wenn […] eine solche Konstruktion tatsächlich zu denjenigen obersten Gerechtigkeitsgrundsätzen führt, die genauer als andere Auffassungen zu unseren wohlüberlegten Überzeugungen im allgemeinen und dem umfassenden Überlegungsgleichgewicht passen, dann scheint der Konstruktivismus eine angemessene Grundlage für Objektivität zu bieten“ (Rawls 1994, 152). Er hält also den strengeren Objektivitätsbegriff der ‚rationalen Intuitionist*innen‘ für unnötig. Sie mögen denken, dass wir „nun endlich die moralischen Tatsachen erfassen wie sie durch eine vorgegebene moralische Ordnung festgelegt sind; der Konstruktivist wird jedoch statt dessen sagen, dass unsere Gerechtigkeitskonzeption, nach allen denkbaren und anwendbaren Kriterien, nun die für uns vernünftigste ist“ (ebd., 155). Erst recht erhebt Rawls nicht den Anspruch einer „Letztbegründung“ (Ostheimer 2019, 205).

Kohärenztheoretische Begründung Es ist klar, die Argumentation von Rawls gehört „zur Familie kohärenztheoretischer Begründungsargumente“ (Kersting 2015, 128). Er hat freilich das Kohärenzmodell dynamisiert und betont durchaus die Vorläufigkeit seiner Ergebnisse. Kersting charakterisiert sein Verfahren als „Lernprozeß, in dem Common sense und philosophische Ethik sich in ihrer wechselseitigen Verwiesenheit aufeinander aneinander abarbeiten, bis ein Zustand erreicht ist, gleichsam ein Waffenstillstand, in dem die normative Theorie vom moralischen Common sense als Explikation seiner Grundanschauungen akzeptiert wird und der moralische Common sense durch die Explikationsprinzipien geordnet und zu einer

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disziplinierten Urteilstätigkeit veranlaßt wird“ (ebd., 129 f.). Kohärenzargumente sind freilich notorisch umstritten (vgl. etwa Raz 1991; Daniels 2020), ihnen werden schnell Subjektivismus, Konventionalismus, Relativismus und sogar Zirkularität vorgeworfen (Hahn 2000, 18). Es ist klar, dass Kohärenz nicht Wahrheit bedeutet. Einen solchen Anspruch erhebt Rawls freilich auch nicht.

Abwägungen in komplexen Handlungssituationen Hahn hält insgesamt die Rechtfertigungsstrategie von Rawls über das Überlegungsgleichgewicht zwar nicht für gelungen (Hahn 2000, 60–62), aber für ein kohärenztheoretisches Vorgehen und die Umsetzung des Überlegungsgleichgewichts als ‚Metapher‘ „in einem pragmatischen Rahmen“ (ebd., 248, 251) spricht, dass man insbesondere in komplexen Anwendungskontexten selten ohne Abwägungen, ohne ein Hin- und Hergehen zwischen moralisch verdichteten Erfahrungen und reflektierten Überzeugungen, institutionell etablierten Vorgehensweisen und Konventionen und der Anwendung von Prinzipien aus verschiedenen theoretischen Konzepten auskommt. Deshalb hat sich das Konzept des Überlegungsgleichgewichts gerade in Anwendungskontexten von der Gesundheitsversorgung über die Umwelt-, Wirtschafts- und Technikethik (Daniels 1996, 179–351; Frühbauer 2007, 128–147; Preusche 2017), besonders dann, wenn es um ethische Beratung geht (Badura 2002), als ausgesprochen fruchtbar erwiesen. Auch hinsichtlich der Frage der ethischen Dignität von Kompromissen (Kruip 2003) kann die Idee des Überlegungsgleichgewichts hilfreich sein. Und im Blick auf die häufig sehr betonte Unterschiedlichkeit der Kulturen auf dieser weitgehend globalisierten Welt plädiert Otfried Höffe für eine optimistischere Einschätzung, da es einen Kernbereich von Überzeugungen gebe, die „so gut wie alle uns bekannten Kulturen miteinander teilen; es gibt eine nicht bloß regional und epochal, sondern im Gegenteil universal gültige Ge-

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rechtigkeit. Schon in einem empirischen, nämlich sozialgeschichtlichen Sinn kann man hier von einem gemeinsamen Gerechtigkeitserbe der Menschheit sprechen“ (Höffe 2010, 280 f.). Darin könnte Rawls den für seinen Ansatz so wichtigen übergreifenden Konsens durchaus identifizieren und auf ihm aufbauen. In seiner gerade erschienenen Theorie praktischer Vernunft wendet sich Nida-Rümelin gegen Versuche, über naturalistische, rationalistische oder ökonomistische Reduktionen Theorien zur Begründung von moralischen Normen zu konstruieren und plädiert stattdessen für eine letztlich kohärentistische Bezugnahme auf eine sowohl intra- als auch interpersonell als Einheit zu verstehende Lebenswelt: „Wir verständigen uns über unsere normativen wie deskriptiven Orientierungen, wir müssen uns einig sein, was existiert und was nicht, was wohl begründet ist und was nicht, und diese Einigkeit kann nicht eine jeweils spielspezifische Einigkeit sein“ (NidaRümelin 2020, 57). Trotz aller Dissense und Konflikte, die durch die Dynamik der Mediensysteme besonders betont werden, kommen wir vor allem bei der Aufgabe der Plausibilisierung von Gerechtigkeitsvorstellungen um eine optimistische Perspektive auf die Chancen eines möglichst umfassenden Überlegungsgleichgewichts nicht herum.

Literatur Badura, Jens: Die Suche nach Angemessenheit. Praktische Philosophie als ethische Beratung. Münster 2002. Daniels, Norman: Justice and justification. Reflective equilibrium in theory and practice. Cambridge 1996. Daniels, Norman: Reflective equilibrium. In: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford encyclopedia of philosophy

403 (Summer 2020 Edition). https://plato.stanford.edu/archives/sum2020/entries/reflective-equilibrium/. Frühbauer, Johannes J.: John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“. Darmstadt 2007. Goodman, Nelson: Tatsache, Fiktion, Voraussage. Frankfurt a. M. 1975. Hahn, Susanne: Überlegungsgleichgewicht(e). Prüfung einer Rechtfertigungsmetapher. Stuttgart 2000. Höffe, Otfried: Überlegungsgleichgewicht in Zeiten der Globalisierung? Eine Alternative zu Rawls. In: Ders. (Hg.): John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit. München 22010, 271–293. Kersting, Wolfgang: John Rawls zur Einführung. Hamburg 42015. Kruip, Gerhard: Gibt es moralische Kriterien für einen gesellschaftlichen Kompromiss in ethischen Fragen? Zugleich ein Kommentar zur getroffenen Regelung des Imports von embryonalen Stammzellen. In: Bernd Goebel/Gerhard Kruip (Hg.): Gentechnologie und die Zukunft der Menschenwürde. Münster 2003, 133–149. Nida-Rümelin, Julian: Eine Theorie praktischer Vernunft. Berlin 2020. Ostheimer, Jochen: Liberalismus und soziale Gerechtigkeit. Zur politischen Philosophie von Rawls, Nozick und Hayek. Paderborn 2019. Preusche, Bernhard: Sozialstaat im Überlegungsgleichgewicht. Die Kohärenz von Sozialrecht, Gerechtigkeitsvorstellungen und katholischer Soziallehre zur Erarbeitung sozialstaatlicher Qualitätskriterien. Baden-Baden 2017. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 71993 (engl. 1971). Rawls, John: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Hg. Wilfried Hinsch. Frankfurt a. M. 1994. Rawls, John: Ein Entscheidungsverfahren für die normative Ethik. In: Dieter Birnbacher/Norbert Hoerster (Hg.): Texte zur Ethik. München 112000, 124–138. Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. 2003 (engl. 2001). Raz, Joseph: The claims of reflective equilibrium. In: J. Angelo Corlett (Hg.): Equality and liberty: analyzing Rawls and Nozick. London 1991, 110–135.

Umfassende Lehren

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Tim Reiß

Der Begriff der umfassenden Lehre (comprehensive doctrine) ist einer der Schlüsselbegriffe des Spätwerks von Rawls. Der Begriff ist deshalb von herausgehobener Bedeutung, weil er – zusammen mit dem Begriff der Konzeption des Guten – eine Antwort auf die alles andere als triviale Frage formuliert, worin der Pluralismus moderner Gesellschaften eigentlich genau besteht (vgl. Hildt 2016), d. h., welche Art von Überzeugungen in pluralistischen Gesellschaften eigentlich strittig sind. Es gibt den Vorschlag, den Begriff der umfassenden Lehre mit dem Begriff der Weltanschauung zu übersetzen (vgl. Hildt 2016, 40–49) – eine aufgrund der schillernden Konnotationen dieses Begriffs allerdings nicht unproblematische Übersetzung. Eine ausführlichere und systematische Erläuterung des Begriffs der umfassenden Lehre findet sich bei Rawls nicht. Eine kurze Begriffsbestimmung findet sich im Politischen Liberalismus (Rawls 1998, 133). Danach ist eine „vernünftige umfassende Lehre“ durch folgende drei Merkmale bestimmt: Sie ist 1. das Ergebnis des Gebrauchs der theoretischen ebenso wie 2. der praktischen Vernunft. Sie steht zudem 3. in einer bestimmten „intellektuellen oder doktrinalen Tradition“, wobei „sie sich tendenziell im Laufe T. Reiß (*)  Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

der Zeit langsam im Licht dessen entwickeln [wird], was sie von ihrem Standpunkt aus als gute und hinreichende Gründe betrachtet“ (ebd.). Vernünftige umfassende Lehren verbinden eine bestimmte „Ansicht der Welt“ mit der Auszeichnung bestimmter Werte. Sie müssen Gesichtspunkte dogmatischer Kohärenz berücksichtigen, sind aber nicht ein für allemal festgeschrieben, sondern entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. – Beispiele für umfassende Lehren, die Rawls anführt, sind: Kants umfassender Liberalismus (Rawls 1998, 180, 262) bzw. der umfassende Liberalismus von Kant und Mill (Rawls 1992, 284 f., 302, 307, 322, 385; Rawls 1998, 35, 108, 155, 179, 221, 233, 251, 297, 311 FN 42), der Utilitarismus (Rawls 1992, 297; Rawls 1998, 78, 108), der Perfektionismus (Rawls 1992, 297) sowie Idealismus und Marxismus (Rawls 1992, 297, 300). Der Begriff der umfassenden Lehre hat im Politischen Liberalismus die Bedeutung eines Kontrastbegriffs zum Begriff einer politischen Gerechtigkeitskonzeption. Umfassende Lehren sind – das unterscheidet sie grundlegend von politischen Konzeptionen – allgemein (vgl. Rawls 1998, 78 f., 268), d. h. sie haben einen weiten Gegenstandsbereich: Sie beziehen sich nicht nur auf die gesellschaftliche Grundstruktur, sondern auf zahlreiche, im Grenzfall sogar auf alle Lebensbereiche. Umfassende Lehren können dabei „vollständig umfassend“ oder „teilweise umfassend“ sein (Rawls 1998,

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_55

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268, vgl. 79), d. h. sie unterscheiden sich nach dem Grad an inhaltlicher Füllung und doktrinärer Kohärenz. Rawls geht davon aus, dass alle Bürger*innen irgendeine umfassende Lehre bejahen (Rawls 1998, 77 f., 239). Aber nicht jede*r vertritt eine vollständige umfassende Lehre. Die Tatsache, dass die von den Bürger*innen vertretenen umfassenden Lehren im Regelfall nicht vollständig umfassend sind, erhöht dabei die Chance auf das Zustandekommen eines übergreifenden Konsenses ganz wesentlich (Rawls 1998, 251, 261; Rawls 1992, 322 f.; vgl. Voice 2015). – Die politische Gerechtigkeitskonzeption soll sich als ein „Modul“ verstehen lassen, das sich „auf unterschiedliche Weise in verschiedene vernünftige Lehren einfügt“ (Rawls 1998, 232, vgl. 78). Wie eng die umfassenden Lehren auf die politische Konzeption Bezug nehmen, kann dabei ganz unterschiedlich sein: Es ist möglich, dass eine umfassende Lehre mit den politischen Werten einer Gerechtigkeitskonzeption „übereinstimmt, diese stützt oder jedenfalls nicht in Konflikt mit ihnen gerät.“ (Rawls 1998, 261, Hervorhebung hinzugefügt; T.R.) Das heißt, das Verhältnis von umfassender Lehre und politischer Konzeption kann von Kompatibilität im Sinne bloßer Widerspruchsfreiheit bis hin zu wechselseitiger argumentativer Stützung reichen (Rawls 1998, 251, 261–265; vgl. Weithman 2010, 301–343). Dies ist nicht Ausdruck von Beliebigkeit, im Gegenteil. Hier ausdrücklich keine Vorfestlegung zu treffen – darauf gründet der politische Liberalismus seine Hoffnung auf weite Zustimmungsfähigkeit. Rawls grenzt den politischen Liberalismus gegenüber dem umfassenden Liberalismus von Kant und Mill ab, der mit einer eigenen, umfassenden und nicht auf den Bereich des Politischen beschränkten Konzeption des Guten verbunden sei. Gegen diese Unterscheidung ist allerdings folgender sehr grundlegender Einwand formuliert worden: Daraus, dass eine umfassende Lehre eine Konzeption des Guten beinhaltet oder mit ihr verbunden ist, folgt noch keineswegs, dass diese Lehre auch die Auffassung vertreten müsste, das Rechte bzw. mo-

T. Reiß

ralisch Richtige sei logisch von dieser Konzeption des Guten abhängig. Dies gilt weder für Kant noch gilt dies für sämtliche religiösen Lehren (zur ‚Autonomie der Moral‘ beispielsweise im Kontext der katholischen Moraltheologie Auer 1971). Auch eine Lehre, die über eine eigene, spezifische Konzeption des Guten verfügt, kann die Autonomie der Moral und des Rechts anerkennen (Pogge 2002, Ricken 1997, 430 f.). – Schwierig wird es allerdings dann, wenn für die Begründung der Selbständigkeit des Rechten gegenüber dem Guten selbst wiederum ausschließlich Gründe angeführt werden, die aus der Perspektive einer bestimmten umfassenden Lehre formuliert sind. So lässt sich das Toleranzprinzip auch aus der Perspektive und mit Rückgriff auf die argumentativen Ressourcen einiger umfassender Lehren begründen (etwa eine religiöse Begründung von Religionsfreiheit). Aus der Sicht des politischen Liberalismus ist in pluralistischen Gesellschaften eine Begründung der Toleranz allein in den Begriffen einer umfassenden Lehre aber nicht hinreichend. Dem liberalen Legitimitätsideal genügt eine solche „exklusivistische“ Begründung nicht, es fordert eine demokratische Toleranzbegründung (Cohen 1994, 1543 f.): Die Gründe für die Akzeptanz einer dauerhaften Pluralität umfassender Lehren müssen selbst öffentlich teilbar sein. Das Prinzip öffentlicher Rechtfertigung muss auf eine Weise begründet werden, die seinen eigenen Bedingungen genügt. Das Verhältnis des Begriffs der umfassenden Lehre zum bei Rawls eng verwandten Begriff der Konzeption des Guten bleibt letztlich in verschiedenen Hinsichten ungeklärt. Eine Konzeption des Guten „besteht […] aus einem mehr oder weniger artikulierten System letzter Ziele“ (Rawls 1998, 86, vgl. 151). Rawls fügt hinzu, dass eine Konzeption des Guten „im Lichte einer umfassenden religiösen, philosophischen oder moralischen Lehre verstanden wird“ (Rawls 1998, 151, vgl. 159). Bedeutet das, dass jede umfassende Lehre über eine Konzeption des Guten verfügt? (Wie ist es dann beispielsweise mit naturalistisch-szientistischen Lehren?) Bedarf umgekehrt jede Konzeption des Guten

55  Umfassende Lehren

zwingend einer bestimmten umfassenden Lehre, die ihre Interpretation anleitet? Einige mit dem politischen Liberalismus verwandte Theorien ermäßigen den Pluralismus umfassender Lehren und Konzeptionen des Guten zum Pluralismus allein von Konzeptionen des Guten. Rainer Forst beispielsweise vereindeutigt das Faktum des Pluralismus zum Faktum des ethischen Pluralismus (Forst 1997). Die Unterscheidung zwischen ethischen und moralischen Überzeugungen ist Rawls‘ Pluralismusbegriff allerdings fremd. Rawls ist in seinem Pluralismusbegriff wesentlich radikaler: Der Pluralismus moderner Gesellschaften beschränkt sich nicht auf einen Pluralismus der Vorstellungen vom Guten oder des guten Lebens, sondern macht auch vor moralischen Überzeugungen und auch vor der philosophischen Grundlagendiskussion nicht Halt. Rawls’ weiter Pluralismusbegriff, der nicht zwischen ethischen, philosophischen und moralischen Überzeugungen differenziert, führt aber auch zu einer Reihe von systematischen Schwierigkeiten. So sind laut Rawls im Urzustand die umfassenden Lehren und auch Konzeptionen des Guten hinter einem dichten Schleier der Unwissenheit (Rawls 1992, 127 f., 175; Rawls 1998, 91–93) verborgen: Die Parteien kennen die von ihnen vertretenen Lehren und Konzeptionen nicht. Es ist allerdings fraglich, ob die Begründung dafür trägt. Ihre persönlichen Präferenzen und ihre soziale Stellung kennen die Parteien im Urzustand deshalb nicht, weil die Tatsache, dass jemand bestimmte Präferenzen und eine bestimmte soziale Stellung innehat, als solche kein Grund ist für eine Regelung, die Personen mit diesen Präferenzen oder dieser sozialen Stellung bevorzugt. Es sieht nun so aus, als ließe sich analog dazu argumentieren, dass die Tatsache, dass jemand eine bestimmte Lehre oder Konzeption vertritt, kein guter Grund ist, eine Regel zu befürworten, die diese Lehre oder Konzeption bevorzugt. Allerdings sind Konzeptionen des Guten und vor allem umfassende Lehren nicht einfach weitere Präferenzen. Bereits der Begriff der Konzeption des Guten erfährt bei Rawls eine ent-

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scheidende Bedeutungsverschiebung: Zunächst, im teilweise noch entscheidungs- bzw. spieltheoretisch situierten Kontext der Theorie der Gerechtigkeit, bezeichnet er tatsächlich so etwas wie eine Präferenzgesamtheit. Die spätere Verwendung des Begriffs macht dann aber deutlich, dass Konzeptionen des Guten nicht nur Präferenzen beinhalten, sondern auch Überzeugungen, die evaluative Einstellungen zu und Urteile über Präferenzen begründen. Und erst recht gilt dies für die umfassenden Lehren selbst, in deren Licht Rawls zufolge Konzeptionen des Guten ausgelegt werden (Rawls 1998, 151). Vor allem aber ist der Einwand formuliert worden, dass die umfassenden Lehren, sobald moralische Streitfragen berührt sind, in der Regel bereits selbst einen Anspruch auf Unparteilichkeit erheben (vgl. Hinsch 1997, 82– 95). Ob dieser Anspruch in einer konkreten Frage tatsächlich eingelöst werden kann, müsste – so ein diskurstheoretischer Einwand (Habermas 1996) – im Diskurs geprüft werden. Zu dem Versuch, Gehalte umfassender Lehren zu ‚übersetzen‘ (Habermas), kann es aber dem Rawlsschen Modell zufolge gar nicht kommen, weil gemäß Rawls’ strikter Stufenfolge die Inhalte einer politischen Gerechtigkeitskonzeption zunächst in Absehung von allen umfassenden Lehren festgesetzt werden (Rawls 1997/2002, 209). Erst dann, wenn ihr Inhalt bereits feststeht, wird die politische Konzeption dem Test darauf ausgesetzt, ob sie Gegenstand eines übergreifenden Konsenses umfassender Lehren sein kann. Diese Stufenfolge soll verhindern, dass die Konzeption „in der falschen Weise politisch“ wird (Rawls 1998, 229) und bloß die Schnittmenge der faktisch zu einem gegebenen Zeitpunkt existierenden Lehren darstellt. Die strikte Trennung von Inhaltsfestsetzung und Suche nach weitergehenden Begründungsressourcen in einem davon getrennten zweiten Schritt verunmöglicht es, umfassende Lehren als Ressourcen für potentiell verallgemeinerbare Gehalte zu betrachten. Insbesondere ist damit auch die Möglichkeit verstellt, ihr möglicherweise innovatives Potential einer allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich zu machen (Reiß 2019).

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Rawls verfolgt das Ziel, dass eine liberale politische Gerechtigkeitskonzeption von einer Vielzahl umfassender Lehren anerkannt werden kann, und zwar auch von solchen eher traditionalistischen oder ‚nichtliberalen‘ Lehren, die einen für alle Lebensbereiche bestimmenden Individualismus ablehnen (vgl. Dreben 2003, 326). Zwar ist nicht jede umfassende Lehre vernünftig. Aber nicht jede vernünftige umfassende Lehre muss einen ethischen (und nicht nur: politischen) Liberalismus befürworten. Dass eine liberale Gerechtigkeitskonzeption, so die Hoffnung, tatsächlich auch aus der Perspektive unterschiedlicher nichtliberaler umfassender Lehren akzeptiert oder sogar begründet werden kann, ist dann allerdings eine empirisch zu prüfende Hypothese (Freeman 2007, 349–351). Rawls spricht stets von einem Pluralismus umfassender religiöser, moralischer und philosophischer Lehren. Das unterscheidet Rawls von denjenigen politischen Theorien, die den Pluralismus moderner Gesellschaften primär im Sinne eines religiösen oder religiös-weltanschaulichen Pluralismus konzeptualisieren. So liegt auch ein wichtiger Unterschied zu anderen philosophischen Theorien öffentlicher Rechtfertigung – etwa bei Robert Audi oder Jürgen Habermas – darin, dass bei Rawls die Leitdifferenz nicht ‚säkular vs. religiös‘ lautet, sondern ‚politisch vs. umfassend‘. Ein wichtiges Motiv dahinter ist, dass Rawls hervorheben möchte, dass es auch nichtreligiöse umfassende Lehren gibt und der moderne Pluralismus nicht auf einen Pluralismus religiöser Lehren verkürzt werden darf. Deshalb ist für Rawls öffentliche Vernunft nicht mit säkularer Vernunft identisch, wenn „säkulare Vernunft im Sinne eines Begründens in Begriffen umfassender nichtreligiöser Lehren“ verstanden wird (Rawls 1997/2002, 178; vgl. Dreben 2003, 326; Hildt 2016, 44 f.). Dies hat auch die wichtige Konsequenz, dass die Verpflichtung des liberalen Staates zur Nichtidentifikation mit einer umfassenden Lehre (das verfassungsrechtliche ‚Neutralitätsprinzip‘) auch gegenüber nichtreligiösen und erst recht gegenüber dezidiert antireligiösen Lehren gilt.

T. Reiß

Literatur Auer, Alfons: Autonome Moral und christlicher Glaube. Düsseldorf 1971. Cohen, Joshua: A more democatic liberalism. In: Michigan Law Review 92 (1994), 1503–1546. Dreben, Burton: On Rawls and political liberalism. In: Samuel Freeman (Hg.): The Cambridge companion to Rawls. Cambridge 2003, 316–346. Forst, Rainer: Gerechtigkeit als Fairneß: ethisch, politisch oder moralisch? In: Philosophische Gesellschaft Bad Homburg/Wilfried Hinsch (Hg.): Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls in der Diskussion. Frankfurt a. M. 1997, 396–419. Freeman, Samuel: Rawls. London/New York 2007. Habermas, Jürgen: Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch. In: Ders.: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. Frankfurt a. M. 1996, 65–94. Hildt, Moritz: Die Herausforderung des Pluralismus. John Rawls’ Politischer Liberalismus und das Problem der Rechtfertigung. Freiburg/München 2016. Hinsch, Wilfried: Die Idee der öffentlichen Rechtfertigung und die Fiktion des Urzustandes. In: Philosophische Gesellschaft Bad Homburg/Wilfried Hinsch (Hg.): Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls in der Diskussion. Frankfurt a. M. 1997, 67–115. Pogge, Thomas: Is Kant’s Rechtslehre a ‚comprehensive liberalism‘? In: Mark Timmons (Hg.): Kant’s metaphysics of morals. Interpretative essays. Oxford 2002, 133–158. Rawls, John: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Hg. Wilfried Hinsch. Frankfurt a. M. 1992. Rawls, John: Erwiderung auf Habermas. In: Philosophische Gesellschaft Bad Homburg/Wilfried Hinsch (Hg.): Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls in der Diskussion. Frankfurt a. M. 1997, 196–262. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft. In: Ders.: Das Recht der Völker. Berlin/New York 2002, 165–218. Reiß, Tim: Diskurstheorie der Demokratie und Religion. Baden-Baden 2019. Ricken, Friedo: Ist eine moralische Konzeption der politischen Gerechtigkeit ohne umfassende moralische Lehre möglich? In: Philosophische Gesellschaft Bad Homburg/Wilfried Hinsch (Hg.): Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls in der Diskussion. Frankfurt a. M. 1997, 420–437. Voice, Paul: Comprehensive doctrine. In: Jon Mandle/ David A. Reidy (Hg.): The Cambridge Rawls lexicon. Cambridge 2015, 126–129. Weithman, Paul: Why political liberalism? On John Rawls’s political turn. Oxford 2010.

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Urzustand Gerhard Kruip

Der Naturzustand in der Tradition der Vertragstheorien Vertragstheoretische Begründungen für die Legitimation des Staates oder für Normen der Gerechtigkeit reichen in der Geschichte weit zurück. In Platons Der Staat ist es Glaukon, der Gerechtigkeit als Ergebnis einer Vereinbarung versteht, die unter den beteiligten Menschen aus reinem Eigeninteresse zustande kommt: „[…] wenn sie […] einander Unrecht tun und voneinander Unrecht leiden und von beidem zu kosten bekommen, so finden es diejenigen, die nicht imstande sind, dem einen zu entfliehen und das andere zu wählen, vorteilhafter, sich mit einander dahin zu vertragen, dass man weder Unrecht tue noch leide, und infolgedessen hätten sie begonnen, sich Gesetze zu machen und Verträge unter einander zu schließen, und hätten das vom Gesetze Gebotene das Gesetzliche und Gerechte genannt“ (Plat. rep. II, 359a2-12 in der Übersetzung von Wilhelm Siegmund Teuffel). Platon, Aristoteles und die philosophische Tradition bis ins späte Mittelalter hinein lehnten solche Sichtweisen freilich ab. Erst an der Wiege zur Neuzeit, zuerst bei Thomas Hobbes, sind sie

G. Kruip (*)  Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected]

wieder attraktiv, denn sie erlauben eine konstruktivistische Moral- und Staatstheorie ohne Bezug auf religiöse oder metaphysische Wahrheiten. Eine Begründung der Legitimität staatlicher Herrschaft bzw. von Gerechtigkeit, die nichts weiter vorauszusetzen braucht als das Eigeninteresse und die Fähigkeit, entsprechend „rational“ zu handeln, erscheint besonders überzeugend in einer Zeit, in der die traditionellen Begründungsressourcen erodieren. Sie muss zudem niemanden zu etwas zwingen, denn mit der Idee des Vertrages, der ja nur bei wechselseitiger freiwilliger Zustimmung zustande kommt, respektiert sie die Autonomie aller und den in der Moderne dominanten normativen Individualismus (vgl. Maus 2010, 72 f.; Kersting 1994). Das „zentrale Element des Vertragsmodells ist nicht der Vertrag, sondern die Vertragssituation, der Ausgangszustand der hypothetischen Einigung, der in der philosophischen Tradition als ‚status naturalis‘ bezeichnet wurde und bei Rawls ‚Urzustand‘, ‚original position‘ heißt“ (Kersting 2015, 33). Selbstverständlich wurde dieser niemals als ein Ereignis vorgestellt, das es in der Geschichte irgendwann einmal tatsächlich gegeben hätte, sondern er war und ist immer Teil eines Gedankenexperiments. Man stellt sich eine Situation vor, in der es das, was es zu begründen gilt, nämlich Staat oder Gerechtigkeitsprinzipien, noch nicht gibt und versucht dann zu zeigen, dass die Beteiligten in einer solchen Situation eben aus

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_56

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reinem Eigeninteresse heraus erkennen, dass es besser ist, sich auf gemeinsame Regeln zu einigen und deren Übertretung durch Sanktionen unattraktiv zu machen. Hobbes beschreibt diese Situation bekanntlich als einen Krieg aller gegen alle, der so viele Nachteile mit sich bringt, dass alle um des Friedens willen bereit sind, sich einem allmächtigen Herrscher zu unterwerfen. In gegenwärtigen kontraktualistischen Entwürfen wird gerne das spieltheoretische Modell des Gefangenendilemmas verwendet (vgl. z. B. Stemmer 2000). Weil alle die Trittbrettfahrerposition anstreben, stellt sich für die Beteiligten ein Ergebnis ein, das sehr viel ungünstiger ist, als wenn sie sich auf ein kooperatives Vorgehen unter Verzicht auf diese Position geeinigt hätten. Da viele Situationen die Struktur eines solchen Gefangenendilemmas aufweisen, lassen sich die daran gewonnenen Einsichten auf das menschliche Zusammenleben insgesamt übertragen.

Kontraintuitive Ergebnisse einer reinen Vertragstheorie Je reduzierter die dem Naturzustand zugrunde gelegten Voraussetzungen sind, umso weniger sind Ergebnisse zu erwarten, die einer anspruchsvolleren Moral entsprechen. Eine rein an Eigeninteressen orientierte Rekonstruktion von Moral setzt ja an keiner Stelle voraus, dass die Beteiligten moralisch motiviert sind. Damit findet letztlich eine Reduktion von Moral auf Klugheit statt. Ein auf diese Weise zustande gekommener Vertrag muss nicht unbedingt fair sein. Dies hat auch der bekannte Kontraktualist James Buchanan eingeräumt: Wenn eine Gruppe im Naturzustand so stark ist, dass sie den anderen alle Güter und sogar noch das Leben nehmen kann, ist es trotzdem für beide Seiten günstiger, wenigstens einen Versklavungsvertrag abzuschließen: Den einen wird zusätzliche Arbeitskraft, den anderen wenigstens das Leben geschenkt (Buchanan 1985, 85 f.). Für Kersting zeigt sich in diesem Ergebnis die „Unsittlichkeit des Ökonomismus“ (Kersting 1994, 343). Zu einem solchen Urteil kann man freilich nur

G. Kruip

kommen, wenn man sich auf moralische Kriterien beruft, die von außen an den Kontraktualismus angelegt werden. Offenbar akzeptieren wir die Ergebnisse von Moraltheorien eher dann, wenn sie unseren moralischen Überzeugungen entsprechen. Selten sind wir bereit, unsere tief verwurzelten Überzeugungen zu ändern. Rawls hat für dieses Phänomen den Begriff des „Überlegungsgleichgewichts“ geprägt. Er legt seine Theorie gezielt so an, dass „sich ihre Grundsätze mit unseren festesten Überzeugungen vertragen“ (Rawls 1993, 37) und unseren moralischen Gefühlen entsprechen, „wie sie sich in unseren wohldurchdachten Urteilen im Überlegungsgleichgewicht darstellen“ (Rawls 1993, 142).

Idealisierungen im Rawlsschen Urzustandsmodell Korrekturen eines kontraktualistischen Entwurfs bestehen in Modifizierungen der Ausgangsbedingungen. Schon Hobbes arbeitet mit Idealisierungen, wenn er eine Bedrohungssymmetrie der Menschen im Naturzustand annimmt. Auch der Stärkste kann sich nicht schützen, wenn sich alle anderen gegen ihn verbünden. Rawls, der seinen Entwurf einer Gerechtigkeitstheorie bewusst in die Tradition der Vertragstheorien stellt (Rawls 1993, 12), idealisiert den Urzustand noch stärker und weitet seine Bedeutung auf Fragen gerechter Verteilung aus (Rawls 1993, 34–39, 140–220): Er stellt sich eine Versammlung von gleichberechtigten Personen vor, die die Regeln ihres künftigen Zusammenlebens im Konsens festlegen, weshalb der Begriff „Naturzustand“ hier auch die falschen Assoziationen weckt und Rawls den Begriff des „Urzustands“ verwendet. Er behält jedoch die Vorstellung bei, dass die Urzustandsversammelten „rational“ im Sinne von eigeninteressiert entscheiden. Aber durch den „Schleier des Nichtwissens“, durch den für jede*n die Position, die er oder sie in der künftigen Gesellschaft einnehmen wird, verborgen bleibt, stellt er sicher, dass solch unfaire Ergebnisse wie ein Sklavenvertrag nicht beschlossen werden. Durch diesen Kunstgriff zwingt Rawls

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alle Urzustandsversammelten dazu, sich in jede mögliche Position in der späteren Gesellschaft hineinzuversetzen und zu prüfen, ob er oder sie es wollen kann, dass es solche Positionen gibt. Es ist dieser Schleier des Nichtwissens, der die Vertragstheorie von Rawls zu einer kantischen Ethik macht. „Der Urzustand läßt sich also auffassen als eine verfahrensmäßige Deutung von Kants Begriff der Autonomie und des Kategorischen Imperativs […]“ (Rawls 1993, 289; vgl. Rawls 1998, 80–158). In seinem Neuentwurf Gerechtigkeit als Fairness verbindet Rawls seine Konstruktion des Urzustandes explizit mit dem Anliegen, unfaire Ergebnisse eines reinen Kontraktualismus à la Buchanan zu verhindern (Rawls 2003, 40).

Details in der Ausgestaltung des Urzustands Mit seinem Urzustand, dessen entscheidende Merkmale vielfach kritisch kommentiert wurden (z. B. Frühbauer 2007, 45–61; Freeman 2019; Hinton 2015) bietet Rawls ein heuristisches Verfahren an, das zu fairen Gerechtigkeitsprinzipien führen soll. Rawls ordnet es der „reinen Verfahrensgerechtigkeit“ (vgl. Rawls 1993, 106–108, 142; Rawls 1998, 91) zu, weil es nicht dazu dient, sich dadurch an eine auch ohne dieses Verfahren bekannte Gerechtigkeit anzunähern („unvollkommene Verfahrensgerechtigkeit“) oder deren Erreichen zu garantieren („vollkommene Verfahrensgerechtigkeit“), sondern überhaupt erst herauszufinden, was denn als „gerecht“ gelten könnte. Deshalb ist es auch wichtig, sich den Urzustand möglichst anschaulich und detailliert vorzustellen. Ein zentrales Problem dabei ist die Frage, wie „dicht“ der Schleier des Nichtwissens ist. Die im Urzustand Versammelten müssen selbstverständlich weitreichende Kenntnisse über die „Grundgüter“ haben, deren Verteilung zu regeln ist. Sie müssen antizipieren, wie politische und wirtschaftliche Systeme im Allgemeinen funktionieren. Ohne etwas über die Rolle von ökonomischen Anreizen zu wissen, die immer mit

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Ungleichheiten verbunden sind, würde man das Differenzprinzip nicht für plausibel halten. Nach Rawls betrachten die Urzustandsversammelten bei der Beurteilung unterschiedlicher möglicher Verteilungen von materiellen Gütern allein den Anteil, den die am schlechtesten gestellte Person erhält, weil sie unter dem Schleier des Nichtwissens damit rechnen, dass sie deren Position einnehmen könnten und diese Position deshalb so gut wie möglich auszustatten versuchen („Maximin-Strategie“). Dabei nehmen sie auch keine Wahrscheinlichkeitsberechnungen vor. Für Rawls ist der Urzustand eine Entscheidungssituation, die nicht durch kalkulierbare Risiken, sondern durch eine vollständige Unsicherheit gekennzeichnet ist. Die Beobachtung, dass sich in Experimenten, in denen der Urzustand simuliert wurde, herausstellte, dass die Beteiligten nicht die Maximin-Strategie verfolgen, sondern auch sehr schlechte, aber extrem unwahrscheinliche Positionen akzeptierten (vgl. Frohlich/ Oppenheimer 1992), ist kein Gegenargument, da reale Personen mit mehr oder weniger hoher Risikobereitschaft eben schon nicht mehr die Bedingung des Schleiers des Nichtwissens erfüllen (vgl. Maus 2010, 80). Problematischer ist schon die Tatsache, dass Rawls kein Kriterium mehr für unterschiedliche Verteilungen materieller Güter angeben kann, die zwar die am meisten Benachteiligten maximal ausstatten, aber für die „Mittelschicht“ unterschiedliche Anteile bereithalten. Auch in seinem Neuentwurf sind die diesbezüglichen Ausführungen nicht wirklich überzeugend (vgl. Rawls 2003, 112–120). Schließlich ist das Differenzprinzip auch nur dadurch akzeptabel, dass die im Urzustand Versammelten keinen Neid empfinden, wenn andere mehr haben als sie selbst. Sie dürfen nicht eine Reduktion von Ungleichheit der eigenen Besserstellung vorziehen. Zudem setzt Rawls noch voraus, dass die im Urzustand Versammelten über einen „rein formalen Gerechtigkeitssinn“ verfügen, worunter er jedoch nur versteht, dass sie bereit sind, sich auch nach der Aufhebung des Schleiers des Nichtwissens an die vereinbarten Prinzipien zu halten (Rawls 1993, 169). Einen nicht mehr rein formalen Gerechtigkeitssinn

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benötigen dann die Bürger*innen, die sich in der realen Welt auf ein solches Gedankenexperiment einlassen und die Ergebnisse überprüfen (vgl. Rawls 1993, 68). Es muss immer strikt unterschieden werden, welche Haltung bei den Teilnehmenden im Gedankenexperiment (v. a. Rationalität – „rationality“ – im Sinne der Verfolgung eigener Interessen) und welche Haltungen für die Bürger*innen einer gerecht geordneten Gesellschaft (Vernünftigkeit – „reasonablity“ – im Sinne des Überlegungsgleichgewichts) vorauszusetzen sind (vgl. Freeman 2019).

Der Urzustand beim „späten Rawls“ Bekanntlich hat Rawls in den 1980er und 1990er Jahren seinen Ansatz teilweise modifiziert (Frühbauer 2007, 106–127), ohne dass damit eine harte Zäsur verbunden gewesen wäre. Zugleich hat er sich bemüht, Missverständnisse zu vermeiden und vorgetragener Kritik entgegenzutreten. So bezeichnet er deutlicher den Urzustand als „Darstellungsmittel“ bzw. als „ein Gedankenexperiment zum Zwecke der öffentlichen Klärung und der Selbstverständigung“ (Rawls 2003, 42). Weitere Veränderungen nimmt er bei der Argumentation für das Differenzprinzip vor, die er von der früher vorausgesetzten Risikoaversität abkoppeln und auf Argumente des öffentlichen Vernunftgebrauchs und der Reziprozität stützt (vgl. Rawls 2003, 188–210). Zum anderen klingen manche Passagen in „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ so, als wolle Rawls die Teilnehmenden des Urzustands selbst als moralische Subjekte begreifen (vgl. Rawls 1998, 93). Für Kersting führt dies zu einer „Vernebelung der Entscheidungssituation“ (Kersting 2015, 179). Liest man jedoch den Neuentwurf genauer und berücksichtigt die Unterscheidung von eigeninteressierter „Rationalität“ und moralisch begründeter „Vernünftigkeit“, so kommt man zu dem Schluss, dass auch weiterhin die Teilnehmenden am Urzustand unter dem Schleier des Nichtwissens eigeninteressiert rational ent-

G. Kruip

scheiden: Die Gerechtigkeitsprinzipien sind dann die, „welche sich die rationalen Repräsentanten der Bürger, wenn sie vernünftigen Beschränkungen [dem Schleier des Nichtwissens – G.K.] unterworfen wären, zur Regulierung ihrer Grundinstitutionen zu eigen machen würden“ (Rawls 2003, 135, vgl. 142).

Ein „globaler“ Urzustand? Rawls hat die Anwendung seines Gedankenexperiments auf globale Gerechtigkeit abgelehnt. Teilnehmer*innen der Urzustandsversammlung sind für ihn Menschen, die sich zum Zweck der Kooperation zu einer „Gesellschaft“ zusammenfinden, worunter er sich „ein geschlossenes System“ vorstellt, „das keine Verbindung mit anderen Gesellschaften hat“ (Rawls 1993, 14). Angehörige zukünftiger Generationen gehören jedoch sehr wohl zur Urzustandsversammlung, weshalb er einen „gerechten Spargrundsatz“ (Rawls 1993, 319–327) formulieren kann. Im Blick auf globale Gerechtigkeit kommt er in seinem späteren Werk Das Recht der Völker mehr oder weniger nur zu den bekannten Prinzipien des geltenden Völkerrechts. Jedoch haben Schüler von Rawls (v. a. Thomas Pogge und Charles Beitz) dafür plädiert, seine Theorie auch global anzuwenden. Wieso auch sollte ein Gedankenexperiment eines Urzustands, in dem sich die gesamte Menschheit versammelt, unplausibel sein? Das Hauptargument von Rawls dagegen lautet, es bestünden auf globaler Ebene nicht die für so weitgehende Verteilungsforderungen notwendigen dichten Kooperationszusammenhänge, weshalb die Pluralität von Kulturen und die unterschiedlichen Vorstellungen des Guten unterlaufen würden. Demgegenüber behaupten die „Globalisten“, die Frage einer gerechten Verteilung müsse angesichts der inzwischen erreichten globalen Vernetzung, der heute bewusst gewordenen planetaren Herausforderungen und der Geschichte gewachsener Abhängigkeiten auf der Grundlage des Gedankenexperiments eines globalen Urzustands angegangen werden (vgl. Kruip 2005).

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Zur Begründungsleistung des Rawlsschen Urzustandsmodells Es ist offensichtlich, dass nur diejenige Person die Gerechtigkeitstheorie von Rawls plausibel findet, die bereit ist, sich überhaupt auf sein Gedankenexperiment einzulassen, was nur möglich ist, wenn sie in ihm ihre eigenen Vorstellungen von Fairness repräsentiert findet bzw. sich in einem Überlegungsgleichgewicht zwischen ihren eigenen Überzeugungen und den Theorieangeboten auf eine Haltung einpendelt, die zu diesem Gedankenexperiment motiviert. Insofern ist es falsch, im Urzustand einen „archimedischen Punkt“ zu sehen (vgl. Rawls 1993, 296; Kersting 2015, 142–145; Daniels 1996, 47–65). Die Begründungslast wird nicht von den Bindungswirkungen eines darin geschlossenen „Vertrages“ getragen, sondern kohärenztheoretisch durch die Plausibilität der Grundannahmen, die in die Modellierung des Urzustandes eingehen. Ist das Gedankenexperiment aber einmal akzeptiert, kann es durchaus Ergebnisse zeitigen, die sonst möglicherweise nicht erreicht würden. So scheinen viele von einem starken Gerechtigkeitssinn geprägte Personen zunächst durchaus strenge Gleichheit mit Gerechtigkeit zu verbinden, durch das Rawlssche Gedankenexperiment sich dann aber vom Differenzprinzip überzeugen zu lassen. Der Umweg über das Gedankenexperiment erscheint deshalb nicht als sinnlos, es hat einen hohen heuristischen Wert (vgl. Maus 2010, 77). Für eine weltanschaulich plurale (Welt-)Gesellschaft bedeutet dies freilich, dass sehr viel wichtiger als der Konsens in einer vorgestellten Urzustandsversammlung ein „überlappender

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Konsens“ zwischen unterschiedlichen weltanschaulichen Positionen und auf dieser Grundlage ein nicht nur individuelles, sondern kollektives Überlegungsgleichgewicht Voraussetzung für die Plausibilität der Rawlsschen Gerechtigkeitsprinzipien ist.

Literatur Buchanan, James M.: Die Grenzen der Freiheit. Zwischen Anarchie und Leviathan. Tübingen 1985. Daniels, Norman: Justice and justification. Reflective equilibrium in theory and practice. Cambridge 1996. Freeman, Samuel: Original position. In: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford encyclopedia of philosophy (Summer 2019 Edition). Stanford 2019. Frohlich, Norman/Oppenheimer, Joe A.: Choosing justice. An experimental approach to ethical theory. Berkeley 1992. Frühbauer, Johannes: John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“. Darmstadt 2007. Hinton, Timothy (Hg.): The original position. Cambridge 2015. Kersting, Wolfgang: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt 1994. Kersting, Wolfgang: John Rawls zur Einführung. Hamburg 42015. Kruip, Gerhard: Vom „Sinn für Ungerechtigkeit“ zur „Globalisierung der Gerechtigkeit“. In: Ian Kaplow/ Christoph Lienkamp (Hg.): Sinn für Ungerechtigkeit. Ethische Argumentationen im globalen Kontext. Baden-Baden 2005, 100–116. Maus, Ingeborg: Der Urzustand. In: Otfried Höffe (Hg.): John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit. München 22010, 71–95. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 71993 (engl. 1971). Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. 2003 (engl. 2001). Stemmer, Peter: Handeln zugunsten anderer. Frankfurt a. M./New York 2000.

Utilitarismus, Kritik des

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Michael Roseneck

Der Theory of Justice kann unter anderem in der Hinsicht eine herausgehobene ideengeschichtliche Bedeutung zugesprochen werden, dass sie das in weiten Teilen des angelsächsischen Raums dominante utilitaristische Paradigma zugunsten einer Wiederbelebung des Kantianischen deutlich schwächte (vgl. Asbach 2009, 21). Es können diverse Erklärungen dafür gegeben werden, warum der Utilitarismus wissenschaftshistorisch gesehen diese zentrale Stellung einnahm (vgl. Ottmann 2008, 61; Osterhammel 2009, 1178; Niesen 2013, 12, 48), wobei im Folgenden bei einer wissenschaftstheoretischen angesetzt wird: der Erklärung von der angenommenen Wissenschaftlichkeit utilitaristischer Theoriebildung.

Das utilitaristische Paradigma und die Möglichkeit einer philosophischen Gerechtigkeitstheorie Die wissenschaftstheoretische Attraktivität des utilitaristischen Moral- und Gerechtigkeitsprinzips ergebe sich Rawls (2019 [1971], 41) zufolge daraus, dass es intuitiv zu unserer

M. Roseneck (*)  Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected]

Lebenserfahrung korrespondiere: So scheinen alle Menschen mit ihrem Tun und Unterlassen ihren persönlichen Nutzen, egal wie dieser inhaltlich konkretisiert wird, maximieren zum wollen. Dieser stete Antrieb zur Nutzenmaximierung erscheint dem Utilitarismus folgend als anthropologische Konstante und damit möglicher Referenzpunkt, wenn intersubjektiv nachvollziehbare Normen und die Grundstruktur einer gerechten Gesellschaft begründet werden sollen (vgl. Bentham 2013 [1789], 55). So könne zum Beispiel eine freiheitliche Ordnung heutzutage dann auf utilitaristische Art und Weise allgemein akzeptierbar begründet werden – das bedeutet, ohne auf vorkritische Prämissen wie zum Beispiel ein gottgegebenes Naturrecht oder dergleichen zu rekurrieren –, indem gezeigt wird, dass sie den größten Gesamtnutzen aller in ihr Lebenden realisiert. John Stuart Mill (1996 [1859], 233) zum Beispiel verfolgte eine eben solche Begründungsstrategie, indem er Freiheitsrechte als Bedingung für Innovation ausmachte, welche wiederum notwendig für gesamtgesellschaftlichen Fortschritt zum allgemeinen Nutzen sei. Nicht nur ist allerdings einzuwenden, dass das Prinzip der Nutzenmaximierung empirisch nur in deutlich eingrenzbaren Situationen, in der Regel monetären Hochkostensituationen, Anwendung findet und es dementsprechend nicht derart hin zu einer anthropologischen Konstante verallgemeinerbar ist wie vom ­klassischen

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_57

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Utilitarismus noch angenommen (vgl. Sen 1977). Rawls insistiert ferner darauf, dass es nicht Begründungsgrundlage einer sich als wissenschaftlich qualifizierenden Gerechtigkeitstheorie sein könne, da es die Verschiedenheit der Menschen „nicht ernst [nehme]“ (2019 [1971], 45) und folglich zu nicht intersubjektiv nachvollziehbaren Präskriptionen führe. Selbst wenn man folglich das Nutzenmaximierungsprinzip als anthropologisch konstant für individuelles Handeln ansehe, könne es allein nicht dazu dienen, intersubjektiv nachvollziehbar eine gerechte Grundstruktur herzuleiten. Neben der Verfolgung des Guten muss die Kategorie des Rechten als eigenständige und vorranginge hinzutreten. Das was in moralischer Hinsicht recht ist, schließt Rawls (ebd., 19, 34–39, 81) bekanntermaßen mit den zwei Gerechtigkeitsgrundsätzen aus dem Urzustand, deren Geltung allen anderen Wertbestimmungen nachgeordnet ist, zum Beispiel der Verfolgung des möglichst größten Nutzens für die Gesamtgesellschaft. Für demokratisch gesinnte Bürger*innen ergibt sich daraus, wie bei jeder deontologischen Ethik, das zu tun, was die Pflicht zur Gerechtigkeit verlangt, auch wenn ihr individueller oder der allgemeine Nutzen dadurch nicht (unmittelbar) befördert wird (ebd., 48, 50, 373 f.). Das bedeutet nicht, dass nicht auch gewisse Folgenbewertungen in die Reflexion darüber miteinfließen können, was die moralischen Pflichten in einer spezifischen Situation verlangen mögen. Das, was aus Pflicht zu tun ist, bestimmt sich jedoch unabhängig von dessen Nutzen hinsichtlich externer Ziele. Man kann sich zum Beispiel die Frage stellen, ob das Mittel des zivilen Ungehorsams in einer konkreten Situation dazu nützlich ist, bestehende Ungerechtigkeiten ins öffentliche Bewusstsein zu heben, jedoch bestimmt sich die Gerechtigkeit der Praxis des zivilen Ungehorsams nicht durch dessen Nützlichkeit in einer spezifischen Situation.

M. Roseneck

Utilitaristische Interpretationen der Theorie der Gerechtigkeit und Rawls’ Betonung ihres deontologischen Charakters Inwiefern differenziert sich diese Rawlssche Begründung des demokratischen Rechts- und Sozialstaats von einer utilitaristischen? Der klassische Utilitarismus könnte immerhin anmerken, dass der demokratische Rechts- und Sozialstaat insofern den maximalen Nutzen der größten Zahl von Betroffenen bewirkt, als positivtheoretische Gründe vorliegen, die diesen Schluss nahelegen – eine Position, die auch empirisch gut begründet zu sein scheint (Halperin, Siegle und Weinstein 2005). Man spricht hier auch von der Demokratiedividende. Mehr noch: Es existieren zwei spezifische Varianten des Utilitarismus, welche daran anschließend auch die unbedingte Adhärenz zu den Regeln des demokratischen Rechtsstaats rechtfertigen können, selbst wenn ihre Befolgung in situ nicht nützlich sein möge. Der Regelutilitarismus eines John C. Harsanyis (1982, 56–60) beispielsweise besagt, dass nicht die einzelne Handlung entsprechend des von ihr verursachten Gesamtnutzens zu bewerten sei, da eine eben solche auf die partikulare Handlung fokussierte Perspektive die Gefahr von Opportunismus, Durcheinander und einer darauffolgenden Destabilisierung der sozialen Ordnung verkenne. Wenn die Befolgung einer Handlungsmaxime immerzu abhängig von den spezifischen situativen Rahmenbedingungen wäre, erodiere die allgemeine Adhärenz zu dieser Handlungsmaxime, was langfristig einen schlechteren Gesamtnutzen bewirke als die im Einzelfall nicht nützliche Befolgung der Handlungsregel. Und ein hidden utilitarianism fügt dem hinzu, dass eine utilitaristische Ethik auf Anwendungsebene paradoxerweise deontologisch argumentieren müsse, um das teleologisch

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identifizierte Ziel der Nutzenmaximierung zu verwirklichen. Das Folterverbot etwa mag im Einzelfall nicht nützliche Konsequenzen mit sich führen, dennoch ist dessen langfristige Einhaltung einerseits und die daraus resultierende deontologische Festlegung auf dieses andererseits in the long run nützlich und sei folglich auch aus utilitaristischer Sicht der Dinge moralisch richtig. Eine deontologische Alltagsethik fungiert also als „gesellschaftlich nützliche Einbildung“ (Rawls 2019 [1971], 47). Gegen eine solche utilitaristische Interpretation seiner Gerechtigkeitstheorie verwahrt sich Rawls allerdings. Es könne zwar durchaus der Fall sein, dass eine gerechte Grundstruktur im Rawlsschen Sinne zugleich auch aus einer utilitaristischen Perspektive zu favorisieren ist, dies aber eine rein zufällige Überlappung ohne rechtfertigungstheoretische Gemeinsamkeiten zwischen der Theory und dem Utilitarismus wäre. So ist es möglich, dass der demokratische Rechts- und Sozialstaat, das größte Glück der größten Anzahl mit sich bringt. Ist dem aber so, handelt es sich dabei um eine nicht intendierte Nebenfolge (ebd., 45). Hauptaugenmerk der Rawlsschen Begründung des demokratischen Rechts- und Sozialstaats ist der Schutz der Freiheit und Gleichheit aller Individuen. Insbesondere das Differenzprinzip als Teil des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes könnte zum Stein des Anstoßes für eine utilitaristische Gerechtigkeitskonzeption werden. Deswegen eignet es sich auch insbesondere dazu, den deontologischen Grundzug von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie zu veranschaulichen. Man stelle sich die folgende Konstellation vor: Wenn der Gesamtnutzen einer Verteilung A der größtmöglich zu erreichende wäre, aber in der Verteilung A die*der am schlechtesten Gestellte weniger Grundgüter erhielt als vergleichsweise in einer alternativen Verteilung B, B gleichwohl einen geringeren Gesamtnutzen aufweist, so wäre dennoch B als durch eine entsprechende

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Grundstruktur zu verwirklichende Verteilung gerechtigkeitstheoretisch zu favorisieren. Dies aber widerspricht dem utilitaristischen greatest-happiness-principle. Inwiefern ist aber A im Vergleich zu B im Anschluss an die Theory ungerecht, das bedeutet, missachtet die Freiheit und Gleichheit eines jeden? In A würde insbesondere die Gleichheit der schlechtesten Gestellten insofern verletzt, als sie „bloß zum Mittel“ (Kant GMS, AA IV, 429,12) zugunsten der Nutzenmaximierung der Übrigen degradiert werden (Rawls 2019 [1971], 42). Nun könnte das Differenzprinzip insofern utilitaristisch aufgehoben werden, als es im Anschluss an die Grenznutzenlehre als Ableitung aus dem greatest-happiness-principle interpretiert wird (vgl. Pribram 1992, 522 f., 531–535). Die Grenznutzenlehre besagt, dass die Menge eines nutzbringenden Gutes antiproportional zur Nutzeneinheit des Gutes ist. Zum Beispiel zeigt die psychologische Forschung, dass monetärer Besitz nur bis zu einem gewissen Punkt glücklicher machen kann, ab diesem aber das Glücksempfinden stagniert oder sogar wieder abnimmt (vgl. Kahneman und Deaton 2010). Eine utilitaristische Begründung des Differenzprinzips könnte dementsprechend lauten, dass dieses insofern den gesellschaftlichen Gesamtnutzen zu maximieren hilft, als es dafür Sorge trägt, dass diejenigen, welche von der Zuteilung von Grundgütern einen vergleichsweise hohen Nutzen beziehen, die am schlechtesten Gestellten, besondere Berücksichtigung bei der Verteilung der Grundgüter genießen. Sie in den besonderen Fokus zu rücken, führt schlichtweg zu einer Maximierung des Gesamtnutzens. Dies wäre gleichwohl deswegen keine Rawls entsprechende Interpretation des Differenzprinzips, da Rawls (2019 [1971], 45) den Gerechtigkeitsgrundsätzen vor allen Zweckbestimmungen eine kategorische Geltung zuspricht. Ob die Gerechtigkeitsgrundsätze nun zu mehr oder weniger Gesamtnutzen führen, ist ein

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der Frage nach Gerechtigkeit nachgeordneter Aspekt. Im Mittelpunkt der Frage nach Gerechtigkeit steht dagegen die Achtung einer und eines jeden als „Zweck an sich selbst“ (Kant GMS, AA IV, 433, 28). Die Gründe für die Anerkennung des demokratischen Rechts- und Sozialstaats sind folglich, anders als beim Utilitarismus, nicht der langfristige Nutzen, sondern dass dieser die Würde eines jeden immerzu achtet. Während sich, zusammenfassend gesagt, im Utilitarismus der demokratische Rechts- und Sozialstaat extrinsisch als probates Instrument zur Verwirklichung eines möglichst hohen Gesamtnutzens rechtfertigt, begründet er sich in Rawls’ Gerechtigkeitstheorie intrinsisch als Institutionalisierung der Anerkennung jeder Bürgerin und jeden Bürgers als freies und gleiches Rechtssubjekt.

Folgen für eine utilitaristische Gerechtigkeitstheorie Die Unterschiede zwischen dem utilitaristischen Paradigma und dem Kantianischen sind dabei keine bloßen Geschmacksfragen: Wissenschaftstheoretisch sind zumindest die bis hier hin thematisierten Utilitarismen deswegen nicht für eine als wissenschaftlich zu qualifizierende politische Philosophie geeignet, weil sie nicht die intersubjektive Nachvollziehbarkeit ihrer Begründung gewährleisten können. Denn der Person oder Gruppe, die Nachteile vonseiten utilitaristisch motivierten staatlichen Handelns befürchten muss, kann das utilitaristische Paradigma gegenüber nicht gerechtfertigt werden. Ein weiterer Aspekt stellt die intersubjektive Nachvollziehbarkeit utilitaristischer Ansätze ferner infrage. Der Utilitarismus operiert mit der Prämisse, dass der Zweck von Gerechtigkeit darin bestehe, den Nutzen der Gesamtheit zu vergrößern. Insofern aber Menschen durchaus auch andere Zwecke verfolgen können als die bloße Nutzenmaximierung, diese anderen Zwecke vielleicht sogar auch höher bewerten, ist einzuwenden, dass auch greatest-happinessprinciple nicht intersubjektiv nachvollziehbar ist. Die Problematik besteht also darin, dass die

M. Roseneck

bis jetzt behandelten Utilitarismen, ohne eine allgemein akzeptierbare Begründung zu geben, bereits mit einem substantiell aufgeladenen Prinzip operieren, wenn sie sich der Frage nach einer gerechten Grundstruktur zuwenden. Insofern die Theory selbst keine Gerechtigkeitsgrundsätze vorab präjudiziert, sondern diese erst aus dem Gedankenexperiment des Urzustandes deduziert, kann sie zumindest weitaus begründeter für sich in Anspruch nehmen, intersubjektiv nachvollziehbar zu sein und sich damit als eine wissenschaftliche politische Philosophie zu qualifizieren (Rawls 2019 [1971], 47). Eine letzter Kritikstrang am utilitaristischen Paradigma findet sich schließlich in der Theory mehr en passant. So diagnostiziert Rawls (ebd., 48) utilitaristischen Begründungen allgemein eine ‚Anomalie‘. Sie zielen auf ein kollektives Gutes, zum Beispiel die Maximierung des Gesamtnutzen in einer Gemeinschaft, dieses soll aber dem Einzelnen gegenüber gerechtfertigt werden. Der Utilitarismus begeht dementsprechend einen performativen Selbstwiderspruch, indem der semantische Gehalt dessen, was er präskribiert, inkohärent mit der Argumentationspraxis selbst ist (vgl. Apel 1987, 181–184). Auch dies kann seine intersubjektive Nachvollziehbarkeit – in jeglicher Spielart – anzweifeln lassen.

Diskussion des Präferenzutilitarismus vor dem Hintergrund von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie Mit dem Präferenzutilitarismus Peter Singers trat kurze Zeit nach der Erstveröffentlichung der Theory gleichwohl eine neue, elaborierte Variante des Utilitarismus in den akademischen Diskurs ein, welche Rawls’ Einwände in Bezug auf die allgemeine Nachvollziehbarkeit utilitaristisch gewonnener Präskriptionen möglicherweise zu entkräften imstande ist. Wie gesehen, insistiert Rawls’ Theorie einerseits darauf, dass der Utilitarismus die Verschiedenheit der Menschen „nicht ernst [nehme]“ (Rawls 2019 [1971], 45), indem er (a) unterstellt, die Maximierung von Nutzen sei die alleinige Triebfeder mensch-

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lichen Handelns (vgl. Bentham 2013 [1789], 55). Andererseits fehle ihm (b) eine Konzeption von unbedingter Menschenwürde, weswegen er Gefahr laufe, um der Maximierung des Gesamtnutzens Willens den Einzelnen oder Wenige, mit Kant gesagt, ‚bloß zum Mittel‘ zu entwerten. ad (a): Singers (1982, 25–28; 1984 [1979], 33–35) Utilitarismus begegnet diesem Kritikstrang damit, dass er nicht weiter davon spricht, den Nutzen von Betroffenen zu maximieren, sondern lediglich ihre Präferenzen möglichst umfänglich zu realisieren. Menschen mögen zwar unterschiedliche Vorstellungen des guten Lebens haben und nicht alle werden dabei die schiere Verfolgung des eigenen Nutzens, sei es nun „Gewinn, Vorteil, Freude, Gutes oder Glück“ (Bentham 2013 [1789], 56) im Blick haben. Es lässt sich aber nicht ohne gute Gründe – auch über menschliche Wesen hinaus (Singer 1982; 1984 [1979], 70–85) – davon sprechen, dass Menschen, vollkommen neutral gesagt, über Präferenzen verfügen, die sie realisieren wollen. Der Präferenzutilitarismus ersetzt folglich das berechtigterweise umstrittene Prinzip der Nutzenmaximierung durch das der Präferenzverwirklichung, um so für die Diversität von Lebensformen und -plänen sensibler zu werden. ad (b): Ferner werden Präferenzen im Präferenzutilitarismus gewichtet (Singer 1984 [1979], 36). Verfügt Person x über die Präferenz, a zu verwirklichen, und Person y über die Präferenz, b zu verwirklichen, so fragt ein präferenzutilitaristischer Blick auf diese Situation danach, wie stark ausgeprägt die Präferenzen ausfallen. Es kann nämlich der Fall sein, dass die Präferenz von x, a, um vieles stärker ausgeprägt ist, als die Präferenz von b, y zu realisieren. Zum Beispiel könnte es sein, dass a überlebensnotwendig für x ist, während b y nur ein gewisses Wohlsein, aber nicht mehr bewirkt. Hier wäre es nun moralisch richtig der Präferenzverwirklichung a Vorzug einzuräumen. Die Präferenz eines Hungernden nach einem Stück Kuchen beispielsweise, ist weitaus höher zu quantifizieren als die eines doch eigentlich satten Genießers. Daran anschließend könnte man sich vorstellen, dass die Präferenz an einem

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menschenwürdigen Leben eine derart hohe Wertigkeit erhält, dass sie fast so etwas wie eine utilitaristische Menschenwürdekonzeption formulieren könnte, auch wenn ihr natürlich die deontologische Konnotation abgeht. Jedoch lässt sich anführen, dass auch gegen Präferenzutilitarismus einzuwenden wäre, dass die Weichenstellung von der Nutzenmaximierung zur reinen Präferenzverwirklichung rechtfertigungstheoretisch nicht überzeugen kann, da auch hier die kategoriale Differenzierung zwischen dem Guten und Rechten außenvorbleibt. Denn: „Wenn es also dem Menschen Freude macht, andere zu diskriminieren, ihnen weniger Freiheiten zu gewähren, um ihr eigenen Selbstgefühl zu erhöhen, dann ist die Befriedigung dieser Bedürfnisse bei unseren Überlegungen gemäß ihrer Stärke, oder sonst einer Eigenschaft, mitzuzählen, genau wie bei anderen Bedürfnissen“ (Rawls 2019 [1971], 49, Kursivdruck M.R.).

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Verfassung Michael Becker

In der politischen Theorie des Liberalismus ist die rechtliche Verfassung eines Gemeinwesens von Anfang an zumindest implizit Thema gewesen. Bereits in Lockes zweiter „Abhandlung über die Regierung“ manifestiert sich die erste Handlung eines konstituierten ‚body politic‘ im Akt der Konkretisierung des natürlichen Gesetzes bzw. der Einrichtung einer Legislative. Das Thema ‚Verfassung‘ wird dann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausführlich abgehandelt in den Federalist Papers (und zuvor bereits in Rousseaus Korsika-Schrift). Im 19. Jahrhundert wendet sich die Diskussion bei Tocqueville und Mill dann mehr der neuen Herrschaftsform der Demokratie sowie deren Verfassung zu – und bei John Rawls wird schließlich die Constitutional Democracy zu einem zentralen Topos seines Werkes. Folgende Aspekte sind in diesem Zusammenhang zu erörtern: Zunächst werden die Ausgangskonstellation in Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit sowie die unabdingbaren, ‚essentiellen‘ Bestandteile einer konstitutionellen Ordnung betrachtet. Sodann sind die Rechtfertigung und die Entstehungsbedingungen moderner Verfassungen zu skizzieren sowie die Beschaffen-

M. Becker (*)  Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

heit eines Verfassungskonsenses. Zentral im Rawlsschen Konstitutionalismus ist die konstitutionelle Demokratie, die gegenüber der prozeduralen Demokratie abzugrenzen ist. Schließlich wird die Vorbildhaftigkeit eines Verfassungsgerichts im Zusammenhang mit dem auf die Verfassung bezogenen öffentlichen Vernunftgebrauch zu erörtern sein.

Wesentliche Verfassungsinhalte Am Anfang von Eine Theorie der Gerechtigkeit entwirft Rawls eine Skizze zur Rechtfertigung einer wohlgeordneten Gesellschaft (Rawls 1975, 19–23). Dabei handelt es sich um eine Gesellschaft, in der bestimmte, in einer fairen Ausgangssituation festgelegten Gerechtigkeitsgrundsätze allseitige Anerkennung genießen und vor allem die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen sich nach ihnen richten. Gerechtigkeit sei die erste Tugend sozialer Institutionen, und mit gerechten Grundsätzen könne die Grundstruktur einer Gesellschaft, wozu Verfassung, Familie, Eigentum und Märkte gehörten, näher bestimmt werden. Hauptgegenstand der Rawlsschen Theorie ist damit die distributive Gerechtigkeit, also die Verteilung von Grundgütern, die rationale und vernünftige Akteurinnen zur Realisierung ihrer Lebenspläne benötigen. Bei diesen Gütern handelt es sich um Rechte, Freiheiten, Chancen sowie Einkommen und Ver-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_58

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mögen. Eine liberale Verfassung trägt mit ihrem Grundrechtskatalog vor allem zur Institutionalisierung der gleichen Freiheit bei. Darüber hinaus ist sie auch ein Garant für eine (relativ) gerechte Gesetzgebung. Rawls’ Konstitutionalismus-Verständnis in Eine Theorie umfasst damit einen Grundrechtskatalog, ein Zwei-Kammer-System sowie die Gewaltenteilung. In Politischer Liberalismus (2003, 329–333) und in Gerechtigkeit als Fairneß (2006, 83–88) werden die wesentlichen Verfassungsinhalte (constitutional essentials) einer liberalen Ordnung angeführt: zum einen die allgemeine Struktur des Staates  – gemeint ist damit lediglich der Unterschied zwischen einem präsidentiellen und einem parlamentarischen Regierungssystem  –, und zum anderen die gleichen Grundrechte und Freiheiten der Bürger. Dieser Grundrechtskatalog ist über die Zeit unverändert geblieben, er enthält u. a. eine Garantie der Rede- und Versammlungsfreiheit, Gewissens- und Gedankenfreiheit, des persönlichen Eigentums und des Schutzes vor willkürlicher Verhaftung. Zudem findet sich hier die Aufteilung der beiden Gerechtigkeitsprinzipien auf die beiden Felder der Verfassungs- und der normalen Politik. Während die mit dem ersten Gerechtigkeitsprinzip geforderten Grundrechte selbstredend Verfassungsrang erhalten, gehören Forderungen des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes, also die faire Chancengleichheit und das Differenzprinzip, nicht zu den Wesensgehalten, sondern werden in den Bereich der normalen Politik verwiesen. Begründet wird diese Aufteilung damit, dass die Absicherung der Grundfreiheiten dringlicher sei, als Strategien zur Verringerung sozialer Ungleichheit, und dass sowohl die Bestimmung als auch Handhabung der Grundfreiheiten unstrittiger und einfacher umzusetzen sei.

Rechtfertigung und Entstehung einer liberalen Verfassung Hinsichtlich der theoretischen Rechtfertigung einer Verfassung können Rawls’ Ausführungen zum Vier-Stufen-Gang sowie zum Verfassungskonsens herangezogen werden. In Eine Theorie

M. Becker

findet sich in Kap. 31 zu Anfang von Teil 2 die Darstellung einer idealen Implementierung der in Teil 1 begründeten Gerechtigkeitsprinzipien (Rawls 1975, 223–229). In diesem Zusammenhang wird die konstitutionelle Demokratie als wichtigste Institution der gesellschaftlichen Grundstruktur bezeichnet, und zu ihrer Rechtfertigung werden die Gerechtigkeitsprinzipien als unabhängiger Maßstab betrachtet: Das erste Prinzip, das die gleichgroßen Grundfreiheiten impliziert, wird zum „Hauptgrundsatz für die verfassunggebende Versammlung“ (ebd., 227), das zweite Prinzip mit den tendenziell kontroversen Vorstellungen zur soziale Gerechtigkeit wird Gegenstand der einfachen Gesetzgebung, d. h. der normalen Politik. Die Grundsätze und die daraus abgeleiteten konkreteren Überlegungen sollen dazu dienen, bereits existierende Verfassungen auf ihre Gerechtigkeit hin zu überprüfen. Mit dem Vier-Stufen-Gang wird deutlich, dass Rawls seine Theorie von Anfang an für die Legitimation heimischer Gesellschaften entworfen und sich auf „tiefsitzende Überzeugungen und Traditionen moderner demokratischer Staaten“ (Michelman 2006, 397) bezogen hatte. Umso verwunderlicher ist es daher, dass er die Federalists Papers, die erste grundlegende politische Theorie des modernen Verfassungsstaates, so gut wie vollkommen ignoriert und ihnen auch im Rahmen seiner Geschichte der politischen Philosophie bzw. Geschichte der Moralphilosophie keinerlei Beachtung schenkt. Auf die Entstehungsbedingungen realer Verfassungen kommt Rawls an verschiedenen Stellen, allerdings jeweils nur kurz und allgemein zu sprechen (2003, 19–22). Der Verfassungskonsens (constitutional consensus) ist dabei das Bindeglied zwischen einem sogenannten modus vivendi und einem übergreifenden Konsens. Zur Veranschaulichung des modus vivendi wird die Situation in Europa zur Zeit der Glaubenskriege im 16. Jahrhundert herangezogen. Rawls versteht die damalige Lage so, dass zwischen den streitenden religiösen Lagern Fragen nach der Möglichkeit einer Koexistenz aufgeworfen worden seien. Aus einem von allen Seiten

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zunächst lediglich opportunistisch akzeptierten religiösen Pluralismus hätten sich nach und nach der Toleranzgedanke und die auf individuelle Freiheit und Wahlverfahren bezogenen liberalen Vorstellungen entwickelt (die dem ersten Rawlsschen Gerechtigkeitsprinzip ähneln). Historische Zufälligkeiten und eine gewisse Offenheit der real existierenden umfassenden Lehren religiöser und nicht religiöser Art hätten dann eine Entwicklung begünstigt, in der das argwöhnische Nebeneinander der Streitparteien von einem auf Prinzipien beruhenden Verhältnis abgelöst worden sei: Die liberalen Prinzipien können allmählich von den vernünftigen umfassenden Lehren anerkannt und bejaht werden. Hier ergibt sich eine Parallele zu einer Bemerkung Hegels in seiner Rechtsphilosophie (1982, 440 Zusatz), wonach eine Verfassung „kein bloß Gemachtes“, sondern die „Arbeit von Jahrhunderten“ sei. Der vernünftige Pluralismus ist das Hauptmerkmal dieses Verfassungskonsenses, der sich zu einem übergreifenden Konsens dann weiterentwickeln kann, wenn die verschiedenen Weltanschauungen nicht nur die liberalen Verfassungsinhalte anerkennen, sondern sich auch untereinander als vernünftige und die konstitutionellen Prinzipien anerkennenden Lehren respektieren. Die als freistehend begriffenen liberalen Elemente des Verfassungskonsenses müssen allerdings nicht nur in die Wertestruktur der umfassenden Lehren integriert, sondern gegebenenfalls modifiziert werden, sollten sie mit den allgemeinen Anforderungen der liberalen Grundsätze nicht in Übereinstimmung zu bringen sein. Der Verfassungskonsens erfordert also einen Lernprozess der an ihm beteiligten Wertgemeinschaften.

Die konstitutionelle Demokratie Hinsichtlich der institutionellen Ausgestaltung einer wohlgeordneten Gesellschaft bzw. eines Verfassungsstaates (constitutional regime) wird bei Rawls kaum mehr als die Unterscheidung zwischen einem präsidentiellen und einem parlamentarischen Regierungssystem angeführt. Das Demokratiemodell, das er für den Politischem

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Liberalismus für angemessen hält, wird dagegen konkreter bestimmt. Darin wird zunächst die von ihm favorisierte ‚konstitutionelle‘ von einer ‚prozeduralen‘ Demokratie abgegrenzt: „Eine prozedurale Demokratie […] ist ein Staatswesen, in dem es keine konstitutionellen Grenzen der Gesetzgebung gibt; alles, was eine Mehrheit (oder sonst eine Vielzahl) beschließt, ist Gesetz“; es gibt „kein Hindernis für Gesetze, von denen die Freiheit des nichtpolitischen Denkens und Redens […] negiert werden“ (Rawls 2006, 225 f.). Prozeduralistinnen sind auf die Verfahren der politischen Selbstbestimmung fixiert und unterscheiden dementsprechend Grundrechte, die unabdingbar (integral) sind für den demokratischen Prozess, von solchen, die dafür entbehrlich (external) sind (siehe z. B. Dahl 1989, Kap. 14). Die grundsätzliche Frage, die sich dahinter verbirgt, ist diejenige nach der Verlässlichkeit eines demokratischen Schutzes nichtpolitischer Interessen. Prozeduralisten sind vergleichsweise optimistisch und würden im Zusammenhang mit der von Liberalen befürchteten demokratisch legitimierten Eingriffen in die nichtpolitischen Interessen von Bürgerinnen auf die Möglichkeit eines Lernprozesses beim Demos verweisen. Zumindest mittelfristig könne demnach der Schutz dieser Interessen auch dem demokratischen Prozess anvertraut werden. Liberale wie Rawls plädieren dagegen für eine in Form eines Obersten Gerichts in die Verfassung integrierte Schutzeinrichtung. Eine weitere Spezifizierung der verfassten Demokratie ergibt sich aus Rawls’ Bezugnahme auf die zeitgenössische amerikanische Verfassungstheorie, u. a. bei John Agresto, Jon Elster und Stephen Holmes (Rawls 2003, 333– 345). Mit Locke unterscheidet Rawls dabei die konstitutive Macht des Volkes von der gewöhnlichen Macht der Amtsinhaber und im Anschluss daran das höhere Recht (einer Verfassung) vom gewöhnlichen Recht der einfachen, parlamentarischen Gesetzgebung. Außerdem hat eine demokratische Verfassung das Prinzip der politischen Autonomie angemessen zum Ausdruck zu bringen und die wesentlichen Verfassungsinhalte festzuschreiben („ein für allemal“, ebd.,

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335). Schließlich liege in der konstitutionellen Demokratie die „letzte Macht“ (ebd.) in der verantwortungsbewussten Zusammenarbeit aller drei konstituierten Gewalten. Mit diesen Merkmalen bestimmt Rawls die konstitutionelle Demokratie zugleich als dualistisch. Er folgt darin in erster Linie Bruce Ackermans Rekonstruktion der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte (1989; 1991). Dualistisch ist dessen Konzeption, weil sich die Souveränität des Volkes auf zwei Ebenen niederschlägt: zum einen auf der Ebene der normalen Politik, bei der parlamentarische Mehrheiten Gesetzesrecht im Rahmen der Verfassung kreieren, zum anderen auf der Ebene der Verfassung, die unter den Bedingungen des Politischen Liberalismus Ergebnis eines demokratischen Prozesses sein muss. Ackerman sieht die wesentlichen Verfassungsinhalte durch sogenannte constitutional moments (im Fall der USA seien das die Gründung, der Wiederaufbau bzw. die Reconstruction sowie der New Deal) bestimmt. Aufgrund der stark mobilisierten und partizipierenden Öffentlichkeit sowie der daraus resultierenden Gründlichkeit der Beratungen habe das in diesen Phasen geschaffene höhere Recht eine größere Legitimität als das aus den Interessenkämpfen hervorgehende normale oder einfache Recht. Das Verfassungsrecht benötigt daher gegenüber den Unwägbarkeiten der Tagespolitik einen institutionalisierten Schutzmechanismus in Form eines Verfassungsgerichts. Rawls schließt sich dieser Position vorbehaltlos an. Dies ist auch eine Konsequenz seiner Kritik an der prozeduralistischen Demokratie: für Rawls ist es unabdingbar, bestimmte Gesetzesinhalte, wiewohl das Ergebnis eines formal korrekten politischen Prozesses, als unvereinbar mit zentralen Inhalten der Verfassung erklären zu können. Die von den Prozeduralistinnen befürchtete, durch ein Oberstes Gericht herbeigeführte „counter-majoritarian difficulty“ (Bickel 1986, 16–23) existiert, so Rawls, lediglich innerhalb eines eindimensionalen Politikverständnisses, nicht jedoch in der dualistischen

M. Becker

Demokratie, in der ein Verfassungsgericht einen aus seltenen Verfassungsmomenten hervorgegangenen und klar artikulierten konstitutionellen Willen des Volkes zu bewahren versucht. Darüber hinaus kommt einem Supreme Court bei Rawls noch eine weitere Funktion zu, in dem er ein Vorbild für das öffentliche Räsonieren bzw. für den öffentlichen Vernunftgebrauch abgibt.

Verfassungsgericht und öffentlicher Vernunftgebrauch Die Öffentlichkeit des Vernunftgebrauchs im Allgemeinen ist durch drei Merkmale bestimmt (Rawls 2003, 6. Vorlesung, hier 312 f.): erstens handelt es sich um die Vernunft gleicher Bürger, die eine Öffentlichkeit konstituieren; zweitens hat deren Räsonnement die Gerechtigkeit der heimischen Gesellschaft zum Gegenstand, drittens sind ihr Wesen und ihr Inhalt öffentlich, weil beides in einer politischen Gerechtigkeitskonzeption, die sich idealerweise in einer Verfassung niederschlägt, zum Ausdruck kommt. Der öffentliche Vernunftgebrauch der Staatsbürgerinnen unterscheidet sich vom nichtöffentlichen, den sie entweder in nichtpolitischen Organisationen wie Universitäten und Kirchen machen, dann spricht Rawls von sozialer Vernunft, oder demjenigen, der in noch kleineren Gruppen wie Familien anzutreffen ist (domestic reason). Der öffentliche Vernunftgebrauch entspricht der bürgerlichen Pflicht (duty of civility), sich gegenseitig zu erläutern, inwiefern die in politischen Auseinandersetzungen vorgebrachten Argumente von er öffentlichen Gerechtigkeitskonzeption getragen werden. Unter der Voraussetzung eines realen Verfassungskonsenses erscheint dies als keine allzu weitreichende Forderung. Schließlich hatte Tocqueville bereits Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA die Tendenz beobachtet, dass alle politische Fragen in rechtliche übersetzt würden und der Juristengeist damit in weiten Teilen der Gesellschaft Verbreitung finde. Zugleich würde durch den öffentlichen Vernunftgebrauch

58 Verfassung

eine Versöhnung der Bürgerinnen mit ihrer realen Verfassung sowie eine Anerkennung der in ihr sich manifestierenden Wirklichkeit des Vernünftigen im Sinne Hegels ermöglicht werden (Becker 2013, 234–236). Allerdings stößt die Begrenzung der öffentlichen Beratung auf Schwierigkeiten, wenn eine auf den Verfassungskonsens verpflichtete Bürgerschaft sich ausschließlich auf die darin enthaltenen Gründe berufen kann, nicht jedoch auf die ganze Wahrheit, wie sie sich unter Umständen aus der Perspektive einer umfassenden Lehre, der Individuen angehören, ergeben kann. Rawls hält dem entgegen, dass auch in anderen Zusammenhängen, etwa bei der Beweiserhebung in Strafverfahren, bestimmte Wahrheitsaspekte ausgeschlossen werden müssen, um die Integrität von Personen zu schützen. Vor allem aber impliziert der unterstellte Verfassungskonsens, dass für die Begründung von öffentlichen Gesetzen mit Zwangscharakter nur solche Argumente zulässig sind, die sich auf die wesentlichen Verfassungsinhalte beziehen, die von allen anerkannt werden. In erster Linie soll der öffentliche Vernunftgebrauch jedoch von Amtsinhaberinnen, den Angehörigen der Legislativ- und Exekutivorgane geleistet werden, vor allem von Verfassungsrichtern. Diesen Punkt betont Rawls denkbar stark, indem er behauptet, dass „die öffentliche Vernunft die Vernunft des Verfassungsgerichts sei“ (2003, 333), und es darüber hinaus als Aufgabe eines solchen Gerichts betrachtet, der öffentlichen Vernunft „anhaltende Wirksamkeit zu verleihen“ (ebd., 338). Indem Verfassungsrichterinnen dies tun, versuchen sie, die beste Interpretation nicht nur der wesentlichen Bestandteile der Verfassung, sondern auch des im amerikanischen Rechtssystem wichtigen Falloder Richterrechts zu entwickeln. Dabei orientiert sich Rawls an dem interpretativen Ansatz, den Ronald Dworkin u. a. in Law’s Empire ausgeführt hatte. Das Verfassungsgericht, so Rawls, werde durch seine hervorgehobene Stellung dem Demokratieprozess nicht gefährlich, wie Prozeduralisten befürchten, es wirke vielmehr für den

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öffentlichen Vernunftgebrauch in einer konstitutionellen Demokratie vorbildhaft. Diese Vorbildhaftigkeit gilt auch für den letzten im Zusammenhang mit dem Verfassungsgericht zu erörternden Aspekt, den ‚Bürden des Urteilens‘. Solche Bürden treten generell und unvermeidlich bei rationalen und vernünftigen Personen bzw. beim Gebrauch der theoretischen und praktischen Vernunft auf (vgl. Rawls 2003, 129– 131 und Rawls 2006, 68 f.): Einen Konsens im theoretischen Vernunftgebrauch erschweren bereits unterschiedliche empirische Befunde und deren Gewichtungen, unscharfe Begrifflichkeiten sowie individuell verschiedene ‚Gesamterfahrungen‘. Der praktische Vernunftgebrauch muss zusätzlich mit verschiedenen ‚normativen Erwägungen‘ (moralischen und politischen Werten) bei urteilenden Personen rechnen. Aufgrund dieser komplexen Struktur vernünftigen Urteilens gelangt der Politische Liberalismus zu dem Schluss, dass es zumindest in schwierigen Fällen nicht immer eine eindeutige Antwort gibt. Für Rawls bedeutet dies nicht, dass in dieser Sache noch nicht lange genug diskutiert wurde, vielmehr rechnet er damit, dass es vernünftige Meinungsverschiedenheiten (reasonable disagreements) gibt, die nicht ausgeräumt werden können. In der Verfassungsjudikatur schlägt sich dies bekanntlich in den Instituten der abweichenden und  der konkurrierenden Meinung nieder. Der Rawlssche Begriff der Verfassung steht in der Tradition des Liberalismus und zählt zu seinen wesentlichen Inhalten die individuellen Grundrechte, ein zweistufiges Rechts- bzw. Macht-System sowie die Gewaltenteilung. Dieses Verfassungsverständnis wird ergänzt im Rahmen der Ausführungen zum Verfassungsstaat, der die konstitutionelle Demokratie umfasst und den Verfassungskonsens, der gleichwohl begründete Meinungsverschiedenheiten erlaubt. Als zentrale Institution dieses Konstitutionalismus fungiert ein das höhere Recht garantierende Verfassungsgericht. Rawls’ Verfassungsbegriff bzw. Konstitutionalismus insgesamt ist in einen Politischen Liberalismus eingebettet, der als ‚freistehende Auffassung‘ präsentiert wird und

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sich als Rekonstruktion realer Vernünftigkeit in westlichen Verfassungsstaaten versteht.

Literatur Ackerman, Bruce: Constitutional politics/constitutional law. In: Yale Law Journal 99 (1989), 453–546. Ackerman, Bruce: We the people. Bd 1: Foundations. Cambridge, Mass./London 1991. Becker, Michael: Sittlicher Liberalismus? Individualismus und Gemeinschaft in Rawls’ Rechtfertigung einer freiheitlichen politischen Ordnung. In: Ders.: Politischer Liberalismus und wohlgeordnete Gesellschaften. John Rawls und der Verfassungsstaat. Baden-Baden 2013, 219–238. Bickel, Alexander M.: The least dangerous branch. The Supreme Court at the bar of politics [1962]. New Haven/London 51986.

M. Becker Dahl, Robert: Democracy and its critics. New Haven/ London 1989. Dworkin, Ronald: Law’s empire. Cambridge, Mass./London 1986. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts [1821]. Theorie Werkausgabe Bd. 7. Frankfurt 1982. Michelman, Frank I.: Rawls on constitutionalism and constitutional law. In: Samuel Freeman (Hg.): The Cambridge Companion to Rawls. Cambridge 2006, 394–425. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt 1975 (engl. 1971). Rawls, John: Geschichte der Moralphilosophie. Frankfurt 2002 (engl. 2000). Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt 2003 (engl. 1993). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Frankfurt 2006 (engl. 2001). Rawls, John: Geschichte der politischen Philosophie. Frankfurt 2008 (engl. 2007).

Vernunft/Vernünftigkeit

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Julian Prugger

Der Begriff ‚Vernunft‘ bzw. ‚Vernünftigkeit‘ stellt in John Rawls Eine Theorie der Gerechtigkeit ein zentrales Konzept für die Begründung von Gerechtigkeit als Fairness dar. In der vertragstheoretischen Konzeption des Urzustands verhandeln Menschen auf vernünftige Art und Weise über grundlegende Prinzipien, die das Fundament für die Einrichtung gesellschaftlicher Institutionen bilden sollen. Das Konzept der Vernunft garantiert, dass die ausgehandelten Ergebnisse dieser Vertragssituation von allen Menschen als gerecht anerkannt werden und somit allgemeine Gültigkeit beanspruchen können. In der Literatur wurde vielfach kritisiert, dass Rawls in Eine Theorie der Gerechtigkeit Vernünftigkeit lediglich als Teilbereich einer Theorie des Rationalen versteht. Dieser Kritik versucht er in seinen späteren Werken gerecht zu werden, indem er explizit zwischen einem rationalen und einem vernünftigen Vermögen der Vertragsparteien im Urzustand unterscheidet. Aufgrund dieser nachträglichenKonkretisierung ergeben sich, wie später dargestellt, begriffliche Unschärfen in der deutschen Übersetzung von Eine Theorie der Gerechtigkeit, weshalb im Folgenden die englischen Begriffe teilweise in Klammern beigestellt sind. J. Prugger (*)  Hochschule für Philosophie München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]

Das Konzept der Vernunft tritt im Folgenden auf zwei verschiedenen Weisen auf: 1) Auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen dem rationalen (engl. ‚rational‘) und dem vernünftigen (engl. ‚reasonable‘) Vermögen der Vertragsparteien, spricht Rawls von der Einheit der praktischen Vernunft im Urzustand: Rationale, nutzenmaximierende Personen verhandeln unter dem Schleier des Nichtwissens über grundlegende gesellschaftliche Prinzipien. Der Schleier des Nichtwissens ist dabei Ausdruck des vernünftigen Vermögens der Parteien. Er repräsentiert die Bereitschaft zur Kooperation und die Fähigkeit, Prinzipien zu formulieren und auszuhandeln, die für alle Parteien, unabhängig von ihrem spezifischen Konzept des guten Lebens, akzeptabel sind. 2) Diese vertragstheoretische Konzeptualisierung stellt sich auch politisch als vernünftig heraus, da vor dem Hintergrund pluraler Lebenskonzepte lediglich die Idee der Vernünftigkeit eine hinreichende Bedingung politischer Rechtfertigung darstellt (für eine vergleichbare Analyse von Vernunft bzw. Vernünftigkeit bei Rawls, vgl. z. B. Krasnoff 2015). In den folgenden Abschnitten wird die Entwicklung des Vernunftbegriffs in Rawls’ Schriften dargestellt. Es werden die verschiedenen Bedeutungs- und Verwendungsweisen von Vernunft voneinander abgegrenzt und ihr Zusammenspiel als notwendige Voraussetzung für die Begründung und Rechtfertigung gerechter Prinzipien innerhalb der politischen Philosophie wird erläutert.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_59

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Begriffliche Unschärfen und ihre Auflösung durch den Kantischen Konstruktivismus In seinem Hauptwerk von 1971 schreibt Rawls: „[E]ine Gerechtigkeitsvorstellung ist vernünftiger oder eher zu rechtfertigen als eine andere, falls vernünftige Menschen im Urzustand die einen Grundsätze anstelle der anderen als gerecht akzeptieren würden“ (Rawls 1979, 35; Rawls 1971, 17). Hier ist zunächst auf ein Problem in der deutschen Übersetzung hinzuweisen, denn in der englischen Originalversion verwendet Rawls für den Begriff ‚vernünftig‘ einmal ‚reasonable‘ („one conception of justice is more reasonable“) und einmal ‚rational‘ („rational persons in the original position“). Diese Unterscheidung ist wesentlich für das spätere Verständnis des Rawlsschen Vernunftbegriffs sowie die vertragstheoretische Begründung des Urzustands. Diese konzeptuelle Trennung von ‚vernünftig‘ (engl. ‚reasonable‘) und ‚rational‘ (engl. ‚rational‘) fehlt jedoch in Eine Theorie der Gerechtigkeit. Die Unschärfe in der Begriffsbestimmung hat nicht nur Folgen für die Übersetzung, sondern führt auch zu inhaltlichen Missverständnissen. An verschiedenen Stellen schreibt Rawls, dass seine Theorie der Gerechtigkeit ein, wenn nicht sogar der wichtigste Teil der Theorie der rationalen Entscheidung (engl. ‚rational choice theory‘) sei (vgl. Rawls 1979, 33; Rawls 1971, 16). Dies würde bedeuten, dass die, im Zitat erwähnte Vernünftigkeit der Vertragspartner*innen im Urzustand rein spieltheoretisch zu verstehen ist und Rawls’ Begründung gerechter Prinzipien primär auf der vertragstheoretischen Konzeptualisierung einer nutzenmaximierenden Vernunft (engl. ‚rationality‘) beruht. Diese Interpretation wurde in der Folge vielfach kritisiert und widerspricht außerdem anderen Passagen in Eine Theorie der Gerechtigkeit, an welchen bereits deutlich wird, dass Rawls mit mehr als nur einem Verständnis von Vernünftigkeit (engl. ‚rationality‘) operiert. Beginnend mit seinen Dewey-Vorlesungen Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie und im Anschluss an W. M. Sibley (1953) ver-

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sucht er in seinen späteren Werken deshalb, konzeptuell zwischen Vernünftigkeit und Rationalität zu unterscheiden. Grundlage hierfür ist eine an Immanuel Kant angelehnte Form des Konstruktivismus, die die ermittelten Prinzipien der Gerechtigkeit als Ergebnis eines Konstruktionsverfahrens darstellt. Der Urzustand dient Rawls als Nachbildung dieses Verfahrens. In ihm verbinden sich das Vernünftige und das Rationale auf eine Weise, so dass von einer Einheit der praktischen Vernunft gesprochen werden kann. Die Verbindung wird im Folgenden genauer ausgeführt.

Die Unterscheidung zwischen dem Rationalen und dem Vernünftigen Im zuvor notierten Zitat wird deutlich, dass für Rawls die Prinzipien der Gerechtigkeit Ergebnis der vernünftigen (engl. ‚rational‘) Wahl der Vertragspartner*innen im Urzustand sind. ‚Vernünftig‘ bezieht sich hier auf zwei verschiedene, jedoch in sich verschränkte Vermögen dieser Personen. Aus ihnen setzt sich Rawls’ philosophische Moralpsychologie der Person zusammen. Das erste Vermögen, das Rationale (engl. ‚the rational‘), konzipiert Rawls als ein strategisches Handeln im Sinne der Spieltheorie. Die Vertragspartner*innen sind (eigen-)nutzenmaximierende Akteur*innen, die anhand einer eigenen Vorstellung des guten Lebens im Urzustand versuchen, optimale Bedingungen für dessen Verwirklichung in einer späteren Gesellschaft auszuhandeln. Einige Autor*innen haben darauf hingewiesen, dass Rawls’ Rationalität hier nicht nur rein instrumentell zu verstehen ist (vgl. z. B. Pinzani/Werle 2015, 67). Sie enthält neben der Wahl der besten Mittel, um einen bestimmten Zweck zu erreichen, auch die Fähigkeit, verschiedene Zwecke gegeneinander abzuwägen: Das Rationale vergleicht verschiedene Lebenspläne unter Kenntnis wesentlicher Tatsachen sowie nach einer Abschätzung möglicher Folgen. In Eine Theorie der Gerechtigkeit bezeichnet Rawls diesen Teil der Rationalität als „abwägendeVernunft“ (vgl. Rawls 1979, 454 f.).

59 Vernunft/Vernünftigkeit

In Eine Theorie der Gerechtigkeit betont Rawls vor allem dieses rationale Vermögen der Vertragspartner*innen. Teilweise erscheint hier der vertragstheoretische Urzustand primär eine Aushandlung nutzenmaximierender Akteur*innen im Sinne der Spieltheorie zu sein. Die Parteien verhandeln, unter der Berücksichtigung ihrer jeweiligen Konzepte des guten Lebens, über grundlegende gesellschaftliche Prinzipien. Insofern ist es nachvollziehbar, warum Rawls zunächst behauptet, dass die Theorie der Gerechtigkeit ein wesentlicher Teil der Theorie der rationalen Entscheidung ist. Die Rationalität der Vertragspartner*innen erklärt jedoch nicht hinreichend, was Rawls unter ‚vernünftig‘ im Sinne des oberen Zitats versteht und somit, was Bedingung für die Vernünftigkeit einer Gerechtigkeitsvorstellung ist. Die Frage, die sich stellt, ist, mit welchem Argument sich rechtfertigen lässt, dass eine vertragstheoretische Konzeption rationaler Parteien Grundlage zur Bestimmung gerechter Prinzipien sein soll. Rawls antwortet an dieser Stelle nicht abermals mit den nutzenmaximierenden Interessen der einzelnen Vertragsteilnehmer*innen. Dies unterscheidet seine Theorie von utilitaristischen Vertragstheoretiker*innen. Zur Begründung der rationalen Wahl im Urzustand braucht es stattdessen ein zweites Vermögen, das Vernünftige (engl. ‚the reasonable‘), das der rationalen Aushandlung Beschränkungen auferlegt. Das Vernünftige konzipiert Rawls als eine Aushandlung „fairer Bedingungen der Kooperation“ (Rawls 1993, 98) zwischen freien und gleichen Personen. Dies bedeutet, dass die Grundstruktur der Zusammenarbeit aus Regeln bestehen soll, die alle Beteiligten vernünftigerweise akzeptieren können und, ebenso, akzeptieren sollten, sofern sie auch von allen anderen akzeptiert werden. Die Aushandlung fairer Bedingungen der Kooperation fußen somit auf einer Idee der Reziprozität oder Gegenseitigkeit (vgl. Rawls 2003, 26). Bezogen auf die Vernünftigkeit der Vertragspartner*innen im Urzustand bedeutet dies, dass selbige bereit sind

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Prinzipien vorzuschlagen bzw. anzuerkennen, die als Grundlage für die Aushandlung fairer, von allen Beteiligten akzeptierter Modalitäten der Kooperation dienen können. Das Vernünftige als Vermögen beschreibt somit ein moralisches Interesse als den Wunsch und die Bereitschaft, sich an einer fairen Kooperation zu beteiligen und hierfür notwendige Grundsätze zu formulieren, die für alle akzeptabel sind. Die Vertragspartner*innen verstehen sich dabei als freie und gleiche Personen und erkennen die jeweils anderen Parteien als legitime, rationalhandelnde Individuen an. Dieser, auf der Idee der Reziprozität aufbauende Gerechtigkeitssinn unterscheidet sich deutlich vom Rationalen. Während es laut Rawls rational sein kann, Bedingungen der fairen Kooperation nicht zu respektieren, beispielsweise indem man eine überlegene Verhandlungsposition zu seinen Gunsten ausnützt, verstoße eine solche Praxis gegen die Idee der Reziprozität und sei somit unvernünftig (vgl. Rawls 2003, 27). Hier zeigt sich, dass das Vernünftige in Rawls’ Konzeptualisierung des Urzustands als Rahmenbedingung für eine rationale Aushandlung gedacht werden muss. Dieser vernünftige Rahmen wird im Urzustand durch eine Beschränkung der rationalen Wahl repräsentiert. Darunter fällt vor allem der Schleier des Nichtwissens, der die einzelnen Vertragsparteien in einer Unsicherheit hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Position und konkreter Interessen lässt. Diese Unsicherheit stellt sicher, dass die Aushandlung zu Prinzipien führt, die der rationalen Nutzenmaximierung aller Vertragsteilnehmer*innen zuträglich ist. Anders ausgedrückt führt die beschriebene Vertragssituation zu vernünftigen Gerechtigkeitsprinzipien, die von allen Bürger*innen, unabhängig von ihren rationalen Interessen, akzeptiert werden können. Anhand der Abgrenzung zwischen dem rationalen und vernünftigen Vermögen wird verständlich, was Rawls im oberen Zitat unter „vernünftige Menschen im Urzustand“ versteht. Sie sind in zweifachem Sinne vernünftig,

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da sie unter vernünftigen (engl. ‚reasonable‘) Rahmenbedingungen rational (engl. ‚rational‘) für ihre eigenen Interessen eintreten. Das Vernünftige fungiert hier als die Voraussetzung der rationalen Wahl. Ohne einen Gerechtigkeitssinn, der die anderen Vertragsparteien als Gleiche ansieht und die Bereitschaft enthält, Prinzipien zu formulieren, die von allen akzeptiert werden können, verliert das Rationale seine vertragstheoretische Rechtfertigungskraft. Das Vernünftige garantiert die Allgemeingültigkeit der ausgehandelten Prinzipien. Dementsprechend korrigiert Rawls in seinen späteren Werken explizit die Verhältnisbestimmung zwischen der Theorie der rationalen Wahl und seiner Theorie der Gerechtigkeit (vgl. Rawls 1998, 125, Fn. 7). Statt von der Herleitung vernünftiger Prinzipien aus dem Rationalen, spricht er nun von sich einander ergänzenden Ideen. Dabei setzt das Rationale das Vernünftige voraus, letzteres ist ersterem vorgeordnet. Indem das Vernünftige das rationale per Definition umrahmt, kann Rawls schließlich, im kantischen Sinne, von der Einheit der praktischen Vernunft sprechen. In einem letzten Schritt soll dargestellt werden, wie Rawls durch eine politische Reformulierung dieser Einheit der praktischen Vernunft, das Vernünftige (engl. ‚the reasonable‘) selbst als objektive Rechtfertigungsinstanz für die politische Philosophie bestimmt.

Vernünftigkeit als politische Rechtfertigung von Gerechtigkeit als Fairness Wie oben bereits zitiert, betont Rawls, dass eine Gerechtigkeitskonzeption „vernünftiger oder eher zu rechtfertigen“ ist, wenn sich „vernünftige Bürger im Urzustand“ – also rational wählende Vertragspartner*innen unter dem Schleier des Nichtwissens – für jene Konzeption eher entscheiden, als für eine andere. Rawls beruft sich hier auf die Vernunft als einzige Rechtfertigungsinstanz gerechter Prinzipien. Zu rechtfertigen ist eine Konzeption dann, wenn sie vernünftig ist, was wiederum bedeutet, dass sie auf die Zustimmung vernünftiger Bürger*in-

J. Prugger

nen zählen kann. Diese zirkulär anmutende Argumentation dient Rawls als Fundament, um Gerechtigkeitsprinzipien ohne metaphysische Letztbegründung ableiten zu können. Vor dem Faktum einer pluralen und ausdifferenzierten Gesellschaft muss die moderne politische Philosophie auf die Vernünftigkeit, als einzig verbliebene Rechtfertigungsinstanz, zurückgreifen (vgl. Rawls 2008). Die gesellschaftliche Realität der Moderne fasst Rawls unter dem „Faktum eines vernünftigen Pluralismus“ zusammen (Rawls 1998, 128). Dieses Faktum besagt, dass innerhalb der Gesellschaft verschiedene Konzepte des guten Lebens parallel existieren. Sie stellen ‚umfassende Lehren‘ über die Welt und das Sein dar. Insofern sie die Behauptungen ihrer Lehren ordnen und rechtfertigen, können alle in gleicher Weise als vernünftig angesehen werden. Gleichzeitig besagt das Faktum eines vernünftigen Pluralismus, dass es zwischen diesen Lehren keinen abschließenden Konsens hinsichtlich eines gemeinsamen Guten und Wahren gibt (und geben kann). Dieses Eingeständnis ist wiederum selbst Teil jeder vernünftigen Lehre: Vernünftige Personen erkennen, dass es unmöglich ist, die anderen von ihrem persönlichen Konzept des guten Lebens zu überzeugen. Wenn es um gesellschaftliche Fragen und Wahrheiten geht, muss, aufgrund der pluralen Realität, eine Grenze des Urteilens anerkannt werden. Dieses Eingeständnis der Begrenztheit der praktischen Vernunft führt zur Bereitschaft, sich hinsichtlich eines gemeinsamen gesellschaftlichen Fundaments auf Kooperation einzulassen. Die philosophische Beurteilung und Rechtfertigung dieses Fundaments kann folglich jedoch nicht mit metaphysischen oder epistemologischen Kategorien von „gut“/„wahr“ und „schlecht“/„falsch“ erfolgen. Es begründet sich einzig durch die Einheit der praktischen Vernunft: Vernünftige Menschen erkennen das Faktum des vernünftigen Pluralismus an und sind dadurch bereit, Prinzipien vorzuschlagen, die für Vertreter*innen anderer umfassender Lehren akzeptabel sind. Das Resultat ist ein übergreifender Konsens zwischen vernünftigen umfassenden Lehren: Alle Parteien sind sich einige, dass allein das

59 Vernunft/Vernünftigkeit

Konzept der Vernunft als legitime Begründungsinstanz für die grundlegenden Prinzipien einer Gesellschaft anerkannt werden kann. Dieser Konsens um das Vernünftige ist der Kern von Rawls’ politischem Liberalismus. Es handelt sich um eine politische Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness, die auf dem Faktum einer pluralen Gesellschaft fußt. Indem er diese Konzeption philosophisch an die Vernunft rückbindet, kann Rawls gleichzeitig für die Allgemeingültigkeit seiner Gerechtigkeitsprinzipien argumentieren. Rawls Verpflichtung der politischen Philosophie auf die Vernunft als einzige Rechtfertigungsinstanz wurde vielfach kritisch kommentiert. Jürgen Habermas merkte an, dass ein vernünftiger, überlappender Konsens allein durch einen realen öffentlichen Diskurs zu erreichen sei, wodurch ein vertragstheoretisches Konstruktionsverfahren seine Rechtfertigung verliere. Vertreter*innen der Radikalen Demokratietheorie sowie des Postkolonialismus kritisieren, dass das Konzept der Vernunft sowie die Annahme vernünftiger Personen metaphysische Vorannahmen hinsichtlich eines autonomen, selbst-reflexiven Subjekts implizieren. Der

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Begriff der Vernunft und Vernünftigkeit müsse deshalb selbst als Teil politischer Auseinandersetzungen verstanden bzw. im Kontext kolonialer Machtstrukturen analysiert werden.

Literatur Krasnoff, Larry: The reasonable and the rational. In: Jon Mandle/David A. Reidy (Hg.): The Cambridge Rawls lexicon. Cambridge 2015, 692–697. Pinzani, Alessandro/Werle, Denilson L.: 4. Die Vermögen der Bürger und ihre Darstellung (Vorlesung II). In: John Rawls: Politischer Liberalismus. Hg. Otfried Höffe. Berlin 2015, 63–78. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 211979 (engl. 1971). Rawls, John: Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie. In: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Hg. Wilfried Hinsch. Frankfurt/M. 1993, 45–158 (engl. 1980). Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 61998 (engl. 1993). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairness. Frankfurt a. M. 2003 (engl. 2001). Rawls, John: Geschichte der Politischen Philosophie. Frankfurt a. M. 2008 (engl. 2007). Sibley, W. M.: The rational versus the reasonable. In: Philosophical Review 62/4 (1953), 554–560.

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Versöhnung Jörg Schaub

Begriffsbestimmung und Verwendungsweisen Der Begriff der Versöhnung bezeichnet die Überwindung oder den Prozess der Überwindung eines als negativ erfahrenen Zustands oder einer als konflikthaft erlebten Beziehung. In der Geschichte der modernen Philosophie ist es Hegel, der der Versöhnung eine zentrale Rolle beimisst. Es ist daher kein Zufall, dass Rawls sich an Hegel orientiert, wenn er in der Versöhnung eine grundlegende „Aufgabe“ der Philosophie erkennt (Rawls 2003, 22; vgl. Schaub 2009; 2019). Bei dieser geht es darum, Individuen, die ihre soziale Welt (oder Aspekte derselben) als negativ erleben, dazu zu bringen, diese „in positiver Form“ zu „bejahen“ (Rawls 2003, 22). Dieser Wandel der Einstellung soll nach Hegel erreicht werden, indem man aufzeigt, dass sich die eigene soziale Welt „von einem philosophischen Blickpunkt“ (Rawls 2002a, 160) als vernünftig ausweisen lässt. Der Begriff der Versöhnung bezeichnet also bei Hegel einen durch rationale Einsicht in die Vernünftigkeit der eigenen sozialen Welt bewirkten Wandel in der „Einstellung“ (ebd., 162), einen Übergang von einer negativen Haltung, die sich

J. Schaub (*)  University of Essex, Colchester, UK E-Mail: [email protected]

etwa in Gefühlen der „Enttäuschung“ (Rawls 2003, 22) manifestieren kann, zu einer positiven oder affirmativen. Konzeptionen oder Projekte der Versöhnung bezeichnen entsprechend die verschiedenen Weisen, auf die Individuen mit den Mitteln der Philosophie mit ihrer sozialen Welt (oder Aspekten derselben) versöhnt werden sollen. Jedes Versöhnungsprojekt ist somit „eine Ausdeutung dieser Funktion“ (Rawls 1975, 27) der Versöhnung. Rawls hat sein eigenes Versöhnungsprojekt weder systematisch ausgearbeitet noch fügen sich die über sein Werk verstreuten Aussagen zur Versöhnung zu einem kohärenten Ganzen. Thematisch befasst sich Rawls sowohl mit spezifischen vermeidbaren oder unvermeidbaren sozialen Konflikten, mit denen er Bürger*innen liberaler Demokratien zu versöhnen gedenkt, als auch mit einem Versöhnungsprojekt, das die Bürger*innen liberal-demokratischer Gesellschaften mit ihrer sozialen „Welt als ganzer“ (Rawls 2002a, 162) versöhnen soll.

Versöhnung mit verschiedenen sozialen Fakten Konflikte, die sich aus vermeidbaren ungerechten Verhältnissen ergeben, lassen sich nach Rawls versöhnen, indem man diese Verhältnisse gerechter gestaltet (Rawls 1998, 61; vgl. Weithman 2009, 113). Es ist jedoch nicht

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_60

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klar, ob Rawls meint, die Einsicht, dass diese Konflikte in einer gerechteren Welt vermieden werden könnten, selbst habe schon einen versöhnenden Effekt, auch wenn die Ungerechtigkeiten selbst noch nicht überwunden worden sind. Des Weiteren betrachtet Rawls soziale Fakten wie Schurkenstaaten oder belastete Gesellschaften (Rawls 2002a, §§ 13–16). Mit solchen Fakten ist Versöhnung möglich, da es mit den Geboten der Gerechtigkeit vereinbare Wege gibt, diese aus der Welt zu schaffen. Gerechte Kriege bleiben z. B. eine Option gegen Staaten, die sich gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung oder anderen Völkern aggressiv verhalten. Wiederum bleibt unklar, ob Rawls argumentiert, die Einsicht, dass sich derartige Konflikte im Prinzip auf eine akzeptable Weise ausräumen lassen, habe schon einen versöhnenden Effekt (auch wenn solche Staaten weiterhin ihr Unwesen treiben). Zuletzt befasst sich Rawls mit einer Reihe sozialer Fakten, die Konfliktpotentiale bergen, sich aber auch in einer gerechten Welt nicht vermeiden lassen. Mit Bezug auf diese Fakten verfolgt Rawls andere Versöhnungsstrategien. Auf den Umstand, dass eine „politische Gesellschaft […] kein Verband“ (Rawls 2003, 23) sein kann, dem wir freiwillig beitreten, reagiert Rawls, indem er darlegt, dass sich diese Unfreiheit durch die Gewährleistung politischer Autonomie kompensieren lässt (Meek Lange 2014, 319 f.), was natürlich voraussetzt, dass in den gegebenen Verhältnissen, das Ideal der politischen Autonomie tatsächlich verwirklicht wird. Beim Faktum des vernünftigen Pluralismus handelt es sich nach Rawls ebenfalls um eines, mit dem wir uns arrangieren und versöhnen müssen, weil „eine demokratische Gesellschaft keine“ durch eine umfassende religiöse oder säkulare Lehre integrierte „Gemeinschaft“ sein kann (Rawls 2003, 22). Denn dieser Pluralismus ist das Resultat des freien Gebrauchs der Vernunft unter freiheitlichen Institutionen (Rawls 2002a, 222, Fn. 8). Versöhnung mit diesem Faktum ist möglich, weil, so nimmt Rawls zumindest an, Bürger*innen liberaler Demokratien freiheitliche Institutionen für wichtiger

J. Schaub

erachten als doktrinäre Einheit. Der vernünftige Pluralismus wird ihnen folglich als ein Preis erscheinen, den zu zahlen sie bereit sein sollten (Meek Lange 2014, 319). Selbst wenn Rawls mit dieser Einschätzung Recht behielte, ergibt sich aus dem vernünftigen Pluralismus noch eine weitere Herausforderung, auf die sein politischer Liberalismus eine Antwort geben soll: Wie bleiben „demokratische […] Einheit“ und „öffentliche […] Verständigung“ (Rawls 2002a, 158) über Fragen grundlegender politischer Gerechtigkeit trotz dieses vernünftigen Pluralismus möglich? Diese Herausforderung ist jedoch so umfassend, dass sie am besten in Zusammenhang mit Rawls’ generellem Versöhnungsprojekt betrachtet werden sollte.

Versöhnung mit der liberalen Demokratie Rawls strebt an, die Bürger*innen liberaler Demokratien mit ihrer soziopolitischen Welt zu versöhnen. Diese Welt umfasst zwei Ebenen: Die Grundstruktur liberal-demokratischer Gesellschaften und die Grundstruktur der Gesellschaft der Völker, in welche diese liberalen Demokratien eingebettet sind. Nach Rawls bedarf es eines solchen generellen Versöhnungsprojekts einerseits wegen der „großen Übel“ der Geschichte wie „ungerechte Kriege, Unterdrückung, religiöse Verfolgung, Sklaverei“ und andere Formen der „politischen Ungerechtigkeit mit ihren Grausamkeiten und ihrer Hartherzigkeit“ (Rawls 2002a, 160; vgl. ebd., 4 f., 22–25), andererseits weil wir mit der Weimarer Republik den „Zusammenbruch“ einer liberal-demokratischen Gesellschaft erlebt haben, der dann zum Nationalsozialismus und dem „Wahnsinn des Bösen des Holocausts“ (Rawls 1998, 63; vgl. Weithman 2009, 113, 125) geführt hat. Vor diesem Hintergrund könnten Bürger*innen liberaler Demokratien in „Resignation und Zynismus“ (Rawls 2002a, 162) verfallen und eine negative Einstellung zu ihren Gesellschaften und deren „Geschichte“ (Rawls 1998, 63) entwickeln. Sie könnten zu dem Schluss gelangen, dass die politischen Beziehungen zwischen

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Menschen letztlich „nur durch Macht und Gewalt geregelt werden“ (ebd.) könnten. Rawls’ Versöhnungsprojekt soll einen Beitrag dazu leisten, dass derartige Einstellungen nicht dominant werden und die Weise beeinflussen, in welcher Individuen „in die aktuelle Politik eintreten“ (Rawls 2002a, 162). Angesichts des Zulaufs, den antidemokratische und antiliberale Kräfte auch in etablierten Demokratien gegenwärtig erleben, erscheint die Sorge, die Rawls umtreibt, durchaus aktuell. Versuche, Rawls’ generelles Versöhnungsprojekt zu rekonstruieren, das uns mit unserer sozialpolitischen Welt versöhnen soll, sehen sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass er dieses nicht systematisch ausgearbeitet hat. Zudem orientiert sich Rawls, wenn er seine Auffassungen zur Versöhnung skizziert, mitunter eher an Hegel und mitunter eher an Kant. Dies führt zu internen Spannungen, da Kant und Hegel divergierende Ansichten bezüglich dessen vertreten, was Versöhnung ist und was sie ermöglicht. Im Folgenden wird daher zwischen der hegelianischen und der kantischen Variante von Rawls’ Versöhnungsprojekt unterschieden. In Gerechtigkeit als Fairness: Ein Neuentwurf beruft sich Rawls explizit auf Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) als Inspirationsquelle (Rawls 2003, 22; vgl. 2002b, 427–434; Hardimon 1994, Hedrick 2018). Gemäß Hegel (1970, 26 f.) geht es bei Versöhnung darum, die „Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen“, denn „diese vernünftige Einsicht“ sei „die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen“. Hegels soziopolitisches Versöhnungsprojekt ist jedoch Bestandteil eines metaphysischen Systems, das Rawls als eine umfassende philosophische Lehre auffasst (Rawls 2002b, 431–433; vgl. Cohen 1994, 1507–1509; Meek Lange 2014, 319). Im Unterschied zu Hegel beschränkt sich Rawls’ Versöhnungsprojekt daher auf den soziopolitischen Bereich und er versteht es als Teil einer politischen Konzeption. Denn wegen des Faktums des vernünftigen Pluralismus kann

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keine umfassende Lehre in einer freiheitlichen Gesellschaft als Grundlage für die Versöhnung aller Bürger*innen mit der liberalen Demokratie dienen. „Versöhnung erfordert die Anerkennung des Faktums eines vernünftigen Pluralismus innerhalb liberaler und achtbarer Gesellschaften und auch in ihren Beziehungen untereinander“ (Rawls 2002a, 160; vgl. ebd., 185–189). Es ist also durchaus möglich, die in den 1980er Jahren vollzogene Wende zum politischen Liberalismus als Reaktion auf Versöhnungsprobleme zu verstehen, auf die Rawls bei Hegel keine Antworten findet. Rawls präsentiert seine heimische Gerechtigkeitskonzeption und seine Konzeption des Völkerrechts seither als von umfassenden Lehren freistehende politische Konzeptionen. Politisch sind diese, weil sie unter Rekurs auf politische Ideen und Werte entwickelt werden, die bereits Teil der politischen Kultur liberaler Demokratien und des Völkerrechts sind. Politische Ideen wie der Bürger als freie und gleiche Person sind nach Rawls auf einer anderen Ebene angesiedelt als zu umfassenden Lehren gehörende Ideen, die Wahrheitsansprüche erheben. Diese politische Wende macht es (zumindest im Prinzip) möglich, dass Anhänger*innen verschiedenster (vernünftiger) umfassender Lehren, die miteinander inkompatibel sind, dennoch dieselbe politische Gerechtigkeitskonzeption in einem überlappenden Konsens bejahen können, da diese umfassenden Lehren zu dieser politischen Gerechtigkeitskonzeption in keinem Konkurrenzverhältnis stehen (Rawls 2002a, vi, 62–67, 153– 156, 158). Versteht man Rawls’ Versöhnungsprojekt als ein von Hegel inspiriertes, dann hat dies Auswirkungen darauf, wie man den idealen Teil seiner Gerechtigkeitstheorie aufzufassen hat. Nach Hegel bezieht sich die Versöhnung auf die „bestehende“ soziale Welt, weil in dieser „das angemessenste Institutionengerüst zur Äußerung der Freiheit bereits existiert“ (Rawls 2002b, 427 f.). Unter diesen Vorzeichen besteht die Aufgabe der Philosophie darin, die eigenen Zeitgenossen mit ihrer sozialen Welt zu versöhnen, indem man ihnen zu der Einsicht verhilft, dass die bestehenden Verhältnisse im Grunde bereits

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vernünftig sind (ebd., 428, 430). Rawls geht also davon aus, dass die Bürger*innen liberaler Demokratien nur „subjektiv entfremdet“ sind, da „ihre Freiheit […] durch die politischen und sozialen Institutionen“ liberaler Demokratien im Grunde bereits „garantiert“ (ebd., 433) werden, auch wenn es noch Reformbedarf geben kann. Der Idealtheorie kommt folglich die Aufgabe zu, ein vernünftiges Bild der tatsächlich bestehenden Verhältnisse zu zeichnen. Es geht also gerade nicht darum, „sich eine Welt“ vorzustellen, „wie sie sein soll“ (Hegel 1970, 26) oder sein könnte. Methodologisch gesprochen beschränkt sich Rawls’ hegelianisches Versöhnungsprojekt somit auf die Rekonstruktion der Normen, die dem bestehenden nationalen und internationalen Institutionengefüge bereits zugrunde liegen. Diese Interpretation stimmt mit Rawls’ (ideal-theoretischer) Vorgehensweise seit seiner politischen Wende durchaus überein. Im heimischen Fall geht er von der „öffentlichen politischen Kultur einer demokratischen Gesellschaft“ (Rawls 1998, 79) aus. In dieser erkennt er einen „Fundus implizit anerkannter Ideen und Grundsätze“, die es „klar genug zu formulieren“ und in eine vernünftige „Konzeption politischer Gerechtigkeit“ (ebd. 73) zu integrieren gilt. Auf der internationalen Ebene „beginnt“ Rawls „mit der internationalen politischen Welt, so wie sie sich uns darstellt“ (Rawls 2002a, 101) und rekonstruiert „vertraute und traditionelle“ (ebd., 41) völkerrechtliche „Grundsätze […] und Gewohnheiten des internationalen Rechts und der internationalen Praxis“ (ebd., 46). Die Idealtheorie nach Hegel ist somit eine rationale normative Rekonstruktion unserer Welt, die Ähnlichkeiten mit dem von Axel Honneth entwickelten Ansatz besitzt. Eine solche rationale normative Rekonstruktion darf etwas „über den Horizont der existierenden“ (Honneth 2011, 27) Verhältnisse hinausweisen, gegenwärtig bestehende „beträchtliche Ungerechtigkeiten“ (Rawls 2002a, 55, 113) ausblenden und progressive Potentiale hervorheben, solange diese im bestehenden Institutionengefüge bereits angelegt, aber noch nicht vollumfänglich realisiert worden sind (Honneth 2011, 27–30).

J. Schaub

Gegenüber der hegelianischen Variante von Rawls’ Versöhnungsprojekt könnte man den Vorwurf erheben, dass sie zu unkritisch vorgeht, wenn sie sich einfach auf unsere politische Kultur prägende „Grundideen“ stützt, ohne diese selbst auf ihre Würdigkeit hin zu prüfen (Rawls 2003, 22). Zudem lässt eine solche normativrekonstruktiv vorgehende Idealtheorie keinen Raum für radikalere Formen von Kritik am Status quo (vgl. Schaub 2015). Diese hegelianische Variante von Rawls’ Versöhnungsprojekt steht in einem unaufgelösten Spannungsverhältnis zu einer eher an Kant orientierten Variante. Letzterer zufolge können wir uns mit unserer sozialen Welt versöhnen, wenn die „Verteidigung eines vernünftigen Glaubens an die Realisierbarkeit eines gerechten Verfassungsstaates“ (Rawls 1994, 332) als Teil einer friedlichen und angemessen gerechten Gesellschaft der Völker gelingt (Rawls 2002a, 160; vgl. Weithman 2009, 115). Rawls’ kantisches Versöhnungsprojekt setzt folglich nicht voraus, dass die bestehende nationale und internationale Grundstruktur bereits im Grunde vernünftig ist. Um sich mit seiner sozialen „Welt als ganzer“ (Rawls 2002a, 162) zu versöhnen, muss man lediglich einsehen, dass diese eine gerechte soziale Ordnung zumindest zulässt (egal wie ungerecht die Verhältnisse momentan auch sein mögen). Im Rahmen dieser Variante kommt der Idealtheorie die Aufgabe zu, „die Grenzen des praktisch Durchsetzbaren“ (Rawls 2003, 24) auszuloten, ohne sich dabei durch bestehende, im Prinzip veränderbare Verhältnisse beschränkt zu wissen. „Die Idee einer“ auf diese Weise generierten „realistischen Utopie versöhnt uns mit unserer sozialen Welt, indem sie uns zeigt, dass es möglich ist, dass eine annehmbar gerechte konstitutionelle Demokratie als Mitglied einer annehmbar gerechten Gesellschaft der Völker existiert“ (Rawls 2002a, 161 f. vgl. ebd., 25). Versöhnung setzt nun weder voraus, dass die realistische Utopie bereits „irgendwo“ existiert, noch dass sie einmal „existieren muss oder existieren wird“ (ebd., 162). Rawls ergänzt jedoch, dass es sich bei dieser „Möglichkeit“ nicht „bloß“ um eine „logische“ handeln dürfe (ebd.). Auch Kant habe sich, so Rawls, daher bemüht, den Nachweis zu

60 Versöhnung

erbringen, dass die „Naturordnung Kräfte und Tendenzen“ umfasse, die eine Hervorbringung einer gerechten Ordnung „unterstützen“ (Rawls 2002b, 414). Entsprechend ergänzt Rawls die Version seiner idealen Theorie, die sein kantisches Versöhnungsprojekt untermauert, um ein Stabilitätsargument. Er versucht nachzuweisen, dass eine gerechte nationale und internationale Grundstruktur aus sich heraus die Kräfte hervorbringen würde, die zu ihrer Reproduktion erforderlich wären. Kant selbst entwickelt zudem eine Geschichts- oder Fortschrittstheorie, die jene „Tendenzen“ identifiziert, „die längerfristig“ (ebd.) zur Etablierung einer solchen angemessen gerechten Ordnung führen sollen. In Rawls’ idealer Theorie sucht man nach Antworten auf diese „Fragen des Überganges“ (Rawls 2002a, 114) zu einer gerechten Ordnung jedoch vergeblich. Weder identifiziert er geschichtliche Tendenzen noch Mechanismen, die uns Grund zur Hoffnung geben würden, dass wir uns auf eine gerechte Welt zubewegen. Rawls bleibt vage hinsichtlich der „tief gehenden Strömungen und Tendenzen“ (ebd., 162), die längerfristig dafür sorgen sollen, dass eine vernünftige politische Konzeptionen trotz vernünftigem Pluralismus in einem übergreifenden Konsens tatsächlich bejaht wird (Cohen 1994, 1508 f.; Weithman 2009, 125; Freyenhagen 2011). Auch die kantianische Variante von Rawls’ Versöhnungsprojekt gibt also Anlass zu kritischen Rückfragen. Zudem gilt es zu fragen, ob die methodischen Vorkehrungen, die Teil seiner idealen Theorie sind, hinreichen, um sicherzustellen, dass die durch sie identifizierte gerechte Ordnung tatsächlich gerecht ist (Freyenhagen/Schaub 2010). Ferner müsste man erläutern, wie verlässlich die „Vermutungen und Spekulationen“ (Rawls 2002, 14) tatsächlich sind, auf die wir bei der Bestimmung des praktisch Möglichen angewiesen bleiben. Auch könnte man argumentieren, dass eine realistische Utopie für sich genommen nicht hinreicht, um uns mit unserer sozialen Welt zu versöhnen, solange diese von Ungerechtigkeiten entstellt bleibt (ebd., 160 f.).

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Zuletzt ist hervorzuheben, dass Rawls’ Versöhnungstheorie an keiner Stelle auf jene Fälle eingeht, in denen sich das Bedürfnis nach Versöhnung aus Ungerechtigkeiten ergibt, die sich nicht rechtfertigen oder mit philosophischen Mitteln als letztlich doch vernünftig ausweisen lassen. Es ist das Verdienst von Catherine Lu (2017) sich historischem Unrecht wie etwa dem Kolonialismus und dessen strukturellem Erbe zuzuwenden und systematisch die Frage zu erörtern, ob und wie diese zentrale Versöhnungsdimension sich in einen von Rawls geprägten Ansatz integrieren lässt.

Literatur Cohen, Joshua: A more democratic liberalism. In: Michigan Law Review 92/6 (1994), 1503–1546. Freyenhagen, Fabian: Taking reasonable pluralism seriously: an internal critique of political liberalism. In: Politics, Philosophy & Economics 10/3 (2011), 323– 342. Freyenhagen, Fabian/Schaub, Jörg: Hat hier jemand gesagt, der Kaiser sei nackt? Eine Verteidigung der Geussschen Kritik an Rawls’ idealtheoretischem Ansatz. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58/3 (2010), 457–477. Hardimon, Michael O.: Hegel’s social philosophy: The Project of reconciliation. Cambridge 1994. Hedrick, Todd: Reconciliation and reification: freedom’s semblance and actuality from Hegel to contemporary critical theory. Oxford 2018. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Hg. Karl M. Michel und Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M. [1821] 1970. Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin 2011. Kant, Immanuel: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis – Zum ewigen Frieden: Ein philosophischer Entwurf. Hg. Heiner F. Klemme. Hamburg 1992. Lu, Catherine: Justice and reconciliation in world politics. Cambridge 2017. Meek Lange, Margaret: Reconciliation arguments in John Rawls’s political philosophy. In: Critical Horizons 15/3 (2014), 306–324. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1975 (engl. 1971). Rawls, John: Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses. In: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Hg. Wilfried Hinsch. Frankfurt a. M. 1994.

438 Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: Das Recht der Völker. Berlin 2002a (engl. 1999). Rawls, John: Geschichte der Moralphilosophie. Hg. Barbara Hermann. Frankfurt a. M. 2002b (engl. 2000). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Hg. Erin Kelly. Frankfurt a. M. 2003 (engl. 2001). Schaub, Jörg: Gerechtigkeit als Versöhnung. John Rawls’ politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 2009.

J. Schaub Schaub, Jörg: Misdevelopments, pathologies, and normative revolutions: normative reconstruction as method of critical theory. In: Critical Horizons 16/2 (2015), 107–130. Schaub, Jörg: John Rawls’ Projekt(e) der Versöhnung. In: Hahn, Henning/Mosayebi, Reza (Hg.): John Rawls: Das Recht der Völker. Berlin 2019, 177–196. Weithman, Paul: John Rawls and the task of political philosophy. In: Review of Politics 71/1 (2009), 113–125.

Verteilungsge­ rechtigkeit/ Gerechtigkeitssinn

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Regina Kreide

Merkmale der Verteilungsgerechtigkeit Bekanntermaßen befinden sich in der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls im ‚Urzustand‘ die Parteien, die über die Prinzipien entscheiden, die Maßstab für eine gerechte Grundstruktur der Gesellschaft sein sollen, unter dem so genannten Schleier der Unwissenheit: Sie kennen ihre konkrete Position in der Gesellschaft nicht. Dadurch werden sie gezwungen, unparteiisch Grundsätze zu wählen, durch die bestimmte Grundgüter, dazu gehören Rechte und Freiheiten (zum Beispiel Gedanken- und Gewissensfreiheit), gleiche Chancen beim Erlangen von Positionen, Einkommen und Besitz und das soziale Gut der Selbstachtung (Rawls 1992c, 95), gerecht verteilt werden (für das Folgende Kreide 2008, 63– 102). Sie wählen zwei Prinzipien: Das erste, das Gleichheitsprinzip, formuliert das gleiche Recht auf das umfassendste System gleicher Grundfreiheiten, das zweite, das Differenzprinzip, legt fest, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten nur dann zulässig sind, wenn sie noch einen größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten Begünstigten bieten (Rawls 1992a, 160; 1992b, 60).

R. Kreide (*)  Justus-Liebig-Universität Gießen, Gießen, Deutschland E-Mail: [email protected]

Die Grundgüter sollen nach Maßgabe dieser Gerechtigkeitsprinzipien verteilt werden. Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption zielt nicht auf umfassende Lehren und Wertevorstellungen, auf die Bedürfnisse oder das Wohlergehen der Gesellschaftsmitglieder ab. Die Grundgüter sind „allgemein dienliche Mittel“ (Rawls 1992c, 95), die notwendig sind, um die Menschen in die Lage zu versetzen, ihre Interessen zu verwirklichen, die sie allein als Mitglieder einer demokratischen und auf Freiheits- und Gleichheitsprinzipien beruhenden Gesellschaft besitzen. Rawls geht also immer schon von einer moralisch gefestigten Person aus; die Parteien repräsentieren entsprechend auch moralische Personen und deren – wie Rawls das nennt – höchst- bzw. höherrangige moralische Interessen (Rawls 1992c, 94). Er bezeichnet die Interessen als höherrangig, da er sie als Interessen zweiter Ordnung verstanden wissen möchte. Sie geben Hinweise darauf, wie man sich zu Interessen erster Ordnung zu verhalten hat. So hat man beispielsweise ein Interesse daran, bei der Verfolgung eines Lebensplanes nicht auf unfaire Mittel zurückgreifen zu müssen (Pogge 1994, 56). In Orientierung an diesen höherrangigen Interessen der Menschen und unter Anwendung der beiden Gerechtigkeitsprinzipien werden die Güter verteilt. Rawls ist der Auffassung, dass es drei solcher höchstrangigen Interessen gibt. Zum einen besitzen moralische Personen das Interesse, einen Gerechtigkeitssinn auszubilden. Darunter

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_61

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versteht er die Fähigkeit, die Gerechtigkeitsgrundsätze zu verstehen, sie anzuwenden und durch sie zum Handeln motiviert zu werden. Zum zweiten haben Menschen das Interesse, eine Konzeption des Guten auszubilden, sie gegebenenfalls zu verwerfen und zu erneuern und sie rational zu verfolgen. Und schließlich besitzen Menschen ein höherrangiges Interesse, ihre Konzeption des Guten mit Erfolg voranzubringen. Damit ist auch die Dimension, auf die sich Rawls’ Gleichheitsbegriff bezieht, umrissen. Ein Verständnis seiner Gleichheitsvorstellung ist entscheidend für seine Konzeption der Verteilungsgerechtigkeit. Rawls interessiert sich für die Gleichheit der Bürger*innen einer gerechten, demokratischen Gesellschaft, dafür, ob sie gleiche Rechte und Freiheiten und ob sie gleiche Chancen beim Zugang zu öffentlichen Ämtern besitzen. Nicht relevant ist im Rahmen seiner Gerechtigkeitstheorie hingegen, ob sie als Mitglieder der Gesellschaft über ein gleiches Maß an Wohlergehen oder ob sie in gleicher Weise ihre Vorstellungen vom ‚guten‘ Leben erfüllen können.

Gleichheit Man muss sich die beiden Rawlsschen Grundsätze genauer ansehen, um eine deutliche Vorstellung von dem ihnen implizierten Gleichheitskonzept zu bekommen. Der erste Grundsatz, der, kurz gesagt, gleiche Rechte auf gleiche größtmögliche Freiheiten fordert, bezieht sich auf die politische und die Rechtsordnung der Gesellschaft. Durch ihn werden die bürgerlichen Rechte und Grundfreiheiten gleich verteilt. Der zweite Grundsatz, das Differenzprinzip, bezieht sich auf die Wirtschaftsordnung der Gesellschaft und regelt die Verteilung der übrigen Güter, wie den Zugang zu einem Beruf und den damit verbundenen Vorrechten, Einkommen, Besitz und Selbstachtung. Der Rawlsschen Konstruktion liegt ein Vorrang des ersten vor dem zweiten Prinzip zugrunde. Der Vorrang des Gleichheitsprinzips zeigt sich daran, dass eine völlige Gleichheit der

R. Kreide

Grundrechte und Freiheiten vorgesehen ist, aber nur eine annähernde Gleichheit der materiellen Mittel, um die gleichen Grundfreiheiten nutzen zu können (Rawls 1992a, 196; 1993, 324). Erst dann, wenn deutlich ist, dass bei einer vergleichenden Bewertung alternativer Grundordnungen keine dabei ist, die im größeren Umfang Rechte und Freiheiten für die Bürger*innen vorsieht, wird der Vergleich auf den zweiten Grundsatz ausgeweitet. Schon bald nach Erscheinen der Theorie der Gerechtigkeit wurde eingewandt, dass es auch Maßnahmen bedürfe, um wenigstens diejenigen Grundbedürfnisse der Bürger*innen zu befriedigen, die eine notwendige Voraussetzung darstellen, um die Freiheitsrechte überhaupt ausüben zu können. Diesen Einwand gegen Rawls hat erstmals Frank Michelman (1974) vorgebracht (Replik Rawls 1993, 166). Rawls führte, hierauf eingehend, einige Zeit später auf der ersten Ebene den Begriff der Grundbedürfnisse ein (Rawls 1993, 7). Die Befriedigung von Grundbedürfnissen solle sicherstellen, dass das materielle und soziale Wohlbefinden der Menschen auf einem Mindeststandard gehalten wird, der gewährleistet, dass die Mitglieder der Gesellschaft ihre Rolle als Bürger*innen ausfüllen können. Welche Bedingungen im Einzelnen dafür gegeben sein müssen, ist nach Ansicht von Rawls keine Frage, die von einer politischen Konzeption beantwortet werden kann. Dies festzustellen, bleibt den Mitgliedern der verschiedenen Gesellschaften selbst überlassen (Rawls 1993, 166). An anderer Stelle äußert sich Rawls über den Stellenwert der Grundbedürfnisse in seiner Theorie. Die Sicherung der Grundbedürfnisse gehört zu den wesentlichen Verfassungsinhalten (constitutional essentials), so dass durchaus von einem Grundrecht auf Befriedigung der Grundbedürfnisse gesprochen werden kann. Eine solche Regelung besagt, dass Grundfreiheiten eingeschränkt werden dürfen, wenn dadurch die Erhaltung der Grundbedürfnisse gesichert wird. Damit kommt Rawls den in den Vereinigten Staaten herrschenden Regelungen bei der sozialen Absicherung sehr nahe. Einzelne minimale grundlegende Sicherungen werden allen

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Bürger*innen zugestanden – was nicht verhindert, dass in den USA die Unterschiede zwischen Arm und Reich so groß sind wie in keinem anderen Industrieland des Globalen Nordens. Erst wenn diese Grundrechte adäquat erfüllt sind, kann man zur zweiten Stufe, zur Verwirklichung des Differenzprinzips übergehen. Eine solche Regelung lässt allerdings noch erhebliche Ungleichheiten zu, da für alle Bürger*innen nur ein Mindestmaß an materiellen und sozialen Erfordernissen gewährleistet wird. Arme Bürger*innen, die sich bessere Anwält*innen nicht leisten können, haben formal ebenso das Recht auf Rechtssicherheit, de facto aber sind ihre Chancen, ihre Interessen vor Gericht gegenüber einem*einer Arbeitgeber*in zu vertreten, wesentlich schlechter. Rawls interessieren diese Art Ungleichheiten nicht sonderlich, mit einer Ausnahme: Er streicht die Bedeutung der politischen Freiheiten besonders heraus. Der Wert der politischen Freiheit muss seiner Meinung nach über die Sicherung der Grundbedürfnisse hinaus durch weitere Maßnahmen gewährleistet werden. Wenn Mitglieder der Gesellschaft über ungenügende Ressourcen oder Chancen verfügen, um gleichermaßen Zugang zu politischen Ämtern zu haben, oder den Ausgang politischer Entscheidungen zu beeinflussen, dann hat ihre Freiheit einen geringeren Wert als die von Mitgliedern, die dies wohl können. Dies wird ausdrücklich unabhängig jeglicher sozialen und wirtschaftlichen Situation innerhalb des ersten Gerechtigkeitsprinzips bestimmt und allein danach, dass Menschen mit gleichen Fähigkeiten und Bereitschaft, sie einzusetzen, gleiche Erfolgsaussichten haben sollten (Rawls 1993, 327). Hier wendet Rawls das Prinzip der fairen Chancengleichheit, des ersten Elementes seines zweiten Grundsatzes, das er ansonsten der Verteilung der anderen Grundgüter vorbehält, auch bereits auf den ersten Grundsatz an. Die Erklärung für diese Ausnahme scheint in der Auffassung Rawls’ angelegt, dass die politischen Freiheiten einen Indikator für Chancengleichheit darstellen. Allerdings fragt man sich sogleich, wieso eine solche Regelung nicht auch auf die anderen Freiheiten, wie zum Beispiel

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die Berufswahl (und hierfür nötige Bildungsabschlüsse) oder die bereits erwähnte Rechtssicherheit zutrifft (Pogge 1994, 110 f.).

Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz Von Bedeutung für die Frage der Verteilung und des Gleichheitskonzepts, das der Rawlsschen Theorie unterliegt, ist nun, an welcher Stelle der zweite Grundsatz den Schnitt zwischen dem zieht, was in eigener Verantwortung liegt, und dem, was nicht dazu zählt. Der zweite Grundsatz besteht wiederum aus zwei Teilen, dem so genannten Chancenprinzip und dem Differenzprinzip. Das Prinzip der fairen Chancengleichheit besagt, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten an die Bedingung gebunden sein müssen, dass Ämter und Positionen allen unter der Bedingung fairer Chancengleichheit offenstehen (Rawls 1971, 60; 1992b, 160; 1993, 4 f.). Das Differenzprinzip besagt, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten nur dann zulässig sind, wenn sie zum größten Vorteil der am wenigsten begünstigen Gesellschaftsmitglieder sind. Mit Einführung des Chancenprinzips richtet sich Rawls gegen eine Interpretation von Gleichheit, die von einem System naturgegebener Freiheit ausgeht. Demnach wird das Chancenprinzip im Sinne eines Effizienzprinzips verstanden. Jede Verteilung ist immer dann maximal, wenn es nicht mehr möglich ist, die Position einiger Personen zu verbessern, ohne dadurch zugleich die Position einiger anderer zu verschlechtern (Rawls 1971, 76). Das System der naturgegebenen Freiheit geht davon aus, dass eine Grundstruktur dann dem Effizienzprinzip entspricht, wenn die gesellschaftlichen Positionen für alle diejenigen offen sind, die die adäquaten Fähigkeiten aufweisen können, die für diese Position nötig sind, und die bereit sind, sie auch einzusetzen. Freilich sind mit dieser Interpretation der Verteilungsgerechtigkeit mehrere Schwierigkeiten verbunden. Eine solche Verteilung setzt formale Chan­ cengleichheit immer schon voraus. Für alle sollten gleiche Rechte und gleicher Zugang zu den

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Vorteile verschaffenden sozialen Positionen gegeben sein (Rawls 1971, 73). Formale Chancengleichheit möchte sicherstellen, dass die Regeln des Zugangs zu bestimmten Positionen so neutral formuliert sind, dass sie niemanden diskriminieren. Das bedeutet, dass es zum Beispiel nicht erlaubt ist, einzelne Personen von vornherein vom Zugang zu sozialen Positionen auszuschließen. Diese Forderung geht aber nicht weit genug. Die ursprüngliche Verteilung ist nämlich immer noch ganz erheblich durch natürliche und soziale Kontingenzen beeinflusst. Die Verteilung von Einkommen und Wohlstand spiegelt die Verteilung physisch natürlicher Ausstattungen wie Talente und Fähigkeiten wider, deren Entwicklung durch soziale Umstände oder auch schieres Glück maßgeblich beeinflusst wird. Von einem moralischen Standpunkt aus gesehen, erscheinen Voraussetzungen wie diese arbiträr. Rawls argumentiert daher für eine andere Interpretation des Chancenprinzips. Mit einer stärkeren Forderung nach fairer Chancengleichheit möchte Rawls Behinderungen durch ungleiche Startbedingungen zuvorkommen. Das Prinzip der fairen Chancengleichheit fordert, dass Menschen mit der gleichen Ausstattung an Talenten und Fähigkeiten und demselben Maß an Einsatzbereitschaft, dieselben Chancen haben sollen, ein erfolgreiches Leben zu führen, und zwar unabhängig davon, aus welcher sozialen Klasse sie stammen (Rawls 1971, 73). Ebenso sollte die Möglichkeit bestehen, sich unabhängig der sozialen Herkunft Wissen und Kultur anzueignen und Bildungstitel zu erwerben. Es lassen sich vier Faktoren unterscheiden, die den Zugang zu öffentlichen Positionen beeinflussen (Pogge 1994, 97): natürliche Faktoren wie angeborene Talente und Begabungen, körperliche Konstitution, soziale Faktoren wie zum Beispiel Klassenlage der Eltern, persönliche Faktoren, zu denen beispielsweise Einsatzbereitschaft und Glück gehören. Rawls ist der Ansicht, dass eine soziale Ordnung dann gerecht ist, wenn der Zugang zu öffentlichen Ämtern so verteilt ist, dass soziale Faktoren, also die soziale Herkunft, das Elternhaus, keine Rolle spielen. Ungleiche Voraussetzungen beim Zugang zu öffentlichen Ämtern, deren Ursache in den anderen Faktoren,

R. Kreide

wie Talent, Einsatzbereitschaft oder körperliche Konstitution liegt, sind demnach durchaus zulässig. Rawls möchte auf diese Weise erreichen, dass diejenigen Ämter bekleiden, die in der Tat die gefragten Qualifikationen mitbringen, für deren Aneignung gleiche Chancen bestehen.

Kritik Ein Problem bei dieser Auffassung der Verteilungsgerechtigkeit besteht darin, zu bestimmen, was in den Bereich der individuellen Verantwortung fällt und was nicht. Häufig wird argumentiert, man sei dann für eine Handlung oder eine Einstellung verantwortlich, wenn diese auf einer autonomen Wahl beruht bzw. eine solche erkennen lässt (Scanlon 1998, 409). Autonom ist demnach eine Wahl, wenn sie selbstständig vorgenommen wird, das heißt, wenn sie weder externen Umständen (Herkunft, Sozialisationsbedingungen) noch physischen Voraussetzungen (niedriger IQ, Behinderungen) zugeschrieben werden kann. Hier stellt sich die Frage, ob es eine autonome Wahl in diesem Sinne tatsächlich geben kann. Meist ist die Grenzziehung zwischen Faktoren, die der autonomen Wahl unterliegen, und denen, die außerhalb unserer Kontrolle sind, analytisch präzise nicht leicht zu bestimmen. Denn je nach Verlauf dieser Grenze wird festgelegt, welche Ungleichheiten hinsichtlich der natürlichen und sozial bedingten Ausstattung und der persönlichen Ambitionen akzeptabel erscheinen und welche als hinderlich für eine faire Chancengleichheit eingestuft werden (Kymlicka 1990, 50–95). An Rawls Theorie kann man zeigen, dass er diese Grenze nicht an der richtigen Stelle zieht. Er berücksichtigt einerseits die natürliche Ausstattung bei ausgleichenden Maßnahmen zu wenig, andererseits aber zählt er persönliche Ambitionen zu jenen Faktoren, durch die keine Ungleichheiten entstehen dürfen (Dworkin 1981, 283). Rawls teilt überdies mit dem amerikanischen Philosophen Ronald Dworkin eine Überbetonung von Ressourcen als entscheidendes Mittel der Verteilung, um faire Chancengleichheit herzustellen.

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Literatur Kreide, Regina: Globale Politik und Menschenrechte. Macht und Ohnmacht eines politischen Instruments. Frankfurt a. M. 2008. Kymlicka, Will: Contemporary political philosophy. An introduction. Oxford 1990. Michelman, Frank: Constitutional welfare rights and a theory of justice. In: Norman Daniels (Hg.): Reading Rawls. New York 1974. Pogge, Thomas: An egalitarian law of peoples. In: Philosophy & Public Affairs 12/3 (1994), 195–224. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1975 (engl. 1971).

443 Rawls, John: Der Vorrang der Grundfreiheiten. In: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978– 1989. Frankfurt a. M. 1992a, 159–254. Rawls, John: Die Grundstruktur als Gegenstand. In: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978– 1989. Frankfurt a. M. 1992b, 45–79. Rawls, John: Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie. In: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Frankfurt a. M. 1992c, 80–158. Rawls, John: Political liberalism. New York 1993. Rawls, John: The idea of public reason revisited. In: Ders.: The law of peoples. Cambridge, Mass. 1999, 129–181. Rawls, John: The law of peoples. Cambridge, Mass. 1999.

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Völkerrecht Tamara Jugov

Rawls entwickelt seine Völkerrechtskonzeption abschließend in seinem 1999 erschienenen dritten Werk Das Recht der Völker. Darin erarbeitet Rawls eine „politische Konzeption […] der Gerechtigkeit“ die sich „auf die Grundsätze und Normen des internationalen Rechts und internationaler Praktiken bezieht“ (1999, 1). Rawls erweitert seine Gerechtigkeitstheorie hier um eine wichtige Komponente und versucht die Frage zu beantworten, wie die globale Ordnung gerecht gestaltet werden kann. Trotz des Titels ist Rawls’ Das Recht der Völker also keine völkerrechtliche Abhandlung im engeren Sinne. Vielmehr entwickelt Rawls darin mit den Mitteln der politischen Philosophie, was er eine realistische Utopie nennt (ebd., § 1). Diese geht zwar von bestehenden Fakten (etwa Naturgesetzen und Stabilitätserwägungen) aus und berücksichtigt Probleme der Praktikabilität – letztlich formuliert sie aber ein normatives Ideal darüber, wie die internationale Welt anhand moralisch-politischer Ideale und Grundsätze geordnet werden sollte (ebd., 14 f.). Dabei geht Rawls von der Leitidee aus, dass die großen globalen Menschheitsübel – etwa ungerechte Kriege und Unterdrückung, religiöse Ver-

T. Jugov (*)  Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected]

folgung, Armut und Völkermord – eine Folge politischer Ungerechtigkeiten sind (ebd., 4). Entsprechend postuliert Rawls, dass solche Übel verschwinden werden, sobald die schlimmsten Formen gesellschaftlicher und politischer Ungerechtigkeit überwunden werden (ebd., 5). Dies erklärt, warum Rawls’ Völkerrechtskonzeption einen so stark internationalistischen und auf politische Institutionen zugeschnittenen Fokus aufweist. Rawls geht von der These aus, dass eine hinreichend gerechte internationale Ordnung vor allem der intern gerechten politischen und gesellschaftlichen Organisation von Völkern bedarf. Erst wenn Gesellschaften intern (annehmbar) gerecht sind, werden die internationalen Beziehungen zwischen ihnen es auch sein. Mit dieser These, so könnte man sagen, verallgemeinert Rawls Kants Idee eines demokratischen Friedens – die These, dass Demokratien keinen Angriffskrieg gegeneinander führen – auf den gesamten Bereich internationaler Beziehungen hin. Rawls geht beim Aufbau seiner Völkerrechtskonzeption in drei Schritten vor. Zunächst wendet er die Vertragsidee auf die idealtheoretische Frage an, wie eine Gesellschaft liberaler demokratischer Völker ihre internationale Interaktion regeln würde (Teil 1). In einem zweiten Schritt zeigt Rawls, dass auch nicht-liberale aber sogenannte achtbare Völker vollwertige Mitglieder eines solchen Völkerrechts wären und die gewählten idealen Prinzipien ebenfalls mittragen

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würden (Teil 2). Drittens ergänzt Rawls den idealen Teil seiner Völkerrechtskonzeption um einen nicht-idealen Teil (Teil 3). Dies ist für den internationalen Raum besonders geboten, denn hier haben wir es offensichtlich mit Problemen der mangelnden Regelbefolgung (etwa durch Schurkenstaaten, die aggressiv und expansionistisch agieren) oder mit widrigen Umständen zu tun (etwa, wenn manche Gesellschaften durch das Fehlen politischer, kultureller und natürlicher Ressourcen besonders belastet sind). In diesem Sinne liefert Rawls’ Völkerrechtskonzeption auch eine wichtige methodologische Klarstellung und Anwendung seiner vieldiskutierten Unterscheidung zwischen idealer und nichtidealer Theorie. Rawls vertritt eine internationalistische und keine kosmopolitische Völkerrechtskonzeption. Er geht von Völkern – und nicht Individuen – als grundlegenden Einheiten aus, denen gegenüber eine globale Gerechtigkeitskonzeption gerechtfertigt werden muss. Volksrepräsentant*innen durchlaufen das Darstellungsmodell eines nunmehr globalen Urzustands (ebd., § 3). Dabei wählt Rawls deshalb Völker und nicht Staaten als relevante Bezugseinheiten, weil er Völker in seiner Theorie als moralische Akteure versteht, die vernünftig sind, sich mit Bezug auf Völkerrechtsnormen reziprok verhalten und ihre legitimen Interessen schützen wollen, etwa ihre Bürger*innen, ihre Unabhängigkeit und ihre territoriale Integrität (ebd., § 2). Die Rede von Staaten vermeidet Rawls, weil ihm diese zu eng mit der klassischen realistischen Vorstellung einer nach innen und außen uneingeschränkten und a-moralischen Souveränität verbunden scheint (ebd., 29). Dagegen zeichnet Rawls Völker durch die normative Qualität ihrer heimischen politischen Institutionen aus; sie besitzen einen wohlgeordneten Charakter. Dies bedeutet, dass ihre politischen Institutionen entweder liberal oder zumindest achtbar sein müssen. Schurkenstaaten und belastete Gesellschaften erfüllen in Rawls’ Völkerrechtskonzeption hingegen nicht die notwendigen Bedingungen, um begrifflich überhaupt als Volk bezeichnet werden zu können. Rawls’ Völkerrecht entwirft ideale Prinzipien lediglich für die idealisierte Figur wohl-

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geordneter Völker. Das bedeutet, dass nur Repräsentant*innen liberaler und achtbarer Gesellschafen den Urzustand durchlaufen und solche Prinzipien wählen, die ihnen hinter einem Schleier der Unwissenheit gerecht erscheinen. In einem ersten Schritt durchlaufen nur liberale, d. h. intern gerechte und demokratische, Völker das hypothetische Gedankenexperiment des Urzustands. Dabei stellt der Schleier der Unwissenheit sicher, dass die Volksvertreter*innen beispielsweise Informationen zur Größe ihres Territoriums, ihrer Bevölkerungszahlen und ihrer relativen Macht nicht kennen und entsprechend solche Prinzipien wählen, die möglichst reziprok und gerecht scheinen (ebd., § 3). Rawls geht davon aus, dass in dieser Prozedur solche Gerechtigkeitsprinzipien gewählt würden, die in unserer geltenden Völkerrechtsordnung größtenteils bereits wirksam sind, d. h. Rawls’ substantieller Vorschlag für die Grundsätze des Rechts der Völker deckt sich mit zentralen Entwicklungen der internationalen Völkerrechtsarchitektur nach 1945. Ebenso wie die Charta der Vereinten Nationen dies tut, postuliert Rawls das Prinzip der gleichen Freiheit und Unabhängigkeit von Völkern, eine NichtInterventionspflicht in die Angelegenheit anderer Völker, das Verbot des Angriffskriegs, die Erlaubnis zur Selbstverteidigung sowie die Achtung der Menschenrechte (ebd., § 4). Auch geht Rawls davon aus, dass Völker sich auf den Aufbau kooperativer internationaler Organisationen einigen würden, die in etwa den Vereinten Nationen, der Welthandelsorganisation und der Weltbank entsprechen (ebd., 47). Der Umstand, dass Rawls größtenteils solche substantiellen Prinzipien vorschlägt, die geltenden Völkerrechtsnormen entsprechen, reflektiert eine wichtige methodologische Entscheidung. Rawls möchte seine realistische Utopie „mit der internationalen politischen Welt, so wie sie sich uns darstellt“ (ebd., 101) beginnen. Auch für den internationalen Raum soll keine Theorie vorgelegt werden, die in bestimmten substanziellen und umfassenden Werten – etwa der praktischen Vernunft – begründet ist (ebd., 106). Stattdessen illustriert Rawls’ Völkerrechtskonzeption seine über die Jahrzehnte entwickelte Methode

62 Völkerrecht

eines politischen Konstruktivismus, die Gerechtigkeitsprinzipien ausgehend von, und immanent zu, öffentlich bereits wirksamen normativen Grundsätzen und Idealen formuliert (Jugov 2019). Drückt auch Rawls’ Entscheidung gegen eine kosmopolitische Position, d. h. gegen eine solche Konzeption, die von gleichen individuellen Rechten her argumentiert, den Wunsch aus, vom internationalen Status Quo her zu argumentieren? Dies wurde Rawls von vielen Kritiker*innen vorgeworfen (Tan 1998; Buchanan 2000; Pogge 2001). Doch auch prinzipielle Erwägungen bringen Rawls dazu, eine kosmopolitische Position abzulehnen. Rawls befürchtet, dass eine solche Position liberalen Völkern die Erlaubnis oder gar die Pflicht auferlegen würde, nicht liberale Gesellschaften „allmählich in liberale Gesellschaften umzuformen“ (1999, 101). Gegen eine derartige Position der liberalen Hegemonie und des liberalen Interventionismus geht Rawls davon aus, dass es auch international den empirischen Umstand eines vernünftigen Pluralismus zu beachten gilt (ebd., 13). Rawls nimmt an, dass der globale Raum durch „eine Vielfalt vernünftiger Völker mit verschiedenen ihnen eigenen religiösen und nichtreligiösen Kulturen und geistigen Traditionen“ (ebd., 13) geprägt wird. Auch wenn wir uns möglicherweise wünschten, dass alle Völker genauso wären wie unser eigenes, sei dies mit einem politischen Liberalismus und einer „Kultur freier Institutionen“ unvereinbar (ebd., 14, vgl. auch 157). Auch aus diesem Grund lehnt Rawls mit Kant die Idee eines Weltstaates als potentiell despotisch und fragil ab (ebd., 40). Aber welche Völker gilt es international zu tolerieren und welche nicht? Rawls antwortet auf diese Frage im zweiten Teil seines Völkerrechts durch die Einführung der Figur achtbarer Völker (§ 7). Diese sind zwar nicht liberal, d. h. behandeln ihre Bürger*innen nicht in allen Belangen als Gleiche (sie erlauben zum Beispiel Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, vgl. ebd., 88) und sie sind auch nicht demokratisch organisiert (es reicht aus, wenn sie ihre Bürger*innen in wichtigen Fragen „konsultieren“, vgl. ebd., 80). Achtbare Völker sind aber durch

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eine Gemeinwohlvorstellung der Gerechtigkeit wirksam organisiert, achten die Menschenrechte ihrer Bewohner*innen und sind nach außen friedlich (ebd., § 8 f.). Rawls geht davon aus, dass nicht nur liberalen, sondern auch achtbaren Völkern das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht vollumfänglich zufällt und dass es sie als vollwertige Mitglieder des Völkerrechts zu respektieren und zu achten gilt (ebd., 73). Liberale Toleranz müsse ausdrücklich auch gegenüber alternativen Möglichkeiten gesellschaftlicher Ordnung geübt werden (ebd., 71). Rawls bezeichnet liberale und achtbare Völker als wohlgeordnet, weil beide Gesellschaften solche politischen Institutionen besitzen, die durch eine öffentliche Gerechtigkeitsvorstellung wirksam geprägt sind (auch wenn diese Gerechtigkeitsvorstellung im Falle achtbarer Völker nicht individualistisch, sondern korporatistisch sein kann). Rawls betont, dass seine normativ konzipierten Völkerrechtsprinzipien die empirische Existenz achtbarer Völker ebenso wenig voraussetzen, wie die Existenz gerechter liberaler Gesellschaften. „Wenn wir den Maßstab sehr hoch legen, existieren beide nicht.“ (ebd., 91). Dies macht deutlich, dass bereits die Parteien des idealen Teils von Rawls’ Völkerrecht normative Idealisierungen darstellen, die in der Realität nicht notwendigerweise existieren. Erst solche Staaten, die die Menschenrechte ihrer Bürger*innen nicht achten, verlieren Rawls zufolge ihr uneingeschränktes Recht auf Selbstbestimmung. Rawls versteht Menschenrechte in einem äußerst minimalistischen Sinne. Diese umfassen bei Rawls beispielsweise keine demokratischen und liberalen Mitbestimmungsrechte oder Antidiskriminierungsrechte. Stattdessen bringen sie lediglich „besonders dringliche“ (ebd., 96) Rechte zum Ausdruck. Zu den Menschenrechten gehören Rawls zufolge ein „Recht auf Leben (auf das für die eigene Subsistenz und Sicherheit Nötige), auf Freiheit (die Freiheit von Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit und ein hinreichendes Maß an Gewissensfreiheit, um die Religions- und Gedankenfreiheit zu garantieren), auf Eigentum (persönliches Eigentum) und auf formale

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Gleichheit […]“ (ebd., 80). Weiter schließen die Menschenrechte Rawls zufolge Massenmord und Genozid aus (ebd., 96). Damit sind Menschenrechte bei Rawls sehr viel weniger umfassend bestimmt als dies etwa in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder in den Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen der Fall ist (ebd., 97 Fn 23). Dafür betont Rawls, dass Menschenrechte universell gelten, diese seien eben nicht westlich-liberal bzw. „politisch provinziell“ (1999, 80). Folglich müssen Menschenrechte von Völkern generell geachtet werden. Dabei spielen Menschenrechte in Rawls’ Theorie eine wichtige funktionale Rolle in Hinblick auf die Regelung völkerrechtlicher Verhältnisse. In erster Linie begrenzen Menschenrechte die Autonomie von Völkern nach innen (ebd., 41). Die Achtung der Menschenrechte stellt ein definitorisches Merkmal wohlgeordneter Gesellschaften dar (ebd., 80). Wenn Staaten die Menschenrechte ihrer Bürger*innen schwerwiegend verletzen, so erlaubt dies Sanktionen oder gar Intervention durch andere Völker (ebd., 98). Obwohl Rawls seine Menschenrechtskonzeption im Recht der Völker nur in Ansätzen entwickelt und diese kurz ausfällt, hat insbesondere ihr funktionaler und an der völkerrechtlichen Praxis orientierter Charakter als wichtiger Ausgangspunkt sogenannter „praktischer“ bzw. „politischer“ Konzeptionen der Menschenrechte gedient (vgl. Beitz 2009). Politische Konzeptionen bestimmen Menschenrechte nicht ausgehend von metaphysischen Fundierungen, sondern anhand ihrer politischen Rolle in der internationalen Praxis. Nun scheint offensichtlich, dass unsere globale Welt „von großen Ungerechtigkeiten und weit verbreiteten sozialen Übeln geprägt ist“ (Rawls 1999, 113). Entsprechend entwirft Rawls im dritten und letzten Teil seines Völkerrechts einen nichtidealen Teil seiner Theorie für den Umgang mit Gesellschaften, die (noch) nicht wohlgeordnet sind. Ideale Theorie formuliert Rawls zufolge Gerechtigkeitsprinzipien für die idealisierten Bedingungen der vollständigen Regelkonformität sowie einigermaßen glücklichen, natürlichen Umständen. Nicht-ideale

T. Jugov

Theorie wird in einem zweiten Schritt für solche Umstände konzipiert, in denen diese idealisierten Bedingungen nicht gegeben sind (1975, 244). Im Kontext von Rawls’ Völkerrecht behandelt nichtideale Theorie die Frage, wie man sich dem Ideal einer globalen Gesellschaft wohlgeordneter Völker annähern könne (1999, 113). Rawls setzt voraus, dass wir hierfür über einen idealen Teil der Theorie zumindest in Umrissen bereits verfügen müssen, da dieser den „Zielpunkt“ der nichtidealen Theorie bestimme (ebd., 114). Aber auch den Status quo müsse eine nichtideale Theorie berücksichtigen, da sie sich mit „Fragen des Übergangs“ (ebd.) beschäftige. Rawls entwickelt nichtideale Völkerrechtsprinzipien erstens für den Fall der Regelnichtbefolgung, d. h. für den Umgang mit Schurkenstaaten, die sich nicht an geltendes Völkerrecht halten und Krieg als Mittel zur Verfolgung ihrer Interessen verstehen (ebd., § 13 f.). Zweitens entwickelt Rawls Prinzipien für den Umgang mit solchen Gesellschaften, die durch ungünstige Umstände – etwa historischer, wirtschaftlicher oder sozialer Art – belastet sind (ebd., § 15 f.). Für den Umgang mit Schurkenstaaten formuliert Rawls völkerrechtliche Grundsätze, die den Angriffskrieg verbieten sowie Grundsätze eines humanitären Völkerrechts. Das Recht zur Kriegsführung (ius ad bellum) schränkt Rawls auf Fälle der Selbstverteidigung ein. Völker dürfen Kriege also nur führen, um ihr vernünftiges Sicherheits- und Selbstbestimmungsinteresse zu verteidigen, nicht jedoch um andere rationale Interessen durchzusetzen (ebd., 115). Rawls erweitert Kants These eines demokratischen Friedens: Er geht davon aus, dass nicht nur demokratische (ebd., § 5), sondern auch wohlgeordnete Völker gegeneinander keinen Krieg führen (ebd., 79). Bezüglich des humanitären Völkerrechts, d. h. des Rechts im Krieg (ius in bello) betont Rawls, dass Prinzipien der Kriegsführung mit Blick auf das Ziel eines gerechten und dauerhaften Friedens zwischen Völkern formuliert werden sollten. Insbesondere muss im Falle einer nötig gewordenen Kriegsführung zwischen der zivilen Bevölkerung und den (undemokratischen) Führer*innen

62 Völkerrecht

und Beamt*innen von Schurkenstaaten unterschieden werden (ebd., 120). Außerdem sind die Menschenrechte der Mitglieder feindlicher Völker zu achten. Nicht zuletzt lehnt Rawls ein instrumentelles Zweckmitteldenken ab, etwa die Bombardierung von Zivilist*innen zur Verkürzung des Kriegsgeschehens. Den zweiten nicht-idealen Fall, den Rawls im dritten Teil seines Völkerrechts bespricht, bilden sogenannte belastete Gesellschaften. Diesen fehlen für deren Wohlgeordnetheit „politische und kulturelle Traditionen, das Humankapital, das Know-How und oft auch die nötigen materiellen und technologischen Ressourcen“ (ebd., 131). Wie Rawls betont, fehlt es belasteten Gesellschaften nicht allein an materiellem Wohlstand, sondern häufiger an sozialen, kulturellen und historischen Ressourcen, die sie zum Aufbau annehmbar gerechter politischer Institutionen benötigen würden. Gegenüber solchen Gesellschaften gilt Rawls zufolge eine Hilfspflicht: wohlgeordnete Völker sind verpflichtet, belasteten Gesellschaften so weit zu helfen, bis diese ihrerseits wohlgeordnet werden. Diese Hilfspflicht hat also keinen relationalen bzw. egalitär bestimmten Inhalt (ebd., 132), sondern besitzt in der angestrebten Wohlgeordnetheit der belasteten Gesellschaften einen eindeutigen Abbruchpunkt (ebd., 147). Während diese Hilfspflicht über geltende Völkerrechtsnormen weit hinausgeht, hat ihr gerechtigkeitstheoretisch wenig ambitionierter Charakter kosmopolitische Kritiker*innen enttäuscht. Während Rawls innerstaatlich noch für weitreichende egalitäre Umverteilungspflichten (bestimmt durch das Differenzprinzip) argumentiert hatte, sieht er Ungleichheiten zwischen Völkern als moralisch weniger problematisch an (ebd., 141–149). Lediglich dem Leiden der Bevölkerungen in belasteten Gesellschaften gelte es entgegenzutreten, indem deren Subsistenz gesichert wird. Darüber hinaus seien achtbare Völker jedoch frei, sich zwischen verschiedenen Wirtschaftspolitiken und mehr oder weniger erfolgreichen politischen Maßnahmen zu entscheiden. Die daraus resultierenden ökonomischen Unterschiede bilden Rawls zufolge kein Gerechtigkeitsproblem (ebd., 142, 145– 147). Damit erlaubt Rawls international sehr viel

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größere Unterschiede mit Bezug auf die Verteilung wünschenswerter Allzweckmittel als dies in seiner heimischen Theorie der Fall ist. Selbst in Hinblick auf die Verteilung natürlicher Ressourcen streitet Rawls gegen seine kosmopolitischen Kritiker*innen (Beitz 1979; Pogge 1994) ab, dass global ein distributives Prinzip mit Bezug auf solche gelten sollte (1999, § 16). Dies bestreitet Rawls mit der These, dass natürliche Ressourcen eben nicht den „entscheidenden Faktor“ für die „Geschicke eines Landes“ (ebd., 145) darstellten; ausschlaggebend seien vielmehr die politische Kultur und Gerechtigkeit der politischen Institutionen eines Landes. Rawls’ Kritiker*innen haben diese These empirisch bestritten: Gesellschaftlicher Wohlstand bzw. Armut würde nicht allein durch nationale, sondern auch durch internationale Faktoren – beispielsweise ein unfaires Welthandelsregime – verursacht und aufrechterhalten (Buchanan 2000; Pogge 2001). Solche Hintergrundungerechtigkeiten der bestehenden globalen Ordnung blende Rawls’ Theorieaufbau deshalb aus, weil er mit der idealisierten Annahme wohlgeordneter Völker und fairer Hintergrundbedingungen starte, die im nichtidealen Teil des Völkerrechts dann nicht mehr ausreichend korrigiert würde (für Kritiken dieses Typs vgl. Buchannan 2000; Pogge 2001; Ronzoni 2009; Ypi 2010). Rawls’ Völkerrechtskonzeption hat sich als wichtiger Ausgangspunkt verschiedener Debatten in der politischen Philosophie und Theorie herauskristallisiert. So formuliert Rawls eine zentrale internationalistische Position, mit der sich kosmopolitische Kritiker*innen in den Debatten um die Geltungsreichweite und den Geltungsgrund globaler Gerechtigkeitsprinzipien im Folgenden auseinandersetzen mussten (Pogge 2001; Beitz 2000; Caney 2005). Rawls im Völkerrecht explizit angestrengte methodologische Überlegungen zum Charakter einer realistischen Utopie sowie die ausführliche Ausarbeitung nicht-idealer Prinzipien waren insbesondere für die Debatte um ideale und nichtideale Theorie wegweisend (für einen hilfreichen Überblick vgl. Valentini 2009). Dies erklärt das wiederaufgeflammte und ernsthafte Interesse an Rawls’ Völkerrecht als einem

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ernstzunehmenden Klassiker der politischen Philosophie internationaler Beziehungen (vgl. Reidy 2006; Mosayebi/Hahn 2019).

Literatur Beitz, Charles: Political theory and international relations. Princeton/New Jersey 1979. Beitz, Charles: Rawls’s law of peoples. In: Ethics 110/4 (2000), 669–696. Beitz, Charles: The idea of human rights. Oxford 2009. Buchanan, Allen: Rawls’s law of peoples: rules for a vanished westphalian world. In: Ethics 110/4 (2000), 696–721. Caney, Simon: Justice beyond borders: a global political theory. Oxford 2005. Hahn, Henning/Mosayebi, Reza: Klassiker Auslegen: John Rawls: Das Recht der Völker. Berlin 2019. Jugov, Tamara: Konstruktivismus im Recht der Völker. In: Henning Hahn/Reza Mosayebi (Hg.): Klassiker

T. Jugov Auslegen: John Rawls: Das Recht der Völker. Berlin 2019, 29–46 Martin, Rex/Reidy, David A.: Rawls’s law of peoples: a realistic utopia? Oxford 2006. Pogge, Thomas: An egalitarian law of peoples. In: Philosophy & Public Affairs 23/3 (1994), 195–224. Pogge, Thomas: Rawls on international justice. In: Philosophical Quarterly 51/203 (2001), 246–253. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1975 (engl. 1971). Rawls, John: Das Recht der Völker. Berlin 2002 (engl. 1999). Ronzoni, Miriam: The global order: a case of background injustice? a practice-dependent account. In: Philosophy & Public Affairs 37/3 (2009), 229–256. Tan, Kok-Chor: Liberal toleration in Rawls’s law of peoples. In: Ethics 108/2 (1998), 276–295. Valentini, Laura: Ideal vs. non-ideal theory: a conceptual map. In: Philosophy Compass 7/9 (2009), 654–664. Ypi, Lea: On the confusion between ideal and non-ideal in recent debates on global justice. In: Political Studies 58/3 (2010), 536–555.

Vorrang des Rechten

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Tim Reiß

Der „Vorrang des Rechten“ ist ein von Rawls zur Selbstkennzeichnung der eigenen Theorie eingeführter Begriff, der es zum Schlagwort gebracht hat. Die Wendung hat sich gegenüber dem speziellen Kontext ihrer Einführung bei Rawls längst verselbständigt und ist zur Kennzeichnung liberaler Theorien insgesamt verdünnt worden. Die Prominenz des Begriffs steht dabei in einem gewissen Kontrast zu der zu verzeichnenden Uneinigkeit darüber, was damit bei Rawls eigentlich genau gemeint ist. Einige übliche Interpretationen des Vorrangs des Rechten sind zu unspezifisch. So wird unter dem Vorrang des Rechten mitunter Folgendes verstanden: • der „Vorrang der Grundfreiheiten“ als ein Grundcharakteristikum liberaler Theorien („die Freiheit darf nur um der Freiheit selbst willen eingeschränkt werden“, Rawls 1979, 276; die Grundfreiheiten „haben gegenüber Argumenten des öffentlichen Wohls und gegenüber perfektionistischen Werten ein absolutes Gewicht“, Rawls 1998, 410), • der angebliche Verzicht der liberalen Theorie auf eine Idee oder Konzeption des Guten, • die Zugehörigkeit von Gerechtigkeit als Fairneß zu deontologischen ethischen Theorien. T. Reiß (*)  Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

• Nach Elif Özmen (2015, 115 f.), verweist die Unterscheidung zwischen dem Rechten und dem Gutem zudem • auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche praktischer Philosophie (Normen des Zusammenlebens vs. persönliche Ethik der Lebensführung), • auf den epistemischen und begründungstheoretischen Unterschied zwischen Prinzipien, die durch öffentlichen Vernunftgebrauch (und in diesem Sinn: objektiv) begründet werden können, und nicht öffentlich begründbaren (und in diesem Sinn: subjektiven) Wertvorstellungen. Die Erläuterung des Vorrangs des Rechten als a) Vorrang der Grundfreiheiten ist zu undifferenziert. Erläuterung b) ist, obwohl eine in der kommunitaristischen Rawls-Kritik einflussreiche Deutung, abwegig und müsste gegen einen massiven Textbefund verteidigt werden, weil Rawls explizit dementiert, dass eine liberale Gerechtigkeitskonzeption auf Ideen des Guten verzichten könne (vgl. Rawls 1998, 266). Den Vorrang des Rechten einfach im Sinne einer Kennzeichnung der eigenen Theorie als deontologisch zu interpretieren, ist ebenfalls viel zu unspezifisch (vgl. Ahlberg 2015, Freeman 1994). Zwar wird die Wendung vom Vorrang des Rechten von Rawls in der Tat im Zusammenhang seiner Unterscheidung zwischen teleologischen und de-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_63

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ontologischen Ethiken eingeführt (vgl. Rawls 1979, 48–50). Aber nicht jede deontologische Ethik muss den Vorrang des Rechten anerkennen. Der Vorrang des Rechten kann vielmehr so verstanden werden, dass mit ihm eine Teilklasse deontologischer Theorien ausgezeichnet wird (vgl. Freeman 1994, Ronzoni 2010). Jede Ethik, die den Vorrang des Rechten anerkennt, ist deontologisch, aber nicht jede deontologische Ethik erkennt den Vorrang des Rechten an. (Das berühmteste Beispiel für eine deontologische Ethik, die den Vorrang des Rechten anerkennt, ist Rawls zufolge die Moralphilosophie Kants, vgl. Rawls 1979, 50, Fn. 16; vgl. Rawls 2002, 305– 308). Rawls vertritt einen engen Begriff teleologischer und einen weiten Begriff deontologischer Ethiken: Eine Ethik ist deontologisch, wenn sie „entweder das Gute nicht unabhängig vom Rechten oder das Rechte nicht als Maximierung des Guten bestimmt.“ (Rawls 1979, 48) Eine Ethik ist deshalb nur dann teleologisch, wenn in ihr 1) das Gute unabhängig vom Rechten und 2) das Rechte als Maximierung des Guten bestimmt wird. Deontologische Theorien lassen sich also danach unterscheiden, ob sie nur die teleologische Prämisse 1) oder nur Prämisse 2) oder beide Prämissen zurückweisen. – Wie sieht es aber in dieser Hinsicht mit Rawls’ eigener Konzeption aus? Gerechtigkeit als Fairneß gehört klarerweise zu denjenigen deontologischen Theorien, welche die teleologische Maximierungsprämisse 2) zurückweisen (vgl. Rawls 1979, 48). Komplexer ist allerdings die Antwort auf die Frage, wie sich Gerechtigkeit als Fairneß zu der teleologischen Prämisse 1) verhält, also zu der Prämisse, dass sich das Gute unabhängig vom Rechten bestimmten lassen müsse. Hier müssen unbedingt drei Schritte unterschieden werden: Die Bestimmung der Gerechtigkeitsgrundsätze setzt eine zunächst außermoralische, schwache Konzeption des Guten voraus (Schritt 1). Auf dieser, aber auch nur auf dieser Stufe teilt Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption die teleologische Prämisse 1), denn da die schwache Theorie des Guten benötigt wird, um den Begriff des Rechten zu bestimmen, kann sie ihrerseits diesen Begriff noch nicht voraussetzen. Sobald mit Hilfe der schwachen Theorie des

T. Reiß

Guten die Gerechtigkeitsgrundsätze entwickelt worden sind (Schritt 2) und wir damit über den Begriff des Rechten verfügen, lässt sich schließlich (Schritt 3) eine vollständige Theorie des Guten entwickeln (vgl. Rawls 1979, 433 f.), in der das Gute nicht mehr unabhängig vom Rechten, hier also von den Gerechtigkeitsgrundsätzen bestimmt werden kann. Der Vorrang des Rechten bedeutet nun in diesem Zusammenhang, dass die Gerechtigkeitsgrundsätze dem möglichen Inhalt der Vorstellungen vom Guten Grenzen setzen. Der Vorrang des Rechten bezeichnet das höherrangige Ziel moralischer Personen, nur Ziele zu verfolgen, die anderen gegenüber als legitim ausgewiesen werden können (vgl. Freeman 1994). Die Gegenüberstellung zum Utilitarismus macht den Punkt deutlich: Nicht nur lehnt eine Theorie, die den Vorrang des Rechten anerkennt, das teleologische Maximierungsprinzip ab. Sie bestreitet zudem bereits, dass jedem beliebigen Wunsch oder jeder beliebigen Präferenz auch nur prima facie ein Anspruch auf Erfüllung zukommt: „Die Grundsätze des Rechten […] setzen Bedingungen dafür, welche Befriedigungen Wert haben, was vernünftige Vorstellungen vom eigenen Wohl sind“ (Rawls 1979, 49; vgl. 490 u. Rawls 1998, 266, 269, 309). So zählt etwa die Präferenz, andere zu benachteiligen, nicht einmal prima facie als berücksichtigenswerte Präferenz. Die Grundsätze des Rechten setzen unseren möglichen Vorstellungen vom Guten Grenzen. Das heißt aber andererseits auch, dass – anders als in einer extremen Form der Deontologie, die nicht einmal Kant vertritt (vgl. Schroth 2008) – das Gute nicht selbst ausschließlich durch das Rechte definiert sein darf. Der Vorrang des Rechten bezeichnet ein Kriterium dafür, was als Gutes zählen darf: Solche Ziele, deren Verfolgung mit dem gleichen Recht einer jeden Person, ihre Ziele zu verfolgen, grundsätzlich verträglich ist. Die Gerechtigkeitsgrundsätze sollen es also gerade ermöglichen, dass eine jede Person ihrer eigenen Konzeption des Guten folgen kann. Ohne Begriff des Guten käme den Prinzipien des Rechten sozusagen die Materie abhanden, zu deren Regelung sie dienen. „Mit einem Wort: die Gerechtigkeit zieht die Grenze, das Gute setzt das Ziel“ (Rawls 1992, 365; vgl. Rawls 1998, 267).

63  Vorrang des Rechten

Rawls’ eigene Einschätzung, die Rede vom „Vorrang des Rechten“ biete zu Missverständnissen Anlass (vgl. Rawls 1998, 266), ist in der Rezeption vielfach bestätigt worden. Das Schlagwort vom Vorrang des Rechten ist vor allem deshalb missverständlich, weil es davon ablenkt, dass bei Rawls, wie dargestellt, zwischen dem Guten und dem Rechten viel eher ein Komplementaritäts- als ein Konkurrenzverhältnis besteht (vgl. Rawls 1998, 266). Diese Komplementarität zwischen Rechtem und Gutem hat noch zusätzliche Dimensionen. So ist es eines der zentralen Anliegen Rawls’ in der Theorie der Gerechtigkeit zu zeigen, dass die Ausbildung und Ausübung eines Gerechtigkeitssinns und damit die Anerkennung des Vorrangs des Rechten – zumindest in einer wohlgeordneten Gesellschaft – für alle Bürger*innen etwas Gutes ist (die sog. Kongruenzthese, vgl. insbesondere Rawls 1979, 614–626). Im Politischen Liberalismus weist Rawls die (ihm bis heute immer wieder zugeschriebene) Vorstellung explizit zurück, eine politische Gerechtigkeitskonzeption dürfe in einer pluralistischen Gesellschaft auf Ideen des Guten nicht zurückgreifen: Keine Gerechtigkeitskonzeption könne, so Rawls, auf Ideen des Guten verzichten (vgl. Rawls 1998, 266). Der (im Rawlsschen Sinn) politische Charakter der liberalen Gerechtigkeitskonzeption – ihr ‚freistehender‘ Status gegenüber umfassenden Lehren – erfordert allerdings, „daß die in Anspruch genommenen Ideen des Guten politische Ideen sein müssen“ (Rawls 1998, 309). Diese Bedingung bezeichnet Rawls im Politischen Liberalismus zugleich als die

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allgemeine Bedeutung des „Vorrang des Rechten“, im Unterschied zu der oben beschriebenen speziellen Bedeutung, wonach die Gerechtigkeitsgrundsätze den möglichen Inhalt der Konzeptionen des Guten begrenzen (Rawls 1998, 309).

Literatur Ahlberg, Jaime: The priority of the right over the good. In: Jon Mandle/David A. Reidy (Hg.): The Cambridge Rawls lexicon. Cambridge 2015, 648–650. Freeman, Samuel: Utilitarianism, deontolgy, and the priority of right. In: Philosophy & Public Affairs 23/4 (1994), 313–349. Özmen, Elif: Der Vorrang des Rechten und die Ideen des Guten. In: Otfried Höffe (Hg.): John Rawls: Politischer Liberalismus. Klassiker Auslegen Band, 49. Berlin 2015, 113–129. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1979 (engl. 1971). Rawls, John: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Hg. Wilfried Hinsch. Frankfurt a. M. 1992. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft. In: John Rawls: Das Recht der Völker. Berlin/ New York 2002, 165–218. Rawls, John: Geschichte der Moralphilosophie. Hume Leibniz - Kant - Hegel. Hg. Barbara Herman. Frankfurt a. M. 2002 (engl. 2000). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. 2003 (engl. 2001). Ronzoni, Miriam: Teleology, deontology, and the priority of the right: On some unappreciated distinctions. In: Ethical theory and moral practice 13/4 (2010), 453–472. Schroth, Jörg: The priority of the right in Kant’s ethics. In: Monika Betzler (Hg.): Kant’s ethics of virtue. Berlin/New York 2008, 77–100.

Ziviler Ungehorsam

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Julian Frinken und Michael Roseneck

Anders als Modus-vivendi-Theorien der Demokratie vertritt Rawls (1977, 166 f.; 2017, 318; 2019, 137 f., 368 f.) durch sein gesamtes Werk hindurch die Position, dass die Bürger*innen eines demokratischen Rechts- und Sozialstaats die (natürliche) Pflicht haben, sich unabhängig von ihren Interessen an dessen Regeln zu halten, da sie damit die Autorität einer gerechten Ordnung anerkennen und stabilisieren. Nun kann allerdings das Dilemma eintreten, dass eine gerechte institutionelle Ordnung eine ungerechte Regel beziehungsweise im Effekt einen ungerechten Zustand hervorbringt. Dies wirft die Frage auf, was die Pflicht zur Gerechtigkeit in einem solchen Fall verlange. Kann sie, welche mittelbar die Adhärenz gegenüber den Regeln des demokratischen Rechtsstaats begründet, paradoxerweise verlangen, auch eine ungerechte Regel zu befolgen beziehungsweise zu dulden? Dass das Zustandekommen eines solchen Dilemmas nicht kontrafaktisch ist und demnach eine vollständige Gerechtigkeitstheorie die Rolle des zivilen Ungehorsams thematisieren muss,

J. Frinken (*)  Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Roseneck  Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected]

zeigt sich bereits daran, dass selbst unter idealisierten Annahmen einer vollkommen gerechten Ordnung, in der keine institutionellen Defizite vorliegen und allen Beteiligten eine gänzlich gerechte Einstellung unterstellt wird, nichtsdestotrotz aus dem demokratischen Prozess ungerechte Regeln folgen können. Dies ist deswegen der Fall, da es sich beim demokratischen Verfahren um ein unvollständig verfahrensgerechtes handelt (Rawls 2019, 390 f.): Zwar existiert mit dem Zweck der Verwirklichung der zwei Gerechtigkeitsgrundsätze durch entsprechende Gesetze ein verfahrensexternes Ziel, jedoch kann das demokratische Verfahren alleine nicht garantieren, dass dieses, selbst bei seiner korrekten Durchführung, immerzu erreicht wird. Welche Aspekte charakterisieren das demokratische Entscheidungsverfahren als unvollständig verfahrensgerecht? Rawls (2019, 393 f.) geht davon aus, dass sich die Akteur*innen im Urzustand in Bezug auf die Entscheidung, welches Verfahren die zukünftige institutionelle Ordnung zur legitimen Entwicklung regulativer Normen beinhalten wird, auf ein konditional eingeschränktes Mehrheitsprinzip einigen werden. Das Mehrheitsprinzip ist deswegen naheliegend, als es den Werten von Freiheit und Gleichheit auch im Vollzug der politischen Entscheidungsfindung Ausdruck verleiht; one person, one free vote. Betrachtet man ferner die institutionelle Großordnung einer gerechten

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_64

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Gesellschaft, so ist das Mehrheitsprinzip außerdem in zweifacher Weise eingebettet: Zum einen wird es durch rechtsstaatliche, gerichtlich überwachte Grenzen eingeschränkt, zum anderen geht der Entscheidung anhand des Mehrheitsprinzips, indem demokratische Rechtsstaaten über einen öffentlichen Raum verfügen, ein diskursiver Prozess voran, der Rechtfertigungen für politische Maßnahmen in Bezug auf ihre allgemeine Akzeptierbarkeit hin filtert (Rawls 2019, 394 f.). Wie schon John Dewey (1996, 172 f.) feststellte, wäre das „Mehrheitsprinzip, rein als Mehrheitsprinzip, […] so lächerlich wie seine Kritiker es zu sein bezichtigen. Aber es ist niemals nur Mehrheitsprinzip“, sondern ihm gehen deliberative Prozesse voran, „wodurch soziale Bedürfnisse und Nöte aufgedeckt werden“, was wiederum den daran anschließend gefällten Entscheidungen eine gewisse epistemische Qualität zuspricht. Gleichwohl liegen auch in vollkommen gerechten Gesellschaften anthropologisch konstante, wie Rawls (2017, 127–132) es später nennt, Bürden des Urteilens vor, welche dazu beitragen, dass aufgrund kognitiver Fehlleistungen und begrenzter Informiertheit gewisse Fehler im deliberativen Prozess auftreten und sich in teilweise ungerechten Entscheidungen widerspiegeln werden. So kann es zum Beispiel dazu kommen, dass die Deliberierenden abhängig von ihrem sozialen Standpunkt über unterschiedliche Erfahrungen und daraus resultierende spezifische Gerechtigkeitsvorstellungen verfügen, die zwar nicht zur Unkenntlichkeit verzerren, was eine gerechte politische Entscheidung verlangt, aber dennoch eine gewisse Einseitigkeit aufweisen, die sich dann in diskursiven Filterverfahren (vorerst) durchsetzen kann. Rawls vermutet dementsprechend, dass bereits unter idealtheoretischen Bedingungen die Konstellation eintreten kann, dass regulative Normen entwickelt werden, welche den hinter den konstitutiven Normen stehenden Werten von Freiheit und Gleichheit zuwiderlaufen. Diese Erkenntnis ist unter anderem auch deswegen von praktischer Relevanz, als sie Positionen, welche dem zivilen Ungehorsam in demokratischen

J. Frinken und M. Roseneck

Gesellschaften keine Berechtigung zusprechen, unabhängig von kontingenten empirischen Variablen, die argumentative Grundlage entzieht: Indem auch in idealtheoretischen demokratischen Rechts- und Sozialstaatsmodellen Faktoren benannt werden können, welche zu ungerechten regulativen Normen führen, ist es bereits a priori nicht haltbar, den zivilen Ungehorsam als schlichtweg demokratisch unzulässige politische Praxis zurückzuweisen, was jedoch noch nicht bedeutet, dass er ex positivo gerechtfertigt ist. Rawls selbst nimmt an, dass die Ungerechtigkeiten, welche unter idealen Rahmenbedingungen einer vollkommen gerechten Ordnung entstehen können, nicht ein solches „Maß der Ungerechtigkeit“ (Rawls 2019, 387) überschreiten werden, dass sie zivilen Ungehorsam rechtfertigen. Dessen Begründetheit kommt erst unter realen Bedingungen zustande. Begibt man sich demnach auf die Ebene realer, nur fast gerechter Ordnungen, stellen das Mehrheitsprinzip und politische Diskurse, trotz ihres prinzipiell egalitären Charakters, dennoch ein Einfallstor für sozial mächtige Interessen dar, die in ihren Ansprüchen demokratisch illegitim, da nicht allgemein akzeptierbar, sind. So muss davon ausgegangen werden, dass Teile der Bürgerschaft sich beispielsweise bei ihren Wahlentscheidungen nicht daran orientieren werden, was die Pflicht zur Gerechtigkeit verlangt, sondern vielmehr daran, was in ihrem ureigenen Interesse ist. Ferner bieten gerade moderne komplexe Gesellschaften mit von der Lebenswelt abgekapselten Systemen von Wirtschaft und politischer Administration Akteur*innen wie Lobbyverbänden diverse Möglichkeiten der effektiven Etablierung von „inoffizielle[n] Kreisl[ä]uf[en] […] nichtlegitimierte[r] Macht“ (Habermas 1992, 398). Insofern muss sich eine praktisch anschlussfähige politische Philosophie für ein, um es in freier Anlehnung an Kant (ZeF AA VIII, 366) zu sagen, „Volk von einigen Teufeln“ die Frage nach der Funktion des zivilen Ungehorsams stellen. Die genannten Problematiken begründen gleichwohl noch nicht das Recht zum zivilen Ungehorsam, denn zum einen bietet eine demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung Verfahren an,

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um eine ungerechte Norm respektive einen ungerechten Zustand auf legalem Weg aufzulösen (Rawls 2019, 390, 410), beispielsweise durch die Wahl entsprechender Parteien, welche das spezifische Gerechtigkeitsdefizit erkannt haben und zu beseitigen gedenken (ebd., 371). Demokratische Ordnungen sind als solche reflexiv und institutionalisieren die Möglichkeit „nach Vorschrift der gesetzgebenden Gewalt über Recht und Unrecht zu urtheilen“ (Kant SF AA VII, 25,11 f.). Zum anderen müssen die folgenden Güterabwägungen Berücksichtigung finden: Einerseits kommt einer Mehrheitsentscheidung, da sie aus einem gerechten Verfahren stammt, mittelbar ein gewisser intrinsischer Wert zu, selbst wenn sie substantiell irrt (Rawls 2019, 392 f.), andererseits argumentiert Rawls (2019, 379 f.), ähnlich zu Kant (MS AA VI, 318 f.), dass bürgerlicher Ungehorsam zu politischer Instabilität führen kann, welche von Fall zu Fall ein noch größeres Übel sein könnte, als die Existenz eines ungerechten Gesetzes in einem Teilbereich einer sonst fast gerechten Gesellschaft. Anders als bei Kant jedoch eröffnet für Rawls (2019, 410 f.) das Vorhandensein „ernsthafte[r] Gerechtigkeitsverletzungen“ (ebd., 399) unter bestimmten Rahmenbedingungen die Option für legitimen zivilen Ungehorsam; allerdings nur als ultima ratio, „nachdem andere Schritte im Rahmen der Gesetze unternommen worden sind“ (ebd., 408), die identifizierte Ungerechtigkeit zu beseitigen, diese jedoch erfolglos blieben. Auf die notwendigen Rahmenbedingungen verweist unter anderem schon Rawls’ spezifische Definition dessen, was als ziviler Ungehorsam bezeichnet werden soll. Rawls (2019, 399–405) definiert zivilen Ungehorsam als in der Öffentlichkeit vollzogenes, eindeutig illegales und gewaltfreies Handeln, das angesichts von Ungerechtigkeit einen symbolischen Appell an den Gerechtigkeitssinn der Mitbürger*innen richten möchte – Habermas (1992, 462 f.) würde ergänzen: oder auch an die Amtsträger*innen des politischen Systems –, um auf eine Veränderung der Lage hinzuwirken. Es müssen also bei einer mit einem gemeinsamen Gerechtigkeitssinn ausgestatteten Mehrheit der

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Bürger*innen oder Amtsträger*innen im politischen System gewisse kognitive Blockaden vorhanden sein, welche ein ziviler Ungehorsam fähig ist, zu lösen (Rawls 1977, 165 f. 2019, 411). Man möchte der „Mehrheit“ vor Augen führen, „daß sie von uns nicht erwarten könne[], daß wir uns dauernd mit den Bedingungen abfinden, die sie uns auferleg[t]“ (Rawls 2019, 420). Hervorzuheben ist, dass es sich um eine dezidiert gesetzeswidrige Praxis handelt, nicht also um eine „nach Vorschrift der gesetzgebenden Gewalt“ (Kant SF AA VII 25,11 f.) strukturierte Form des Protests, wie es zum Beispiel eine behördlich genehmigte Demonstration ist, aber auch nicht eine Handlung, die eine unsichere oder widersprüchliche Gesetzeslage an eine gerichtliche Bearbeitung weiterleiten soll. Zweiteres erscheint unter anderem auch deswegen relevant zu unterstreichen, da, wie Maus (1991) zeigt, Gerichte „auch wenn sie guten Willens sind“ (ebd., 146) nur vor dem Hintergrund geltenden Rechts und oftmals nur in Bezug auf Einzelfälle „reaktiv“ (ebd.) entscheiden und somit lediglich in einem begrenzten Umfang Gerechtigkeit herstellen können. Damit aber sind sie kein geeigneter Ort, um „Lernprozesse […] an der gesellschaftlichen Basis“ (ebd., 145), zum Beispiel angesichts ökologischer Herausforderungen, in neues, Ungerechtigkeiten beseitigendes oder vermeidendes Recht zu transformieren. Für Rawls (1977, 176; vgl. Habermas 1985, 84, 87) realisiert sich damit der normative Gehalt des demokratischen Rechtsstaats nicht durch seine angemessene Institutionalisierung allein. Vielmehr bedarf es, um das auf den Werten von Freiheit und Gleichheit gründende moralische Projekt demokratisch-rechtsstaatlicher Vergesellschaftung zu verwirklichen, auch einer aktiven Zivilgesellschaft, die gegebenenfalls das Instrument des zivilen Ungehorsams nutzt, um auf eklatante Gerechtigkeitsdefizite hinzuweisen. Anders als Kant (MS AA VI, 318 f.) bezieht Rawls (ebd., 421, 424) daran anschließend auch in der Hinsicht Position, dass der zivile Ungehorsam, indem er auf einen vorhandenen

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allgemeinen Gerechtigkeitssinn Bezug nimmt, für eine (fast) wohlgeordnete Gesellschaft eine stabilisierende Funktion ausübt: Er ruft ihr kulturell geteiltes moralisches Fundament in ihr öffentliches Bewusstsein und aktualisiert es damit. Mehr noch: Indem demokratisch-rechtsstaatliche Verfahren nur unvollkommen verfahrensgerecht sind, kann der zivile Ungehorsam in der Hinsicht als hilfreiches Element einer wohlgeordneten Gesellschaft identifiziert werden. Diejenigen, welche die „inoffizielle[n] Kreisl[ä]uf[e] […] nichtlegitimierte[r] Macht“ (Habermas 1992, 398) für sich zu nutzen beabsichtigen, müssen immer mit zivilen Ungehorsam durch einen wachsamen citoyen rechnen, was wiederum ihre intendierten ungerechten Handlungen ex ante unterbinden kann. Die potentiell sozialstabilisierende Funktion des bürgerschaftlichen Ungehorsams bleibt aber, das ist zu betonen, ein günstiger Nebeneffekt für Rawls (2019, 429): „Doch wenn berechtigter ziviler Ungehorsam den Bürgerfrieden zu gefährden scheint, dann trifft die Verantwortung nicht die Protestierenden, sondern diejenigen, deren Machtmißbrauch einen solchen Widerstand rechtfertigt. Denn der Einsatz des staatlichen Zwangsapparats zur Aufrechterhaltung offensichtlich ungerechter Institutionen ist selbst eine Form unberechtigter Gewalt, der sich die Menschen zu gegebener Zeit widersetzen dürfen.“ Wie auch später bei der Beschreibung des übergreifenden Konsenses ist bereits für Rawls’ Behandlung des zivilen Ungehorsams in der Theory of Justice Stabilität nur aus den „richtigen Gründen“ ein politisches Gut (vgl. Rawls 2017, 229 f., 235 f.). Primäre Funktion des zivilen Ungehorsams bleibt aber, berechtigte Ansprüche von freien und gleichen Anderen ins öffentliche Bewusstsein zu heben und so auf deren Verwirklichung hinzuwirken (Rawls 2019, 422). Er ist damit auf die Realisierung einer more perfect union (Obama) hin ausgerichtet. Was zeichnet nun „ernsthafte Gerechtigkeitsverletzungen“ aus, welche nach Rawls (2019, 399) zivilen Ungehorsam legitimieren können? Es sind massive Verletzungen des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes und des zweiten Teils

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des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes, die diesen als berechtigt ausweisen können (Rawls 2019, 409). Was dagegen den ersten Teil des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes anbelangt, so werde es über die konkreten Maßnahmen zur Verwirklichung des Differenzprinzips in Abhängigkeit von diversen „theoretischen und spekulativen Auffassungen wie auch vom Umfang statistischer und anderer Daten“ (Rawls 2019, 410) zu in gleicher Weise berechtigten unterschiedlichen Einschätzungen kommen. Dadurch ist es aber schwer möglich, bestimmte Normen, die das Differenzprinzip realisieren wollen, eindeutig als ungerecht zu identifizieren; nicht so aber beim ersten Gerechtigkeitsgrundsatz und zweiten Teil des zweiten Grundsatzes. Wenn es um die Einschränkungen der bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte auf der einen Seite und dem chancengleichen Zugang zu allen Ämtern und Positionen auf der anderen Seite geht, sind Situationen des Ausschlusses oder der Unterdrückung deutlich erkennbar. Mehr noch: Ziviler Ungehorsam gegenüber eklatanten Verletzungen dieser zwei Grundsätze respektive Teilgrundsätze begründet sich auch dadurch, dass ebenjene Verletzungen die Möglichkeit der Teilnahme am politischen Prozess für benachteiligte Gruppen und damit ihre legale Option, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, schwächen oder verunmöglichen. Sie sind insofern besonders „ernsthafte Gerechtigkeitsverletzungen“ (ebd., 399), als sie gerechte Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben einschränken bis verhindern und so immer neue substanzielle Ungerechtigkeiten aufgrund von Exklusion verursachen (Rawls 2019, 409–411; vgl. Landwehr 2015, 46 f.). Wieso nicht aber auch offensichtliche Verletzungen des ersten Teils des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes, beispielsweise unbegründete neoliberale Verteidigungen einer ungehemmten Privatisierung und Ökonomisierung von öffentlichen Bereichen wie dem Gesundheitswesen, nicht auch Bezugspunkt für legitimen Ungehorsam sein können, bleibt offen. Rawls geht vielmehr vorschnell davon aus, dass der vernünftige Pluralismus in Fragen der Umsetzung

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des Differenzprinzips grenzenlos sei. Diese Annahme dient dann, wie Braune (2017, 22) darlegt, als hauptsächliches Einfallstor für Kritik aus dem linken politischen Spektrum, die auch darauf verweisen kann, dass die Verwirklichung des demokratischen Gleichheitsversprechens selbst eng an sozioökonomische Voraussetzungen geknüpft ist (vgl. Schäfer 2015). Auch Rawls’ Prämisse der Einbettung seines Ansatzes in Rahmenbedingungen einer „fast gerechte[n] Grundstruktur der Gesellschaft“ (Rawls 2019, 388) gibt nicht zuletzt aufgrund ihrer analytischen Unschärfe und ihrer sehr eingeschränkten Übertragbarkeit auf reale Konflikte und tatsächlich bestehende gravierende Ungerechtigkeiten Anlass zur Kritik. So bezweifelt Scheuerman (2018, 53) etwa stark, dass Martin Luther King der Beschreibung des US-amerikanischen Systems als fast gerecht zugestimmt hätte. Gleiches ließe sich heute für die Black Lives Matter Bewegung behaupten, die sich im Kern gegen den strukturell tief verankerten Rassismus in der US-amerikanischen Gesellschaft wendet. Zudem erscheint aus neomarxistischer Perspektive ein bloß „bürgerlicher Ungehorsam“, welcher bestehende Verhältnisse im Großen und Ganzen als gerecht begreift, als lediglich an einer oberflächlichen Symptombehandlung interessiert, ohne grundlegend die Beschaffenheit der Institutionen zu hinterfragen, die diese Symptome produzieren. Er trage damit letztlich eine „grundsätzliche Anerkennung“ (Braune 2017, 24) bestehender Herrschaftsverhältnisse in sich, die es doch gerade zu hinterfragen gelte (ebd., 23–24). Eine weitere Kritik wird auf Grundlage der Postdemokratiediagnose formuliert, aus deren Perspektive jene Verzerrung zugunsten des Bestehenden erst recht als problematisch erscheinen muss, kommt die Diagnose der Postdemokratie doch zu dem Schluss, dass lediglich noch die Fassade einer funktionsfähigen Demokratie aufrechterhalten werde (Crouch 2004). Der Gegenstand zivilen Ungehorsams müsse daher nach dieser Lesart auf die Konstituierung eines demokratischen Moments jenseits des Bestehenden abzielen (Celikates 2010).

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Vor große Herausforderungen wird Rawls’ Ansatz indessen auch durch Globalisierungsdynamiken gestellt. Rawls’ implizite Annahme davon, dass der liberale Nationalstaat ökonomische Ungleichheiten auf befriedende Weise einhegen könne, erweist sich in deren Zuge als falsch (Scheuerman 2018, 116). Zudem verlangt das Auftreten globaler Politikprobleme, wie etwa dem Klimawandel, und einer damit einhergehenden Transnationalisierung von Politikprozessen nach neuen, überstaatlichen Rechtfertigungsansätzen für zivilen Ungehorsam. So müssen aufgrund des Fehlens einer fast-gerechten Grundstruktur und einer demokratischen Institutionalisierung Akte des zivilen Ungehorsams auf der globalen Ebene geradezu zwingend transformativ in Bezug auf die institutionelle Ordnung ausgerichtet sein. Zugleich kann die Bedingung der Ausschöpfung der regulären politischen und rechtlichen Wege nicht gelten, wenn diese nicht verfügbar sind (Scheuerman 2018, 112–115). Unter solchen Bedingungen, so deutet gar Rawls es an, ohne es weiter auszuführen, können auch militantere Aktionen und revolutionäre Formen des Widerstands gerechtfertigt sein (Rawls 2019, 404–405). Als Problem wird weiterhin angesehen, dass der Öffentlichkeit, an die sich ziviler Ungehorsam appellativ richten soll, im globalen Rahmen kaum der von Rawls vorausgesetzte geteilte Gerechtigkeitssinn unterstellt werden könne (ebd.: 115). Zugleich spricht jedoch wenig dagegen, dass sich durch deliberative Verständigungsprozesse ein Konsens bezüglich grundlegender Gerechtigkeitsfragen herstellen ließe. Transnationale Akte des zivilen Ungehorsams könnten in dieser Hinsicht gerade als Katalysatoren solcher Prozesse dienen, indem sie zur Schaffung eines globalen Problembewusstseins beitragen und öffentliche Lernprozesse initiieren. Notwendig erscheint dies vor allem im Hinblick auf den dringenden Bedarf global koordinierter und gerechter Antworten auf die erheblichen Bedrohungen des anthropogenen Klimawandels und des rapiden Rückgangs der Biodiversität. Die globale Klimagerechtigkeitsbewegung stellt paradigmatisch jenen entgrenzten Ungehor-

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sam zur Schau, der Menschen über Staatsgrenzen hinweg mobilisiert und deren gemeinsamer Appell sich nicht zwingend nur an die Administration einer verfassten Rechtsgemeinschaft, sondern an viele Regierungen zugleich und an eine gemeinsam geteilte globale Öffentlichkeit richtet. Zusätzlich werfen Waldbesetzungen oder Baustellenblockaden, die mit dem Erhalt intakter Ökosysteme gerechtfertigt werden, die weitere Frage auf, ob nicht-menschliche Entitäten wie Wälder, Flüsse und Tierarten auf eine Weise in Rechtsgemeinschaften integriert werden können, die Akte des Ungehorsams zu ihrem Schutz rechtfertigen würden. Da diese nicht durch Rawls’ Gerechtigkeitsgrundsätze abgedeckt sind, besteht die Herausforderung mit anderen Worten also in der Frage, ob die Integration der von Rawls skizzierten liberalen Rechtfertigung in eine globale und ökologische Gerechtigkeitstheorie gelingen kann. Eine erste fruchtbare Voraussetzung dafür, eine Theorie von zivilem Ungehorsam in einen weltanschaulich so diversen globalen Rahmen zu setzen, hat Rawls durch die Grundannahme eines gesellschaftlichen Pluralismus und die damit einhergehende Loslösung von den spirituell-religiösen Begründungselementen Mahatma Gandhis und Martin Luther Kings geschaffen (Scheuerman 2018, 35). Vor allem die Prämisse von Fast-Gerechtigkeit und das Ausnehmen des Differenzprinzips als einem legitimen Rechtfertigungsgrund, setzten Rawls’ Ansatz jedoch der Kritik aus, den politisch-kontestatorischen Charakter zivilen Ungehorsams gegen einen zahnlosen Reformismus einzutauschen und scheinen vor dem Hintergrund aktueller politischer Herausforderungen, insbesondere der Notwendigkeit einer globalen ökologischen Transformation, zumindest nicht mehr zeitgemäß.

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Literatur Braune, Andreas: Zur Einführung: Definitionen, Rechtfertigungen und Funktionen politischen Ungehorsams. In: Ziviler Ungehorsam: Texte von Thoreau bis Occupy. Hg. Andreas Braune. Stuttgart 2017, 9–38. Castañeda, Ernesto: The indignados of spain: A precedent to Occupy Wall Street. In: Social Movement Studies 11/3–4 (2012), 309–319. Celikates, Robin: Ziviler Ungehorsam und radikale Demokratie: Konstituierende vs. konstituierte Macht? In: Das Politische und die Politik. Hg. Thomas Bedorf/Kurt Röttgers. Berlin 2010, 274–300. Crouch, Colin: Post-democracy. Oxford 2004. Dewey, John: Die Öffentlichkeit und ihre Probleme. Bodenheim 1996 (engl. 1927). Habermas, Jürgen: Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. In: Die Neue Unübersichtlichkeit, Kleine Politische Schriften V. Frankfurt a. M. 1985, 79–99. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M. 1992. Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. In: Kants gesammelte Schriften. Hg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften. Berlin 1914, Bd. 6. Kant, Immanuel: Der Streit der Fakultäten. In: Kants gesammelte Schriften. Hg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften. Berlin 1917, Bd. 7. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. In: Kants gesammelte Schriften. Hg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften. Berlin 1969, Bd. 8. Landwehr, Claudia: Democratic meta-deliberation: Towards reflective institutional design. In: Political Studies 63/S1 (2015), 38–54. Maus, Ingeborg: Sinn und Bedeutung von Volkssouveränität in der modernen Gesellschaft. In: Kritische Justiz 24/2 (1991), 137–150. Rawls, John: Die Rechtfertigung bürgerlichen Ungehorsams. In: Gerechtigkeit als Fairneß. Hg. Otfried Höffe. Freiburg 1977, 165–191. Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 62017 (engl. 1993). Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 212019 (engl. 1971). Schäfer, Armin: Der Verlust politischer Gleichheit: Wie die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Frankfurt a. M. 2015. Scheuerman, William E: Civil disobedience Cambridge 2018.

Teil VII

Wirkung: Rezeption

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Rainer Forst Julian Frinken und Michael Roseneck

Rainer Forst (*1964) ist politischer Theoretiker und Philosoph. Er gilt als einer der zentralen Vertreter der dritten Generation der Frankfurter Schule, insbesondere in Form ihrer Aufhebung des marxistischen Paradigmas und der damit verbundenen kommunikationstheoretischen Neuausrichtung im Anschluss an die Arbeiten seiner Lehrer Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas (vgl. Forst 2015b). Forsts Biografie und Forschung sind gleichwohl nicht allein durch die Frankfurter akademische Sozialisation geprägt. Allein schon Rawls’ Bemühen, eine gerechte Grundstruktur allgemein nachvollziehbar zu begründen, bildet eine Brücke zum „Interesse“ kritischer Theoriebildung „an vernünftigen Zuständen […] der gegenwärtigen Gesellschaft“ (Horkheimer 1937, 254; vgl. Ladwig 2019, 267– 272). Neben seiner Zeit in Frankfurt verbrachte Forst ferner 1991 und 1992 auf Einladung von John Rawls einen durch gemeinsame „wertvolle, instruktive Gespräche“ (Forst 1996, 10) geprägten Forschungsaufenthalt am Department for Philosophy der Harvard-Universität.

J. Frinken (*)  Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland [email protected] M. Roseneck  Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected]

So lässt sich aus den beiden intellektuellen Traditionen, der Frankfurter und der Rawlsschen, bei Forst eine diskurstheoretisch aufgeklärte Neujustierung von Rawls’ Gerechtigkeits- und Demokratietheorie nachzeichnen, deren erster Ansatzpunkt die Auseinandersetzung zwischen Liberalismus und Kommunitarismus war.

Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus Ein vom Kommunitarismus an der Theory of Justice vorgebrachter Kritikpunkt besteht darin, dass diese von einem übermäßig individualistischen, soziokulturell „ungebundenen“ Menschenbild ausgehe, welches die lebensweltliche Erdung vermissen ließe, anhand derer sich erst Fragen der Gerechtigkeit sinnvoll beantworten ließen. Wirkliche Menschen seien nicht wie die rationalen Akteur*innen im Rawlsschen Urzustand, sondern Träger*innen von kulturellen Wertvorstellungen und sozialen Bindungen, die auch für die Deliberation von Gerechtigkeitsfragen von Bedeutung seien, diese gar überhaupt erst ermöglichen (vgl. Sandel 1984; MacIntyre 1995). Rawls (1985) wendete gegen diesen Kritikstrang ein – und in gewisser Weise gab er damit der Stoßrichtung der genannten Kritik ihre Berechtigung –, dass der Kommunitarismus von einem methodologischen ­Missverständnis ausgehe:

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_65

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Rawls’ Philosophie (vgl. Rawls 1975, 12, 20; 1998, 81–89, 132–141) adressiere einen eingegrenzten Kreis von Leser*innen, die bereits von demokratischen Werten überzeugt seien; der Freiheit und Gleichheit eines jeden Menschen einerseits und dem Wunsch nach kooperativer Vergesellschaftung zu jedermanns Vorteil andererseits. Diese Wertvorstellungen liegen nach Rawls in unterschiedlicher Weise begründet in den diversen vernünftigen umfassenden Lehren demokratischer Gesellschaften vor. Erkenntnisinteresse von Rawls’ Theoriebildung ist es, daraufhin zu konstruieren, welche gesellschaftliche Grundstruktur sich notwendigerweise aus der Anerkennung demokratischer Werte ableiten lasse. Das Gedankenexperiment des Urzustandes diene dementsprechend nicht dazu, moralpsychologische Aussagen über reale Menschen zu treffen, sondern nur als ein mögliches analytisches Hilfsmittel, anhand dessen man in Erfahrung bringen könne, wie eine gerechte Grundstruktur beschaffen sein müsse. Rawls’ Antwort auf den kommunitaristischen Einwand dient zur Klärung seiner Methodologie: So rekonstruiert er zunächst die Werte einer demokratischen politischen Kultur, um daraufhin aus einer neokantianischen Perspektive die Form einer gerechten Grundstruktur mitsamt der mit ihr korrespondierenden Bürger*nnenpflichten zu konstruieren. Forsts politische Theorie (vgl. Forst 1996, 289–306; 2007b; 2015a, 10 f.) wiederum, hier beispielsweise inspiriert durch Apel (1973), operiert zwar formal auch mit aufeinander bezogenen rekonstruktiven und neokantianisch geprägten konstruktiven Anteilen, begründet diese inhaltlich aber nicht kultur-, sondern diskurstheoretisch. Vereinfacht gesagt, existieren zwei Optionen politischer Vergesellschaftung: Zum einen eine normativ defizitäre autoritäre Form, die von traditionaler unhinterfragter Herrschaft im Weberschen Sinne bis hin zu Zwang reicht. Zum anderen die Regelung des sozialen Miteinanders über rationalisierende Verständigungsprozesse (vgl. Forst 2015c, 77 f.). Sobald sich nun Men-

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schen über die normative Ordnung verständigen, in der sie leben, müssen sie zugleich bestimmten sprachpragmatischen Regeln Folge leisten, welche Verständigung erst ermöglichen. Diese Regeln bestehen beispielsweise darin, dass sie tatsächlich das Ziel verfolgen, einander zu überzeugen beziehungsweise sich überzeugen zu lassen und dementsprechend verallgemeinerbare Gründe nennen und so weiter (für eine anschauliche und exhaustive Benennung der in und mit der Verständigungspraxis implizierten Regeln vgl. Alexy 1978, 36–51). So trivial diese Regeln auch klingen mögen, in normativer Hinsicht verfügen sie über gravierende Implikationen, denn Forst (1999, 108 f.) schließt daraus, dass die von Rawls noch als Teil einer demokratischen Kultur klassifizierten Werte von Freiheit, Gleichheit und fairer Kooperation nicht soziohistorisch kontingent, sondern logisch notwendigerweise aus dem Verständigungsprozess resultieren: Wenn sich Menschen verständigen, wird die Anerkennung als Freie und Gleiche einerseits und die kooperative Gestaltung der sozialen Beziehungen andererseits das sein, was sich begründen lässt. Dies nicht nur in Gesellschaften mit einer liberalen politischen Kultur, sondern schlichtweg global. Sprachphilosophisch ausgedrückt finden sich die demokratischen Werte bereits in sprachlichen Universalien vor und sind nicht Produkte von diachronen Prozessen (vgl. Kanngießer 2016). Daraus schließt Forst (1996) transzendentalpragmatisch abgeleitet, dass es ein einziges moralisches Prinzip gebe, von dem sich in unterschiedlichen Kontexten der Gerechtigkeit, unterschiedliche Ansprüche ableiten: das Recht auf Rechtfertigung. Das verbindet und unterscheidet Forsts Ansatz auch von der prominenten, in bewusster Abgrenzung zur Theory of Justice formulierten Gerechtigkeitstheorie Michael Walzers (1998), nach der es verschiedene Sphären der Gerechtigkeit mit unterschiedlichen Binnenlogiken der in ihnen geltenden Rechtfertigungen gebe. In der Sphäre der Politik sogenannter westlicher Staaten zum Beispiel habe sich dieser zufolge

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ein anderes Gerechtigkeitsverständnis herausgebildet als in den Wirtschaftssystemen der indigenen Völker Amazoniens. Es könne deswegen, so Walzers Standpunkt, nicht eine auf ein Prinzip zurückführbare Theorie der Gerechtigkeit geben, die universale Gültigkeit beansprucht, sondern lebensweltlich finden sich in diversen Gesellschaften vielfältige Vorstellungen von Gerechtigkeit vor. Es sei deswegen normativ wünschenswert, dass dieser Pluralismus erhalten bleibe und nicht eine Gerechtigkeitskonzeption über verschiedene Sphären hinweg dominiere. Forst hält derartigen Ansätzen jedoch entgegen, dass zwar unterschiedliche Kontexte der Gerechtigkeit existieren, in allen aber das eine moralische Menschenrecht auf Rechtfertigung Geltung beansprucht, um die Achtung des Menschen als „Zweck an sich selbst“ (Kant GMS, AA IV, 433, 28) zu gewährleisten – hier ist er ganz bei dem Kantianer Rawls (1971, 283 f.) und expliziert Walzers (1998, 441 f.) eher verdeckt bleibende Position in dieser Hinsicht. So fragt sich Rawls (1971, 285) in der Theory of Justice, wie die „Vorstellung Kants […] auf die Grundstruktur der Gesellschaft“ angewandt werden kann, um in der politischen Organisation der Gesellschaft die Selbstzwecklichkeit der Bürger*innen nicht zu verletzen. Zur Beantwortung dieser Fragestellung diene dann, wie oben angedeutet, das Gedankenexperiment des Urzustandes, dessen Zweck es ist, mit Hilfe des Schleiers des Nichtwissens, Strukturen arbiträrer Beherrschung zu umgehen (ebd., 138). Auch Forsts (1996) Recht auf Rechtfertigung zielt darauf ab, arbiträre Machtausübung über doch eigentlich autonome Subjekte zu vermeiden, jedoch präskribiert es insofern feingliedriger, als es zwischen vier für politiktheoretische Fragestellungen zu differenzierenden Kontexten unterscheidet, in denen das Recht auf Rechtfertigung Unterschiedliches verlangt. Bei diesen Kontexten handelt es sich um ethische Gemeinschaften, demokratische Öffentlichkeit, Rechtsgemeinschaft und Menschheit als Referenz für kategorische, moralische Ansprüche einer*eines jeden qua seines Menschseins.

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Kontexte der Gerechtigkeit Als ethische Gemeinschaften können vielfältige enge Bindungen zwischen Menschen als Gemeinsamen verstanden werden, zum Beispiel Familien, Freundschaftsbeziehungen, Musikbands, Glaubensgemeinschaften etc. (Forst 2001). So vielgestaltig ethische Lebensformen auch sind, sie alle charakterisieren sich dadurch, dass in ihnen Menschen, ähnlich zu Rawls’ Konzeption umfassender Lehren (vgl. Rawls 1998, 133), nach einem umfassenden Sinn suchen und ein gutes Leben verwirklichen wollen. Insofern – hier gibt Forst (1996, 349 f.) deutlich der kommunitaristischen Sozialphilosophie aber auch Rawls’ Kritik an perfektionistischen Liberalismen (vgl. Rawls 1993, 407) Recht – sind sie es, die für unsere Lebensführung und Herausbildung eines Selbst von zentraler Bedeutung sind. Während Rawls (1998, 291 f.) aber den politischen Liberalismus als weitestgehend enthaltsam gegenüber unterschiedlichen Vorstellungen des Guten und zu ihnen korrespondierenden Lebensformen positioniert, solange sie nur wie auch immer die demokratischen Werte akzeptieren, geht Forsts Philosophie in der Hinsicht weiter, dass auch in den Lebensformen das universale Recht auf Rechtfertigung Beachtung finden muss (vgl. Forst 2015c, 69–74). Zwar könne eine nachmetaphysische Philosophie nicht substantielle Fragen des guten Lebens beantworten, aber es sei durchaus opportun, dort, wo in Lebensformen ungerechtfertigte Machtstrukturen vorherrschen, Kritik zu üben, selbst wenn nicht unmittelbar Fragen der gesellschaftlichen Grundstruktur betroffen sind, zum Beispiel Kritik an einer patriarchal organisierten Familie oder an einer ihre Mitglieder in lähmende Angst versetzenden Religionsgemeinschaft. Moralische Rechtfertigungsansprüche, die sich aus der Selbstzwecklichkeit eines jeden ableiten, enden nicht an der Grenze zum Privaten. Wenn in ethischen Lebensformen die Herausbildung eines Selbst und eine gute Lebensführung realisiert werden können, kommt dem

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Rechtssystem dem Recht auf Rechtfertigung nach zum einen die Funktion zu, die „ethische[...] Selbstbefragung“ (Honneth 2011, 139) der Bürger*innen zu schützen und, soweit dies dem Medium des Rechts möglich ist, zu begünstigen. Indem es zum Beispiel einklagbare Rechte, wie dasjenige auf ein Existenzminimum oder Gewissensfreiheit zuspricht, werden institutionelle Möglichkeitsbedingungen „ethischer Selbstbefragung“ (ebd.) geschaffen. Bürger*innen den Status von Rechtsubjekten zuzusprechen bedeutet folglich, ihnen eine „Schutzhülle“ (Forst 1996, 351) zur Verfügung zu stellen, in der die autonome Entwicklung eines Selbst erfolgen kann. Zum anderen muss das Rechtssystem aber moralische Ansprüche, über die jeder Mensch als Mensch verfügt, institutionell schützen und einklagbar machen, zum Beispiel durch ein Recht auf Asyl, das allen Verfolgten unbedingt zukommt. Ein Gedankenexperiment, wie das des Rawlsschen Urzustands, kann dabei ein hilfreiches Narrativ sein (vgl. Forst 2015e, 91 f.), um in Erfahrung zu bringen, welche Rechtsnormen vonnöten sind, damit das Rechtssystem diese Funktion erfüllen kann, indem der Schleier des Nichtwissens dafür Sorge trägt, dass keine partikulare Vorstellung des guten Lebens oder andere externe Faktoren wie soziale Machtasymmetrien hegemonial Einfluss auf die Konstitution einer gerechten Grundstruktur nehmen. Gleichwohl bewertet Forst Rawls’ Urzustand respektive die in der Theory of Justice abgeleiteten Grundsätze der Gerechtigkeit als ambivalent: Zwar gelänge der Theory of Justice insofern eine Versöhnung zwischen den klassisch liberalen Freiheitsrechten auf der einen Seite und den republikanischen Freiheiten politischer Teilhabe auf der anderen, allerdings wird diese nicht hinreichend stark begründet. Für Rawls sind die Rechte auf politische Teilhabe lediglich Teil der Grundgüter, die rationale Akteur*innen im Urzustand gleichmäßig verteilen werden. Darin geht jedoch ihre Bedeutung nicht auf. Politische Teilhabe ist vielmehr eine conditio sine qua non für Gerechtigkeit überhaupt: Die Politische Theorie, so Forsts Gegenposition, könne nicht ex cathedra sagen, welche Grundgüter wie zu verteilen

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sind, sondern diese Entscheidung muss den Betroffenen selbst im Rahmen eines „herrschaftsfreien Diskurs“ überlassen werden. Dies wiederum spricht aber dem Recht auf politische Partizipation eine herausragende Bedeutung für Gerechtigkeit zu (Forst 1996, 358; 2005; 2011b, 31). Nur in deliberativen Demokratien können gerechte Strukturen existieren, da nur dort reale Menschen über die Möglichkeit verfügen, in ihrem Sinne über die Verteilung von Grundgütern zu entscheiden. Nicht die Frage der Verteilung, sondern „die Frage der Macht ist die erste und grundlegende Frage der Gerechtigkeit“ (Forst 2015c, 81). Insofern gerechte Strukturen und Verteilungen nur von den Betroffenen selbst konkretisiert werden können, bewertet Forst auch das Differenzprinzip als nicht notwendiges Element einer gerechten Grundstruktur (vgl. Forst 1996, 287). Ob eine Rechtsgemeinschaft es für erstrebenswert erachtet, nach der Gleichverteilung von Grundfreiheiten und der chancengleichen Verteilung weiterer Güter, Ungleichverteilung zuzulassen, sofern diese „auch weniger Begünstigten zugute komme[...]“ (Rawls 1975, 127), oder, ob sie sich dafür entscheidet, in Bezug auf weitere Grundgüter auch weiterhin eine Gleichverteilung anzustreben, bleibt ihren konkreten Vorstellungen überlassen. Hier muss eine Gerechtigkeitstheorie indifferent bleiben, solange diese Entscheidung im Rahmen eines fairen Verfahrens zustande kam. In der Hinsicht könnte man sagen, dass das Differenzprinzip nicht ein fixer Gerechtigkeitsgrundsatz ist, der aus einer neokantianischen Perspektive folge, sondern nur der Mindeststandard, wenn es um die Verteilung übriger Grundgüter geht. Es ließe sich also zusammenfassen, dass Forsts Gerechtigkeitskonzeption im Vergleich zu derjenigen Rawls’ deutlich prozeduralistischer angelegt ist. Dennoch ist beiden gleich, dass die Deliberation von gerechten Normen von egozentrischen Präferenzen Abstand nehmen und das beraten müsse, was allen Betroffenen gegenüber „allgemein-reziprok“ (Forst 2015a, 12) gerechtfertigt werden kann. Es müssen also allgemein akzeptierbare, vernünftige Gründe sein, die im deliberativen Austausch herausgefiltert werden.

65  Rainer Forst

Während Rawls dabei vernünftige Gründe an einigen Stellen explizit als „allgemein teilbare Gründe“ ausweist (Rawls 1998, 74; 2002, 63), wendet Forst (1996, 359) jedoch ein, dass dies eine zu anspruchsvolle, supererogatorische Bestimmung der Form vernünftiger Gründe sei. Wenn zum Beispiel eine religiöse Minderheit eine spezifische Praxis vollziehen möchte, beispielsweise die religiös motivierte Beschneidung, und dafür dann rechtliche Sonderregelungen beansprucht, so könne sie dafür nicht allgemein teilbare Gründe geben, da die Praxis genuin religiösen Ursprungs ist. Aus der richtigen Beachtung des Rechts auf Rechtfertigung muss in einem solchen Fall vielmehr beraten werden, ob – hier schließt sich Forst Thomas Scanlon (1998, 191) an – keine vernünftigen Gründe gegen die rechtliche Ermöglichung vorliegen. Nicht inhaltlich teilbare Gründe sind prinzipiell vernünftig, sondern diejenigen, die nicht mit teilbaren Gründen zurückgewiesen werden können.

Zur Begründung globaler Gerechtigkeit In der Frage, wie sich nun auf der Ebene jenseits von Nationalstaaten Prinzipien einer rechtlich, politisch und sozial gerechten Ordnung begründen ließen, grenzt Forst seine Antwort deutlich von der durch Rawls in das Das Recht der Völker formulierten Konzeption ab. Rawls bleibt im klassischen Völkerrechtsdenken verwurzelt, wenn er Staatsvölkern, als nicht substanzialistisch definierten politischen Gemeinschaften, den Status der primären Subjekte von internationaler Gerechtigkeit zuspricht. Das äußert sich begründungstheoretisch darin, dass er sein Gedankenexperiment des Urzustands auf die Ebene jenseits nationalstaatlicher Grenzen hebt, doch die sich unter dem Schleier des Nichtwissens einigenden Parteien nun nicht etwa in Vertretung aller Individuen der Erde agieren, sondern als Repräsentant*innen von Staatsvölkern auftreten (vgl. Rawls 2002, 35 f.). Der Grund für diesen normativen Vorrang des Kollektivs im globalen Rahmen geht unmittelbar

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auf die von Rawls im Zuge der obengenannten kommunitaristischen Kritik vorgenommene Nachjustierung seiner Theory of Justice als einer politischen zurück, welche diese als eine dezidiert für liberaldemokratische Gesellschaften zugeschnittene Konzeption qualifiziert. Aufgrund dieser Partikularität würde eine einfache Erweiterung der Theory of Justice über Staatsgrenzen hinaus Gefahr laufen, ethnozentristisch daherzukommen. So geht es Rawls darum, aus einer liberalen Position heraus eine Liste von universal geltenden Völkerrechtsprinzipien zu begründen (vgl. Rawls 2002, 41), die jedoch zugleich dem Vorwurf des Ethnozentrismus keine Relevanz verleihen sollen (vgl. Forst 2007c, 328). Die darin enthaltene Menschenrechtskonzeption verlangt in der Folge weder spezifisch liberale Freiheitsrechte, noch fordert sie demokratische Prinzipien (vgl. Rawls 2002, 96 f.). Ebenso wenig enthält die Liste Prinzipien globaler Verteilungsgerechtigkeit. Statt etwa einer Übertragung des Differenzprinzips der Theory of Justice auf die überstaatliche Ebene, sieht das Recht der Völker lediglich eine „Unterstützungspflicht“ vor (Rawls 2002, 141–149). Von nichtliberalen, aber zumindest „achtbaren“ Völkern sollen die Völkerrechtsprinzipien akzeptiert werden können, wenngleich sie ihnen keine Gerechtigkeitsprinzipien vorschreiben (vgl. Rawls 2002, 66 f.). In Abgrenzung zu Rawls’ internationalistischer Konzeption geht es Forst um den Entwurf einer Theorie transnationaler Gerechtigkeit, die das Individuum auch im globalen Raum als Subjekt von Gerechtigkeit begreift, was vor dem Hintergrund seiner monistischen Annahme des subjektiven Rechts auf Rechtfertigung als der einzigen und gemeinsamen Wurzel von Menschenrechten und Demokratie konsequent ist. Aus dieser Perspektive heraus diagnostiziert Forst dem Recht der Völker ein Moral-, Demokratie- und Gleichheitsdefizit (vgl. Forst 2007c, 331–335). Das Moraldefizit entstehe durch die Streichung dezidiert liberaler Rechte, die der Vermeidung von Ethnozentrismus und der Erweiterbarkeit der Völkerrechtsprinzipien auf nichtliberale, aber achtbare Staatsvölker diene.

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Diese unter die Absicht der Toleranz gestellte Zurückhaltung werde von Rawls jedoch nur inkonsequent verfolgt, indem sein vorgeblich partikularer Liberalismus in Universalismus umschlage, sobald er „Minimalbedingungen der Gerechtigkeit für nichtliberale, aber ‚anständige‘ Gesellschaften“ (Forst 2007c, 331) vorgebe und er dabei implizit von unveräußerlichen Menschenrechten moralischer Personen ausgehe. Der das Moraldefizit hervorrufende Spagat zwischen liberalem Begründungsrahmen und universalistischer Geltung scheitere an diesen Stellen notwendigerweise, zumal die Methode der Erweiterung von zuvor liberal hergeleiteten Völkerrechtsprinzipien auf nichtliberale Völker einen, von Rawls sicherlich nicht intendierten, paternalistischen Zug darstelle (ebd., 332). Schwerer noch wiegt das Problem, dass die auf der Ebene von Staatsvölkern wirksame Erweiterungsabsicht die Geltung von Rechten von der Zustimmung „achtbarer“ Völker abhängig mache und dies „normative und politisch-pragmatische Fragen unzulässig vermeng[t]“ (ebd.). Anstelle der Beachtung der Perspektiven aller Betroffener bei der Begründung und Rechtfertigung von Rechten, relativiert sich deren individueller Zugang somit am Kriterium ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit. Für Forst hingegen leiten sich diese Rechte aus dem individuell zustehenden Recht auf Rechtfertigung ab, das jeder liberalen oder kontraktualistischen Begründung vorgelagert ist. So könnten sie folglich allesamt als „gleich viel und gleich wenig ‚liberal‘“ (ebd.) bezeichnet werden (vgl. ebd., 342). Auch das Demokratiedefizit, das sich aus der Abwesenheit demokratischer Rechte von der Liste der Völkerrechtsprinzipien ergebe, lege eine Inkonsistenz in Rawls’ Argumentation offen: Wenn als Voraussetzung für die liberale Toleranz gegenüber nichtliberalen Staatsvölkern das Kriterium der Selbstbestimmung ihrer Mitglieder gelte, so könne auf die Forderung nach dem einzigen Verfahren, das diese Selbstbestimmung konstituieren könnte, also die Demokratie, nicht verzichtet werden (vgl. ebd., 333). Das Gleichheitsdefizit äußert sich schließlich in der Unzulänglichkeit der von Rawls formulierten Unterstützungspflicht. Diese fordert

J. Frinken und M. Roseneck

keine Umverteilungsgrundsätze, sondern lediglich so lange sowohl ökonomische als auch politische Hilfestellungen für „belastete Gesellschaften“, bis diese selbst wohlgeordnet sein können und „zu Mitgliedern einer Gesellschaft wohlgeordneter Völker werden“ (Rawls 2002, 137; vgl. ebd., 131–140). Diese Forderung stelle jedoch nicht ausreichend die Ungerechtigkeit der gegenwärtigen transnationalen Ordnung, die eher einen „Zusammenhang […] von Zwang und Beherrschung als von freiwilliger ‚Kooperation‘“ (Forst 2007c, 334) darstelle und insofern hinderlich für die Herstellung gerechter Strukturen sei, in Rechnung. Solche Zwangsbeziehungen könnten extern bestehen, indem transnationale Akteure, wie beispielsweise Großkonzerne, Bevölkerungsgruppen oder ganze Staaten dominieren und in ihren Ressourcen ausbeuten. Sie seien aber auch intern wirksam, etwa indem die Eliten ausgebeuteter Länder nicht selten zu den Profiteuren und damit Unterstützern solcher Unterdrückung gehörten. Die Überwindung dieser obstruktiven Beherrschungszusammenhänge, und hierin liegt die „politische Pointe“ (Forst 2007a, 355) der Position Forsts, könne nicht durch einseitige Hilfen oder abstrakt hergeleitete Grundsätze ökonomischer Umverteilung geschehen, sondern gemäß einer diskurstheoretischen Konzeption nur durch einen autonomen Prozess der Verständigung zwischen den mit dem allgemein akzeptablen und reflexiven Recht auf Rechtfertigung ausgestatteten Betroffenen. Die „erste Frage der Gerechtigkeit“ (ebd.), die mit Blick auf die Struktur der transnationalen Ordnung gestellt werden müsse, sei demnach die Frage der Macht, verstanden als die noumenale Macht (vgl. Forst 2015c), effektiv Rechtfertigungen zu fordern und unzureichende Legitimation zurückzuweisen (Forst 2015d, 220). Dies verlange wiederum methodisch nach einer empirischsozialwissenschaftlichen Perspektive, die gemeinsam mit der philosophischen Betrachtung eine „nichtreduktive Einheit bilden müsse[…]“ (Forst 2007a, 343). Zur Veranschaulichung dieses zweigleisigen Vorgehens zweckentfremdet Forst den Rawlsschen Begriff des Überlegungsgleichgewichts und konstatiert, dass das Ver-

65  Rainer Forst

fehlen dieses Gleichgewichts zu einer „Dialektik der Moral“ (Forst 2007a) führe, wenn etwa Forderungen ökonomischer Hilfestellung erhoben würden und dabei die Darstellung der Helfer*innen in einem moralisch günstigen Licht tieferliegende Strukturen der Beherrschung und Ausbeutung verdecke und letztlich nicht zum eigentlichen Quell der Ungerechtigkeit vordringen lasse (ebd., 345; 351 f.). Der Anspruch „fundamentaler transnationaler Gerechtigkeit“ (Forst, 377) bestehe schließlich darin, eine institutionelle Grundstruktur der Rechtfertigung herzustellen, welche die betroffenen Subjekte in die Position autonomer Gestalter*innen – und nicht bloß Empfänger*innen – einer gerechten Ordnung versetze (vgl. Forst 2007b, 15). Dabei müsse den „zusammenhängenden Formen interner und externer Beherrschung“ (Forst 2007d, 377 f.) Rechnung getragen werden, indem ungerechtfertigte Beherrschungsverhältnisse sowohl innerhalb einzelner Staaten als auch zwischen diesen überwunden werden (ebd.). In dieser Institutionalisierung des „Zwang[s] zum besseren Argument“ (Forst 2007a, 355) liege letztlich die Voraussetzung für die Einlösung „maximaler Gerechtigkeit“ (Forst 2007b, 15) als der Forderung nach einer vollständig diskursiv gerechtfertigten Grundstruktur (ebd.).

Toleranz und Demokratie Neben der Formulierung einer eigenen neokantianischen Gerechtigkeitstheorie, wie sie konzeptuell in der Benennung des Rechts auf Rechtfertigung und der Darstellung der Kontexte der Gerechtigkeit kulminiert, finden sich ferner in Forsts Arbeiten zum Toleranzbegriff konstruktive, zugleich kritische Bezugnahmen auf Rawls’ Demokratietheorie. Nach Forst zeichnet sich eine Toleranzbeziehung durch drei Komponenten aus: 1) Da Toleranz sich sowohl von Indifferenz als auch inhaltlicher Akzeptanz unterscheidet, ein Erdulden bezeichnet, enthält jede Toleranzbeziehung eine Ablehnungskomponente. Die*der Tolerierende lehnt beispielsweise die von ihr*ihm tolerierte Religion inhaltlich ab,

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glaubt also nicht an ihre Wahrheit. 2) Die*der Tolerierende verfügt aber zugleich über Gründe einer „höhere[n] Ordnung“ (ebd., 34), die dazu motivieren, die Existenz dessen, was sie*er doch eigentlich ablehnt, dennoch zu akzeptieren. Insofern findet sich in einer Toleranzbeziehung auch immer eine Akzeptanzkomponente. 3) Letztlich benennen diese Gründe höherer Ordnung aber auch die Schwelle, bis zu der das Abgelehnte noch zu tolerieren ist. Insofern findet sich des Weiteren eine Zurückweisungskomponente vor (vgl. Forst 2003, 30–41). Sowohl Forst als auch Rawls gehen davon aus, dass moderne, pluralistische Demokratien auf die tolerante Haltung ihrer Bürger*innen angewiesen sind. So verlangt zum Beispiel die vernünftig begründete Zuerkennung von Minderheitenrechten oder die Akzeptanz von fair zustande gekommenen Mehrheitsentscheidungen, auch wenn sie der eigenen Position widersprechen, Toleranz. Die Differenz zwischen Rawls’ und Forsts Demokratietheorie liegt gleichwohl darin, dass sie unterschiedliche Ansprüche an die Gründe höherer Ordnung formulieren. Insbesondere im Rahmen der Beschreibung des überlappenden Konsenses wird deutlich, dass Rawls’ Theorieaufbau (vgl. Rawls 1987; Rawls 1989), im Bemühen politisch zu sein, keine Qualifikation dieser Gründe vornimmt: Solange umfassende Lehren auf ihre je eigene Art und Weise zu einer toleranten Haltung führen, sind sie öffentlich vernünftig und für stabile demokratische Vergesellschaftung hinreichend. Rawls spricht diesbezüglich auch von einer Methode der Vermeidung, die seiner Theoriebildung zugrunde liegt (vgl. Rawls 1985). Forst wendet allerdings ein, es sei demokratietheoretisch defizitär, wenn eine vernünftige umfassende Lehre im Effekt nur Toleranz rechtfertigen müsse, wie auch immer sie dies inhaltlich konkret tue (vgl. Forst 2014). So könnte es der Fall sein, dass eine Lehre dies nur deswegen leiste, weil ihre Anhänger*innen beispielsweise in einer pluralistischen Gesellschaft schlichtweg nicht über die notwendigen Optionen verfügen, Gewissenszwang über Andere auszuüben. Dabei würden die Tolerieren-

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den also nur aus kontingenten gesellschaftlichen Umständen die (vorläufige) „Koexistenz“ (Forst 2003, 44) mit Anderen hinnehmen. Eine tatsächlich mit demokratischen Werten kompatible umfassende Lehre muss folglich nicht nur in Bezug auf ihre Werte öffentlich vernünftig sein, sondern auch in Bezug auf die Rechtfertigung dieser Werte (vgl. Schmidt 2008, 100). So muss sich demokratische Toleranz letztlich dadurch rechtfertigen, dass man unbedingt die Selbstzwecklichkeit von Anderen sowie eine anthropologisch konstante öffentliche Vernunft achtet, komme was da wolle. Forst spricht hier davon, dass eine demokratische Konzeption von Toleranz als „Respekt-Konzeption“ aufzufassen sei (Forst 2003, 45). Zusammengenommen zeigt sich, dass Forst, auch wenn er die neokantianische Perspektive von Rawls teilt, insofern bescheidener ist, was die Prämissen seiner Theoriebildung anbelangt, als er auf sprachpragmatische Überlegungen Apels und Habermas’ aufbaut und nicht auf umfassende kulturelle Vorannahmen. Zugleich gelingt es ihm damit, zum Beispiel in Bezug auf Fragen globaler Gerechtigkeit, deutlich anspruchsvollere Präskriptionen zu formulieren als Rawls’ Theorie.

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Jürgen Habermas

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Michael Reder

Die Auseinandersetzung(en) zwischen Rawls und Habermas John Rawls und Jürgen Habermas haben beide wie kaum andere Philosoph*innen die praktische Philosophie des 20. Jahrhunderts geprägt. Beide zielen auf die theoretische Klärung der ethischen wie politisch-philosophischen Grundlagen des Zusammenlebens in ausdifferenzierten Gesellschaften. Rawls schlägt hierzu einen Weg in der vertragstheoretischen Tradition liberaler Provenienz ein. Die Frage nach dem Politischen und seinen Institutionen beantwortet er vom Begriff der Gerechtigkeit aus. Habermas geht demgegenüber von der Tradition der Kritischen Theorie aus und fragt sowohl nach sprachphilosophischen wie gesellschaftstheoretischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Daraus entwickelt er einen diskursethischen Ansatz (vgl. im Folgenden Reder 2019). Habermas nimmt bereits in den 1980er Jahren immer wieder Bezug auf Rawls. Doch in dieser Zeit führten die beiden Philosophen noch keine systematische Auseinandersetzung. Rawls ging dabei meist nur kursorisch auf Habermas ein. In den 1990er Jahren entsteht dann eine in-

M. Reder (*)  Hochschule für Philosophie München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

tensivere Debatte. Um zu verstehen, wieso die Auseinandersetzung in dieser Zeit an Fahrt aufnimmt, ist es wichtig, sich die Werkentwicklungen der beiden vor Augen zu führen. Theoriegeschichtlich verschieben sich in dieser Zeit ihre Forschungsschwerpunkte noch einmal. Dies lässt sich besonders an den Werken Idee des politischen Liberalismus (1994) und Faktizität und Geltung (1992) ablesen. In diesen Werken wird die ethische Reflexion über Gerechtigkeit bzw. kommunikative Vernunft auf die politische und rechtliche Gestaltung von pluralen Gesellschaften ausgerichtet. Dabei spielt der Umgang mit weltanschaulichem Pluralismus oder globalen Fragen eine immer größere Bedeutung. Diese theoriegeschichtlichen Verschiebungen sind wichtig, um die Debatte zwischen Rawls und Habermas zu verstehen, die Mitte der 1990er Jahre über grundlegende Theorieimplikationen ausgetragen wurde. Dabei zeigt sich besonders der Einfluss, den Rawls auf die Philosophie von Habermas hat. Ausgangspunkt ist ein Artikel von Habermas, der 1995 unter dem englischen Titel Reconciliation Through the Public Use of Reason: Remarks on John Rawls’s Political Liberalism im Journal of Philosophy erschienen ist (deutscher Titel von 1997: Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch). In derselben Zeitschrift antwortet Rawls auf Habermas’ kritische Anmerkungen unter dem Titel Political Liberalism: Reply to  Habermas

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_66

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(1995). Der Beitrag erscheint ein Jahr später zudem in der erweiterten (englischen) Fassung des Politischen Liberalismus (1996) und im Folgejahr (1997) auf Deutsch. Neben der Diskussion über die (normativen) Grundlagen der politischen Philosophie, spielt Ende der 1990er Jahre noch ein anderes Themenfeld für beide eine wichtige Rolle: Die philosophische Reflexion transnationaler Verflechtungen und Problemlagen. In Bezug auf globale Themen nimmt in einer sozialanalytischen Perspektive bei Habermas die Überlegung zur Postnationalen Konstellation (1998) eine zentrale Bedeutung ein, in politisch-philosophischer Hinsicht die Auseinandersetzung mit Kants Überlegungen zum föderalen Staatenbund (2002). Rawls wiederum spitzt seine Überlegungen in Das Recht der Völker (englische Ausgabe 1999) zu. Die Debatte aus dem Jahr 1995 ist eine wichtige Hintergrundfolie für die Deutung der politischen Philosophien in globaler Perspektive. Zudem greift Rawls in Das Recht der Völker mit dem Kapitel Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft (2002, 165– 207) explizit auf Argumente dieser Debatte zurück. Rawls’ Tod 2002 beendet die gegenseitige theoretische Auseinandersetzung. Für Habermas’ philosophisches Denken spielt Rawls auch danach eine wichtige Rolle. In vielen (neueren) Schriften finden sich zahlreiche Referenzen – angefangen von kurzen Anmerkungen bis hin zu systematischen Auseinandersetzungen mit Rawls’ Argumenten. Zu nennen sind beispielsweise Zwischen Naturalismus und Religion (2005) und Rawls’ Politischer  Liberalismus (2012). Habermas’ Beschäftigung mit Rawls’ Philosophie kann auch als eine Fortführung der Debatte der 1990er Jahre verstanden werden. In seinen späteren Überlegungen nimmt dabei die Frage nach umfassenden Lehren im Allgemeinen bzw. der Religion im Besonderen eine wichtige Bedeutung ein. Damit ist ein Überblick über die expliziten (und impliziten) Orte der Auseinandersetzung(en) zwischen Rawls und Habermas gegeben. Vor diesem Hintergrund werden im zweiten Schritt die Themen näher in den Blick ge-

M. Reder

nommen, um vor allem die verschiedenen Formen des Einflusses von Rawls auf Habermas und die (politische) Philosophie insgesamt rekonstruieren zu können.

Themen der Auseinandersetzung und Einflusslinien Rawls hat in vielfacher Weise die Theoriebildung der praktischen Philosophie durch seine Themensetzungen und Argumente beeinflusst und geprägt, so auch die von Habermas. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass Rawls und Habermas mit ihren Paradigmen bei allen Differenzen eine große argumentative Nähe aufweisen, die auch in ihrem ähnlichen Philosophieverständnis begründet ist. In der Auseinandersetzung von 1995 betont Habermas die vielen Gemeinsamkeiten mit Rawls, und dass sich seine (kritischen) Anmerkungen lediglich „in den engen Grenzen eines Familienstreits“ (Habermas 1997, 170) bewegen. Zur Beurteilung der Einflusslinien zwischen Rawls und Habermas ist eine grundsätzliche Überlegung wichtig. Wenn man die Werke beider Autoren vergleicht, fällt auf, dass Habermas’ Denken im Laufe seines Schaffens eine stärkere theoretische Veränderung vollzogen hat. Habermas’ Philosophie hat ihren Ausgangspunkt bei den Ursprüngen der Kritischen Theorie, vor allem bei Adorno, Horkheimer und deren Rezeption von Autoren wie Hegel und Marx. In seinen frühen Schriften spiegelt sich ein stark kapitalismuskritischer Zug wider. Jedoch betont Habermas schon Ende der 1970er Jahre, dass er – entgegen den Gründungsfiguren der Kritischen Theorie – einen positiven Fluchtpunkt für das philosophische Denken anbieten will. Philosophie soll nicht bei der Kritik moderner Gesellschaften verharren, auch wenn diese ein wichtiges Element ist – und in seinen philosophischen Arbeiten bis heute bleibt. Die Theorie des kommunikativen Handelns und der diskursethische Grundsatz sind der positive Fluchtpunkt, den Habermas seit den späten 1970er Jahren in unterschiedlichen Präzisierungen entwickelt. Dabei wird immer deutlicher, dass er – je weiter

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diese Entwicklung fortschreitet – die hegelschen und marxschen Grundannahmen hinter sich lässt und stärker eine dialogisch gewendete Moralphilosophie kantischer Provenienz verfolgt. Mit Blick auf Rawls hebt Habermas schon früh gemeinsame Referenzen auf eben diese kantische Tradition hervor, betont aber die intersubjektive Wendung seiner Theorie. Diese zeigt sich für ihn insbesondere bei der Rechtfertigung von Normen. „Rawls operationalisiert, wie Kant, den Standpunkt der Unparteilichkeit so, dass jeder Einzelne den Versuch der Rechtfertigung von Grundnormen für sich allein unternehmen kann“ (Habermas 1983, 76). Deswegen deutet er dessen Philosophie auch tendenziell als monologisch. Demgegenüber interpretiert er seinen eigenen Ansatz als eine dialogisch ausgerichtete Konzeption. Der in Habermas’ Schaffen immer größer werdende Bezug auf die Kantische Philosophie ist (zumindest indirekt) auch der Bedeutung von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit geschuldet. Seit ihrer Veröffentlichung ist sie schnell zu einem – vielleicht sogar dem – zentralen Referenzpunkt für die praktische und vor allem politische Philosophie geworden. Auch wenn Habermas in den 1970er und 80er Jahren nur selten und meist indirekt auf die Theorie der Gerechtigkeit Bezug nimmt, so trug sie dennoch zur kantischen Wendung seines philosophischen Denkens bei. Denn Rawls’ Philosophie gilt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als das Beispiel für eine kantisch geprägte Moral- und politische Philosophie. Natürlich ist Rawls mit dieser Akzentuierung selbst Kind seiner Zeit; einer Zeit, in der sich auch aus politischen Gründen die Philosophien von Hegel und Marx immer geringerer Beliebtheit erfreuten. Der indirekte Einfluss von Rawls auf das Werk von Habermas zeigt sich sicherlich am stärksten in dessen Schrift Faktizität und  Geltung (1992). Habermas vollzieht hier den bereits skizzierten Entwicklungsschritt, der stark an die Arbeiten von Rawls erinnert. Dabei verbindet er wie Rawls die ethischen bzw. moralphilosophischen Überlegungen mit konkreten politisch-philosophischen Reflexionen zu den Institutionen liberaler Demokratien. Auch

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wenn er selbst immer wieder betont, dass er (im Gegensatz zu Rawls) keine substanzielle Konzeption der Gerechtigkeit heranziehen will, so arbeitet er sich indirekt an Rawls’ Überlegungen zum Liberalismus ab. Es scheint so, als wolle Habermas mit dem Werk eine ‚europäische Antwort‘ auf die Theorie des Liberalismus von Rawls liefern, welche die spezifischen Eigenheiten der Diskursethik und der kommunikativen Vernunft in den rawlsschen Theorierahmen zu übersetzen versucht. Die Debatte von 1995 schließt direkt an diese internen Verschiebungen in Habermas’ Werk an. Habermas betont nicht nur die Familienähnlichkeiten, sondern auch drei wichtige Unterschiede, die sich an zentralen Begriffen bzw. Argumenten von Rawls festmachen lassen, und zwar dem Design des Urzustandes, dem epistemischen Status der Gerechtigkeit und dem Verhältnis von privater zu öffentlicher Autonomie. Um die Einflusslinien zwischen Rawls und Habermas zu verstehen, hilft ein genauerer Blick auf diese drei Themen bzw. Abgrenzungen (Reder 2019). Bei aller Sympathie für die Theorie des Liberalismus hält Habermas insbesondere den Urzustand als Argumentationsfigur für ungeeignet, um die Institutionen liberaler Demokratien normativ zu begründen. Nach seiner Einschätzung überstrapaziert Rawls dieses Begründungsnarrativ, insofern er die Parteien einerseits hinter den Schleier des Nichtwissens versetzt und ihnen damit alle notwendigen Informationen über die Kontexte von Güterverteilungen vorenthält; der Schleier des Nichtwissens soll ein unparteiliches Urteil jenseits aller partikularen Interessen sichern. Andererseits darf sich dieser Schleier „aber nur auf solche normativen Gehalte erstrecken, die von vornherein als Kandidaten für das von freien und gleichen Bürgern zu akzeptierende gemeinsame Gute ausscheiden dürfen“ (Habermas 1997, 179). Habermas sieht darin eine Überforderung der theoretischen Argumentationsfigur, da sie scheinbar Unparteilichkeit sichert, aber gleichzeitig implizit doch alle möglichen praktischen Probleme des politischen Alltags vorwegzunehmen scheint. Die Loslösung des Urzustandes von der sozialen Wirklichkeit

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bringt nach Habermas deshalb für den Philosophen mehr Probleme als Möglichkeiten mit sich, denn „auf den Theoretiker selbst fällt die Last der Informationsverarbeitung zurück, die er den Parteien im Urzustand abnimmt!“ (ebd.). Habermas nutzt also hier die Auseinandersetzung mit bzw. die Absetzung vom Theorem des Urzustands zur Schärfung seines eigenen Begründungsnarrativs, und zwar des diskursethischen Prinzips. An der Frage des epistemischen Status der Gerechtigkeit zeigt sich ebenfalls, wie Habermas die Theorie von Rawls zu Grunde legt, um seine eigene diskursethische Position zu klären und sich damit auch in liberaler Theoriebildung einzubringen. Habermas sieht das Problem darin, dass Rawls einerseits eine funktionale Deutung der Gerechtigkeit ausschließt, sich andererseits aber wehrt, ihren epistemischen Status anzuerkennen. Gerechtigkeit ist mehr als eine formal anwendbare Funktion liberaler Gesellschaften und trotzdem kann sie nicht in einem epistemischen Sinne als wahr ausgewiesen werden. Aus Sicht des Diskursethikers problematisiert Habermas Rawls’ Ablehnung der Wahrheitsfähigkeit. Er hält es insbesondere für unplausibel, dass der späte Rawls den umfassenden Lehren die Möglichkeit zugesteht, als wahr qualifiziert zu werden, er den Liberalismus aber nur als eine freistehende politische Theorie ohne einen solchen Wahrheitsanspruch interpretiert. Die von Habermas vorgetragenen Einwände laufen auf das Argument hinaus, dass Rawls aus der Perspektive der Diskursethik letztlich Geltungs- und Akzeptanzfragen vermische und von daher sowohl die politische Dimension des Liberalismus als auch den epistemischen Charakter umfassender Lehren zu stark betone. Mit der Diskurstheorie ist es nach Habermas allerdings sehr wohl möglich, normative Geltungsansprüche (wie den der Gerechtigkeit) epistemisch als wahr auszuweisen und damit Objektivitätsansprüche geltend zu machen. Das dritte Diskussionsfeld, das Habermas in der Debatte vor dem Hintergrund von Faktizität und Geltung aufmacht, stößt an die Grundfragen des Liberalismus: Es geht um das Verhältnis von

M. Reder

privater und öffentlicher Autonomie. Private Autonomie meint die Freiheit von Einzelnen, individuell zu handeln; bei der öffentlichen Autonomie geht es um die gemeinsame Gestaltung gesellschaftlicher Angelegenheiten. In Faktizität und  Geltung hatte Habermas bereits für eine Gleichursprünglichkeit von beiden plädiert. Habermas kritisiert an Rawls, dass dieser eben diese Gleichursprünglichkeit zugunsten einer Überbetonung privater Autonomie aufhebe, indem er „die liberalen Grundrechte dem demokratischen Legitimationsprinzip überordnet“ (ebd., 171). An diesem Beispiel zeigt sich wiederum eine indirekte Einflusslinie zwischen beiden: Habermas übernimmt einerseits die liberale Position von Rawls, indem er dessen Grundannahme des methodischen Individualismus und die Betonung von Freiheit teilt. Andererseits wird deutlich, dass Habermas die liberale und deliberative Theorie deutlich unterschieden wissen will. Private Freiheit ist der soziopolitischen Dimension niemals vorgeordnet, sondern eben gleichursprünglich. Auch in dieser Hinsicht nutzt Habermas die Theorie von Rawls zu einer Präzisierung seiner eigenen Position. Habermas versteht seine eigene politische Philosophie mehr als eine rekonstruierende und weniger als eine normativ begründende. Seiner Ansicht nach darf der Rekonstruktion demokratischer Institutionen keine abstrakte theoretische Gedankenfigur zur Begründung ihrer normativen Leilinien vorgeordnet werden, weil damit der „radikaldemokratische Glutkern“ (ebd., 191) des realen gesellschaftlichen Lebens zu erloschen gehen droht. Die skizzierten Aspekte der Auseinandersetzung machen deutlich, dass Rawls in vielfacher Weise Einfluss auf das Denken von Habermas genommen hat. Seine Arbeiten zum Liberalismus waren sicherlich wichtige Impulse, die auch dazu geführt haben, dass Habermas ab den späten 1980er Jahren intensiver über die Institutionen liberaler Demokratien nachgedacht hat. Sowohl in Faktizität und Geltung als auch in der Debatte von 1995 macht Habermas jedoch auch die Differenzen explizit.

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Rawls und Habermas als Schlüsselfiguren der praktischen Philosophie der Gegenwart Die expliziten wie impliziten Debatten zwischen Rawls und Habermas fungieren teils bis heute als Weichenstellung für viele philosophische Diskussionen. Die Fragen, ob liberale Theorien einen epistemischen oder politischen Charakter aufweisen oder ob private und öffentliche Autonomie gleichursprünglich sind, wurden zu Grenzsteinen, die bis heute in der Diskurslandschaft markieren, wo Philosoph*innen stehen. Beide Theorien, so fasst Jørgen Pedersen (2012) zusammen, repräsentieren seither zwei unterschiedliche Konzeptionen der politischen Legitimität und metaethischen Grundlegung demokratischer Institutionen. Dabei hat Habermas auch nach dem Tod von Rawls vielfach auf ihn Bezug genommen und damit diese Zuordnung der beiden Theorien als Heuristik für die politische Philosophie verstärkt. Viele kontinentaleuropäische Debatten, die vor den 1980er Jahren vielleicht noch stärker auf die Kritische Theorie ausgerichtet waren (und heute vermutlich wieder sind), wurden seither vor dem Hintergrund der Zuordnung der beiden Großtheorien geführt (Flynn/Freyenhagen 2011; Hedrick 2010). Dies zeigt sich an ganz unterschiedlichen Diskursen: Zu nennen ist als ein Beispiel die Debatte über das Verhältnis von prozeduraler und substanzieller Theorie der Gerechtigkeit (Forst 1999). So argumentiert beispielsweise Pablo Gilabert (2005), dass die Diskursethik nicht als ein reiner Formalismus gedeutet werden kann, sondern in einem Verständnis von kommunikativer Vernünftigkeit sehr wohl materielle Aspekte eines Gerechtigkeitsbegriffes impliziere (Lafont 2003). Hinter all diesen Beiträgen steht die grundlegende Frage nach der Konzeption von Normativität, die den beiden Ansätzen zu Grunde liegt. Hier zeigt sich trotz der Familienähnlichkeit der beiden Theorien doch ein erheblicher Unterschied. Denn während Habermas für einen moralischen Kognitivismus argumentiert und damit moralischen Urteilen zumindest einen möglichen

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Objektivitätsanspruch zugesteht (Habermas 1983, 53–125), favorisiert (der späte) Rawls eine konstruktivistische Konzeption von Normativität (Rawls 1994, 80–158). Abschließend seien noch zwei weitere Themenfelder genannt, die den Einfluss von Rawls auf die praktische Philosophie im Allgemeinen und die Philosophie von Habermas im Besonderen zeigen, und zwar die Diskussionen um die ethische und politisch-philosophische Dimension globaler Zusammenhänge und die politische Bedeutung der Religion. Hinsichtlich beider Themenfelder zeigt sich abermals deutlich, dass Rawls als eine Schlüsselfigur (und teilweise auch als eine Projektionsfolie) für die philosophische Debatte fungiert. Seine Positionen dienen als Bezugspunkt, Referenzrahmen oder Abgrenzungsfolie – auch für Habermas. In Rawls’ Erwiderung (Rawls 1997) zeigt sich bereits, dass er den politischen Liberalismus letztlich eng an eine nationalstaatlich verfasste Gemeinschaft bindet, auch wenn er dies in seiner Erwiderung auf Habermas nicht expliziert. Denn seine Verteidigung impliziert, dass die Begründung des überlappenden Konsens nicht über die jeweilige Gesellschaft hinaus ausgedehnt werden kann und sich deswegen die Frage nach globaler Kooperation anders stellt als in nationalstaatlich verfassten Gesellschaften. Sie ist weder eine Frage des Urzustandes noch des überlappenden Konsens, sondern eine der Kooperation zwischen Staaten. Die Überlegungen, die Rawls in Das Recht der Völker anstellt (Rawls 2002), sind die konsequente Weiterführung dieser Deutung des Liberalismus und sie spiegeln auch ein politisches Bild wider, das stärker an dem nationalstaatlich orientierten Modell des westfälischen Friedens orientiert ist als an den komplexen und dynamischen globalen Problemkonstellationen des 21. Jahrhunderts. Habermas möchte aber genau diese Dynamiken einer postnationalen Konstellation philosophisch rekonstruieren. Rawls ist auch in diesem Zusammenhang eine (zumindest indirekte) Abgrenzungsfolie. Bereits 1995 macht er auf ein grundlegendes argumentatives Problem

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aufmerksam, das bei der Diskussion globaler Problemlagen an Bedeutung gewinnt (Flynn 2011). „In his debate with Rawls, Habermas showed why a functional account of an overlapping consensus cannot replace a normative and procedural account of democratic legitimacy. This limitation is especially manifest in Rawls’s Law of Peoples.“ (Bohman 2011, 280) In der Fokussierung auf den prozeduralen Aspekt der Diskursethik ist die Ausgangslage für Habermas argumentativ eine andere als für Rawls, was sich exemplarisch an den Deutungen der Menschenrechte ablesen lässt. Auch hinsichtlich der Debatte um die soziale und politische Rolle von Religion in säkularen Gesellschaften lässt sich der Einfluss von Rawls auf die Gesamtdebatte und damit auch seine ordnungsstiftende Funktion ablesen. Habermas hat nicht zuletzt deshalb seine Überlegungen zur postsäkularen Gesellschaft immer wieder in Auseinandersetzung mit Rawls entwickelt und geschärft (Habermas 2005). Während Habermas umfassenden Lehren (und er denkt dabei vor allem an metaphysische und religiöse Lehren) keinen Wahrheitsanspruch zugesteht, um die öffentliche Vernunft davor zu bewahren, „ins Schwärmen“ (Habermas 2005, 252) zu geraten, gesteht Rawls – wie gesehen – den Lehren diese Wahrheitsfähigkeit zu. Dabei betont der späte Rawls allerdings, dass diese Frage für den Liberalismus letztlich unerheblich sei, weil dieser den überlappenden Konsens als Ausdruck der Vernünftigkeit betone und sich damit als eine genuin politische Theorie erweise. Habermas betont demgegenüber die Bedeutung der umfassenden Lehren für das politische Gemeinwesen und plädiert für eine Integration ihrer semantischen Gehalte. Für dieses Vorgehen findet sich in dieser Reichweite bei Rawls keine Parallele. Allerdings beharrt Habermas auf dem Übersetzungsvorbehalt und tendiert deshalb, wohl stärker als Rawls, zu einem Ausschluss religiöser Äußerungen aus dem formalen politischen Diskurs. Im politischen Diskurs fokussieren beide (trotz aller Unterschiede) auf ein liberal-säkulares Sprachspiel als Grundlage

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für die Deliberation in weltanschaulich-pluralen Gesellschaften über die (politischen) Grundsätze des Zusammenlebens. Auch im Zusammenhang dieser Debatten zeigt sich damit der Einfluss von Rawls Philosophie auf Habermas. Als paradigmatischer Vertreter einer kantisch geprägten liberalen Theorie fokussiert Rawls auf die traditionellen Theorieelemente der politischen Philosophie, die da sind: Freiheit, Neutralität des Staates, Betonung des Rechts, Fokus auf den Staat als Garant eben dieser Rechte. Habermas ist einerseits von Rawls beeinflusst, weil er sich immer stärker auch der Reflexion dieser Elemente zuwendet. Andererseits dient ihm Rawls als Abgrenzung zwischen materialer und prozeduraler bzw. zwischen liberaler und diskurstheoretischer Theorie. Rawls hat, und dies zeigt sich an Habermas ganz besonders, eine ordnungsstiftende Funktion für die praktische Philosophie insgesamt. Die expliziten Debatten zwischen den beiden Philosophen zeigen dies deutlich. Sie dienen bis heute als eine wichtige Heuristik, anhand derer sich praktische Philosoph*innen verorten. Ob sie dabei immer den Feinheiten der beiden Theorien gerecht werden, steht auf einem anderen Blatt.

Literatur Bohman, Jim: Beyond overlapping consensus: Rawls and Habermas on the limits of cosmopolitanism. In: James Gordon Finlayson/Fabian Freyenhagen (Hg.): Habermas and Rawls: disputing the political. New York 2011, 265–280. Finlayson, James Gordon/Freyenhagen, Fabian (Hg.): Habermas and Rawls: disputing the political. New York 2011. Flynn, Jeffrey: Two models of human rights: extending the Rawls-Habermas debate. In: James Gordon Finlayson/ Fabian Freyenhagen (Hg.): Habermas and Rawls: disputing the political. New York 2011, 247–265. Forst, Rainer: Die Rechtfertigung der Gerechtigkeit. Rawls Politischer Liberalismus und Habermas’ Diskurstheorie in der Diskussion. In: Hauke Brunkhorst/ Peter Niesen (Hg.): Das Recht der Republik. Frankfurt/M. 1999, 105–168. Gilabert, Pablo: The substantive dimension of deliberative practical rationality. In: Philosophy and Social Criticism 31/2 (2005), 185–210.

66  Jürgen Habermas Habermas, Jürgen: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt/M. 1983. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt/M. 1992. Habermas, Jürgen: Reconciliation through the public use of reason: remarks on John Rawls’s political liberalism. In: Journal of Philosophy 92/3 (1995), 109–131 (deutsch: Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch. In: Philosophische Gesellschaft Bad Homburg/Wilfried Hinsch (Hg.): Zur Idee des politischen Liberalismus. Frankfurt/M. 1997, 169–195). Habermas, Jürgen: Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt/M. 1998. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt/M. 2005. Habermas, Jürgen: Rawls’ Politischer Liberalismus. In: Jürgen Habermas (Hg.): Nachmetaphysisches Denken II. Frankfurt/M. 2012, 277–307. Hedrick, Todd: Rawls and Habermas: Reason, pluralism, and the claims of political philosophy. Stanford 2010.

479 Lafont, Cristina: Procedural justice? implications of the Rawls-Habermas debate for discourse ethics. In: Philosophy and Social Criticism 29/2 (2003), 163–181. Pedersen, Jørgen: Justification and application: the revival of the Rawls-Habermas debate. In: Philosophy of the Social Sciences 42/3 (2012), 399–432. Rawls, John: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Hg. Wilfried Hinsch. Frankfurt/M. 1994. Rawls, John: Political liberalism: reply to Habermas. In: Journal of Philosophy 23/3 (1995), 132–180; reprinted in: Political Liberalism. New York 1996 (deutsch: Erwiderung auf Habermas. In: Philosophische Gesellschaft Bad Homburg/Wilfried Hinsch (Hg.): Zur Idee des politischen Liberalismus. Frankfurt/Main 1997, 196–262). Rawls, John: Das Recht der Völker. Berlin 2002 (engl. 1999). Reder, Michael: Political liberalism: reply to Habermas. In: Henning Hahn/Reza Mosayebi (Hg.): Klassiker Auslegen: John Rawls Das Recht der Völker. Berlin 2019, 197–2012.

Martha Nussbaum

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Johannes J. Frühbauer

Martha Craven Nussbaum (*1947) ist eine USamerikanische Philosophin. Sie war zuletzt Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Zuvor war sie über Jahrzehnte hinweg durch Lehrtätigkeiten an verschiedenen Universitäten engagiert. Vor allem an der Harvard-Universität hatte sie noch während ihrer Studienzeit engen Austausch mit John Rawls. Ihr Studium absolvierte sie am Wellesley College sowie an der New York University mit den Fächern klassische Philologie und Theaterwissenschaften. Eine Ausbildung als Schauspielerin brach sie nach einem Jahr ab. Sie promovierte 1975 in klassischer Philologie mit einer Arbeit über Aristoteles. Von 1987–1993 war Nussbaum Mitarbeiterin am World Institute for Development Economics Research (WIDER). Im Bereich der Entwicklungspolitik hat sie intensiv mit dem Philosophen und Ökonomen Amartya Sen (*1933) zusammengearbeitet und mit ihm den sogenannten Fähigkeitenansatz („capability approach“) entwickelt. 2004 gründete sie die „Human Development and Capability Association“. Aufgrund ihrer aristotelischen Bezüge in ihrer Ethik wird sie gerne als Neoaristotelikerin bezeichnet. Nussbaums Arbeiten zur Ethik und politischen

J. J. Frühbauer (*)  Katholische Stiftungshochschule München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

Theorie zeichnen sich aus durch ein theoretisches Interesse für globale Fragen der Gerechtigkeit und Gleichheit, mit dem ein Gutteil der praktischen Philosophie jüngeren Datums der zunehmend staatenübergreifenden Tragweite ökonomischer, ökologischer und politischer Probleme Rechnung trägt. Nussbaum hat sich als Wissenschaftlerin an der United Nations University „intensiv mit der Ausarbeitung einer Ethik der Entwicklungspolitik beschäftigt, die sich einerseits als sensibel gegenüber den partikularen Besonderheiten von Lebenskontexten und unterschiedlichen Traditionen erweist, ohne auf der anderen Seite im Befürworten eines kruden Relativismus die kritische Funktion normativer Theorieentwürfe zu verspielen“; ihre „Überlegungen zur Ethik sind über die konkreten Anwendungsbedingungen hinaus von Interesse, da sie sich auch zu grundsätzlicheren Fragen ethischer Theoriebildung äußert und eine Reihe prominenter moralphilosophischer Positionen einer radikalen Kritik unterzieht“ (PauerStuder 1999, 7).

Universaler Topos: Der bedürftige Mensch Im Zentrum der sozialphilosophischen Reflexion Nussbaums steht der Topos des ‚bedürftigen Menschen’, ein Topos, der in der Neuzeit bereits von Marx konfiguriert wurde und der bei Nuss-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_67

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baum nun seine Universalisierung erfährt (vgl. Marx 1973, 544). Denn ihre wesentliche Erkenntnis lautet: Die Grundbedürfnisse von Menschen decken sich! Von Bedeutung ist nun nicht allein diese Aussage für sich genommen, sondern auch Nussbaums Argumentation „gegen den Relativismus und für die These, dass die Menschen über kulturelle Unterschiede, divergierende Traditionen und nationale Grenzen hinweg gleiche moralische Berücksichtigung verdienen“ (Pauer-Studer 1997, 12). In ihrer Grundlagenreflexion auf universale Bedürfnisse des Menschen kommt es Nussbaum daher darauf an, den Unterschied zwischen menschlichen Eigenschaften herauszufinden, die für das Leben von Menschen unverzichtbar sind und somit Universalität beanspruchen, und jenen Merkmalen, die Differenz und Alterität zum Ausdruck bringen können und sollen. Kurzum: Nussbaum geht es um das Wesentliche für das menschliche Leben, ihr Fragen gilt der Essenz und Substanz des Menschseins, um daraus universale Bedürfnisse des Menschen ableiten zu können (vgl. Reese-Schäfer 1994, 108). Mit ihrer Konzentration auf das Essentielle bzw. die Substanz des Menschseins findet sich Nussbaum in einer Kontroverse wieder, die sich am Begriff des Essentialismus entzündet hat. Ihre Reflexion auf basale Bedürfnisse des Menschen lässt sich im Kontext des gerechtigkeitstheoretischen Denkens ansiedeln. Nussbaum nimmt jedoch durch ihre methodologische Akzentsetzung eine Sonderstellung unter den gegenwärtigen philosophischen Abhandlungen zur internationaler Verteilungsgerechtigkeit sowie zur Entwicklungspolitik ein: Denn im Gegensatz zum Mainstream politisch-ethischer Gerechtigkeitsreflexionen, die in der Traditionslinie von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit eine kantisch ausgerichtete Theoriebildung favorisieren, greift Nussbaum zurück auf die antike politische Philosophie – mit Aristoteles im Zentrum: Auf diesem Fundament ihres ethischen Denkens skizziert sie die politischen und moralischen Grundlagen, welche allen Menschen ein gedeihliches Leben ermöglichen sollen (vgl. Pauer-Studer 1999, 7). Die Orientierung an Aristoteles bildet das theoretische Verbindungs-

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glied der verschiedenen Themenschwerpunkte in Nussbaums praktischer und politischer Philosophie einschließlich der Berührungspunkte zu aktuellen Diskursen um Universalismus und Partikularismus, Postmoderne oder Feminismus. In ihrer aristotelischen Ausrichtung nimmt vor allem ein Begriff eine zentrale Stellung ein: die menschliche Natur. „Mit Aristoteles teilt Nussbaum die Überzeugung, dass eine Reflexion über die Natur des Menschen in der Beantwortung dessen, wie wir leben sollen eine bedeutsame Rolle spielt und nicht zu übergehen ist. Die menschliche Natur liefert nach Nussbaum eine Grundlage der Ethik“ (Pauer-Studer 1999, 9). Doch warum stellt sich der Rekurs auf Aristoteles und die antike Ethik überhaupt als eine für Nussbaum unverzichtbare Ausgangsbasis dar? Gerade die antike Ethik „sichere mit der Konzentration auf die Sokratischen Fragen der angemessenen Lebensführung und der Gesamtheit eines guten Lebens eine strukturelle Einbettung ethischen Räsonierens in die breite Problematik der spezifischen Bedingungen unseres Menschseins und unseres Selbstverständnisses, während diese inhaltliche Rückbindung der Ethik an den konkreten Lebenskontext konkreter Menschen in den auf formale Verfahrensregeln reduzierten deontologischen Ansätzen aus dem Blick gerate“ (vgl. ebd., 7). Kurzum: Nussbaums materialethisch ausgerichteter Ansatz lässt sich lesen als Kontrastprogramm zu zeitgenössischen formal ansetzenden Verfahrensethiken von John Rawls oder Jürgen Habermas. Ihre advokatorische Position gegenüber dem bedürftigen Menschen ist einer der zentralen Ausgangspunkte für ihre Rawls-Kritik.

Drei Probleme der sozialen Gerechtigkeit Trotz Nussbaums Annäherungen an Rawls und vereinzelte Weiterführungen von seinen Ansätzen und sogar Übernahme seiner Begrifflichkeiten (vgl. Nussbaum 2010a, 20), gibt es unverkennbar Reibungspunkte mit dessen Theorie. Dies lässt sich zunächst durch ihre unterschiedlichen Referenzpunkte erklären: Die Orientie-

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rung an Kant bei Rawls bedingt eine formalethische Ausrichtung, Aristoteles bei Nussbaum bringt eine materialethische Prägung mit sich. Ein zentraler Kritikpunkt bei Nussbaum ist das kontraktualistische Paradigma. Wenngleich Nussbaum zwar anerkennt, dass Rawls’ vertragstheoretischer Ansatz der überzeugendste unter selbigen sei, erachtet Nussbaum den Kontraktualismus insgesamt als ungeeignet, um bestimmte gerechtigkeitsrelevante Probleme zu lösen. Nussbaum benennt drei aus ihrer Sicht ungelöste Probleme der sozialen Gerechtigkeit: Das erste Problem der sozialen Gerechtigkeit offenbare sich gegenüber Menschen mit körperlicher und geistiger Beeinträchtigung und Behinderungen. Zwar spreche niemand mehr diesen Menschen heute ab, zur Gesellschaft zu gehören, dennoch seien sie noch immer nicht als Bürger*innen anerkannt, für die das Prinzip staatsbürgerlicher Gleichheit gelte (vgl. Nussbaum 2010a, 14). Um dieses Problem zu lösen, bedarf es einer Konzeption der Kooperation, die sich jenseits einer primären Ausrichtung auf gegenseitige Vorteile befinde und eine neue Wertschätzung der Fürsorge als soziales Grundgut formuliere (vgl. ebd., 14). Nussbaum kritisiert in diesem Zusammenhang überdies, dass Menschen mit „starken oder atypischen körperlichen Beeinträchtigungen […] in keiner Variante des Gesellschaftsvertrages zur Gruppe derjenigen gezählt [werden], die die grundlegenden politischen Prinzipien festlegen“ (Nussbaum 2010a, 33). Das zweite dringende Problem betrifft die globale Ausweitung der Gerechtigkeit auf alle Bürger*innen. Gerechtigkeitsethische Herausforderungen ergeben sich sowohl mit Blick auf den Einfluss des zufälligen Geburtsortes auf die individuellen Lebenschancen als auch durch die Ungleichheiten zwischen reichen und armen Nationen (vgl. ebd., 38). Die Kontingenzen der Geburt und Herkunft dürfen die Lebenschancen der Menschen nicht von vorneherein beeinträchtigen (vgl. ebd., 15). Das dritte Problem besteht in jenen Gerechtigkeitsfragen, die sich im Umgang des Menschen mit nicht-menschlichen Tieren ergeben. Die ethische Frage der Würde sowie der Leidvermeidung von Tieren finde zu selten Eingang

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in Überlegungen der sozialen Gerechtigkeit. Zu überdenken seien die Konzeption der sozialen Kooperation und der Reziprozität, die bei allen beteiligten Entscheidungs- und Verhandlungsakteur*innen Rationalität voraussetzen; hier bedürfe es neuer Ansätze auf der Grundlage anderer Kooperationsvoraussetzungen und -merkmale (vgl. ebd., 15 f.). Nussbaums „Überlegungen gründen in der festen Überzeugung, daß es sich bei den drei genannten Problemen tatsächlich um gewichtige und bisher ungelöste Fragen der Gerechtigkeit handelt und daß selbst die überzeugendste Theorie in der Tradition des Gesellschaftsvertrags an ihnen scheitern muss“ (ebd., 16). Ihre Intention ist darauf ausgerichtet aufzuzeigen, dass die von ihr entwickelte Version des Fähigkeitenansatzes (capability approach) in den drei genannten Problemfeldern „zu wertvollen Einsichten führt, die den Lösungsansätzen aus der Tradition des Gesellschaftsvertrags überlegen sind“ (Nussbaum 2010a, 19). Bemerkenswerterweise bekundet Nussbaum selbst, dass sie in ihren Darlegungen die Frage, ob der Fähigkeitenansatz der Rawlsschen Theorie insgesamt vorzuziehen sei, offen bleibe bzw. einer anderen umfassenden Untersuchung und dem Urteil der Leser*innen überlassen bleibe (vgl. ebd.).

Kritik des Kontraktualismus Wie bereits dargelegt, ist die Kritik am Kontraktualismus zentral für Nussbaums Denkansatz. Rawls und andere zeitgenössische Vertragstheoretiker blenden Nussbaum zufolge „Situationen von asymmetrischer oder lebenslanger Abhängigkeit“ in ihrer Darstellung, wie die elementaren Institutionen der Gesellschaft beschaffen sein sollten, aus (Nussbaum 2003, 179). Die Schwierigkeiten, die die Blindheit der Vertragssituation gegenüber asymmetrischen Verhältnissen mit sich bringe, seien zu groß, als dass sie sich durch eine bloße Modifikation der kontraktualistischen Perspektive beheben ließen (vgl. ebd.). Nussbaum schlägt daher drei Modifikationen der traditionellen Version des Vertragsparadigmas – bei gleichzeitiger Be-

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wahrung der Ideen von Reziprozität und Gleichheit – vor: Erstens eine reichere Darstellung der Güter, die eine gerechte Gesellschaft verteilt und von denen erwartet werden kann, dass sie in jedem Lebensplan, den die Bürger*innen wählen, einen Wert haben; zweitens müssen wir uns das Projekt der Verteilung primärer Güter nicht als Verteilung von Ressourcen vorstellen, sondern als Förderung einer Vielfalt menschlicher Fähigkeiten; und drittens darf der Fähigkeitenansatz nicht auf die Perspektive des Nationalstaates beschränkt bleiben, wie dies traditionell im Vertragsdenken vorherrschend war. Dabei geht es für Nussbaum nicht nur um die Frage, was Nationen einander schulden; einzubeziehen sind hier vielmehr auch die Idee materieller Ansprüche und insbesondere die Fähigkeiten-Ansprüche aller Menschen – ganz in Entsprechung zu Nussbaums genereller entwicklungsethischer Perspektive (vgl. Nussbaum 2003, 194 ff.). Und auch der öffentliche Diskurs müsse so gestaltet werden, dass die Fähigkeiten entsprechend entfaltet werden können (vgl. Nussbaum 2010b, 238 f.).

Der Fähigkeitenansatz anstelle der Grundgüterliste Ein zweiter Kritikpunkt betrifft Rawls’ Grundgüterliste. Für Nussbaum greife diese jedoch zu kurz, insofern es Rawls nur um Verteilungsgerechtigkeit gehe. Für Nussbaum hingegen komme es über die Grundgüter hinaus darauf an, dass der Mensch seine Fähigkeiten verwirklichen könne, die ihm qua Menschsein jeweils offenstehen. Überdies ließen sich, anders als im Rawlsschen Ansatz konzipiert, Grundgüter nicht einfach miteinander verrechnen (vgl. Nussbaum 2003, 232 f.). Gemeinsam ist Rawls und Nussbaum allenfalls, dass beide mit Listen arbeiten: Rawls mit seiner Grundgüterliste, Nussbaum mit ihrer Liste an Grundbedürfnissen, mit denen sie die menschlichen Fähigkeiten verbindet (vgl. Nussbaum 1999, 190–204; vgl. Nussbaum 2003, 191). Überdies anerkennt Nussbaum zumindest, dass Rawls’ Liste an Grundgütern eine gute Ausgangslage und für ihre Überlegungen zu einer

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Aufstellung von Grundbedürfnissen hilfreich sei (vgl. Mügge, 2017, 51). Eine weitere Gemeinsamkeit von Rawls und Nussbaum ist zudem die generelle Orientierung am Basalen: Soziale Grundgüter einerseits, menschliche Grundbedürfnisse andererseits. In Verbindung mit Nussbaums Liste menschlicher Grundbedürfnisse steht auch eine Konzeption des Guten. „Nussbaums vage starke Konzeption des Guten ist Grundlage einer Sozialphilosophie, die in bewußter Abgrenzung von strategisch-ökonomischen Maximierungsmodellen die theoretischen Voraussetzungen reflektiert, damit Menschen ein reichhaltiges und erfülltes Leben möglich ist“ (Pauer-Studer 2000, 131). Nussbaum selbst charakterisiert ihren Ansatz insgesamt durch einen Vorrang des Guten; und sie betont, in Abgrenzung zu Rawls’ schwacher Theorie des Guten, dass sie von einer ‚dicken‘ bzw. ‚starken‘ Theorie des Guten ausgehe (vgl. Mügge 2017, 52). Zur Formulierung des Normativen richten beide in gewisser Weise ihren Blick auf den Common Sense und auf Erfahrungen des Menschen. Nussbaums Kritik an Rawls’ Theorie des Guten sollte man daher nicht überschätzen: „Ihre Liste des Guten ist weniger als Gegenmodell denn als Erweiterungsvorschlag zu interpretieren, wie auch der Fähigkeiten-Ansatz insgesamt keine Alternative zu Rawls’ Grundsätzen der Gerechtigkeit darstellt, sondern eine wichtige theoretische Perspektive für deren Spezifizierung und Modifikation erschließt“ (PauerStuder 1999, 20). Was genau ist nun unter dem FähigkeitenAnsatz überhaupt zu verstehen? Der von Nussbaum und Sen entwickelte gerechtigkeitsethische Ansatz mit der Bezeichnung capabilityapproach hat Eingang gefunden in politische Entscheidungsprozesse. Er liegt unter anderem dem Human development index zu Grunde. Dieser bemisst den Entwicklungsstand einzelner Länder nicht nur nach dem Durchschnittseinkommen, sondern über weitere Faktoren, zu denen die Alphabetisierungsrate, Gesundheitsfürsorge, Lebenserwartung sowie das Bildungsniveau zählen. Angestrebt wird ein tieferes Verständnis des menschlichen Wohlergehens (vgl. Hahn 2009, 113). Henning Hahn schlägt vor,

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‚capabilites‘ angemessener mit ‚Entwicklungsmöglichkeiten‘ zu übersetzen. Denn Nussbaum (wie auch Sen) gehe es um die freie Entfaltung aller menschlichen Funktionsweisen (‚functioning‘), die zu einem blühenden Leben (‚flourishing life‘) dazugehören. „Diese Funktionsweisen, die das Wesen des Menschen ausmachen, sind einerseits natürlichen Ursprungs wie Ernährung und Fortpflanzung und entspringen andererseits seiner Eigenart als Kulturund Vernunftwesen“ (ebd., 113). Der Mensch strebe nun Nussbaum zufolge danach, „diese Funktionen in intakten sozialen Gemeinschaften zu entfalten und ein ‚reichhaltiges menschliches Leben‘ zu führen“ (ebd., 113; vgl. Nussbaum 2010a, 229–239). Übrigens betont Nussbaum, dass ihr Fähigkeiten-Ansatz auf der Grundlage der Rawlsschen Idee des politischen Liberalismus formuliert sei und als Teil des übergreifenden Konsenses zu sehen ist (vgl. ebd., 228). Welche Grundbedürfnisse listet Nussbaum nun in ihrem Fähigkeitenansatz de facto auf? An erster Stelle steht die Fähigkeit „ein menschliches Leben von normaler Länge zu leben, nicht vorzeitig zu sterben oder zu sterben, bevor das Leben so reduziert ist, daß es nicht mehr lebenswert ist“ (Nussbaum 1999, 200). Weitere menschliche Grundfähigkeiten sind: körperliche Gesundheit; körperliche Integrität; Sinn, Vorstellung und Denken; Gefühle; praktische Vernunft; soziale Beziehungen und Selbstwertgefühl; Beziehungen zu anderen Spezies; Spiel; politische und materielle Kontrolle bzw. Autonomie (vgl. Nussbaum 1999, 187–197; vgl. Hahn 2009, 119 f.). Die Nussbaumsche Liste soll zum Ausdruck bringen, was Menschsein ausmacht, was es überhaupt möglich macht. Das Ziel von Nussbaums Ansatz ist infolgedessen „die Ausarbeitung einer Theorie, die dem Umstand Rechnung trägt, dass spezifische Bedingungen unseres Menschsein – dass wir etwa verletzbare Wesen mit einer begrenzten Lebenszeit sind, deren Überleben von einer Reihe externer Faktoren abhängt – für die Ethik und moralische Verpflichtungen relevant sind“ (PauerStuder 1999, 10). Nussbaum geht aus „von der Idee einer normativen menschlichen Natur und

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dem daraus resultierenden Anspruch auf gleichen Respekt“ und fordert daher, „dass jeder Mensch zu einem guten Leben befähigt werden muss. Nur dann, wenn eine Gesellschaft dies ermögliche, könne sie als minimal gerecht gelten. […] Eine Gesellschaft ist nur dann zumindest minimal gerecht, wenn sie zu einem bestimmten Ergebnis, eben der Befähigung jedes Menschen zu einem guten Leben führt“ (Mügge 2017, 50). Nussbaums Liste an Grundfähigkeiten stellt laut Cornelia Mügge eine gerechte Basis dar: Denn Nussbaum halte „ausdrücklich daran fest, dass die Festlegung auf eine Liste von Vorteil sei. Außerdem verteidigt sie ihren Ansatz dahingehend, dass er ein sinnvolles Maß an Freiheit und Pluralität ermögliche und interkulturell als überzeugend gelten könne“ (Mügge 2017, 57). Der Fähigkeitenansatz von Nussbaum ist ergebnisorientiert: „Ihr Fokus liegt darauf, einen Zustand zu erreichen, in dem alle Menschen in der Lage sind, ein gutes Leben zu führen. Sie plädiert damit für einen Vorrang des Guten vor dem Rechten. […] Weiterhin ist Nussbaum zufolge für die Orientierung am guten Leben ein konkreter, objektiver und universaler Maßstab – wie ihn ihre Fähigkeitenliste darstellt – notwendig“ (Mügge 2017, 60). Und in Abgrenzung zu Rawls lässt sich konstatieren, dass zwar die Befriedigung subjektiver Präferenzen berücksichtigt werden könne, doch als vorrangiger Maßstab für eine Theorie sozialer Gerechtigkeit sei dies laut Nussbaum ungeeignet (vgl. Mügge 2017, 60).

Perspektiven globaler Gerechtigkeit Ein dritter Kritikpunkt betrifft Rawls Konzeption einer internationalen Ordnung unter dem Programmwort ‚Recht der Völker‘, die Nussbaum als unzulänglich für die tatsächliche Etablierung globaler Gerechtigkeit betrachtet. Die wichtigste Weiterentwicklung der Theorie der Gerechtigkeit bestehe ihr zufolge darin, dass Rawls nun die transnationale Kraft der Menschenrechte anerkenne (vgl. Nussbaum 2010b, 219). Angesichts der zunehmenden globa-

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len Ungleichheit bedürfe es einer wirkungsvollen globalen Gerechtigkeitstheorie (vgl. Nussbaum 2010b, 209–211). Die Verwirklichung globaler Gerechtigkeit erfordere Nussbaum zufolge die Einbeziehung zahlreicher Menschen und Gruppen, „die bisher nicht als vollständig gleiche Subjekte der Gerechtigkeit anerkannt worden sind: der Armen, der sozial schwachen Klassen, der Angehörigen religiöser und ethnischer Minderheiten und in der jüngeren Vergangenheit auch Frauen“ (Nussbaum 2010a, 545). Nussbaum fordert in diesem Zusammenhang, dass Gerechtigkeitsfragen und ihre Rolle in Familien stärker zu berücksichtigen und insbesondere behinderte Menschen durch den Fähigkeitsansatz einzubeziehen seien (vgl. Nussbaum 2010a, 545). Mit Blick auf die Verwirklichung globaler Gerechtigkeit sei die Loslösung der politischen Philosophie vom Paradigma des autarken Nationalstaats erforderlich (vgl. Nussbaum 2010a, 545 f.). Denn „ökonomische Gerechtigkeit und materielle Umverteilung“ sind Aufgabe von „internationaler und kosmopolitischer Gerechtigkeit[,] nicht nur die traditionellen Fragen von Krieg und Frieden“ (Nussbaum 2010a, 546). Und schließlich sei Gerechtigkeit über Menschen hinaus zu denken und somit die moralische Reichweite der Gerechtigkeit auszudehnen; und zwar gelte es nicht nur national, sondern letztlich global „die anderen empfindenden Wesen [zu] berücksichtigen, mit denen unser Leben auf unauflösliche und komplexe Weise verbunden ist“ (Nussbaum 2010a, 456). Ihre Überlegungen zur globalen Gerechtigkeit konkretisiert Nussbaum in einer Zehn-Prinzipien-Agenda zur ethischen Gestaltung der Weltordnung: An deren erster Stelle steht die Verantwortungszuschreibung an einzelstaatliche Strukturen, sodann gelte es, die nationale Souveränität zu respektieren, das dritte Prinzip formuliert die Verantwortung wohlhabender Staaten für ärmere Staaten in Gestalt der Abgabe eines Teils ihres Bruttoinlandsprodukts, viertens geht es um die Verantwortung multinationaler Unternehmen für die Förderung

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menschlicher Fähigkeiten in jenen Regionen der Welt, an denen diese Unternehmen aktiv sind, das fünfte Prinzip fordert die faire Gestaltung der weltwirtschaftlichen Strukturen, sechstens ist eine dezentralisierte und dennoch starke globale Öffentlichkeit zu errichten, siebtens wird die Konzentration auf die Probleme der benachteiligten Menschen in den einzelnen Staaten und Regionen gefordert, das achte Prinzip ruft zur Sorge um Kranke, Alte und Behinderte als wichtigen Schwerpunkt der Weltgemeinschaft auf, neuntens verdiene die Behandlung der Familie als bedeutungsvolle Sphäre Aufmerksamkeit, und das zehnte Prinzip mahnt zur Verantwortung aller Institutionen und Individuen für Entwicklung und Bildung als wesentliche Faktoren für die Ermächtigung aktuell benachteiligter Menschen. Diese Prinzipienliste habe, so Nussbaum, kein natürliches Ende, sondern wäre erweiterbar. Dennoch können die von ihr aufgelisteten Prinzipien einen Eindruck vermitteln, was ihr Fähigkeitenansatz zu leisten vermag und was Grundlage zur Konstruktion einer achtbaren globalen Gemeinschaft sein könne (vgl. Nussbaum 2010b, 236–241). Und Nussbaum schließt an dieser Stelle ihre Ausführungen mit einem differenzierend, geradezu dialektischen Appell an alle Bürger*innen der Welt, der Interdependenz und Verbundenheit zum Ausdruck bringt: Der globale Zusammenhalt ergebe sich ebenso durch wechselseitige Verbundenheit wie „durch das Streben nach gegenseitigen Vorteilen, durch Mitgefühl ebenso wie durch Eigeninteresse und durch eine in allen Menschen verankerte Wertschätzung der Menschenwürde; das gilt selbst dann, wenn wir an der Kooperation mit bestimmten Menschen keinen Gewinn ziehen können – oder sagen wir: selbst dann, wenn das, was wir zu gewinnen haben, das höchste aller Güter ist: in einer gerechten und moralisch achtbaren Welt zu leben“ (Nussbaum 2010b, 241). Nach Hahn liegt Nussbaums Innovation nun darin, „dass sie Rawls’ Modell einer Gemeinschaft weitgehend unabhängiger Nationalstaaten mit der kosmopolitischen Idee zusammenführt, dass Nationen

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sich nicht nur für ihre Bürger, sondern auch für die Sicherung der Grundfähigkeiten aller Menschen zuständig erklären“ (Hahn 2009, 123).

Fazit und Ausblick Trotz ihrer zum Teil fundamentalen Kritik an Rawls’ Gerechtigkeitstheorie sieht sich Nussbaum dennoch in der Rawlsschen Tradition und betreibt eine Art Fortschreibung seines Gerechtigkeitsdenkens. Sie zeigt die theoretischen Wurzeln auf, die aus ihrer Sicht zu bestimmten Mängeln und Schwachstellen in Rawls’ Konzeption führen. Ein gewisses Kuriosum stellt die Tatsache dar, dass Rawls selbst bereits diese Unzulänglichkeiten und blinden Flecken in seiner Theorie benannt hat (vgl. Nussbaum 2010a; vgl. Rawls 1993, 39; 556; Rawls 1994, 88). Nussbaum nimmt sich dieser Rawlsschen Defizitagenda in konstruktiver Absicht an und zeigt mit ihrem Ansatz Wege auf, wie sich aus ihrer Sicht die bei Rawls bereits indizierten Probleme lösen lassen. Kritisch wird man dem gerechtigkeitsethischen Ansatz Nussbaums vor allem in seiner globalen Ausrichtung vorwerfen müssen, dass die Annahme der Bereitschaft zu einer allgemeinmenschlichen Verbundenheit zu optimistisch ist und dass die Einschätzung der politisch-institutionellen Verantwortungsbereitschaft für Menschen und deren Bedürfnisse in anderen Staaten und Regionen der Welt allzu wohlwollend (vgl. Hahn 2009, 125), wenn nicht sogar aus einer neorealistischen oder

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machtpolitischen Sicht betrachtet geradezu naiv erscheint.

Literatur Hahn, Henning: Globale Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. Frankfurt a. M. 2009. Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. In: Marx-Engels-Werke. Ergänzungsband. Schriften bis 1844. Erster Teil. Berlin, DDR 1973. Mügge, Cornelia: Menschenrechte, Geschlecht, Religion. Das Problem der Universalität und der Fähigkeitenansatz von Martha Nussbaum. Bielefeld 2017. Nussbaum, Martha C.: Gerechtigkeit oder das gute Leben. Frankfurt a. M. 1999. Nussbaum, Martha C.: Langfristige Fürsorge und soziale Gerechtigkeit. Eine Herausforderung der konventionellen Ideen des Gesellschaftsvertrages. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51/2 (2003), 179–198. Nussbaum, Martha C.: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin 2010a. Nussbaum, Martha C.: Jenseits des Gesellschaftsvertrags. Fähigkeiten und globale Gerechtigkeit. In: Broszies, Christoph/Hahn, Henning (Hg.): Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus. Berlin 2010b, 209–241. Pauer-Studer, Herlinde: Einleitung. In: Martha C. Nussbaum (Hg.): Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Hg. Herlinde Pauer-Studer. Frankfurt a. M. 1999, 7–23. Pauer-Studer, Herlinde: Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit. Frankfurt a. M. 2000. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 71993 (engl. 1971). Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1994 (engl. 1993). Reese-Schäfer, Walter: Was ist Kommunitarismus? Frankfurt a. M./New York 1994.

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Onora O’Neill Sofie Møller

Onora O’Neill ist eine der bedeutendsten Persönlichkeiten aus dem Kreis der Schüler*innen von John Rawls und hat sich in ihrer ganzen philosophischen Tätigkeit intensiv mit dessen politischer Philosophie beschäftigt. Nach dem Studium der Philosophie an der University of Oxford promovierte O’Neill bei Rawls an der Harvard University mit einer Dissertation zu der Frage, wie sich universelle Normen auf partikuläre Handlungen beziehen lassen können, ohne dabei ihre normative Geltung zu verlieren. Eine überarbeitete Ausgabe dieser Arbeit erschien 1975 unter dem Titel Acting on Principle. Nach Harvard lehrte O’Neill zunächst am Barnard College der Columbia University und anschließend an der Essex University. Von Anfang der 1990er Jahre bis zu ihrer Emeritierung 2006 lehrte sie an der University of Cambridge, wo sie zugleich als Rektorin des Newnham College fungierte. Neben ihrer akademischen Arbeit setzte sich O’Neill auch politisch für die praktische Verwirklichung ihrer Ideen ein. So war sie Mitglied und später Vorsitzende der UK Genetics Advisory Commission und ist seit 1999 Mitglied des britischen House of Lords.

S. Møller (*)  Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected]

Von Rawls übernimmt O’Neill (1989, 211– 213) die Grundidee, dass Gerechtigkeitsansprüche vernünftig gerechtfertigt werden müssen und dass wir selbst Gerechtigkeitsprinzipien in einer vernünftigen Prozedur konstruieren. Dabei bemühen sich Rawls wie O’Neill gleichermaßen darum, eine meta-ethische Position jenseits von Intuitionismus und Utilitarismus zu verteidigen. Der zentrale Gedanke dieses Konstruktivismus besteht darin, dass Gerechtigkeitsprinzipien nicht metaphysisch unabhängig von uns sind, sondern in einer vernunftgeleiteten Herangehensweise konzipiert werden. Dadurch erweisen sie sich als abhängig von einer Konzeption der Vernunft und des vernünftigen Individuums. Wie Rawls bezeichnet auch O’Neill ihren Konstruktivismus als kantisch, denn beide lassen sich in ihren Überlegungen von Kants Universalisierungsverfahren inspirieren: Danach sind nur diejenigen Prinzipien gerecht, die unter bestimmten Voraussetzungen als allgemeingültig gedacht werden können. Ein Unterschied zwischen den politischen Philosophien von O’Neill und Rawls liegt jedoch in ihren jeweiligen Interpretationen der Forderungen und Implikationen eines kantischen Konstruktivismus. Dabei unterscheiden sie sich vor allem in ihrem Verständnis der Bedingungen, unter denen die Universalisierbarkeit der Prinzipien geprüft werden kann. O’Neill wirft Rawls vor, idealisierte Modelle anzuführen, ohne die dahinterliegende Metaphysik

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_68

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kritisch zu hinterfragen. Vor allem die Modelle der wohlgeordneten Gesellschaft und der moralischen Person, die im Zentrum von Rawls’ Konstruktivismus stehen, hält O’Neill für problematisch. Sobald wir diese Modelle kritisch überprüften, würde deutlich, dass sie ungerechtfertigte Idealisierungen enthalten. Um diese Idealisierungen zu überwinden, könne der kantische Konstruktivismus nicht metaphysisch agnostisch bleiben. Daher plädiert O’Neill für eine Rückkehr zu Kant und seiner kritischen Überprüfung der Vernunft und der Metaphysik.

Abstraktion und Idealisierung O’Neills politische Philosophie kann als Erweiterung und Hausforderung von Rawls’ Philosophie verstanden werden, insofern O’Neill versucht, Rawls’ Idee eines konstruktiven Vorgehens weiterzuführen, ohne seine problematischen Anteile zu übernehmen. In seinem Spätwerk beschreibt Rawls seine Position explizit als kantischen Konstruktivismus. Er ist das zentrale Thema seiner John-Dewey-Vorlesungen aus dem Jahre 1980 – „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ – und spielt auch in seinem Buch Politischer Liberalismus eine große Rolle, wo Rawls die Form des Konstruktivismus allerdings als politisch und nicht als kantisch bezeichnet. Sie gilt als metaethische Position, da Rawls sie als eine jenseits von moralischem Utilitarismus und Intuitionismus angesiedelte Alternative präsentiert. Nach dieser Konzeption stellt Rawls Gerechtigkeit im Sinne von fairness als eine Konstruktion vor, in der die Prinzipien der Gerechtigkeit nicht „entdeckt“, sondern nach einem bestimmten Verfahren entwickelt werden müssen. Sie sind somit weder metaphysische Fakten noch ergebnisabhängige Kalküle, sondern politische Resultate, welche die Kooperation innerhalb einer geschlossenen Gesellschaft sichern. Gerechtigkeit erweist sich hier als eine praktische politische Aufgabe, die von den Bürger*innen einer bestimmten Gesellschaft gemeinsam erfüllt werden muss. Rawls beschreibt seinen kantischen Konstruktivismus somit als reine Verfahrensgerechtigkeit, die

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von keinen moralischen Tatsachen außerhalb der Konstruktion abhängig ist. Bis hierhin ist O’Neill mit Rawls’ Konzeption einverstanden, denn auch sie versteht Gerechtigkeit als praktische soziale Aufgabe, die von einer Gemeinschaft im Rahmen öffentlicher vernünftiger Auseinandersetzung gelöst werden muss. Problematisch ist dagegen O’Neill zufolge die kantische Inspiration des Konstruktivismus von Rawls, da er zu viele der Probleme Kants und zu wenige seiner Lösungen übernimmt. Die kantische Moralphilosophie setzt einen metaphysischen Begriff der Person und ein kritisches Vernunftverständnis voraus, indem sie die Person als freien Urheber von Handlungen und die Vernunft als spontanes Denkvermögen versteht. Dagegen basiert Rawls’ kantischer Konstruktivismus auf zwei zentralen nicht-metaphysischen Modellen: dem Modell einer wohlgeordneten Gesellschaft und dem Modell der moralischen Person. In ihrer Auseinandersetzung mit Rawls stellt O’Neill (1990, 440– 49) beide Modelle infrage. Sie zeigt, dass Rawls beide Modelle unkritisch konstruiert, indem er ungerechtfertigte Annahmen generalisiert. Auch wenn O’Neill also Rawls’ Konstruktivismus übernimmt, versucht sie doch, seine Mängel durch eine Rückkehr zu Kant zu korrigieren. Vor allem ist sie bestrebt, keine ungerechtfertigten Idealisierungen aufzustellen, sondern stattdessen die zugrundeliegende Metaphysik zu rechtfertigen. Kantischer Konstruktivismus muss nach O’Neill mit einer Rechtfertigung der Vernunft selbst den Anfang machen, da sonst die Gefahr bestehe, ungerechtfertigte Idealisierungen zu übernehmen. Obwohl O’Neill Teile des kantischen Konstruktivismus von Rawls übernimmt, betont sie mit Kant, dass alle Autoritäten und Konstruktionen gerechtfertigt werden müssten und Rawls diese Überprüfung versäumt habe. In ihrer Auseinandersetzung mit Rawls’ politischer Philosophie unterscheidet O’Neill zwischen zwei Strategien: Abstraktion und Idealisierung. Während die Abstraktion Eigenschaften von Individuen abzieht, um größere Allgemeinheit zu gewinnen, fügt die Idealisierung ihnen neue Eigenschaften hinzu. Die letztere schreibt dabei idealen

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Entitäten ohne Evidenz oder sogar gegen die Evidenz bestimmte Prädikate zu. Zum Beispiel ist ein Modell, das das Alter bestimmter Personen in Klammern setzt, eine Abstraktion. Daraus ergibt sich die abstrakte Idee einer alterslosen Person. Das abstrakte Modell geht von der empirischen Vielfalt aus und klammert bestimmte Eigenschaften ein, um allgemeine Aussagen machen zu können. O’Neill pointiert, dass dieses Verfahren notwendig sei, denn ohne Abstraktionen könnten wir überhaupt nichts Allgemeines über die Welt sagen. Da Abstraktionen nur bestimmte Eigenschaften in Klammern setzen, sind sie unproblematisch und sogar notwendig für ein generalisierendes Denken und Sprechen. Dagegen fügen Idealisierungen abstrakten Entitäten neue Eigenschaften hinzu. Zum Beispiel ist ein Modell, das ein vollständig rationales und vernünftiges Individuum voraussetzt, eine Idealisierung. Denn um sich ein vollständig rationales und vernünftiges Individuum vorzustellen, muss man nicht nur bestimmte Eigenschaften einklammern – man muss auch rationale Fähigkeiten hinzufügen. Während abstrakte Modelle unproblematisch sind, müssen ideale Modelle separat gerechtfertigt werden. Schwierig wird es, wenn problematische Idealisierungen als harmlose Abstraktionen präsentiert werden. Ohne eine Rechtfertigung der Idealisierungen gibt es keinen Grund, weshalb Theorien von idealen Personen und Gesellschaften normative Geltung für faktische Menschen und Staaten haben sollten. Laut O’Neill besteht das Hauptproblem der politischen Philosophie Rawls’ darin, dass er idealisierte Modelle als Abstraktionen präsentiert. Sie führt eine lange Liste der ungerechtfertigten Idealisierungen in seiner politischen Philosophie an, darunter das Modell der moralischen Person, die Konzeption der Vernunft, das knappe Verzeichnis der gesellschaftlichen Grundgüter, das Modell der wohlgeordneten Gesellschaft sowie die Konzeption einer geschlossenen Gesellschaft. All dies sind Beispiele für Idealisierungen, die Personen oder Gesellschaften ohne oder sogar gegen jegliche empirische Evidenz zusätzliche Prädikate zuschreiben. O’Neill zufolge ist Rawls’ Modell der moralischen Person ein Beispiel für eine Idealisierung,

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weil Rawls ohne Nachweis voraussetzt, dass die moralische Person ein Familienoberhaupt sei, bestimmte Wünsche habe und über eine bestimmte Rationalität und Vernünftigkeit verfüge. Hier werden nicht nur persönliche Eigenschaften eingeklammert, sondern neue hinzugefügt. Während Kant seine Ideale durch eine kritische Metaphysik der Person rechtfertigt, gründet Rawls laut O’Neill seine Moralphilosophie auf ein ungerechtfertigtes Ideal der Person. Obwohl dieses Modell der moralischen Person zentral für seine Philosophie sei, erkläre Rawls’ Konstruktionsverfahren nicht, warum die Zustimmung dieser idealen Person als bindend für faktische Individuen gelten sollte. Deswegen bleibt sein Konstruktivismus O’Neill zufolge ungerechtfertigt. Laut O’Neill besteht ein zusätzliches Problem der idealisierten moralischen Person darin, dass das Ideal faktische Schwächen und Verletzlichkeiten ignoriert. Die Zustimmung der idealisierten moralischen Person verbirgt, dass die Rechtfertigung für schwächere Mitglieder der Gesellschaft wesentlich umfassender ausfällt als die Rechtfertigung für die im Ideal repräsentierten Starken. Um die Situation der Schwachen zu verbessern, sind häufig deutlich umfassendere Redistributionen und Umstrukturierungen nötig, als von Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption als fairness vorgesehen ist. Denn auch bei der Aufzählung der Grundgüter handelt es sich laut O’Neill um eine ungerechtfertigte Idealisierung: Rawls nimmt unkritisch an, dass die ideale moralische Person bestimmte Wünsche habe und bestimmte Güter erhalten wolle. Diese Annahme ist keine einfache Abstraktion, denn verschiedene Menschen wünschen sich verschiedene Güter und die Liste der Grundgüter setzt nicht nur Wünsche in Klammern, sondern fügt auch bestimmte Wünsche hinzu. Auf diese Weise repräsentiert die Liste Grundgüter, die ein idealisiertes Individuum verlangt. Mit Kant weist O’Neill darauf hin, dass auch Wünsche gerechtfertigt werden müssen und dass ein Modell nicht bestimmte Wünsche zufügen darf. Damit zeigt sie, dass Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit nicht auf harmlosen Abstraktionen aufbaut, sondern auf problematischen

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metaphysischen Idealisierungen, ohne dies jedoch zuzugeben. O’Neill betont, dass die Idealisierungen des abstrakten Liberalismus bei Rawls auf keine menschlichen Entscheidungen und keine öffentlichen Verhaltensweisen zutreffen. Würden Idealisierungen als Abstraktionen präsentiert, erhalte der Liberalismus gleichsam die Erlaubnis, männlichen Chauvinismus und übertriebene Werte staatlicher Herrschaft einzuschmuggeln: „Idealization masquerading as abstraction yields theories that appear superficially to apply widely, but which covertly exclude those who do not match a certain ideal, or match it less well than others. Those who are excluded are then seen as defective or inadequate“ (O’Neill 2000, 152). Durch die Ideale der moralischen Person und der geschlossenen Gesellschaft werden Fragen der Gendergerechtigkeit und der globalen Gerechtigkeit unbemerkt ausgeschlossen. Ein großer Teil der Arbeit O’Neills liegt in der Bereinigung und Kritik dieser Idealisierungen, denn ohne eine Erklärung des Zusammenhangs zwischen Abstraktionen und faktischen Individuen haben abstrakte Theorien keinen Wirklichkeitsbezug. Dagegen brauchen wir Abstraktionen, um nicht einfach Differenzstrukturen des Status quo zu reproduzieren.

Abstrakte Gerechtigkeitsprinzipien Um problematische Idealisierungen zu vermeiden und faktische Differenzen ernst zu nehmen, schlägt O’Neill in Bounds of Reason vor, Gerechtigkeitsprinzipien zu suchen, die von allen akzeptiert werden können. Wir müssen uns folgende Frage stellen: Gibt es Prinzipien, die von allen Mitgliedern einer Pluralität von potenziell aufeinander wirkenden Agierenden angenommen werden könnten? Um Gerechtigkeitsprinzipien zu finden, müssen wir mit anderen Worten fragen, welche Prinzipien Menschen, die eine Welt teilen, annehmen könnten. Erst im Anschluss an diese Frage wäre zu überlegen, wie wir Grenzen ziehen. O’Neill betont, dass ohne Idealisierungen unsere Grenzziehungen nicht davon absehen können, dass politische und ökonomische Prozesse transnational ablaufen

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und dass das öffentliche Leben von der Struktur der Privatsphäre abhängt. Weil wir nicht in einer idealen Welt leben, haben idealisierte Gerechtigkeitskonzeptionen nicht notwendigerweise Geltung für unsere internationalen und sozialen Verhältnisse. Stattdessen müssen wir Prinzipien für unsere Welt suchen, in der die Möglichkeiten und Fähigkeiten begrenzt sind. O’Neill (1990, 458 f.) schlägt vor, dass wir nicht – wie Rawls – nach Gerechtigkeitsprinzipien suchen, denen idealisierte vernünftige und unabhängige Wesen zustimmen würden; auch sollten wir nicht Prinzipien übernehmen, denen Menschen in möglicherweise unterdrückenden Verhältnissen faktisch zustimmen. Stattdessen gelte es, in einer konstruktiven Prozedur Gerechtigkeitsprinzipien ausfindig zu machen, denen eine Pluralität interagierender Menschen mit begrenzten Fähigkeiten zustimmen könnte. Das große Problem für O’Neill besteht darin, zu erklären, wie Menschen mit begrenzten Fähigkeiten, die Zwang, Täuschung und Unterdrückung unterliegen, ihre nicht verblendete Zustimmung geben können, ohne auf Idealisierungen zurückzugreifen. Denn O’Neill selbst hat gezeigt, dass idealisierende Prozeduren dazu tendieren, Verletzbarkeiten zu ignorieren, während relativistische Prozeduren den Status quo rechtfertigen. O’Neill pointiert, dass idealisierte Verfahren wie bei Rawls Abhängigkeitsverhältnisse und Zwang ignorieren. Daher können sie nicht zeigen, warum die Unterdrückten oft keine Möglichkeit haben, ökonomischen und sozialen Unterdrückungszusammenhängen zu widersprechen. Da Rawls Abhängigkeitsverhältnisse sowohl unter Staaten als auch unter Menschen wegidealisiert, gibt seine Theorie uns etwa keine Werkzeuge an die Hand, um die besonders erschwerten Verhältnisse von Frauen in Entwicklungsländern zu thematisieren.

Gendergerechtigkeit Auch die ursprüngliche Position (original position) ist laut O’Neill (2013, 30) ein Beispiel einer Idealisierung. Hier abstrahiert Rawls von der sozialen und ökonomischen Situation

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sowie von natürlichen Stärken und Konzeptionen des Guten (Rawls 1999, § 24, p. 118). Dennoch nimmt er an, Personen in der ursprünglichen Position könnten als Familienoberhäupter betrachtet werden. Damit, so O’Neill, setzt das Modell einiges über die Struktur der Familie und das Verhältnis der Geschlechter voraus. Statt die Frage der Gendergerechtigkeit zu lösen, verdeckt Rawls sie durch die Idealisierung der ursprünglichen Position. Außerdem setzt die Idee des Familienoberhauptes eine Aufteilung in Privatsphäre und Öffentlichkeit voraus – die Grenze zwischen den beiden Sphären bleibt jedoch ungeklärt und ungerechtfertigt. Dank dieser Idealisierung sind traditionelle Familienstrukturen laut O’Neill ein weiteres Beispiel für problematische Abhängigkeitsverhältnisse, die Rawls einfach wegidealisiert. Sie illustrieren die Kluft zwischen idealisierten unabhängigen Agierenden und faktischer Machtlosigkeit. Die traditionelle Familie hängt von der Grenzziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre ab und weist Frauen die Privatsphäre zu, wo sie Verantwortung für die Bedürfnisse Anderer, aber wenig Kontrolle über die Ressourcen haben. In vielen familiären Abhängigkeitsverhältnissen hat die faktische Zustimmung von unterdrückten Frauen wenig Gewicht, weil sie indirekt erzwungen wird. Wo keine ökonomische Unabhängigkeit und keine Unterstützung bei der Pflege von Angehörigen bestehen, haben Frauen allzu oft keine andere Wahl, als den Vorschlägen der gesellschaftlich und kulturell Stärkeren zuzustimmen. Deswegen betont O’Neill, dass die Anwendung von abstrakten, nicht-idealisierten Prinzipien nicht von der faktischen Zustimmung unterdrückter Menschen abhängen könne. Stattdessen müsse unsere Anwendung der Prinzipien die faktischen Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten Anderer reflektieren. Um Gerechtigkeitsprinzipien für eine Pluralität zu identifizieren, müssen wir modale Prozeduren heranziehen und diejenigen Prinzipien ablehnen, die nicht von allen Mitgliedern geteilt werden könnten. In der Anwendung dieser Prinzipien gilt es, faktische Verletzbarkeiten und Abhängigkeitsverhältnisse in Betracht zu ziehen, um festzustellen, inwiefern

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Menschen Institutionen und Gesellschaftseinrichtungen tatsächlich überhaupt widersprechen und diese ändern können.

Öffentlicher Gebrauch der Vernunft Sowohl Rawls als auch O’Neill greifen auf Kants Idee eines öffentlichen Gebrauchs der Vernunft zurück. Beide stimmen mit Kant überein, dass Gerechtigkeit von einem offenen, wechselseitigen Austausch abhängt. Jedoch sieht O’Neill Rawls’ Konzeption des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft als problematisch an, da sie bestimmte soziale Institutionen voraussetze und diese damit nicht zur Diskussion stelle. Weil Rawls den öffentlichen Gebrauch der Vernunft als wechselseitigen Austausch innerhalb einer umgrenzten demokratischen Gesellschaft verstehe, könnten Grenzen, Demokratie und Bürgerschaft in seiner Konzeption des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft weder problematisiert noch gerechtfertigt werden. In Constructing  Authorities stellt O’Neill heraus, dass der öffentliche Gebrauch der Vernunft sich auf keine gegebene Autorität stützen darf (O’Neill 2015, 59). Zwar greift auch sie – wie Rawls – auf die kantische Idee der öffentlichen Vernunft zurück. Aber im Gegensatz zu Rawls bezieht sich O’Neill auf Kants Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Gebrauch der Vernunft: Jeder Gebrauch der Vernunft, der auf ungerechtfertigten Annahmen beruht, ist nicht öffentlich, sondern privat. Mit Kant weist O’Neill darauf hin, dass die Vernunft von keiner Macht oder Autorität abgeleitet werden und auf keiner gegebenen Autorität beruhen kann. Aus diesem Grund darf der öffentliche Gebrauch der Vernunft keine gegebenen Institutionen voraussetzen. Jedoch kann die Vernunft nicht völlig gesetzlos sein, da alle Kommunikation von dem regelmäßigen Gebrauch der Vernunft und der Sprache abhängt. Wie Kant betrachtet O’Neill (2015, 100 f.) den gesetzlosen Gebrauch der Vernunft als gänzlich unzugänglich. Die Vernunft muss also strukturiert sein, aber ihre normative Kraft hängt davon ab, dass ihre Autorität nicht angenommen, sondern

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konstruiert wird. Die Lösung dieses Dilemmas übernimmt O’Neill von Kant: Die Vernunft kann nur dann gesetzmäßig und zugleich frei von äußeren Autoritäten bleiben, wenn sie sich selbst Gesetze gibt. Für O’Neill setzt der öffentliche Gebrauch der Vernunft ihre Autonomie voraus. O’Neill betont mit Kant, dass der öffentliche Gebrauch der Vernunft darin bestehe, Anderen Gründe zu nennen, indem man eine nachvollziehbare gedankliche Struktur angibt, die bei keinem arbiträren Anfangspunkt beginnt. Obwohl O’Neill die Autonomie der Vernunft gegen die Annahmen Rawls’ verteidigt, betont sie zugleich, dass öffentliche Debatten Auseinandersetzungen zwischen faktischen Individuen mit verschiedenen Hintergründen, Schwächen und Bedürfnissen sind. Im Gegensatz zu Rawls’ idealisierter moralischer Person müssen faktische Individuen einander tolerieren. Deswegen schreibt O’Neill (1986, 523), dass kantische Argumente die Toleranz notwendigerweise mit der Gründung der Vernunft verknüpfen. Rawls versucht dagegen, zu kantischen Konklusionen im Ausgang von empirischen Konzeptionen der Vernunft, der Handlung und der Freiheit zu gelangen. Hierin sieht O’Neill ein großes Problem: Weil Rawls die idealisierte Natur dieser Konzeptionen übersieht, kann er sie nicht kritisch hinterfragen.

Globale Gerechtigkeit Auch O’Neills Arbeiten zur globalen Gerechtigkeit versuchen, eine Lücke in der politischen Theorie Rawls’ zu schließen. Rawls’ zweite grundlegende Idealisierung besteht im Modell einer wohlgeordneten Gesellschaft (Rawls 1999, § 69, pp. 397–405). Die wohlgeordnete Gesellschaft versteht Rawls in erster Linie als geschlossene Gesellschaft, in der sich die Frage der Gerechtigkeit nur für die bürgerliche Bevölkerung stellt. Die Theorie soll zuerst die Rechte und Pflichten der Bürgerschaft konstruieren, erst im Anschluss daran können Ansprüche der nicht-bürgerlichen Bevölkerung theoretisiert werden. Durch die Annahme einer

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geschlossenen Gesellschaft versteht Rawls die Konstruktion der Gerechtigkeitsprinzipien als eine staatliche Aufgabe, die nur innerhalb einer umgrenzten Gesellschaft Gültigkeit hat. Dadurch sind bestimmte staatliche Grenzen in Rawls’ Theorie eingebaut und eine kosmopolitische oder internationalistische Weltkonzeption muss notwendigerweise ein Nebengedanke bleiben. Nehmen wir bei einer umgrenzten Gesellschaft den Anfang und führen innerhalb dieser unser konstruierendes Prozedere durch, geht die Theorie davon aus, dass westliche Ideale für die Zusammenarbeit mit der ganzen Welt gelten. In Bounds of Justice zeigt O’Neill, dass wir Grenzen nicht als angenommene Voraussetzungen für eine Theorie der Gerechtigkeit betrachten dürfen, sondern diese als Institutionen ansehen müssen, deren Gerechtigkeit erst zu beurteilen ist. Laut O’Neill sind Staaten und ihre Grenzen nur dann gerechtfertigt, wenn sie keine Ungerechtigkeit für die Exkludierten erzeugen. Auch in diesem Fall müssen wir laut O’Neill zu Kant zurückgehen, denn Kant versteht den Menschen vor allem als Weltbürger. Kants Kosmopolitismus ist grundlegend für seine Theorie der Gerechtigkeit. Mit Kant betont O’Neill, dass Gerechtigkeit nicht nur davon handle, dass wir mit unseren Mitbürger*innen in einer umgrenzten Gesellschaft zusammenleben müssen, sondern dass wir lernen sollen, mit unseren Mitmenschen zusammenzuleben, auch wenn wir in verschiedenen Staaten zuhause sind. O’Neill weist darauf hin, dass die Souveränität des Staates bereits auf verschiedene Weise begrenzt ist: Die Handlungsmöglichkeiten staatlicher Regierungen werden vom internationalen Bankensystem kontrolliert, kulturelle Bewegungen werden von internationalen Kommunikationsmedien geformt und so weiter. O’Neill (2000, 185) bezeichnet diese globalen Agierenden als „Netzwerkinstitutionen“ und betrachtet sie als Primäreinrichtungen, um gerechte oder ungerechte Verhältnisse zu erzeugen. Um Netzwerkinstitutionen zur Verantwortung zu ziehen, müssen wir laut O’Neill anerkennen, dass nicht alle wichtigen Institutionen territorial angesiedelt

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sind, und zulassen, dass diese Institutionen sich an Verhandlungen und Regulierungen beteiligen. Nach O’Neill zeigen Fragen der globalen Gerechtigkeit, dass faktische Menschen andere Probleme haben als idealisierte moralische Personen. Rawls’ Theorie scheitert in Fragen der globalen Gerechtigkeit, weil sie diese Probleme wegidealisiert. Vor allem Frauen in Entwicklungsländern und die Herausforderungen, denen sie sich zu stellen haben, passen nicht zu seinem Ideal der moralischen Person.

Literatur O’Neill, Onora: The public use of reason. In: Political Theory 14/4 (1986), 523–551. O’Neill, Onora: Constructions of reason. Explorations of Kant’s practical philosophy. Cambridge 1989. O’Neill, Onora: Justice, gender and international boundaries. In: British Journal of Political Science 20/4 (1990), 439–459. O’Neill, Onora: Bounds of justice. Cambridge 2000. O’Neill, Onora: Acting on principle: An essay on kantian ethics [1975]. Cambridge 2013.

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Weiterführende Literatur O’Neill, Onora: Abstraction, idealization and ideology in ethics. In: Royal Institute of Philosophy Supplements 22 (1987), 55–69. O’Neill, Onora: Vindicating reason. In: Paul Guyer (Hg.): The Cambridge companion to Kant. Cambridge 1992, 280–308. O’Neill, Onora: Towards justice and virtue: A constructive account of practical reasoning. Cambridge 1996. O’Neill, Onora: Political liberalism and public reason: A critical notice of John Rawls, political liberalism. In: The Philosophical Review 106/3 (1997), 411–428. O’Neill, Onora: The method of a theory of justice. In: Otfried Höffe: John Rawls, a theory of justice. Brill 2013, 21–35. O’Neill, Onora: Liberal justice: Kant, Rawls and human rights. In: Kantian Review 23/4 (2018), 641–659. Rawls, John: Kantian constructivism in moral theory. In: The Journal of Philosophy 77/9 (1980), 515–572.

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Thomas Pogge Julian Culp

Nach Abschluss eines Diplomstudiums in Soziologie an der Universität Hamburg 1977 nahm Thomas Pogge (geboren 1953) ein Ph.D.-Programm in Philosophie an der Harvard University auf. Dort wurde er von John Rawls betreut und 1983 mit der Dissertation Kant, Rawls, and Global Justice promoviert. An der Columbia University arbeitete Pogge 1983 bis 2006 als Assistant und Associate Professor am Institut für Philosophie und 2006 bis 2008 als Full Professor am Institut für Politikwissenschaft. Seit 2008 ist er Leitner Professor of Philosophy and International Affairs sowie Direktor des Global Justice Program an der Yale University. Die bereits in der Dissertation aufgegriffenen Themen Kant, Rawls und globale Gerechtigkeit bilden den Schwerpunkt Pogges wissenschaftlicher Arbeit. Durch seine philosophische und politiktheoretische Forschung gelang es ihm sowohl Rawls’ politische Philosophie als auch deren Rezeption und Weiterentwicklung, insbesondere auf dem Gebiet globaler Gerechtigkeit, nachhaltig zu prägen. Rawls’ Einfluss auf Pogges wissenschaftliche Entwicklung ist kaum zu überschätzen. Pogge zählt zu einer Reihe von Rawls-Schüler*innen wie etwa Onora O‘Neill, Christine Korsgaard,

J. Culp (*)  The American University of Paris, Paris, Frankreich E-Mail: [email protected]

Barbara Herman und Thomas E. Hill, die, angeregt von Rawls’ eigener Philosophie und seinem Interesse für die Geschichte der praktischen Philosophie, zu Kants Moral- und politischer Philosophie forschen. Dadurch haben Rawls und seine Schüler*innen der praktischen Philosophie Kants im englischsprachigen Wissenschaftsraum zu großer Anerkennung verholfen. Pogge (1981; 1998) hat, u. a. unter Berücksichtigung von Übersetzungsschwierigkeiten geschuldeten begrifflichen Problemen, Rawls’ Kantianische Interpretation seiner Auffassung von Gerechtigkeit als Fairness kritisiert sowie einen viel beachteten Vorschlag für eine kohärente Verständnisweise der scheinbar disparaten Formulierungen des Kategorischen Imperativs geliefert. Inspiriert von der persönlichen Beziehung zu Rawls hat sich Pogge (dt. 1993; engl. 2007) auch als dessen Biograf hervorgetan. Er hat dadurch Rawls’ Leben und Werk einem deutschsprachigen Publikum nähergebracht und Impulse für die Erschließung dessen Werks geliefert. Zweifelsohne bestand Rawls’ größter Einfluss auf Pogge jedoch darin, durch die Eleganz und Tiefe seiner Gerechtigkeitstheorie Pogge dazu zu veranlassen, Gerechtigkeit als den zentralen Begriff seiner philosophischen Forschung zu wählen und in einer dezidiert rawlsianischen Weise aufzufassen. Insbesondere hat Pogge (2000; 2008; 2010b) die Grundstruktur als primären Gegenstandsbereich

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_69

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einer Gerechtigkeitstheorie, die empirisch informierte bzw. praxisabhängige Begründung von Gerechtigkeitsgrundsätzen, sowie die Verwendung von Grundgütern als Gerechtigkeitsmaßstab gegen Rawls’ Kritiker*innen verteidigt. Zudem hat Pogge (1989b; 1992; 2002; 2005; 2010a) die praktische Relevanz einer rawlsianischen Gerechtigkeitstheorie klar erkannt und eine Reihe von politischen Vorschlägen zur Reform und Schaffung internationaler Institutionen im Bereich der Entwicklungs-, Gesundheits- und Migrationspolitik geliefert. Pogge hat damit maßgeblich zu einer verstärkten Praxisorientierung innerhalb der liberalen politischen Philosophie beigetragen, die Rawls’ überwiegend idealtheoretischen Arbeiten fehlt. Schließlich hat sich Pogge (1989b; 1994; 2004; 20010c) jedoch auch von Rawls’ Behandlung des Themas globaler Gerechtigkeit distanziert und ist dadurch selbst zu einem Vordenker einer liberal-kosmopolitischen globalen Gerechtigkeitstheorie avanciert.

Die gesellschaftliche Grundstruktur als primärer Gegenstand der Gerechtigkeitstheorie Für Pogge (1989b) besteht ein zentraler Erkenntnisgewinn Rawls’ Auffassung von Gerechtigkeit darin, Gerechtigkeitsfragen als Fragen danach zu begreifen, wie die gesellschaftliche Grundstruktur – bzw., allgemeiner formuliert, eine institutionelle Ordnung – gerecht einzurichten ist. Gerechtigkeitsfragen unterscheiden sich somit von Fragen der Ethik bzw. Moralphilosophie, weil sich letztere auf richtiges individuelles Verhalten innerhalb einer gegebenen institutionellen Ordnung beziehen. Die Trennung von gerechtigkeitstheoretischen und ethischen Fragen sei deswegen so bedeutsam, so Pogge, weil gerade in komplexen, modernen Gesellschaften individuelles Verhalten eine Vielzahl von Handlungsfolgen nach sich zöge, die nicht vorhersehbar seien. Dies liege daran, dass viele Folgen individuellen Handelns durch das Verhalten vieler anderer Individuen und der zugrunde liegenden institutionellen Ordnung bedingt sind. In

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einer rein (individual-)ethischen Betrachtung könnten solche Handlungsfolgen daher nicht als beabsichtigt gelten, weshalb sie aus deontologischer Perspektive als moralisch nachrangig gegenüber beabsichtigten und vorhersehbaren Handlungsfolgen gelten. So können beispielsweise Konsument*innen und Produzent*innen unter Umständen selbst dann nicht individuell für die Arbeitslosigkeit in bestimmten Wirtschaftszweigen verantwortlich gemacht werden, wenn diese von ihren wirtschaftlichen Entscheidungen (mit-)verursacht worden ist, weil diese Handlungsfolge für die individuellen Konsument*innen und Produzent*innen nicht vorhersehbar – und damit auch nicht beabsichtigt – war. Gleichwohl stellt Arbeitslosigkeit nicht nur ein schwerwiegendes Problem für die Betroffenen dar, sondern ist in ihrer spezifischen Form von den wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen abhängig. Deswegen ist eine gerechtigkeitstheoretische Betrachtung sozialer Phänomene notwendig, welche sich nicht auf die intendierten Folgen individuellen Handelns bezieht, sondern auf die institutionelle Ausgestaltung einer sozialen Ordnung und der nicht-intendierten, aber vorhersehbaren Folgen, die sie für die in dieser Ordnung lebenden Individuen mit sich bringt. Erst durch diesen Fokus auf die institutionelle Ordnung und deren weitreichenden Wirkungsweisen auf Individuen können bestimmte moralische Probleme wie etwa Arbeitslosigkeit sowohl ursächlich also auch normativ adäquat erfasst werden. G. A. Cohen (1997) allerdings hat Rawls’ gerechtigkeitstheoretischen Fokus auf die gesellschaftliche Grundstruktur dafür kritisiert, dass durch diesen die Relevanz des individuellen Verhaltens sowie des gesellschaftlichen Bewusstseins (ethos) für die Verwirklichung einer (liberal-) egalitären Gerechtigkeitsauffassung vernachlässigt würde. Es sei nicht nachvollziehbar, dass sich Individuen aufgrund der sog. natürlichen Gerechtigkeitspflicht zwar für die Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Grundstruktur einsetzen sollten, in ihrem sonstigen individuellen Verhalten aber nicht gefordert seien, Gerechtigkeit umzusetzen. Besonders problematisch sei zudem, dass Rawls’

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Differenzprinzip (difference principle) es billigt, dass Individuen finanzielle Anreize erhalten, um beruflichen Tätigkeiten nachzugehen, die der gesamtwirtschaftlichen Effizienz dienen. Hierdurch würden ungerechtfertigter Weise ökonomische Ungleichheiten legitimiert, die keineswegs unvermeidbar seien, sondern allein ungerechtem individuellen Verhalten bzw. mangelndem Gerechtigkeitsbewusstsein geschuldet seien. In Reaktion auf diese Kritik hat Pogge (2000) hervorgehoben, dass Rawls keine monistische Werttheorie vertrete, in der jegliches menschliches Handeln einem einzelnen Wert (master value) wie dem (liberal-)egalitärer Gerechtigkeit zu dienen habe. Vielmehr sei Rawls` praktische Philosophie konstruktivistisch und pluralistisch, da sie für jeweils unterschiedliche Handlungstypen und -strukturen spezifische normative Grundsätze rechtfertige.

Fakten- und praxisabhängige Begründung von Gerechtigkeitsgrundsätzen Den konstruktivistischen Charakter von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie hob Pogge (2008) ebenso in einer Erwiderung auf die weitere Kritik G. A. Cohens (2003) hervor, nach der Rawls’ Gerechtigkeitstheorie lediglich Regulierungsregeln (rules of regulation), nicht aber Gerechtigkeitsgrundsätze (principles of justice), formuliere. Zur Begründung seiner Kritik wies Cohen darauf hin, dass Rawls seine Gerechtigkeitsgrundsätze unter Berücksichtigung empirischer Tatsachen, beispielsweise. psychologischer und wirtschaftlicher Art, rechtfertige. Eine solche Rechtfertigung sei jedoch ungeeignet, Gerechtigkeitsgrundsätze zu bestimmen, da solche frei von jeglicher Empirie (fact free) seien. Rawls begründe also keine Gerechtigkeitsgrundsätze, sondern nur die für einen bestimmten empirischen Kontext gültigen Regulierungsregeln, die lediglich die Normativität tieferliegender Gerechtigkeitsgrundsätze widerspiegelten, die unabhängig von empirischen Tatsachen gelten würden. Daher verkenne Rawls’ Theorie die Natur von Gerechtigkeitsgrundsätzen.

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In seiner Replik auf diese Kritik betonte Pogge (2008), dass Rawls’ konstruktivistische Rechtfertigungsmethode in der Tat impliziere, dass die von Rawls gerechtfertigten Gerechtigkeitsgrundsätze nicht in einer jeden Welt unabhängig von den jeweils gegebenen empirischen Tatsachen Gültigkeit beanspruchen würden. Vielmehr seien Rawls’ Gerechtigkeitsgrundsätze durchaus in dem Sinne empirisch bedingt und kontextabhängig, dass sie unter Berücksichtigung der in einem bestimmten Kontext vorzufindenden Tatsachen gerechtfertigt werden würden. Dies hieße jedoch nicht, dass Rawls’ Gerechtigkeitsgrundsätze daher nur Regulierungsregeln seien, welche die Normativität tiefer liegender Gerechtigkeitsgrundsätze reflektieren. Vielmehr ließe sich aus konstruktivistischer Sichtweise bezweifeln, dass es solche empirieunabhängigen Grundsätze überhaupt gebe und wie, falls es sie gäbe, diese zu bestimmen seien. Auf diese Weise unterstrich Pogge Rawls’ praxisabhängige Begründung von Gerechtigkeitsgrundsätzen, die ausgehend von einer detaillierten Beschreibung eines menschlichen Handlungskontextes, wie er sich etwa in einer nationalstaatlich organisierten Gesellschaft darstellt, normativ angemessene Gerechtigkeitsgrundsätze für die empirisch bedingten Eigenheiten eines solchen Praxiszusammenhangs ausweist (vgl. James 2005). Viele politische Philosoph*innen und Theoretiker*innen (Beitz 2009; James 2012) haben diese praxisabhängige Rechtfertigungsweise von normativen (Gerechtigkeits-)Grundsätzen in den Bereichen der internationalen Menschenrechts- und Handelspolitik übernommen.

Grundgüter als öffentlicher Maßstab einer Gerechtigkeitsauffassung Pogge (2010b) verteidigte außerdem Rawls’ Verwendung eines grundgüterbasierten Gerechtigkeitsmaßstabs gegen die Kritiken Amartya Sens (1995) und Martha Nussbaums (2000). Sen und Nussbaum kritisierten, dass Rawls und andere ressourcenorientierte Gerechtigkeitstheoretiker*innen ihr Augenmerk lediglich

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auf die Mittel für ein wertvolles menschliches Leben richteten und dadurch die intrinsisch wertvollen Aspekte menschlichen Lebens vernachlässigten. So seien etwa Einkommen und Vermögen, die eines von Rawls’ fünf Grundgütern darstellen, zwar dienlich, um bestimmte Fähigkeiten wie etwa die Fähigkeit der Nahrungsaufnahme zu ermöglichen, besäßen aber selbst keinen intrinsischen Wert. Der sog. Fähigkeitenansatz (capability approach) sei daher vorzugswürdig, so Sen und Nussbaum, weil er Ressourcen nur als Mittel begreife und die tatsächlich bestehenden Fähigkeiten, bestimmte Dinge zu tun (doings) oder Zustände einzunehmen (beings), in den Vordergrund rücke. Der auf Sens und Nussbaums RawlsKritik zurückgehende Fähigkeitenansatz ist inzwischen nicht nur eine dominante Strömung in der Wohlfahrtsökonomie, Entwicklungsethik und politischen Philosophie, sondern hat sich insbesondere auch innerhalb zeitgenössischer Gerechtigkeitstheorien als Standard etabliert (vgl. Robeyns 2017). Pogge ist einer der wenigen normativen Theoretiker*innen, der zu der Kritik der Vertreter*innen des Fähigkeitenansatzes Stellung genommen und Rawls’ Gebrauch eines grundgüterbasierten Gerechtigkeitsmaßstabs verteidigt hat. Pogge (2010b, 18–23) argumentiert erstens, dass der Unterschied zwischen einem ressourcen- und einem fähigkeitenbasierten Gerechtigkeitsmaßstab nicht überzeichnet werden dürfe, da beispielsweise soziale und natürliche Umweltfaktoren in beiden Maßstäben berücksichtigt werden könnten. Sen und Nussbaum lägen falsch, wenn sie behaupten, dass der Fokus auf Ressourcen es verhindere, anzuerkennen, dass in unterschiedlichen sozialen und natürlichen Umgebungen – z. B. hinsichtlich der jeweiligen Bildungsinstitutionen und klimatischen Bedingungen – die gleiche Menge an Ressourcen von ungleichem Wert sei. Auch Vertreter*innen eines ressourcenbasierten Maßstabs könnten solche Faktoren miteinbeziehen, wenn sie bestimmen, wie viele Ressourcen an wen zu verteilen sind. Der eigentliche Unterschied zwischen einem ressourcen- und einem fähigkeitenbasierten

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Maßstab, so Pogge (2010b, 23–32) zweitens, bestehe vielmehr in dem Umgang mit individueller Heterogenität. Nur der Fähigkeitenansatz erkenne eine rein natürlich bedingte individuelle Heterogenität als Grund an, manchen Personen mehr Ressourcen als anderen zuzuweisen, um ihnen somit gleiche Fähigkeiten zu ermöglichen. Diese Eigenheit des Fähigkeitenansatzes sei jedoch problematisch, weil es herablassend sei, Menschen aufgrund ihrer angeblich minderwertigen natürlichen Verfassung als Opfer einer Ungerechtigkeit zu begreifen. Der ressourcenbasierte Ansatz würde hingegen auf eine solche Sichtweise verzichten und stattdessen untersuchen, inwieweit eine bestimmte Ressourcenverteilung unter heterogenen Individuen innerhalb einer institutionellen Ordnung insgesamt manche begünstigt und andere benachteiligt. Es kann z. B. akzeptabel sein, dass ein öffentliches Verkehrssystem Personen mit einer schwächeren Sehkraft dadurch benachteiligt, dass Hinweise visuell und lautlos kommuniziert werden, solange dies im Rahmen einer institutionellen Ordnung geschehe, in der solche Personen einen Anspruch auf Blindenhunde geltend machen können. Drittens wäre Rawls’ ressourcenbasierter Gerechtigkeitsmaßstab auch deswegen gegenüber einem fähigkeitenbasierten Maßstab vorzuziehen, weil ersterer, wie Pogge (2010b, 48–53) betont, spezifischer und transparenter sei, und sich deswegen besser als ein öffentlich nachvollziehbarer Maßstab eignen würde. Ein Gerechtigkeitsmaßstab sei nämlich nicht danach zu beurteilen, ob er den richtigen Standard für die normative Bewertung sozialer Zustände (states of affairs) angebe, sondern danach, ob er innerhalb einer institutionellen Ordnung praktische Verwendung zur Beurteilung dieser finden könne. Ein ressourcenbasierter Gerechtigkeitsmaßstab schneide in dieser Hinsicht besser ab, weil ein interpersonaler Vergleich unterschiedlicher Ressourcen deutlich leichter öffentlich nachvollziehbar durchzuführen sei als ein interpersonaler Vergleich an Fähigkeiten. Dies liege Pogge zufolge insbesondere daran, dass die letztere Art von Vergleich auf einem Wissen über persönliche Charakteristika wie beispielsweise

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die individuelle Stoffwechselrate beruhen müsse, welche jedoch nicht ohne weiteres öffentlich verfügbar seien bzw. sein sollten.

Globale Verteilungsgerechtigkeit: Liberal-kosmopolitisch oder politischliberal-internationalistisch? Globale Verteilungsgerechtigkeit ist das Themengebiet, auf dem große Uneinigkeit zwischen Rawls und Pogge besteht. Diese Uneinigkeit hat sich im Laufe der Zeit nicht aufheben lassen, sondern ist lediglich in unterschiedlichen Formen zum Vorschein getreten. Rawls hatte zwar bereits in Eine Theorie der Gerechtigkeit (§ 58) das Recht der Nationen behandelt, erörterte diesbezüglich allerdings Fragen des gerechten Krieges im Zuge einer Diskussion zivilen Ungehorsams. Vermutlich auf der Annahme basierend, dass Nationen nur kaum interagieren, hatte Rawls lediglich herkömmliche Handlungsgrundsätze (ius in bello, pacta sunt servanda) bestehenden Völkerrechts formuliert, welche nationale Repräsentanten in ihren individuellen Entscheidungen zu respektieren hätten. Wie zuvor bereits David Richards, Brian Barry, Thomas Scanlon und Charles Beitz, kritisierte Pogge (1989b) daran, dass es nicht nachzuvollziehen sei, weshalb Rawls die Reichweite seiner institutionell verstandenen Gerechtigkeitsgrundsätze auf den nationalstaatlichen Rahmen beschränke und nicht auf eine globale Grundstruktur ausweite. Anders als Beitz (1999, 131), der zunächst einen globalen Kooperationszusammenhang und später die wechselseitige globale Einflussnahme hervorgehoben hatte, verwies Pogge (1989b, Kap. 6) auf das Vorliegen einer zwangsbewehrten globalen Ordnung, um zu begründen, weshalb Rawls’ liberal egalitäre Gerechtigkeitsgrundsätze global und nicht bloß national als gültig anerkannt werden müssten. Der Urzustand müsse global und nicht bloß national verwendet werden und müsse Repräsentant*innen aller Individuen weltweit und nicht lediglich Repräsentant*innen der Individuen eines einzelnen Nationalstaates beinhalten.

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Als Rawls (2010) 1993 seine überarbeiteten Überlegungen zu globaler Gerechtigkeit in dem Aufsatz The Law of Peoples publizierte, berücksichtigte er zwar Barrys und Beitz’ Argumentation, folgte dieser aber nicht. Vielmehr entwickelt er die idealtheoretische Auffassung einer gerechten internationalen Weltordnung, die aus gerechten Verhältnissen zwischen liberalen und nicht-liberalen, aber anständigen, wohlgeordneten Gesellschaften besteht. Alle wohlgeordneten Gesellschaften, die Rawls aufgrund deren moralischen Qualitäten als „Völker“ und nicht als Staaten bezeichnet, müssen grundlegende Menschenrechte achten und dürfen keine Angriffskriege führen. Diese beiden, sowie fünf weitere idealtheoretische Grundsätze, begründet Rawls anhand einer zweiten Verwendung des Urzustands, in dem Repräsentant*innen verschiedener sich als freie und gleiche begreifende Völker die verbindlichen Grundsätze der internationalen Ordnung beschließen. Rawls’ liberal egalitäre Gerechtigkeitsgrundsätze – die Grundsätze gleicher Grundfreiheiten und fairer Chancengleichheit sowie das Differenzprinzip – sind nicht auf globaler Ebene anzuwenden, so dass u. a. sozioökonomische Ungleichheiten zwischen Individuen unterschiedlicher Völker nicht als Verteilungsungerechtigkeit gelten. Lediglich unter nicht-idealen Umständen, wenn sog. belastete Gesellschaften sich nicht selbst helfen können, sich zu liberalen oder zumindest anständigen, wohlgeordneten Völkern zu entwickeln, besitzen die liberalen und anständigen Völker eine internationale Unterstützungspflicht (duty of assistance), die belasteten Gesellschaften in einem solchen Entwicklungspfad zu unterstützen. Pogge (1994, 211–12) kritisierte diese Sichtweise, da unklar sei, weshalb globale Verteilungsfragen nicht wie im nationalen Kontext zum idealtheoretischen Teil der Untersuchung gehören sollten. Zudem überzeuge Rawls’ (2010, 94) Argument nicht, dass die Befolgung eines liberalen, internationalen Verteilungsgrundsatzes von den wohlgeordneten Völkern nicht erwartet werden könne. Diese Position setze schlicht die existierende Güterverteilung

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als gerecht voraus, obwohl Rawls’ innerstaatliche Gerechtigkeitsauffassung genau solche (libertären) Argumente in Frage stelle, welche die bestehende Güterverteilung als natürlich und nichthinterfragbar begreifen. Pogge (1994) schlägt als internationalen Umverteilungsmechanismus deswegen eine globale Ressourcendividende vor, die alle Staaten bei Gebrauch natürlicher Ressourcen an einen globalen Fonds zur weltweiten Armutsbekämpfung zu zahlen hätten, und behauptet, dass ein solcher Mechanismus in einem globalen Urzustand akzeptiert werden müsste. Rawls hat schließlich 1999 in Das Recht der Völker seine ausgearbeitete Auffassung globaler Gerechtigkeit vorgelegt und in dieser Abhandlung auch explizit auf Pogges Kritik und seinen Vorschlag einer globalen Ressourcendividende Bezug genommen. Rawls erkennt nun die internationale Unterstützungspflicht, die wohlgeordnete Völker gegenüber belasteten Völkern haben, als achten, idealtheoretischen Grundsatz seiner internationalen Gerechtigkeitsauffassung an. Gleichwohl diskutiert Rawls (2002, 131–40) die Details dieser Unterstützungspflicht im nicht-idealen Teil seiner globalen Gerechtigkeitstheorie, so dass die Zuordnung der Unterstützungspflicht unklar bleibt. Klar und deutlich äußert sich Rawls allerdings bezüglich der Frage, weshalb er ein globales Differenzprinzip und eine globale Rohstoffdividende ablehnt. Solche globalen Grundsätze distributiver Gerechtigkeit seien unvereinbar mit der politischen Autonomie wohlgeordneter Völker, so Rawls (2002, 145), weil sie „kontinuierlich und ohne Ende – ohne einen eindeutigen Zielpunkt (cutoff point) angewendet werden sollte[n].“ Wohlgeordnete Völker, die distributive Gerechtigkeitsgrundsätze ohne Zielpunkt befolgten, müssten immer wieder Güter an andere Völker abtreten. Dies hindere sie aber daran, ihre eigenen Vorhaben zu verfolgen. Wohlgeordnete Völker könnten beispielsweise auf keine sinnvolle Weise eine Spar- und Industrialisierungs-

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politik praktizieren, die langfristig wirtschaftlichen Wohlstand verspreche, wenn sie immer wieder dazu angehalten wären, ihre ersparten und erwirtschafteten Güter an wirtschaftlich weniger erfolgreiche Völker abzutreten. Pogge (2004, 2010c) wiederum reagierte auf diese Argumentation von Rawls, indem er erneut die Konsistenz von Rawls’ nationaler und globaler Gerechtigkeitsauffassung in Frage stellte. Besonders Augenmerk richtete er auf Rawls’ angeblich unterschiedliche Verständnisweise von Gerechtigkeitsgrundsätzen auf nationaler und globaler Ebene. Während Rawls auf nationaler Ebene Gerechtigkeit als eine Eigenschaft institutioneller Ordnungen ansehe, würde er auf globaler Ebene den Gerechtigkeitsbegriff auf interaktionale Verhaltensweisen von Völkern beziehen – obwohl dies die Thematik globaler Ethik, nicht aber die globaler Gerechtigkeit sei. Aufgrund seines Todes im Jahr 2002 war Rawls nicht im Stande, selbst auf diese Kritik zu reagieren. Viele Rawls-Interpret*innen verteidigten Rawls jedoch, indem sie darauf hinwiesen, dass Rawls nicht nur eindeutig von dem Recht der Völker als einer Auffassung globaler Gerechtigkeit spreche, sondern auch die globale Grundstruktur, bestehend aus den Verhältnissen wohlgeordneter Völker sowie den von diesen Völkern eingerichteten internationalen Institutionen, zu ihrem Gegenstand habe (vgl. Williams 2011, Culp 2014). Zudem mache Rawls deutlich, dass die acht internationalen Gerechtigkeitsgrundsätze nicht Rawls’ gesamte Auffassung globaler Gerechtigkeit abdeckten, sondern dass zusätzlich zu einer Interpretation dieser acht Grundsätze weitere Grundsätze für internationale Institutionen mittels einer weiteren Verwendung des Urzustands auf internationaler Ebene zu bestimmen sei. Daher sei Rawls’ globale Gerechtigkeitsauffassung nicht nur deutlich komplexer, als Pogge sie darstelle, sondern vor allem auch als eine sich auf die globale institutionelle Ordnung beziehende Auffassung zu verstehen.

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Teil VIII

Rezeption: Diskurse

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Gerechtigkeit Johannes J. Frühbauer

Um es gleich vorneweg zu sagen: Den einen und einzigen Gerechtigkeitsdiskurs gibt es nicht. Zu vielfältig sind inzwischen die Gesellschaftsbereiche, in denen die Frage nach Gerechtigkeit eine zentrale oder zumindest nicht unwesentliche Rolle spielt. Das Nachdenken über Gerechtigkeit findet in einer Vielzahl an Kontexten statt. Trotz der Vielfalt und Ausdifferenzierung dieser Gerechtigkeitsdiskurse ist John Rawls mit seinen Schriften bis heute einer der wichtigsten Referenzautoren geblieben. Oftmals wird gleich in der Hinführung oder im Einleitungskapitel in den entsprechenden Publikationen explizit Bezug auf ihn oder auf seine Theorie der Gerechtigkeit genommen. Dies unterstreicht seinen herausragenden Stellenwert für die Gerechtigkeitsdiskurse im Allgemeinen. Überhaupt kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass mit der Theorie der Gerechtigkeit die Erfolgsgeschichte des zeitgenössischen Gerechtigkeitsdenkens ihren Anfang nahm und zur bleibenden normativen Dominanz der Gerechtigkeit in den unterschiedlichen politisch-ethischen und sozialphilosophischen Themenfeldern führte.

J. J. Frühbauer (*)  Katholische Stiftungshochschule München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

Die Wurzeln des zeitgenössischen Gerechtigkeitsdenken Das zeitgenössische sozialphilosophische Gerechtigkeitsdenken hat seine Wurzeln in der Neuzeit. Hier ergibt sich vor allem eine Bedeutungsverschiebung gegenüber dem antikem sowie auch dem mittelalterlichen Gerechtigkeitsverständnis, wenngleich das neuzeitliche Verständnis von Gerechtigkeit an den gelehrten Gerechtigkeitsdiskurs des Mittelalters anknüpft, der seinerseits wiederum unter dem Einfluss von Gerechtigkeitsvorstellungen der Antike stand. Zu den Merkmalen des modernen Begriffs der Gerechtigkeit zählen die Ausdehnung des Gegenstandsbereiches der Gerechtigkeit auf die institutionelle Rahmenordnung sozialen Handelns in Gestalt der Verfassung staatlicher Herrschaft und der rechtlichen Eigentumsordnung sowie die Einbettung der Gerechtigkeit in eine Moral der gleichen Achtung, derzufolge alle Menschen von Natur aus einen grundsätzlich gleichen Wert besitzen und infolgedessen als Gleiche behandelt werden müssen. Hier kommt ein gehaltvolles Gleichheitspostulat zum Tragen, demzufolge die Ungleichbehandlung von Personen in gerechtigkeitsrelevanten Kontexten einer allgemein einsichtigen Rechtfertigung bedarf. Die Entwicklung des modernen Gerechtigkeitsbegriffs lässt sich nur dann angemessen verstehen, „wenn man die in ihrem Verlauf sich entfaltenden Ideen mit den sozialen Tatsachen

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_70

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in Beziehung setzt, die ihr Auftreten bedingen und ihnen Wirksamkeit verschaffen“ (Koller 2016, 14). Vor allem die Organisation und Durchsetzungsmacht sozialer Gruppen sowie die Möglichkeiten der faktischen Umsetzung der Ideen durch soziale Institutionen trugen zur Realisierung von Gerechtigkeitsforderungen bei. Insbesondere das wachsende städtische Bürgertum forderte nicht nur rechtliche Gleichheit, sondern auch bürgerliche Freiheiten: „Gleichheit aller Bürger im Recht durch allgemeine, für alle gleichermaßen geltende Gesetze, Schutz der physischen Freiheit jeder Person, Religions- und Gewissensfreiheit, Meinungs- und Redefreiheit, Eigentums- und Vertragsfreiheit, Unabhängigkeit der Gerichte und ein gewisses Maß an politischer Mitsprache“ (Koller 2016, 16). Im Verlauf der Neuzeit lässt sich das verstärkte Aufkommen der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit beobachten. Der Kampf um demokratische Beteiligung verschränkt sich mit sozialen Konflikten durch die wachsende Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen: Auf der einen Seite die geringe Zahl von Besitzenden, auf der anderen Seite die wachsende Masse besitzloser Lohnarbeiter. Infolgedessen entsteht im 19. Jh. die Soziale Frage sowie der Diskurs zur sozialen Gerechtigkeit. Trotz seiner unterschiedlichen Interpretation beinhaltet der Begriff der sozialen Gerechtigkeit Peter Koller zufolge zwei zentrale Forderungen, die so grundlegend sind, dass sie bis in die Gegenwartsdiskurse zur Gerechtigkeit nachwirken: Zum einen „die Forderung sozialer Chancengleichheit, die zuerst hauptsächlich auf die Verringerung der Klassenunterschiede durch die Verbesserung der sozialen Lage der Unterschichten zielte und danach in Richtung auf eine weitergehende Angleichung der individuellen Startpositionen und Erfolgsaussichten ausgedehnt wurde“, zum anderen „die Forderung ökonomischer Verteilungsgerechtigkeit, die sich anfänglich insbesondere gegen die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse im industriellen Sektor richtete und dann in einem weiteren Sinn die Kritik der fortbestehenden wirtschaftlichen Ungleichheiten fundierte, deren Ausmaß in kei-

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nem Verhältnis zu den geleisteten Beiträgen zur gesellschaftlichen Wertschöpfung zu stehen schien“ (Koller 2016, 18). Damit verbunden sind letztlich Forderungen nach einer Reform der bestehenden kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung vor allem aus den Reihen der Arbeiterbewegung. Von Gelehrten wurden entsprechende theoretische Konzepte entwickelt. Der moderne Begriff von Gerechtigkeit hat sich im Zusammenwirken mit gesellschaftlichen Entwicklungen nach und nach in spezifischere Formen der Gerechtigkeit ausdifferenziert. Vorherrschende Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit in entwickelten demokratischen Gesellschaften sind Forderungen nach rechtlicher Gleichheit, bürgerlicher Freiheit, demokratischer Teilhabe, sozialer Chancengleichheit und wirtschaftlicher Verteilungsgerechtigkeit. Die Entwicklung von Theorien der Gerechtigkeit verfolgt das Ziel, die Gerechtigkeitsforderungen in ihrer Gesamtheit systematisch zu begründen und einer näheren Interpretation zuzuführen. Das 20. Jahrhundert wird in seiner zweiten Hälfte in der Sozial- bzw. politischen Philosophie zum Zeitalter der Gerechtigkeitstheorien.

Grundzüge und Strukturmerkmale des Gerechtigkeitsdenkens Das Gerechtigkeitsdenken zeichnet sich allgemein dadurch aus, dass es entweder um eine fundamentale Grundlegung von Gerechtigkeit und ihre begriffliche Bestimmung, ihre Konturierung durch Prinzipien und deren Begründung geht und dass es in der Konkretion und Anwendung auf bestimmte gesellschaftliche Kontexte bezogen ist. Vorrangig beim Gerechtigkeitsdenken ist seit der Neuzeit die institutionelle Dimension. Rawls prägte die Kennzeichnung der Gerechtigkeit als erste soziale Tugend (vgl. Rawls 1993, 19). Die Frage nach Gerechtigkeit als persönliche Tugend ist im Vergleich zum Denken in der Antike und im Mittelalter bei den modernen Ansätzen in den Hinter-

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grund getreten. Gerechtigkeitsdenker*innen postulieren nicht nur bestimmte Grundsätze der Gerechtigkeit, sie legen zumeist auch dar, wie diese Grundsätze gefunden und begründet werden können. Rawls setzt hier sein Gedankenmodell des Urzustandes als Begründungsmodus ein (vgl. Rawls 1993, 34–39). Die Begründung muss dabei bestimmten Anforderungen genügen: in erster Linie muss sie dem universalistischen Kriterium der Verallgemeinerbarkeit dienen. Eng mit der Begründung verbunden ist auch die Sicht auf die Mitglieder einer Gesellschaft: Was kennzeichnet sie? Welche Eigenschaften kommen ihnen im Rahmen einer Sozialanthropologie und -psychologie zu? Und schließlich nehmen die meisten Gerechtigkeitsdenker*innen Bereiche der konkreten Anwendung und Umsetzung von Gerechtigkeit in den Blick. Entsprechend der funktionalen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften sowie angesichts zunehmender gerechtigkeitsethischer Herausforderungen in Bereichen, die in früheren Zeiten nicht im Blick waren oder noch nicht existierten (z. B. der Klimawandel, Digitalisierung oder eine Pandemiesituation) haben sich die Kontexte der Gerechtigkeit vervielfacht. Im Grunde genommen gibt es keinen gesellschaftlichen Handlungsbereich, der nicht von gerechtigkeitsethischer Relevanz ist. Das Gerechtigkeitsdenken hat somit mindestens zwei Dimensionen: Zum einen die theoretisch-begriffliche Grundlegung und Erneuerung, zum anderen die Entwicklung von gerechtigkeitsethischen Perspektiven für konkrete gesellschaftliche Bereiche und Handlungsfelder (Bildung, Gesundheitswesen, Migration usw.).

Gerechtigkeitstheorien der Gegenwart In ihrer Schrift Grenzen der Gerechtigkeit notiert die amerikanische Philosophin und Literaturwissenschaftlerin Martha C. Nussbaum in ihrer Einleitung eine hermeneutische Kriteriologie für Gerechtigkeitstheorien. Sie schreibt: „Theorien der sozialen Gerechtig-

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keit sollen abstrakt sein. Sie sollten eine Allgemeinheit und theoretische Kraft besitzen, die ihnen über die politischen Konflikte ihrer Zeit hinaus Gültigkeit verleihen, selbst wenn sie aus solchen Konflikten entstehen. Auch für politische Rechtfertigung ist diese Art von Abstraktion erforderlich: Um eine politische Theorie zu rechtfertigen, müssen wir zeigen können, dass sie auch längerfristig Stabilität besitzt und von den Bürgerinnen und Bürgern nicht allein aus im engen Sinn auf die Selbsterhaltung ausgerichteten oder instrumentellen Gründen unterstützt wird. Ob eine Theorie diesen Anspruch erheben kann, lässt sich aber nur entscheiden, wenn wir vom unmittelbaren Geschehen Abstand nehmen. Andererseits müssen Theorien der sozialen Gerechtigkeit auch auf die Gegenwart und ihre drängendsten Probleme eingehen. Sie müssen in ihren Formulierungen und sogar in ihren Strukturen für Veränderungen offenbleiben, wenn diese aufgrund von neuen oder bereits bekannten, bisher aber sträflich vernachlässigten Problemen notwendig werden“ (Nussbaum 2010, 3). Damit sind sehr prägnant Intention und Zielsetzung von Theorien der Gerechtigkeit, aber auch die Anforderungen an diese benannt. John Rawls gilt nun als der Gerechtigkeitsphilosoph des 20. Jahrhunderts; wer immer über Gerechtigkeit nachdenkt und schreibt wird an Rawls nicht vorbeikommen. Und viele seiner Schülerinnen und Schüler wurden ebenfalls namhafte Gerechtigkeitsdenker*innen. Mit seiner Theorie der Gerechtigkeit von 1971 hat Rawls (Rawls 1993) nicht nur zu einer normativen Wiederbelebung der politischen Philosophie beigetragen, sondern auch die bis heute währende politisch-ethische Dominanz des Gerechtigkeitsdenkens begründet. Im Mittelpunkt seiner Theorie, die vor allem gegen den Utilitarismus gerichtet ist und begründungsgrammatisch in der Tradition des Vertragsdenkens zu verorten ist, stehen zwei Grundsätze der Gerechtigkeit. Der erste lautet: „Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das

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mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.“ Und der zweite: „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offenstehen“ (Rawls 1993, 81). Zur Begründung der beiden Grundsätze der Gerechtigkeit wird – in Anlehnung an die neuzeitlichen Vertragstheorien – ein hypothetischer Urzustand gedacht, dessen Entscheidungsakteure sich bei Interessenkonflikt und -harmonie in Unkenntnis ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situierung (unter dem „Schleier des Nichtwissens“) auf diese beiden Gerechtigkeitsgrundsätze verständigen. Das heißt, wenn niemand seine/ihre ihre gesellschaftliche Stellung, Geschlecht, Beruf etc. kennt, würden sie sich vernünftigerweise auf die genannten Prinzipien einigen. Und mit diesen lässt sich eine Gesellschaft gerecht gestalten. Eine dezidierte Gegenposition zum Rawlsschen Entwurf vertritt u. a.Michael Walzer, der die Konzeption einer Sphärengerechtigkeit entwickelt hat: Gesellschaftliche Sphären sind gerade unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten als getrennt zu betrachten und jeweils für die Generierung eigener Kriterien und Prinzipien der Gerechtigkeit zuständig. In seinen Sphären der Gerechtigkeit geht es Walzer folglich um den Nachweis, „dass die Prinzipien der Gerechtigkeit ihrerseits in ihrer Form selbst pluralistisch sind, dass die verschiedenen Sozialgüter aus unterschiedlichen Gründen von verschiedenen Agenten und Mittlern auf der Basis unterschiedlicher Verfahren verteilt werden sollten; und dass alle diese Unterschiede sich herleiten aus den unterschiedlichen Bedeutungen der Sozialgüter selbst – dem unvermeidbaren Resultat eines historischen und kulturellen Partikularismus“ (Walzer 1994, 40). Die Kritik an der Dominanz und Herrschaft eines singulären Gutes führt zu einem offenen Distributionsprinzip und zu Walzers gerechtigkeitsethischer Kernaussage: „Kein soziales Gut X sollte ungeachtet einer Bedeutung an Männer und Frauen, die im Besitz eines anderen Gutes Y sind, einzig und allein deshalb [an sie] ver-

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teilt werden, weil sie dieses Y besitzen“ (Walzer 1994, 50). Mit anderen Worten: Das normative Postulat der „komplexen Gleichheit“ fordert ein Arrangement der gesellschaftlichen Institutionen, das verhindert, dass Menschen mit mehr Geld, mehr Macht oder mehr Wissen als andere, allein aufgrund von Vorteilen, die aus dieser Ungleichheit hervorgehen, sich überdies in den Besitz eines jeden anderen Gutes bringen können (vgl. Walzer 1994, 12). Einen wiederum anderen Ansatz vertreten Amartya Sen und die bereits erwähnte Martha C. Nussbaum. Sie favorisieren den sogenannten Fähigkeitenansatz (capability-approach), demzufolge soziale Gerechtigkeit in Abhängigkeit von der Ermöglichung und Entwicklung menschlicher Grundfähigkeiten zu sehen ist. Zu diesen zählen unter anderem: Leben, Gesundheit, Obdach, Leidvermeidung, Bildung und Kreativität, Gemeinschaft, Verbundenheit mit der natürlichen Mitwelt, Autonomieverwirklichung (vgl. Nussbaum 1999, 200 f.; Nussbaum 2010; Sen 2000; Sen 2010). Die ‚capabilities‘ ermöglichen Handeln und Wahlfreiheit. Eine wichtige Leitfrage ist daher, welche sozialen Arrangements tatsächlich in der Lage sind, Menschen reale Freiheiten zu eröffnen. Adressat der Theorie ist daher der Staat, der diese Arrangements bereitzustellen und somit Freiheit zu ermöglichen hat. Insbesondere bei Nussbaum spielen auch feministisch-ethische Aspekte und Fragen der Gendergerechtigkeit eine entscheidende Rolle. Im deutschen Sprachraum zählt vor allem Otfried Höffe zu den herausragenden politischen Philosophen der Gerechtigkeit. Sein Augenmerk liegt zum einen auf der Konzeption und Begründung einer politischen Gerechtigkeit sowie die Idee der Gerechtigkeit als transzendentaler Tausch – etwa als Verpflichtungen zwischen Generationen; überdies betont Höffe immer wieder die enge Verbindung von Gerechtigkeit und Recht, auch in globaler Perspektive (vgl. Höffe 1989; Höffe 2001). Unterschiedlich ausgeprägt ist bei den genannten Gerechtigkeitsdenker*innen die Aufmerksamkeit und ihr Interesse für Fragen der globalen Gerechtigkeit.

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Gleichheit als moralisches Prinzip In den meisten Gerechtigkeitstheorien kommt dem Prinzip der Gleichheit eine tragende Rolle zu. Trifft dies zu, so ist von egalitaristischen Ansätzen die Rede. Tritt hingegen der Gleichheitsaspekt in den Hintergrund, so haben wir es mit nonegalitaristischen Ansätzen zu tun (vgl. Krebs 2000, 7–16). Tatsächlich stellt der Gedanke der Gleichheit eine der ersten Gerechtigkeitsintuitionen dar; er begleitet die ideengeschichtliche Entwicklung der Gerechtigkeit seit der griechischen Antike. Doch scheint es mit dem Prinzip der Gleichheit komplizierter zu sein, als dies der erste Eindruck vermittelt. Weithin unstrittig ist seit der Neuzeit die gleiche Achtung aller Menschen, sprich die Anerkennung der Gleichheit ihrer Würde und das damit verbundene Verbot einer Ungleichbehandlung, die den Einzelnen benachteiligt – und zwar aus Gründen, die für die moralische Bewertung einer Person irrelevant sind. Dazu zählen ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion, Alter, sexuelle Orientierung, Behinderung oder die soziale Position. Der Art. 3 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes (und in ähnlicher Weise auch Art. 20 der EU-Grundrechte-Charta) formuliert: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“. In liberalen Demokratien ist zudem die Gleichheit aller Staatsbürger*innen mit Blick auf das politische Mitwirkungsrecht unstrittig. Doch bedeutet das Gebot der gleichen Achtung und Berücksichtigung nicht, dass daraus kategorisch stets und in jeder Hinsicht eine formale Gleichbehandlung folgen muss. Güterverteilungen bringen es mit sich, dass individuelle, soziale oder strukturelle Besonderheiten zu beachten sind. Rawls bringt Gleichheit in seiner Theorie der Gerechtigkeit in unterschiedlicher Weise ins Spiel. Eine zentrale Bedeutung erhält Gleichheit in Verbindung mit Rawls’ Grundsätzen der Gerechtigkeit. Diese sind Ausdruck einer egalitären Gerechtigkeitsauffassung. Bekanntermaßen gelten die Grundfreiheiten des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes für alle Bürger*innen einer Gesellschaft in gleicher Weise. Mit aus-

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führlichen Überlegungen zum Differenzprinzip und dessen Wirkungen hebt Rawls hervor, dass unverdiente Ungleichheiten im Sinne eines Ausgleichsprinzips ausgeglichen werden müssen (vgl. Rawls 1993, 121–128). Ein anderer Zusammenhang, in dem die Frage nach der Gleichheit eine Rolle spielt, ist Rawls’ Konzeption der formalen Gerechtigkeit: Mit dieser ist die strikte Beachtung von prozeduralen Prinzipien gemeint. Die formale Gerechtigkeit fordert mit Blick auf Gleichheit letztlich, dass Gesetze und Institutionen in gleicher Weise auf die jeweilige Zielgruppe bzw. Adressatenschaft anzuwenden sind. Allerdings sei die postulierte formale Gleichbehandlung gleicher Fälle noch keine hinreichende Bedingung für materiale Gerechtigkeit; diese werde erst durch die Anwendung seiner beiden Gerechtigkeitsgrundsätze gewährleistet (vgl. Rawls 1993, 79 f.; Frühbauer 2007, 66 f.). In der Auseinandersetzung mit Rawls ist unter anderem vom Glücksegalitarismus die Rede. Dieser bezieht sich in Verbindung mit Rawls auf die gerechtigkeitsethische Intention, das individuelle Glück der Lebenssituation, der nicht gewählten Umstände oder unterschiedliche Begabungen oder Fertigkeiten, die jenseits der Verantwortung des Einzelnen liegen etwa durch eine entsprechende Verteilung von Grundgütern ausgleichen zu wollen (vgl. Krebs 2000, 12). Eine wesentliche Herausforderung bei der Thematisierung von Gleichheit besteht darin, dass der Gedanke der Gleichheit zunächst inhaltsoffen ist, was die Rückfrage nach sich zieht, worauf sich die Gleichheit bezieht. Und die erwähnte Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz zielt auch nicht auf die faktische Gleichheit der Menschen in unterschiedlichen Belangen. Denn es gibt unterschiedliche Auffassungen, wer – je nach Kontext oder Bezug – zur Gruppe der Gleichen gehört. Bürgerrechte sind zunächst Anspruchsrechte von Bürger*innen eines bestimmten Staates. Und gerade mit Blick auf die Bevölkerung eines Staates machen sich Ungleichheiten bemerkbar, die oftmals mit dem Status einer Person verbunden sind. Hier tritt dann die Frage nach der Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft zutage, wie sie insbesondere in den migrationsethischen Debatten

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der letzten Jahre immer wieder problematisiert wurde. Überdies gibt es in gerechtigkeitsethischen Entwürfen gegenüber dem Gleichheitsprinzip dezidiert kritische Ansätze, nicht zuletzt, wenn es um die Kollision mit dem Prinzip der Freiheit geht. Freiheit ist zwar unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten immer gleiche Freiheit und Gleichheit und Freiheit stehen im Kontext der Grundrechte in einem Sinnzusammenhang (vgl. Özmen 2013, 53). Aber die Ausübung bzw. praktische Konkretisierung von Freiheit kann durchaus zu Ungleichheiten führen. Gerechtigkeitsethische Diskurse haben aufzuzeigen und zu begründen, welche Gleichheit gefordert, anzustreben oder wiederherzustellen ist und welche Ungleichheiten gerade auch unter Gerechtigkeitsaspekten zulässig sind. Zur Veranschaulichung von Gleichheitsansätzen sollen exemplarisch vier konkrete, allerdings sehr unterschiedliche Ansätze skizzenhaft ins Spiel gebracht werden. Ein erster Blick gilt der Idee der komplexen Gleichheit bei Michael Walzer (*1935). Walzer, der seine Gerechtigkeitstheorie explizit als Kontrapunkt zu Rawls’ Gerechtigkeitsdenken sieht, spricht sich zwar gegen eine einfache Gleichheit bzw. repressive Gleichheit aus, dennoch prägt er den Begriff der komplexen Gleichheit. Das System der komplexen Gleichheit „erzeugt ein Netz von Beziehungen, das dominante Vorherrschaft verhindert. Formal gesprochen bedeutet komplexe Gleichheit, dass die Position eines Bürgers in einer bestimmten Sphäre hinsichtlich eines bestimmten sozialen Guts nicht unterhöhlt werden kann durch die Stellung in einer anderen Sphäre oder hinsichtlich eines anderen sozialen Guts“ (Walzer 1994, 49). Komplexe Gleichheit kennzeichnet mithin „eine gesellschaftliche Situation, in der keine Gruppe von Ansprüchen (und Anspruchsinhabern) alle verschiedenen Verteilungsprozesse beherrscht. Kein einzelnes Gut wird über all die anderen Güter bestimmen, so dass sein Besitz alle anderen nach sich zöge“ (Walzer 1994, 49). Mit anderen Worten: Das normative Postulat der komplexen Gleichheit fordert ein Arrangement der gesellschaftlichen Institutionen, das verhindert, dass Menschen mit mehr Geld, mehr Macht oder mehr Wissen als andere, sich allein aufgrund einer die-

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ser Ungleichheit generierenden Vorteile in den Besitz eines jeden anderen Gutes bringen können (vgl. ebd., 12). Somit kommt der Forderung nach komplexer Gleichheit eine präskriptive Qualität zu (vgl. ebd., 12, 58 f.). Eine privilegierte soziale Position darf ein Mitglied der Gesellschaft nicht allein aufgrund dieser Privilegierung in eine weitere Vorteilsposition bringen. Vorrangig geht es bei dem Konzept der komplexen Gleichheit folglich um die Reduzierung und Unterbindung einer asymmetrisierenden Dominanzdynamik. Ronald Dworkin (1931–2013), der insbesondere mit seinem Standardwerk zu Bürgerrechten Aufmerksamkeit auf sich zog (vgl. Dworkin 1990), betrachtet Gleichheit als ein populäres und zugleich rätselhaftes politisches Ideal. In seiner Schrift Was ist Gleichheit? (Dworkin 2011) geht er Frage nach, welche Art von Gleichheit letztendlich wichtig sei. Dabei betont er, dass ein Unterschied darin bestehe, ob man Menschen hinsichtlich irgendeines materiellen Gutes oder einer Chance gleichbehandelt oder ob man sie als Gleiche behandelt (Dworkin 2011, 7). In seinen Überlegungen zur Gleichheit unterscheidet er in erster Linie zwischen einer Wohlergehensgleichheit und einer Ressourcengleichheit. Unter Wohlergehensgleichheit ist ein Verteilungssystem zu verstehen, welches die Menschen dann als Gleiche behandelt, wenn es die Ressourcen zwischen ihnen so lange verteilt oder umverteilt, bis keine weitere Umverteilung die Menschen im Niveau ihres Wohlergehens gleicher machen könnte (vgl. ebd. 8) Mit Ressourcengleichheit ist bei Dworkin ein Verteilungssystem gemeint, das die Menschen dann als Gleiche behandelt, wenn es so lange verteilt oder umverteilt, bis keine weitere Umverteilung ihren jeweiligen Anteil an Ressourcen gleicher machen könnte. Dworkin betont dabei, dass sowohl hinsichtlich des Begriffs des Wohlergehens Klärungsbedarf besteht als auch darüber, was als Ressourcengleichheit gelten könne (vgl. ebd., 8). Darüber hinaus thematisiert Dworkin in seinen Überlegungen die Idee der politischen Gleichheit, die er mit der gleichen Möglichkeit zur politischen Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern verbunden sieht (vgl. ebd. 249–285). Der Philosoph Harry Frankfurt (*1929) erscheint zwar

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in der Regel nicht in der Reihe der Gerechtigkeitsdenker*innen der Gegenwart und dennoch hat er mit seiner Kritik des ökonomischen Egalitarismus (Frankfurt 2016) einen interessanten, gerechtigkeitsethisch relevanten Ansatz vorgelegt. Bereits in seinem Beitrag mit dem Titel „Gleichheit und Achtung“ bestreitet Frankfurt rigoros den moralischen Wert von Gleichheit und äußert seine Skepsis gegenüber ihrer Anwendbarkeit und Praktikabilität zur Lösung sozialpolitischer Herausforderungen (vgl. Frankfurt 2000). Seine Kritik der Gleichheit hat Frankfurt in einer späteren Publikation in einer ökonomischen Perspektive konkretisiert. Aus seiner kategorischen Ablehnung des Gleichheitsprinzips folgt jedoch nicht, dass er blind oder indifferent gegenüber bestehenden Ungleichheiten wäre: „Wenn ökonomische Ungleichheit nicht wünschenswert ist, so liegt dies jedoch nicht daran, dass sie moralisch verwerflich wäre. Ökonomische Ungleichheit als solche ist moralisch nicht verwerflich. (…) Wirklich unerwünscht ist sie, insofern, als sie fast unausweichlich dazu neigt, unannehmbare Ungleichheiten anderer Art zu erzeugen“ (Frankfurt 2016, 7 f.). Die unannehmbaren Ungleichheiten bedrohen – so wird dies ja auch von anderer Seite artikuliert – die Ernsthaftigkeit des demokratischen Selbstverständnisses. Daher müssen sie „im Rahmen einer angemessenen gesetzgeberischen, ordnungspolitischen, gerichtlichen und exekutiven Kontrolle eingeschränkt oder verhindert werden“ (ebd., 8). Frankfurts Kritik des ökonomischen Egalitarismus lautet: Ökonomische Gleichheit ist von einem moralischen Standpunkt aus nicht wichtig; daher sollten unsere moralischen und politischen Konzepte darauf abzielen, sicherzustellen, dass Menschen über hinreichende Mittel verfügen (vgl. ebd., 9). Das Problem ist nicht die Ungleichheit an sich, sondern die weitverbreitete und zunehmende Armut. Für Frankfurt, und das ist seine zentrale These, ist es aus moralischer Perspektive nicht wichtig, dass jeder dasselbe hat. Was aus seiner Sicht moralisch zählt, ist, dass jeder genug hat. Gemäß dem Suffizienzprinzip gilt, dass in Sachen Geld moralisch nur von Bedeutung ist, dass jeder genug davon hat (vgl. ebd., 18). Schlussendlich geht es Frankfurt also in erster

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Linie nicht um ökonomische Gleichheit, sondern um die Umsetzung des Suffizienzprinzips. Das führt notwendigerweise dazu, dass die verfügbaren Ressourcen umverteilt werden müssen, damit die Lebensbedingungen der Armen verbessert werden. Nebeneffekt, und nicht Ziel, ist dabei, dass damit auch ein Schritt in Richtung mehr ökonomische Gleichheit getan wird. Armut zu reduzieren ist für Frankfurt nicht gleichzusetzen mit der Verringerung von Ungleichheit. Moralisch bedeutsam ist und bleibt für Frankfurt, ob das Ideal der Suffizienz beachtet oder missachtet wird (vgl. ebd., 51–53). Der jüngste Ansatz zur Idee der politischen Gleichheit stammt von Danielle Allen, einer amerikanischen Philosophin (Allen 2022). In ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Rawls legt sie dar, dass es bei dem normativen Postulat der Freiheit vor allem auf politische Gleichheit ankomme, die in einer demokratischen Gesellschaft mit starken sozialen Bindungen eine Grundvoraussetzung für politische Partizipation sei. Allen hat dabei nicht nur das Verhältnis von negativen und positiven Rechten im Blick, ihr geht es mit einer machtkritischen Perspektive auch um konkrete sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern (vgl. Allen 2022).

Die Kritik der Ungerechtigkeit Die Forderungen nach Gerechtigkeit entspringen nicht zuletzt der Erfahrung von Unrecht und Ungerechtigkeit. Bemerkenswerterweise kommt der Begriff der Ungerechtigkeit oder die Frage nach ihr nur selten und wenn doch, dann oftmals nur marginal, in den Abhandlungen und Theorieentwürfen zur Gerechtigkeit vor. So erscheint Ungerechtigkeit lediglich als eine Begleiterscheinung zur Gerechtigkeit sowie als ein von ihr abgeleiteter Begriff. Dabei wird ignoriert oder übersehen, dass die seit Jahrzehnten anhaltende Dominanz der Gerechtigkeitsfrage in der politischen Philosophie ihren Grund letztlich im häufigen Vorkommen lokaler wie globaler Ungerechtigkeitsphänomene hat (vgl. Flügel-

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Martinsen/Martinsen 2016). Insofern ist es überraschend, dass eine eigenständige systematische und grundlegende Reflexion auf Ungerechtigkeit  eher selten stattfindet. Doch bleibt Ungerechtigkeit keineswegs völlig unerwähnt, sie wird nicht gänzlich ignoriert. Im späten 20. Jahrhundert finden sich beispielsweise zwei amerikanische Philosophinnen, die die Frage nach Ungerechtigkeit bzw. Unrechtserfahrungen zum Ausgangspunkt ihrer Denkansätze gemacht haben: Das ist zum einen Judith Shklar (1928–1992), die der Thematik der Ungerechtigkeit eine eigene Monographie gewidmet hat (vgl. Shklar 1992), und zum anderen ist dies Iris M. Young (1949–2006). Shklar zufolge werde über Ungerechtigkeit in herkömmlichen Gerechtigkeitstheorien zu wenig nachgedacht, wenngleich sie selbst in ihrer Schrift aufzeigt, dass es Reflexionen über Ungerechtigkeit durchaus auch in den großen Texten der politischen Ideengeschichte gebe (vgl. Shklar 1992, 139  ff.; vgl. Flügel-Martinsen/Martinsen 2016, 54). Das Gerechtigkeitsdenken sei oft zu idealistisch-theoretisch und begründungsorientiert angelegt. Keines der üblichen Modelle liefere eine angemessene Beschreibung von Ungerechtigkeit (vgl. Shklar 1992, 19). Folglich vermerkt Shklar kritisch, dass Ungerechtigkeit als unterbelichteter Begriff in der politischen Philosophie zu kennzeichnen sei. Zur Veranschaulichung: In ihren Überlegungen geht sie etwa auf die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Unglück und Ungerechtigkeit ein (vgl. Shklar 1992, 95 ff.). So könne beispielsweise der Verlust des Arbeitsplatzes entweder als persönliches Unglück oder als soziale Ungerechtigkeit charakterisiert werden. Diese Unterscheidung zwischen Unglück und Ungerechtigkeit als politische Entscheidung finde ihre Entsprechung in der Unterscheidung zwischen den Begriffen des Privaten und des Öffentlichen (vgl. Shklar 1992, 14 ff.). Überdies fordert Shklar ein, dass man sich mit der Rolle politischer Akteure im umfassenden Sinn zu beschäftigen habe – konkret mit der Frage, wie wir uns als Bürger*innen im Gemeinwesen überhaupt engagieren. Shklar prägt zudem den Be-

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griff der „passiven Ungerechtigkeit“. Demnach haben all jene Bürgerinnen und Bürger als passiv ungerecht zu gelten, die ihre Rolle zu eng auslegen und sich aus Bequemlichkeit, Desinteresse oder ähnlichen Motiven abwenden, obwohl sie Opfer von Strukturen oder Situationen aktiv unterstützen könnten. Passiv ungerecht sind wir demnach, wenn wir der Ungerechtigkeit nicht entgegentreten, obwohl wir es könnten. Shklar formuliert hier eine „politische Theorie des schlechten Bürgers“, die sich auf die politische Bequemlichkeitspraxis der Bürgerinnen und Bürger eines Gemeinwesens bezieht. Gegenüber einer zu wenig ausgeleuchteten Ungerechtigkeit, versteht sie die Aufgabe der Ungerechtigkeitstheorie darin, dass sie als komplementär gegenüber der Gerechtigkeitstheorie zu sehen ist. Vermittelst des Nachdenkens über Ungerechtigkeit sollen daher Gerechtigkeitstheorien nicht in Zweifel gezogen, sondern vielmehr ergänzt werden (vgl. Shklar 1992, 31 ff.). Im Unterschied zu Shklar ist Young radikaler. Sie betont, dass die Reflexion über Ungerechtigkeiten nicht einfach eine notwendige Ergänzung des gängigen Gerechtigkeitsdenkens darstelle. Stattdessen erhebt Young den grundlegenden Vorwurf, dass die Diskurse über Gerechtigkeit insgesamt fehlgeleitet seien, weil sie die Gerechtigkeit entweder überhaupt nicht oder in einem viel zu geringen Maße von der Ungerechtigkeit aus in den Blick nehmen. Ihr geht es nicht bloß um eine Erweiterung des Blickwinkels, sondern letztlich um eine gänzliche Neuausrichtung (vgl. Young 1996, 99–139). Das Diagnostizieren von Phänomenen der Ungerechtigkeit erscheint für Young plausibler als die positive Benennung von Kriterien der Gerechtigkeit. Ihre Kritik am herkömmlichen Gerechtigkeitsdenken richtet sich gegen das liberale Verteilungsparadigma: Bei diesem werden Individuen als abstrakte Anspruchsberechtigte behandelt, ohne dass ihre kontextuellen und interaktionalen Bezüge und Beziehungen sowie die damit verbundenen Macht- und Hierarchieverhältnisse angemessen berücksichtigt würden. Individuen sind eingebettet in ­gesellschaftliche Handlungszusammenhänge, die sich nicht al-

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lein unter dem Gesichtspunkt der Verteilungsgerechtigkeit erfassen lassen (vgl. Flügel-Martinsen/Martinsen 2016, 54). Gerechtigkeit soll sich auch auf die institutionellen Bedingungen beziehen, „die für die Entwicklung und Ausübung individueller Fähigkeiten sowie für die kollektive Kommunikation und Kooperation notwendig sind“ (vgl. Young 1996, 99). Die phänomenologisch erfassbaren Dimensionen von Ungerechtigkeit versteht Young vornehmlich als Unterdrückung in einem strukturellen Verständnis. Und ihre These lautet, „dass Unterdrückungsverhältnisse sich gerade nicht als binäre Beziehungsstrukturen von Unterdrückern versus Unterdrückten klassifizieren lassen, sondern dass die meisten Formen der Ungerechtigkeiten darin bestehen, dass Individuen als Angehörige bestimmter Gruppen von für das kapitalistische Gesellschaftssystem charakteristischen strukturellen Benachteiligungen betroffen sind“ (vgl. Flügel-Martinsen/Martinsen 2016, 57). Konkret kritisiert Young fünf Unterdrückungsformen, die zu Ungerechtigkeiten führen: Ausbeutung als zentrales Merkmal moderner Arbeitsprozesse, gesellschaftliche und arbeitsbezogene Marginalisierung von bestimmten Personengruppen und deren politischer Machtlosigkeit aufgrund fehlender Partizipationsmöglichkeiten, Kulturimperialismus durch Universalisierung der Werte, der Erfahrungen und der Kultur der herrschenden Gruppe in einer Gesellschaft, wodurch andere Gruppen entweder unsichtbar gemacht oder (abwertend) als das Andere gekennzeichnet werden, und schließlich Gewalt als Form sozialer Praxis und systemischer Wirkung gegenüber Angehörigen einer bestimmten Gruppe allein aufgrund des bloßen Merkmals dieser Zugehörigkeit (vgl. Young 1996, 99–139, 112–133). Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob sich die Konzentration auf Ungerechtigkeit, die in der politischen Philosophie nur marginal vorkommt und eher eine Ausnahme darstellt, tatsächlich auf eine Skepsis gegenüber positiven Gewissheiten zurückführen lässt, die Gerechtigkeitstheorien nicht nur zu erreichen suchen, sondern deren Möglichkeit sie auch voraussetzen müssen,

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um überhaupt eine positiv auszeichnende Konzeption der Gerechtigkeit formulieren zu können (vgl. Flügel-Martinsen/Martinsen 2016, 54). Die Überlegungen zusammenfassend lässt sich sagen: Die Frage nach Gerechtigkeit sollte verstärkt von der Erfahrung und Perspektive der Ungerechtigkeit hergestellt werden und in der Theoriebildung substanzielle Berücksichtigung finden. Erst tatsächlich vorhandene und erfahrbare Ungerechtigkeiten lösen die Forderung nach (mehr) Gerechtigkeit aus und nach der Beseitigung der Ursachen für Ungerechtigkeiten.

Soziale Ungleichheiten als gesellschaftliches Faktum Von der Erfahrung der Ungerechtigkeit allgemein zu unterscheiden sind – trotz vorhandener Zusammenhänge – empirisch erfassbare Ungleichheiten in der Gesellschaft. Ungleichheit wird vor allem dann zum Reflexionsgegenstand, wenn von deutlich wahrnehmbaren Ungleichheiten in einer Gesellschaft die Rede ist, wie sie uns etwa seit langem mit dem Bild der Schere, die sich zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet, eindrücklich nahegebracht werden. Ungleichheiten dieser und anderer Art lösen ein Unbehagen aus und bestimmen in verstärktem Maße die politische Debatte vor allem um die sozialen Kontexte von Arbeit, Bildung, Gesundheit und zur Frage der gesellschaftlichen Teilhabe. Nicht von ungefähr haben sich Begriffe wie Bildungsgerechtigkeit, Gerechtigkeit in der medizinischen Grundversorgung, gerechter Lohn oder Beteiligungsgerechtigkeit etabliert. Wenn wir über das Prinzip der Gleichheit nachdenken, so finden wir uns ziemlich unvermittelt im Spannungsfeld zweier Pole wieder. Auf der einen Seite identifizieren wir unverzichtbare Gleichheitsforderungen, die uns zur Selbstverständlichkeit geworden sind: Etwa die Forderung nach Gleichheit vor dem Gesetz oder nach politischer Gleichheit der bürgerlichen Grundfreiheiten, wie sie als Errungenschaften der europäisch-westlichen Moderne gelten und substanziellen Eingang in

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Menschenrechtskataloge und Verfassungstexte gefunden haben. Auf der anderen Seite kommen wir nicht umhin einzugestehen: In allen Gesellschaften gibt es Ungleichheiten, die als unvermeidbar erscheinen oder es faktisch sind und die nicht immer per se mit dem Attribut ‚ungerecht‘ zu charakterisieren sind. Geht man von der Intuition zur Reflexion über, dann gelangen wir zu grundlegenden Fragen: Wie gleich muss Gleichheit tatsächlich sein? Und wie ungleich dürfen Ungleichheiten wirklich sein? Allerdings gibt es auf diese Fragen weder eine schnelle noch eine stets eindeutige und unumstrittene Antwort. Blicken wir auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten, so kommt sozialempirisch niemand an den Realitäten der Ungleichheit vorbei. Prima facie nehmen wir Ungleichheit wahr als Verschiedenheit, und zwar zumeist und zunächst als binäre Verschiedenheit: Mann/Frau, jung/alt, reich/arm, frei/unfrei, gebildet/ungebildet, behindert/nicht behindert, weiß/people of colour, beschäftigt/arbeitslos, erfolgreich/ gescheitert etc. Diese Verschiedenheiten sind zum Teil natürlich bzw. biologisch bedingt, und wir können sie äußerlich wahrnehmen, sie sind zum Teil aber auch sozial generiert oder durch Schicksal und Unglück verursacht. Die verschiedenen Entstehungsfaktoren bzw. -ursachen von Ungleichheit legen nahe, dass es zum Abbau, zur Minderung oder zur Vermeidung von biologisch bedingter, gesellschaftlich generierter oder schicksalhaft verursachter Ungleichheit unterschiedlicher Konzepte bedarf. Umstritten ist dabei vor allem, inwiefern bzw. in welchem Umfang es der Solidarität der Mitglieder einer Gesellschaft oder dem Handeln sowie der institutionellen Arrangements des Staates obliegt, Maßnahmen gegen Ungleichheiten zu ergreifen, die entweder natürlich, schicksalhaft oder möglicherweise auch selbstverschuldet sind. Nimmt man nicht generell Verschiedenheiten in den Blick, sondern begrenzt die Wahrnehmung und den Diskurs auf sogenannte soziale Ungleichheiten, dann lässt sich von folgendem Grundverständnis ausgehen: Soziale Ungleichheit kennzeichnet die Situation von Menschen, die im Vergleich miteinander nicht einfach in einer bestimmten Hinsicht ver-

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schiedenartig, sondern faktisch als besser oder schlechter, höher oder tiefer gestellt, als privilegiert oder benachteiligt anzusehen sind. Diese komparativen und explizit oder implizit wertenden Differenzierungen nennt der Soziologe Stefan Hradil „Erscheinungen sozialer Ungleichheit“ (Hradil 2001, 27). Von diesen ausgehend entfaltet Hradil drei begriffliche Komponenten: Erstens bezieht sich soziale Ungleichheit auf solche Güter, die als gesellschaftlich wertvoll erachtet werden: Je mehr der Einzelne von diesen wertvollen Gütern besitzt, desto günstiger sind seine Lebensbedingungen. „Wertvolle Güter“ sind in den Wertvorstellungen und partikulären Zielvorstellungen eines guten Lebens einer Gesellschaft verankert (vgl. ebd. 28). Zweitens verbindet sich mit dem Begriff der sozialen Ungleichheit eine Vorstellung davon, wie die „wertvollen Güter“ unter den Mitgliedern einer Gesellschaft verteilt sein müssen, um im Ergebnis der Verteilung als ungleich zu gelten. Drittens umfasst soziale Ungleichheit nur jene „wertvollen Güter“, die aufgrund der Stellung von Menschen in gesellschaftlichen Beziehungsgefügen auf regelmäßige Weise (absolut) ungleich verteilt werden. Nicht alle Vor- und Nachteile, nicht alle Besser- bzw. Schlechterstellungen usw. sind Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit, sondern nur jene, die in gesellschaftlich strukturierter, vergleichsweise beständiger und verallgemeinerter Form zur Verteilung kommen (vgl. ebd., 28). Wenngleich etwa ein Lottogewinn oder eine Erbschaft zu plötzlichem Reichtum führen kann und im interpersonalen Vergleich zweifelsohne Ungleichheit erzeugt, so weist das dritte Kriterium diesen Sachverhalt als irrelevant für die Erfassung sozialer Ungleichheit aus. Infolgedessen gelten der soziologischen Begriffsbestimmung zufolge natürliche, individuelle, momentane und zufällige Ungleichheiten nicht per se als soziale Ungleichheiten. Diese definitorische Abgrenzung darf jedoch nicht dazu führen, den Blick für das Zusammenwirken und die vielfach mögliche Verschränkung natürlicher, individueller, momentaner oder zufälliger Ungleichheit mit sozialen, strukturierten Ungleichheiten zu verlieren. Wo nun die Soziologie an die Gren-

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zen ihrer Kompetenz bzw. der ihr zugewiesenen Aufgabenerfüllung stößt, sind andere Disziplinen wie politische Philosophie und Sozialethik in der Pflicht, zum einen auf der Grundlage der empirischen Erkenntnisse, zum andern über die empirische Identifizierung von Problemlagen und deren instruktive Differenzierung hinaus analytisch, kritisch und normativ zu wirken (vgl. Krebs 2000).

Globale Gerechtigkeit Obwohl mit ihrer Deklaration aus dem Jahr 1948 Menschenrechtsfragen auf der internationalen Agenda stehen, obwohl bereits seit den 1970er Jahren und in der Folgezeit Bezeichnungen wie „Eine Welt“, „Nord-SüdDialog“, „Interdependenztheorie“ oder „Entwicklungspolitik“ sowie in Verbindung damit ein entwicklungsethisches Denken aufkamen, und obwohl in den 1990er Jahren der inzwischen vielfältige Diskurs zu einer „Weltmoral“ entstanden ist, wird – zumindest im deutschsprachigen Diskurs – in der politischen Ethik über „globale Gerechtigkeit“ erst in der jüngeren Vergangenheit ausdrücklich nachgedacht und systematisch dazu gearbeitet (vgl. Hahn 2009; vgl. Hahn/Broszies 2010; vgl. Hahn 2016). Zuweilen ist auch von „transnationaler Gerechtigkeit“ die Rede – ein Begriff, der jedoch im Diskus kaum gebräuchlich zu sein scheint. Vor allem im Zuge einer sich beschleunigenden Globalisierung führte die Tatsache, dass wir mehr und mehr mit weltumgreifenden Problemen und insbesondere enormen Ungleichheiten konfrontiert sind, zur Analyse und Reflexion globaler Gerechtigkeit. Zu diesen Problemen gehören konkret und in einfachen Schlagworten notiert Armut, Hunger, Gesundheitsfragen, Überbevölkerung, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, Umweltbelastungen und CO2-Ausstoß, Ressourcenübernutzung, Raubbau an Bodenschätzen. Unabhängig davon, wo wir wohnen und leben, gehen uns diese Probleme etwas an, entweder, weil wir von ihren ökonomischen, ökologischen oder politischen Folgen betroffen sind, oder

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weil sie uns moralisch betroffen machen. Die Fragen globaler Gerechtigkeit in den Blick zu nehmen, ist Henning Hahn zufolge kein Ausdruck einer moralisierenden Schwärmerei, sondern ein Erfordernis unserer Zeit und eine notwendige Reaktion auf die zunehmenden Verflechtungen unseres Zusammenlebens (vgl. Hahn 2009, 11). Wenn dabei von globaler Gerechtigkeit die Rede ist, so wird damit verdeutlicht, dass Gerechtigkeitsfragen letztlich keine Grenzen kennen. Hahn beschreibt globale Gerechtigkeit als ein neues Paradigma, bei dem nicht zuletzt der souveräne Nationalstaat mehr und mehr unter Druck gerate, was zu einer Verschiebung von internationaler zu globaler Gerechtigkeit führe (vgl. Hahn 2009, 11; Hahn 2016, 111). Wenngleich jegliche Theorie globaler Gerechtigkeit den Nationalstaat weiterhin als eine unverzichtbare Domäne der Gerechtigkeit anzuerkennen hat, übersteigen Herausforderungen wie Menschenrechtsverletzungen, Ressourcenverbrauch, Klimawandel, Waren- und Finanzmärkte oder Terrorismus die politische Regelungskompetenz einzelner Nationalstaaten. In seiner Auseinandersetzung mit dem Paradigma der globalen Gerechtigkeit unterscheidet Hahn eine moralische Gerechtigkeitskonzeption von einer politischen Gerechtigkeitskonzeption. Die moralische Gerechtigkeitskonzeption stellt ein Verständnis von Gerechtigkeit in den Mittelpunkt, derzufolge jede Form vermeidbaren menschlichen Leidens als ungerecht zu bezeichnen ist. Demgegenüber begreift die politische Gerechtigkeitskonzeption Ungerechtigkeit als ein ganz bestimmtes, durch politische Beziehungen, Interaktionen und Strukturen hervorgebrachtes Missverhältnis; diese bezieht sich daher auf solche Verhältnisse, die über spezifische politische Praktiken und Institutionen geregelt werden können. Hahn hierzu: „Ohne die Koordinierungsleistung politischer Institutionen ist eine nachhaltige Gerechtigkeitssicherung in komplexen Gesellschaften nicht zu gewährleisten. Und gerade die hochkomplexen Probleme globaler Gerechtigkeit verlangen nach institutionellen Lösungen“ (Hahn 2009, 15). Hahn zufolge haben viele der Gerechtigkeitsprobleme damit zu tun, dass die globale Arena rela-

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tiv schwach institutionalisiert sei. „Im Rahmen einer politischen Gerechtigkeitskonzeption bedeutet dies, dass Gerechtigkeit nicht nur ein normativer Prüfstein für bestehende Institutionen ist, ihre Funktion besteht ebenso darin, die Idee eines fair geregelten Miteinanders auch dort einzufordern, wo gerechtigkeitssichernde Institutionen fehlen. Die Funktion einer genuin politischen Gerechtigkeitskonzeption besteht somit auch darin, politische Akteure in die Pflicht zu nehmen und auf eine gerechte politische Ordnung hinzuwirken“ (Hahn 2009, 16). In enger Verbindung mit der Frage nach globaler Gerechtigkeit steht sowohl die Forderung nach globalen Gerechtigkeitspflichten als auch die Frage nach globaler Verantwortung: Wem kommt in welcher Weise eine globale Aufgaben- und Rollenverantwortung zu und wer ist aufgrund einer globalen Verantwortungszuschreibung zu welchem Handeln und zu welchen Maßnahmen verpflichtet? Die Theoriebildung hierzu stellt ein eigenes Diskursfeld dar und steht in der Frage nach globaler Verantwortung, insbesondere in ihrer institutionellen Dimension, erst in den Anfängen (vgl. Beck 2016).

Gerechtigkeitsherausforderungen und Zukunftsfragen Die Frage nach Gerechtigkeit bringt eine Vielzahl an Herausforderungen mit sich, die zum Teil vorausgehend thematisiert worden sind, die zum Teil, sofern hier nicht ausgeführt, als weiterführende und zu vertiefende Fragen zu formulieren sind. Hierzu zählt etwa das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Solidarität und zwischen Gerechtigkeit und weiteren Sozialprinzipien, das Faktum zunehmender globaler Ungleichheiten und ihrer Überwindung, das Verhältnis zwischen Frieden und Gerechtigkeit, eingehendere Fragen der Gendergerechtigkeit, Migration als gerechtigkeitsethische Herausforderung, die Relevanz der Gerechtigkeitsthematik für die Sustainable Development Goals der Agenda 2030 sowie Fragen des Klimawandels und der Generationengerechtig-

J. J. Frühbauer

keit. Jüngste politische Entwicklungen wie die Corona-Pandemie, die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf das Verständnis internationalen Rechts, auf Welternährung und internationale Energieressourcen etc. stellen neue Herausforderungen für das Gerechtigkeitsdenken dar und belegen, dass die Gerechtigkeitsethik durch Entwicklungen und unvorhersehbare Ereignisse in besonderer Weise provoziert werden kann.

Literatur Allen, Danielle: Politische Gleichheit. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2017. Berlin 2022. Beck, Valentin: Eine Theorie der globalen Verantwortung. Was wir Menschen in extremer Armut schulden. Berlin 2016. Broszies, Christoph/Hahn, Henning (Hg.): Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus. Berlin 2010. Dworkin, Ronald: Bürgerrechte ernst genommen. Frankfurt 1990. Dworkin, Ronald: Was ist Gleichheit? Berlin 2011. Flügel-Martinsen, Oliver/Martinsen, Franziska: Ungerechtigkeit. In: Anna Goppel/Corinna Mieth/Christian Neuhäuser (Hg.): Handbuch Gerechtigkeit. Stuttgart 2016, 53–59. Frankfurt, Harry G.: Gleichheit und Achtung. In: Angelika Krebs (Hg.): Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt 2000, 38–49. Frankfurt, Harry G.: Ungleichheit. Warum wir nicht alle gleich viel haben müssen. Berlin 2016. Frühbauer, Johannes J.: Rawls’ ‚Theorie der Gerechtigkeit‘. Darmstadt 2007. Hahn, Henning: Globale Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. Frankfurt a. M. 2009. Hahn, Henning: Globale Gerechtigkeit. In: Anna Goppel/ Corinna Mieth/Christian Neuhäuser (Hg.): Handbuch Gerechtigkeit. Stuttgart 2016, 111–117. Höffe, Otfried: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat. Frankfurt a. M. 1989. Höffe, Otfried: Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. München 2001. Hradil, Stefan: Soziale Ungleichheit in Deutschland. Opladen 2001. Koller, Peter: Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffs: Neuzeit. In: Anna Goppel/Corinna Mieth/Christian Neuhäuser (Hg.): Handbuch Gerechtigkeit. Stuttgart 2016, 14–20. Krebs, Angelika: Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt a. M. 2000.

70 Gerechtigkeit Nussbaum, Martha C.: Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Frankfurt a. M. 1999. Nussbaum, Martha C.: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin 2010. Özmen, Elif: Politische Philosophie zur Einführung. Hamburg 2013. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Franfurt a. M. 1993 (engl. 1971). Sen, Amartya: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München 2000.

519 Sen, Amartya: Die Idee der Gerechtigkeit. München 2010. Shklar, Judith: Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl. Berlin 1992. Walzer, Michael: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Frankfurt a. M./New York 1994. Young, Iris M. Fünf Formen der Unterdrückung. In: Herta Nagl-Docekal/Herlinde Pauer-Studer (Hg.): Politische Theorie. Differenz und Lebensqualität. Frankfurt a. M. 1996, 99–139.

Konstruktivismus

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Reza Mosayebi

Konstruktivismus ist in der Praktischen Philosophie die Bezeichnung für eine inzwischen bunte Familie unterschiedlicher normativer sowie meta-normativer Theorien, welche sich historisch auf Hobbes, Hume und insbesondere Kant beziehen. Konstruktivistische Ansätze zeichnen sich vor allem durch ihre Sicht auf die normative Objektivität und die Rolle aus, welche sie bei der Rechtfertigung dieser Objektivität den mit der praktischen Vernunft ausgestatteten Akteur*innen in der Konstruktion rationaler und/oder vernünftiger Normen beimessen. Eine allgemeine Charakterisierung des Konstruktivismus, welche dessen Varianten sachgerecht umfassen kann, ist indes umstritten (Darwall/Gibbard/Railton 1992; Enoch 2009; Street 2010; Lenman/Shemmer 2012, Introduction; Southwood 2018). Rawls bietet eine kantische Variante des Konstruktivismus an, welche neue Begrifflichkeiten und Einsichten in seiner Gerechtigkeitstheorie bereitstellt sowie eine neue Deutungsmöglichkeit von Kants praktischer Philosophie einführt. Rawls’ ausführlicher Beitrag zum Konstruktivismus, insbesondere in seinen Dewey Lectures aus dem Jahr 1980, löste darüber hinaus weitere Debatten in der Moralphilosophie aus, inspirierte unterschiedliche konstruktivis-

R. Mosayebi (*)  Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected]

tische Ansätze und prägte zum Teil die Hauptrichtungen metaethischer Diskussion in den letzten Jahrzehnten mit (O’Neill 1989a, 1996; Korsgaard 1996, 2008; Scanlon 1998; Street 2008, 2012; Bagnoli 2002). In manchen Varianten des Konstruktivismus, worunter auch die Rawlssche Version fällt, liegt eine dreiteilige Struktur in der Theoriebildung vor: Es gibt ein minimales Set von normativen Urteilen, welches die jeweilige Variante des Konstruktivismus als ihre Basis bzw. ihren Ausgangspunkt voraussetzt. Zudem wird ein Verfahren reflektiver Prüfung angewendet, um für gewisse genuin praktische Probleme Lösungen zu finden – das Attribut konstruktivistisch wird primär dieser Komponente der Theorie zugeschrieben. Schließlich resultiert aus dem Standpunkt, aus dem das Prüfverfahren übernommen wird, ein Set von normativen Urteilen – es ist diese Komponente in der Theorie, welche konstruiert wird (vgl. Street 2008, 210: „grounding set of normative judgments“, „procedure of construction“ und „target set of normative judgments“). Ziel der so strukturierten konstruktivistischen Theorien ist, durch das konstruktivistische Verfahren aus der vorausgesetzten Konstruktionsbasis gewisse Normen hervorzubringen, welche vom Standpunkt der in dem Verfahren involvierten Akteur*innen aus objektiv gültig sind. Rawls’ Variante des Konstruktivismus übernimmt nach diesem Schema aus dem „Vorrat“

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_71

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der politischen liberalen Kultur ein bestimmtes Ideal der Person sowie der Gesellschaft als Basis und lässt aus dem fiktiven Standpunkt solcher Personen durch das Verfahren des Urzustandes (das Konstruktionsverfahren) seine Gerechtigkeitsprinzipien (die Endversion in Rawls 2006, 78) für jene Gesellschaft resultieren. Das Entscheidende für Rawls’ Position ist, dass die Richtigkeit bzw. die objektive Geltung der so konstruierten Gerechtigkeitsprinzipien auf keiner vorgängigen moralischen Ordnung gründet, die unabhängig von dem Standpunkt der konstruierenden Personen existierte. Die Geltung der Prinzipien ist dem Verfahren der Konstruktion und einem gewissen Standpunkt, von dem aus sie gewählt werden, zu verdanken. Der für die im Verfahren involvierten Personen objektiv-gültige Inhalt der Gerechtigkeitsprinzipien wird nämlich konstruiert. Rawls verteidigt hinsichtlich des Geltungsbereichs seines Konstruktivismus im Lauf der Jahre immer stärker eine eingeschränktere Variante (zur Taxonomie des Konstruktivismus vgl. Street 2008; Bagnoli 2017, Sec. 2–4; Southwood 2018, 344 f.). Die Adressat*innen seines Konstruktivismus sind, so explizit in Politischer Liberalismus, Bürger*innen einer liberal-demokratischen Gesellschaft bzw. diejenigen, die sich so identifizieren würden (vgl. jedoch unten Ausblick), und das Ziel der Konstruktion besteht darin, die obersten Gerechtigkeitsprinzipien auszumachen, welche die institutionelle Grundstruktur einer liberal-demokratischen Gesellschaft regulieren. Rawls widmet sich dem Konstruktivismus direkt in vier veröffentlichten Schriften: (1) In seinen Dewey Lectures nennt er seine eigene Version des Konstruktivismus „kantischer Konstruktivismus“ (Publikationstitel: „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“, Originaltext aus dem Jahr 1980; De. 1994; zu Rawls’ Konstruktivismus vor 1980 vgl. Krasnoff 2014, Sec. 2). (2) Seine an der Harvard Universität gehaltene Vorlesung über Moralphilosophie (die letzte Version der Vorlesung, die zur Grundlage der Buchpublikation Geschichte der Moralphilosophie in 2000 diente,

R. Mosayebi

ist aus dem Jahr 1991; De. 2004a) und (3) teilweise der Buchbeitrag „Themen der kantischen Moralphilosophie“ (Originaltext aus dem Jahr 1989, Sec. 3; De. 2004b) widmet er der Deutung von „Kants moralischem Konstruktivismus“. (4) Schließlich liefert er in Politischer Liberalismus (Originaltext aus den Jahren 1993, 21996; De. 2003), 3. Vorlesung, die endgültige Version seines eigenen Konstruktivismus, den er nun „politischen Konstruktivismus“ nennt. Im Folgenden wird Rawls’ eigene Version des (kantischen oder später politischen) Konstruktivismus dargestellt und seine Interpretation von Kants moralischem Konstruktivismus nur zum besseren Verständnis miteinbezogen (für Vergleiche zwischen Rawls und Kant, etwa O’Neill 2003, Kaufman 2012; Guyer 2014, 2018). Eine erste Annäherung an Rawls’ Auffassung des Konstruktivismus ist durch das Beantworten basaler Fragen bezüglich der Grundmomente seiner Theorie zu erreichen (vgl. etwa Rawls 2003, 184 f.): • Warum wird konstruiert? Um die obersten Gerechtigkeitsprinzipien institutioneller Grundstruktur einer liberal-demokratischen Gesellschaft ein für alle Mal zu bestimmen (vgl. Ausblick). • Was wird konstruiert? Der Inhalt dieser Gerechtigkeitsprinzipien. • Woraus wird konstruiert? Aus den bereits in der öffentlichen politischen Kultur einer liberaldemokratischen Gesellschaft implizierten Begriffen der idealen Person und Gesellschaft. • Wie wird konstruiert? Durch ein Verfahren, das im Urzustand dessen Ausdruck findet. • Wer konstruiert? Die Personen, die als rationale Akteur*innen unter vernünftigen Bedingungen des Urzustands (z. B. unter dem Schleier des Nichtwissens) stehen. • Was wird nicht konstruiert? Die Ideale der Person und Gesellschaft, welche das „Material“ der Konstruktion bilden, das konstruktivistische Verfahren selbst und gewisse Tatsachen (etwa „Sklaverei ist unrecht“), die durch Rawls’ Konstruktivismus normative Relevanz bekommen (mehr zu allen diesen Aspekten unten).

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Vom kantischen Konstruktivismus bis zum politischen Konstruktivismus Um sowohl einige Aspekte seiner Gerechtigkeitskonzeption zu betonen, wie auch die kantischen Wurzeln der Gerechtigkeit als Fairness herauszustellen, hat Rawls in „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ (1994) begonnen, seine Variante konstruktivistischer Moralauffassung auszuarbeiten. Gerechtigkeit als Fairness gilt nämlich für Rawls als ein Beispiel des kantischen Konstruktivismus in der Moraltheorie, anhand dessen seine besonderen Merkmale verdeutlicht werden können. Rawls ist sich von Beginn an darüber im Klaren, dass sein Konstruktivismus von Kants Moralkonzeption in vielerlei Hinsicht abweicht (etwa Rawls 1994, 80). Das Adjektiv kantisch bezeichnet nur eine Analogie in dem Sinn, dass Rawls’ Variante näher zu Kant stehe als anderen Moralkonzeptionen. In der letzten Ausarbeitung seines Konstruktivismus in Politischer Liberalismus spricht Rawls durchgängig von politischem Konstruktivismus, um ihn eindeutig von einem moralischen Konstruktivismus, wie Kants, als einer umfassenden Lehre abzusetzen (Rawls 2003, 170, Fn. 1). Generell besteht eines der Hauptziele von Rawls’ Konstruktivismus darin, einige Grundbegriffe und Grundsätze, die bereits implizit in der öffentlichen politischen Kultur einer liberaldemokratischen Gesellschaft liegen, auf reflexive Art zu explizieren und auszubuchstabieren. Dies sollte sodann zur Schaffung einer Grundlage der öffentlichen Rechtfertigung beitragen, um umstrittene Gerechtigkeitsprobleme der Gesellschaft zu beseitigen oder zu minimieren. Rawls’ Auffassung nach kann nicht alles konstruiert werden: „jede Konstruktion hat eine Basis, sozusagen bestimmte Rohstoffe, bei denen sie ansetzt“ (Rawls 2004a, 318); „wir benötigen […] das Ausgangsmaterial“ (2003, 186; auch 2004b, 41). Er geht daher von einer bestimmten Basis aus und konstruiert aus dieser „Materie“ durch ein bestimmtes Verfahren den Inhalt seiner Gerechtigkeitskonzeption (etwa Rawls 2003, 184). Die Basis besteht dabei aus

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zwei miteinander eng verbundenen Elementen: Ein Ideal der Person (was für eine Art Person man sein möchte bzw. sollte) und ein Ideal einer wohlgeordneten Gesellschaft bzw. der sozialen Kooperation. Beide Ideale werden dadurch ermittelt, dass man sich an die öffentliche politische Kultur einer liberal-demokratischen Gesellschaft wendet (diese Kultur enthält auch politische Grundtexte, „Verfassungen und Menschenrechtserklärungen“ und die „historische[.] Tradition der Interpretation dieser Texte“, Rawls 2006, 45). Sie sind, so Rawls, latent „im Common Sense“ bzw. in der entsprechenden Kultur schon vorhanden und werden „stillschweigend“ bejaht – Rawls’ Konstruktivismus ruft die beiden Ideale „ins Bewusstsein“ (etwa Rawls 1994, 86, 153; Rawls spricht auch davon, dass sie in seinem Konstruktivismus aus unserer moralischen Erfahrung und Reflexion „herausgeholt“ (elicited) werden, Rawls 2004a, 318, vgl. auch 320; 2004b, 42; weiter Rawls 2006, 45). Rawls’ Konstruktivismus stellt somit mit Rekurs auf die Kultur gewisse Ideale (der Person und Gesellschaft) vor und überprüft durch das Konstruktionsverfahren wie und inwieweit sie stimmen können. Rawls’ bezeichnet seine Herangehensweise an diese Ideale sowie an das Konstruktionsverfahren als „Modellvorstellung“ (model-conception). Dabei werden drei Modellvorstellungen ausgearbeitet: die einer moralischen Person, die einer wohlgeordneten Gesellschaft und die des Urzustandes. Die Aufgabe der Modellvorstellung des Urzustands besteht darin, die Modellvorstellung der Person mit den noch zu resultierenden Gerechtigkeitsprinzipien zu verbinden, indem sie zeigt wie die Personen „idealiter“ die Gerechtigkeitsprinzipien für ihre wohlgeordnete Gesellschaft auswählen. Der Urzustand ist in Rawls’ Konstruktivismus im Grunde ein vermittelndes Element. Er ist aber zugleich auch ein „Darstellungsmittel der öffentlichen Reflexion und Selbsterklärung“ (Rawls 2003, 94). Das Konstruktionsverfahren ist mit anderen Worten eine Selbstüberprüfung eigener Ideale. Die konstruierten Gerechtigkeitsprinzipien kennzeichnen sodann die Relationen

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der Bürger*innen in der Modellvorstellung einer wohlgeordneten Gesellschaft (Rawls 1994, 87). Eines der wichtigsten Merkmale von Rawls’ Konstruktivismus besteht darin, wie er das Verhältnis zwischen der Konstruktionsbasis und dem Konstruktionsverfahren bestimmt. Seine Konzeption der Person und der wohlgeordneten Gesellschaft sind, so Rawls, in dem Verfahren „eingebettet“ bzw. „nachgebildet“ (modeled) (Rawls 2003, 185; in früheren Texten spricht er davon, dass sie in dem Verfahren „gespiegelt“ (mirrored) sind, etwa Rawls 2004a, 318; 2004b, 41). Somit sind sowohl die Form des Verfahrens des Urzustands wie auch seine speziellen Merkmale aus jenen Konzeptionen als Basis gewonnen (Rawls 2003, 185; der Einfachheit halber: Nachbild-These). Um die Nachbild-These nachzuvollziehen, ist daher ein näherer Blick auf Rawls’ Konstruktionsbasis, insbesondere seine Konzeption der Person, unvermeidlich. In Rawls’ Ideal der Person ist das soziale Moment mitenthalten. Er sieht in diesem Ideal von Beginn an die Mitglieder der wohlgeordneten Gesellschaft. Unter der wohlgeordneten Gesellschaft als einer „Idealisierung“ versteht Rawls eine Gesellschaft, welche von einer öffentlichen politischen Gerechtigkeitskonzeption wirksam reguliert wird (Rawls 2006, 29, 31; auch 1994, 88). Etwas genauer: eine wohlgeordnete Gesellschaft ist eine solche, deren Grundstruktur tatsächlich von geteilten Gerechtigkeitsprinzipien reguliert ist und deren Mitglieder die öffentlich anerkannten Gerechtigkeitsprinzipien, ohne von Sanktionen angetrieben sein zu müssen, einhalten (Rawls 2003, 105; 2006, 31 f.). Alternativ spricht Rawls, vor allem in Politischer Liberalismus, auch von Gesellschaft als einem fairen System der Kooperation. In seinem späten Buch Gerechtigkeit als Fairness (Originaltext aus dem Jahr 2001; De. 2006) sieht er die Idee der sozialen Kooperation als grundlegend und beschreibt die Idee der wohlgeordneten Gesellschaft als eine „begleitende Idee“, die zur näheren Bestimmung einer Gesellschaft als eines (fairen) Systems der Kooperation verwendet wird (2006, 29). Ex negativo ist die Gesellschaft als ein faires System sozialer Kooperation ein System,

R. Mosayebi

in welchem soziale Aktivitäten nicht durch Befehle einer zentralen Autorität koordiniert sind (zu wesentlichen Merkmalen der sozialen Kooperation, Rawls 2003, 82; 2006, 26 f.). Eine wichtige Eigenschaft des Ideals der wohlgeordneten Gesellschaft, welche nach Rawls ein charakteristisches Element der kantischen Variante des Konstruktivismus kennzeichnet, ist die „vollständige Öffentlichkeit“ (vgl. Publizität bei Kant [1900 ff.] ZeF AA VIII, 381– 386). Diese umfasst drei Stufen, die der gegenseitigen Anerkennung, der allgemeinen Überzeugungen und der zugänglichen Rechtfertigung. Die erste Stufe bezieht sich darauf, dass die Gerechtigkeitsprinzipien durch die gegenseitige Anerkennung der Bürger*innen die Grundstruktur der Gesellschaft wirksam regulieren. Die zweite Stufe betrifft die allgemeinen, auf Methoden und Ergebnissen der Wissenschaften basierten Überzeugungen in der Gesellschaft, in deren Lichte die obersten Gerechtigkeitsprinzipen anerkannt werden. Diese Überzeugungen spiegeln nach Rawls die verbreiteten öffentlichen Ansichten in der Gesellschaft wider und entsprechen den Informationen, die im Urzustand den Parteien, selbst unter dem Schleier des Nichtwissens, zur Verfügung stehen, damit sie alternative Gerechtigkeitsprinzipien beurteilen können. Schließlich rekurriert die dritte Stufe auf die Rechtfertigung der bevorzugten Gerechtigkeitskonzeption, welche in der öffentlichen Kultur bekannt bzw. zugänglich ist. Die Rechtfertigung spiegelt sich, in Rawls’ Worten, in dem Rechtssystem, den grundlegenden politischen Institutionen und wichtigsten historischen Interpretationen dieser Institutionen der Gesellschaft. In seinem Ideal der wohlgeordneten Gesellschaft sind alle drei Stufen der Öffentlichkeit verwirklicht (Rawls 1994, 110 f.; 2003, 141–143). Rawls’ Begriff der Person als Konstruktionsbasis liegt dem der Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft zugrunde. Während in „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ nicht immer darüber Klarheit besteht, ob seine Personenkonzeption nur im politischen Sinn und ausschließlich mit politischen Zwecken als Basis vorausgesetzt wird (Rawls spricht hier öfter von „moralischer Person“), zeigt sich

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in Politischer Liberalismus emphatisch, dass ein eindeutig eingeschränkter, politischer Begriff der Person ohne einen bestimmten metaphysischen Hintergrund in Anspruch genommen wird (etwa 2003, Vorlesung I, § 5). Das Wesentliche von Rawls’ Begriff der Person ist, dass er die zwei moralischen Vermögen des Gerechtigkeitssinnes und der Fähigkeit, eine eigene Konzeption des Guten auszubilden und rational zu verfolgen, enthält (Rawls 1994, 93; 2006, 44– 46). Die zwei moralischen Vermögen spielen nach der Veröffentlichung von Eine Theorie der Gerechtigkeit eine immer wichtigere Rolle in Rawls’ Theorie. So werden z. B. die Grundgüter (Verteilungsgegenstände sozialer Gerechtigkeit) in „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ dadurch im Urzustand identifiziert, dass sie von den Parteien als notwendig erachtet werden (als „allgemein dienliche Mittel“), um die zwei moralischen Vermögen auszubilden und auszuüben (Rawls 1994, 96; auch 2003, 153). Somit ist es Rawls’ Begriff der Person, der festlegt, was überhaupt zum Index der Grundgüter gehört. Auch Rawls’ spätere, genauere Charakterisierungen einer wohlgeordneten Gesellschaft sind deutlicher auf den moralischen Vermögen gegründet (Rawls 2003, 105; 2006, 31 f.). Die zwei moralischen Vermögen stehen in Rawls’ Theorie mit einer Reihe weiterer, grundlegender Begriffspaare in Verbindung, welche in der Gestaltung des konstruktivistischen Verfahrens entscheidende Rollen spielen: Freiheit und Gleichheit der Personen; das Rationale und das Vernünftige und zwei Formen der Autonomie, die Rawls in „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ einführt. Eine genaue und ausführliche Behandlung der Zusammenhänge zwischen diesen Begriffspaaren sprengt hier den Rahmen. Einige Aspekte sind jedoch kurz darzustellen, um Rawls’ Nachbild-These besser zu erfassen. Personen sind nach Rawls frei und gleich aufgrund der zwei moralischen Vermögen (Rawls 2006, § 7.3–4, 46–50). Vor allem die Freiheit der Personen wird von Rawls im Lichte des zweiten moralischen Vermögens, der Fähigkeit, sich eine Konzeption vom Guten zu ma-

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chen, ausführlich in „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ beschrieben (1994, 120–122; auch Rawls 2003, 98–103). So analysiert Rawls die Freiheit der Bürger*innen dahingehend, dass sie sowohl sich selbst wie auch die anderen zwar als ausgestattet mit diesem Vermögen erachten, jedoch nicht als gebunden an eine bestimmte Konzeption des Guten (als freie Personen haben die Bürger*innen das Recht, ihre politisch-öffentliche Identität nicht mit einer bestimmten Konzeption vom Guten zu identifizieren). Zudem geht Rawls davon aus, dass die Bürger*innen sich insofern als frei sehen, als sie „selbstbeglaubigende Quellen gültiger Ansprüche“ sind (self-authenticating sources of valid claims; Rawls 2003, 102; 2006, 50; vgl. bereits 1994, 119). Das extreme Gegenbeispiel dieser Eigenschaft ist nach Rawls der starke Begriff von Sklav*innen, welche „gewissermaßen sozial tot“ sind (Rawls 2003, 103). Die zwei moralischen Vermögen stehen auch in enger Verbindung mit dem Rationalen und dem Vernünftigen (dazu Rawls 2003, 2. Vorlesung §§ 1–2). Während die Rationalität der Parteien im Urzustand vor allem das zweite moralische Vermögen nachbildet, wird das erste moralische Vermögen, die Anlage zum Gerechtigkeitssinn, durch vernünftige Bedingungen nachgebildet, unter denen sich das konstruktivistische Verfahren abspielt, z. B. in „symmetrischer Stellung (oder Gleichheit)“ der Personen zu einander und in deren Informationsbeschränkungen unter dem Schleier des Nichtwissens (Rawls 2003, 185). Somit wird das Rationale im Urzustand durch das Streben der Parteien nach der Entwicklung und Ausübung ihrer moralischen Vermögen ausgedrückt, während das Vernünftige „zum Hintergrund des Urzustandes“ gehört und den „Rahmen“ des Verfahrens gestaltet (Rawls 1994, 98 f.; auch 2003, 156). Nach Rawls setzt das Vernünftige das Rationale voraus und limitiert es zugleich. Das Vernünftige umrahmt (frames) das Rationale und wird im Konstruktionsverfahren dem Rationalen übergeordnet (Rawls 1994, 101). Das konstruktivistische Verfahren im Urzustand bildet das doppelte Verhältnis des Vernünftigen zum Rationalen in seinen Grundmerkmalen nach.

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Rawls’ Unterscheidung von Rationalem und Vernünftigen hat kantische Wurzeln. Während das Rationale mit Kants Auffassung von empirischer praktischer Vernunft in Verbindung steht, welche sich in hypothetischen Imperativen niederschlägt, steht das Vernünftige der reinen praktischen Vernunft (Kategorischem Imperativ) nah. Die ähnliche Unterscheidung zeigt sich zudem in der lexikalischen Vorrangigkeit des Rechten gegenüber dem Guten. Rawls selber sieht diesen Vorrang als ein charakteristisches Merkmal des kantischen Konstruktivismus (Rawls 1994, 103). Im Unterschied zu Kant, so Rawls, repräsentiert das Vernünftige jedoch von Anbeginn die wesentliche soziale Dimension seines Konstruktivismus. Es sei auf eine Weise öffentlich, dass das Rationale nicht ist. Durch das Vernünftige betreten wir „die öffentliche Welt der [A]nderen“ (Rawls 2003, 198). „[V]erknüpft“ mit der Unterscheidung zwischen dem Rationalen und dem Vernünftigen führt Rawls in „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ die Zweiteilung einer weiteren Eigenschaft der Personen ein, welche er später in Politischer Liberalismus verfeinert: die rationale und die vollständige Autonomie. Die rationale Autonomie entspreche einerseits „ungefähr“ Kants Begriff des hypothetischen Imperativs oder dem Rationalitätsbegriff der neoklassischen Wirtschaftstheorie; die vollständige Autonomie ist andererseits ein moralisches Ideal für das politische Leben und ein Bestandteil des Ideals einer wohlgeordneten Gesellschaft. Sie wird dann verwirklicht, wenn die Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft, nachdem sie ihre Gerechtigkeitsprinzipien ausgewählt haben, diese tatsächlich bejahen und ihnen entsprechend handeln. Rationale Autonomie ist dagegen kein Ideal, sondern vielmehr ein „Darstellungsmittel“ im Urzustand (Rawls 1994, 88, 105; in „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ heißt es auch, dass die vollständige Autonomie das Personenideal zum Ausdruck bringt, welches die Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft in ihrem politisch-öffentlichen Leben akzeptieren; ebd., 107). In Politischer Liberalismus führt

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Rawls zusätzlich auch den Begriff der „doktrinalen Autonomie“ ein, um seine politisch konstruktivistische Auffassung als eine solche Lehre zu charakterisieren, in der die politischen Werte wie Gerechtigkeit nicht „einfach als von außen auferlegte moralische Forderungen dargestellt“ werden (2003, 179; mehr dazu unten). Um Rawls’ Unterscheidung zwischen rationaler und vollständiger Autonomie genauer zu verstehen, ist sein Gedanke der „drei Standpunkte“ entscheidend. Auf die Frage: Wer konstruiert? wird nämlich mit Bezug auf einen fiktiven, ersten Standpunkt geantwortet, dass die Konstrukteur*innen „künstliche“, rational autonome Akteur*innen seien. Sie sind es, die den Urzustand „bewohnen“ („bevölkern“), welcher wiederum – durch dessen strukturelle Merkmale – unter vernünftigen Einschränkungen steht (etwa Rawls 1994, 104; auch 2003, 152, 155). Die rationale Seite der Personen wird, mit anderen Worten, im Urzustand dadurch nachgebildet, dass sie als ausschließlich rational autonome Wesen ausgedacht werden, die an einer reinen Verfahrensgerechtigkeit teilnehmen, welcher kein unabhängiges und vorgegebenes Kriterium zugrundliegt, was gerecht sei (Rawls 2003, 149 f.). Der erste Standpunkt ist somit der Standpunkt der ausgedachten Parteien im Urzustand. Der zweite Standpunkt, welcher der vollständigen Autonomie entspricht, ist dagegen der der Bürger*innen der wohlgeordneten Gesellschaft. Es handelt sich um den Standpunkt, wie man sich, in liberal-demokratischer öffentlicher Kultur, idealiter unter fairen sozialen Kooperationsbedingungen versteht, welche man nach den selbstausgewählten konstruierten Prinzipien festgelegt hat (Rawls 2003, 155). In Politischer Liberalismus unterstreicht Rawls auch folgende Merkmale der vollständigen Autonomie: Zum einen wird sie als politischer Wert aufgefasst, der durch ideale Bürger*innen verwirklicht wird, zum anderen formuliert Rawls hier deutlicher, dass die vollständige Autonomie der Bürger*innen durch die vernünftigen Bedingungen im Konstruktionsverfahren des Urzustandes nachgebildet wird (vgl. auch Rawls 2003, 155 f.). Beide ersten Standpunkte sind

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nichts anderes als Teile der Modellvorstellungen Rawls‘. Das Konstruktionsverfahren als Ganzes (die Strukturmerkmale des Urzustands, die Parteien als Bewohner*innen des Urzustandes und die Art ihrer Deliberationen) modelliert das Ideal der Personen einer wohlgeordneten Gesellschaft, die mit zwei moralischen Vermögen ausgestattet sind. Der dritte Standpunkt ist schließlich der reale – mit Rawls Worten, „Ihrer“ und sein eigener – Standpunkt, von dem aus die Gerechtigkeitskonzeptionen, ob utilitaristisch oder Gerechtigkeit als Fairness, anhand des „Tests“ des Überlegungsgleichgewichts beurteilt werden (Rawls 1994, 105). Was das motivationale Moment im Urzustand angeht, lässt Rawls den zwei moralischen Vermögen der Personen zwei „höchstrangige Interessen“ (highest-order interests) entsprechen. Diese Interessen bestehen darin, jene Vermögen zu entwickeln und auszuüben. Er nennt sie „höchstrangig“, um auszudrücken, dass sie in seiner Modellvorstellung des Urzustands „im höchsten Maße“ wirksam und regulativ sind: sie leiten die Überlegungen und das Verhalten der Parteien im Urzustand. Die Parteien werden unter dem Schleier des Nichtwissens ausreichend durch die zwei höchstrangigen Interessen bewegt, um die Gerechtigkeitsprinzipien ihrer idealen Gesellschaft auszumachen (Rawls 1994, 93 f.; 2003, 151). Die Eigenschaft der Öffentlichkeit des Ideals der wohlgeordneten Gesellschaft, welche Rawls zu den charakteristischen Merkmalen seiner kantischen Variante zählt, wird ebenfalls im Urzustand nachgebildet. Die erste Stufe der vollständigen Öffentlichkeit (die gegenseitige Anerkennung der Gerechtigkeitsprinzipien) spiegelt sich z. B. dadurch im Konstruktionsverfahren, dass den Parteien auferlegt wird, Prinzipien auszuwählen, welche für eine öffentliche Gerechtigkeitskonzeption tauglich sein können. Prinzipien, die diese Bedingung nicht erfüllen, halten dem konstruktivistischen Prüfverfahren nicht stand und werden ausgeschlossen. Die zweite Stufe der Öffentlichkeit etwa wird durch die vernünftige Bedingung des Schleiers des

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Nichtwissens im Konstruktionsverfahren ex negativo nachgebildet. Der Schleier des Nichtwissens wird nämlich so konzipiert, dass er den Parteien im Urzustand ihre allgemeinen Überzeugungen, die Teil ihres allgemeinen Wissens sind, nicht verdeckt. So verstehen z. B. die Parteien im Urzustand „politische Fragen und die Grundzüge der Wirtschaftstheorie, ebenso die Grundfragen der gesellschaftlichen Organisation und Gesetze der Psychologie des Menschen“ (Rawls 1975, 160 f.). Aufgrund solcher Überzeugungen (die Rawls auch „allgemeine Tatsachen“ nennt) wird eine Auswahl zwischen möglichen Gerechtigkeitsprinzipien getroffen (Rawls 2003, 144–146). Schließlich ist wichtig, folgende zwei Eigenschaften des die Konstruktionsbasis widerspiegelnden Urzustandes noch einmal zu betonen: Der ganze Urzustand selbst ist ein „prozedurales Darstellungsmittel“, welches nicht konstruiert, sondern nur dargelegt wird (laid out) (Rawls 2003, 185). Zudem gilt der Urzustand als ein Fall der „reinen Verfahrensgerechtigkeit“ (Rawls 2003, 149 f.), d. h. es gibt, abgesehen von der Konstruktionsbasis, kein unabhängiges und vorrangiges Kriterium, welches zuvor definiert, was aus dem Verfahren resultiert bzw. was gerecht ist. In diesem Zusammenhang leuchtet ein, warum Rawls den autonomen Charakter sowohl seiner Personenkonzeption wie auch seiner konstruktivistischen Variante (doktrinale Autonomie) betont. Die Parteien im Urzustand konstruieren die obersten Gerechtigkeitsgrundsätze ihrer Gesellschaft ohne Einfluss einer anderen normativen Instanz nach einer reinen Verfahrensgerechtigkeit und bewegt durch ihre höchstrangigen Interessen. In allen vier Texten, in denen Rawls sich direkt mit Konstruktivismus beschäftigt, betont er, dass bei sogenannten moralischen Fakten zwischen zwei Arten zu unterscheiden sei, die für das moralische, und in Politischer Liberalismus spezifisch für das politische Denken von Relevanz sind. Beide Arten sind ebenso wenig konstruiert wie das Konstruktionsverfahren. Die eine Art betrifft „Fakten“, die durch die vom Konstruktionsverfahren bereitgestellten

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Gerechtigkeitsprinzipien erst dazu identifiziert werden, dass sie für moralische Überlegungen von Relevanz sind und als Gründe für bzw. gegen bestimmte Handlungen oder Institutionen gelten. Beispielsweise bezieht sich in folgendem Satz „Sklaverei ist ungerecht, weil sie einigen Personen erlaubt, andere als Eigentum zu behandeln“ der Nebensatz auf eine Tatsache, die erst Gründe dafür gibt, warum die Sklaverei ungerecht ist. Dass sie hierfür Gründe liefert, wird aber nach Rawls erst durch das Konstruktionsverfahren ausgemacht. Das Verfahren hilft somit dabei von einem bestimmten Standpunkt aus zu bestimmen, ob gewisse Fakten als normative Gerechtigkeitsgründe zählen und welches Gewicht ihnen zukommt (Rawls 2003, 207; vgl. Rawls 1994, 147 f.; 2004a, 325 f.; 2004b, 44). Mit anderen Worten bekommen Fakten dieser Art erst durch die Konstruktion überhaupt einen normativen Status (vgl. Street 2008, 211, Fn. 7). Eine zweite Art von „Fakten“ betrifft dagegen nach Rawls unmittelbar den Inhalt der Gerechtigkeit. Unterschiedliche Inhalte der Gerechtigkeit werden z. B. durch die Weise des Konstruktionsverfahrens festgelegt. Gemeint sind wohlüberlegte Urteile, die man als Fixpunkte annimmt und als Grundtatsachen (basic facts) versteht. Durch die sich aus dem Konstruktionsverfahren ergebenen Prinzipien, werden dann solche Fakten (etwa „Tyrannei ist ungerecht, Ausbeutung ist ungerecht, religiöse Verfolgung ist ungerecht“ usw.) innerhalb einer bestimmten Gerechtigkeitskonzeption zusammengefügt. Rawls nennt solcherart Fakten auch „Konstruktionsmöglichkeiten“ (Rawls 2003, 208), um zugleich die Offenheit des Konstruktivismus gegenüber neuen bzw. hinzukommenden, normativ relevanten Fakten zu betonen, die repräsentativ für den Inhalt einer bestimmten Gerechtigkeitskonzeption sind (Rawls 2003, 211; vgl. Rawls 2004a, 326 f.). Rawls’ Pointe in seiner Verhältnisbestimmung zwischen Konstruktionsverfahren und den Fakten ist, dass unabhängig von der Konstruktion keine normativen Fakten vorliegen, welche die Richtigkeit der Gerechtigkeitsprinzipien gewährleisten, man jedoch sehr wohl von Fakten mit normativen Sta-

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tus sprechen kann, sofern dieser erst auf das Konstruktionsverfahren folgt.

Zwischenbilanz Nach Rawls’ Konstruktivismus werden die obersten Gerechtigkeitsprinzipien einer wohlgeordneten Gesellschaft von ihren freien und gleichen Mitgliedern, die mit zwei moralischen Vermögen – der Anlage zum Gerechtigkeitssinn und der Fähigkeit, eine Konzeption vom Guten zu bilden – ausgestattet sind, in einem fiktiven Urzustand konstruiert. Im Konstruktionsverfahren des Urzustands werden künstliche rational-autonome Parteien unter vernünftigen Bedingungen den öffentlichen Gerechtigkeitsprinzipien für die Grundstruktur ihrer wohlgeordneten Gesellschaft zustimmen. Dabei sind die Konstrukteur*innen wirksam und ausreichend daran interessiert, die erforderlichen Bedingungen der Entwicklung und der Ausübungen ihrer zwei moralischen Vermögen zu sichern und zu verbessern. Der Urzustand verbindet das ideale Selbstverständnis der Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft, das aus der öffentlichen politischen Kultur der Gesellschaft entnommen wird, einerseits, und den Inhalt der öffentlichen Gerechtigkeitskonzeption andererseits. Das ganze Konstruktionsverfahren ist zugleich ein Prozess der reflexiven Überprüfung, Artikulierung und Bejahung der sozialen Selbstkonzeption, die bereits in der politischen Kultur der Gesellschaft implizit vorhanden ist. In diesem Sinne bildet das Verfahren die Basis der Konstruktion nach (Nachbild-These). Rawls’ Grundgedanke dabei ist, dass sobald das Material (die Konzeptionen der Person und Gesellschaft) sowie ein geeignetes Konstruktionsverfahren in angemessener Weise bestimmt sind, auch die richtigen Resultate (die obersten Gerechtigkeitsprinzipien) erzielt werden. Eine der Hauptfunktionen des konstruktivistischen Verfahrens besteht dann darin, eine brauchbare Grundlage öffentlicher Rechtfertigung bereitzustellen.

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Rawls’ Konstruktivismus im Vergleich In den vier Texten, die Rawls dem Konstruktivismus widmet, setzt er seine Variante in einigen wesentlichen Punkten von einer Position ab, die er rationalen Intuitionismus nennt. In Politischer Liberalismus, wo Rawls emphatisch auf den ausschließlich politischen sowie freistehenden Charakter seines Konstruktivismus (doktrinale Autonomie) hinweist, unterscheidet er seine Variante zudem auch von Kants moralischem Konstruktivismus, den Rawls als eine umfassende philosophische Lehre deutet. Unter rationalem Intuitionismus versteht Rawls eine Theoriefamilie mit einflussreicher Tradition in der Moralphilosophie seit Platon und Aristoteles, die erst von Hobbes, Hume und Kant auf unterschiedliche Weise angefochten wurde. Außerdem sieht er den rationalen Intuitionismus inhaltlich mit sehr unterschiedlichen moralischen Prinzipien vereinbar (von perfektionistischen Theorien von Wolff und Leibniz bis Sidgwicks klassischen und Moores idealen Utilitarismus) (Rawls 1994, 137; 2004b, 38). Der rationale Intuitionismus spielt für Rawls sowohl in normativer wie in motivationaler Hinsicht die Rolle einer Kontrastfolie zum Konstruktivismus. Die normativen Gründe hinter den grundlegenden moralischen Begriffen seien nach rationalem Intuitionismus gestützt auf Wahrheiten, die in einer Ordnung der Dinge gegründet sind, welche vorgängig und unabhängig von den menschlichen moralischen Subjekten und ihren sozialen Interaktionen existieren – in Politischer Liberalismus wird der rationale Intuitionismus eindeutig als eine Form des moralischen Realismus verstanden (2003, 175). Der rationale Intuitionismus, so Rawls, geht zudem davon aus, dass solche Wahrheiten nicht durch gewöhnliche Sinne, sondern durch eine rationale Anschauung zu erkennen sind, und allein dieses Erkennen ihre motivationale Kraft gewährleisten kann (etwa Rawls 1994, 137–139). Einer der wichtigsten Aspekte, worin Rawls’ Konstruktivismus im Kontrast zum rationalen Intuitionismus steht, ist die Auffassung von moralisch-politischer Objektivität. Diese ist nach

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Rawls’ Konstruktivismus keine primär theoretische Angelegenheit, sondern ein genuin praktisches Problem, dessen Lösung sich auf die praktische Vernunft berufen soll (Rawls 2003, 3. Vorlesung, § 6). Hierbei akzeptiert der politische Konstruktivismus weiterhin „die kantische Sichtweise“ der praktischen Vernunft, deren genuine Tätigkeit Rawls in der „Hervorbringung von Gegenständen nach einer Vorstellung von ihnen“ – „zum Beispiel die Vorstellung einer gerechten konstitutionellen Ordnung“ (Rawls 2003, 173) –, und nicht in der Erkenntnis der Gegenstände sieht (vgl. Kant [1900 ff.] KpV AA V, 15). In Rawls’ Konstruktivismus wird die Suche nach moralischer Wahrheit, welche in einer vorgängigen und unabhängigen Ordnung der Gegenstände und deren Relationen gründet, durch die Suche nach einem objektiven Inhalt ersetzt, welcher im Selbstverständnis der Personen in der Gesellschaft ihre Wurzel hat. Rawls’ konstruktivistische Objektivitätskonzeption operiert daher nicht mehr mit dem Begriffspaar ‚wahr‘ und ‚falsch‘. Das passende Attribut zur Objektivität ist vielmehr ‚vernünftig‘ (Rawls 1994, 133), und zwar nicht, wie sonst, im Unterschied zum Attribut ‚rational‘, sondern in Absetzung zu einer korrespondenztheoretischen Wahrheit. Die Objektivität einer Gerechtigkeitskonzeption ist nach dieser Auffassung dann gerechtfertigt, wenn sie und unser tiefes, in der Geschichte und Kultur verwurzeltes Selbstverständnis auf vernünftigste Weise miteinander übereinstimmen. Eine solche moralische Objektivität wird durch einen gesellschaftlichen „Standpunkt“ im Konstruktionsverfahren erreicht, der für alle Beteiligten akzeptabel ist. Die Objektivität der Gerechtigkeitskonzeption wird mithin nach Rawls’ Konstruktivismus in Begriffen eines angemessen konstruierten sozialen Standpunktes interpretiert (Rawls 1994, 155). Die Gerechtigkeitsprinzipien werden nicht so aufgefasst, als würden sie eine bereits vorgegebene Ordnung der Dinge abbilden. Das Konstruktionsresultat (Gerechtigkeitsprinzipien) ist vielmehr richtig, „weil es aus dem richtig

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befolgten richtigen – vernünftigen und rationalen – Verfahren hervorgeht“ (Rawls 2004a, 320; vgl. Rawls 2003, 199). Wenn ein Urteil ‚falsch‘ ist, sagt daher der Rawlssche Konstruktivismus (im Unterschied zum rationalen Intuitionismus), dass der Fehler darin liegt, wie das Verfahren die Grundsätze der praktischen Vernunft zusammen mit den Konzeptionen der Person und Gesellschaft nachbildet (Rawls 2003, 177). Es ist eine wichtige Annahme in Rawls’ Konstruktivismus, dass eine Konzeption der Objektivität unsere Übereinstimmung in moralischen Urteilen erklären muss, d. h. sie muss erklären können, wie eine solche Übereinstimmung zustande kommt. Die Objektivitätsleistung des Konstruktivismus in der Moraltheorie wird an mehreren Stellen bei Rawls mit der des Konstruktivismus in der Philosophie der Mathematik verglichen. Eine „Ähnlichkeit“ besteht darin, dass in beiden Bereichen die Urteile dann gültig und triftig wären, wenn sie daraus hervorgehen, dass man das richtige Verfahren in richtiger Weise durchgeht und sich dabei nur auf gewisse gültige Prämissen stützt. Die Richtigkeit sei von vorgängigen Tatsachen oder Kausalprozessen unabhängig, sie bestehe vielmehr in der Beweisbarkeit (Rawls 2004a, 316; vgl. Rawls 2003, 183 f.; 205, Fn. 25). In Rawls’ Vergleich seines Konstruktivismus sowohl mit dem rationalen Intuitionismus wie auch mit Kants moralischem Konstruktivismus werden einige weitere Aspekte betont, auf die kurz hinzuweisen ist. Im Vergleich zum rationalen Intuitionismus zeichnet sich Rawls’ Konstruktivismus durch seine komplexere Konzeption der Person sowie der Gesellschaft aus. Der Grund dafür liegt in Rawls’ Verhältnisbestimmung zwischen der Konstruktionsbasis und dem Konstruktionsverfahren, das heißt in der Nachbild-These. Die Konstruktionsbasis (Ideale der Person und wohlgeordneten Gesellschaft) soll in einer Weise konzipiert werden, dass sie zielführend dem Konstruktionsverfahren Form und Struktur geben kann (Rawls 2003, 174). Aus Rawls’ Sicht führt dagegen die Vorgegebenheit des Inhalts der moralischen Grundsätze im rationalen Intuitionismus zu einer, im Vergleich zum kantischen bzw. politischen

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Konstruktivismus, einfacheren Konzeption der Person (etwa Rawls 1994, 141). Darüber hinaus wird in Rawls’ Konstruktivismus sowohl im Vergleich zum rationalen Intuitionismus wie auch zu Kants moralischem Konstruktivismus der gesellschaftlichen Rolle der Moral eine wesentliche sowie zentrale Rolle eingeräumt (vgl. Rawls’ Kritik an Sidgwicks Methods of Ethics: 1994, 135). Auch im Unterschied zu Kant selbst behauptet Rawls, dass sein Konstruktivismus – verglichen z. B. mit dem Kategorischen Imperativ, der primär auf individuelle Maximen ausgerichtet ist – dem Sozialen einen gewissen Vorrang gibt (Rawls 1994, 131). Des Weiteren stelle der rationale Intuitionismus im Kontrast zum Konstruktivismus eine Form der Heteronomie dar. Der Grund dafür ist, dass im rationalen Intuitionismus der Inhalt moralischer Begriffe bzw. Werte auf Dingen beruht, deren Wesen durch die Konzeption der Person sowie unsere Auffassung der öffentlichen Rolle moralischer Prinzipien weder beeinflusst noch bestimmt sind (Rawls 1994, 140; auch Rawls 2004a, 312, 314; 2004b, Ab. 3). Dagegen sei das Charakteristische von Rawls’ Konstruktivismus dessen Autonomie. Mehr noch, Rawls’ Anspruch ist, dass das Konstruktionsverfahren die direkteste Verbindung zwischen dem Begriff autonomer, freien und gleichen Personen und deren Gerechtigkeitsprinzipien herstellt (Rawls 1994, 158). Im Hinblick auf Autonomie differenziert Rawls seine Variante des Konstruktivismus auch von Kants. Kants moralischer Konstruktivismus sei eine umfassende Lehre, wovon sich Rawls in Politischer Liberalismus explizit ablöst. Aus Rawls’ Sicht reicht Kants Konstruktivismus tiefer als seine Variante. Dies zeige sich auch in Kants Konzeption der Autonomie, welche „die Existenz und Konstitution der Wertordnung selbst“ anbetrifft (Rawls nennt sie daher die „konstitutive Autonomie“) und mit seinem transzendentalen Idealismus zusammenhängt (Rawls 2003, 180 f.). Rawls’ eigene Variante stelle dagegen eine doktrinale Autonomie dar (vgl. oben), bezogen auf den pluralistisch anschlussfähigen, freistehenden Grundcharakter seiner politischen Auffassung.

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Nicht zuletzt ist auf die Rolle des Faktums des vernünftigen Pluralismus als eins der Hauptmotive hinter Rawls’ Konstruktivismus hinzuweisen. Rawls setzt zwar seinen Konstruktivismus vom rationalen Intuitionismus und – im Laufe der Zeit deutlicher – von Kants moralischem Konstruktivismus ab, doch von Beginn an, ist es nicht seine Absicht aufzuzeigen, dass diese verfehlt sind (vgl. etwa Rawls 1994, 155, wo er nur darlegen möchte, dass der Objektivitätsbegriff des rationalen Intuitionismus „unnötig“ (unnecessary) ist). In Politischer Liberalismus spielt das Faktum des vernünftigen Pluralismus eindeutig eine entscheidende Rolle für weitere Einschränkungen von Rawls’ Konstruktivismus. Im politischen Konstruktivismus wird die Vernünftigkeit nachdrücklich so aufgefasst, dass sie der wahrheitsbasierten Konzeption der Objektivität nicht widerstreitet. Rawls betont sogar, dass er nicht einmal eine bestimmte religiöse, philosophische oder metaphysische Erklärung der Wahrheit moralischer Urteile und ihrer Gültigkeit kritisieren will (Rawls 2003, 213). Der politische Konstruktivismus versucht es zu vermeiden, „sich irgendeiner umfassenden Lehre entgegenzustellen“ (Rawls 2003, 175). Ziel ist vielmehr, dass er für einen Plural vernünftiger Lehren anschlussfähig bleibt. Dies hängt wiederum damit zusammen, dass die Objektivitätsleistung von Rawls’ Konstruktivismus exklusiv einer öffentlichen Rechtfertigungsgrundlage dienen soll (Rawls 2003, 182). Rawls scheint mithin das Faktum des vernünftigen Pluralismus als den metatheoretischen Grund der Auswahl einer konstruktivistischen Auffassung zu sehen, um die fairen Bedingungen sozialer Kooperation in einer pluralistischen Gesellschaft festzulegen (etwa Rawls 2003, 16–18). Die Idee des Vernünftigen ermöglicht nämlich einen übergreifenden Konsens diverser vernünftiger Lehre in einer Weise, wie es der Begriff der Wahrheit nicht kann (Rawls 2003, 174), da dieser einer bestimmten umfassenden Lehre verhaftet bleibt. Die vernünftigste Gerechtigkeitskonzeption ist vielmehr eine, die als „Schnittpunkt eines übergreifenden Konsenses“ fungiert (Rawls 2003, 176). Angesichts der Ziele des politischen Konstruktivis-

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mus ist deshalb die Vernünftigkeit als Maßstab der Richtigkeit öffentlicher Rechtfertigung ausreichend, und man müsse nicht darüber hinausgehen (Rawls 2003, 213).

Einfluss und Kontroverse Schon Rawls’ erster Beitrag zum Konstruktivismus im Jahr 1980 („Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“) hat diesen als eine herausfordernde Position in der Moraltheorie geltend gemacht. Rawls’ Konstruktivismus hat – nicht zuletzt aufgrund seiner Interpretation von Kants praktischer Philosophie – nicht nur in der normativen Ethik, sondern auch in der Metaethik zahlreiche Beiträge motiviert und detaillierte Debatten ausgelöst. Die kantischen Grundzüge des Konstruktivismus von Rawls wurden, wenn auch nicht unkritisch, von Christine Korsgaard und Onora O’Neill angesichts deren normative Rechtfertigungsleistung und Adressatenbereich vertieft und erweitert (etwa O’Neill 1989b, 1996; Korsgaard 1996, 2008; in Politischer Liberalismus erwähnt Rawls selber einige Autor*innen, deren Varianten von Konstruktivismus von seinem abweichen, darunter auch O’Neills, 2003, 171, Fn. 1). In der Metaethik haben Rawls’ Vergleiche zwischen kantischem und Kants Konstruktivismus und dem rationalen Intuitionismus zwar einen besonderen Anlass zu Debatten um den metaethischen Status des Konstruktivismus gegeben – Korsgaards Beiträgen hierzu ist besonderes Gewicht beizumessen (etwa Korsgaard 2003) –, aufgrund der Einschränkungen, die Rawls hinsichtlich der normativen Ansprüche seines Konstruktivismus trifft, steht jedoch seine Version im Vergleich zu umfassenderen Varianten des im Nachhinein entstandenen kantischen Konstruktivismus in diesen Debatten weniger im Vordergrund. Der metaethische Status des Konstruktivismus betrifft vor allem die Fragen, ob er als eine genuine Alternative zu sowohl moralischem Realismus wie auch moralischem Antirealismus gilt oder ob er schließlich doch eine Variante von einem der beiden ist, und welche Vorteile, wenn

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überhaupt, er gegenüber anderen metaethischen Positionen z.  B. dem Expressivismus aufzuweisen hat. Die Beantwortung dieser Fragen ist heute nach wie vor umstritten (etwa Ridge 2012; Bagnoli 2013 und 2017, Sec. 6.3). Rawls’ eigene Aussagen, von „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ bis Politischer Liberalismus, lassen nicht ohne Weiteres festlegen, ob er gezielt metaethische Ansprüche erhebt. Einige Themen in „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“, etwa dass die praktische Objektivität nicht entdeckt, sondern konstruiert wird, dass die Gültigkeit moralischer Normen und Werte vielmehr mit Vernünftigkeit zu beschreiben ist als mit Wahrheit, und nicht zuletzt Rawls’ kompromisslose Zurückweisung einer von den moralischen Akteur*innen vorgängigen und unabhängigen Ordnung der Dinge, würden nahelegen, dass er zumindest den moralischen Realismus metaethisch ablehnt. Allerdings betont er in Politischer Liberalismus seine „Revisionen“ zu „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ und gibt insbesondere zu, dass er schon 1980 zwischen moralischem und politischem Konstruktivismus „hätte“ unterscheiden „sollen“ (Rawls 2003, 170, Fn. 1). Auch ein genauerer Blick auf „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ legt eher nahe, dass Rawls an vielen Stellen den moralischen Realismus nicht metaethisch in Abrede stellt, sondern sich vielmehr davon distanziert (etwa 1994, 148) bzw. dessen Nichtnotwendigkeit für die Ziele der Gerechtigkeit als Fairness darlegt (vgl. dagegen Bagnoli 2017, Sec. 6.3). Spätestens in Politischer Liberalismus stellt Rawls jedenfalls klar, dass der politische Konstruktivismus sich nicht als eine gesonderte, metaethische Position versteht, sondern als eine für einen Plural religiöser, philosophischer und moralischer Sichtweisen anschlussfähige Auffassung der öffentlichen politischen Rechtfertigung (vgl. Rawls 2003, 175; nach manchen Interpret*innen wie Street 2010, 368, ist Rawls’ Variante schließlich mit jeder metaethischen Position vereinbar). Bei der Interpretation Kants legt Rawls indes tatsächlich öfter nahe, dass Kants moralischer Konstruktivismus im Vergleich zum moralischen Realismus eine genuine Position anbietet; Rawls

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schreibt dies allerdings nicht explizit im metaethischen Sinn Kant zu (Rawls 2004a; 2004b, Ab. 3). Die Fragen, inwiefern Rawls’ Interpretation von Kants praktischer Philosophie triftig ist und inwieweit sein kantischer Konstruktivismus mit Kant zu tun hat, werden jedoch in der Literatur kontrovers diskutiert (Ameriks 2003, 268, 274; Wood 2008, 46, 282–284, 288; Guyer 2014; vgl. auch Krasnoff 1999; O’Neill 2003, 354–356; Taylor 2011). Bei auftretenden Einwänden gegen den orthodox kantischen Charakter von Rawls’ Konstruktivismus ist allerdings zu beachten, dass Rawls bereits 1980 verdeutlicht, dass er mit dem Adjektiv „kantisch“ keine „Identität“ beansprucht, sondern nur eine „Analogie“; dass seine Gerechtigkeit als Fairness Kants Lehre „in vielen grundlegenden Hinsichten genügend ähnelt, und damit seiner Auffassung näher steht als andere traditionelle Moralkonzeptionen, die sich zum Vergleich eignen“ (Rawls 1994, 82). Ein anderes, umstrittenes Thema betriff das Verhältnis von Rawls’ Konstruktivismus, vor allem dem, was von Rawls die Basis der Konstruktion benannt wird, und der kohärentistischen Theorie der praktischen Rechtfertigung, welche er schon in seinem Aufsatz „Outline for a decision precedure in ethics“ (1951) angenommen hat. Es wurde schon früh beanstandet, dass die Rechtfertigungsrolle des Ideals der Person in Rawls’ Konstruktivismus mit seinem Kohärentismus inkompatibel sei (Brink 1987, 87, 90). Wie sich Rawls’ Kohärentismus, der sich in seiner Methode des Überlegungsgleichgewichts niederschlägt, sonst zu wichtigen Momenten seines Konstruktivismus verhält, bleibt ebenso strittig. Für manche Interpret*innen sollte die Methode bei allen drei Momenten des Konstruktivismus, in der Identifizierung der relevanten moralischen Urteile in der Konstruktionsbasis, in der Formulierung des Konstruktionsverfahrens und in der Bewertung der konstruierten Resultate und deren Rückkopplung in Form der Modifizierung der Basis und des Verfahrens, angewendet werden (Street 2008, 216). O’Neill dagegen scheint Rawls – zumindest in Eine Theorie der Gerechtigkeit – so zu deuten, dass die Methode des Überlegungsgleichgewichts

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in seinem Konstruktivismus nur auf das nichtkonstruierte Verfahren eingeschränkt ist (O’Neill 2003, 357; vgl. etwa Rawls 2003, 94; zu einem Überblick von Rawls’ Rechtfertigungstheorie, Scanlon 2003).

Ausblick Rawls’ Konstruktivismus kann weiterhin sowohl die Beiträge im Bereich der normativen Ethik als auch der Metaethik inspirieren. Einer der Grundgedanken von Rawls’ Konstruktivismus besteht z. B. darin, dass unser Selbstverständnis als freie, gleiche und sozial kooperative Personen unsere Gerechtigkeitskonzeption entscheidend beeinflusst. Die Annahme der Prinzipien, die eine bestimmte Gerechtigkeitskonzeption repräsentieren, bedeute zugleich die Annahme eines bestimmten Ideals der Person, und beim Handeln nach jenen Prinzipien realisieren wir unser Personenideal (bereits etwa Rawls 1979, 6). Eine Verbindung zwischen einem Personenideal und den obersten Gerechtigkeitsprinzipien der Gesellschaft solcher Personen mag auf den ersten Blick offensichtlich scheinen. Wie man sie aber miteinander verbindet, stellt eine Herausforderung dar, wenn dabei keine Instanz in Anspruch genommen wird, welche die Verbindung „von außen“ herstellt. Die Art und Weise, wie Rawls’ sie miteinander in Verbindung bringt, nämlich durch das Konstruktionsverfahren, löst zwar Kontroversen aus, es scheint aber nicht leicht zu sein, eine grundsätzliche Alternative dazu zu finden. Rawls’ Vergleiche zwischen seinem und Kants Konstruktivismus einerseits, und dem rationalen Intuitionismus andererseits, akzentuieren die Passivität heteronomer Theorien, welche die praktische Normativität unabhängig von den über die praktische Vernunft verfügenden Personen auffassen. Wie Rawls am Ende von „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ – interrogativ – nahe legt, stellt sein Konstruktivismus die denkbar engste Verbindung zwischen den aktiven, freien und gleichen Personen als Konstrukteur*innen auf der einen Seite, und den obersten Gerechtigkeitsprinzipien der insti-

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tutionellen Grundstruktur ihrer eigenen Gesellschaft auf der anderen Seite, her (1994, 158). Unabhängig davon, ob den diversen Aspekten von Rawls’ detailreichem Konstruktivismus zugestimmt wird, bleibt unstrittig, dass seine konstruktivistische Auffassung eine der stärksten Ausdrücke der Autonomie liefert. Rawls’ Konstruktivismus ist dadurch gekennzeichnet, dass er – grundsätzlich vergleichbar mit Kants Rollenaufteilung innerhalb seiner allgemeinen Vernunftkonzeption (etwa Kant [1900 ff.] KpV AA V, 119–121) – der praktischen Vernunft einer genuinen Rolle beim Lösen gewisser Probleme beimisst, ohne dabei die Bedeutung der theoretischen Vernunft oder die Einheit der Vernunft in Abrede zu stellen (etwa Rawls 2003, 182 f.). Die Authentizität der Praktischen Philosophie hängt in vielen Denktraditionen, von Aristoteles bis hin zu aktuellen metaethischen Ansätzen, von der Rolle ab, welche (normativ und/oder motivational) der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch zuerkannt wird. Insofern scheint Rawls’ konstruktivistische Auffassung der praktischen Vernunft bzw. des Vernünftigen als eine prominente Variante in den Debatten um die Identität und Funktionsweise der praktischen Vernunft weiter nachwirken zu können. Nicht zuletzt erweckt Rawls’ Konstruktivismus in der Politischen Philosophie zunächst den Eindruck, als wäre er nur innerhalb der Grenzen einer liberal-demokratischen Gesellschaft anwendbar. In „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ besteht Rawls beispielsweise darauf, dass seine konstruktivistische Auffassung auf ein geschlossenes System, auf eine in ihrem kulturellen Leben gleichsam isolierte, fortdauernde, selbstgenügsame Gesellschaft anzuwenden ist (Rawls 1994, 108 f.). Doch in seinem dritten Hauptwerk, Das Recht der Völker, nimmt Rawls das „Darstellungsmodell“ Urzustand über die Grenzen einer liberalen Gesellschaft hinaus auf zwei weiteren Stufen in Anspruch: zum einen als Verbindung zwischen liberal-demokratischen Gesellschaften, zum anderen zwischen diesen und illiberalen, indes achtbaren Gesellschaften (Rawls 2002, § 3 und 86). Das Konstruktionsverfahren des Urzustands wird auf globaler Ebene verwendet. Rawls’ Be-

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dingungen für eine illiberale Gesellschaft, die nichtsdestotrotz aus liberaler Sicht ein zu respektierendes „Volk“ ist (etwa Rawls 2002, §§ 7–10), weisen Eigenschaften auf, die mit den Eigenschaften der Elemente der Konstruktionsbasis in seinen direkten Schriften über Konstruktivismus Gemeinsamkeiten haben (z.  B. die notwendigen Bedingungen sozialer Kooperation zur Ausübung der zwei moralischen Vermögen; Mosayebi 2019). In Das Recht der Völker liegen somit das für den globalen Bereich genügende Konstruktionsmaterial, das Konstruktionsverfahren sowie die konstruierten Resultate vor (Rawls 2002, § 4). Entgegen der Annahme, dass Rawls’ Variante ein „fundamentally civic constructivism“ sei (O’Neill 2003, 360, vgl. ebd. 353), ist daher seinem Konstruktivismus eine globale politische Reichweite einzuräumen. Rawls hat zwar seinen Konstruktivismus von „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ bis Politischer Liberalismus weiter eingeschränkt, die Beschränkung betrifft aber primär die Tiefe der Rechtfertigung und die normative Reichhaltigkeit. Angesichts des Umfangs der Adressat*innen – ursprünglich begrenzt auf den Kreis der Bürger*innen der liberal-demokratischen Gesellschaft – zeigen Rawls’ Überlegungen in Das Recht der Völker (2002, Teil II) deutlich Erweiterungen auf.

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Liberalismus: Theoretisch-normative Grundlegung

72

Christine Bratu

Gegenstandsbereich und normative Grundannahme des Liberalismus Der Liberalismus ist eine normative Theorie dazu, was sich Menschen wechselseitig schulden, d. h. was ihnen im Umgang miteinander erlaubt, ver- und geboten ist. Als solche normative Theorie des wechselseitigen Miteinanders kann der Liberalismus sowohl Aussagen dazu beinhalten, welche Rechte und Pflichten Personen gegenüber anderen Personen haben, als auch dazu, wie das politische Miteinander gestaltet sein sollte, d. h. welche Pflichten und Ansprüche der Staat gegenüber seinen Bürger*innen hat bzw. die Bürger*innen gegenüber dem Staat haben. Denn in vielen modernen Gesellschaften schreiben Personen die Regeln ihres wechselseitigen Miteinanders (etwa dass man andere nicht körperlich schädigen oder bestehlen darf) öffentlich fest, indem sie diese in kodifiziertes und vom Staat sanktioniertes Recht überführen. Wegen dieser großen Bedeutung des Staates für die Regelung des wechselseitigen Miteinanders konzentrieren sich viele klassische Ansätze des Liberalismus daher insbesondere auf den Staat und auf die Frage, wie dieser verfasst sein sollte

C. Bratu (*)  Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen, Deutschland E-Mail: [email protected]

oder (anders formuliert) wann der Staat legitim ist (für detaillierteren Überblick vgl. Bratu/Dittmeyer 2017). Die normative Grundannahme des Liberalismus ist dabei, dass Personen ein Recht auf Freiheit haben und dass die Beachtung dieses individuellen Rechts auf Freiheit notwendige Bedingung für die Legitimität des Staates ist (wobei Rawls diese Grundannahme umsetzt durch die Forderung, dass die Grundstruktur eines legitimen Staates Grundsätzen entsprechen muss, die unter dem Schleier des Nichtwissens gewählt würden und also allgemein zustimmbar wären). Die Rechtskomponente des Rechts auf Freiheit ist dabei im Sinne einer dreistelligen normativen Relation zwischen Rechtsträger*innen und Rechtsadressat*innen zu verstehen und zwar darauf, dass bestimmte Handlungen durch Rechtsadressat*innen (je nachdem, ob man ein Möglichkeits- oder ein Ausübungskonzept von Freiheit zugrunde legt, dazu unten mehr) unterbleiben oder erfolgen. Dass A das Recht auf Freiheit hat bedeutet also, dass A gegenüber B Anspruch darauf hat, dass B bestimmte Handlungen x1–xn unterlässt oder durchführt (vgl. Wendt 2009, 71). Alternativ könnte man das Recht auf Freiheit auch als zweistellige Relation zwischen Rechtsträger*innen und einer Handlung x verstehen, so dass As Recht auf Freiheit gleichbedeutend damit wäre, dass A x ausführen darf und es A also weder ver- noch geboten ist x auszuführen

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_72

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(dieses Rechtsverständnis liegt bspw. dem von Thomas Hobbes postulierten ius in omnia zugrunde, vgl. Hobbes 2000 [1651], Kap. 14). So interpretiert hätte As Recht auf Freiheit allerdings keine weiteren Implikationen für das wechselseitige Miteinander. Denn daraus, dass A x in diesem Sinne ausführen darf, folgt noch nichts dafür, wie andere Personen und der Staat mit A umgehen müssen. Da der Gegenstandsbereich des Liberalismus aber das wechselseitige Miteinander ist (wie sich bei Rawls etwa darin zeigt, dass seine Theorie der Gerechtigkeit eine Theorie für soziale Institutionen ist, vgl. Rawls 2000 [1971], 19), ist diese Lesart der Rechtskomponente des Rechts auf Freiheit ausgeschlossen. Auch bestimmte Lesarten der Freiheitskomponente des Rechts auf Freiheit können von vornherein ausgeschlossen werden. So kann mit der Freiheit, die im Zentrum des Liberalismus steht, nicht Willensfreiheit gemeint sein, also das Vermögen einer Person ihre Motive und Wünsche zu kontrollieren und so ihren Willen selbstständig zu bestimmen. Denn die Willensfreiheit einer Person kann (wenn überhaupt) nur indirekt durch den Staat oder durch andere Personen beeinflusst werden, so dass ein Recht auf Willensfreiheit ebenfalls nicht in den Gegenstandsbereich des wechselseitigen Miteinanders fällt. Stattdessen bezieht sich die Freiheitskomponente des liberalen Rechts auf Freiheit auf Handlungsfreiheit, also das Vermögen einer Person Handlungen auszuführen. Unterschiedliche Autor*innen buchstabieren dieses Vermögen unterschiedlich aus (für einen Überblick vgl. Taylor 1991). Nach einem negativen Möglichkeitskonzept von Handlungsfreiheit ist A frei zu einer Handlung x genau dann, wenn A nicht von anderen Personen daran gehindert wird x auszuführen. Nach einem positiven Möglichkeitskonzept von Handlungsfreiheit ist A frei zu x genau dann, wenn A nicht von anderen Personen daran gehindert wird x auszuführen und x zudem (objektiv oder subjektiv) wertvoll ist, d. h. wenn es (entweder in den Augen von A oder objektiv) gute Gründe dafür gibt x auszuführen. Nach einem Ausübungskonzept von Freiheit (das insgesamt eher dem entspricht, was

C. Bratu

häufig als ‚Autonomie‘ bezeichnet wird) ist A frei im Vollzug von x genau dann, wenn x As Wertvorstellungen entspricht. Und nach einem republikanischen Konzept von Freiheit ist A frei zu x genau dann, wenn es keine Person oder Institution gibt, welche die robuste Fähigkeit hat, A willkürlich daran zu hindern x auszuführen (für die klassische Darstellung des Republikanismus vgl. Pettit 1997). Grundsätzlich folgt aus dem Recht auf Freiheit, dass ein legitimer Staat nur solche Handlungen vollziehen, d. h. nur solche Gesetze erlassen und sanktionieren darf, durch die er die Freiheit seiner Bürger*innen nicht beschneidet. Je nachdem, wie wir ‚Freiheit‘ verstehen, setzt dies dem liberalen Staat engere oder weitere Grenzen legitimen Handelns. Am besten lässt sich dies anhand eines Beispiels verdeutlichen, etwa anhand der Frage, ob der Staat die Schulpflicht für Kinder einführen und durchsetzen darf. Nach einem negativen Möglichkeitskonzept verstößt dies nur dann nicht gegen das Recht auf Freiheit der Bürger*innen, wenn sich diese dadurch, dass sie ihre Kinder nicht zur Schule schicken, wechselseitig unzulässig in ihrem Recht auf Freiheit beschneiden. Denn in diesem Fall wäre die Einführung der Schulpflicht durch den Staat nur Kompensation für einen davor erfolgten Verstoß gegen das Recht auf Freiheit anderer und damit selbst wieder rechtens (vgl. MS AA VI, 231). Nach einem positiven Möglichkeitskonzept ist die Schulpflicht dagegen keine unzulässige Freiheitseinschränkung der Bürger*innen, jedenfalls wenn wir davon ausgehen, dass es für jedes Kind objektiv wertvoll ist, ein Mindestmaß an schulischer Bildung zu erhalten. Aus demselben Grund ist die Schulpflicht auch vor dem Hintergrund eines Ausübungskonzepts von Freiheit kein Verstoß gegen das Recht auf Freiheit. Vor dem Hintergrund eines republikanischen Freiheitskonzepts hängt die Bewertung der Schulpflicht schließlich davon ab, wie diese eingeführt wurde, d. h. ob die Bürger*innen ausreichend in den Gesetzgebungsprozess involviert waren oder ob dieser ihrer Kontrolle entzogen war. Da liberale (im Gegensatz zu libertären) Autor*innen in der Regel für mehr als einen bloßen

72  Liberalismus: Theoretisch-normative Grundlegung

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Nachtwächterstaat eintreten, dessen einzige Aufgabe darin besteht individuelle Verstöße gegen das Recht auf Freiheit zu ahnden, legen sie dem Recht auf Freiheit meist ein positives Möglichkeitskonzept von Freiheit zugrunde (vgl. Rawls 2000 [1971], 96). Wie weit der Aktionsradius eines legitimen Staates genau ausfällt, hängt dann letztlich davon ab, welche Handlungen die Autor*innen als (objektiv bzw. subjektiv) wertvoll ansehen. Allgemein lässt sich Folgendes festhalten: Die Grenzen legitimen staatlichen Handelns verlaufen im Liberalismus entlang der Demarkationslinie „wertvolle/wertlose Handlungen der Bürger*innen“, denn in erstere einzugreifen oder diese gar zu verbieten ist mit dem Recht auf Freiheit der Bürger*innen nicht vereinbar (vgl. Bratu 2014).

ren abhängig zu sein“ (Locke 2006 [1689], § 4). Dieses (Natur-)Recht auf Freiheit buchstabiert Locke dann in konkrete Einzelrechte aus, nämlich dass „niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz […] Schaden zufügen soll“ (ebd., § 6). Locke überführt also das allgemeine Recht auf Freiheit in die konkreteren Einzelrechte auf Leben und auf Besitz. Anhänger*innen eines so genannten Rechtfertigungsliberalismus gehen anders vor. Statt das Recht auf Freiheit in konkrete Einzelrechte auszubuchstabieren, fordern sie die allgemeine Rechtfertigbarkeit staatlichen Handelns vor allen Bürger*innen. Diese Strategie beruht auf der Annahme, dass ein Gesetz nicht gegen das Recht auf Freiheit der Bürger*innen verstoßen kann, wenn es vor diesen rechtfertigbar ist. Denn würde es ihnen wertvolle Handlungsmöglichkeiten rauben und sie also unzulässig in ihrer Handlungsfreiheit beschneiden, würden die Bürger*innen dieses Gesetz nicht als begründet ansehen. Ein idealtypischer Vertreter eines solchen Rechteliberalismus ist etwa Rainer Forst. Forst behauptet, dass „jede Freiheitseinschränkung daraufhin geprüft werden“ muss, „in welchem Maße autonome Personen dies […] voreinander rechtfertigen können“ (Forst 2007, 210). Für Forst wird das Recht auf Freiheit der Bürger*innen durch das „Recht auf Rechtfertigung“ gewahrt, demzufolge eine Person „nicht auf eine Weise behandelt werden darf, für die ihr nicht angemessene Gründe geliefert werden können“ (ebd., 300). Unterschiedliche Versionen des Rechtfertigungsliberalismus unterscheiden sich allerdings darin, wie sie die Idee der Rechtfertigbarkeit genau fassen. Nach der restriktiven Lesart müssen die Bürger*innen ausgehend von den Überzeugungen, die sie de facto haben, einsehen, was für ein Gesetz spricht, damit dieses als vor ihnen rechtfertigbar gilt; für die permissive Lesart gilt ein Gesetz dagegen schon dann als vor den Bürger*innen rechtfertigbar, wenn diese einsehen könnten, was für dieses Gesetz spricht, wären ihre Überzeugungen frei von Widersprüchen und falschen Annahmen (vgl. Gaus 2009). Da es praktisch nur schwer möglich ist zu überprüfen, ob

Rechteversus Rechtfertigungsliberalismus Vielen liberalen Autor*innen ist diese allgemeine Antwort auf die Frage nach den Grenzen legitimen staatlichen Handelns zu abstrakt. Im Rahmen der liberalen Tradition haben sich daher zwei unterschiedliche Konkretisierungsstrategien ausgebildet (wobei die nachfolgenden Kategorien Idealtypen darstellen, die einzelne Ansätze mehr oder weniger passgenau erfüllen). Anhänger*innen eines so genannten Rechteliberalismus buchstabieren das Recht auf Freiheit der Bürger*innen in eine Reihe konkreter Einzelrechte aus, wie etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Religions-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Eigentum etc., die verschiedene Typen wertvoller Handlungen explizit vor Eingriffen durch den Staat schützen. Ein Beispiel für einen solchen Rechteliberalismus ist etwa John Lockes Zweite Abhandlung über die Regierung. Hier behauptet Locke, dass sich die Menschen „von Natur aus“ in einem „Zustand vollkommener Freiheit“ befinden, „innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines ande-

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ein Gesetz vor den Überzeugungen, die die Bürger*innen de facto haben, zu rechtfertigen ist, hängen die meisten rechtfertigungsliberalen Autor*innen der permissiven Lesart an. Insofern abstrahiert der Rechtfertigungsliberalismus zumindest teilweise von den real gegebenen Umständen (nämlich den de facto vorliegenden Überzeugungen der Bürger*innen); eine weitere Abstraktion, die von den meisten rechtfertigungsliberalen Autor*innen akzeptiert wird, ist die so genannte Asymmetriethese (vgl. Quong 2011, 13). Dieser These zufolge besteht zu bestimmten Themengebieten ein irreduzibler Pluralismus vernünftiger Überzeugungen, zu anderen nicht. Als für einen solchen Pluralismus anfällige Themengebiete werden meistens die Fragen nach dem gelungenen Leben und dem richtigen Selbstverhältnis behandelt; Fragen des wechselseitigen Miteinanders werden dagegen als solche angesehen, zu denen sich vor allen Bürger*innen rechtfertigbare Antworten finden lassen (vgl. Rawls 1989). Aus der Asymmetriethese folgt, dass der liberale Staat nur Gesetze zur Regelung des wechselseitigen Miteinanders erlassen kann, ohne dadurch gegen das Recht auf Freiheit der Bürger*innen zu verstoßen, und dass Gesetze zu Fragen des gelungenen Lebens auch nach der permissiven Lesart niemals allgemein rechtfertigbar und also legitim sein werden. Gesetzesvorhaben, die Fragen betreffen, zu denen irreduzibler Pluralismus herrscht, müssen dem Rechtfertigungsliberalismus zufolge also gar nicht mehr erwogen, sondern können direkt als illegitim verworfen werden.

Politischer versus perfektionistischer Liberalismus Während sich Rechte- und Rechtfertigungsliberalismus uneins darüber sind, ob der Liberalismus das Recht auf Freiheit konkret ausbuchstabieren muss oder sich mit der Forderung nach der allgemeinen Rechtfertigbarkeit der Gesetze begnügen kann, streiten sich politischer und perfektionistischer Liberalismus über das Begründungsproblem, d. h. darüber, ob der Liberalismus eine Begründung dafür liefern

C. Bratu

muss, warum Personen das Recht auf Freiheit überhaupt zukommt. Anhänger*innen des politischen Liberalismus schrecken vor einer Begründung des Rechts auf Freiheit zurück, weil sie sowohl der Asymmetriethese anhängen als auch der Auffassung sind, dass die besten (oder vielleicht sogar die einzigen, vgl. Colburn 2010, Abschn. 3.3.3) Begründungen für das Recht auf Freiheit auf Annahmen zum gelungenen Leben und damit auf Annahmen beruhen, die der Asymmetriethese zufolge nicht vor allen Bürger*innen rechtfertigbar sind. Das Recht auf Freiheit unter Rückgriff auf solche Annahmen zu begründen wäre den Anhänger*innen des politischen Liberalismus zufolge sowohl philosophisch unbefriedigend, weil man das Recht auf Freiheit so nicht über alle vernünftigen Zweifel erheben kann; vor allem aber würde eine solche Begründung den Liberalismus selbst illiberal machen. Denn als Theorie des wechselseitigen Miteinanders legt der Liberalismus fest, welche Gesetze legitim sind und welche nicht, und schränkt damit indirekt den Handlungsspielraum der Bürger*innen ein. Daher gilt für den Liberalismus als philosophische Theorie staatlicher Legitimität das Gleiche, was er selbst wiederum von den Gesetzen eines Staates fordert: Der Liberalismus darf nur durchgesetzt werden, wenn er vor allen Bürger*innen rechtfertigbar ist. Anders ausgedrückt: Der Liberalismus hat ein rekursives Element – er muss auf sich selbst angewendet werden (Rawls drückt diese Überlegung aus, indem er behauptet, der Liberalismus müsse das Prinzip der Toleranz auf die Philosophie selbst anwenden, vgl. Rawls 2003 [1993], 74). Würde man das Recht auf Freiheit dadurch begründen, dass man auf Annahmen zum gelungenen Leben zurückgreift, würde man es also (dem politischen Liberalismus zufolge) unter Rückgriff auf Annahmen begründen, die nicht vor allen Bürger*innen rechtfertigbar sind, so dass seine Durchsetzung illiberal wäre. Um dieser Schwierigkeit aus dem Weg zu gehen, bestreiten Anhänger*innen des politischen Liberalismus einfach, dass das Recht auf Freiheit selbst noch einer Rechtfertigung bedarf. Nach Rawls, auf den die Bezeichnung

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‚politischer Liberalismus‘ zurückgeht, müssen liberale Philosoph*innen das Recht auf Freiheit deswegen nicht selbst begründen, weil dieses Recht unter den Bürger*innen liberal geprägter Staaten nicht umstritten ist. Grund hierfür ist jedoch nicht, dass das Recht auf Freiheit vor allen Bürger*innen unter Rückgriff auf dieselben Überzeugungen zum gelungenen Leben rechtfertigbar ist, sondern dass unterschiedliche Theorien zum gelungenen Leben das Recht auf Freiheit aus unterschiedlichen Gründen als sinnvolle Regel des wechselseitigen Miteinanders ausweisen, so dass dazu ein so genannter überlappender Konsens besteht (vgl. Rawls 2003 [1993], 4. Vorlesung). Solange sich der Liberalismus damit begnügt, nur Aussagen zum wechselseitigen Miteinander zu treffen und insofern politisch zu bleiben (daher der Name dieser Form des Liberalismus), kann er es sich Rawls zufolge leisten, keine eigenständige Begründung für das Recht auf Freiheit zu liefern, sondern stattdessen auf diesen überlappenden Konsens vertrauen. Anhänger*innen des sogenannten perfektionistischen Liberalismus reagieren dagegen auf das Begründungsproblem, indem sie die Asymmetriethese punktuell aufweichen und also annehmen, dass zu bestimmten Elementen des gelungenen Lebens kein irreduzibler Pluralismus vernünftiger Überzeugungen besteht, so dass diese Elemente zur Begründung des Rechts auf Freiheit herangezogen werden können. Dabei unterscheiden sich die verschiedenen Varianten des perfektionistischen Liberalismus dahingehend, welche Elemente des gelungenen Lebens sie für vor allen Bürger*innen rechtfertigbar halten. Nach Joseph Raz gehört beispielsweise Autonomie vernünftigerweise zu einem gelungenen Leben; daher glaubt Raz, das Recht auf Freiheit vor allen Bürger*innen rechtfertigen zu können, indem er darauf hinweist, dass dieses Recht notwendig (wenn auch nicht hinreichend) dafür ist, um ein autonomes Leben zu führen (vgl. Raz 1986, Abschn. 15.2). Ihre Antwortstrategie auf das Begründungsproblem erklärt, warum sich für diese Form des Liberalismus die Bezeichnung ‚perfektionis-

tisch‘ eingebürgert hat. Denn anders als der politische Liberalismus erlaubt der perfektionistische Liberalismus nicht nur theoretische Rückschlüsse darauf, was das gelungene Leben für die Einzelne ausmacht; aus der Tatsache, dass er bestimmte Elemente des gelungenen Lebens als für allgemein rechtfertigbar deklariert, folgt auch, dass der liberale Staat diese Elemente durchsetzen und also in dieser Hinsicht das gelungene Leben seiner Bürger*innen befördern darf. Laut Raz’ perfektionistischem Liberalismus darf der Staat bspw. dafür eingesetzt werden, den Bürger*innen die intellektuellen Fähigkeiten zu vermitteln, die für ein autonomes Leben notwendig sind (vgl. Raz 1986, Abschn. 15.4). Wie umfassend der liberale Staat zur Förderung des gelungenen Lebens der Einzelnen eingesetzt werden darf, hängt gemäß dem perfektionistischen Liberalismus dann letztlich davon ab, welche Elemente des gelungenen Lebens als allgemein rechtfertigbar angesehen werden (vgl. Wall 2009).

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Liberalismus: Spielarten und Herausforderungen

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Johannes J. Frühbauer, Michael Roseneck und Thomas M. Schmidt

Der vorangegangene Beitrag führte in die theoretischen Grundlagen liberalen Denkens ein. Im Folgenden sollen nun daran anschließend zentrale Spielarten und Familienverwandte des Liberalismus vorgestellt sowie auf zentrale Herausforderungen eingegangen werden, die sich dem Liberalismus als politischer Theorie gegenwärtig stellen.

Spielarten Die Auswahl der hier diskutierten Spielarten des Liberalismus begründet sich dadurch, dass sie im akademischen Diskurs wie auch in der politischen Öffentlichkeit von zentraler Bedeutung sind oder an Bedeutung gewinnen. So gilt etwa der 1) Libertarismus insbesondere im angelsächsischen Raum weiterhin als eine sowohl politiktheoretisch als auch ideologisch signifikante Alternative zum stärker sozialdemokratischen Liberalismus von

J. J. Frühbauer (*)  Katholische Stiftungshochschule München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Roseneck · T. M. Schmidt  Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] T. M. Schmidt  E-Mail: [email protected]

Rawls. Robert Nozicks 1974 erschienenes Anarchie, Staat, Utopia war die erste fundamentale Kritik an Rawls’ Gerechtigkeitstheorie. Gleiches kann wohl auch für den europäischen Raum über den 2) Neoliberalismus gesagt werden. Der 3) Nationalliberalismus dagegen scheint mit dem Erstarken nationalistischer und nativistischer Narrative an Bedeutung zu gewinnen. 1. Libertarismus: Der Libertarismus kann insofern als eine dem Liberalismus verwandte Theorie angesehen werden, als er sich auch auf den Kontraktualismus Lockes zurückführen lässt: Locke (1967, 68 f., 199–202) schließt aus theologischen Prämissen, dass jeder Mensch über ein natürliches Eigentumsrecht an sich selbst (self ownership) und an dem von ihm Bearbeiteten und Produzierten verfügt. Auf dieses ursprüngliche Eigentumsrecht, seinen theologischen Vorannahmen entledigt, bezieht sich dann Nozick (1974) in der rechtslibertären Schrift Anarchie, Staat, Utopia und folgert, dass lediglich ein Minimalstaat, auch Nachtwächterstaat genannt, der um die innere und äußere Sicherheit bemüht ist, allgemein gerechtfertigt werden könne. Ein ausgearbeiteter Sozialstaat mit vorsorgenden Ex-ante-Institutionen, wie ihn Rawls’ (1975, 308–318) Gerechtigkeitstheorie favorisiert, verletze dagegen das Recht eines jeden Menschen auf Eigentum an sich selbst und den Produkten seiner Arbeit, da ein solcher nur durch Eingriffe in das Privateigentum und anschließender Umverteilung zu ermöglichen sei.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_73

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Das fundamentale Defizit in Rawls’ Gerechtigkeitstheorie liege nach Nozick dabei darin, dass ihr Verständnis der zu verteilenden Grundgüter ahistorisch ausfalle, indem sie die Rahmenbedingungen der Güterproduktion außer Acht lasse. Die Grundgüter, deren gerechte Verteilung über das Gedankenexperiment des Urzustandes zu evaluieren sei, fielen in Rawls’ Theorie, um eine prominente Stelle aus Anarchie, Staat, Utopia zu zitieren, „wie Manna vom Himmel“ (1974, 185). Beachte man jedoch ihren faktischen Ursprung, so setzten direkt auch vorrangige Eigentumsrechte ein, die eine um die individuelle Freiheit des Individuums bemühte politische Philosophie zuvorderst berücksichtigen müsse. Soziale Fürsorge könne folglich nur als freiwilliger Akt legitim sein (vgl. Sloterdijk 2010). Dem gegenüber kritisch positioniert sich der Linkslibertarismus (Vallentyne 2000; vgl. Niesen 2016, 106), indem er sich auf den Lockeschen Vorbehalt bezieht. Nach diesem sei das natürlich gegebene individuelle Eigentumsrecht an dem Bearbeiteten und Produzierten nur so lange unumschränkt gültig, wie genügend Ressourcen für alle anderen bereitstehen, um sich selbst zu versorgen (Locke 1967, 221). Reale Gesellschaften sind allerdings durch eine Situation der Güterknappheit gekennzeichnet. Hier könne nun ein durch Steuern finanzierter Sozialstaat dahingehend legitim sein, dass er Kompensationsleistungen einbezieht und umverteilt. Unternehmerisches Handeln führt beispielsweise dazu, dass bestimmte Ressourcen wie Land oder Rohstoffe der Verwendung durch Andere entzogen werden. Eine Unternehmenssteuer könnte daran ansetzend die Funktion übernehmen, diese Deprivation auszugleichen, indem sie die Allgemeinheit entsprechend entschädigt. Die linkslibertäre Position hat aus Sicht des Rawlsschen Liberalismus Vorzüge: Zum einen gelingt es ihr den ahistorischen Zug des Rechtslibertarismus teilweise aufzuheben. Es ist nämlich zu berücksichtigen, dass die individuellen Lebensumstände bedingt durch natürliche Gegebenheiten und soziale Umstände in erheblichem Maße unterschiedlich ausfallen (Rawls

J. J. Frühbauer et al.

1975, 29, 346). Manche dieser Unterschiede sind moralisch irrelevant, zum Beispiel, wenn sie milieuspezifische Unterschiede der Lebensführung betreffen, die als Geschmacksfragen abzuhandeln sind. Andere gehen jedoch mit sozialer Ungleichheit einher. Beispielsweise ist der in Wissens- und Dienstleistungsgesellschaften relevante Bildungserfolg von Kindern oft signifikant vom bereits akkumulierten Bildungskapital des Elternhauses abhängig, welches gleichwohl nicht in der Verfügungsgewalt des einzelnen Kindes steht. Eine um die freie Lebensführung bemühte politische Philosophie muss dementsprechend aufzeigen, wie sie diese vorab gegebene, arbiträr zustande gekommene Ungleichheit hinreichend zu kompensieren gedenkt. Gleichwohl sind sowohl Rechts- als auch Linkslibertarismus aus Sicht des Liberalismus zu individualistisch, wenn sie nicht berücksichtigen, dass die Produktion von Gütern ein in vielerlei Hinsicht kooperatives Unterfangen ist. Gewinngenerierung etwa ist nicht allein vom unternehmerischen Handeln und Geschick abhängig, sondern letztlich auch von den Mitarbeiter*innen. Und mehr noch sind florierende Unternehmen auf stabile politische Strukturen angewiesen, die beispielsweise Eigentumsrechte garantieren und gegebenenfalls mit staatlichen Sanktionen durchsetzen (vgl. Murphy/Nagel 2002). Insofern aber diese politischen Rahmenbedingungen von der öffentlichen Hand bereitgestellt werden, kann sie durchaus berechtigt sein, Steuern zu erheben sowie den sozialen Ausgleich zu eines jeden Vorteil zu fördern. Schließlich ist aus Sicht eines dezidiert politischen Liberalismus der Libertarismus nicht nur gerechtigkeits-, sondern auch demokratietheoretisch unterbestimmt, denn es ist anzuzweifeln, dass das libertäre Axiom vom self-ownership und einem natürlichen Eigentumsrecht am Bearbeiteten unter Rahmenbedingungen eines vernünftigen Pluralismus allgemein akzeptiert werden kann. Hier wäre einzuwenden, dass das Selbstverständnis des Selbsteigentums wohl für viele Bürger*innen vor dem Hintergrund ihrer spezifischen umfassenden Lehren nicht überzeugend sein wird,

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sie dies vielleicht sogar auch als Ausdruck eines entfremdeten Selbstverhältnisses begreifen (vgl. Macpherson 1990) und demnach nicht akzeptieren könnten. Daraus resultiert, dass es dem Libertarismus in all seinen Spielarten nicht gelingt, allgemein als legitim anerkannte Rechtfertigungen hervorzubringen. 2. Neoliberalismus: Zum weitgefächerten Diskurs des Liberalismus gehört auch die Strömung des Neoliberalismus, der verstärkt ökonomische als politische oder gesellschaftliche Aspekte ins Spiel bringt. Folgt man der Einschätzung des Politikwissenschaftlers Thomas Biebricher, so befindet sich der Neoliberalismus seit Mitte der 1970er Jahre auf einem globalen Siegeszug (vgl. Biebricher 2018, 9). Trotz des vermeintlichen Siegeszuges darf nicht übersehen werden, dass der Neoliberalismus kontrovers diskutiert und bewertet wird, und für manche sich sogar die Verwendung eines alternativen Begriffs nahelegt. Denn der Terminus lässt sich nicht nur als Modewort kennzeichnen, sondern mehr noch als politisch aufgeladener Kampfbegriff, der zugespitzt kritisch oder diskreditierend gegen seine Befürworter ins Feld geführt wird. Biebricher spricht sogar von der „semantischen Waffe in der Hand antikapitalistischer Kräfte“ (Biebricher 2021, 11). Etwa wenn es um Kritik an der extremen Zunahme sozialer Ungleichheiten geht, an der Dominanz des Finanzkapitalismus und die durch diesen verursachten Krisen sowie um Kritik an der Ausweitung der Marktzone bis in den letzten Winkel der nicht-ökonomischen Sphären der Gesellschaft (vgl. Biebricher 2018, 9). Schnell sind Verbindungen hergestellt zu Bezeichnungen wie „Raubtierkapitalismus“ oder „Turbokapitalismus“. Unklar zu sein scheint, welche Protagonisten sich tatsächlich als Neoliberale kennzeichnen lassen; Biebricher spricht daher vom Neoliberalismus ohne Neoliberale (vgl. Biebricher 2021, 8). Wer die Bezeichnung ‚Neoliberalismus‘ vermeiden möchte, spricht stattdessen einfach von Marktwirtschaft oder Kapitalismus (vgl. Biebricher 2021, 11). Trotz dieser kritischen Markierungen könne Biebricher zufolge der Begriff des Neoliberalismus „als Ressource für kritische Untersuchungen

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sozioökonomischer Verhältnisse in der kapitalistischen Gegenwart dienen“ (Biebricher 2021, 21). Ganz allgemein wird die Zuschreibung des Begriffs ‚Neoliberalismus‘ bzw. ‚neoliberal‘ für die Kennzeichnung verschiedenster Entwicklungen vorgenommen – womit eine inhaltliche Entleerung des Begriffs droht. Ungeachtet der Auseinandersetzungen um den Neoliberalismus, seine begriffliche Verwendung, seine politische Instrumentalisierung und seine tatsächlichen Auswirkungen ist zu fragen, welche Erkenntnisse eine nüchterne sachliche Betrachtung zu Tage fördern kann. Auf welche theoretischen Grundlagen ist er zurückzuführen? Für Biebricher leitet sich ein richtig verstandener Neoliberalismus, der im Kern nach den Möglichkeitsbedingungen funktionierender Märkte fragt, vor allem aus den Konzeptionen des Ordoliberalismus sowie der sozialen Marktwirtschaft, die sich entwicklungsgeschichtlich auf die Ausbildung der ökonomischen Dimension des Liberalismus zurückführen lassen, ab (vgl. Biebricher 2018, 11). Wesentlichen Anteil an der Entstehung des Neoliberalismus hatte die Krise des klassischen Liberalismus (vgl. Biebricher 2021, 22). Zunächst stand der Liberalismus in seiner politischen Dimension sowohl für Rechtsstaatlichkeit als auch für rechenschaftspflichtiges Regieren (vgl. Biebricher 2018, 24). Spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es dann eine allgemeine Tendenz zur ökonomischen Liberalisierung, die ihre Wurzeln in frühliberalen Ideen aus der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte. In seiner ökonomischen Dimension richtete sich der Liberalismus offenkundig gegen alle Formen von wirtschaftlichen Restriktionen, seien es Marktzugangsbeschränkungen, seien es Berufszulassungen oder auch Einfuhrzölle. Der Wirtschaftsliberalismus suchte sich im Gefolge von Adam Smiths Idee der „unsichtbaren Hand des Marktes“ das produktive Potenzial aus der Verbindung von individueller Freiheit einerseits und persönlichem Gewinnstreben andererseits nutzbar zu machen. Eine extreme Form des ökonomischen Liberalismus fand sich in den radikalen Formen eines unbeschränkten ‚LaissezFaire‘ hinsichtlich des ­wirtschaftlichen Agierens.

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Die Auswirkungen einer staatlichen Ordnungspolitik, die allen wirtschaftlichen Entwicklungen letztlich freien Lauf ließ ohne Rücksicht auf negative Auswirkungen wie Ausbeutung und Ungleichheit führte mit dem Aufkommen des Industriekapitalismus zur Entstehung einer stark verarmten Arbeiterklasse und somit zur Entstehung von entgegengesetzten gesellschaftlichen Klassen an sich (Biebricher 2018, 25–27). Als offizielle Geburtsstunde des Neoliberalismus gilt das Colloque Walter Lippmann 1938 in Paris, bei dem sich erstmals eine Art „neoliberale Internationale“ versammelte. Die intellektuelle Entstehung des Neoliberalismus zeichnete sich jedoch als langjähriger Prozess ab, der in seinen Anfängen zurückreicht bis in die 1920er Jahre und mit dem Ökonomen Ludwig von Mises (1881–1973) in Verbindung steht. Konkreter Anlass für das Pariser Kolloquium war die Schrift Die Gesellschaft freier Menschen von Walter Lippmann (1889–1974) aus dem Jahre 1937 (Lippmann 1945). Doch bereits Jahre vor dem insbesondere wirtschaftswissenschaftlich geprägten Kolloquium setzte das neoliberale Denken ein (Biebricher 2018, 33). Das Pariser Kolloquium hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sich zum einen mit der offenkundigen Krise des Liberalismus zu befassen und zum anderen die Frage zu erörtern, was die Voraussetzungen für die angestrebte liberale Erneuerung sein könnten. Neben dem Pariser Kolloquium lassen sich mit der London School of Economics und dem Department of Economics an der University of Chicago als weitere Keimzellen des Neoliberalismus benennen. In der frühen Phase des Neoliberalismus, der zunächst einen reaktiven Charakter hatte und dessen Terminus sich gegen alternative Bezeichnungen wie ‚positiver Liberalismus‘ oder ‚Liberalismus von links‘ durchsetzte, lassen sich die Revision des bisherigen Liberalismus und die Revitalisierung der liberalen Agenda als Grundzüge benennen. Die Weiterentwicklung des neoliberalen Denkens wurde jedoch durch den zweiten Weltkrieg für längere Zeit unterbrochen. Es war Friedrich August von Hayek (1899–1992), der sich dann in der Nachkriegszeit um die Wiederbelebung der internationalen Vernetzung neoliberaler Den-

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ker bemühte. Zu den Strömungen, die aus dem Neoliberalismus hervorgingen, zählen der Ordoliberalismus und die Freiburger Schule (Walter Eucken und Alfred Müller Armack), die Konstitutionenökonomik und der Public Choice Ansatz (James Buchanan), der evolutionäre Neoliberalismus (Hayek) sowie der monetäre Neoliberalismus (Milton Friedmann). Als Hauptantagonisten des Neoliberalismus in der Nachkriegszeit markiert Biebricher Kommunismus sowie Nationalsozialismus/Faschismus als „unterschiedliche Manifestationen der gleichen Grundmischung aus Kollektivismus und Totalitarismus“ (Biebricher 2021, 36). In globaler Perspektive wird immer wieder von einem „Siegeszug“ des Neoliberalismus in den zurückliegenden Jahrzehnten, spätestens seit den 1980er Jahren gesprochen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts stand die Kennzeichnung ‚neoliberal‘ insbesondere für Politiken der Deregulierung und Privatisierung (vgl. Biebricher 2021, 21) und war zunächst mit politischen Protagonisten wie dem früheren US-Präsidenten Ronald Reagen (1911–2004) sowie der britischen Premierministerin, der sogenannten „eisernen Lady“ Margret Thatcher (1925–2013) verbunden. Ihre jeweils neoliberal ausgerichtete Politik firmierte unter den Begriffen ‚Reagonomics‘ und ‚Thatcherism‘ (vgl. Brühwiler 2021, 371–373). Vor allem der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch setzt sich in seinen Publikationen immer wieder kritisch mit den Phänomenen, vor allem aber mit den politischen und sozialen Wirkungen des Neoliberalismus bzw. neoliberaler Politik auseinander (vgl. Crouch 2008; Crouch 2011; Crouch 2021). Crouch kennzeichnet den Neoliberalismus der Gegenwart „als ein politisches Dogma, demzufolge möglichst viele Bereiche unseres Lebens dem ökonomischen Ideal des freien Marktes unterworfen werden sollten“ (Crouch 2018, 17). Auf der einen Seite sieht Crouch die Ablehnung und Kritik des Neoliberalismus, da er vor allem zu sozialer Ungleichheit führe bzw. diese verstärke, auf der anderen Seite stünden die Bürger*innen, die sich am Leitgedanken orientierten, möglichst viel von ihrem Einkommen und Vermögen für sich behalten zu können, ohne irgendwelche Abgaben oder Steuern erbringen zu müs-

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sen – für Dinge, die möglicherweise nicht in ihrem Interesse liegen. Im Vordergrund steht hier ein möglichst ungehindertes individuelles Profitstreben ohne Sozialverpflichtungen, allenfalls mit der Annahme, dass durch die Marktfreiheit ein Wohlstand generiert werde, der schlussendlich allen Bürger*innen zugutekomme (vgl. Crouch 2018, 10 f.). Angesichts der anhaltenden Krisenphänomene seit dem Beginn der Finanzkrise 2008 und mit Blick auf die unsozialen Auswirkungen, stellt sich die Frage nach der Zukunft des Neoliberalismus. Strittig ist hierbei, ob dieser reformierbar ist, ob wir uns bereits in einer post-neoliberalen Phase befinden, oder ob es gelingt alternative wirtschaftspolitische Konzepte zu entwickeln und zu etablieren, mit denen der Neoliberalismus endgültig abgelöst werden könnte (vgl. Biebricher 2012, 185–217; Crouch 2018, 49–92). Mit Blick auf die Zukunft stellen sich auch die Fragen, wie sich unter anderem die Zunahme des Rechtspopulismus, der damit verbundenen Fremdenfeindlichkeit sowie des politischen Autoritarismus und überdies die globale Coronakrise der Jahre 2020–2022 sowie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine mit Beginn im Februar 2022 auf die wirtschaftspolitischen Ordnungen Europas und hinsichtlich der Entwicklung politisch-ökonomischer Konzepte und Strategien auswirken werden und welche Rolle der Neoliberalismus hier wird einnehmen können. 3. Nationalliberalismus: Bedingt durch Entwicklungen wie der voranschreitenden europäischen Integration und Ereignissen wie der vergleichsweise hohen Immigration von Flüchtenden in der Mitte der 2010er Jahre, treten in der Öffentlichkeit nationalliberale Positionen wieder deutlicher zutage. Der Nationalliberalismus zeichnet sich sowohl durch die Parteinahme für liberal-demokratische Werte als auch durch die Betonung von nationaler Identität und Gemeinschaft aus. Damit grenzt er sich zur einen Seite von antidemokratischen Nationalismen ab, aber auch zur anderen Seite deutlich von internationalistischen und kosmopolitischen Liberalismen und Gerechtigkeitstheorien. Seinen Ursprung im deutschsprachigen Raum fand der Nationalliberalismus unter anderem in

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der historischen Besonderheit, dass im 19. Jahrhundert das Eintreten für die Verwirklichung einer liberalen politischen Ordnung einerseits und für die Einheit der deutschen Kleinstaaten andererseits historisch zusammenfielen (Nipperdey 2017, 289). Was aber, so könnte gefragt werden, spricht heute noch für eine nationalliberale Position, insbesondere angesichts der gesellschaftswissenschaftlichen Tatsache, dass nationale Identitäten nicht auf natürlichen Faktoren beruhen, sondern eine veränderbare soziale Konstruktion darstellen (vgl. Anderson 1996, 15)? David Miller (2005, 28, 31 f.) beantwortet dies damit, dass Nationalität zwar eine erdachte Größe, nationales Zusammengehörigkeitsgefühl aber für die Akzeptanz und das Funktionieren einer gerechten Grundstruktur notwendig und deswegen auch mittelbar normativ begrüßenswert seien. Zwei Aspekte sind es, welche nationale Identität für Miller (2008, 42) in dieser Hinsicht als conditio sine qua non erscheinen lassen: 1) Die Deliberation von politischen Fragestellungen, insbesondere sozialpolitischen, bedürfe eines kulturell geteilten Vorverständnisses über das, was als gerecht und ungerecht gilt. Dies ähnelt Rawls’ Hinweis, dass die Theorie der Gerechtigkeit nicht kosmopolitisch aufzufassen sei, sondern nur vor dem Hintergrund einer etablierten „politischen Kultur“, gleichwohl der Kultur einer „demokratischen Gesellschaft“ (Rawls 1998, 79). 2) Gut funktionierende demokratische und sozialstaatliche Vergesellschaftung erfordere ferner von den Bürger*innen sich nicht nur wie ein homo oeconomicus am eigenen Nutzen zu orientieren, sondern, ebenfalls im Sinne von Rawls (1975, 370), zum Beispiel mit ihrer Wahlentscheidung gerechte Umverteilungspolitiken zu unterstützen. Hier diene Miller (2008, 45 f.) zufolge Nationalität als motivationale Ressource, da sich nur Mitglieder einer Nation in hinreichendem Maße zusammengehörig fühlten und deswegen bereit seien, zu Gunsten von Anderen von eigenen Interessen abzusehen. Es zeigt sich also, dass der Nationalliberalismus gewisse gesellschaftliche Faktoren, die Rawls als Legitimitäts- und Funktionsbedingungen s­einer

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Theorie ausweist, mit Hilfe der Größen von nationaler Identität und einem nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl füllt. Diese funktionalistische begründete Relevanz von Nationalität zugunsten liberaldemokratischer und sozialstaatlicher Vergesellschaftung ist gleichwohl in diversen Punkten nicht überzeugend und birgt insbesondere auch für eine um die Freiheit und Gleichheit bemühte normative politische Theorie erhebliche Fallstricke. So ist sie zunächst unter anderem deswegen empirisch unangemessen, da sich historisch betrachtet oftmals erst mit der Etablierung eines gemeinsamen Staates ein Nationalgefühl herausbildete. Insofern kann dieses nicht eine vorausgehende, notwendige Bedingung für funktionierende Staaten sein (vgl. Schmalz-Bruns 1999, 192–201). Ferner stellt sich in Bezug auf die Funktionstüchtigkeit von Staaten heute die Frage, ob der nationalstaatliche Kontext allein noch eine effektive demokratische Selbsteinwirkung ermöglicht, oder, ob unter Rahmenbedingungen von zum Beispiel global agierenden Unternehmen nicht auch demokratische Politik supranational organisiert werden müsse, etwa in Form regionaler Zusammenschlüsse wie der Europäischen Union (vgl. Niederberger 2014, 79; Roseneck 2018). Schließlich wirkt die Annahme, nur nationale Identität sei eine mögliche Ressource für Solidarität eigentümlich veraltetet. Mit transnational agierenden Bewegungen wie etwa Fridays for Future oder internationalen Nichtregierungsorganisationen scheinen sich vielmehr zumindest Anfänge einer Weltöffentlichkeit und globalen Zivilgesellschaft herauszubilden, die wiederum Grundlage für demokratische Politik und die Beratung von Fragen globaler Gerechtigkeit jenseits des Nationalstaats sein können (vgl. Frinken 2021, 97 f.). Aber auch normativ weiß die funktional motivierte Affirmation von Nationalität nicht zu überzeugen. So operieren Nationalismen prinzipiell mit der Differenzierung zwischen einer In- und Outgroup. Diese Unterscheidung birgt gleichwohl immer die – sich historisch bereits entladend habende und sozialpsychologisch begründbare (Rutland et al. 2007) – Spannung,

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sich in Zwang und Gewalt gegenüber denjenigen zu verwirklichen, die vermeintlich nicht zur eigenen Gruppe gehören (Habermas 1996a, 134, 138). Ferner sieht sich eine nationalliberale Gerechtigkeitstheorie mit dem Einwand konfrontiert, unter Rahmenbedingungen einer zunehmend globalisierten sozialen Welt insofern nicht vielmehr als einen nationalen Egoismus zu begründen, als sie nicht zufriedenstellend globale ungerechte Prozesse und Strukturen beziehungsweise transnationale Gerechtigkeitsansprüche in den Blick nehmen kann (Forst 2015). Diese gewinnen aber zusehends an Bedeutung, denkt man zum Beispiel an Fallbeispiele wie Ländergrenzen überschreitende Ausbeutungszusammenhänge oder Fragen der Klimagerechtigkeit.

Herausforderungen Das liberale Paradigma erfährt innerhalb der Politischen Philosophie von zahlreichen Seiten Anfragen bis heftige Kritiken, wie auch das Kapitel IX „Rawls und seine Kritiker*innen“ erahnen lässt. Uns scheinen dabei drei Herausforderungen diskussionswürdig zu sein. Zunächst ist das 1) Verhältnis zwischen Liberalismus und Demokratie von Interesse, denn die Freiheit des Individuums und die demokratische Findung allgemeinverbindlicher Normen bilden für liberale Demokratien die zentralen Legitimitätsfaktoren, scheinen jedoch im Widerspruch zueinander zu stehen. Daran anschließend stellt sich die Frage, ob ein Rechtfertigungsliberalismus im Sinne Rawls unter Rahmenbedingungen 2) pluralistischer Gesellschaften funktionieren und deren Stabilität gewährleisten kann. Ferner eröffnet sich die Fragestellung, ob der Liberalismus angesichts der 3) massiven ökologischen Probleme unserer Zeit noch eine zweckmäßige Theorie sein könne. 1. Liberalismus und Demokratie: Carl Schmitt (2017 [1926], 13) äußerte eine wohl nicht ungeläufige Intuition, wenn er in der bekannten Vorbemerkung zur zweiten Auflage von Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus festhält: „Beides, Liberalis-

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mus und Demokratie, muß voneinander getrennt werden, damit das heterogen zusammengesetzte Gebilde erkannt wird, das die moderne Massendemokratie ausmacht.“ Während der Liberalismus für den Schutz der negativen Freiheit des Individuums einstehe, betone die Demokratie die Souveränität der Rechtsgemeinschaft, nötigenfalls auch zulasten von Individuen oder Minderheiten. Man könnte folglich im Anschluss an Schmitt die Bezeichnung „liberale Demokratie“ insofern interpretieren, als es sich dabei um ein hybrides System handle, in dem von durch die individuellen Freiheiten gezogenen Grenzen auf demokratischem Wege Entscheidungen getroffen werden, etwa über Mehrheitsregeln. Die Spannung zwischen Liberalismus und Demokratie wäre dann in der Hinsicht abgemildert, dass zunächst ein unantastbarer Raum individueller Freiheit festgelegt wird, um dem liberalen Prinzip Genüge zu tun. Unabhängig davon werden Entscheidungen, die diesen Raum nicht tangieren, dann durch das grundverschiedene demokratische Prinzip getroffen. Rawls politische Theorie zeichnet sich gleichwohl dadurch aus, Liberalismus und Demokratie, die Freiheit von Einzelnen und deren politische Autonomie als Teil eines Kollektivs zusammenzuführen, sodass sich beide Prinzipien nicht als doch im Grunde genommen widersprüchliche Gegensätze gegenüberstehen. Wie gelingt diese begriffliche Operation? Rawls (1975, 19 f.) geht davon aus, dass die politische Kultur liberaler Gesellschaften unter anderem dadurch charakterisiert ist, dass sich die Bürger*innen als in moralischer Hinsicht Freie und Gleiche anerkennen. Um daraufhin zu entscheiden, wie in einer solchen Gemeinschaft das Recht auf politische Teilhabe zu verteilen ist – ob es allen zukommt, einer Gruppe oder nur Einzelnen –, muss danach gefragt werden, wie die rationalen Akteure im Gedankenexperiment des Urzustandes die politischen Teilhaberechte unter sich verteilten (Rawls 1975, 28, 35). Rawls (1975, 81 f., 105) schließt nun in der Theorie der Gerechtigkeit, dass sich diese, nicht wissend, welche Stellung sie in der zukünftigen Gesellschaft einnehmen werden, für eine egali-

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täre Verteilung der klassischen liberalen Freiheitsrechte, Grundgüter, die zum Selbstrespekt notwendig sind, und der politischen Teilhaberechte entscheiden werden. Zwei Gründe können dabei für eine demokratische Gleichverteilung der Partizipationsrechte genannt werden: So spiegelt sich nach Rawls (1975, 393) in einer Gleichverteilung der politischen Partizipationsrechte der moralische Status als freie und gleiche Rechtsgenossen wider. Im Anschluss an Ingeborg Maus (1980) stärker republikanische Demokratietheorie kann ferner das Recht zur demokratischen Teilhabe aber auch instrumentell als Kontrollmechanismus zur Bewahrung der individuellen Freiheit aufgefasst werden (vgl. Gosepath 1998, 227–240). Es gelingt also in Eine Theorie der Gerechtigkeit insofern zunächst eine systematische Brücke zwischen Liberalismus und Demokratie zu schlagen, als die demokratische Gleichverteilung der politischen Teilhaberechte auf die eine Grundnorm einer liberalen politischen Kultur zurückgeführt werden kann, nach der alle Bürger*innen frei und gleich sind. Dies verfügt für angewandte Fragestellungen über gravierende Implikationen: Es wäre beispielsweise in normativer Hinsicht widersprüchlich, wenn die Mehrheit einer Rechtsgemeinschaft sich dazu entschlösse, die Freiheitsrechte einer Minderheit einzuschränken. Denn täte sie dies, widerspräche sie performativ der Grundnorm, der Freiheit und Gleichheit eines*einer Jeden, anhand derer sich erst ihre demokratischen Rechte begründen. Ferner ist zu unterstreichen, dass Rawls im Kontext liberaler politischer Philosophien einen Rechtfertigungsliberalismus vertritt, nach dem jegliche Einschränkung der individuellen Freiheit nur dann legitim sein könne, wenn sie über Normen reguliert ist, die partizipativ zustande kamen, und deren Begründung allgemeine Akzeptanz erfahren kann. Demokratische Selbstgesetzgebung tritt im Rechtfertigungsliberalismus also als Verfahren auf, durch welches die Legitimität von mit staatlichen Sanktionspotentialen ausgestatteten Gesetzen erst erzeugt werden kann. Damit aber die zweite Anforderung an demokratisch legitime Normen,

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allgemein akzeptierbar sein zu können, erfüllt werden kann, darf Demokratie nicht in einem minimalistischen Sinne als bloßer Wettbewerb unterschiedlicher Interessen um politische Macht missverstanden werden (wie etwa Becker 1982; Popper 1996), sondern muss vielmehr als deliberative Demokratie konzeptualisiert werden. Daraus folgt, dass demokratische Verfahren nicht bloß auf Mehrheitsentscheidungen reduziert werden dürfen, sondern ihnen muss ein diskursiver Prozess vorangehen, der die vorgebrachten Gründe für politische Maßnahmen bezüglich ihrer allgemeinen Akzeptierbarkeit hin überprüft (Rawls 1975, 394 f.). Wie schon John Dewey (1996 [1927], 172 f.) feststellte, wäre das „Mehrheitsprinzip, rein als Mehrheitsprinzip, […] so lächerlich wie seine Kritiker es zu sein bezichtigen. Aber es ist niemals nur Mehrheitsprinzip“, sondern ihm gehen deliberative Prozesse voran, „wodurch soziale Bedürfnisse und Nöte aufgedeckt werden“. Gerade dies lässt es für die Beförderung der Freiheit und Gleichheit einer*eines jeden so wichtig erscheinen. Dies nun kann zu Kritiken an dem in Rawls’ Theorie vorgenommenen Brückenschlag zwischen Liberalismus und Demokratie weiterleiten. So wendet die Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaats zum Beispiel ein, dass der politische Liberalismus den Zusammenhang zwischen individueller Autonomie und politischkollektiver Selbstgesetzgebung zwar zurecht erwähnt, allerdings theoretisch unterbestimmt (Habermas 1996b; Günther 2008, vgl. Reiß 2008), indem er das Partizipationsrecht am politischen Prozess lediglich als ein Freiheitsrecht in einem Katalog diverser anderer interpretiert, wie etwa dem Recht auf freie Religionsausübung oder freie Meinungsäußerung (vgl. Rawls 1975, 82). Zum einen sei allerdings zu bemerken, dass sich unter Rahmenbedingungen eines vernünftigen Pluralismus die klassisch liberalen Freiheitsrechte nicht mehr metaphysisch, etwa naturrechtlich, legitimieren lassen. Nur wenn sie wie auch immer als Produkt demokratischer Prozesse aufgefasst werden können, können sie noch Legitimität genießen. Zum anderen sei zu

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bemerken, dass nur durch die demokratische Selbsteinwirkung die Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft überhaupt über die Option verfügen, ihr Leben in ihrem Sinne freiheitlich zu gestalten. Von daher kommt dem Recht auf politische Partizipation eine herausgehobene Stellung zu, da es eine notwendige Bedingung von faktischer Freiheit ist. Im Umkehrschluss: Dort, wo die demokratische Selbsteinwirkung gestört ist, besteht letztlich die Gefahr, dass Zustände der Unfreiheit existieren oder sich herausbilden. Hieraus ergeben sich erneut gewichtige anwendungsorientierte Implikationen: Aus liberaler Sicht der Dinge könnte eine Wahlpflicht als illiberal abgelehnt werden, insofern sie in die negative Freiheit des Individuums eingreift. Ob sich einzelne Bürger*innen aktiv am politischen Prozess beteiligen möchtne, sei ihrer jeweiligen Vorstellung einer guten Lebensführung überantwortet. Für Vertreter*innen eines römischen Neorepublikanismus allerdings kann angesichts der Bedeutung von demokratischer Teilhabe für eine freie Lebensführung folgen, dass die Etablierung einer Wahlpflicht legitim sein kann, um sich in politischer Ungleichheit manifestierende soziale Ungleichheit entgegenzuwirken (Schäfer 2015, 33–44). Nur wenn Repräsentant*innen die Stimme aller Bürger*innen berücksichtigen müssen, können gerechte Entscheidungen getroffen werden. Insofern wäre eine diese Situation stimulierende Wahlpflicht kein gravierender Eingriff in die individuelle Freiheit, im Gegenteil könnte sie diese vielleicht sogar befördern. 2. Liberalismus und die Tatsache des Pluralismus: „The moral lodestar of liberalism is […] the project of public justification“ (Macedo 1990, 78). Der Diskurs des Liberalismus wird begründungstheoretisch durch ein internes Verhältnis von Öffentlichkeit und Vernunft bestimmt. Thomas Nagel (1987) zufolge verlangt dieses Verhältnis von Vernunft und öffentlicher Rechtfertigung nach einem kontrollierbaren Maß an Objektivität. Objektivität setzt die Möglichkeit und Fähigkeit voraus, zu den eigenen Überzeugungen die Einstellung eines Beobachters einnehmen zu können. Dies führt zu einem Gebot der Trennung zwischen der Einstellung

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gegenüber meiner Überzeugung und dem Gehalt dieser Überzeugung. Diese Trennung soll gewährleisten, dass die Überzeugung mit Gründen gerechtfertigt wird, die auch diejenigen teilen können, die nicht von der Wahrheit der Überzeugung überzeugt sind. Die Grundlage einer Überzeugung muss so dargelegt werden können, dass andere Personen, die diese Überzeugungen nicht teilen, auf der gleichen Grundlage zu einem Urteil über diese Überzeugung gelangen können. Nagel zufolge ist ein solcher gemeinsamer Rechtfertigungsgrund etwa bei religiösen Überzeugungen nicht gegeben, denn sie speisen sich wenigstens zum Teil aus nicht für alle einsehbaren Quellen wie persönlicher Glaube oder Offenbarung. Religiöse Überzeugungen sind daher prinzipiell nicht verallgemeinerungsfähig und kommen nicht als Kandidaten öffentlicher Rechtfertigung in Betracht. Es scheint daher geradezu eine Grundbedingung für die Fortführung des Projektes der liberalen Demokratie zu sein, dass die religiös Gläubigen in ihrer Mehrheit bereit sind, die Privatisierung ihrer Überzeugungen zu akzeptieren, im Tausch für die grundrechtliche Garantie der Freiheit ihres Bekenntnisses. Rawls bestimmt das Verhältnis von privatem und öffentlichen Vernunftgebrauch auf eine andere Weise. In einem ersten Schritt unterscheidet er Vernunft von Rationalität (Rawls 1998, 120–127). Das Vernünftige und das Rationale repräsentieren Rawls zufolge zwei logisch unabhängige Ideen, die sich ergänzen. Das Vernünftige wird weder aus dem Rationalen abgeleitet – etwa auf dem Weg einer Generalisierung von Verhaltenserwartungen und Klugheitserwägungen – noch wird das Rationale dem Vernünftigen entgegengesetzt. Das einzige Kriterium, das Rawls für diese Unterscheidung von praktischer Rationalität und Vernunft in Anspruch zu nehmen behauptet, ist der öffentliche Charakter der Vernunft. Das Vernünftige ist im Gegensatz zum Rationalen in einer spezifischen Weise öffentlich. Um zu unterstellen, dass andere Menschen rational sind, müssen wir nämlich keine gemeinsame öffentliche Welt betreten. Mit einem bloß beobachteten rationalen Wesen muss kein Kooperationsverhältnis eingegangen

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werden, um ihm rationale Kompetenzen zuschreiben zu können. Um andere Personen als rationale Wesen zu behandeln ist es nicht nötig zu wissen, an welchen Zielen und Zwecken sie sich orientieren; es genügt zu unterstellen, dass sie diese Zwecke auf eine intelligente Weise verfolgen. Um hingegen andere Personen als vernünftige Wesen anzuerkennen, muss ein Zusammenhang gemeinsamen Handelns gegeben sein. Die Zuschreibung von Vernunft setzt eine gemeinsame Welt intersubjektiv geteilter Gründe und Prinzipien voraus; diese kann nicht allein aufgrund von Beobachtungen extrapoliert, sondern nur durch gemeinsame Argumentation erschlossen werden. Um andere Personen vernünftig nennen zu können, muss ihnen daher unterstellt werden, „dass sie bereit sind, ihr Handeln von einem Prinzip leiten zu lassen, auf dessen Grundlage sie und andere gemeinsam argumentieren (reason in common) können“ (ebd., 121). Rawls vertritt nicht die Auffassung, dass der öffentliche Charakter der Vernunft mit ihrem moralischen identisch sei. Der öffentliche Vernunftgebrauch bezieht sich auf einen bestimmten moralischen Bereich, auf die Sphäre des Politischen. Handlungen, die in diesem Raum angesiedelt sind und als moralisch qualifiziert werden sollen, müssen einen bestimmten öffentlichen Charakter besitzen; sie müssen sich an der Leitidee einer fairen sozialen Kooperation orientieren. Daher sind auch rein rationale Handlungsorientierungen nicht als prinzipiell amoralisch zu verwerfen. Rationale Personen sind nicht einfach als kluge Egoisten zu betrachten. Was einer ausschließlich rational handelnden Person im Unterschied zu einer vernünftigen fehlt, ist die für den öffentlichen Gebrauch der Vernunft maßgebliche „moralische Sensibilität, die dem Wunsch zugrunde liegt, sich an fairer Kooperation als solcher zu beteiligen“ (ebd., 123). Das Kriterium der Öffentlichkeit genügt also, um den Unterschied zwischen dem Vernünftigen und dem Rationalen in moralischpolitischer Hinsicht ausreichend zu bestimmen. In diesem Sinn kann Rawls (ebd., 136) davon sprechen, dass Vernünftigsein „keine epistemo-

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logische Idee ist, auch wenn dazu epistemologische Elemente gehören“. Vernünftig zu sein gehört vielmehr „zu einem politischen Ideal demokratischer Staatsbürgerschaft, das die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs einschließt“ (ebd., 136 f.). Das Vernünftige ist „ein Element der Idee der Gesellschaft als eines Systems fairer Kooperation“ (ebd., 122). Rawls überträgt auf diese Weise nicht nur das aufklärerische Prinzip der religiösen Toleranz auf die Philosophie, sondern auch das liberale Prinzip einer Trennung von privatem Bekenntnis und öffentlichen Institutionen. Öffentliche Institutionen und die wesentlichen Elemente einer politischen Verfassung sind dann gerechtfertigt, wenn sie auf die Zustimmung von vernünftigen Personen zählen können. Der moralische Wahrheitsanspruch, der mit bestimmten politischen Optionen verbunden ist, bleibt hingegen vollkommen in jene religiösen und metaphysischen Weltbilder eingebettet, die selbst nicht mehr durch öffentlichen Vernunftgebrauch gerechtfertigt werden können. Die vernünftigen Gründe wiederum, welche den Inhalt des Konsenses – die politische Gerechtigkeitskonzeption – rechtfertigen, erschließen sich vollständig erst dem moraltheoretischen Beobachter, der sie im Überlegungsgleichgewicht eruiert und mit Hilfe der Idee einer politischen Konzeption der Gerechtigkeit systematisiert. Diese Trennung zwischen der Vernunft in ihrem öffentlichen Gebrauch und der privaten Wahrheit der umfassenden Lehren hat zur Folge, dass der übergreifende Konsens in einer Überschneidung unterschiedlicher Perspektiven in einem gemeinsamen Fluchtpunkt besteht, nicht aber in einer aus Einsicht gewonnenen, auf der Basis öffentlich geteilter Gründe vollzogenen Zustimmung. Eine Verbindung zwischen moralischer und politischer Rechtfertigung zeigt sich bei Rawls nur in der Binnenperspektive der jeweiligen umfassenden Lehren, die aus ihrer Perspektive zentrale Gehalte der politischen Gerechtigkeitskonzeption als „wahr“ akzeptieren können. Diese „Wahrheit“ des Konsenses ist dem öffentlichen Vernunftgebrauch nicht zugänglich. Jene Art von Zustimmung, welche die allgemeine Gerechtigkeitskonzeption in Gestalt

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eines sogenannten übergreifenden Konsenses findet, ist daher nicht in Form eines anspruchsvollen gemeinsamen Standpunktes zu verstehen, sondern als die bloß öffentlich gemachte Konvergenz einer nicht-öffentlich begründeten Akzeptanz. Rainer Forst (1994, 159) nennt dies deswegen „einen privaten Gebrauch der Vernunft in politisch-öffentlicher Absicht“. Der overlapping consensus ist ein veröffentlichter, kein öffentlich vollzogener Konsens. Habermas (1996c, 108) weist in diesem Zusammenhang auf die Zweideutigkeit des Rawlsschen Schlüsselbegriffs des agreement hin. In diesem Sinne hat auch Friedrich Kambartel (1997, 177) darauf hingewiesen, dass ebenfalls der deutsche Ausdruck „Zustimmung“ eine ähnlich ambige Bedeutung besitzt. „Im ersten Fall geht es um die Bildung eines gemeinsamen Willens, im zweiten Falle um das Teilen einer Einsicht.“ Wenn der overlapping consensus eher nach Art eines Kompromisses verstanden wird, dann können die jeweiligen Motive und Gründe der Zustimmenden in der Tat unthematisiert bleiben. Die entscheidende Bindungswirkung geht allein vom öffentlich vollzogenen formalen Akt der Zustimmung aus. Anders sieht es im Fall eines anspruchsvolleren Verständnisses von Konsens aus; hier müssen die „Argumentationsteilnehmer ein rational motiviertes Einverständnis, wenn überhaupt, aus denselben Gründen erzielen“ (Habermas 1996c, 108). Im ersten Fall ist der Konsens also bindend aufgrund einer vernünftigen Öffentlichkeit, im zweiten aufgrund der öffentlichen Vernunft. Während sich im ersten Fall die Bindungskraft des Konsenses institutionalisierten Verfahrensregeln verdankt, die der Bildung eines gemeinsamen Willens dienen, gründet die von Einsicht geleitete Zustimmung auf gemeinsamen und geteilten Gründen. Es ist nicht ganz klar, welchem der beiden Konsensmodelle Rawls letzten Endes den Vorzug gibt. Die freistehende Gerechtigkeitskonzeption wird zwar auf der politischen Ebene eindeutig als Ausdruck einer vernünftigen Übereinstimmung verstanden; der übergreifende Konsens, in dem sie von den divergierenden umfassenden Lehren akzeptiert wird, ist daher als ein rationaler anzusehen, der

73  Liberalismus: Spielarten und Herausforderungen

sich von einem bloßen modus vivendi unterscheidet. Die epistemische Begründung des Verfahrens, in dem Rawls die freistehende Gerechtigkeitskonzeption gewinnt, kann aber im Sinne eines perspektivischen oder kontextualistischen Rationalismus verstanden werden. Auf der Ebene der rationalen Verfahren selbst gibt es nach dieser Auffassung keinen rationalen Konsens, sondern nur kontextuell eingespielte Rationalitätsstandards. Während also auf der Ebene des politischen Pluralismus eine streng allgemeine, von allen Beteiligten mit Gründen akzeptierbare Übereinstimmung möglich wäre, herrschte auf der Ebene der Rechtfertigung der Rechtfertigungskriterien kein rationaler Konsens, sondern nur ein epistemischer modus vivendi. Eine theoretische Begründung des politischen Konsensprinzips selbst wäre nicht auf eine streng allgemein vernünftige, d. h. universalistische Weise möglich. Eine solche universalistische Begründung moralischer, politischer und rechtlicher Begründungstandards wird von der Diskurstheorie für möglich gehalten und ausdrücklich gefordert. Die Diskurstheorie geht davon aus, dass wir „von vernünftigen Bürgern solange keinen ‚übergreifenden Konsens‘ erwarten können, wie sie nicht in der Lage sind, einen ‚moralischen Gesichtspunkt‘ zu adoptieren, der von den Perspektiven der verschiedenen Weltbilder, die jeder von ihnen einzeln einnimmt, unabhängig ist und der diesen vorausliegt“ (Habermas 1996c, 98). Moralisch-praktische Forderungen, die einen Vorrang allgemeiner Institutionen und sanktionierender Rechtsgewalt gegenüber partikularen Weltanschauungen behaupten, können „offensichtlich nur kraft einer epistemischen Autorität gerechtfertigt werden, die von den Weltbildern selbst unabhängig ist“ (ebd., 117). Eine solche unabhängige epistemische Autorität auszeichnen zu können, erscheint als Grundvoraussetzung einer normativen Begründung des Rechts und demokratischer Institutionen unter pluralistischen Bedingungen. Zur Rechtfertigung eines solchen übergeordneten moralischen Gesichtspunktes bedient sich die Diskurstheorie einer verfahrensrationalen Operationalisierung des Kantischen Moralprinzips der Autonomie, die

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sich von der Rawlsschen konstruktivistischen Prozeduralisierung dieses Prinzips in wichtigen Hinsichten unterscheidet. Die Diskurstheorie greift zur Fundierung dieses Moralprinzips, anders als Rawls, auf umfassende philosophische, vor allem linguistische, argumentationslogische und handlungstheoretische Überlegungen zurück. Diskurstheorie und politischer Liberalismus stimmen jedoch innerhalb des Diskurses des Liberalismus darin überein, einen engen Zusammenhang von Gerechtigkeit, Rechtfertigung und öffentlicher Vernunft zu postulieren. 3. Liberalismus und ökologische Herausforderungen: Gegenwärtige Notlagen wie das zunehmende Artensterben, der anthropogene Klimawandel, die Vermüllung der Weltmeere und dergleichen mehr lassen die Frage aufkommen, inwiefern oder gar ob die liberale politische Theorie Lösungsansätze aus sich hervorbringen kann. Dabei kann diese Fragestellung in zwei Hinsichten spezifiziert werden. So mag sich zunächst die Frage stellen, ob der Liberalismus als eine politische Theorie, die dezidiert vernünftige und rationale Akteure in den Blick nimmt, überhaupt die berechtigten Ansprüche nicht-menschlicher Entitäten berücksichtigen könne (vgl. Rawls 1975, 549). Zwar können viele ökologische Probleme in irgendeiner Weise als auch für den Menschen bedrohlich und deswegen aus traditionell liberaler Perspektive als beachtenswert rekonstruiert werden – Rawls (1998, 352) zum Beispiel spricht davon, dass die schwindende Biodiversität zum Nachteil der Menschen gereiche, indem dadurch etwa die Ressourcen für neue Medikamente schwinden. Doch wo der klassische sowie Rawlssche Liberalismus schweigt, sind Ansprüche nichtmenschlicher Entitäten (vgl. Taylor 1995, 102; Niesen 2014). Jedoch: „Wir spüren untrüglich, daß die Vermeidung von Grausamkeit gegenüber allen leidensfähigen Kreaturen nicht nur aus Klugheitsgründen […], sondern moralisch geboten ist. Wir können uns die Sache auch nicht mit Kant so zurechtlegen, daß wir zwar Pflichten in bezug auf, aber nicht gegenüber Tieren haben. Die Tiere treten uns als versehrbare Kreaturen entgegen, die wir in ihrer physischen Integrität um ihrer selbst willen schonen müssen“ (Haber-

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mas 1991, 220). Hier stellt sich daraufhin die Frage, ob der Liberalismus weiterentwickelt werden kann, ob es neue politische Theorien jenseits des liberalen Paradigmas für beispielsweise die Mensch-Tier-Beziehung brauche und ob vielleicht sogar diese neuen Theorien im Widerspruch zum Liberalismus stehen. (Dazu ausführlicher Peter Niesen in diesem Band.) Neben der Fragestellung nach der normativen Angemessenheit des Rechtfertigungssubjekts wird im akademischen Diskurs ferner problematisiert, ob der Liberalismus mit seiner Betonung der individuellen Freiheit noch eine geeignete politische Philosophie sei: Wenn die Aggregation von vielen für sich genommen nach liberaler Perspektive unproblematischer Handlungen – der privaten Entscheidung, welches Verkehrsmittel man wählt oder welche Produkte man konsumiert – zusammengenommen zu massiven ökologischen Problemen führt, könne dann noch die individuelle Freiheit eine überzeugende Grundnorm für eine zeitgemäße politische Philosophie sein (vgl. Apel 1993, 500; Jamieson/Di Paola 2021, 372)? Neoliberale Stimmen mögen hierauf antworten, dass insbesondere die marktwirtschaftliche Organisation moderner Gesellschaften Anreize bereitstelle, um mithilfe von technischen Innovationen der Lage Herr zu werden (vgl. Bohn/Gumbert 2020, 131 f.). Insofern sei die unternehmerische Freiheit gleichsam auch notwendige Bedingung, um ökologische Herausforderungen zu meistern. Allerdings weiß diese Argumentation nicht zu überzeugen, denn zum einen bieten freie Marktwirtschaften ebenso Anreize für ökologisch schädliches Verhalten, zum anderen wird hier auf technologische Entwicklungen gesetzt, von denen nicht zu sagen ist, ob sie überhaupt kommen werden – salopp formuliert: eine gefährliche Wette auf die Zukunft. Eine dagegen aussichtsreichere Option, den potentiellen Widerspruch zwischen der liberalen Betonung individueller Freiheit einerseits und den Erfordernissen des Umweltschutzes andererseits aufzuheben, besteht im Hinterfragen der Annahme, Akte der (Selbst-)Be-

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schränkung zugunsten von umweltpolitischen Zielen seien mit der Freiheit der Bürger*innen unvereinbar. Diese Gegenüberstellung, so der Gegenstandpunkt, resultiere vielmehr aus einer verkürzten, nicht überzeugenden Freiheitskonzeption (Bohn/Gumbert 2020, 134–137). So betont zum Beispiel Charles Taylor (1999) in seiner Kritik der negativen Freiheitskonzeption, dass ein normativ überzeugendes Verständnis von Freiheit nicht darin bestehen könne, über möglichst viele Freiheitsgrade zu verfügen. Freiheit beinhalte vielmehr diejenigen Handlungen ausführen zu können, die für ein authentisches, gutes Leben von Bedeutung sind, zum Beispiel die Freiheit den eigenen religiösen Glauben zu praktizieren oder einen spezifischen Beruf zu wählen. Im Anschluss daran muss nicht jede Einschränkung der Willkürfreiheit, zum Beispiel Geschwindigkeitsbeschränkungen zur Reduktion des Ausstoßes von Treibhausgasen, als normativ defizitäre Einschränkung individueller Freiheit missverstanden werden, da etwa eine solche mit guten Gründen als nicht hinderlich für die Verfolgung eines guten Lebens begründet werden kann. So ist ein quantitatives und ein qualitatives Freiheitsverständnis zu differenzieren. Eng damit zusammen hängt die Differenzierung zwischen aktualen und demokratischen respektive republikanischen Konzeptionen von Freiheit (Pettit 2008): Nach aktualen Freiheitskonzeptionen ist ein Individuum dann frei, wenn es im betreffenden Augenblick keine Beschränkungen vorfindet, die es daran hindern, das zu tun, was es will. Demokratische beziehungsweise republikanische Freiheit bemisst sich dagegen darin, die Regeln mitzubestimmen, unter denen das Individuum dann mit anderen zusammenlebt. Wenn daher umweltpolitische Maßnahmen demokratisch zustande kommen, können sie als Ergebnis republikanischer Freiheit angesehen werden und stehen nicht im Widerspruch zur Freiheit von Bürgers*innen. Wenn dementsprechend eine liberale politische Philosophie von einem qualitativen, demokratischen Freiheitsverständnis ausgehe, bestehe nicht notwendigerweise ein unüberbrück-

73  Liberalismus: Spielarten und Herausforderungen

barer Konflikt zwischen den Erfordernissen des Umweltschutzes und dem Vollzug der individuellen Freiheit. Im Gegenteil könnte sogar der ökologisch motivierte „Verzicht als Ausdruck freiwilliger und freiheitsförderlicher Selbstbegrenzung“ identifiziert werden (Bohn/Gumbert 2020, 141).

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Menschenrechte

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In Rawls’ Politischer Philosophie stehen Menschenrechte nicht im Vordergrund. Sie spielen jedoch in seiner Theorie des Völkerrechts eine grundsätzliche Rolle. Obwohl Rawls seine Konzeption der Menschenrechte recht spärlich dargelegt hat, reicht deren Einfluss weit. Menschenrechte erfahren in Rawls’ Theorie eine direkte Behandlung hauptsächlich in Das Recht der Völker (Rawls 2002) sowie in Rawls’ erstem Entwurf des Rechts der Völker, den er im Februar 1993 im Rahmen der Oxford Amnesty Vorlesungen präsentiert hat (Rawls 1996).

Die Bestimmung achtbarer Gesellschaften In Das Recht der Völker weitet Rawls seine liberale Gerechtigkeitskonzeption auf illiberale, indes „achtbare“ Gesellschaften im Bereich des Völkerrechts aus. Eine Hauptaufgabe seiner Völkerrechtstheorie besteht darin, die begriffliche Möglichkeit solcher Gesellschaften zu zeigen, welche sich mit liberalen Gesellschaften über gleiche völkerrechtliche Grundsätze einigen und sie wirksam befolgen können. In diesem Kontext befasst sich Rawls mit dem Thema

R. Mosayebi (*)  Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected]

Menschenrechte (vor allem in § 10 des zweiten Teils der Idealtheorie), über deren Achtung sich die beiden Gesellschaftsarten einig sind. Ein näherer Blick auf einige Begriffe und Gedanken Rawls’ in diesem Teil ist daher vonnöten. Liberale und illiberale, achtbare Völker fallen nach Rawls ausschöpfend unter den Oberbegriff „wohlgeordnete Gesellschaften“. In Rawls’ Konzept des Rechts der Völker sind es diese zwei Gesellschaftsarten (die weiteren Arten heimischer Gesellschaften sind Schurkenstaaten, durch ungünstige Umstände belastete Gesellschaften und wohlwollende absolutistische Gesellschaften), welche die normative Last einer annehmbar (reasonably) gerechten Gesellschaft der Völker tragen (vgl. Rawls 2002, 2 f.). Unter der Idee der wohlgeordneten Gesellschaft als einer „Idealisierung“ versteht Rawls verkürzt eine Gesellschaft, welche von einer öffentlichen politischen Gerechtigkeitskonzeption wirksam reguliert wird (vgl. Rawls 2006, 29, 31; Rawls 2003, 105). Zur Bestimmung achtbarer Gesellschaften stellt Rawls zwei Kriterien auf (vgl. Rawls 2002, § 8.2.; vgl. Rawls 1996, 72 f.): Achtbare Gesellschaften sind diejenigen, die, 1. keine aggressiven Mittel zum Erreichen ihrer Ziele aussuchen; die Erweiterung ihres Einflusses ist vielmehr mit der äußeren Unabhängigkeit und inneren Autonomie anderer Gesellschaften kompatibel. Das zweite Kriterium ist in sich dreiteilig: 2.a. Illiberale Gesellschaften sind dann acht-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_74

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bar, wenn sie Menschenrechte nicht verletzen; 2.b. wenn sie eine lückenlose Verteilung der von Menschenrechten unterschiedlichen, moralischen Verpflichtungen unter ihren Mitgliedern aufweisen, welche anerkannter Weise mit ihrer Gemeinwohlvorstellung der Gerechtigkeit übereinstimmen und 2.c. wenn ein aufrichtiges und nicht unvernünftiges Glauben seitens der Rechtsverwalter der fraglichen Gesellschaft daran vorhanden ist, dass das vertretene Rechtssystem tatsächlich von ihrer Gemeinwohlvorstellung der Gerechtigkeit geführt wird (vgl. Rawls 2002, 79–81; vgl. Rawls 1996, 72 f.; 98, Fn. 24). Die Bedingungen sind nach Rawls nur zusammen zureichend, um eine Gesellschaft als ein achtbares Volk zu bezeichnen. So sind z. B. wohlwollende absolutistische Gesellschaften solche, die zwar „die meisten“ Menschenrechte (Rawls 2002, 78) achten, aber nicht wohlgeordnet sind, da ihnen eine nennenswerte Rolle der politischen Partizipation, entsprechend dem Teilkriterium 2.b., fehlt (vgl. ebd., 117).

Ein System sozialer Kooperation Rawls’ vielleicht wichtigste menschenrechtliche These besteht darin, dass die Nichtverletzung der Menschenrechte die notwendige Bedingung jedes Systems sozialer Kooperation ist (Kooperationsthese): Einem „soziale[n] System, das diese Rechte verletzt […,] fehlt die Idee der sozialen Kooperation“ (Rawls 2002, 80; vgl. hierzu: „Was wir heute als Menschenrechte bezeichnen, sind […] notwendige Bedingungen jedes Systems sozialer Kooperation. Werden sie regelmäßig verletzt, haben wir auf Gewalt gestützte Befehle, ein Sklavensystem, und keine Kooperation irgendeiner Art“ (Rawls 2002, 83)). Die Reichweite der Kooperationsthese erschließt sich erst dann, wenn man einen näheren Blick auf Rawls Konzeption der sozialen Kooperation und deren Implikationen wirft. Das System sozialer Kooperation ist für Rawls eine fundamentale Idee (vgl. Rawls 2006, 25), die sich mit anderen grundlegenden Begriffen seiner Gerechtigkeitskonzeption in einem komplexen Netzwerk verbindet. In Eine

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Theorie der Gerechtigkeit betont Rawls, dass, um eine Gerechtigkeitskonzeption vollständig zu verstehen, die Bedingungen der sozialen Kooperation deutlich gemacht werden sollen, von denen jene Konzeption „herrührt“ (vgl. Rawls 1975, 26). Ähnlich heißt es in Gerechtigkeit als Fairness (Rawls 2002), dass die Rolle der Gerechtigkeitsprinzipien überhaupt darin bestehe, faire Bedingungen sozialer Kooperation zu bestimmen (Rawls 2006, 28; vgl. auch Rawls 2003, 82). Nach Rawls ist der Begriff (concept) der Gerechtigkeit – im Unterschied zur deren Konzeption – ohne den eines Systems sozialer Kooperation unvorstellbar. Sowohl in Gerechtigkeit als Fairness wie auch in Politischer Liberalismus bezeichnet Rawls die Idee eines fairen Systems der sozialen Kooperation als eine zentrale, „strukturierende“ Idee für die Entwicklung seiner Konzeption der Gerechtigkeit. Rawls spricht dabei ausschließlich von einer bestimmten Version sozialer Kooperation, eines demokratischen Systems der Kooperation, welches mit zwei weiteren fundamentalen Ideen der „Bürger (also derjenigen, die kooperieren) als freier und gleicher Personen“ sowie einer wohlgeordneten Gesellschaft in Verbindung steht (Rawls 2006, 25; 2003, 80; 85–87). Eine solche Konzeption der sozialen Kooperation ist allerdings nicht ohne Weiteres auf achtbare Gesellschaften anwendbar. Während eine achtbare Gesellschaft neben liberalen Gesellschaften als die zweite Form wohlgeordneter Gesellschaften gilt, ist Rawls nicht bereit, deren Mitglieder als „Bürger*innen“ zu bezeichnen (Rawls spricht hier vielmehr von Mitgliedern der achtbaren Gesellschaften; s. Rawls 2002, § 10.3., 98; Rawls 1996, 81 f.). Die Grundaspekte der Idee eines fairen Systems der sozialen Kooperation, auf die weiter unten hingewiesen wird, treffen indes bis zu einem gewissen Grad auch auf das System der sozialen Kooperation in einer achtbaren Gesellschaft zu. Ein System sozialer Kooperation ist ex negativo gesehen ein solches, in dem soziale Aktivitäten nicht durch Befehle einer zentralen Autorität koordiniert werden. Positiver Weise spricht Rawls zumindest von drei wesentlichen Merkmalen der sozialen Kooperation: Sie ist, 1. ge-

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leitet von öffentlich anerkannten Normen und Verfahren, die von den Kooperierenden akzeptiert und als angemessene Regeln für ihr Handeln betrachtet werden – die soziale Kooperation verlangt nämlich nicht nur Öffentlichkeit (vgl. dazu etwa Rawls 2003, 142), deren Normen sollen auch die Kooperierenden intrinsisch motivieren können. Darüber hinaus setzt die soziale Kooperation 2. die Idee der „Reziprozität“ und 3. die Idee der rationalen Vorteilhaftigkeit oder des Guten der Kooperierenden voraus. Durch diese dritte Eigenschaft wird nämlich bestimmt, was aus der Perspektive eines Systems der Kooperation zu erreichen ist (vgl. Rawls 2006, 26 f.; Rawls 2003, 82 f.). Unter der „moralische[n] Idee“ (bzw. dem „Kriterium“) der Reziprozität (Rawls 2006, 127) versteht Rawls vereinfacht eine Beziehung zwischen den Kooperierenden einer Gesellschaft, nach der jeder in angemessener Form profitiert (s. Rawls 2003, 122) oder gemeinsame Belastungen teilt. In motivationaler Hinsicht liegt die Reziprozität für Rawls zwischen „altruistische[r] Unparteilichkeit“ einerseits und gegenseitiger Verfolgung bloß egoistischer Vorteile andererseits (vgl. Rawls 2003, 127; Rawls 2006, 127). Zum Verständnis der grundlegenden Stellung der Idee der Reziprozität in Rawls’ Theorie ist zu beachten, dass er seine Gerechtigkeitsprinzipien als Artikulierung der Reziprozität zwischen freien und gleichen Personen sieht (vgl. Rawls 2003, 82 f.; vgl. 122). Wenn z. B. die Grundfreiheiten, welche vom ersten Gerechtigkeitsprinzip Rawls’ zu regulieren sind, verweigert werden, so wird das Kriterium der Reziprozität verletzt (vgl. Rawls 2002, 173). Im Fall der liberal-demokratischen Gesellschaften äußert Rawls deutlich, dass die Reziprozität als ein Prüfstein politischer Legitimität fungiert (vgl. Rawls 2002, 172; vgl. 168, 182). Nicht zuletzt hängen die Idee der Reziprozität und die Vernünftigkeit eng miteinander zusammen (etwa Rawls 2003, 122). Rawls’ kurz dargestellte, normativ inhaltsreiche Konzeption der sozialen Kooperation verweist auf die Tiefe der Kooperationsthese in seiner politischen Philosophie. Eine eindeutige Implikation der These, wenn auch nicht ex-

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plizit von Rawls formuliert, ist, dass einer Gesellschaft, in der Menschenrechte verletzt werden, die Möglichkeit fehlt, öffentliche, politisch-soziale Normen zu bieten, welche von den Beteiligten aus Überzeugung heraus befolgt werden. Eine solche Gesellschaft wird letztendlich überwiegend eine Gesellschaft von „Egozentrikern“ sein (vgl. Rawls 2003, 127). Zudem würde eine solche Gesellschaft daran scheitern, eine mehr oder minder allgemeine Vorstellung des Guten zu haben, welche die gesellschaftlichen Interaktionen zu gewissen gemeinsamen Zielen hinleitet. Auch hinsichtlich der Idee der Reziprozität – der zweiten Komponente der sozialen Kooperation – enthält die Kooperationsthese wichtige Implikationen innerhalb der Rawlsschen politischen Philosophie. In Eine Theorie der Gerechtigkeit behauptet Rawls, dass das Nutzenprinzip des klassischen Utilitarismus mit der Idee der Reziprozität unvereinbar ist (vgl. Rawls 1975, 31), was im Lichte der Kooperationsthese zu bedeuten hat, dass der klassische Utilitarismus menschenrechtswidrig ist.

Menschenrechte als Bedingung der Kooperation zwischen Völkern Während Menschenrechte in sowohl liberalen wie auch illiberalen, achtbaren Gesellschaften eine notwendige Bedingung der politisch-sozialen Kooperation ausmachen, lässt sich analog behaupten, dass sie auch die notwendige Bedingung fairer politisch-sozialer Kooperation zwischen Völkern sind. Die Reziprozität gilt nach Rawls nicht nur „zwischen Bürgern als Bürger“, sondern auch „zwischen Völkern als Völker“ (Rawls 2002, 46). In seiner Oxford Amnesty Vorlesung behauptet Rawls daher: Menschenrechte „bringen einen Mindeststandard wohlgeordneter politischer Institutionen all jener Völker zum Ausdruck, die ordentliche Mitglieder einer gerechten Völkergemeinschaft sind“ (1996, 80). Rawls’ Kooperationsthese liegt in Das Recht der Völker einer weiteren, nur knapp dargestellten These zugrunde, welche man die These der normativen Neuralität (Neutralitätsthese) nennen

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könnte: Menschenrechte sind, wenn sie als notwendige Bedingungen sozialer Kooperation aufgefasst werden, gegenüber einer Mehrzahl von Kulturen und Traditionen neutral (sie „können […] nicht als etwas ausschließlich Liberales oder der westlichen Tradition Zugehöriges zurückgewiesen werden“; Rawls 2002, 80; Menschenrechte beruhen im Hinblick auf die Kooperationsthese „nicht auf irgendeiner besonderen umfassenden religiösen Lehre oder philosophischen Lehre der menschlichen Natur“; ebd., 83). Menschenrechte sind daher nach Rawls „politisch nicht provinziell“ (ebd., 80). Zwar behauptet Rawls bereits in seiner Oxford Amnesty Vorlesung, dass Menschenrechte „politisch neutral“ sind (Rawls 1996, 81); dass seine Neutralitätsthese auf seiner Kooperationsthese gründet, wird jedoch erst in Das Recht der Völker verdeutlicht. Ein weiteres markantes Merkmal von Rawls’ Menschenrechtskonzeption ist, dass diesen Rechten eine grenzsetzende Rolle für die Souveränität bzw. interne Autonomie fremder Staaten eingeräumt wird (vgl. Rawls 2002, 97). Menschenrechte differieren nach Rawls von anderen Klassen der (moralischen) Rechte durch bestimmte legale Funktionen, die sie auf internationaler Ebene erfüllen. Sie liefern unter anderem pro tanto rechtfertigende Gründe für Sanktionen über menschenrechtsverletzende Staaten oder Interventionen (ob militärische oder nichtmilitärische) in deren innere Angelegenheiten. Die Unterordnung der staatlichen Souveränität unter die Menschenrechte sowie die Zurückweisung eines absoluten Rechts auf interne Autonomie der Staaten (vgl. Rawls 1996, 60; Rawls 2002, 28) sind zwar keine Innovation Rawls’, seine funktional-legale Bestimmung des Begriffs der Menschenrechte verleiht jedoch der Idee einen einflussreichen Ausdruck. Rawls befasst sich nicht ausführlich mit einer Liste der Menschenrechte. Seine Äußerungen dazu zeigen jedoch, dass er etwa Rechte auf gleiche Äußerungsfreiheit, auf Assoziation oder auf politisch-demokratische Partizipation nicht zu genuinen Menschenrechten zählt. Für seine vergleichsweise verkürzte Liste der Menschenrechte (vgl. Rawls 2002, 236, Fn. 23; dazu mehr nachfolgend) ist nicht allein seine funktio-

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nal-legale Begriffsbestimmung der Menschenrechte (pro tanto rechtfertigende Gründe zur Souveränitätseinschränkung) verantwortlich (so aber Hinsch/Stepanians 2006, 126  f.; Beitz 2000). Ebenso spielt die Neutralitätsthese der Menschenrechte eine entscheidende Rolle für Rawls. Zum einen scheint ihn die Sorge um eine die internationale Politik destabilisierende Inflation der Sanktionen und Interventionen dazu motiviert zu haben, die Liste der Menschenrechte geringfügiger aufzufassen. Zum anderen führt die Zurücksetzung hoher liberaler Erwartungen gegenüber illiberalen, jedoch zu respektierenden Gesellschaften Rawls dazu, seine Menschenrechtsliste (vergleichsweise) einzuschränken. In beiden Fällen scheint Rawls sowohl prudentielle wie auch moralische Gründe gehabt zu haben (zu letzteren Gründen vgl. Rawls 1996, 92 f.). Menschenrechte sind somit für Rawls zum einen für liberale Gesellschaften gegenüber illiberalen Gesellschaften, zum anderen für wohlgeordnete Gesellschaften gegenüber schlecht geordneten Gesellschaften, in rationaler und in vernünftiger Hinsicht Mindeststandards. Die Liste der Grundfreiheiten, von denen Rawls’ lexikalisch vorrangiges, erstes Gerechtigkeitsprinzip handelt (vgl. Rawls 1975, 82; Rawls 2006, 80; zur finalen Fassung des Prinzips vgl. Rawls 2006, 78), bildet mit seiner Liste der Menschenrechte eine beachtenswerte Schnittmenge (z. B. Gewissens- und Gedankenfreiheit; körperliche und psychische Unversehrtheit; persönliches Eigentum; formale, durch die Gesetzesherrschaft festgelegte Gleichheit; vgl. Rawls 2002, 80; vgl. auch Rawls 2003, 407). Vieles deutet darauf hin, dass Menschenrechte in Rawls’ Auffassung ein angepasstes völkerrechtliches Pendant zu seinem ersten, liberalen Gerechtigkeitsprinzip darstellen. Nicht zuletzt zeigt § 4 („Die Grundsätze des Rechts der Völker“) von Das Recht der Völker, in dem Rawls die vereinbarten Grundsätze zwischen wohlgeordneten Gesellschaften auflistet, die Sonderstellung der Menschenrechte innerhalb von Rawls’ Theorie des Völkerrechts. Menschenrechte treten auf der Liste als 6. Grundsatz auf: Sie übertrumpfen, erstens, deutlich den Grundsatz 4. (Verbot der Einmischung)

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(Rawls 2002, § 4.2.; vgl. auch 1996, 67). Ferner scheint Rawls zu behaupten, dass Menschenrechte den Grundsatz der Selbstbestimmung oder der Sezession (Grundsatz 1) begrenzen (2002, 42; vgl. unten den Kommentar zur dritten Funktion der Menschenrechte in § 10.2.). Schließlich beschränken Menschenrechte zum einen den 5. Grundsatz von ius ad bellum (Recht auf Selbstverteidigung), da nach Rawls die Verletzung der Menschenrechte die innere Autonomie des Staats limitiert, zum anderen setzen sie dem 7. Grundsatz von ius in bello eine Grenze (vgl. Rawls 2002, 97).

Der § 10 in Das Recht der Völker Ein näherer Blick auf diesen kürzesten Paragraphen von Das Recht der Völker in dem sich Rawls spezifisch mit den Menschenrechten befasst, beleuchtet weitere Aspekte seiner Menschenrechtskonzeption. Rawls sieht hier die Menschenrechte als „eine Klasse besonders dringlicher Rechte“, deren Verletzung sowohl von liberalen wie illiberalen, achtbaren Gesellschaften verurteilt werden kann (vgl. Rawls 2002, 96). Der § 10 von Das Recht der Völker enthält auch einige Grundgedanken, die eine Theorienfamilie der Menschenrechte – öfter die politische Konzeption der Menschenrechte genannt (mehr dazu nachfolgend) – beeinflusst haben. Rawls charakterisiert hier Menschenrechte durch besondere Funktionen, die sie in einer vernünftigen Rechtsordnung zwischen den Gesellschaften erfüllen. Seine Aussagen legen sogar eine semantische These nahe, wonach die Bedeutung des Begriffs der Menschenrechte von diesen Funktionen abhängt (man beachte, dass eine solche Deutung mit Rawls’ Kooperationsthese schwer vereinbar wäre). Menschenrechten werden, wie oben angedeutet, eine einschränkende Rolle bezüglich ius ad bellum und ius in bello sowie eine grenzziehende Funktion für die Immunität der internen Autonomie der Staaten beigemessen (vgl. Rawls 2002, 28; vgl. zudem Rawls 1996, 60 f.). Rawls ist sich darüber im Klaren, dass diese Funktionsbestimmungen die bedeutenden

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Einschränkungen des Souveränitätsprinzips in der Nachkriegszeit „reflektieren“. Eine weitere Funktion, die Rawls den Menschenrechten zuschreibt, besteht darin, dass sie bestimmen welche Gesellschaften zu einer annehmbar gerechten Völkergesellschaft gehören. Zusammenfassend formuliert Rawls drei Funktionen der Menschenrechte auf internationaler Ebene: 1. Deren Respekt gilt als notwendige Bedingung der Achtbarkeit einer Gesellschaft. 2. Deren Respekt ist eine hinreichende Bedingung, eine zwangsweise (forceful) Intervention auszuschließen (unter dieser Intervention werden auch diplomatische und wirtschaftliche Sanktionen verstanden). 3. Setzen Menschenrechte „dem Pluralismus unter Völkern Grenzen“. Bei der dritten Funktion scheint Rawls David Lubans Kritik an Michael Walzer im Sinn zu haben (vgl. Rawls 1999, 80, Fn. 24; die deutsche Übersetzung lässt diese Referenz weg). Luban kritisiert Walzers „anti-cosmopolitanism“ insofern, als dieser nicht anerkannt habe, dass Menschenrechte unabhängig von geographischer und historischer Zugehörigkeit den Menschen zustehen und somit ihre Idee eine grenzsetzende Funktion für die Annahme in den Kreis des respektablen Pluralismus der Traditionen und Weltanschauungen habe (vgl. Luban 1980, 396). Luban richtet sich mit seiner Kritik gegen Walzers Prämisse, dass das Hauptprinzip der internationalen Politik „pluralism“ im Sinne von Respekt vor der Integrität der Nationen und deren Staaten wäre, insbesondere Respekt vor deren Recht, politische Formen auszuwählen, die aus der liberalen Sicht moralisch defizitär wären (vgl. Luban 1980, 393). Sofern Rawls mit der dritten Funktion der Menschenrechte dieser Argumentationslinie folgt, lässt sich behaupten, dass er den Menschenrechten auch eine limitierende Rolle für die politische Selbstbestimmung anderer Nationen zuspricht (vgl. oben die Sonderstellung der Menschenrechte gegenüber dem 1. Grundsatz in Rawls’ „Grundsätze des Rechts der Völker“, Rawls 2002, § 4). § 10 von Das Recht der Völker enthält eine Fußnote (Nr. 23), welche die ausführlichste Passage ist, in der Rawls sich direkt auf den Inhalt

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einer Liste der Menschenrechte bezieht. Rawls’ Hintergedanke hier scheint zu sein, dass es angesichts der Funktionen, die er den Menschenrechten zuschreibt, zu anspruchsvoll wäre, alle Rechte, die in den wichtigsten Menschenrechtsdokumenten aufgelistet sind, mit jenen Funktionen auszustatten. Er trifft in der Fußnote Unterscheidungen zwischen den „Menschenrechten“ in internationalen Deklarationen und legt dabei nahe, dass er manche dieser Rechte nicht als universal gültige Menschenrechte betrachtet. Explizit bezieht er sich allerdings nur auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR 1948). Vier Gruppen der Menschenrechte werden angesprochen: 1. Menschenrechte im engeren Sinn (human rights proper), wofür Rawls Artikel 3 (vgl. auch Rawls 2002, 80; 1996, 74), 5 und 18 der AEMR als Beispiele anführt. 2. Menschenrechte, welche nach Rawls als eindeutige Implikationen (obvious implications) der ersten Klasse gelten; diese betreffen extreme Fälle, die z. B. in Spezialkonventionen von Genozid (1948) und Apartheid (1973) beschrieben werden. 3. spricht Rawls undeutlich von Menschenrechten in „anderen“ Dokumenten, welche besser als Ausdruck liberaler Hoffnungen (liberal aspirations) betrachtet werden, und führt den Artikel 1 der AEMR („Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“) als Beispiel dafür an. Schließlich wird 4. eine andere Gruppe der Rechte erwähnt, welche bestimmte Arten von Institutionen zu ihrer Geltung und Realisierung zu benötigen „scheinen“; Artikel 22 („Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit“) und Artikel 23 (Das Recht auf gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit) der AEMR sind Rawls’ Beispiele hierfür. Es scheint daher, dass Rawls sozio-ökonomische Rechte (z. B. die Artikel 22–27 der AEMR) unter diese Gruppe einordnen würde (vgl. Rawls 2002, 236; in der Oxford Amnesty Vorlesung schreibt Rawls allerdings, dass ein „Mindestmaß an ökonomischer Sicherheit“ ein integraler Teil vom Menschenrecht auf Leben ist, 1996, 99, Fn. 27; vgl. 2002, 233, Fn. 1). Rawls macht in der dar-

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gestellten Fußnote relativ deutlich, dass seine Theorie des Völkerrechts die erste Gruppe der Rechte als genuine Menschenrechte anerkennt (vgl. Menschenrechte als „eine Klasse besonders dringlicher Rechte“, 2002, 96). Schließlich befasst sich Rawls in § 10 damit, wie die Universalität der Menschenrechte, so wie sie in Das Recht der Völker konzipiert werden, zu deuten ist. Obwohl sie per definitionem nur von liberalen und achtbaren Gesellschaften geachtet werden, haben sie, so Rawls, eine politisch-moralische Kraft, die sich auf alle Gesellschaften erstreckt. Auswirkungen dieser Kraft auf Schurkenstaaten, welche aufgrund deren Menschenrechtsverletzung so genannt werden (vgl. Rawls 2002, 98 f., vgl. auch 237, Fn. 26), variiert von deren Verurteilung bis hin zu zwangsmäßigen Sanktionen und Intervention seitens wohlgeordneter Gesellschaften.

Einfluss und Kontroverse In Rawls’ Konzeption gelten Menschenrechte als notwendige Bedingungen jeder Art sozialer Kooperation und deshalb als politisch neutral gegenüber einer Mehrzahl von Kulturen und Denktraditionen (die Kooperations- und Neutralitätsthese). Darüber hinaus unterscheiden sie sich von anderen Klassen (moralischer) Rechte aufgrund bestimmter Funktionen, die sie auf internationaler Ebene erfüllen. Allem voran haben sie die wesentliche Funktion, Bedingungen festzuschreiben, unter denen die Souveränität der Staaten eingeschränkt werden kann. Rawls’ Menschenrechtskonzeption ist in mehrfacher Hinsicht ebenso einflussreich wie Gegenstand der Kritik. Einige Ideen Rawls’, welche er nicht direkt mit Menschenrechten in Verbindung setzte, etwa die Idee des übergreifenden Konsenses (vgl. Rawls 2003, 4. Vorlesung) oder die Idee des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft (vgl. Rawls 2003, 6. Vorlesung; Rawls 2006, 165–212), haben ebenso die Menschenrechtstheorie inspiriert. In der Nachfolge von Rawls, jedoch keineswegs unkritisch ihm gegenüber, ist eine Familie der Theorien der Menschenrechte entstanden, die als Politi-

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sche Konzeption der Menschenrechte bezeichnet wird (vgl. etwa Raz 2010; vgl. Beitz 2009, Ch. 5–6, der seine Konzeption „practical“ nennt; vgl. Etinson 2018, II; Liao/Etinson 2012). Die Politische Konzeption, siedelt, ähnlich wie Rawls, die Menschenrechte im Bereich des Völkerrechts an, und betrachtet sie aus einer legal-funktionalen Perspektive im Kontext der nach 1945 in internationalen Beziehungen entstandenen Praxis. Menschenrechte geben nach der Politischen Konzeption, ebenso wie bei Rawls, pro tanto rechtfertigende Gründe für internationale Reaktionen, etwa in Form von Interventionen oder Sanktionen gegenüber den diese Rechte verletzenden Staaten (vgl. Beitz 2009, Kap. 5–6; Raz 2010, 321–337). In unterschiedlichen Varianten der Politischen Konzeption begnügt man sich bewusst mit derartigen Funktionsbestimmungen und versteht die Rechtfertigungsfragen bezüglich der Menschenrechte als von der faktischen, internationalen Menschenrechtspraxis abhängig (exemplarisch vgl. Beitz 2007; Beitz kritisieret zudem an Rawls, dass seine funktionalistische Bestimmung der Menschenrechte verkürzt wäre; vgl. Beitz 2009, 101). Genau genommen funktionieren Menschenrechte nach der Politischen Konzeption (unter anderem) als anfechtbare, rechtfertigende Gründe für etwaige Sanktionen bzw. Intervention, somit als Einschränkung der Souveränität menschenrechtsverletzender Staaten, und diese Funktion gilt als ihre begriffliche differentia specifica innerhalb der Klasse der (moralischen) Rechte. Neben dieser funktional-legalen Begriffsbestimmung ist nach Varianten der Politischen Konzeption bewusst auf eine unmittelbare moralische Rechtfertigung der Menschenrechte zu verzichten (vgl. exemplarisch Beitz 2007, 631–634). Eine moralische Begründung der Menschenrechte wird dabei für unnötig, unerwünscht, im Grunde nicht möglich oder angesichts des Pluralismus der Sichtweisen und Weltanschauungen sogar für moralisch unerlaubt gehalten (vgl. Cohen 2004; Rawls 1996, 92 f.). In keiner der Varianten der Politischen Konzeption wird jedoch bestritten, dass die Menschenrechte moralische Standards sind.

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Mit ihrer Herangehensweise wollen die Vertreter*innen der Politischen Konzeption unter starkem Einfluss von Rawls zumindest drei Ziele erreichen. • Der Diskurs der Menschenrechte soll neutral (nicht ethnozentrisch; „non-parochial“) bleiben. • Menschenrechte sollen sich durch ihre Funktionen schon begrifflich von anderen moralischen Standards, vor allem anderen moralischen Rechten (etwa das Recht nicht betrogen zu werden), unterscheiden. • Die Theorie der Menschenrechte darf der in der Nachkriegszeit entstandenen internationalen Praxis nicht untreu werden. In Charles Beitz’ Theorie (der seinen eigenen Ansatz „practical conception“ nennt) erhält z. B. die Entwicklung der internationalen Praxis der Menschenrechte, insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg, einen vorrangigen normativen Status (vgl. Beitz 2007, 632). Seiner Auffassung nach sind Menschenrechte von Beginn an für bestimmte politische Ziele konzipiert und es sei methodologisch entscheidend, zu beobachten, zu welchen politischen Erwartungen und Zwecken sie konstruiert wurden (vgl. Beitz 2001, 276 f.). Was als grundlegend in Beitz’ Theorie der Menschenrechte gilt, ist nicht eine bestimmte philosophische Sichtweise, sondern schlicht die Funktionen der Menschenrechte in der bestehenden internationalen Praxis (vgl. Beitz 2009, 127 f.). Auch Joseph Raz folgt teilweise Rawls’ Menschenrechtskonzeption und macht die legalfunktionale Begriffsbestimmung der Menschenrechte insbesondere in der souveränitätseinschränkenden Funktion der Menschenrechte zum Angelpunkt der Menschenrechtstheorie (vgl. Raz 2010, etwa 337). Raz beanstandet die Teilannahme hinter der Rawlsschen Kooperationsthese, dass Gesellschaften, welche die Bedingungen sozialer Kooperation nicht erfüllen, notwendiger Weise durch auf Gewalt gestützte Befehle (command by force) reguliert wären (vgl. Rawls 2002, 80). Aus Raz’ Sicht sind diese Bedingungen „moralisch zu anspruchsvoll“. Es

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gebe z. B. keine Gründe dafür, selbst eine feudale Gesellschaft, in der individuelles Privateigentum (eines der genuinen Menschenrechte nach Rawls) vielen verwehrt bleibt, oder eine sexistische Gesellschaft, in der dieses Recht den Frauen abgestritten wird, als gewaltsam organisierte, nicht-kooperative Gesellschaften zu betrachten (vgl. Raz 2010, 329 f.; kritisch zu Rawls’ Kooperationsthese vgl. auch Buchanan 2006, 163 f.; zur Verteidigung der Kooperationsthese vgl. Freeman 2006, 37 f.). Rawls’ Neutralitätsthese, welche stillschweigend von den meisten Vertreter*innen der Politischen Konzeption übernommen wird, steht teilweise unter dem Einfluss von T.M. Scanlons frühen Beitrag zu Menschenrechten (1979; vgl. Rawls 1996, 100, Fn. 39 und Fn. 40). Scanlon argumentiert für eine „ideologische Neutralität“ der Menschenrechte als „minimale Standards“ auf internationaler Ebene. Er sieht das Faktum, dass Menschenrechte in vielen, selbst nicht liberal-demokratischen Verfassungen anerkannt sind, als eine „normale Akzeptanz“ an, was Grund genug dafür sei, Menschenrechte gegenüber einer Mehrzahl der Weltanschauungen als neutral zu verstehen (vgl. Scanlon 1979, 83). Rawls’ Neutralitätsthese ist zwar angesichts der herausfordernden Berechtigung der universalen Geltung der Menschenrechte provokativ, allerdings ist wichtig, dabei zu beachten, dass sie eine politische, d. h. keine auf einer bestimmten umfassenden Lehre gegründete These ist. Nichtsdestotrotz wird Rawls vorgeworfen, dass er dem Einwand des Ethnozentrismus ausgesetzt ist (vgl. Tasioulas 2002), obwohl er diesen gerade zu vermeiden suchte (vgl. etwa Rawls 2002, § 17). Dies ergebe sich daraus, dass Rawls nicht auf den objektiven Geltungsstatus der Menschenrechte, sondern auf deren Akzeptierbarkeit (acceptability) seitens illiberaler Völker rekurriert und den Inhalt der Menschenrechte aus rein politischer Perspektive betrachtet (vgl. Tasioulas 2002, 393; 395). Menschenrechte haben bei Rawls moralischen Charakter, auch wenn er den politischen Charakter seiner Theorie des Rechts der Völker wiederholt betont. Rawls’ politische Gerechtig-

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keitskonzeption ist erstens „selbst eine moralische Konzeption; zweitens wird sie aus moralischen Gründen bejaht“ (Rawls 2003, 236; Hv. R.M.). Das begriffliche Grundgerüst, das Rawls zur Entwicklung seines Rechts der Völker in Anspruch nimmt – etwa das soziale Kooperationssystem mit seinen Grundmerkmalen – enthält ebenso moralische Begriffe. Hinzu kommt, dass, wie oben dargestellt wurde, Menschenrechten ein exzeptioneller Stellenwert innerhalb Rawls’ Theorie des Rechts der Völker eingeräumt wird. Unter den Kriterien der Achtbarkeit einer Gesellschaft nehmen sie einen zentralen Platz ein; allein deren Verletzung macht aus einem Staat einen Schurkenstaat, welcher in dieser Hinsicht kein Recht auf Verteidigung hat. Außerdem genießen sie unter den Grundsätzen der Gerechtigkeit zwischen wohlgeordneten Völkern einen Sonderstatus. Trotz des moralischen Charakters der Menschenrechte in seiner Theorie liefert Rawls keine direkte moralische Rechtfertigung für sie; er begnügt sich in dieser Hinsicht mit seiner politischen Neutralitätsthese. Im deutschsprachigen Raum hat Jürgen Habermas Rawls eine „milde Deflationierung“ der Menschenrechte vorgeworfen, welche diese „von ihrem wesentlichen moralischen Antrieb, dem Schutz der gleichen Menschenwürde eines jeden, abschneidet“ (Habermas 2010, 355). Es sei ein Fehlschlag, die Menschenrechtsthematik „von vornherein auf Fragen der internationalen Politik einzuengen“ und Menschenrechte „ihres moralischen Mehrwerts zu berauben“ (ebd., 356). Einer der am meisten diskutierten, kontroversen Aspekte in Rawls’ Menschenrechtskonzeption ist seine Positionierung gegenüber der Liste der Menschenrechte, die er (nicht nur) in Das Recht der Völker fast nebenbei aufstellt (vgl. oben). Rawls’ scheint einige Rechte, die in den prominenten Menschenrechtsdokumenten bereits anerkannt sind, nicht als genuine Menschenrechte anzunehmen. Beispiele sind etwa das Recht auf Assoziation, der Anspruch auf politisch-demokratische Rechte sowie, dem Anschein nach, Rechte gegen unterschiedliche Formen der Diskriminierung. Rawls’ Bezugnahme auf Apartheid in § 10 von Das Rechte der Völker

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(Rawls 2002, 236, Fn. 23) legt allerdings – entgegen mancher Kritik (s. etwa Buchanan 2006, 151) – nahe, dass er nicht alle Rechte gegen Diskriminierung aus der Liste genuiner Menschenrechte zu verbannen versucht (zu unterschiedlicher Kritik an Rawls Verkürzung der Liste der Menschenrechte vgl. etwa Donnelly 1989, 39; Tasioulas 2002; Griffin 2008, 24; Benhabib 2012; Hahn 2013; zu Verteidigung vgl. Freeman 2006, 37 f.; Reidy 2004; Reidy 2006, 170). Kontroverser Weise gehört die gleiche Äußerungsfreiheit für alle nach Rawls nicht zu den Menschenrechten (vgl. Rawls 2002, 85). „[E] in hinreichendes Maß an Gewissens-, Religions- und Gedankenfreiheit“ reicht, so Rawls, für die Achtbarkeit aus, „auch wenn diese Freiheiten nicht in dem Maße ausgedehnt oder gleichermaßen auf alle Mitglieder der achtbaren Gesellschaften verteilt sein mögen, wie es in liberalen Gesellschaften der Fall ist“ (ebd., 90). Entscheidend ist aber für Rawls, dass, obwohl eine umfassende Lehre weltanschaulich in einer illiberalen achtbaren Gesellschaft dominiert, „keine Religion verfolgt wird oder […, keine] bürgerlichen und sozialen Bedingungen verweigert werden, die es erlauben, sie in Frieden und ohne Furcht zu praktizieren“ (ebd., 90). In seiner Oxford Amnesty Vorlesung wird zudem die Gewährung vom „Recht auf Auswanderung“ (Rawls 1996, 75) als ein Menschenrecht zur Kompensation für die „Ungleichheit der religiösen Freiheit“ innerhalb einer achtbaren, hierarchischen Gesellschaft gesehen (ebd., 80). Aus Sicht mancher Kritik ist es Rawls’ funktional eingeengte Begriffsbestimmung der Menschenrechte, welche dazu führt, eine verkürzte Menschenrechtsliste anzunehmen, die selbst hinter den Erwartungen der Menschenrechtspraxis zurückliegt (vgl. Tasioulas 2002, Sek. 4; Tasioulas 2010, 653; vgl. weiter Hinsch/Stepanians 2006, 126 f.; Beitz 2000).

Ausblick Rawls befasst sich direkt mit den Menschenrechten erst in seiner Oxford Amnesty Vorlesung (1993) und später in Das Recht der Völker

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(1999). Vieles deutet daraufhin, dass sein Hauptinteresse dabei der Außenpolitik liberaler oder wohlgeordneter Völker (vgl. Rawls 2002, 8 f.; 101; 104; 233, Fn. 4) und deren Toleranzgrenze gegenüber nicht achtbaren Gesellschaften gilt, mit dem Ziel eines stabilen Friedens zwischen pluralistischen Gesellschaften (vgl. ebenda 2002, 103; vgl. Freeman 2003; Wenar 2006; vgl. Brock 2010, 97). Die Menschenrechte wären aus dieser Sicht trotz ihrer nicht immer deutlichen Sonderstellung im Recht der Völker kein primärer Gegenstand seiner Politischen Philosophie. In seiner Oxford Amnesty Vorlesung betont Rawls, dass er „[die] zahlreichen Schwierigkeiten bei der Interpretation dieser Rechte […] außer Acht lassen“ möchte (Rawls 1996, 61). Einige Grundgedanken in Rawls’ Menschenrechtskonzeption, sowie generell in seiner Politischen Philosophie werden indes für die Theorie der Menschenrechte (weiterhin) von großem Potenzial sein; darunter z. B. sowohl Rawls’ Kooperations- wie Neutralitätsthese. Zusammenhängend vor allem mit letzterer ist Rawls’ Modell des übergreifenden Konsenses für Ansätze, die den Pluralismus der Weltanschauungen und Denktraditionen in ihre Rechtfertigungstheorie der Menschenrechte miteinbeziehen, eine wichtige Inspirationsquelle (vgl. Lindholm 2008; ferner, für die zentrale Bedeutung der Rawlsschen Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs in der Rechtfertigung der Menschenrechte, vgl. Sen 2004). Die durch Rawls weiteren Einfluss gewonnene Idee, dass eine wichtige Funktion der Menschenrechte darin besteht, dass deren Verletzung eine pro tanto Rechtfertigung zur internationalen Reaktion darstellt, kann nicht auf plausible Weise von anderen Theorien der Menschenrechte zurückgewiesen werden. Der Gedanke, dass das Prinzip der Menschenrechte das, jahrhundertlange das Völkerrecht beherrschende Souveränitätsprinzip übertrumpft, ist unabhängig davon, ob die Politische Konzeption vertreten wird oder eine direkte moralische Begründung der Menschenrechte auf der Agenda steht. Nicht zuletzt sei darauf hingewiesen, dass Rawls zwar selbst keine moralische Rechtfertigung der Menschenrechte an-

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bietet, vielmehr entsteht sogar der Eindruck, dass er diese vermeiden möchte, ein Rawlsscher, moralischer Begründungsansatz der Menschenrechte wäre jedoch nicht aussichtslos. Die zwei moralischen Vermögen, die Anlage zum Gerechtigkeitssinn und die Fähigkeit zur Bildung einer eigenen Konzeption des Guten (vgl. etwa Rawls 2006, § 7) haben in Rawls’ Politischer Philosophie nach Eine Theorie der Gerechtigkeit eine immer wichtigere und, trotz seines Kohärentismus, sogar fundamentale Stellung erhalten. Die zwei moralischen Vermögen liegen den zwei Eigenschaften der Freiheit und Gleichheit in Rawls’ Personenkonzeption zugrunde (vgl. etwa Rawls 2006, § 7). Sie sind zudem seit Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie (1980) das Kriterium, um Grundgüter zu identifizieren; diese werden nämlich als notwendig erachtet, um die zwei moralischen Vermögen zu entwickeln und zu verwirklichen (s. Rawls 1994, 96; s. auch 2003, 153). Schließlich entsprechen in motivationaler Hinsicht den zwei moralischen Vermögen zwei „höchstrangige Interessen“ (highest-order interests), diese Vermögen zu entwickeln und auszuüben (vgl. Rawls 1994, 93 f.; 2003, 151). Die exemplarisch genannten Rollen der zwei moralischen Vermögen zur Rechtfertigung, Identifikation und Motivation in Rawls’ Politischer Philosophie können als Grundmomente auf eine Moralbegründung der Menschenrechte übertragen werden.

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567 Wenar, Leif: Why Rawls is not a cosmopolitan egalitarian. In: Rex Martin/David Reidy (Hg.): Rawls’s law of peoples: A realistic utopia? Malden, Mass. 2006, 95–113.

Normative politische Ökonomie: Rawls und Piketty im Vergleich

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Darrel Moellendorf und Michael Roseneck

Darrel Moellendorf, übersetzt von Michael Roseneck

Im fünften Kapitel von Eine Theorie der Gerechtigkeit heißt es, dass sich „[d]ie politische Ökonomie […] an wichtiger Stelle mit dem öffentlichen Sektor und der richtigen Form der grundlegenden Institutionen, die die wirtschaftliche Tätigkeit regeln, mit der Besteuerung, der Eigentumsordnung, der Struktur von Märkten usw. beschäftigt“ (Rawls 1972, 299). Indem sie das tut, stützt sie sich auf „Maßstäbe zur Beurteilung wirtschaftlicher Verhältnisse und wirtschaftspolitischer Programme“ (ebd., 291), weswegen „[e]ine Theorie der politischen Ökonomie […] eine Bestimmung des öffentlichen Wohls auf der Grundlage einer Gerechtigkeitsvorstellung enthalten“ (ebd., 292) muss. Da die politische Ökonomie dementsprechend Gerechtigkeitsvorstellungen zur Bewertung von Institutionen heranzieht, versteht Rawls sie als eine zutiefst normative Disziplin. Während Thomas Piketty (2020, 1187) das Rawlssche Gerechtigkeitsverständnis mitsamt D. Moellendorf (*) · M. Roseneck  Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Roseneck  E-Mail: [email protected]

des Differenzprinzips zwar befürwortet, ist er gleichwohl weitaus weniger darum bemüht, abstrakte Gerechtigkeitsgrundsätze herzuleiten und zu verteidigen. „Es ist […] ratsam, nicht zu sehr auf abstrakte und allgemeine Prinzipien sozialer Gerechtigkeit zu vertrauen, sondern sich auf die Weise zu konzentrieren, wie sie sich innerhalb besonderer Gesellschaften niederschlagen und von konkreten Politiken und Institutionen verkörpert werden“ (ebd., 1189). Vielmehr bewertet er den hohen Abstraktionsgrad von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie, insbesondere die fehlende Erörterung von „Niveaus der Ungleichheit und der Steuerprogression“, als deren „prinzipielle Begrenztheit“ (ebd.). Rawls und Piketty teilen damit eine weitgehend liberal-egalitäre Konzeption von Gerechtigkeit. Ferner lehnen Sie beide ausgeprägte soziale Ungleichheit bezüglich des Privatbesitzes von Vermögen ab, etwas, das sie auch an Ländern mit eigentlich sozialdemokratischen Traditionen und Institutionen bemängeln. Beide befürworten folglich einen institutionellen Wandel, der zu einer egalitäreren, als „sozialistisch“ bezeichneten Gesellschaft führen soll. Die ausgeprägte soziale Ungleichheit bezüglich des Privatbesitzes ist nach Rawls dabei ein derart grundlegendes Gerechtigkeitsproblem, dass auch ein „wohlfahrtsstaatlicher Kapitalismus“ (Rawls 2006, 215) als nicht hinreichend egalitär zu bemängeln ist. Denn dieser trage dazu bei, dass einige Individuen weitaus

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_75

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mehr privates Kapital anhäufen als andere. Die dadurch entstandene Ungleichheit versucht dieser Kapitalismus dann letztlich nur durch Einkommensbesteuerung und soziale Leistungen zu verringern. „Dieser Kapitalismus gestattet ein äußerst hohes Maß an Ungleichheiten hinsichtlich des Besitzes von realem Eigentum […], so daß die Steuerung der Wirtschaft und ein großer Teil des politischen Lebens in wenigen Händen ruhen. Und obwohl die soziale Versorgung, wie die Bezeichnung ,wohlfahrtsstaatlicher Kapitalismus‘ nahelegt, durchaus großzügig sein und ein die Grundbedürfnisse abdeckendes, annehmbares soziales Minimum […] garantieren kann, wird ein die ökonomischen und sozialen Ungleichheiten regulierendes Prinzip der Reziprozität nicht anerkannt“ (Rawls 2006, 214 f.). In eben diesem Sinne kritisiert auch Piketty (2020, 56), einige Jahrzehnte nach Rawls schreibend, die Sozialdemokratie dafür, dass sozialdemokratische Parteien daran gescheitert sind, die Entwicklung hin zu wachsender sozialer Ungleichheit aufzuhalten. Beide Autoren sind damit Theoretiker eines egalitären Liberalismus links der zeitgenössischen Sozialdemokratie (Moellendorf 1997). Im Folgenden vergleiche ich nun Rawls’ und Pikettys Standpunkte zu den Institutionen und Prinzipien der normativen politischen Ökonomie. Nicht nur verbindet sie die Befürwortung liberal-egalitärer Gerechtigkeitsprinzipien und damit eine Ablehnung der genügsamen Hinnahme von Ungleichheit seitens gegenwärtiger sozialdemokratischer Politik. Ihre Theorien eint auch, dass sie an wichtigen Stellen dieselben blinden Flecken aufweisen: So ist die normative politische Ökonomie des Kosmopolitismus, der Nachhaltigkeit und der gesellschaftlichen Resilienz in beiden Werken theoretisch zutiefst unterbestimmt. Dies ist dabei insbesondere bei Pikettys Arbeit unbefriedigend, da er, anders als Rawls, zu einer Zeit schreibt, zu der diese Faktoren als dringliche politische Angelegenheiten weitestgehend erkannt worden sind.

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Normative Grundlagen Normative politische Ökonomie, so wie Rawls sie versteht, fußt auf einem Verständnis von Allgemeinwohl, das sich aus einer bestimmten Vorstellung von Gerechtigkeit ableitet. Deswegen sind Rawls’ zwei Gerechtigkeitsgrundsätze zentral für dessen Verständnis von politischer Ökonomie. Deren finale und kanonische Formulierung lautet: „[1.] Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist. […] [2.] Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: (a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigen den größtmöglichen Vorteil bringen, und (b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen“ (Rawls 1975, 336). Der erste Grundsatz genießt lexikalischen Vorrang, weswegen „die Grundfreiheiten nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden“ (ebd.) können und nicht um Ungleichheit zu mindern. Darüber hinaus ist innerhalb des zweiten Grundsatzes die „faire Chancengleichheit […] dem Unterschiedsprinzip vorgeordnet“ (ebd., 337), welches besagt, dass verbleibende Ungleichheit zugunsten der am schlechtesten Gestellten gereichen muss. Diese Prinzipien strukturieren die Rahmeninstitutionen einer Gesellschaft, von Rawls auch als Grundstruktur einer Gesellschaft bezeichnet: „[D]ie wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen [verteilen] Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit […]. Unter den wichtigsten Institutionen verstehe ich die Verfassung und die wichtigsten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse [arrangements]. Beispiele sind etwa die gesetzlichen Sicherungen der Gedanken- und Gewissensfreiheit, Märkte mit Konkurrenz, das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die monogame Familie“ (Rawls 1975, 23).

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Eine Grundstruktur, welche auf den genannten Gerechtigkeitsgrundsätzen aufbaut, wäre dabei aus drei Gründen egalitär (Rawls 1998, 68–70): 1) Der erste Grundsatz muss dahingehend interpretiert werden, dass durch ihn nicht nur formal die gleichen Grundfreiheiten gewährt werden, sondern sie auch über denselben fairen Wert verfügen. 2) Der zweite Grundsatz garantiert nicht nur formale, sondern faire Chancengleichheit. 3) Das Unterschiedsprinzip erfordert, dass Ungleichheit zum Vorteil der am schlechtesten Gestellten gereicht. Dass die politischen Grundfreiheiten, die Teilhaberechte, für jede*n den gleichen fairen Wert haben müssen, ist von zentraler Bedeutung für Rawls’ Verständnis von Demokratie und für die normativen Maßstäbe der politischen Ökonomie. Diese Anforderung gewährleistet die „faire Möglichkeit […] am politischen Leben teilzunehmen und mitzuwirken. […] Im Idealfall sollten gleich Begabte und Motivierte ungefähr die gleiche Aussicht auf politische Ämter unabhängig von ihren wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen haben“ (Rawls 1975, 255). Gleichwohl kann etwa der familiäre Hintergrund auf fatale Art und Weise die individuellen Optionen tangieren, politischen Einfluss auszuüben und an der Politik mitzuwirken, insbesondere das in der Familie vorhandene Vermögen und Einkommen sowie der Zugang zu Kultur und kostenpflichten Bildungsangeboten. Die Anforderung, dass der faire Wert der politischen Freiheiten gleich sein muss, dient also dazu, politische Handlungsspielräume vor Verzerrungen durch einkommens- und vermögensbedingte Privilegien zu schützen. Wird diese egalitäre Anforderung beachtet, so führt dies nicht nur dazu, dass die Politik fairer wird, sondern auch dazu, dass sich die Willensbildung und Entscheidungsfindung vernünftiger gestaltet (ebd.). Wie der Grundsatz des fairen Werts politischer Grundfreiheiten, so ist auch die faire Chancengleichheit hochgradig egalitaristisch begründet. Sie ist nämlich deswegen vonnöten, da Vermögens- und Einkommensungleichheit individuelle Chancen in ungerechtfertigter Weise beeinträchtigen können. Die faire Chancen-

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gleichheit zielt darauf, „übermäßige Vermögenskonzentrationen [zu verhindern] und [auf die Bedeutung] der Aufrechterhaltung gleicher Bildungschancen für alle hinzuweisen. Die Möglichkeit, sich das Wissen und Können seiner Kultur anzueignen, sollte nicht von der Klassenlage abhängen, und das Schulsystem, ob öffentlich und privat, sollte auf den Abbau von Klassenschranken ausgerichtet sein“ (Rawls 1975, 93 f.). Während dieser Grundsatz also den fairen Wettstreit bezüglich Bildung und Beruf und nicht bezüglich des politischen Einflusses ermöglichen soll, ist es dennoch auch hier der verzerrende Einfluss von Vermögens- und Einkommensungleichheiten, den es zu beseitigen gilt. Die institutionelle Ordnung, die Rawls und Piketty vorschlagen, beschreibt Rawls in seiner Darstellung egalitärer liberaler Gerechtigkeit. In Eine Theorie der Gerechtigkeit unterteilt Rawls die Regierungstätigkeit in verschiedene Funktionsbereiche: die Allokationsabteilung (allocation branch), die Stabilisierungsabteilung (stabilization branch), die Umverteilungsabteilung (transfer branch) und die Verteilungsabteilung (distribution branch). Zur letzten sagt Rawls (1975, 311): „Ihre Aufgabe ist die Herstellung einer gewissen Verteilungsgerechtigkeit mittels Besteuerung und Änderung des Besitzrechts.“ Die zwei Funktionen der Verteilungsabteilung korrespondieren dabei zu den zwei Grundsätzen der Gerechtigkeit: „Die (nötigenfalls) progressive Besteuerung des Erbes und Einkommens und das Eigentumsrecht sollen in einer Demokratie mit Privateigentum die Institutionen der gleichen Freiheit und den fairen Wert der von ihnen gewährten Rechte gewährleisten [erster Gerechtigkeitsgrundsatz]. Proportionale Verbrauchs- (oder Einkommen-)steuern sollen die Mittel für öffentliche Güter, Umverteilung [zur Sicherung des Existenzminimums] und faire Chancengleichheit im Bildungswesen u. ä. im Sinne des zweiten Grundsatzes sicherstellen“ (ebd., 313). Auch vergleicht Rawls Ungleichheiten bei der Vererbung mit Ungleichheiten bei der Intelligenz. In beiden Fällen unterwirft er die Zulässigkeit von Ungleichheiten denselben

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strengen Anforderungen. Sie sind „zulässig, falls die sich ergebenden Ungleichheiten den am wenigsten Bevorzugten zum Vorteil gereichen und mit der Freiheit und der fairen Chancengleichheit vereinbar sind“ (ebd., 312). Rawls hält dementsprechend fest, dass der fundamentale Fehler aller historisch existierenden demokratischen Systeme darin bestand, den fairen Wert der politischen Grundfreiheiten nicht zu verwirklichen. „Die Gesetze duldeten im allgemeinen Ungleichheiten der Vermögensverteilung, die weit über das hinausgingen, was mit der politischen Gleichheit verträglich ist“ (Rawls 1975, 256). Dies sei Rawls zufolge selbst in sozialdemokratisch geprägten Gesellschaften der Fall gewesen. Im Vorwort zur überarbeiteten Ausgabe von A theory of justice verwirft Rawls deswegen auch einen wohlfahrtsstaatlich eingehegten Kapitalismus und die zeitgenössische Sozialdemokratie als nicht hinreichend egalitär. „Such a system may allow large and inheritable inequities of wealth incompatible with the fair value of the political liberties […], as well as large disparities of income that violate the difference principle“ (Rawls 1999, xv). Und in Gerechtigkeit als Fairneß kritisiert Rawls (2006, 217) existierende Wohlfahrtsstaaten dafür, Vermögensund Einkommensungleichheiten zuzulassen, die dazu führen, dass sich „eine entmutigte und deprimierte Unterschicht herausbilde[t], der viele angehören, die chronisch auf Fürsorge angewiesen sind. Diese Unterschicht fühlt sich im Stich gelassen und beteiligt sich nicht an der öffentlichen politischen Kultur.“ Kurz: Kapitalismus ist schlecht für die Demokratie. Das ist auch dann der Fall, wenn die Ungleichheiten, die der Kapitalismus verursacht, durch einen Wohlfahrtsstaat reduziert werden.

Alternativen zur derzeitigen Sozialdemokratie Die zentrale Aufgabe der politischen Ökonomie bestehe, Rawls zufolge, darin, eine Darstellung egalitärer Institutionen zu entwickeln, die zugleich konsistent zur Gewährleistung der glei-

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chen Freiheit für alle sind. Dabei nimmt er an, dass solch ein Projekt durch die Welt, wie sie ist, beschränkt wird. „Daher fragen wir: Wie wäre eine gerechte demokratische Gesellschaft unter einigermaßen günstigen, aber immerhin möglichen historischen Bedingungen beschaffen – also unter Bedingungen, die von den Gesetzen und Tendenzen der sozialen Welt zugelassen werden“ (Rawls 2006, 24). Dieser Realitätsbezug soll dafür Sorge tragen, dass die politische Ökonomie nicht nur theoretisch Interessantes hervorbringt, sondern umsetzbare „Zielvorstellungen für gesellschaftliche Reformen“ (Rawls 1975, 277) bereitstellt. Die normative politische Philosophie hingegen hat ein darüberhinausgehendes Erkenntnisinteresse, das darin besteht, Reformvorschläge, einschließlich von Institutionen und Politiken, zu unterbreiten, die „moralisch zulässig […] [und] politisch möglich“ sind, was als ein Übergangsprogramm verstanden werden könnte. Obwohl große Ungleichheit beim privaten Kapitalbesitz nach Rawls ein grundlegendes Problem der Gerechtigkeit ist, ist sein Bekenntnis zum Sozialismus nicht eindeutig. Denn es existieren zwei mögliche Alternativen, die das Problem der Ungleichheit beim privaten Kapitalbesitz adressieren. Entweder könnten die Kapitalbesitzverhältnisse ausgeglichen werden, eine Gesellschaftsordnung, die er als Demokratie mit Eigentumsbesitz (property-owning democracy) bezeichnet, oder die Produktionsmittel könnten vergemeinschaftet werden, wie es im demokratischen Sozialismus der Fall wäre (Rawls 2006, 215; vgl. Meade 1964; O’Neill/ Williamson 2012). Rawls äußert sich ausdrücklich nicht dazu, welche Alternative die gerechtere Lösung für das Problem der Ungleichheit beim Kapitalbesitz ist. „Welches der beiden Systeme und der vielen Zwischenformen am gerechtesten ist, läßt sich nach meiner Auffassung nicht im voraus entscheiden. Vermutlich gibt es keine allgemeine Antwort auf diese Frage, denn sie hängt stark von den Traditionen, Institutionen und gesellschaftlichen Kräften jedes Landes und seinen besonderen geschichtlichen Umständen ab“ (Rawls 1975, 307).

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Von der gegenwärtigen Sozialdemokratie, oder dem, was Rawls als wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus bezeichnet, unterscheidet sich die Demokratie mit Eigentumsbesitz wie folgt: „Property-owning democracy avoids this [Ungleichheit bezüglich des privaten Wohlstands], not by redistributing income to those with less at the end of each period, so to speak, but rather by ensuring the widespread ownership of productive assets and human capital (educated abilities and trained skills) at the beginning of each period; all this against a background of equal basic liberties and fair equality of opportunity. This idea is not simply to assist those who lose out through accident or misfortune (although this must be done), but instead to put all citizens in a position to manage their own affairs and to take part in social cooperation on footing of mutual respect under appropriately equal conditions“ (Rawls 1999, xiv). Die Gegensätze zwischen den verschiedenen Wirtschaftssystemen gestalten sich bei Rawls dementsprechend wie folgt: Einerseits können politische und ökonomische Institutionen zunächst die ungleiche Anhäufung von Reichtum zulassen und dann erst versuchen, die entstandenen Ungleichheiten durch Besteuerung und Umverteilung zu korrigieren. Andererseits können sie die ungleiche Kapitalanhäufung einschränken, indem sie entweder die Ausgangslage für die Akkumulation von Kapital ausgleichen oder die relevanten Formen des Kapitals vergemeinschaften. Obwohl Rawls eine strikte Unterscheidung zwischen dem gleichmäßigen Besitz von Privateigentum (property-owning democracy) und dem Gemeinschaftseigentum an Produktionsmitteln (demokratischer Sozialismus) trifft, legt eine Betrachtung der jeweiligen Grundstrukturen, welche die ungleiche Verteilung von Kapital verhindern wollen, nahe, dass eine solche Differenzierung weniger deutlich ausfällt, als es Rawls meint. John Roemer (1994) zum Beispiel schlägt ein institutionelles Arrangement vor, bei dem handelbare Anteile von Großunternehmen, sogenannte coupons, an die Bürger*innen verteilt werden. Diese coupons verleihen ihren Besitzer*innen Einkommen über

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ein Anrecht auf Rendite. Obwohl sie dabei getauscht werden können, können sie nicht verkauft werden, wodurch jedoch ein wichtiges Vorrecht des Privateigentums an Produktionsmitteln fehlt. A. M. Honoré (1961, 370) teilt Eigentümerschaft in verschiedene distinkte Rechte ein: „Ownership comprises the right to possess, the right to use, the right to manage, the right to the income of the thing, the right to the capital, the right to the security, the rights or incidents of transmissibility and absence of term, the prohibition of harmful use, liability to execution, and the incident of residuary.“ Unter Verwendung von Honorés Konzept distinkter Rechte könnte man Roemers Vorschlag als Privatisierung des Rechts auf Einkommen, aber als Vergemeinschaftung vieler anderer Rechte charakterisieren. Obwohl Roemer seinen Vorschlag als Form des Marktsozialismus identifiziert, hat David Schweickart (2012, 201 f.) darauf hingewiesen, dass, da es private Erträge aus Eigentum beinhaltet, mehr eine Form der Demokratie mit Eigentumsbesitz als ein Marktsozialismus sei. Piketty bezeichnet die von ihm befürwortete institutionelle Ordnung als partizipativen Sozialismus; vermutlich, da in seinem Vorschlag die Beteiligung von Arbeitnehmer*innen in den Unternehmensvorständen eine zentrale Rolle spielt. Trotz der Bezeichnung beinhaltet sein Vorschlag aber nicht eine Form der vollständigen Vergesellschaftung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Zugleich enthält er viele Aspekte, die charakteristisch für eine Demokratie mit Eigentumsbesitz sind, etwa eine mithilfe einer progressiven Vermögenssteuer finanzierte universale Kapitalhilfe. Ferner bezieht er eine progressive Einkommenssteuer, eine CO2-Steuer, eine Sozialversicherung und ein bedingtes Grundeinkommen mit ein. Pikettys Ansatz eines partizipativen Sozialismus enthält sowohl Formen des zeitweisen als auch des Gemeinschaftseigentums an Produktionsmitteln vonseiten von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen, wobei das zeitweise Eigentum die Grundlage für Reformen des Steuer- und Umverteilungssystems

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bildet. Ferner verteidigt er drei Arten von progressiver Steuer, eine jährliche Vermögenssteuer, eine Erbschaftsschafts und eine Einkommenssteuer (Piketty 2020, 1205). Die von ihm vorgeschlagenen Erbschafts- und Einkommenssteuersätze betragen 60 bis 70 % für Vermögen und Einkommen, die das Zehnfache des nationalen Durchschnitts betragen, und 80 bis 90 % für Vermögen und Einkommen, die das Hundertfache des nationalen Durchschnitts betragen. Dies entspricht in etwa den Höchstwerten der Grenzsteuersätze des 20. Jahrhunderts in vielen Ländern, auch in den Vereinigten Staaten von Amerika (ebd., 1209 f.). Die Vermögens- und Erbschaftssteuer würden dabei fünf Prozent des gesamten Staatseinkommens einbringen (ebd., 1205). Piketty (ebd., 1212) spricht sich, historisch gesehen, nicht für einen Höchstsatz für die jährliche Vermögensbesteuerung aus. Er weist jedoch darauf hin, dass die größten Vermögen nachweislich um etwa sieben bis acht Prozent pro Jahr gewachsen sind. Es ist also ein Spitzensteuersatz von mindestens fünf bis zehn Prozent erforderlich, um die Konzentration an der Spitze zu stabilisieren oder leicht zu verringern. Ferner schlägt Piketty vor, die klassischen Sozialleistungen durch einen zusätzlichen Umverteilungsmechanismus zu ergänzen, nämlich eine universelle Kapitalzuwendung, die jeder im Alter von 25 Jahren erhält, quasi als Startkapital für das eigene Leben (ebd., 1207). Dieses würde als eine Art öffentliches Erbe fungieren, das jedem etwa 60 % des Wertes des derzeitigen Durchschnittsvermögens, das in Westeuropa, den USA und Japan derzeit etwa 200.000 Euro beträgt, zukommen lässt (ebd., 1212). Die progressive Einkommenssteuer, einschließlich einer Sozialversicherungssteuer und einer CO2Steuer, würde schließlich etwa 45 % des Volkseinkommens einbringen und das bedingungslose Grundeinkommen und die sozialstaatlichen Leistungen finanzieren (ebd., 1205). Das Gemeineigentum an Produktionsmitteln in Pikettys partizipativem Sozialismus beinhaltet die Teilung der Entscheidungsgewalt in den Unternehmen, wobei sein Vorschlag sich in hohem Maße auf die deutschen und schwedischen

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Erfahrungen mit der Mitbestimmung von Arbeitnehmer*innen in den Betrieben stützt. So räumt er zwar ein, dass die Stellung der Arbeitnehmer*innen im deutschen Mitbestimmungssystem derjenigen der Aktionär*innen untergeordnet ist, nimmt jedoch die Erfahrung in Deutschland als wichtige Grundlage, auf der er sein eigenes Mitbestimmungsmodell weiterentwickelt. Arbeitnehmer*innen, die über ein erhebliches Maß an Mitspracherecht in einem Unternehmen verfügen, sind natürlich nicht Eigentümer*innen im Sinne von Einnahmensempfänger*innen, aber sie sind Eigentümer*innen in dem Sinne, dass sie die Möglichkeit einer teilweisen Kontrolle haben. Im Gegensatz zu einer Grundstruktur des gleichverteilten Privateigentums oder dem staatlichen Eigentum an Produktionsmitteln ist ein solches System der Mitbestimmung kein Mittel zur Beseitigung von materieller Ungleichheit. Allerdings gleicht es die Machtungleichheiten bei Investitions- und Lohnentscheidungen aus, die der Kapitalismus zulässt. Piketty (ebd., 631) vertritt dabei die Ansicht, dass die Option der Mitbestimmung eine „ziemlich radikale Infragestellung des Privateigentums“ sei. Dies ist zugegebenermaßen eine überraschende und nicht unmittelbar einsichtige Behauptung. Wenn die Option der Mitbestimmung eine „radikale Infragestellung des Privateigentums“ darstellt, dann ist dem so, weil sie das Recht privater Kapitaleigner antastet, frei über ihr Kapital zu verfügen. Dies verändert die Regeln von Eigentümerschaft grundlegend und ist, so Piketty (ebd., 632) „von einem grundsätzlichen Standpunkt aus höchst destabilisierend[] […], noch mehr, als es die progressive Besteuerung manchen Auffassungen zufolge ist“. Warum aber sollte Pikettys Modell von Gemeineigentum an Produktionsmitteln beziehungsweise Mitbestimmung destabilisierend sein und in welcher Hinsicht? Eine Möglichkeit ist, dass das Mitbestimmungsrecht eine Herausforderung für den Zusammenhang der verschiedenen distinkten Rechte darstellt, die Eigentümerschaft ausmachen. Es wäre dann der erste Schritt zu einer breiteren sozialen Umverteilung anderer Rechte, die Eigentümerschaft konstituieren. Es

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liegen jedoch keine Anzeichen dafür vor, dass Piketty einen Bedeutungszuwachs von Arbeitnehmern*innen in Unternehmensvorständen grundsätzlich als Übergang zu anderen Formen der Eigentumsverteilung ansieht. Die obigen Zitate deuten vielmehr darauf hin, dass er die Stellung der Arbeitnehmer*innen als mindestens ebenso wichtig und vielleicht sogar als wichtiger ansieht als Reformen, die seine Vorstellung von einem zeitweisen Eigentum umsetzen würden, einschließlich Vermögens- und Erbschaftssteuern zur Finanzierung einer universellen Kapitalzuwendung. Der Wert der Mitbestimmung ist nicht nur instrumentell für einen Übergang, die sie fördern könnte. Piketty zufolge verleiht das Gemeineigentum an Produktionsmitteln den Arbeitnehmer*innen vielmehr ein Mitspracherecht bei Investitionsentscheidungen, Arbeitsplatzbedingungen sowie Löhnen und Gehältern. Wenn jedoch ungleich verteiltes Eigentum an privatem Kapital demokratische Praktiken verzerrt und untergräbt, so trägt das Gemeineigentum nicht zur Lösung dieses Problems bei. Indem es die Ungleichheiten bei Vermögen und Einkommen einschränkt, könnte dagegen das zeitlich befristete Eigentum eine gewisse Verbesserung in dieser Hinsicht bewirken.

Neue Perspektiven: Kosmopolitismus, Nachhaltigkeit und Resilienz Auch wenn Rawls und Piketty unschätzbare Beiträge zur Entwicklung einer egalitär-liberalen normativen politischen Ökonomie geleistet haben, existieren einige Fragestellungen von aktueller Bedeutung, die, falls überhaupt, in ihren Theorien nicht adäquat thematisiert werden. Eine davon ist die Frage kosmopolitischer Verteilungsgerechtigkeit. Rawls benennt zwei grundsätzliche, gleichwohl nicht plausible Gründe gegen die Entwicklung von Prinzipien kosmopolitischer Verteilungsgerechtigkeit und daher auch gegen eine politische Ökonomie auf deren Grundlage. Zum einen behauptet Rawls (2002, 143–149), dass der einzig begründbare Gerechtigkeitsanspruch fernab von staatlichen

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Grenzen darin bestehe, die Existenz von in sich gerechten Grundstrukturen zu sichern oder Völker bei deren Entwicklung zu unterstützen, nicht aber individuelle Ansprüche über Grenzen hinweg zu erfüllen. Zum anderen unterstellt er, dass die Ursache von internationaler Ungleichheit größtenteils die jeweilige politische Kultur in einem Land sei, die jedoch nicht Angelegenheit globaler moralischer Reflexion sein könne (ebd., 134–137). Vielleicht ergab eine solche Sicht der Dinge in der Vergangenheit Sinn, sie ist aber keinesfalls für die gegenwärtige globale Lage geeignet. Die globale Weltwirtschaft kennzeichnet sich heutzutage nämlich etwa durch Mechanismen der Krisenübertragung, die mit Fug und Recht zum Gegenstand von normativem Nachdenken werden müssen, etwa wenn sich Krisen über Ländergrenzen hinweg ausbreiten, insbesondere von wohlhabenden Ländern zu solchen, in denen der Großteil der Bevölkerung nur über ein geringes oder mittleres Einkommen verfügt (Moellendorf 2021). Ein eindrucksvolles Beispiel dafür war die Große Rezession von 2008/2009, als sich aus dem Platzen einer Immobilienmarktblase in den Vereinigten Staaten von Amerika eine Finanzkrise entwickelte, die sich dann zu einer weltweiten Wirtschaftskrise ausweitete. Krisenübertragungsmechanismen führten zu einem Dominoeffekt, der zu einem rasanten und lähmenden Rückgang wirtschaftlicher Tätigkeit beitrug. Das globale Wirtschaftswachstum fiel von 3,9 % im Jahre 2007 über 3 % im Jahr 2008 auf – 2,2 % im Jahr 2009 und war damit zum ersten Mal seit sechzig Jahren rückläufig (Weltbank 2010, 3). Die Wachstumsraten in Ländern mit einem niedrigen und mittleren Durchschnittseinkommen fielen dabei von 8,3 % im Jahr 2007 über 8,1 % 2008 auf 1,2 % im Jahr 2009, u. a. da die Arbeitslosigkeit in den reichen Volkswirtschaften zum Rückgang der Geldüberweisungen von Familienmitgliedern und Verwandten in ärmere Länder führte; obwohl diese Überweisungen stabiler sind als andere Geldzuflüsse, gingen sie 2009 um 6 % zurück (Ratha 2009). Sie sind dabei für Länder, deren Großteil der Bevölkerung von einem niedrigen und

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mittleren Einkommen lebt, zu einer zentralen Einnahmequelle geworden und machen mehr als das Dreifache der staatlichen Entwicklungshilfe aus; für viele dieser Länder sind sie sogar die größte externe Einnahmequelle. Dies und hinzugenommen, dass die wirtschaftliche Schwäche in Ländern mit hohen Durchschnittseinkommen zu einem Nachfragerückgang nach Rohstoffexporten aus den Ländern mit niedrigem oder mittlerem Durchschnittseinkommen führte, bedingte, dass letzten Endes das notwendige Kapital für wirtschaftliche Entwicklung ausblieb. Es zeigt sich also, dass die weltwirtschaftliche Einbindung von Ländern mit geringem oder mittlerem Durchschnittseinkommen sie besonders anfällig für Verschlechterungen der ökonomischen Lage in den Ländern mit einem hohen Durchschnittseinkommen macht. Obwohl ihre Wachstumsraten positiv blieben, fallen Ungleichheiten drastischer ins Gewicht. So schätzt die Hauptabteilung Wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten der Vereinten Nation (2009, 3), dass für jeden verlorenen Prozentpunkt Wirtschaftswachstum zwanzig Millionen Menschen mehr in Armut geraten. Die große Not in weniger entwickelten Ländern, die dadurch entstand, dass Millionen von US-amerikanischen Hausbesitzern in Hypotheken nicht weiterbezahlen konnten, stellt ein bemerkenswertes Fallbeispiel entgegen Rawls’ Annahme dar, dass sich Gerechtigkeitsfragen nur auf die Grundstruktur eines Staates beziehen könnten. Eine egalitäre politische Ökonomie ohne kosmopolitische Perspektive ist dementsprechend blind für faktische Ungerechtigkeit. Pikettys (2020, 1102) Darstellung des Modells eines partizipativen Sozialismus dagegen beinhaltet im Kontext seiner Vorschläge für eine Weiterentwicklung der Europäischen Union durchaus eine Diskussion globaler Gerechtigkeit. So schlägt er ein europäisches demokratisches Forum vor, eine Europäische Versammlung, die aus zwei Gruppen von Vertreter*innen besteht. Die eine Gruppe würde sich aus den Abgeordneten des Europäischen Parlaments zusammensetzen, wobei die Verteilung der Parteien in der Europäischen Versammlung dieselbe wäre wie im Parlament, die

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andere Gruppe würde sich aus Vertreter*innen der nationalen Parlamente zusammensetzen, wobei auch hier die Proportionalität der Parteien Beachtung fände. Zugleich wäre die Größe der zweiten Gruppe von Vertreter*innen abhängig von der Bevölkerungsgröße eines Landes. Piketty will sich nicht abschließend auf ein konkretes Verhältnis der zwei Gruppen zueinander festlegen, erwähnt aber in seinem Vorschlag ein Verhältnis von 80 % Mitgliedern aus den nationalen Parlamenten und 20 % von Mitgliedern aus dem Europäischen Parlament. Auch die Anzahl der partizipierenden EU-Mitgliedsstaaten bleibt ähnlich offen. So könnte die Europäische Versammlung mit einer Gemeinschaft der Willigen anfangen und mit der Zeit expandieren (ebd.). Da die Versammlung über einen gemeinsamen Haushalt verfügt und damit die wirtschaftliche Lage in den einzelnen Ländern mitbeeinflusst, kann gehofft werden, dass sukzessive auch ein Bewusstsein für supranationale Gerechtigkeit und Solidarität entsteht. Piketty stellt sich nun vor, dass eine solche Versammlung nicht nur auf dem Europäischen Kontinent entsteht, sondern auch in anderen Regionen der Welt (ebd., 1260 f.). Damit ist seine supra- und transnationale Vorstellungkraft nicht, wie bei Rawls, auf eine vergangene Zeit beschränkt, sondern expansiv: „Ich habe ein ideales (ja idyllisches) Kooperationsprinzip beschrieben, das gleichsam in konzentrischen Kreisen zu einer umfassenden transnationalen Demokratie führen könnte und damit zur Einführung gemeinsamer und gerechter Steuern, zum universalen Recht auf Bildung, zu einer allgemeinen Kapitalausstattung, zur Verallgemeinerung des freien Personenverkehrs und de facto zur Quasi-Abschaffung der Grenzen“ (ebd., 1266).

Piketty entwirft also die Idee eines globalen Föderalismus, der regional entsteht und sich mit der Zeit zu einer Föderation partizipativer Sozialismen entwickelt. Führt man sich vor Augen, dass Rawls (2002, 4) den Standpunkt vertritt, dass die politische Philosophie dann „realistisch-utopisch [ist], wenn sie die Grenzen dessen, was wir gewöhnlich für praktisch-politisch möglich halten, ausdehnt“, so geht Pikettys Hoffnung weit darüber hinaus.

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Gleichwohl passt Pikettys Vorstellung einer sich entwickelnden kosmopolitischen Föderation partizipativer Sozialismen nicht so recht mit seiner Analyse des Problems zusammen, mit dem sich linke Parteien seit den 1980er Jahren konfrontiert sehen. Dieses Problem bestehe nämlich darin, dass diese sich zu Parteien der Gutgebildeten entwickelt hätten und nicht mehr in dem Maße wie früher Mitglieder der Arbeiter*innenklasse binden könnten. Die Arbeiter*innenklasse hingegen wandere zu Parteien, die nativistische und identitäre Angstszenarien verbreiten, was dadurch zu erklären sei, dass die Linke es versäumt hat, die Globalisierung des Kapitals in hinreichender Weise zu regulieren. So brachte die Globalisierung des Kapitals, die Piketty mit großer Detailgenauigkeit an mehreren Ländern der Welt zeigt, innerhalb einer Gesellschaft Gewinner*innen und Verlierer*innen hervor. Während traditionelle linke Organisationen noch ein Ethos aufrechterhielten, das internationalistisch und klassensolidarisch ist, übernahmen Mitglieder derjenigen Milieus, die von der Globalisierung profitierten, die ideologische Ausrichtung sowie faktische Kontrolle der linken Parteien. Diejenigen hingegen, die in benachteiligten Wirtschaftssektoren tätig waren, entfremdeten sich durch den neuen brahmanischen Elitismus von ihnen und übernahmen für sich eine Politik des Ressentiments, eine an Nietzsche erinnernde Umwertung der ursprünglichen Werte der Arbeiter*innenklasse, wofür die sozialdemokratischen Eliten verantwortlich seien. In dieser Hinsicht sei, so Piketty, das europäische Projekt gescheitert, was er wie folgt pointiert ausdrückt: „Die europäischen Regierungen haben es jedenfalls nicht geschafft, auf die Mischung aus wachsender Ungleichheit einerseits und Abschwächung des Wachstums andererseits zu reagieren, die sich seit den 1980er Jahren bemerkbar macht. Dieses eklatante Versagen erklärt sich hauptsächlich dadurch, dass Europa fast ausschließlich einem Entwicklungsmodell folgte, das auf dem Wettbewerb von Regionen und Personen basierte und von dem die Gruppen profitierten, die besonders mobil waren. Dazu gehört auch, dass die Mitgliedsstaaten nicht in der Lage waren, wenigstens ansatzweise eine gemeinsame Steuer- und Sozialpolitik auf den Weg zu bringen“ (ebd., 689 f.).

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Dieses Problem wiederholte sich, so Piketty, weltweit. „Dass die Sozialdemokratie in der Nachkriegszeit nicht in der Lage war, auf postnationaler Ebene einen Sozial- und Steuerstaat zu errichten, ist keine Besonderheit Europas, sondern auf allen Kontinenten zu beobachten“ (ebd., 695). Nehmen wir einmal an, das Pikettys Diagnose zutreffend ist, so ist es doch erstaunlich, dass auf den über 1200 Seiten seines an internationalen Fallbeispielen reichhaltigen und faszinierenden Buchs Kapital und Ideologie keine Diskussion der Möglichkeiten einer grenzüberschreitenden internationalen und regionalen Organisation von Arbeitnehmer*innen und der effektiven Einflussnahme vonseiten der Zivilgesellschaft andererseits vorkommt, um dem international mobilen Kapital entgegenzutreten. Die Idee von regionalen supranationalen Versammlungen, die sich mit der Zeit zu einer kosmopolitischen sozialistischen Föderation entwickeln, ist eine weitreichendere und inspirierendere Vision als Rawls’ liberaler Sozialismus in einem Land – oder genauer gesagt in vielen einzelnen Ländern –, aber dies bedarf der erfolgreichen Bemühungen innerstaatlicher sozialer Bewegungen einerseits und eines umfassenden Sozialstaats andererseits. Inspirierender als Rawls ist sie deswegen, da die Beispiele transnationaler Krisenübertragung zeigen, dass eine wirklich egalitäre politische Ökonomie sich nicht nur auf bestimmte Regionen beschränken kann. Dafür existieren einfach viel zu viele globale Probleme. Dagegen liegen eine Reihe von Herausforderungen vor, die ein globaler Egalitarismus angehen muss, wozu etwa die Liberalisierung von Einwanderungspolitiken, die neoliberalen Kreditauflagen internationaler Finanzinstitutionen und die Einführung einer internationalen Finanztransaktionssteuer zählen (Moellendorf 2018). Martin Luther King Jr. sagte in seinem 1967 veröffentlichten Where do we go from here: „A genuine program on the part of the wealthy nations to make prosperity a reality for the poor nations will in the final analysis enlarge the prosperity of all“ (King, Jr. 1991, 625). Dies scheint heute noch mehr zu stimmen als in der Zeit, in

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der King diesen Satz verfasste. Solidarität ist von zentraler Bedeutung um eines der wichtigsten Probleme der Welt, in der wir leben, zu lösen: die massive Ungleichheit. Zwei andere sind Nachhaltigkeit und Resilienz. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen António Guterres (2020) erklärte kürzlich, dass sich die Menschheit im Kriegszustand mit der Natur befände. Herausforderungen wie die Eindämmung des menschengemachten Klimawandels und das alarmierende Tempo, mit dem die Biodiversität abnimmt, können nur durch internationale Kooperation gelöst werden – oder sie werden gar nicht gelöst. Eine politische Ökonomie, deren Reichweite sich auf den Staat oder auf Regionen beschränkt, ist deswegen inadäquat, um auf die globale und intergenerationale Natur dieser Probleme zu reagieren. Neue Formen von politischen Aktionen und Institutionen sind vonnöten. Eine dementsprechend angepasste normative politische Ökonomie muss auch Überlegungen in Bezug auf Fragen der Nachhaltigkeit beinhalten. In einem wegweisenden Artikel erläutert Brian Barry (1997, 50) dabei das Konzept der Nachhaltigkeit wie folgt: „[T]here is some X whose value should be maintained, in as far as it lies withing our power to do so, into the indefinite future“. Der Impuls, der dem Gedanken von Nachhaltigkeit zugrunde liegt, ist also konservativ; aber in dem Sinne wie G. A. Cohen (2013, 153) in seinem Versuch zur Rettung des Konservatismus argumentiert: „If an existing thing has intrinsic value, then we have reason to regret its destruction as such, a reason that we would not have if we cared only about the value that thing carries or instantiates“. Nun ist es aber so, dass Cohens Feststellung nicht nur für das Attribut des intrinsischen Werts, sondern auch für einen unersetzlichen instrumentellen Wert gilt. Nehmen wir an, dass der gesamte Wert der Natur lediglich durch ihre Leistungen, die sie für uns erbringt, adäquat bemessen werden könnte. Wenn einige dieser Leistungen unersetzlich sind, so sollten diese sichergestellt werden, auch wenn sie ex hypothesi nur instrumentell wertvoll sind, zum Beispiel das holo-

D. Moellendorf und M. Roseneck

zäne Stabilität erbringende planetare System, indem sich menschliches Wohlergehen erst verwirklichen kann. Konzeptionen der Nachhaltigkeit unterscheiden sich je nachdem, wie sie das X bestimmen, das erhalten werden soll. Es ist dementsprechend eine theoretische Herausforderung, X zu identifizieren, und es scheint so, als könnte die Gefahr eines irreduziblen moralischen Pluralismus diese Bemühungen vereiteln (Moellendorf 2017). Gleichwohl ist der Kriegszustand, von dem Guterres spricht, eine Notsituation. Die Kohlenstoffemissionen müssen zum Beispiel innerhalb weniger Jahrzehnte auf null reduziert werden, um die Erderwärmung auf einem Niveau zu halten, das eine Anpassung ermöglicht und verhindert, dass große Teile des Planeten unbewohnbar werden. In einer solchen Krisensituation sollte eine Festlegung darauf möglich sein, dass X ein stabiles Klimasystem bedeutet. Mit anderen Worten: Die Dringlichkeit schränkt den Bereich vernünftiger Meinungsverschiedenheiten drastisch ein. Es kann also keinen Zweifel daran geben, dass eine normative politische Ökonomie eine Diskussion von globalen und intergenerationalen Institutionen beinhalten muss. Piketty jedoch geht in seiner Darstellung des partizipativen Sozialismus nicht auf den Aspekt der Nachhaltigkeit ein. Rawls (1975, 326) hingegen argumentiert, dass das Differenzprinzip, das den größtmöglichen Nutzen für die am schlechtesten Gestellten gewährleistet, durch ein intergenerationales Prinzip der Gerechtigkeit ergänzt werden muss, welches zum Sparen auffordert: „In jeder Generation sind ihre Aussichten zu maximieren, nachdem die beschlossenen Ersparnisse beiseite gelegt worden sind“. Der allgemeine Charakter solcher Ersparnisse besteht darin, dass „jede Generation […] nicht nur die Errungenschaften der Kultur und Zivilisation und die erreichten gerechten Institutionen bewahren, sondern stets auch eine angemessene Kapitalakkumulation betreiben“ (ebd., 320) muss. Über diese Ausführungen hinaus ist Rawls jedoch nicht besonders auskunftsfreudig, wenn es darum geht zu sagen, was intergenerationale

75  Normative politische Ökonomie …

Gerechtigkeit erfordert (ebd., 323d.). Nichtsdestotrotz zeigt dies uns, dass eine angemessene normative politische Ökonomie konkrete Institutionen zugunsten des Sparens für spätere Generationen und die Frage erörtern sollte, wie eine auf dem Markt basierende Wirtschaft (wie Rawls sie sich vorstellt) Anstrengungen zu sparen gewährleisten kann. Mittlerweile ist klar, sofern dies nicht schon vor der COVID-19-Pandemie der Fall gewesen ist, dass eine normative politische Ökonomie des Weiteren auch der Notwendigkeit Rechnung tragen muss, dass Institutionen resilient gestaltet werden sollten. Es zeigt sich uns nämlich in aller Deutlichkeit, dass unsere politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme anfällig für Krisen sind, die ihre tentativen Gleichgewichte tiefgreifend beeinträchtigen können, seien diese Gleichgewichte nun gerecht oder nicht. In dem Sinne ist auch das SARSCov2-Virus (Corona-Virus) ein dramatischer Stresstest mit verheerenden Folgen: Wir können uns nämlich ohne Probleme vorstellen, dass entweder der R-Faktor oder die Sterblichkeitsrate nur etwas höher gewesen wären. Es bleibt daran anschließend eine offene Frage, ob die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Institutionen dann noch in der Lage gewesen wären, zu bestehen und dabei auch noch ihre Verpflichtung auf liberal-demokratische Werte beizubehalten. Eine Garantie, dass institutionelle Ordnungen, die sich unter relativ stabilen Rahmenbedingungen entwickeln und Gleichgewichte finden, diese auch beibehalten, wenn sie mit selten eintretenden endogenen oder exogenen Krisen konfrontiert sind, besteht nämlich keineswegs. Dabei sieht die ökonometrische Modellbildung die Unterscheidung zwischen endogenen und exogenen Ereignissen als binär codiert an, was daran liegt, dass Modellierer*innen dies einfach als eine Sache von Begriffsdefinitionen betrachten. Während der Schock der Finanzkrise deswegen ein Fallbeispiel für Endogenität ist, wäre ein Meteoriteneinschlag ein Beispiel für Exogenität. Ob nun das Corona-Virus als endogene oder

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exogene Krise anzusehen ist, hängt von den Parametern des Wirtschafts- und Sozialsystems ab und davon, ob sie Krankheitsübertragungen von Tieren auf Menschen einschließen. In jedem Fall können dabei Institutionen auf vielfältige Art und Weise belastet werden, z. B. durch dürrebedingte Ernteausfälle oder durch rasche Erderwärmung infolge der abrupten Freisetzung von Kohlendioxid und Methan in der Arktis. Dementsprechend ist eine normative politische Ökonomie nur dann angemessen, wenn sie Leitlinien für resiliente Institutionen angibt. Der Begriff der Resilienz bezeichnet dabei die Rückkehr eines Systems zu einem relativen Gleichgewicht, nachdem es eine Störung erfahren hat. Als solcher ist der Begriff nicht moralisch konnotiert. Ob Resilienz in einem spezifischen Fall wertvoll ist oder nicht, hängt ganz von der normativen Wertigkeit des Gleichgewichtszustands vor der Störung ab. Im Anschluss an die obige Diskussion um Nachhaltigkeit lässt sich demnach sagen, dass Resilienz wertvoll ist, wenn der Gleichgewichtszustand intrinsisch wertvoll oder instrumentell wertvoll ist. Dabei existieren verschiedene heranziehbare Maßstäbe die Resilienz eines Systems, den Grad der Differenz zum Normalzustand, die Dauer der Differenz sowie das Ausmaß und die Verteilung der sozialen Kosten der Differenz zu berechnen. Die sozialen Kosten, die durch Schocks für soziale, wirtschaftliche und politische Institutionen entstehen, sind eine notwendige Materie der normativen politischen Ökonomie. Resiliente Institutionen erfordern dabei wirksame Rückkopplungsmechanismen, einschließlich politischer Partizipation und funktionierender Märkte; Mechanismen, die bürgerschaftliche Anregung und Reaktion miteinander verbinden und Ressourcen wie Versicherungssysteme und Gelder, um wirksame Reaktionen finanzieren zu können (vgl. Levin et al. 1998, 230). Effektive Rückkopplungsmechanismen, Institutionen, die auf Stimuli antworten können, und unterschiedliche Ressourcen tragen zusammengenommen dazu bei, die Anfälligkeit für Krisenerscheinungen zu reduzieren, wobei Anfälligkeit hier als

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relationale Größe zu verstehen ist: Eine Person (p) ist anfällig (V) für ein schlechtes Ereignis (o) aufgrund verschiedener Faktoren (f1, f2, f3 etc.). Die Anfälligkeit der Person kann dabei dadurch verringert werden, indem die Macht oder der Einfluss eines oder mehrerer Faktoren verringert oder indem die Person in die Lage versetzt wird, sich besser gegen einen oder mehrere dieser Faktoren zu schützen (Moellendorf 2021). So kann zum Beispiel die Anfälligkeit für durch Schocks bedingte Arbeitslosigkeit und daraus resultierende Einkommensverluste dadurch verringert werden, ein universelles Grundeinkommenssystem zu etablieren. Damit unsere Bemühungen, gerechte Institutionen zu schaffen und aufrecht zu erhalten, nicht dem Bau von Sandburgen ähneln, ist ihre Resilienz eine fundamentale Eigenschaft und für Fragen der sozialen und politischen Gerechtigkeit von zentraler Bedeutung. Weder Rawls noch Piketty schenken diesem Aspekt jedoch Beachtung – eine Lücke, die jede zeitgemäße normative politische Ökonomie schließen muss.

Schlussfolgerung Rawls und Piketty liefern zutiefst wichtige Diskussionsbeiträge für eine normative politische Ökonomie, die um die Gewährleistung demokratischer Gleichheit bemüht ist. So liefert etwa ihre Kritik sozialer Ungleichheit, die auch von sozialdemokratischen Parteien toleriert wird, bedeutsame Erkenntnisse für die Entwicklung einer egalitären politischen Ordnung. Jedoch sind auch die Beiträge beider in Hinsicht auf einige der größten Probleme unserer Zeit fundamental unzureichend. Die zunehmende globale Ungleichheit beispielsweise ist ein tiefgreifendes und allgegenwärtiges Hindernis für die wirtschaftliche Integration weiterer Bevölkerungsteile, ebenso ist die Entwicklung ökologisch nachhaltiger Institutionen von zentraler Bedeutung und schlussendlich müssen egalitäre Institutionen auch resilient sein, um die Auswirkungen von diversen Schocks zu verkraften, darunter etwa klimatische Veränderungen,

D. Moellendorf und M. Roseneck

Vulkanausbrücke, Meteoriteneinschläge oder Pandemien. Rawls und Pikettys Darstellungen, so lässt sich zusammenfassend sagen, sind für normative und institutionelle Fragestellungen wichtig, aber eine zeitgemäße normative politische Ökonomie kann heute nicht mehr allein von ihnen lernen, sondern muss an zentralen Stellen auch über sie hinausgehen.

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Normative Theorie internationaler Beziehungen

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Lore-Marie Junghans

Die Grenzen einer disziplinär separierten sozialwissenschaftlichen und philosophischen Forschungslandschaft werden mit Blick auf das Forschungsfeld ‚normative Theorie internationaler Beziehungen‘ besonders deutlich, denn es ist fraglich, welcher (Teil-)Disziplin dieses Gebiet primär zuzuordnen ist: den politikwissenschaftlichen Teildisziplinen der Politischen Theorie oder Internationalen Beziehungen, der Philosophie und Internationalen Ethik, dem Völkerrecht – oder ob sich mit der Internationalen Politischen Theorie nicht bereits eine hierfür verantwortliche (eigenständige) Teildisziplin etabliert hat, für welche im angloamerikanischen Raum seit den 1990er Jahren, in Deutschland seit 2010 geworben wird (Niesen 2010). Die Rawls-Rezeption blieb davon unbeeindruckt; sie fand zunehmend über diese Grenzen hinweg statt. Mehr noch, es war mitunter gerade dem Einfluss von John Rawls geschuldet, wie die entsprechenden Teildisziplinen sich entwickelten und welche Debatten prominent wurden. Beispielsweise gelten Rawls bzw. Charles Beitz’ Auseinandersetzung mit Rawls als Auslöser für die Konsolidierung der Internationalen Politischen Theorie oder für die Rückkehr der normativen Theorie in die Internationalen Be-

L.-M. Junghans (*)  Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

ziehungen (Niesen 2010; Griffith/Roach/Solomon 2009). Rawls’ Einfluss auf die Debatten der normativen Theorie internationaler Beziehungen soll hier einführend dargestellt und die groben Linien einiger wichtiger Diskurse diachron nachgezeichnet werden, um so einen Überblick über ein Feld anzubieten, welches seit 50  Jahren von verschiedenen Seiten, mal mehr, mal weniger euphorisch, aber stets gewissenhaft bearbeitet wird.

Auftakt: Globalizing and „Realizing“ Rawls Schon mit Erscheinen von Eine Theorie der Gerechtigkeit waren einige der Hauptlinien von Rawls’ internationalem Denken vorgezeichnet, welchen er – entgegen der Hoffnungen seiner Kritiker*innen – treu bleiben würde. Dort im Kontext von Fragen politischer Pflichten, Krieg und zivilem Ungehorsam diskutiert, sollten internationale Gerechtigkeitsprinzipien ebenfalls Ergebnis einer Urzustandssituation sein, in welcher nun aber Vertreter*innen von Staaten, nicht Individuen teilnähmen (Rawls 2017, 415 f.). Die früheste und wirkmächtigste Rezeptionslinie untersucht, wie die Urzustandsfigur global eingesetzt werden könnte. Die wenigen Andeutungen hierzu in Theorie der Gerechtigkeit schienen vage und ad hoc und waren damit Anlass genug für Theoretiker wie Brian Barry,

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_76

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Charles Beitz, Joseph Carens und Thomas Pogge, eigene Gegenvorschläge auszuarbeiten. Hauptanliegen war, dass ohne die globale Anwendung der in Theorie der Gerechtigkeit entwickelten Gerechtigkeitsprinzipien (s. Kap. 3) schwerwiegende Ungleichheit legitimiert würde. Ihre Herangehensweise wird auch als ‚argument by extension‘ (Tan 2018, 46) geführt, da sie die für den nationalen Kontext entwickelten Grundsätze – in der einen oder anderen Form – auf die globale Ebene ausdehnen. Der von Rawls etablierte politische Konstruktivismus als Methode für die Generierung und Rechtfertigung politiktheoretischer Prinzipien fand so bereits früh Eingang in die internationale politische Theorie und Philosophie. Brian Barrys Erwiderung auf Theorie der Gerechtigkeit 1973 markiert den Anfang dieser Denkrichtung (1973). Er argumentiert, dass Rawls nicht rechtfertigt und auch nicht plausibel rechtfertigen kann, dass die Teilnehmenden als Mitglieder einer schon bestehenden Gesellschaft in den Urzustand treten (Barry 1973, 133). Dazu komme, dass selbst jene Vertreter*innen bestimmter Gesellschaften sich nicht für die von Rawls vorgestellten Prinzipien entscheiden würden. Vielmehr würden sie sich für eine Welt aussprechen, in der die (ökonomischen) Ungleichheiten zwischen Staaten deutlich verringert wären (ebd.) – sprich, für ein globales Verteilungsgerechtigkeitsprinzip. Ein solcher nicht auf Staatszugehörigkeit zugeschnittener Urzustand könne eine der Grundideen von Gerechtigkeit besser einfangen als der von Rawls konzipierte: nämlich, dass kontingente ungleiche Ausgangsbedingungen auszugleichen sind, zu welchen in unserer Welt in besonderem Maße der Geburtsort gehört. Die moralische Willkürlichkeit der Kategorie ‚Geburtsort‘ steht auch bei Ansätzen im Vordergrund, die einen globalen Urzustand mit Blick auf migrationsethische und staatsbürgerschaftliche Fragen zu rechtfertigen suchen. Hierzu hat Joseph Carens früh einen Vorschlag gemacht (Carens 2019, engl. 1987). Charles Beitz hat 1979 vertieft, was Barry bereits eingewandt hatte: Auch er plädiert für einen globalen Urzustand und verweist auf die

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daraus sich ergebenden weitreichenden Konsequenzen für globale Verteilungsgerechtigkeit (Beitz 1979). Insbesondere mit Blick auf die vorherrschenden Annahmen der Internationalen Beziehungen kritisiert er die ‚morality of states‘Konzeption, welche Staaten, nicht Individuen, als moralisch primär betrachte. Damit einher geht auch eine Kritik an Analogien zwischen Staaten und Personen im Allgemeinen, welche in der Geschichte des politischen Denkens Tradition hat (ebd., 122). Beitz argumentiert stattdessen für den konsequenten moralischen Vorrang von Individuen, angesichts von welchem nicht ersichtlich sei, weshalb der Urzustand und damit Rawls’ zweites Gerechtigkeitsprinzip nicht auch zwischen allen Individuen als Weltbürger*innen (nicht: Staatsbürger*innen) gelten solle. Das Prinzip staatlicher Souveränität wird zugunsten eines radikalen Individualismus aufgeweicht, so die kosmopolitische Pointe seiner Konzeption. Wirkmächtig wurde dieser Gedankengang etwas später auch von dem ehemaligen RawlsStudenten Thomas Pogge aufgegriffen (Pogge 1989). Mit seinem zunehmenden Fokus auf die Rolle von Institutionenordnungen setzte er bald neue Akzente in der Debatte und gehört zu denjenigen kosmopolitischen Theoretiker*innen, die einen ‚institutional turn‘ vollzogen haben – sprich, die die institutionellen Bedingungen und politischen Faktoren globaler Gerechtigkeit, insofern auch die historisch-politischen Gründe für Ungleichheit und Armut, stärker in den Vordergrund stellen. „Realizing Rawls“ (ebd.), wie der Titel einer frühen Publikation heißt, fasst einen Grundgedanken der hier vorgestellten kritischen Erweiterung der Konzeption des Urzustands treffend zusammen: dass nämlich Rawls sich der internationalen Implikationen seines eigenen Ansatzes nicht bewusst sei, diese aber nun ausbuchstabiert würden. Darauf spielt auch Chris Brown an, wenn er von Post-Rawlsianern spricht, die „more Rawlsian than Rawls“ seien (Brown 2018, 54). Eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen Rawls’ konsequentem Individualismus auf nationaler Ebene und seinem konservativen

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internationalen Ansatz steht für diese Rezeptionslinie im Vordergrund. Dem wird ein Plädoyer für einen radikaleren Individualismus und Universalismus entgegengesetzt. Dieser Diskurs war sodann einer der Ausgangspunkte für die Konsolidierung der sehr wirkmächtigen moralisch-kosmopolitischen Strömung in der politischen Theorie, innerhalb welcher – in Auseinandersetzung mit oder Abgrenzung zu Rawls – weitere Ansätze zu Themen wie globaler Gerechtigkeit, Menschenrechten, Weltarmut oder Migration formuliert wurden. Diejenigen moralisch-kosmopolitischen Ansätze globaler Gerechtigkeit, die weniger direkt von Rawls inspiriert waren, lassen sich z. B. dem Utilitarismus oder anthropologisch-aristotelischem Denken zuordnen, gegen welche Rawls ja gerade angeschrieben hatte. Doch auch diese konnten einigen Einschätzungen zufolge dem rawlsschen Paradigma nicht gänzlich entkommen (Forrester 2019a).

Rückschritt „Recht der Völker“? Neue Fahrt nahm die Debatte um Rawls’ internationales politisches Denken mit der Veröffentlichung seiner Arbeit zur internationalen Dimension seiner politischen Theorie, Das Recht der Völker (Rawls 2002, engl. 1999; s. Kap. 6), auf. Es besteht Einigkeit darüber, dass diejenigen Autor*innen, die Rawls früh mit Blick auf internationale Fragen rezipiert hatten, von diesem Buch enttäuscht waren. Denn was in den zwanzig Jahren zuvor einigem interpretatorischem Spielraum zur Verfügung stand, war nun unmissverständlich etabliert: John Rawls erteilte den Hoffnungen seiner kosmopolitisch-kontraktualistischen Kritiker*innen eine Absage. Und auch diejenigen, die sich seit den 1990er Jahren zunehmend um Ansätze globaler Demokratie oder Weltstaatlichkeit bemüht hatten, konnten in Recht der Völker, angesichts der dort beibehaltenen Treue zu einem im wörtlichen Sinn internationalen Staatensystem, nur einen Rückfall in überwunden geglaubte Grundlagen sehen.

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Rawls möchte mit diesem Buch jedoch in erster Linie sein Projekt einer ‚Gerechtigkeit als Fairness‘ und eines ‚Politischen Liberalismus‘ finalisieren (s. Kap. 5 u. 43); ohne den Blick auf die internationalen Beziehungen bleibe die Frage der Stabilität liberaler Demokratien offen. Er versucht, die Möglichkeit und Bedingungen einer ‚Realistischen Utopie‘ einer internationalen Rechts- und Friedensordnung autonomer Staaten zu skizzieren, welche uns das zwar praktisch Mögliche, aber nicht Verwirklichte und vielleicht auch nicht für möglich Gehaltene aufzeigen soll (Rawls 2002, 4, 13; s. Kap. 52). Anders als seine frühen kosmopolitischen Kritiker*innen, hält Rawls selbst eine Gesellschaft liberaler und achtbarer Völker für anspruchsvoll genug, wobei er von Völkern spricht, um sie vom herkömmlichen völkerrechtlichen Staatsbegriff abzugrenzen (ebd., 28). Dieser führe nämlich bestimmte Implikationen hinsichtlich politischer Souveränität mit sich, die in seiner Idealtheorie nicht als bereits gegeben verstanden werden sollen. Es geht Rawls in Recht der Völker also zunächst nicht um allgemeine globale Gerechtigkeitsprinzipien, sondern erst einmal um Gerechtigkeitsprinzipien zwischen Staaten, sprich Völkerrechtsprinzipien (ebd., 8). Die Frage danach, wie sich liberale Demokratien gegenüber anderen Arten von Staaten zu verhalten haben, führt Rawls dazu, eine fünffältige Typologie verschiedener Arten von Staaten zu entwerfen, anhand welcher er die jeweiligen Grundsätze entwickeln kann (s. Kap. 6). Zur kontraktualistischen Generierung der Völkerrechtsprinzipien konzipiert Rawls den internationalen Gesellschaftsvertrag, wie bereits in Theorie der Gerechtigkeit vorgezeichnet, als Abkommen zwischen Vertreter*innen liberaler Völker, die unter dem Schleier des Nichtwissens die Voraussetzungen Letzterer nicht kennen – etwa die Größe des Territoriums oder der Bevölkerung sowie deren relative Stärke (2002, 36). So ist ein internationales Prinzip distributiver Gerechtigkeit, dem zweiten Gerechtigkeitsprinzip auf nationaler Ebene analog, zur großen Enttäuschung vieler

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Rezipient*innen nicht vorgesehen. Stattdessen rechtfertigt dieser zweite Urzustand die üblichen völkerrechtlichen und diplomatischen Grundsätze sowie die Pflicht zur Achtung der Menschenrechte und zur Unterstützung sog. belasteter Gesellschaften, die aufgrund ungünstiger historischer Umstände nicht Teil der Gemeinschaft wohlgeordneter Völker sein können (ebd., 40, 114). Auch die Kriegsächtung steht im Vordergrund. Bemerkenswert an diesem Entwurf ist, dass Rawls nach diesem ersten Schritt der Prinzipienrechtfertigung noch einen weiteren Nachweis für nötig hält, nämlich, dass sich auch gewisse nicht-liberale – achtbar hierarchische – Gesellschaften in einem zweiten Schritt für die gleichen Völkerrechtsprinzipien aussprechen würden. Damit ergibt sich ein doppeltes, sequentielles Urzustandsszenario für die internationale Ebene. Die Integration der achtbaren Völker in das Argument hat für Rawls einige Relevanz, weil er darauf Wert legt, dass umfassende Lehren auch im internationalen Kontext nicht allein ausschlaggebend sein dürfen. Dies zeigt sich noch einmal daran, dass Rawls das Beispiel eines fiktiven muslimischen Staats namens „Kazanistan“ entwirft, der die Menschrechte achtet, eine Konsultationshierarchie besitzt und nichtexpansiv ist, um die Möglichkeit eines solchen achtbar hierarchischen Staates zu veranschaulichen (ebd., 3, 92; dazu noch unten). An all diesen Punkten hat sich die Rezeption abgearbeitet, wobei die bereits vorgestellten frühen Kritiken zunächst bestehen blieben und von den entsprechenden Autor*innen erneuert wurden. Der Titel von Allen Buchanans Reaktion auf die Publikation verweist auf die vorherrschende Ansicht, dass Rawls’ Vorschläge nicht weit genug gehen würden, geradezu banal und zudem irrelevant seien, weil sie Prinzipien für eine „vanished Westphalian world“ darstellten (Buchanan 2000). Rawls’ Ansatz wird dem Kosmopolitismus in diesem Sinne mitunter als ‚statism‘ oder Internationalismus gegenübergestellt, weil er Staaten bzw. dem internationalen Staatensystem, nicht Individuen, bei Fragen globaler Gerechtigkeit eine vordergründige Rolle zuspricht.

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Globale Gerechtigkeit Ein wichtiger Themenkomplex, an welchem sich die Debatten um Rawls’ internationales politisches Denken lange entzündeten, betrifft sein Verständnis der Anwendungsbedingungen von Verteilungsgerechtigkeit. Denn diese sieht er im internationalen System nicht erfüllt – ein Hauptgrund dafür, dass er den Urzustand nicht stärker ‚globalisiert‘ hatte. Die von dieser Problematik ausgehenden Debatten werden zusammengenommen oft als eine feinverästelte global-justice-Debatte gehandelt, welche nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet ist, dass die lange Tradition innerhalb des westlichen politischen Denkens, (Verteilungs-)Gerechtigkeit auf eine geschlossene politische Gemeinschaft zu beziehen, infrage gestellt wird. Die Auseinandersetzung mit Rawls’ Theorie ist in diesem Sinne nicht der alleinige Fokus, sondern sie dient vor allem als Spielfeld, auf welchem um eine Neuausrichtung politischer Theorie gerungen werden kann. Ein erster Aufhänger der Kritik ist die soeben genannte Skepsis gegenüber der rawlsschen Annahme, dass mehrere autarke, geschlossene Staaten ohne Interdependenz und Kooperation nebeneinander existieren – in Rawls’ Worten: dass die Gesellschaft der vertretenen Völker kein „Unternehmen zur Förderung des gegenseitigen Vorteils“ (2017, 20) bildet und damit über keine gemeinsamen zu verteilenden Güter verfügt. Dieser Annahme wird entgegengesetzt, dass das internationale Staatensystem durchaus Züge einer ‚Gemeinschaft‘ aufweise, Gerechtigkeitsprinzipien hier also durchaus eine Anwendungsgrundlage hätten (Pogge 1989; Beitz 1979). Ganz explizit mit Bezug auf Rawls’ Terminologie sprechen einige Kritiker*innen von einer globalen Grundstruktur, angesichts derer globale Umverteilungsmaßnahmen geboten seien. Ähnlich verweist schon Beitz, wie erwähnt, auf die Tatsache einer fortgeschrittenen globalen Vernetzung, um eine solche Anwendungsgrundlage zu plausibilisieren. Diese Kritik ist nicht unerwidert geblieben. Verfechter von Rawls’ Ansatz argumentierten

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z. B. genau gegenteilig, dass auf globaler Ebene in der Tat keine ausreichenden Kooperationsbeziehungen zum gegenseitigen Vorteil bestünden (Freeman 2006; Reidy 2004). Auch die Praktikabilitätseinwände gegenüber kosmopolitischen Gegenvorschlägen verschaffen dem rawlsschen Ansatz wiederum Plausibilität, wenn etwa auf den Mangel an institutioneller Struktur auf globaler Ebene verwiesen wird: Ohne beispielsweise ein globales Besteuerungssystem seien die geforderten Umverteilungsmaßnahmen schließlich überhaupt nicht praktikabel (Thompson 1992, 15). Gewichtiger ist aber, dass die auf das (Nicht-) Vorhandensein einer ausreichend engen Kooperationsstruktur fokussierte Argumentationsstrategie für globale Gerechtigkeitsprinzipien ohnehin Probleme mit sich bringt. Brown betont z. B., dass allein der Grad an Vernetzung keine angemessene Anwendungsbedingung für Gerechtigkeit sein könne. Beitz’ auf globaler Vernetzung basierendes Argument könne dann schließlich bedeuten, dass Verteilungsgerechtigkeitsprinzipien besonders dort Anwendung zu finden hätten, wo sie am wenigsten dringlich scheinen, sprich, in so integrierten Gebieten wie Westeuropa (Brown 1992, 176). Andere Autor*innen kritisieren auf grundlegender Ebene, dass diese Art der Argumentation für ein (globales) Verteilungsgerechtigkeitsprinzip mit Blick auf Verdienst wenig tragfähig sei. Sie bestreiten, dass die Prämisse, ein ‚Unternehmen zur Förderung des gegenseitigen Vorteils‘ sei Grundlage für Gerechtigkeitsprinzipien, angemessen ist, weil nicht alle Menschen (z. B. aufgrund körperlicher oder geistiger Behinderung) auf gleiche Weise zur Gesellschaft beitragen könnten (Brown 2002, 10) – ein Punkt, der im Grunde nicht nur Rawls’ internationale politische Theorie, sondern sein Gesellschaftsverständnis im Allgemeinen betrifft. Zwei weitere Aspekte der global-justice-Literatur sind erwähnenswert. Erstens besteht neben Fragen der Anwendungsbedingungen von Verteilungsgerechtigkeit implizit Uneinigkeit über die Effektivität bestimmter Maßnahmen. Denn was Rawls von seinen kosmopoliti-

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schen Kritiker*innen auch unterscheidet, ist die Annahme, dass reine Umverteilungsmaßnahmen von Reichtum sog. belasteten Gesellschaften kaum nachhaltig helfen würden. So geht Rawls – anders als Letztere – davon aus, dass es primär auf die politisch-gesellschaftlichen Institutionen und die politische Kultur ankomme, ob eine Gesellschaft zu einer wohlgeordneten werden bzw. eine solche bleiben könne (Rawls 2002, 145). Diese Annahme ist selbstredend nicht kritiklos stehen geblieben; sie fällt bei der Frage nach den Hilfspflichten liberaler Demokratien (dazu weiter unten) noch einmal ins Gewicht. An dieser Stelle ist aber wichtiger, dass ausgehend von solchen Differenzen zunehmend diskutiert wurde, welche Rolle Effektivitätsannahmen allgemein bei der Formulierung globaler Gerechtigkeitsprinzipien spielen sollten. So setzt an Umsetzungsproblemen zweitens eine sehr grundsätzliche Kritik an der global-justiceLiteratur als einer bestimmten Richtung normativer politischer Theorie an: Von moralischen Bedenken könne nicht notwendig ein politisches Prinzip deduziert werden. Terry Nardin formuliert diese Kritik in Anspielung auf Peter Singers berühmtes Gedankenexperiment: „[r]escuing a community from poverty is not the same as pulling a child from a pond“ (2013, 293). Dass dabei Rawls mitunter als Ahnherr dieser Richtung dargestellt, nicht aber berücksichtigt wird, dass der Vorwurf auf Rawls selbst gar nicht unbedingt zutrifft, muss wohl diskursiven Verwässerungen vorgeworfen werden.

Liberale und nicht-liberale Gesellschaften Eine weitere wichtige Rezeptionslinie thematisiert die für Rawls im Vordergrund stehende Frage nach dem Verhältnis von liberalen und nicht-liberalen Staaten und den Grenzen der Toleranz. Die hierzu geführten Debatten waren nicht ohne Brisanz, weil tagesaktuelle geopolitische Konflikte, etwa der US-amerikanische War on Terror, in ihnen mitverhandelt wurden. Im Vordergrund der Auseinandersetzungen standen Rawls’

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Typologie verschiedener Arten von Staaten, sein Verständnis von Menschenrechten und deren Funktion sowie Fragen rund um Intervention und Hilfspflichten, die in den Bereich der nicht-idealen Theorie (s. Kap. 37) gehören. Die Achtung der Menschenrechte nimmt für die rawlssche Staatentypologie eine besondere Rolle ein, da sie notwendige Bedingung für die Zugehörigkeit zur Gesellschaft achtbarer Völker ist (Rawls 2002, 97). Hier hat der Gedanke einer politischen Konzeption der Menschenrechte seinen Ursprung, bei welchem Menschenrechte maßgeblich über ihre Funktion verstanden werden: Sie bilden das Kriterium, mit welchem die Zulässigkeit von souveränitätseinschränkenden Maßnahmen wie Sanktionen oder Interventionen bestimmt werden kann. Beispielsweise von Raz (2010) wurde dieser Gedanke aufgegriffen und ausgearbeitet. Zu beachten ist allerdings, dass Rawls nicht alle der auf der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der UNO und den zwei ergänzenden Pakten gelisteten Rechte als Menschenrechte führt. Wenig überraschend ist dieser als zu gering befundene Umfang an sich bereits einer der einschlägigen Kritikpunkte (Nickel 2007), wobei Uneinigkeit darüber besteht, ob Rawls’ Liste als erschöpfend gemeint angesehen werden sollte. Besonders umstritten ist diese Liste aber mit Blick auf die Grenzen eines vernünftigen Pluralismus. Sie steht in der Kritik, weil mit ihr schon in dieser knappen Form zu viele Staaten als wohlgeordnet gelten und damit in die Gemeinschaft der sich gegenseitig tolerierenden Völker aufgenommen würden. Bei diesem Streitpunkt geht es nicht mehr allein um den Umfang des Menschenrechtskatalogs, sondern um die Frage, ob nicht-liberale Staaten – wie von Rawls gefordert – als Teil der Völkergemeinschaft anerkannt werden sollten bzw. ab wann die Integrität liberaler Prinzipien bedroht wäre. Dass Letzteres mit Rawls’ Vorschlag der Fall sei, ist eine prominente Auffassung im kosmopolitischen Lager: Rawls’ Subsumtion von nicht-liberalen achtbaren hierarchischen Gesellschaften unter die Kategorie wohlgeordneter Gesellschaften widerspreche liberalen Grundsätzen. Allerdings wird von dieser Kritik über-

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gangen, dass darin gerade der liberale Grundsatz der Toleranz sowie Rawls’ Unterscheidung zwischen politischem Liberalismus und Liberalismus als einer umfassenden Lehre realisiert sind (s. Kap. 58). Insofern findet sich für die bescheidenere rawlsianische Position einer konsequenten Hochhaltung des Toleranz- bzw. Pluralismusgedankens durchaus vermehrt und aus verschiedenen Richtungen Lob (dazu sogleich). Ein anderer, aber verwandter Themenkomplex ist der Frage gewidmet, wie vonseiten wohlgeordneter Gesellschaften mit nichtwohlgeordneten Völkern umgegangen werden sollte – auch dies explizit ein Thema nicht-idealer Theorie. Insbesondere der Umgang mit sog. Schurkenstaaten und belasteten Gesellschaften steht zur Debatte. Was den Umgang mit belasteten Gesellschaften betrifft, wird besonderes Augenmerk auf Rawls’ Überlegungen zu liberalen Hilfspflichten gelegt. Dass belasteten Gesellschaften gegenüber eine Hilfspflicht besteht, ist weiter oben bereits angesprochen worden. Wie dort erwähnt, hängen seine Ausführungen zu einer solchen Hilfspflicht maßgeblich von der Prämisse ab, dass internationale Umverteilungsmaßnahmen wenig zielführend wären, weil institutionelle Faktoren ausschlaggebender seien. Insbesondere zwei der davon abgeleiteten Schlussfolgerungen sind auf Unbehagen gestoßen. Zum einen geht es um die Überlegung, dass liberale Demokratien sog. belastete Gesellschaften lediglich so weit zu unterstützen hätten, bis ein zuvor definiertes Existenzminimum erreicht ist (Rawls 2002, 132 f.) und dass eine solche Hilfe nicht notwendiger Weise die Form ökonomischer Umverteilung annehmen müsse. Der Hintergrund ist hierbei, dass Armut für Rawls nicht das Hauptproblem darstellt und der Aufbau von effektiven demokratischen Institutionen ihm zufolge komplexere Maßnahmen wie Programme zur Geburtenkontrolle oder Frauengleichstellung erforderlich mache. Diejenigen, die sich für globale Verteilungsgerechtigkeitsprinzipien einsetzen, können für diesen Grundsatz wenig Begeisterung aufbringen. Zum anderen geht es um Rawls’ Forderung, dass den dann nicht mehr belasteten Gesellschaften zugestanden werden müsse, selbständig

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über ihre Belange zu verfügen, sobald ein solches Existenzminimum erreicht ist – ebenfalls eine Implikation des Prinzips eines vernünftigen Pluralismus. Aufhänger des Unbehagens ist hier, dass solche Hilfsmaßnahmen dann aber nicht an Demokratisierung als Voraussetzung gekoppelt werden könnten (Williams 2014, 337), so wie es von zahlreichen Entwicklungsförderungsprogrammen bekannt ist. Alles, was eine liberale Demokratie in diesem Kontext beeinflussen dürfe, ist laut Rawls die Unterstützung bei der Schaffung der Voraussetzung, ohne die ein Eintritt in die Gesellschaft achtbarer Völker nicht möglich wäre. Dieser Grundsatz ist wiederum bei denjenigen Autor*innen auf Ablehnung gestoßen, die sich um die Integrität liberaler Prinzipien sorgen. In der Auseinandersetzung mit Rawls’ Überlegungen zum Umgang mit sog. Schurkenstaaten schwang die eingangs erwähnte parallele Aushandlung aktueller geopolitischer Konflikte besonders deutlich mit, wie zahlreiche Verweise z. B. auf die R2P-Doktrin der UNO zeigen. Die Legitimität bzw. Gebotenheit von souveränitätseinschränkenden Interventionen ist Kristallisationspunkt der Debatten. Für Rawls steht bei dieser Frage zweierlei im Vordergrund: Zum einen die Missachtung der Menschenrechte, zum anderen staatliche Aggression. Besonders relevant scheint für ihn die generelle Missachtung des Rechts der Völker zu sein, gegen welche sich die Gesellschaft achtbarer Völker im Sinne der Selbstverteidigung zu Wehr setzen kann (Rawls 2002, 6, 117– 119). Beispielsweise durch Ächtung oder Sanktionen dürften sich liberale und achtbare Völker hier in die Belange der sog. Schurkenstaaten einmischen – im Extremfall auch durch Intervention. Die Gegensätzlichkeit der Einschätzungen seitens der Rezipient*innen ist in diesem Kontext besonders auffällig. Dass Rawls hinsichtlich der Bedingungen für eine Intervention vage bleibt (Brown 2002, 14), kann höchstens Teil der Erklärung sein. Denn gleichzeitig treten hier die diskursiven Verwässerungen, von denen oben die Rede war, besonders stark zu Tage: So gilt Rawls entweder als einer derjenigen, die ein

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Interventionsrecht seitens liberaler Demokratien hochhielten und damit auch der umstrittenen R2P-Doktrin der UNO Legitimation verschafften, oder aber als jemand, der Menschenrechtsverletzungen gegenüber zu viel Toleranz gewähre. Im Sinne der ersteren Version steht sodann auch der Vorwurf im Raum, dass Recht der Völker der Legitimierung imperialer US-Außenpolitik zuarbeite (Paris 2002). Insbesondere solche Vorwürfe der Legitimierung imperialer Politik werden oftmals jedoch eher polemisch und losgelöst von Rawls’ Gesamtentwurf vorgebracht. Letztere Version wird vor allem vonseiten kosmopolitischer Kritiker*innen vertreten, die, wie auch beim Thema globaler Verteilungsgerechtigkeit, einen strikten moralischen Individualismus und den Vorrang universaler Werte vor der Souveränitätsnorm hochhalten.

Kontrapunkt: Positivere Einschätzungen Rezipient*innen aus den Internationalen Beziehungen wie auch Rawlsianer hatten früh hochgehalten, dass die kosmopolitische Kritik an der Inkonsistenz von Rawls’ nationalem und internationalem Denken keine notwendige Interpretation darstellt – seine Konzeption zur internationalen Ordnung vielmehr als konsequent und prinzipientreu verstanden werden könne (Williams 2011). So hatte etwa Chris Brown gleich nach Erscheinen von Recht der Völker betont, dass der weniger kosmopolitische Ansatz von Rawls kompatibler ist mit den disziplinären Internationalen Beziehungen (Brown 2002). Und auch der rawlssche politische Realismus, welcher sich in der Idee einer realistischen Utopie ausdrückt, sei für die empirischen Theorien der Internationalen Beziehungen besonders anschlussfähig (Hahn 2019). Offenbar war darüber hinaus der Zeitgeist einer positiveren Rezeption zuträglich. Denn dass der liberal-kosmopolitische Optimismus mit zunehmender Entfernung zur Jahrtausendwende einem wesentlich nüchterneren Blick gewichen ist – welcher zuvor zwar auch vorgebracht worden, aber eher in den Hintergrund gerückt war –, hat auch die Rawls-Rezeption

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und die dadurch formierten Debatten geprägt. Rawls’ Staatentypologie wird in diesem Sinne als vorbildlich betrachtet, weil damit solch fragwürdige Dichotomien wie „the West and the rest“ (Brown 2002, 17) oder Demokratien und Nicht-Demokratien überwunden würden, aber gleichzeitig eine Alternative zu einem schlecht operationalisierbaren Relativismus zur Verfügung stünde. In ähnlicher Weise werden Rawls’ Ausführungen zu liberalen Hilfspflichten dafür gelobt, dass sie einem ‚one-size-fits-all‘Modell etwas entgegensetzten (Williams 2014, 335); fragwürdige „democracy-promotion“Programme könnten mit Rawls jedenfalls nicht ohne Weiteres legitimiert werden (Brown 2002, 17). Die Einsicht, dass die vor einigen Jahren noch lautstark vertretene Überzeugung, es könne nur ein gangbares Modell des Zusammenlebens geben, zu einem fragwürdigen Demokratie-Triumphalismus führen kann, hat der Idee eines vernünftigen Pluralismus auch auf internationaler Ebene neue Attraktivität verliehen. Diese positivere Rezeption spiegelt sich auch in der nunmehr gefestigten Position von Recht der Völker innerhalb von Rawls’ Gesamtwerk wider. Diese lässt sich schon daran ablesen, dass der Schrift, anders als im 2003 erschienenen Cambridge Companion to Rawls, im 2014 erschienen A Companion to Rawls tatsächlich einige Kapitel gewidmet wurden (Freeman 2003; Mandle/Reidy 2014). Das explizite Werben für die Aufnahme von Recht der Völker in die Reihe der rawlsschen Hauptwerke (Williams 2011, 2014) wird dazu weniger beigetragen haben als die hier nachgezeichneten lebhaften Debatten um Rawls’ internationales Denken.

Neuere Entwicklungen: Zur Denaturalisierung des RawlsParadigmas Mit zunehmendem Abstand zur Veröffentlichung von Rawls’ Werken sind, den positiveren Einschätzungen zum Trotz, vermehrt grundsätzliche kritische Auseinandersetzungen nicht nur mit Rawls’ Denken, sondern vor allem mit dem sog. Rawls-Paradigma veröffentlicht

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worden, die auch Rawls’ internationales Denken betreffen. Dabei gibt es einige Schnittmengen mit postkolonialen und rassismuskritischen Perspektiven. Besonders hervorzuheben sind die oftmals methodologisch ansetzenden Beiträge zu den Grenzen des rawlsschen Paradigmas, vor allem mit Blick auf Macht- und Abhängigkeitsbeziehungen. Die historische Wende in der Rawls Forschung, mit der die Historisierung von Rawls’ Denken forciert wird, geht in eine ähnliche Richtung. Ihnen ist der Versuch gemeinsam, das Rawls-Paradigma ein Stückweit zu denaturalisieren und nicht -eingeschlagene Wege aufzuzeigen. Insbesondere die methodischen Ausklammerungen bei Rawls sind vermehrt zum Gegenstand der Kritik geworden. Dass er die historischen Gründe für die Struktur des internationalen Systems vernachlässigt, ist ein prominenter Einwand. Auch werden in diesem Sinne einzelne Annahmen wie die, dass sozioökonomische Ungleichheiten primär das Produkt von politischer Kultur und unklugen Regierungsentscheidungen seien, als falsch zurückgewiesen, weil damit ausgeblendet werde, dass historisch gewachsene globale Herrschaftsstrukturen die innerstaatlichen Bedingungen maßgeblich prägten. Im Vordergrund dieser Kritiken stehen die theorieinternen Konsequenzen, die solche Ausblendungen haben. Brown z. B. weist mit Blick auf die rawlssche Staatentypologie darauf hin, dass die Art von Staaten, die oftmals als Schurkenstaaten (rogue states) gehandelt werden, eigentlich unter die Kategorie der belasteten Gesellschaften zu fallen hätte (Brown 2002, 15). Führt man sich vor Augen, dass es oftmals die Folgen kolonialer und imperialer Abhängigkeiten sind, die Staaten in ökonomischem und politischem Chaos halten, hat dieser Gedanke einiges für sich. Gleichzeitig ist aber zu bedenken, dass eine solche Einschätzung stets mit der Tatsache konfrontiert ist, dass „Rawls here is walking a line between ideal and non-ideal theory“ (ebd.). Diese oftmals für Verunsicherung sorgende Unterscheidung von idealer und nicht-idealer Theorie und die Frage nach der Tragfähigkeit der idealtheoretischen Methode ist in der

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jüngeren Rawls-Forschung vermehrt in den Vordergrund gerückt. Für den Bereich der normativen Theorie internationaler Beziehungen haben diese methodologischen Debatten insbesondere deshalb Relevanz, weil die Auseinandersetzungen um den richtigen Modus (internationaler) politischer Theorie substantielle Probleme internationaler Politik betreffen. Klassisch hat dies Charles W. Mills thematisiert. In seinem Aufsatz mit dem programmatischen Titel „Ideal Theory as Ideology“ (2005) geht es um eben solche Konsequenzen von Rawls’ methodischem Ansatz für seine Theorie. Dabei zielt er insbesondere auf die konsequente Ausklammerung von Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus, die Rawls schließlich über den Fokus auf Idealtheorie methodisch rechtfertigt. Das Ergebnis sei eine partikulare, eurozentrische Perspektive (Mills 2005, 179–181). Mills’ Argument lautet, dass Rawls angesichts der idealtheoretischen Methode das Problem globaler Ungleichheit und Armut gar nicht befriedigend adressieren könne, weil er so die relevantesten Punkte ausklammere. Idealtheorie würde im Ergebnis zu Ideologie, weil sie die partikularen Vorstellungen einiger weniger privilegierter Gruppen festschreibe und befördere (ebd., 166). Der grundsätzliche Punkt ist, dass derartige Ausblendungen eine Analyse der Strukturen, die Ungleichheit und Ungerechtigkeit erst hervorbringen, im Weg stünden. Ähnliche Einwände wurden seitens der Strömung des sog. ‚Politischen Realismus‘ vorgebracht und der normativen politischen Theorie Abstraktheit und Irrelevanz vorgeworfen (Geuss 2008). Dabei beziehen sich derartige Kritiken erwähntermaßen zumeist nicht nur auf Rawls’ Theorie, sondern auf sämtliche vermeintlich in seiner Tradition stehenden Ansätze. In der Dominanz dieses Paradigmas wird mitunter auch der Grund für bestimmte ungern gesehene Entwicklungen der einschlägigen Disziplinen gesehen. Die in Teilen bereits von kosmopolitischer Seite geäußerte Kritik am rawlsschen Internationalismus ist z. B. vermehrt als Kritik am methodologischen Nationalismus formuliert worden. Vonseiten der kritischen Internationalen Beziehungen wird in diese Richtung

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moniert, dass die rawlsianische Art des Nachdenkens über internationale Gerechtigkeit den mittlerweile kritisierten Staatsfokus der Disziplin nur bestärkt habe (Sutch 2018, 38). Ähnlich bezieht sich James Tully in den Internationalen Beziehungen auf Rawls, um eine bestimmte Richtung der imperialen Vergessenheit politischen Denkens zu veranschaulichen (Tully 2008, 138, 152). Hier zeigt sich die inhaltliche Nähe zu postkolonial und rassismuskritisch informierten Ansätzen, denen es vordergründig um die Identifizierung sowie Überwindung solcher Ungleichheits- und Machtbeziehungen geht (s. Kap. 85). Was bereits anklang, steht hier im Vordergrund, nämlich die Auffassung, dass die dominanten Paradigmen blind seien für die kolonialen Kontinuitäten und rassistischen Strukturen, die moderne komplexe Gesellschaften und das internationale Staatensystem charakterisierten. Insbesondere wird erneut Kritik am Verteilungsparadigma globaler Gerechtigkeit formuliert (Deveaux/Walker 2013). Ähnlich wie bei den bereits oben angesprochenen Kritiken wird moniert, dass lediglich auf die Verteilung bestimmter Güter geachtet werde und andere gerechtigkeitsrelevante Faktoren sowie die Machtstrukturen, die globale Ungleichheit erst hervorriefen, völlig ausgeblendet würden. Mehr noch: das Verteilungsparadigma habe mit seinem Narrativ von den reichen ‚Rettern des Westens‘ und den hilfsbedürftigen ‚Dritte-Welt-Opfern‘ solche Hierarchien und Machtstrukturen, die eigentlich überkommen werden sollen, reproduziert (Kohn 2013, 193). Der reine Fokus auf Umverteilung von Gütern könne Ungerechtigkeit daher nie adäquat fassen. Einzuwenden ist allerdings auch hier, dass die Kritik an den von Rawls ausgehenden Diskursen nicht notwendig auch auf ihn selbst zutrifft, denn ein solches globales Verteilungsparadigma hatte Rawls ja gerade nicht forciert. Als Alternative zum Verteilungsparadigma wird z. B. für sog. relationale Ansätze globaler Gerechtigkeit, für Theorien globaler korrektiver Gerechtigkeit oder – aus republikanischer Richtung – für die Hinwendung zu non-domination als relevantem Faktor politischer Legitimität

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plädiert (Devaeux/Walker 2013, 113). Dafür wird die traditionelle Debatte zwischen Internationalismus und Globalismus als überkommen und wenig zielführend angesehen, weil beide Kontexte relevant seien und zudem stets interagierten (ebd., 112). Anders als Verteilungsgerechtigkeitsansätze hätten Reparation, Kompensation und korrektive Gerechtigkeit einen inhärent historischen Kern, weil mit ihnen geschehene Ungerechtigkeiten wiedergutgemacht und nicht lediglich Zustände angeglichen werden sollten (Forrester 2019b, 33). So wird generell die Integration der Kategorie ‚historisches Unrecht‘ als gerechtigkeitsrelevant betont. Das Fehlen dieser Kategorie wird auch im Rahmen der historischen Wende der Rawls-Forschung debattiert, mit welcher der historische Nachvollzug der Gründe für die Entwicklung bestimmter Paradigmen in den Vordergrund rückt. Auch im Rahmen dieser Historisierungen von Rawls und Rawls-Paradigma werden die Auslassungen in den Debatten um globale Gerechtigkeit in den Blick genommen. Zumindest stehe in diesen nicht im Vordergrund, wie die Geschichte des Imperialismus heutige globale Ungerechtigkeitsverhältnisse geformt hat und welche politischen und ethischen Konsequenzen dies mit sich bringt (Bell 2019, 1 f.). Dem Thema Race and Global Justice wurde hier 2019 erstmalig ein eigener Sammelband gewidmet, der von der Annahme geleitet ist, dass die „conjoined histories of empire, colonialism, and race in thinking through current problems of global justice“ stärker berücksichtigt werden müssen (ebd., 14). Darin zeigt z. B. Katrina Forrester, dass die dominant gewordenen normativen Ansätze der global-justice-Debatte radikaleren Perspektiven auf globale politische und ökonomische Transformation, welche imperiale und rassistische Dimensionen unmittelbarer adressierten, den Raum genommen hätten (Forrester 2019b). Mitte der 1970er Jahre seien mit der Konsolidierung von Verteilungsgerechtigkeitsansätzen, die ja zunächst von Rawls inspiriert waren, Themen wie racial injustice und Reparation konzeptionell verunmöglicht worden (ebd.). Historisch

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orientierte normative Argumentationsweisen und Gerechtigkeitskonzeptionen seien mit Skepsis gesehen worden und die Frage, warum wer was (nicht) hat, beiseitegeschoben (Bell 2019, 15). Damit ist aber nicht gesagt, dass mittlerweile nicht eine Reihe von Beiträgen existieren, die diesem Missstand etwas entgegensetzen und z. B. das Thema historische Wiedergutmachung fokussieren (Lu 2017). Die Hinwendung zur Historisierung von Rawls und der damit verbundene sog. archival turn stellen die neueste und somit in diesem Beitrag abschließend zu betrachtende Entwicklung in der Rawls-Rezeption dar (Bevir 2017; Smith 2021). Auf welche Weise hier Rawls‘ internationales Denken thematisiert wird, kann exemplarisch an den Arbeiten von Murad Idris gezeigt werden (2020). Seine Auseinandersetzung mit der ‚Muslim Question‘ in Rawls’ Werk veranschaulicht, wie die soeben beschriebenen Defizite der Theoriebildung eine parochiale Vorstellungswelt befördern und verschleiern, dass politisches Denken stets in eine breitere ideologische Konstellation eingebettet ist (Idris 2020, 3, 14 f.). Konkret widmet er sich der Entstehung und dem diskursiven Kontext des Kazanistan-Beispiels und zeigt, dass mit diesem die eigentliche Fragestellung – kann es achtbar hierarchische Gesellschaften geben? – auf die Tolerierbarkeit eines (enthistorisierten und depolitisierten) Islams, auf Fragen kultureller Differenz gelenkt wird, statt Kolonialgeschichte und historisch gewachsene geopolitische Machtstrukturen in den Blick zu nehmen (ebd., 5, 14). Denn obwohl das Material im Rawls-Nachlass primär auf Fälle verweist, in denen Muslim*innen Opfer von Gewalt sind, knüpfe Rawls an das hegemoniale westliche Narrativ eines gewaltvollen Islams an, zu welchem ‚Kazanistan‘ eine fiktive Ausnahme darstellen soll (ebd., 2 f., 10). In diesem Sinne zeigt Idris (wie auch die eben genannten Genealogien philosophischer Projekte) die unterdrückte, aber konstitutive Beziehung zwischen politischen Ereignissen und philosophischen Diskursen auf und betont, dass diese für eine kritische Auseinandersetzung mit Rawls’ Denken mitgedacht werden müsse (ebd., 6). Diese neue Art der Auseinandersetzung mit John Rawls’ Werk verspricht damit auch seiner

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Rezeption innerhalb der normativen Theorie internationaler Beziehungen in den kommenden Jahren wichtige neue Erkenntnisse.

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Öffentliche Vernunft

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Thomas M. Schmidt und Michael Roseneck

Öffentliche Vernunft und demokratische Selbstgesetzgebung Der klassische Liberalismus geht davon, dass die Freiheit des einzelnen Menschen ihre Grenze erst an der Freiheit der anderen finden soll. Eingriffe in die Freiheitsrechte müssen gerechtfertigt werden. Im Zentrum der politischen Theorie des Liberalismus steht daher die Aufgabe, die staatliche Rechtsordnung durch vernünftige Gründe zu legitimieren. Erst die Möglichkeit einer vernünftigen Zustimmung aller Betroffenen zeigt, dass die Vorstellung einer „gerechten und stabilen und darum wohlgeordneten Gesellschaft unter den Bedingungen moderner pluralistischer Demokratien […] mehr als eine bloße Fiktion“ (Hinsch, Einleitung Rawls 1997a, 17 f.) ist. Daraus ergibt sich ein „Vorrang der Gerechtigkeit und der darauf gegründeten individuellen Rechte vor Vorstellungen des allgemeinen Guten und kollektiven Interessen“ (Koller 1993, 75). Thomas Nagel hat wohl am entschiedensten die These vertreten, dass vernünftige öffentli-

T. M. Schmidt (*) · M. Roseneck  Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Roseneck  E-Mail: [email protected]

che Rechtfertigung ein kontrollierbares Maß an Objektivität enthalten muss (Nagel 1995). Objektivität setzt die Möglichkeit und Fähigkeit voraus, zu den eigenen Ansichten die Einstellung eines Beobachters einnehmen zu können. Dies führt zu einem Gebot der Trennung zwischen der Einstellung gegenüber meiner Überzeugung und dem Gehalt dieser Überzeugung. Diese Trennung soll gewährleisten, dass die Überzeugung mit Gründen gerechtfertigt wird, die auch diejenigen teilen können, die nicht von ihrer Wahrheit ausgehen. Die Grundlage einer Überzeugung muss so dargelegt werden können, dass andere Personen, die sie nicht teilen, auf der gleichen Grundlage zu einem Urteil über diese Überzeugung gelangen können. Nagel zufolge ist ein solcher gemeinsamer Rechtfertigungsgrund bei religiösen Überzeugungen nicht gegeben, denn sie speisen sich wenigstens zum Teil aus nicht für alle einsehbaren Quellen wie persönlichem Glauben oder Offenbarung. Religiöse Überzeugungen sind daher prinzipiell nicht verallgemeinerungsfähig und kommen nicht als Kandidatinnen öffentlicher Rechtfertigung in Betracht. Es scheint daher geradezu eine Grundbedingung für die Fortführung des Projektes der liberalen Demokratie zu sein, dass die religiös Gläubigen in ihrer Mehrheit bereit sind, die Privatisierung ihrer Überzeugungen zu akzeptieren im Tausch für die grundrechtliche Garantie der Freiheit ihres Bekenntnisses (vgl. Rorty 1994).

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_77

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Auch Rawls’ (1998, 313–316) Demokratietheorie zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie dem öffentlichen Vernunftgebrauch eine zentrale Stellung im demokratischen Prozess zuspricht, eine Idee, die sich so zuerst explizit bei Kant (WA AA VIII, 36 f.) vorfindet. Damit ordnet sich Rawls, trotz aller Unterschiede, in eine Reihe mit Demokratietheoretiker*innen wie Rousseau (1977, 27), Arendt (1975, 45), Habermas (1996b) oder Jon Elster (2009) ein und distanziert sich gleichsam von diversen anderen demokratietheoretischen Ansätzen, etwa ökonomistischen, agonalen oder radikalen (vgl. Landwehr 2012). Letztere vertreten allesamt die Kritik, dass die Verbindung von demokratischer Selbstgesetzgebung und dem öffentlichen Vernunftgebrauch eine normativ allzu anspruchsvolle, vielleicht sogar verfehlte Idee demokratischer Politik sei, die den Entscheidungsfindungsprozess „wissenschaftsanalog[]“ (Jörke 2010, 275) konzipiere (vgl. Buchstein und Jörke 2003). Demokratien müssen dagegen vielmehr als Kampf der Interessen oder um Hegemonie und Machtpositionen verstanden werden, nicht jedoch als ein kognitiv anspruchsvoller Verständigungsprozess. Inwiefern begründet Rawls’ Demokratietheorie und ähnlich gelagerte Ansätze die Notwendigkeit des öffentlichen Vernunftgebrauchs in einer normativ angemessenen Konzeption von Demokratie? Politik bezeichnet nach David Eastons (1968, 129–134) Standarddefinition die autoritativ regulierte Verteilung von materiellen und immateriellen Gütern. Demokratien setzen ferner nach Rawls (1998, 105) auf der Idee auf, dass alle Menschen in moralischer Hinsicht frei und gleich sind. Dies zusammengenommen führt gleichwohl dazu, dass die normativ gewünschte Anerkennung der Freiheit und Gleichheit einer*eines jeden auf der einen Seite und die Absicht, das Zusammenleben autoritativ zu regulieren auf der anderen Seite, in Spannung zueinander geraten, da Herrschaft prima facie die Einschränkung von Freiheit und die Asymmetrie zwischen Herrschenden und Beherrschten impliziert. Wie ist es aber möglich, die Autonomie eines jeden Menschen zu wahren und zugleich mithilfe von staatlicher Herr-

T. M. Schmidt und M. Roseneck

schaft das Zusammenleben von Menschen zu ordnen? Demokratische Systeme versuchen diese Spannung formal dadurch aufzulösen, dass sie die Entwicklung derjenigen Normen, welche die Herrschaftsausübung anleiten, (zumindest mittelbar) in die Hände der Rechtsunterworfenen selbst legen, zum Beispiel über das Wahlrecht. In Demokratien üben Bürger*innen über sich selbst Herrschaft aus, sodass ihre Autonomie nicht verletzt wird – zumindest ist dies ein relevanter Aspekt demokratischer Herrschaftsausübung, den alle Demokratietheorien anerkennen, auch minimalistische Konzeptionen (vgl. Przeworski 1999). Inhaltlich hinzutreten muss aber des Weiteren, dass die Normbegründung allgemeine Akzeptanz finden kann – und sei es auch nur dadurch, dass die Norm in einem offenen und fairen Verfahren zustande kam. So wendet zum Beispiel Christian List (2011, 286 f.) gegen demokratietheoretische Ansätze ein, die lediglich das Zustandekommen eines von der Mehrheit getragenen Kompromisses als hinreichend für demokratisch legitime Entscheidungen identifizieren und damit keinerlei qualifizierende Ansprüche an die Begründung der Entscheidung stellen, dass dabei potenziell widersprechende Begründungen für die aus dem Kompromiss folgende Entscheidung als normativ unproblematisch angesehen werden. Dies ist zunächst aus intellektueller Sicht unbefriedigend. So erheben in aller Regel Bürger*innen in Bezug auf die Begründung von ihre negative Freiheit einschränkende policies den Anspruch, für dies gute Argumente zu erhalten. Des Weiteren existieren in realen politischen Systemen diverse Möglichkeiten für sozial mächtige Akteure, ihre Partikularinteressen auf Kosten schwacher Interessen politisch durchzusetzen. Hier kann die Beratung der eine Norm rechtfertigenden Gründe Abhilfe schaffen, indem durch sie nicht allgemein zu rechtfertigende Maßnahmen und Zustände offengelegt werden. Der öffentliche Vernunftgebrauch soll folglich garantieren, dass die Normen, welche fortan über sich als freie und gleiche anerkennende Rechtsgenoss*innen Herrschaft ausüben, von ihnen auch akzeptiert werden können und so

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auch in dieser Hinsicht kein illegitimer Zwang oder gar Gewalt über doch eigentlich als autonom anerkannte Rechtssubjekte ausgeübt wird. Es zeigt sich also, dass die Verbindung von Demokratie und öffentlicher Vernunft auf zweierlei Weise begründet werden kann: 1) Epistemisch kann sie dadurch begründet werden, dass Bürger*innen von sich aus den Anspruch erheben können, mit gut begründeten Entscheidungen zu leben. Das Argument der Inklusion von schwachen Ansprüchen kann auch epistemisch interpretiert werden – nur durch den öffentlichen Vernunftgebrauch können ihre Stimmen trotz Kakofonie von agonalen Kämpfen um Macht und Hegemonie gehört werden –, es verweist vor allem auf eine genuin moralische Begründung des öffentlichen Vernunftgebrauchs: 2) Um den Anderen als freie und gleiche Rechtfertigungssubjekte zu achten, darf ich ihn nicht „bloß als Mittel“ für irgendwelche politischen Zwecke missbrauchen. Deswegen muss ich mich durch den gemeinsamen Gebrauch der öffentlichen Vernunft seiner Akzeptanz versichern. Gerald F. Gaus (2010, 21) formulierte dies anschaulich wie folgt: „[T]o respect others requires that one refrains from coercing them unless one can provide reasons that, in some way, are accessible to them.“ Habermas’ (1992, vgl. Gaus 2019) demokratietheoretisches Hauptwerk Faktizität und Geltung unterbaut die These, dass Demokratie, so wie wir sie verstehen, weder notwendigerweise in Verbindung mit dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft steht, noch auf eine perspektivisch andere Art und Weise, die mehr an Hegel als an Rawls’ Kantianischen Konstruktivismus erinnert: Im Rahmen einer rationalen Rekonstruktion kommt er zu dem Schluss, dass das Geben und Nehmen von Gründen kein moralisierendes, vom akademischen Betrieb der Demokratietheorie hinzugefügtes Zusätzliches ist, sondern soziologisch betrachtet das, was Bürger*innen im demokratischen Prozess tun. Es lassen sich zwar Kämpfe um Macht und Posten in Demokratien beobachten, gleichwohl setzen diese immer auf dem Versuch auf, gute Gründe zu geben. Im Vordergrund demokratischer Selbstgesetzgebung ste-

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hen aber Verfahren, die Teilnehmer*innen am Willensbildungsprozess dazu anhalten, öffentlich akzeptierbare Gründe zu nennen. Im Umkehrschluss ist auch dies etwa, was soziale Bewegungen tun, oder woran Akte des zivilen Ungehorsams appellieren. Habermas’ Perspektive stützt damit insofern eine deliberative Konzeption von Demokratie, als sie nicht, wie Rawls’ Demokratietheorie, konstruktivistisch und, wie Kritiker*innen bemängeln, „normativistisch“ ist, sondern rekonstruierend und sich damit auf bereits gelebte gesellschaftliche Praktiken bezieht. Insofern wirkt die im zeitgenössischen akademischen Diskurs des Öfteren geäußerte Kritik an deliberativen Theorien der Demokratie, nach der sie expertokratisch oder elitistisch seien, eigentümlich soziologisch unaufgeklärt, da Deliberation gängige Praxis der demokratischen Lebensform ist, so wie sie sich heute etwa in sozialen Bewegungen äußert.

Die Pflicht zur Bürgerlichkeit Wenn man der Festlegung folgt, dass demokratisch legitime Normen allgemeine Akzeptanz genießen müssen, ist aber gleichwohl noch nichts darüber gesagt, wer in einem deliberativen System für diese Aufgabe zu verpflichten ist. Intuitiv könnten Offizielle im politisch-administrativen System, Parlamentsabgeordnete oder Verfassungsrichter*innen, als alleinige Adressat*innen des Anspruchs identifiziert werden, allgemein akzeptierbare Begründungen für Rechtsnormen zu finden. Rawls’ Demokratietheorie dagegen bezieht in der Hinsicht Position, dass Bürger*innen weitestgehend dieselben Pflichten haben wie offizielle Amtsträger*innen. So eröffnet bereits die Theory of justice die Fragestellung, ob auch einfache Bürger*innen, wenn sie politisch handeln, zum Beispiel ihre Stimme bei einer Wahl abgeben, sich der Pflicht zur Gerechtigkeit beugen sollen oder hierbei schlichtweg zweckrational ihre zum eigenen Wohl neigenden Interessen verfolgen können (Rawls 1975, 369 f.). Dies wäre jedoch angesichts der institutionalisierten Kopplung zwischen öffentlicher Meinung

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auf der einen und der Entscheidungsfindung im politisch-administrativen System auf der anderen Seite kurzschlüssig. So wählt man etwa zum einen als Bürger*in in regelmäßigen Abständen diejenigen Personen oder Parteien aus, welche für eine Legislaturperiode unmittelbar auf die Entscheidungsfindung einwirken. Zum anderen bedienen sich Repräsentant*innen derjenigen Gründe, um als legitim anerkannte Entscheidungen zu fällen, die sie aus einem von der Öffentlichkeit verwalteten „Pool von Gründen“ (Habermas 1989, 28) heranziehen. „Demokratie bedeutet […] gleiche Beteiligung an der politischen Zwangsgewalt, welche die Bürger, wenn sie abstimmen, aber auch auf andere Weise übereinander ausüben.“ (Rawls 1998, 318). Folglich kann unter anderem aus institutions- und öffentlichkeitstheoretischen Gründen in demokratischen Systemen keine strikte Differenzierung zwischen den Pflichten, die Akteur*innen im politisch-administrativen System einerseits und denjenigen, die Bürger*innen betreffen, andererseits existieren. Nun kann eine kluge institutionelle Strukturierung des politisch-administrativen Systems, zum Beispiel die effektive Teilung der Gewalten oder Vorkehrungen, welche die politische Dominanz einer einzigen gesellschaftlichen Gruppe verhindern, politisch Handelnde durch Einschränkungen oder Anreize dahingehend disponieren, aus strategischen Motiven im Ergebnis vernünftige politische Entscheidungen zu treffen (vgl. Habermas 1992, 368). Gleichwohl lässt sich Rawls’ Theorie in die Reihe der (empirisch auch gut begründeten Ansätze) einordnen, die nebst dessen davon ausgehen, dass auch ein gewisses Maß an Tugendhaftigkeit und Gemeinsinn für eine gelungene und langfristig stabile demokratische Vergesellschaftung vonnöten sind. Um zum Beispiel „Lernprozesse, die an der gesellschaftlichen Basis“ (Maus 1991, 145) zugunsten der Emanzipation weitestgehend ungehörter Minoritäten „gemacht worden sind“ (ebd.) in politische Entscheidungen umzumünzen, bedarf es letztlich auch vonseiten der breiten Öffentlichkeit und politischer Repräsentant*innen die Bereitschaft, über eine strategische, bloß den eigenen Nutzen in den Blick

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nehmende Handlungsorientierung hinauszugehen. Dies allerdings kann ein kluges institutionelles Design allein nicht leisten, sondern bedarf vonseiten tugendhafter Bürger*innen der Bereitschaft, sich aus Pflicht zu verhalten. Insofern ist auch der Vorschlag Gaus’ und Kevin Valliers (2009, 65–70) zumindest teilweise fraglich, die politikphilosophische Forschung zur öffentlichen Vernunft von der Frage nach der Aktivität hin zum institutionellen Design umzuschwenken. Zugleich ist das Genannte auch ein Grund, der wiederum für die Bedeutung des öffentlichen Vernunftgebrauchs aus epistemischer Sicht spricht: Nur durch die Inklusion aller Betroffenen in einen „herrschaftsfreien Diskurs“ (Habermas) lassen sich Entscheidungen beraten, die idealiter allgemeine Akzeptanz genießen können. Die zu den Ansprüchen öffentlicher Vernunft korrespondiere Pflicht bezeichnet Rawls in Political liberalism als Pflicht zur Bürgerlichkeit (duty of civility), von denen er einer 1997 vorgenommenen Revision folgend cum grano salis die weite Konzeption der Pflicht zur Bürgerlichkeit als normativ angemessene Formulierung einer Pflicht bezüglich des Gebens von Gründen im Willensbildungsprozess qualifiziert (Rawls 1997b, 783–787). 1. Die erste exklusive Konzeption der Pflicht zur Bürgerlichkeit erfordert, dass sich tugendhafte Bürger*innen, sobald sie am Willensbildungsprozess teilnehmen, aller nicht öffentlich zugänglicher Gründe entledigen (Rawls 1998, 354). Nur so, so könnte man prima facie sagen, könne dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft entsprochen werden. 2. Rawls lehnt allerdings die exklusive Konzeption aus Gründen nicht-idealer Theoriebildung weitestgehend ab, denn es zeigt sich, dass in realen Gesellschaften das Erheben von doch eigentlich allgemein akzeptierbaren, demokratisch-rechtsstaatlichen Werten im Gewand von Gründen umfassender Lehren hilfreich bei der stetigen Verwirklichung der realistischen Utopie einer wohlgeordneten Gesellschaft sein könne, zum Beispiel, weil religiöse Semantik weitaus stärker an das erinnert, „was zum Himmel schreit“ (Habermas 2008, 31) und da-

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durch Menschen zur Tat motiviert (Rawls 1975, 423) – man denke an emanzipative religiöse Bewegungen. Wenn dem so ist, sei es Rawls (1998, 354) zufolge angemessen, dass eine religiöse oder anderweitig aus umfassenden Lehren stammende Argumentation in der politischen Öffentlichkeit Platz findet, „sofern sie […] dies in einer Weise [tut], die das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs stärkt“. 3. Die weite Konzeption der Pflicht zur Bürgerlichkeit erlaubt, im Willensbildungsprozess zunächst all diejenigen Gründe zu benennen – Fälle wie Hassrede oder Volksverhetzung außenvorgelassen –, von denen man nun einmal überzeugt ist, ohne sie bereits hinsichtlich ihrer allgemeinen Akzeptierbarkeit zu filtern. Es ist also in einem ersten Stadium durchaus möglich, Gründe für die dann allgemein verbindlichen Normen zu geben, die aus nur subjektiv anerkannten umfassenden Lehren stammen. Erst in einem zweiten Stadium – „in due course“ (Rawls 1997, 776) – sind Bürger*innen aufgefordert, andere Gründe zu benennen, die dem öffentlichen Vernunftgebrauch zugänglich sind (ebd., 778). Der zweite Teil der weiten Konzeption ist im akademischen Diskurs unter der Bezeichnung des proviso geläufig. Sie sorgt dafür, dass, obwohl die weite Konzeption wenig restriktiv ausfällt, sie dennoch den Ansprüchen des Prinzips öffentlicher Rechtfertigung zugunsten der Vermeidung illegitimer Zwangsausübung genügt. Im ersten Stadium stellt es beispielsweise keine Verletzung der Pflicht zur Bürgerlichkeit dar, wenn gläubige Bürger*innen eine liberale Regulierung von Stammzellforschung aufgrund religiös fundierter Vorbehalte ablehnen und dies auch mit Verweis auf religiöse Argumente tun. Erst mit der Zeit sollten sie, der weiten Konzeption zufolge, allgemein zugängliche Gründe für ihren zuvor noch einzig und allein mit Verweis auf eine religiöse Überzeugung gerechtfertigten Standpunkt benennen, Gründe also, die zum Beispiel auch Atheist*innen überzeugen könnten. Normativ angemessen erscheint Rawls (1997b, 783–788) die weite Konzeption aus zwei Gründen: Zum einen muss eine liberaldemokratische Position, die vom Vorurteil zu-

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gunsten der Freiheit des Individuums ausgeht, zunächst all diejenigen öffentlich geäußerten Meinungen und Geltungsansprüche tolerieren, die Bürger*innen nun einmal geben möchten, Fälle wie Hassrede oder Volksverhetzung, die Schaden bei Dritten verursachen können, wie gesagt, außenvorgelassen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung verbietet eine unmittelbare Bewertung öffentlicher Aussage in Bezug auf ihren produktiven Wert für den Willensbildungsprozess. Da die inklusive Konzeption die Legitimität von auf Grundlage von umfassenden Lehren erhobenen Ansprüchen hingegen an ihrer Beförderung öffentlich akzeptierbarer Werte festmacht, toleriert sie nicht das Erheben von Ansprüchen als Ausdruck individueller Freiheit, sondern fragt immerzu nach ihrem deliberativen Mehrwert (Rawls 1998, 354). Tatsächlich treiben aber das Spätwerk von Rawls (1938, 119) nicht primär diese Erwägungen um, sondern vielmehr stabilitätspolitische: Wie könne ein demokratischer Rechts- und Sozialstaat trotz der diagnostizierten Tatsache des vernünftigen Pluralismus langfristig stabil existieren, insbesondere eingedenk der Voraussetzung, dass Bürger*innen nicht nur opportunistisch aus egozentrischen Nutzenkalkülen entsprechend dessen Regeln agieren, sondern daneben auch aus vernünftigen Motiven handeln müssen? Bekanntermaßen beantwortet Rawls (1987) diese Frage unter anderem damit, dass sich in stabilen wohlgeordneten Gesellschaften ein überlappender Konsens herausgebildet habe, welcher die Adhärenz zur institutionellen Ordnung für die von diversen Religionen und Weltanschauungen Überzeugten auf je ihre eigene Art und Weise begründen könne. Während sich zum Beispiel für die gläubige Christin die Adhärenz zum demokratischen Rechtsstaat dadurch begründen könne, dass dieser die gottgegebene Würde eines jeden Menschen achte und schütze, könnte der säkulare Republikaner ihn als Produkt neuzeitlicher Revolutionen affirmieren et cetera. Selbst wenn nun aber in einer wohlgeordneten Gesellschaft ein gut ausgebauter überlappender Konsens existiert, kann es dennoch der Fall sein, dass dieser nicht in vol-

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lem Ausmaß seine stabilisierende Wirkung entfaltet. Gerade in pluralistischen Massengesellschaften könnte es nämlich ferner an Wissen darüber fehlen, dass die*der doch eigentlich mir Fremde mit gänzlich anderen religiös-weltanschaulichen Überzeugungen dennoch dieselben demokratisch-rechtsstaatlichen Werte teilt wie ich selbst. Rawls (1997b, 784) favorisiert deswegen die weite Konzeption der Pflicht zur Bürgerlichkeit, weil das zunächst ungefilterte Darstellen der eigenen Überzeugungen, das was die eigene umfassende Lehre in ihrer (nicht allgemein teilbaren) Gänze aussagt, dennoch ein gegenseitiges Wissen voneinander und so Vertrauen in die Existenz des überlappenden Konsenses entstehen lässt, was wiederum stabilisierende Effekte zeitigt. So empfehle sich die weite Konzeption nicht nur aus intrinsischen Gründen, die im Respekt gegenüber der Freiheit des Individuums liegen, sondern zum anderen auch deswegen, da sie vertrauensbildende öffentliche Kommunikation ermöglicht.

Öffentliche Vernunft: metaphysisch und nicht politisch? Für das Projekt eines vernünftigen Pluralismus ist es also von entscheidender Bedeutung, sensibel auf den Vorwurf der Exklusion und der Pathologisierung des Religiösen zu reagieren. Auf die Forderung, die Neutralität der pluralistischen Ordnung durch den Ausschluss von Religion aus der Sphäre der politischen Öffentlichkeit zu sichern, gibt es im Wesentlichen zwei Arten von kritischen Reaktionen. Die radikale Variante, wie sie etwa von Christopher J. Eberle (Eberle 2002) vertreten wird, lehnt im Namen des religiösen Glaubens die liberale Theorie eines vernünftigen Pluralismus grundsätzlich ab. Diese Kritik an der neutralisierenden Einschränkung von religiösen Überzeugungen wird häufig im Rückgriff auf eine pessimistische Großerzählung vom moralischen Verfall liberaler Gesellschaften geübt. Danach führt die Privatisierung von Religion zu einer Trivialisierung des Politischen und zu einer Erosion der Ressourcen sozialer Homogenität und Solidarität.

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Eine Gesellschaft, in der die religiösen Stimmen zum Schweigen verdammt sind, werde letztlich von Privat- und Gruppeninteressen dominiert. Der Ausschluss religiöser Überzeugungen aus der Öffentlichkeit verhindere nicht die Entstehung einer zunehmend unzivilisierten Kultur und Gesellschaft. Im Gegenteil, die destruktiven Tendenzen könnten nur durch die verstärkte Integration und Partizipation von Religion in Politik und Gesellschaft aufgehalten werden. Aus der Perspektive authentischer Religion gibt es nach dieser Auffassung keine überzeugenden Vernunftgründe, die den Ausschluss des Religiösen aus der politischen Öffentlichkeit rechtfertigen. Gegen die These, nur eine von religiösen Überzeugungen vollkommen unabhängige Begründungsbasis könne dauerhaft Toleranz sichern, wenden Kritiker wie Nicholas Wolterstorff ein, dass Menschen generell dazu neigten, sich über das zu streiten, was sie besonders tief bewegt (Wolterstorff 1997). Dies können, müssen aber nicht religiöse Überzeugungen sein. Religion führt nicht per se zu geistigem Bürgerkrieg. Im Gegenteil, die Vorstellung, eine faire Kooperation aller Bürger*innen sei auf der ausschließlichen Basis neutraler Vernunft möglich, hält Wolterstorff für eine überschwänglich idealistische Vorstellung, die der faktischen Konfliktivität realer pluralistischer Demokratien nicht gerecht wird. Generell hält Wolterstorff die Forderung nach einer unabhängigen Begründungsbasis politischer Ordnung für zu abstrakt. Damit zu rechnen, dass Bürger*innen, die unterschiedlichen umfassenden Lehren anhängen, in vielen entscheidenden Fragen nicht zu einem Konsens gelangen, erscheint jedenfalls nicht irrational. Diese Erwartung scheint zudem eine angemessenere Beschreibung politischer Entscheidungsprozesse in liberalen Demokratien zugrunde zu legen. Demokratische Deliberationsprozesse führen in der Regel zu Mehrheitsentscheidungen auf einer ad-hoc-Basis, nicht zu Konsensbildungen auf der Grundlage allgemein anerkannter Vernunftprinzipien. Zu verlangen und zu erwarten, dass der Prozess einer abstrakten Verallgemeinerung von essenziellen Elementen der divergierenden

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umfassenden Lehren als Ergebnis eine neutrale Konzeption der Gerechtigkeit hervorbringt, erscheint Wolterstorff zufolge so wahrscheinlich und so gut begründet wie die Annahme, die Bürger*innen könnten sich auf eine ganz bestimmte umfassende Lehre einigen. Hinter dem Begriff der öffentlichen Vernunft stecke daher, entgegen allen neutralen Versicherungen, eine geheime metaphysische Voraussetzung. Es handelt sich dabei um die Idee eines kognitiven Zuganges zu einer homogenen menschlichen Natur, der von unseren umfassenden Überzeugungen, also von der jeweiligen Bildung und Tradition, unabhängig sei. Wolterstorff und andere Kritiker*innen einer Einschränkung der öffentlichen und politischen Artikulation religiöser Überzeugungen konzentrieren sich aber nicht nur auf die vermeintliche Schwäche und dekadenten Effekte einer liberalen Kultur, sondern auf die begrifflichen Probleme und Spannungen der politischen Theorie. So sei nicht einzusehen, warum gerade religiöse Überzeugungen mit der Begründung, sie fänden nicht bei allen Bürger*innen Zustimmung, aus den elementaren politischen Debatten ausgeklammert werden sollten. Eine Fülle anderer ethischer Überzeugungen und Moralkonzeptionen werde als relevanter Bestandteil solcher Debatten angesehen, obwohl auch sie nicht von allen geteilt und von vielen Bürger*innen mit vernünftigen Gründen abgelehnt würden. So herrscht anscheinend eine ungerechtfertigte Ungleichverteilung argumentativer Lasten. Religiöse Menschen müssen offenbar zentrale Überzeugungen einklammern und Anteile ihrer Persönlichkeit abspalten, wenn sie als anerkannte Bürger*innen an politischen Diskursen teilnehmen wollen. Dieser Vorwurf exklusivistischer Konsequenzen wirft diesen Versionen einer liberalen politischen Theorie vor, die eigenen normativen Prinzipien einer Gerechtigkeit als Fairness zu verletzen. In seinem Aufsatz „The Idea of Public Reason Revisited“ hat Rawls auf solche Formen von Kritik reagiert. Er nimmt die von Wolterstorff und anderen geäußerte Befürchtung produktiv auf, die Konzeption des politischen Liberalismus würde einseitig und unfair säku-

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lare umfassende Lehren bevorzugen und religiöse Überzeugungssysteme benachteiligen. Die weite Sicht des öffentlichen Vernunftgebrauchs erlaubt nun ausdrücklich, dass vernünftige umfassende Lehren, religiöser oder nicht-religiöser Art jederzeit in die politische Diskussion eingeführt werden können, vorausgesetzt das in gebührender Zeit angemessene öffentliche Gründe präsentiert werden, welche die Auffassungen der umfassenden Lehren unterstützen können. Rawls korrigiert damit ausdrücklich Formulierungen aus der ersten Auflage von Political Liberalism. Die einzige Bedingung, die Rawls aufrecht erhält, ist der ‚Vorbehalt‘ (provsio), dass für das, was die vernünftigen umfassenden Lehren fordern oder vorschlagen, öffentliche Begründungen angeführt werden können, die auch einer vernünftigen politischen Konzeption entstammen könnten. Auf dieser Weise reagiert Rawls auf die Kritik an exklusivistischen Tendenzen und macht sie sich in einem gewissen Umfang zu eigen, indem er die Einschränkungen für den Gebrauch religiöser Argumente im öffentlichen Raum lockert. Was steht am Ende der Beachtung des proviso? Rawls geht nicht ins Detail, ob die Übertragung in öffentlich akzeptierbare Gründe eine „Übersetzung“ (Habermas 2005, 136) des zunächst gegebenen Grundes in eine allgemein zugängliche Semantik bezeichnet oder ob der letztlich gegebene allgemein akzeptierbare Grund nur im Effekt äquivalent ist. Es bleibt also offen, ob bei Beachtung des proviso der vernünftige Gehalt eines aus einer umfassenden Lehre entnommenen Grundes in einem „komplementäre[n] Lernprozess[]“ (ebd., 146) eruiert werden sollte – was verbirgt sich beispielsweise in einer Aussage wie „wir sollen nicht Gott spielen“ oder „die Schöpfung bewahren“, von dem auch postsäkulare Gesellschaften sich in praktischen Fragen einen Erkenntnisgewinn versprechen könnten – oder ob letztlich nur ein in Bezug auf das, was für den politischen Output folgt, äquivalenter Grund gefunden werden sollte. Man könnte sich für den Fall der Stammzellforschung vorstellen, dass religiöse Bürger*innen für die Aussage, dass es falsch sei, Gott zu spielen, keine Habermassche Übersetzung

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leisten, sondern einen anderen öffentlich zugänglichen Grund benennen, der wie ihre religiöse Argumentation auf eine begründete Ablehnung der Stammzellforschung hinausläuft. Zum Beispiel könnten sie – und vielleicht erfüllen sie damit das proviso – im zweiten Stadium anführen, dass Stammzellforschung angesichts ihrer Ergebnisse in keinem guten KostenNutzen-Verhältnis steht und sie deswegen nicht erlaubt werden sollte, ein pragmatischer Grund ersetzt also den religiösen. Eine solche Strategie hätte den Nachteil, dass am Ende des Willensbildungsprozesses möglicherweise Rechtfertigungen für politische Maßnahmen stehen, von denen keiner der Beteiligten wahrhaftig überzeugt ist, die aber irgendwie öffentlich zugänglich sind. Habermas (1987, 69–169) setzt mit seiner Vorstellung eines „komplementäre[n] Lernprozesse[s]“ (2005, 146) hingegen an sozialphilosophische Annahmen an, der Versprachlichung des Sakralen, nach denen religiösen Überzeugungen potenziell ein vernünftiger Gehalt innewohnt. Dadurch kommt er in seiner politischen Philosophie zu dem Punkt, eine von religiösen und nichtreligiösen Bürger*innen verwirklichte, kooperativ angelegte Übersetzung religiöser Gründe in eine allgemein akzeptierbare Sprache zu forcieren. Eine derartige Grundierung des proviso, verbunden mit der Aufforderung zur gemeinsam angestrengten Übersetzung religiöser Gehalte, wäre für Rawls’ Politischen Liberalismus philosophisch gleichwohl zu voraussetzungsreich. Man würde dann wieder – was Rawls (1985; 1997a, 116) natürlich tunlichst vermeiden möchte – gewisse Annahmen umfassender Lehren in die konkrete Ausgestaltung des proviso injizieren. Im Anschluss an Cristina Lafonts (2009, 129  f.) Rawls-Interpretation lässt sich auf Ebene des Individuums ein normativ gelungener demokratischer Willensbildungsprozess entsprechend der weiten Konzeption der Pflicht zur Bürgerlichkeit wie folgt verbildlichen: Zur Beantwortung von politisch relevanten Fragenstellungen verfügt das Individuum über zwei „pools of reason“ (ebd., 130), einen mit Gründen angefüllt, die aus der von ihm vertretenen

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umfassenden Lehre entnommen sind, und einen mit Gründen, die allgemeine Akzeptanz finden können und damit öffentlich vernünftig sind. Im Zuge des öffentlichen Vernunftgebrauchs hat es der weiten Konzeption zufolge zunächst die Option, Begründungen für politische Maßnahmen beizutragen, die aus dem ersten Pool stammen, zum Beispiel solche aus einem religiösen Rechtfertigungsnarrativ. Mit der Zeit jedoch muss es, dem proviso folgend, zur ersten Begründung äquivalente Gründe aus dem zweiten Pool geben. Ein erster Einwand gegen die weite Konzeption, genauer gesagt gegen das proviso, formulierte unter anderem Wolterstorff (1997, 105– 109) dahingehend, dass weder ein zweiter Pool mit öffentlich akzeptierbaren Gründen immerzu anzunehmen sei noch, selbst wenn er vorhanden wäre, das Individuum zusätzlich auch bereit sein müsse, von diesem Gebrauch zu machen. Im Gegenteil aber könnte man vielmehr annehmen, dass es beispielsweise zur authentischen Religiosität von gläubigen Bürger*innen einerseits gehöre, ihre politischen Überzeugungen von religiösen Ansichten und nur von diesen abzuleiten, und sie andererseits keine anderen als eben diese religiösen Gründe wahrhaftig benennen können. „It belongs to the religious convictions of a good many religious people in our society that they ought to base their decisions concerning fundamental issues of justice on their religious convictions. They do not view it as an option whether or not to do so. […] Their religion is not, for them, about something other than their social and political existence; it is also about their social and political existence“ (ebd., 105). Dieser Einwand muss nicht nur mit Bezug auf religiöse umfassende Lehren gesehen werden, sondern er betrifft alle umfassenden Lehren, von denen man wahrhaftig überzeugt sein kann. Per definitonem schließt das Prädikat, von etwas überzeugt zu sein, die Möglichkeit aus, dieses, von dem man überzeugt ist, einfach abzulegen (Raz 1990). „If I really thought that there was no more reason for me to believe what I believe than there is for what others believe what I believe than there is for what others be-

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lieve, then I would not have reasons to believe what I believe“ (Christiano 2008, 212). Für Rawls’ politischen Liberalismus ergibt sich hieraus das Problem, dass es fraglich ist, ob Bürger*innen entsprechend der weiten Konzeption sprachlich handeln können, und, sofern sie dies tun, dann noch ihre wahrhaftigen Gründe aufrichtig benennen oder sich zwecks der Anforderungen öffentlicher Vernunft verstellen, möglicherweise unter Inkaufnahme enormer kognitiver Dissonanzen. Dies führt zum Zweifel weiter, ob ein mit der weiten Konzeption operierender politischer Liberalismus nicht doch implizit metaphysisch argumentiert, da er öffentlich akzeptierbare Gründe als politisch angemessener ausweist als die Gründe, welche unmittelbar aus umfassenden Lehren entnommen sind. Prägnant formuliert diesen Vorwurf gegenüber liberalen politischen Philosophien Raymond Geuss (2002, 102) wie folgt: „In Europa stellten häretische Überzeugungen bis zum achtzehnten Jahrhundert eines der öffentlichen Verbrechen par excellence dar […]. Die Unterdrückung der Häresie war daher in jedermanns Interesse. Die Liberalen glauben jedoch, diese Theorie (der kollektiven Verantwortung vor Gott) sei falsch, und lassen nicht gelten, dass jemand seine Nachbarn und Mitbürger in irgendeinem relevanten Sinne ,affiziert‘, indem er einfach eine bestimmte Überzeugung hegt, und sei es eine häretische. Der Liberale kann also in Fällen wie diesen eine effektive Unterscheidung zwischen öffentlich und privat machen, weil er zunächst festlegt, wer von einer gegebenen Handlung, affiziert‘ wird, wobei ,affiziert‘ bedeutet: ,verletzt (potenziell) materiell‘ oder ,schadet dem Interesse von‘, und weil er dann die Wahrheit oder Falschheit der Theorie beurteilt, welche die fraglichen Akteure darüber unterhalten, was ihren Interessen schadet oder schaden könnte. Die Frage lautet demnach: Wer nimmt die Beurteilung vor? Die Liberalen sind natürlich der Ansicht, dass sie das letzte Wort haben sollten, obwohl sie dies normalerweise so sorgfältig wie möglich vertuschen.“ Gegen Rawls’ politischen Liberalismus gewendet wäre ein solcher Einwand jedoch un-

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gerechtfertigt. Er selbst erkennt nämlich die aufgeworfene Problematik und fasst die Frage, welche den Kritikstrang von Wolterstorff oder Geuss bewegt, wie folgt zusammen: „How is it possible for citizens of faith to be wholehearted members of a democratic society who endorses society’s intrinsic political ideals and values and do not simply acquiesce in the balance of political and social forces? […] How is it possible – or is it – for those of faith, as well as the nonreligious (secular), to endorse a constitutional regime even when their comprehensive doctrines may not prosper under it, and indeed may decline“ (Rawls 1997b, 781 f.). Rawls’ Antwort lautet, dass es für die Bürger*innen einer wohlgeordneten Gesellschaft deswegen relativ problemlos möglich ist, den Anforderungen der weiten Konzeption der Pflicht zur Bürgerlichkeit zu entsprechen und sich prima facie von ihren Überzeugungen zu distanzieren, weil dies wiederum Teil ihrer auch im Kontext der umfassenden Lehren begründeten Überzeugungen ist (ebd., 782; vgl. Jaeggi 2014, 32). So ist auch die Differenzierung zwischen Pflichten, die aus dem, was für Einzelne subjektiv rational ist, und Pflichten, die aus dem, was vernünftig ist, folgen, heuristisch zu verstehen. Für in einer wohlgeordneten Gesellschaft lebende Bürger*innen geht Rawls davon aus, dass eine Kongruenz zwischen den Erfordernissen ihrer umfassenden Lehren und dem, was vernünftig ist, auf der anderen Seite vorliegt. Das, was beispielsweise die Pflicht zur Bürgerlichkeit abverlangt, ist zugleich auch etwas, das wie auch immer als Pflicht oder Handlungsempfehlung im Rahmen eines rationalen Lebensplans in Erscheinung tritt. Damit aber ist die Problematik der sich in Political liberalism vorzufindenden Argumentation nicht, dass sie (unbegründet) metaphysisch argumentiert, indem sie öffentlich akzeptierte Werte als wieso auch immer besser qualifiziert, sondern insofern kulturrelativ, als angenommen wird, dass die Mitglieder demokratischer Gesellschaften dies von sich aus und kongruent zu ihren umfassenden Lehren derart sehen (O’Neill 1997; Reiß 2019, 44 f.). Es liegen aber keine guten Gründe vor, dass sie das tun, außer die-

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jenigen, die sie ihren umfassenden Lehren entnehmen können. „Die epistemische Begründung des Verfahrens, in dem Rawls die freistehende Gerechtigkeitskonzeption gewinnt, kann aber […] im Sinne eines perspektivischen und kontextualistischen Rationalismus verstanden werden. Auf der Ebene der rationalen Verfahren selbst gibt es nach dieser Auffassung keinen rationalen Konsens, sondern nur kontextuell eingespielte Rationalitätsstandards“ (Schmidt 2008, 100). Man könnte nun berechtigterweise einwenden, dass eine solche soziale Ausgangslage historisch kontingent ist, zum Beispiel weil in den Vereinigten Staaten von Amerika, die Rawls primär adressiert, aufgrund geschichtlicher Entwicklungen relativ viele protestantische Konfessionen die weltanschauliche Landschaft dominieren und dem Protestantismus vor allen Dingen eine innere Religiosität nachgesagt wird, die sich nicht in öffentlichen Ansprüchen äußert. Was sagt uns dann aber das Prädikat der Vernünftigkeit mehr aus, als dass zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sich eine Mehrheit der dort Lebenden auf diese Gründe wieso auch immer einigen konnte? Wenn aber, zum Beispiel durch Migration, neue Formen von Religion und Religiosität beziehungsweise neue umfassende Lehren eine signifikante Stellung in der Öffentlichkeit einnehmen und politische Geltung beanspruchen, so kann die Konzeption öffentlicher Vernunft wie sie in Liberalism zu finden ist, sich selbst nicht mehr rechtfertigen, da der sie stützende kulturelle Hintergrundkonsens porös geworden ist. Die offene Flanke zum Kulturrelativismus ist dabei eine Problematik über die Rawls’ Werk auch schon in der noch deutlich Kantianischer geprägten Theory of Justice verfügt. In der anfänglichen Diskussion seiner Methodologie wirft er die Frage auf, wieso die aus seiner Theorie resultierenden „moralischen oder sonstigen Grundsätze von irgendwelchem Interesse sein sollen“ (Rawls 1975, 39). Auch hier lautet die Antwort, dass die Leser*innen die „zugrundeliegenden Bedingungen“ der Argumentation bereits „tatsächlich akzeptieren“ (ebd.). „[V]ielleicht [können] philosophische

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Überlegungen“ (ebd.) die seiner Gerechtigkeitstheorie zugrundeliegenden Prämissen stützen, aber dies liegt nicht in seinem Erkenntnisinteresse.

Epistemologische Erwägungen zur öffentlichen Vernunft Die weite Konzeption der Pflicht zur Bürgerlichkeit, welche Rawls (1997b, 783–787) cum grano salis präferiert, gesteht es Bürger*innen zunächst zu, aus ihren umfassenden Lehren stammende Gründe für politische Geltungsansprüche zu benennen. Dies begründet Rawls auf der einen Seite damit, dass so das Recht zur freien Meinungsäußerung beachtet werde, und auf der anderen Seite funktional darüber, dass über das Kennenlernen der umfassenden Lehren von Anderen Vertrauen erzeugt und so die Stabilität des Gemeinwesens begünstigt werde. Man kann allerdings bezüglich der Befürwortung einer weiten Konzeption der Pflicht zur Bürgerlichkeit im Anschluss an Karl-Otto Apel (1967/1968, 172) oder Seyla Benhabib (1995, 108) noch ein drittes Argument anbringen. Ein Zweck des öffentlichen Vernunftgebrauchs liegt in der Auffindung allgemein akzeptierter Gründe, die als solche demokratisch legitime Rechtsnormen begründen können. Eingedenk der insbesondere in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften wirkenden Bürden des Urteilens ist dabei anzunehmen, dass das Individuum vor dem Eintritt in den öffentlichen Diskurs oft nicht, beziehungsweise nicht mit Sicherheit, wissen kann, welche Gründe gesamtgesellschaftlich allgemein akzeptiert werden können. Insofern ergebe die Forderung einer Filterung der Gründe ante disputandum keinen Sinn, da sie eine nicht realisierbare Leistung von der*dem einzelnen Bürger*in abverlange. Bürger*innen müssen also in der Regel zunächst im Diskurs alle potenziellen Gründe für Rechtsnormen einbringen können – auch diejenigen, von denen sie überzeugt sind, dass sie öffentlich vernünftig sind –, um im Dialog mit anderen in Erfahrung zu bringen, ob diese allgemein akzeptiert werden können.

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Dass Rawls in seinem demokratietheoretischen Werk dieses epistemologische Argument nicht berücksichtigt, verwundert insofern, als er es in der Theory ausführlich darlegt (Rawls 1975, 392– 398): Selbst in idealtheoretischen Kontexten, in denen alle Teilnehmer*innen am politischen Entscheidungsfindungsprozess einzig und allein aufgrund vernünftiger Erwägungen sprachlich handeln, können dennoch ungerechte Entscheidungen gefällt werden. Diese widersprüchlich scheinende Konstellation ergebe sich daraus, dass den Beratenden möglicherweise – abgesehen von Bedürfnissen wie Leben, Nahrung und Obdach – ein Wissen davon fehlt, was die Bedürfnisse, Perspektiven und berechtigten Ansprüche anderer Bürger*innen sind. Nur durch einen diskursiven Willensbildungsprozess kann diese Problematik abgemildert werden. „Im Alltagsleben gebietet der Meinungsaustausch mit anderen unserer Voreingenommenheit Einhalt und erweitert unseren Horizont; man bekommt die Dinge vom Standpunkt anderer aus dargestellt und erkennt die Beschränkungen des eigenen. […] Keiner weiß alles, was die anderen wissen, oder kann alle Gedankengänge vollziehen, die die anderen zusammen vollziehen können. Die Diskussion ist eine Methode zur Zusammenfassung von Information und Erweiterung der Gesichtspunkte. Jedenfalls im Laufe der Zeit dürfte die gemeinsame Überlegung die Dinge weiterbringen“ (ebd., 395).

Diskurstheorie der öffentlichen Vernunft Diskurstheorie und politischer Liberalismus verfolgen das gemeinsame Ziel einer Rechtfertigung allgemeiner Gerechtigkeitsprinzipien unter Bedingungen eines entfalteten Pluralismus. Beide Theorien streben nach einer Art der Rechtfertigung von Gerechtigkeitsprinzipien, die Rainer Forst „autonom“ genannt hat (Forst 1999, 111). Autonom sind diese begrifflichen Strategien, insofern sie Begründungen von Gerechtigkeitskonzeptionen anbieten, die unabhängig von metaphysischen Voraussetzungen sind. Ein erster

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wichtiger Unterschied zwischen beiden Theorieprogrammen kann daher in der Art und Weise gesehen werden, in der sie diese Unabhängigkeit von metaphysischen Traditionen und Konzepten sichern wollen. Forst hat diesen Unterschied prägnant so bestimmt, dass der politische Liberalismus seinem Selbstverständnis nach nichtmetaphysisch, die Diskurstheorie hingegen nachmetaphysisch sei. Der politische Liberalismus versichert sich seiner Unabhängigkeit von metaphysischen Voraussetzungen durch den nichtmetaphysischen Charakter seiner Argumente. Nichtmetaphysisch ist die politische Gerechtigkeitskonzeption unter der Bedingung einer strikten Trennung und Arbeitsteilung von Politik und Metaphysik. Durch diese Aufteilung wird die freistehende Gerechtigkeitskonzeption von den metaphysischen Annahmen der umfassenden Lehren konzeptuell unabhängig. Aus der Sicht der Diskurstheorie ergeben sich die oben geschilderten methodologischen Probleme und Ambivalenzen der Rawlsschen Pluralismuskonzeption gerade aus ihrem Selbstverständnis als nichtmetaphysischer Theorie. Der Trennung von Politik und Metaphysik entspricht nämlich eine starke Unterscheidung von Vernunft und Wahrheit. Rawls überträgt damit nicht nur das aufklärerische Prinzip der religiösen Toleranz auf die Philosophie, sondern auch das liberale Prinzip einer Trennung von privatem Bekenntnis und öffentlichen Institutionen. Öffentliche Institutionen und die wesentlichen Elemente einer politischen Verfassung sind dann gerechtfertigt, wenn sie auf die Zustimmung von vernünftigen Personen zählen können. Kriterien der Vernünftigkeit der Zustimmung bilden daher die beiden Tugenden, die vernünftigen Bürger*innen unterstellt werden können, ihre Bereitschaft, faire Bedingungen der Kooperation vorzuschlagen und die Bürden des Urteilens zu akzeptieren. Der moralische Wahrheitsanspruch, der mit bestimmten politischen Optionen verbunden ist, bleibt hingegen vollkommen in jene religiösen und metaphysischen Weltbilder eingebettet, die selbst nicht mehr durch öffentlichen Vernunftgebrauch gerechtfertigt werden können. Die vernünftigen Gründe

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wiederum, welche den Inhalt des Konsenses – die politische Gerechtigkeitskonzeption – rechtfertigen, erschließen sich vollständig erst dem moraltheoretischen Beobachter, der sie im Überlegungsgleichgewicht eruiert und mit Hilfe der Idee einer politischen Konzeption der Gerechtigkeit systematisiert. Diese Trennung zwischen der Vernunft in ihrem öffentlichen Gebrauch und der privaten Wahrheit der umfassenden Lehren hat zur Folge, dass der ‚übergreifende‘ Konsens in der Tat nur in einer bloßen Überschneidung unterschiedlicher Perspektiven in einem gemeinsamen Fluchtpunkt besteht, nicht aber in einer aus Einsicht gewonnenen, auf der Basis öffentlich geteilter Gründe vollzogenen Zustimmung. Eine Verbindung zwischen moralischer und politischer Rechtfertigung zeigt sich bei Rawls nur in der Binnenperspektive der jeweiligen umfassenden Lehren, die aus ihrer Perspektive zentrale Gehalte der politischen Gerechtigkeitskonzeption als „wahr“ akzeptieren können. Diese ‚Wahrheit‘ des Konsenses ist dem öffentlichen Vernunftgebrauch nicht zugänglich. Jene Art von Zustimmung, welche die allgemeine Gerechtigkeitskonzeption in Gestalt eines sogenannten ‚übergreifenden Konsenses‘ findet, ist daher nicht in Form eines anspruchsvollen ‚gemeinsamen Standpunktes‘ zu verstehen, sondern als die bloß öffentlich gemachte Konvergenz einer nicht-öffentlich begründeten Akzeptanz. Forst nennt dies „einen privaten Gebrauch der Vernunft in politisch-öffentlicher Absicht“ (Forst 1994, 159). Der ‚overlapping consensus‘ ist ein veröffentlichter, kein öffentlich vollzogener Konsens. Habermas weist in diesem Zusammenhang auf die Zweideutigkeit des Rawlsschen Schlüsselbegriffs des „Agreement“ hin. Wenn der ‚overlapping consensus‘ eher nach Art eines Kompromisses verstanden wird, dann können die jeweiligen Motive und Gründe der Zustimmenden in der Tat unthematisiert bleiben. Die entscheidende Bindungswirkung geht allein vom öffentlich vollzogenen formalen Akt der Zustimmung aus. Anders sieht es im Fall eines anspruchsvolleren Verständnisses von Konsens aus; hier müssen die „Argumentationsteil-

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nehmer ein rational motiviertes Einverständnis, wenn überhaupt, aus denselben Gründen erzielen“ (Habermas 1996a 108). Im ersten Fall ist der Konsens also bindend aufgrund einer vernünftigen Öffentlichkeit, im zweiten aufgrund der öffentlichen Vernunft. Während sich im ersten Fall die Bindungskraft des Konsenses institutionalisierten Verfahrensregeln verdankt, die der Bildung eines gemeinsamen Willens dienen, gründet die von Einsicht geleitete Zustimmung auf gemeinsamen und geteilten Gründen. Für das Oszillieren des Rawlsschen Konsensbegriffs zwischen diesen beiden möglichen Bedeutungen von „Zustimmung“ lassen sich systematische Gründe geltend machen. Aus diskurstheoretischer Perspektive scheint in Rawls’ nichtmetaphysischem Ansatz eine ‚heimliche Metaphysik‘ verborgen. Sie besteht darin, dass das Metaphysische, „obwohl es sozusagen von der öffentlichen Agenda gestrichen worden ist“ die „letzte Geltungsgrundlage für das moralisch Richtige und ethisch Gute“ (Habermas 1996a. 107) darstellt. Eine mehr institutions- und systemtheoretische Kritik an Rawls’ Konzeption des öffentlichen Vernunftgebrauchs lässt sich im Anschluss an Habermas’ (1992; 2005; vgl. 2006) Faktizität und Geltung einerseits und seiner Antwort auf Rawls’ Vorschlag zum Umgang mit religiös fundierten Geltungsansprüchen im öffentlichen Raum andererseits rekonstruieren. Habermas kritisiert die Präskription, religiöse Bürger*innen sollen sich langfristig von ihren Überzeugungen distanzieren, wenn sie sich am deliberativen Prozess beteiligen, dahingehend, dass dies mit einer „unzumutbare[n] mentale[n] und psychologische[n] Bürde“ (Habermas 2005, 135) einhergehe. Dies könnte in der Hinsicht interpretiert werden – und sicher entspricht es auch Habermas’ Intention –, dass religiöse Bürger*innen sich nicht einfach von ihren Glaubensüberzeugungen distanzieren können. Es kann aber darüber hinaus auch in der Hinsicht interpretiert werden, dass es ein falscher Anspruch ist. In einem deliberativ arbeitsteilig organisierten System, im Kontext einer „zweigleisigen deliberativen

77  Öffentliche Vernunft

Politik“ (Habermas 1992, 369), kommt der dezentralen politischen Öffentlichkeit, wie sie sich etwa in Form sozialer Bewegungen konstituiert, die Aufgabe zu, politisch regelungsbedürftige Angelegenheiten zu entdecken und zu benennen. Sie muss „darüber hinaus den Problemdruck verstärken, d. h. Probleme […] auch überzeugend und einflußreich thematisieren, mit Beiträgen ausstatten und so dramatisieren, daß sie vom parlamentarischen Komplex übernommen und bearbeitet werden“ (Habermas 1992, 435). Aufgabe der im Rahmen von als legitim anerkannten Verfahren gewählten Repräsentant*innen ist es dann, die von der dezentralen Öffentlichkeit aufgeworfenen Problemlagen mithilfe des Rechtsmediums wirksam zu bearbeiten. Insofern differenziert Rawls’ Konzeption des öffentlichen Vernunftgebrauchs mitsamt der weiten Pflicht zur Bürgerlichkeit nicht hinreichend zwischen den verschiedenen Rollen, welche Bürger*innen und Parlamentarier*innen in einem deliberativen System übernehmen. Eine im Anschluss an Habermas gleichwohl noch offene Fragestellung bleibt, inwiefern Bürger*innen als Teil der dezentralen Öffentlichkeit sich dennoch um die Deliberation allgemein akzeptabler Gründe bemühen müssen. Denn es sind sie, die den „Pool von Gründen“ (Habermas 1989, 28) bereitstellen, derer sich die administrative Politik zur Rechtfertigung ihrer Entscheidungen bedient.

Öffentlich vernünftige Gründe: teilbar oder nicht vernünftig zurückzuweisen? Eine Kritik an Rawls’ Konzept von öffentlich vernünftigen als teilbare Gründe, die gleichwohl am normativen Kerngedanken deliberativer Demokratie festhält, nach dem Rechtsnormen nur dann demokratisch legitim sein können, wenn sie allgemeine Akzeptabilität genießen, entwickelt Cristina Lafont (2009). Allgemeine Akzeptabilität in der sozialen Welt bestehe nicht darin, dass man die Gründe für politische Maß-

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nahmen in Gänze teilt, sondern vielmehr, dass man eine Begründung deswegen akzeptiert, weil aus ihr (potenziell) kein illegitimer Zwang folgt. Wenn durch Deliberation die Ausübung illegitimen Zwangs über in moralischer Hinsicht freie und gleiche Personen verhindert werden soll, so kann das Geben von teilbaren Gründen eine Option sein, diesem Zweck zu dienen. Wenn A Geltung für die Rechtsnorm lx beansprucht, die durch den Grund x begründet wird, und B mit A in einer Rechtsgemeinschaft lebt, dann kann A lx  B gegenüber dadurch rechtfertigen, dass B entweder x teilt – „Du siehst es doch genau so wie ich.“ – oder B einen zu x äquivalenten Grund y vorstellt, der lx für B akzeptabel macht. Dies sind aber nur eine Art von möglichen Fällen, wie durch deliberative Prozesse illegitimer Zwang vermieden werden kann. Denn A könnte auch aufzeigen, dass lx  B nicht in relevanter Weise affiziert und dementsprechend kein Rechtfertigungsanspruch von B für lx besteht. Erst wenn die Interessen anderer tangiert werden, muss mit der Teilbarkeit der Gründe oder einer Gründeäquivalenz argumentiert werden. Öffentlich vernünftige Gründe, so Lafont, sind dann nicht notwendigerweise Gründe, die allgemein teilbar sind, sondern die, die nicht vernünftigerweise zurückgewiesen werden können. Lafont konkretisiert hierbei das Kriterium vernünftiger Zurückweisbarkeit, welches von Thomas Scanlon (1998) in die Moraltheorie eingebracht wurde, auf den Bereich der politischen Philosophie. Vor diesem Hintergrund erscheint Rawls’ proviso, die Anforderung einer Ersetzung von Gründen, die aus umfassenden Lehren stammen, dann als supererogatorisch.

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Tierpolitik und Tiergerechtigkeit

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Peter Niesen

Rawls hat wiederholt betont, dass seine Konzeption der Gerechtigkeit nicht auf das Verhältnis zu nicht-menschlichen Tieren und der übrigen Natur anwendbar ist, ja daran scheitern mag. Gerechtigkeit als Fairness handle nicht von den Verhältnissen zwischen Menschen und Tieren, sei es, weil sie sie begrifflich nicht abdeckt, sei es, weil sie „nicht die richtige Konzeption“ für die Einrichtung gerechter Verhältnisse zwischen Menschen, Tieren und der übrigen Natur sein mag (Rawls 1998, 88). Zu demselben Ergebnis kommt Rawls in seiner Theorie demokratischer Legitimität. Auch dort erklärt er sich für Fragen des gesellschaftlichen Verhältnisses zu Tieren und der restlichen Natur unzuständig, da dieses Verhältnis „nicht zu den wesentlichen Verfassungsinhalten [gehöre] und auch keine Frage grundlegender Gerechtigkeit“ betreffe, so dass die Regeln des öffentlichen Vernunftgebrauchs für die Art und Weise, wie wir Tiere behandeln, keine Verbindlichkeit haben könnten (ebd., 352). Rawls räumt ein, dass es direkte moralische Pflichten gegenüber empfindungsfähigen Tieren gebe, und zählt gesellschaftliche Naturverhältnisse in indirekter Hinsicht zum möglichen Inhalt einer gerechten und legitimen gesellschaftlichen Grundstruktur, weil sie die Ansprüche zukünftiger menschlicher

P. Niesen (*)  Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

Generationen tangieren. Das Artensterben gefährde die Reproduktion einer lebendigen Ökosphäre und behindere die medizinische Forschung; außerdem gehörten für viele Menschen Naturerlebnisse zum guten Leben. Eine „Ausweitung“ der Idee einer legitimen Grundstruktur „unter Beachtung gewisser Beschränkungen“ auf Tiere und die äußere Natur hält Rawls immerhin für möglich (ebd.). Aber ebenso wenig wie Kant vermag er es, strikte politische Rechts- und Gerechtigkeitsansprüche für nicht-menschliche Wesen anzuerkennen. Was die Aussagekraft der Arbeiten von Rawls für das Mensch-Tierverhältnis angeht, ist daher die defätistische Sichtweise vertreten worden, es gebe zahlreiche versuchte Bezugnahmen aus der Tierethik und Tierpolitik, aber keine von ihnen sei haltbar (Garner 2012). Im Widerspruch dazu sollen hier stärker als in der bisherigen Diskussion die unterschiedlichen Gesichtspunkte von konstruktivistischer Gerechtigkeitstheorie I.), Moraltheorie II.), demokratischer Legitimitätskonzeption III.) und der Idee eines fairen Systems sozialer Kooperation IV.) unterschieden und die normativen Argumente, auf die sich die jeweiligen Teil-Konzeptionen stützen, desaggregiert werden. Dabei zeigt sich, dass das Darstellungsmittel des Urzustands nicht für Gerechtigkeit für Tiere sorgen kann, dass aber Rawls’ Konzeptionen politischer Unterwerfung und sozialer Kooperation prinzipielle Schlussfolgerungen für das Mensch-Tier-Verhältnis zu ziehen erlauben.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_78

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I. Vergegenwärtigt man sich die Begründung von Gerechtigkeit als Fairness in den beiden Hauptwerken, leuchtet Rawls’ methodische Abstinenz in Fragen der Tiergerechtigkeit ein. Die fundamentale Prämisse dafür, den Urzustand so einrichten zu dürfen, wie er in Eine Theorie der Gerechtigkeit eingeführt wird, liegt in den beiden höchstrangigen moralischen Vermögen derjenigen Wesen, die ihn als Maßstab an ihre eigene Gesellschaft anlegen. Der Urzustand bildet ihre Rationalität und Vernünftigkeit ab, d. h. ihre Fähigkeit, eine Konzeption des Guten ausbilden, sie verfolgen und revidieren zu können, und ihren Sinn für Gerechtigkeit. Die beiden obersten moralischen Vermögen definieren, was unter einer moralischen Person zu verstehen ist, und moralische Personen sind es, die sich im Urzustand hinter dem Schleier des Nichtwissens repräsentieren lassen können. Nur insofern alle als freie und gleiche Personen vorgestellt werden, kann der Urzustand darüber Auskunft geben, worauf sich ihre politische und gesellschaftliche Freiheit und Gleichheit erstrecken soll. In Eine Theorie der Gerechtigkeit betont Rawls, dass die Verfügung über die beiden moralischen Vermögen ein hinreichendes Merkmal dafür ist, um über Gerechtigkeitsansprüche verfügen zu dürfen. Er lässt dort „offen, ob die moralische Persönlichkeit auch eine notwendige Bedingung ist“ (Rawls 1975, 549). Im Politischen Liberalismus legt er sich dagegen darauf fest, dass es sich bei den beiden Vermögen um „notwendige und hinreichende Bedingungen dafür [handelt], in Fragen der politischen Gerechtigkeit als volles und gleichberechtigtes Gesellschaftsmitglied zu gelten“ (Rawls 1998, 418 f.). Wer nicht über einen Gerechtigkeitssinn und die Fähigkeit verfügt, eine Konzeption des Guten auszubilden und zu verfolgen, ist kein vollwertiges Gerechtigkeitssubjekt. Die beiden Vermögen sind als Eintrittsbedingung nicht zuletzt aus dem Grund relevant, weil Rawls (1975, 21) von den Mitgliedern einer gerechten Gesellschaft erwartet, dass sie eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung aus eigenem Antrieb anerkennen, was von Tieren nicht zu erwarten ist. Fairness steht offenbar nur denen zu, die ande-

P. Niesen

ren ebenfalls Fairness zuteilwerden lassen wollen und können. Rawls schreibt die beiden Vermögen nur Menschen, aber auch allen Menschen zu, selbst wenn diese empirisch nicht in der Lage sein mögen, sie auszuüben. Auf die Schwierigkeit, die diese Weichenstellung für die Inklusion von Menschen präsentiert, deren Vernunftvermögen von Geburt an beeinträchtigt sind, kann ich hier nicht eingehen (vgl. Nussbaum 2010). Im Unterschied zur neueren tierethischen Debatte, die häufig die Lage von sogenannten human marginal cases heranzieht, um Tiergerechtigkeit zu plausibilisieren, nimmt Rawls keine Parallelführung der Diskurse vor. Umgekehrt wird heute gelegentlich für ausgewählte höhere Tierklassen die Verfügung über einen elementaren Gerechtigkeitssinn reklamiert; dies betrifft aber wenige und kontroverse Fälle, so dass im Folgenden von dieser Hypothese abgesehen wird. Es gibt zwei Leitinterpretationen des Urzustands, die sich die Inklusion von Tieren in eine Theorie Rawls’schen Typs unterschiedlich zurechtlegen. Schicksalsegalitäre Interpretationen stützen sich auf Rawls’ (1975, 346) Bemerkung, die Gerechtigkeitsprinzipien drückten die Auffassung aus, dass moralisch willkürliche Unterschiede nicht die Lebenschancen der Individuen prägen dürfen. Relationalistische Lesarten dagegen interpretieren Gerechtigkeit als Fairness als Reaktion auf bereits existierende (kooperative, politische, sowie Abhängigkeits-) Beziehungen innerhalb der Grundstruktur einer Gesellschaft. Die Textgrundlage spricht für die letzteren Lesarten, so dass sie unten ausführlicher erörtert werden sollen (III., IV.). Der Schicksalsegalitarismus (luck egalitarianism) knüpft an die Auffassung an, dass es niemandes Verdienst ist, reich oder arm, als Frau oder als Mann, innerhalb oder außerhalb staatlicher Grenzen geboren zu werden. Analog lässt sich einwenden, dass es sich um einen moralisch willkürlichen Unterschied handle, ob man als Mensch oder Tier geboren wurde. Es ist kein persönliches Verdienst, von Geburt an mit der Entwicklung der beiden moralischen Vermögen begabt zu sein (Rowlands 1997). Dagegen wird eingewandt, dass nicht-willkürliche Unterschiede

78  Tierpolitik und Tiergerechtigkeit

im moralischen Status zwischen Tieren und Menschen darauf beruhen, dass eine Vertragsmoral eben nur für rationale Wesen Ansprüche ableiten könne (Carruthers 1992). Methodisch lässt sich die Kontroverse unter Verweis auf das Überlegungsgleichgewicht auflösen, dem sich Rawls zufolge auch die philosophisch am besten begründete Gerechtigkeitskonzeption nicht verweigern darf. Am Ende der Theoriebildung soll eine Balance zwischen gefestigten Überzeugungen und abgeleiteten Ergebnissen stehen. Es kann sich selbst bei tief verwurzelten Überzeugungen wie der, dass Tiere keine vollwertigen Subjekte der Gerechtigkeit sind, nicht um mehr als einen „vorläufigen Fixpunkt“ (Rawls 1975, 37) handeln, der im Hinblick auf moralische und theoretische Argumente zu modifizieren sein kann. Allerdings werden tiefsitzende Intuitionen wie die kategorische Unterscheidung zwischen Tieren und Menschen in Bezug auf ihren moralischen Subjektstatus, die wir in allen modernen Gesellschaften antreffen, wegen ihrer Bedeutung für den politischen Konstruktivismus nur schwer veränderbar sein. Im Politischen Liberalismus bilden eine kleine Anzahl unterstellt unkontroverser, grundlegender Ideen die Basis der Konstruktion. Das Darstellungsmittel des Urzustands, das die Berücksichtigung moralisch willkürlicher Gesichtspunkte ausschließen soll, hängt somit von der tradierten Vorstellung der Person als eines freien und gleichen Mitglieds der politischen Gesellschaft mit den beiden höchstrangigen moralischen Vermögen ab. Wo diese Vorstellung nicht allgemein verbreitet ist, wie etwa im Fall religiös-hierarchischer menschlicher Gesellschaften, in denen die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht selbstverständlich ist, empfiehlt Rawls den Urzustand gar nicht erst zur Anwendung. In seinem Recht der Völker weist er so die Erwartung zurück, der Urzustand sei für alle Arten sozialer Beziehungen maßgeblich. Rawls’ charakteristische Methode einer gesellschaftsimmanenten Verankerung seiner Konzeption der Gerechtigkeit, sei es als Überlegungsgleichgewicht, sei es als Einbettung des Urzustands in bereits verbreitete Ideen, die „Bestandteil der öffentlichen politischen Kultur einer demokratischen Gesell-

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schaft“ sind (Rawls 1998, 79), lässt sich für eine Integration von Tieren in Beziehungen der Fairness offenbar nicht heranziehen. Dass der Urzustand nur in gesellschaftsimmanenter Einbettung aussagefähig sein soll, wird eine schicksalsegalitäre Sicht des MenschTier-Verhältnisses kaum beeindrucken. Rawls selbst gesteht zu, dass eine Gerechtigkeitskonzeption an wichtigen Anwendungsfällen, für die sie keine probate Lösung bietet, scheitern kann (ebd., 88). Könnten schicksalsegalitäre Ansätze außerhalb des Politischen Liberalismus auf einen freischwebenden Urzustand zurückgreifen, um Tiere als gleichberechtigte Subjekte zu repräsentieren? Gibt der Schleier des Nichtwissens dort, wo er den zu repräsentierenden Mitgliedern einer Gesellschaft ihre Speziesidentität vorenthält, ein geeignetes Mittel für die Konstruktion von Interspezies-Gerechtigkeit ab? Dass die Antwort auf diese Fragen negativ ausfällt, liegt an den Rechten und Gütern, die im Urzustand verteilt werden soll. Die durch den Schleier des Nichtwissens ausgedrückte Unparteilichkeit leitet auf vertragstheoretischem Weg gleiche Freiheitsrechte, gleiche politische Rechte samt ihres ‚fairen Werts‘, gleiche Lebenschancen, eine begrenzt ungleiche Wohlstandsverteilung und gleiche Grundlagen der Selbstachtung ab. Dass gerade diese Dinge es sind, die in der hypothetischen Vertragssituation zur Verteilung bereitstehen, lässt sich auf eine Liste von Grundgütern zurückführen, die Rawls als endliche Aufzählung von als unumstritten vorausgesetzten Allzweck-Mitteln, die allen Menschen in ihrem Leben etwas bedeuten und mit denen alle etwas anfangen können, begreift (Rawls 1975, 112; außerdem sollen die Güter in einem plausiblen Bezug zu den beiden höchstrangigen Vermögen stehen). Auch wenn diese Grundgüter charakteristisch für jedes nicht-verfehlte menschliche Leben sein mögen, sind sie doch von ungewissem Nutzen für nicht-menschliche Wesen. Zwar ist heute kaum noch umstritten, dass Tiere von Rechten und Freiheiten profitieren werden, aber zentrale, im Urzustand zu vergebende Güter wie etwa Chancen auf das Erreichen wichtiger gesellschaftlicher Positionen, die Verfügung über Privateigentum, die Aus-

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übung der Gewissens-, Religions- und Äußerungsfreiheit oder die Grundlagen der Selbstachtung sind nicht umstandslos als Güter für nicht-menschliche Wesen zu etablieren, geschweige denn eine Reihung zwischen ihnen festzulegen, die für Vertreter*innen von Menschen oder Tieren unstrittig wäre. Die Liste der Grundgüter ist der Öffnung und Veränderung zugänglich, aber das Verfahren setzt voraus, dass dieselben Güter für alle repräsentierten Wesen tauglich und attraktiv sind, und dass eine Rangordnung zwischen ihnen festgelegt werden kann. Selbst wenn sich zwischen rationalen Parteien, die Tiere oder Menschen hinter einem Schleier des Nichtwissens vertreten, ein Konsens über eine kurze Liste elementarer Rechte erzielen ließe, erschiene es unbegründet, den Parteien eine Verteidigung des Vorrangs des Rechten vor dem Guten, geschweige denn die lexikalische Vorordnung von Grundfreiheiten und Chancen über materielles Wohlergehen zuzutrauen. II. Wenngleich Rawls Tiere nicht in seine Gerechtigkeits- und Legitimitätskonzeptionen einbezieht, finden sich bei ihm zwei Varianten positiver normativer Aussagen über unser Verhältnis zu Tieren. In Eine Theorie der Gerechtigkeit bezieht er sich auf die Empfindungsfähigkeit von Tieren und auf die Problematik der Erhaltung von Arten. Die Fähigkeit von Tieren, Freude und Schmerz zu empfinden, verdiene Mitgefühl (compassion) und Menschlichkeit (humanity) – dies gilt offenbar gegenüber schutzbefohlenen ebenso wie wilden Tieren (Rawls 1975, 556). Es sei „gewiss moralisch falsch (wrong), Grausamkeiten gegenüber Tieren zu verüben“, heißt es in einem vorbereitenden Aufsatz von 1963 (Rawls 1999, 114, Ü. PN). Dort erwägt Rawls außerdem strikte moralische Pflichten zum Vorteil von Tieren, die stellvertretend für sie anderen Menschen geschuldet werden (ebd., 115). Diese kantianische Konstruktion, die erzwingbare Pflichten in Ansehung von Tieren gelten ließe, scheitert jedoch am Urzustand. Tiere können als indirekt berechtigte Wesen nicht im Urzustand repräsentiert werden, da die Parteien als wechselseitig desinteressierte Akteure externe Präferenzen, die sich auf das Wohl anderer Wesen richten, nicht berücksichtigen können.

P. Niesen

Wenn Rawls behauptet, „die Ausrottung einer ganzen Art [könne] ein großes Übel sein“ (1975, 556), so kann er sich nicht allein auf die die Empfindungsfähigkeit von Tieren und die Vermeidung von Grausamkeit stützen. Es ist unklar, worauf er sich in Eine Theorie der Gerechtigkeit berufen könnte, um den Verlust einer Art als intrinsisches Übel aufzufassen, da er den Umstand, dass die Angehörigen einer Art einer Konzeption des Guten nachgehen, nicht selbst moralisch privilegieren kann (vgl. dagegen Korsgaard 2021, 261). Im Politischen Liberalismus gilt die Erhaltung der Arten dagegen als ein funktionales Gut, während der Schutz empfindungsfähiger Einzeltiere keine Erwähnung findet. Arterhaltung und Biodiversität werden dort zu den ‚politischen Werten‘ gezählt, auf die in einem erweiterten öffentlichen Vernunftgebrauch zur Rechtfertigung von Rechtszwang zurückgegriffen werden kann. Die Erhaltung der Arten als politischer Wert verdankt sich ihrer instrumentellen Bedeutung, da sie als Wissensbasis oder mögliches Reservoir von Versuchstieren dem medizinischen Fortschritt dienen können. Biodiversität stellt eine notwendige Bedingung für die Existenz von Menschen auf der Erde dar. Damit wird ihre Erhaltung zu einer Bedingung der Gerechtigkeit, sobald sich Fairness auch auf zukünftige Generationen von Menschen erstrecken soll. Schließlich soll auch „der Erhalt der Schönheit der Natur“ als politischer Wert gelten, dient er doch „dem Zweck der öffentlichen Erholung und den Freuden eines tieferen Verständnisses der Welt“ (Rawls 1998, 352). Moralische Ansprüche von Tieren können Rawls zufolge also intrinsisch motiviert und ihnen direkt geschuldet sein; sie hängen auch nicht von bestehenden politischen oder sozialen Beziehungen ab. Sie richten sich aber ausschließlich an Individuen und erlauben keine Verknüpfung mit distributiven Elementen der Grundstruktur oder mit der politischen Zwangsordnung. Dort, wo Überlegungen zu Tieren und der Natur politisch-institutionelle Folgen haben sollen, beruhen sie sämtlich auf anthropozentrischer Grundlage. III. Tiere sind Rawls zufolge weder Gerechtigkeits-Geber noch Gerechtigkeits-Nehmer. Das-

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selbe gilt für die Möglichkeit ihrer egalitären Mitgliedschaft in demokratischen Gemeinwesen: Sie sind weder Subjekte noch Objekte politischer Legitimität. Legitimität ist eine Eigenschaft der politischen Beziehung zwischen den Mitgliedern ein- und desselben Gemeinwesens, die durch Rechtszwang und unfreiwillige Unterwerfung konstituiert wird. Die politische Beziehung erstreckt sich über das ganze Leben und kann im Normalfall nicht aufgegeben oder verlassen werden. Da nahezu alle Beziehungen zu empfindungsfähigen Tieren zwangsförmiger staatlicher Regelung unterliegen, die Menschen mal in ihrer Einflussnahme beschränken, mal ermächtigen, ist es aber gegen Rawls plausibel anzunehmen, dass sich die politische Beziehung als Unterwerfungsbeziehung auch auf Tiere erstreckt. Die meisten Tiere stehen mit Menschen unfreiwillig in zwangsförmig geregelten Beziehungen „innerhalb der Grundstruktur der Gesellschaft, in die wir nur durch Geburt ein- und nur durch den Tod austreten“ und in der wir normalerweise unser ganzes Leben verbringen (Rawls 1998, 221). Wenn wir unter der Grundstruktur einer Gesellschaft das System von Institutionen verstehen, in dem gesellschaftliche Positionen, Vorteile und Belastungen vergeben werden, so bestimmt sie die Lebensaussichten von Menschen wie Tieren gleichermaßen. Mit der Ausnahme grenzüberschreitender Spezies von Wildtieren wie Meeresbewohnern oder Zugvögeln, deren temporärer Aufenthalt in territorialen Hoheitsgebieten dennoch zwangsförmig eingefasst ist, unterliegen domestizierte wie wilde Tiere während ihres gesamten Lebens staatlicher oder zumindest staatlich lizensierter privater Zwangsgewalt, die ihre Lebenschancen umfassend prägt. Staatliche Zwangsmacht und Unterwerfung erlegen denjenigen, die sie ausüben, Rechtfertigungspflichten auf. Demokratien kommt dabei Rawls zufolge ein besonderer Status zu. In ihnen ist die politische Beziehung dadurch gekennzeichnet, dass die Bürger*innen selbst für die Ausübung von Rechtszwang und Unterwerfung verantwortlich sind, so dass sie einander in Fragen wesentlicher Verfassungsinhalte Rechtfertigungen innerhalb der Grenzen des „öffentlichen Vernunftgebrauchs“ schulden (ebd.,

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317). Aus Rawls’ Legitimitätskonzeption ergibt sich zunächst, dass Tieren kein status activus zukommen kann, da sie keine rechtfertigungsfähigen Akteure sind, die sich am öffentlichen Vernunftgebrauch beteiligen könnten. Sie sind keine Subjekte der Verfassung in dem Sinne, dass sie Rechenschaft für ihre Mitwirkung an der Auferlegung von Zwangsgesetzen geben müssten oder könnten. Aber auch in ihrem passiven Status, als politisch Unterworfene, legt die Unterwerfung von Tieren der Rechtfertigung von Zwangsgewalt offenbar keine besonderen Einschränkungen auf. Unser angemessenes Verhältnis zu Tieren und zur natürlichen Welt gehört, wie Rawls (ebd., 352) ohne weitere Begründung festhält, nicht zu den wesentlichen Verfassungsinhalten, so dass die Grenzen des öffentlichen Vernunftgebrauchs in der Erörterung unserer Behandlung von Tieren nicht eingehalten werden müssen. Während Amtsträger*innen und Bürger*innen in der Rechtfertigung fundamentaler Zwangsgesetze gegenüber menschlichen Mitbürger*innen nicht auf ihre jeweiligen Weltanschauungen zurückgreifen dürfen, gilt eine solche Einschränkung für das Verhältnis zu Tieren nicht. Hier dürfen in grundlegenden öffentlichen Auseinandersetzungen auch sektiererische religiöse, metaphysische oder moralische Ansichten und ihre nicht-politischen Werte herangezogen werden (ebd., 314 f.). In tierpolitischen Fragen ist es zulässig, dass Amtsträger*innen und Bürger*innen von ihrer jeweiligen Weltanschauung aus argumentieren. Rawls führt illustrativ die Lehre einer „natürlichen Religion“ an, die unsere „Stellung in der natürlichen Welt“ bestimmt und uns eine „dienende und pflegende Haltung“ gegenüber der Natur einnehmen lässt (Rawls 1998, 352). Wie das Beispiel zeigt, ist eine ökozentrische Position kein Grund, eine umfassende Lehre als unvernünftig zu charakterisieren. Auch metaphysisch voraussetzungsvolle Thesen darüber, ob Tiere Personen sind oder eine Seele haben (Nussbaum 2010, 517), sind grundsätzlich zulässig. Ebenso dürfte eine tierrechtliche Position, die sich auf die Empfindungsfähigkeit (sentience) stützt wie bei Ladwig (2020), genauso wie die von Rawls angeführten

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Beispiele des Kantianismus, des römischen Katholizismus nach Vatikanum II., indirekte Versionen des Utilitarismus oder moderate Varianten des Islam, zu den nicht unvernünftigen, zumindest teilweise umfassenden Lehren gehören, aus denen heraus Bürger*innen in fundamentalen Fragen des Mensch-Tier-Verhältnisses ihren öffentlichen Standpunkt begründen können. Die tierpolitischen Standpunkte einiger nicht unvernünftiger Weltanschauungen werden aber – aus einander wechselseitig intransparenten Gründen – vielfältige Nutzungen und Verwertungen von Tieren, selbst Grausamkeiten ihnen gegenüber erlauben. Dies wirft die Frage nach Standards auf, an denen sich aus der Sicht von Rawls die öffentliche Deliberation über die Behandlung von Tieren ausrichten sollte. Wie wäre zu beurteilen, wenn ein wiedergeborener René Descartes Tieren allen Ernstes die Empfindungsfähigkeit abspräche, um für alle möglichen Arten ihrer Vernutzung einzutreten? Oder wenn behauptet wird, wir sollten keine niedlichen (cute) Tiere essen (Bell/Pei 2020, 168), andere aber schon? Um eine politische Konzeption der Legitimität auf unser Verhältnis zu Tieren auszuweiten, kann Rawls zufolge nicht gefordert werden, sich auf den Bereich gemeinsam anerkannter politischer Werte zu beschränken. Das heißt aber nicht, dass vernünftige Bürger*innen einander keine Beschränkung auf nicht unvernünftige Lehren und Sichtweisen abverlangen dürfen. Dass vernünftige Meinungsverschiedenheiten über den Status von Tieren innerhalb der politischen Beziehung existieren, heißt nicht, dass alle Positionen zulässig wären (Zuolo 2020, 30). Zum Vermögen praktischer Vernünftigkeit gehört, die Bürden des Urteilens anzuerkennen und bleibende theoretische und evaluative Differenzen in Rechnung zu stellen (Rawls 1993, 127), aber ebenso, selbst keine manifest unvernünftigen Positionen zu vertreten. Das heißt, dass wissenschaftlich diskreditierte und moralisch inkonsistente Positionen ebenso wie offen oder verdeckt eigeninteressierte für die Zwangsrechtfertigung auch außerhalb des Kernbereichs der Verfassung, etwa in legislativen politischen

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Diskursen, keine Rolle spielen dürfen. Sie sind uns als Bürger*innen wechselseitig unzumutbar, wenn wir eine Ausweitung politischer Legitimität auf unsere politische Beziehung zu Tieren anstreben. Damit wären die kartesische Position und die Privilegierung der Niedlichen ausgeschlossen. Zuolo (2020, 138) argumentiert, dass eine Positivliste nicht offensichtlich unvernünftiger Sichtweisen übrigbleibt, die subjektivitätstheoretische, pathozentrische, relationalistische, umweltethische und humanitäre Auffassungen enthält und eine kleine, aber robuste Schnittmenge zugunsten des Tierschutzes aufweisen wird. Diese Strategie der Ausweitung wirft allerdings zwei Schwierigkeiten auf. Erstens wird Rawls zuweilen so verstanden, als lasse Gerechtigkeit als Fairness überhaupt keine freiheitseinschränkenden Zwangsgesetze zugunsten von Tieren zu, insofern sich diese nicht auf Argumente des öffentlichen Vernunftgebrauchs oder Gerechtigkeitsargumente stützen können. Umfassende Lehren, religiös wie säkular, pochen darauf, dass ihre Konzeptionen des guten Lebens die rechtliche Zulässigkeit von problematischen Praktiken gegenüber Tieren erfordern und erklären Tiere zu rechtlosem Privateigentum. Die im Urzustand gerechtfertigten menschlichen Grundfreiheiten werden dann so verstanden, als ob sie Willkürfreiheit im Verhältnis zu Tieren beinhalteten (Garner 2012, 163 f.). Hier ist vor allem das Missverständnis zu vermeiden, der Vorrang der Grundfreiheiten enthalte so etwas wie einen libertären Primat, der besonderen Begründungsaufwand einforderte, wenn die Willkür von Menschen zugunsten der Lebensbedingungen von Tieren eingeschränkt werden soll. Aus dem Umstand, dass das erste Gerechtigkeitsprinzip Grundfreiheiten für Menschen ableitet und Tiere weder Gerechtigkeitssubjekte noch Subjekte der Verfassung sind, wird aber fälschlich geschlossen, dass die Behandlung von Tieren im Freiheitsbereich der Einzelnen liegt, in den der Staat nicht eingreifen darf. Aus dem Urzustand folgt kein Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit und kein uneingeschränktes Recht auf Privateigentum, und die wirtschaftliche Nutzung von Tieren gehört

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wie andere unternehmerische Tätigkeiten nicht zu den Grundfreiheiten. Zweitens könnte im Hinblick auf die Inklusion von Tieren in die politische Beziehung der folgende Einwand erhoben werden. Stellt sich das charakteristische Problem der politischen Beziehung überhaupt im Verhältnis zwischen Menschen und Tieren? Die Ausübung von dauerhaftem Zwang und unentrinnbarer Unterwerfung ist Menschen gegenüber rechtfertigungspflichtig, weil sie freie und gleiche Personen sind. Ihre Ausstattung mit zwei höchstrangigen moralischen Vermögen erklärt, was pro tanto falsch oder problematisch an Zwang und Unterwerfung ist. Insofern aber Tieren kaum Autonomiefähigkeit und Autonomiebedürfnis zugeschrieben werden (Cochrane 2012), passt dieses Argument nicht auf sie. Offensichtlich leiden sie unter vielen Formen von Zwang und Unterwerfung ebenso wie Menschen, da ihnen ein elementarer Bewegungsspielraum, ihre körperliche Unversehrtheit oder schlicht ihr Leben vorenthalten wird. Aber die Verletzung durch Einsperren, Leiden oder gewaltsamen Tod wirft nicht dasselbe Problem auf, das die politische Zwangsbeziehung für Menschen bedeutet, nämlich dass sie die Ausbildung und den Gebrauch der beiden moralischen Vermögen verletzen kann (Taylor Smith 2020, 292). Die pathozentrische Prämisse, nach der die Zufügung von Leid und die Frustration von Interessen immer pro tanto falsch sind, egal welches Wesen sie betreffen, bezeichnet weder das Problem der politischen Beziehung noch einen politischen Wert, noch besteht innerhalb der nicht unvernünftigen Lehren über sie Übereinstimmung. Wenn der Einschluss in die politische Beziehung für Tiere aufgrund ihrer fehlenden Autonomiefähigkeit nicht offensichtlich problematisch ist, erfordert die Lokalisierung des Problems einen Perspektivenwechsel. Dazu müssen wir auf den demokratischen Charakter der inkludierenden Gesellschaft zurückgehen. Das Problem der politischen Beziehung in der Demokratie, das Rawls zufolge eine Rechtfertigungspflicht auslöst, liegt nicht darin, beherrscht zu werden, ohne mitreden zu können, wie dies in anderen Varianten des all-subjected-

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persons-Prinzips der Fall ist (Owen 2012). Es liegt darin, Herrschaft auszuüben, ohne in der Lage zu sein, Rechenschaft dafür abzulegen. Wir haben gesehen, dass ein politisches Gemeinwesen gar nicht anders kann, als die Gewaltverhältnisse zu Tieren zwangsförmig zu ordnen, so dass die Bürger*innen „in letzter Instanz“ Zwangsgewalt nicht nur übereinander, sondern auch über die Tiere ausüben (Rawls 1998, 315). Da sie faktisch herrschen, werden sie sich aus demokratischen Gründen voreinander und vor der tierlichen Perspektive verantworten wollen. Die Rechtfertigung voreinander und den Tieren verpflichtet sie auf das Vorbringen nicht unvernünftiger Gründe (nicht jedoch, wie wir oben gesehen haben, auf allein politische Werte innerhalb der Grenzen des öffentlichen Vernunftgebrauchs). Damit dies kein bloßer Lippendienst bleibt, muss Tieren eine institutionelle Position innerhalb derjenigen Instanzen verschafft werden, die über die Auferlegung von Zwang entscheiden. Um von Rechtfertigung innerhalb der politischen Beziehung überhaupt reden zu dürfen, müsste eine überprüfbare Inklusion von Tieren als Adressaten der Rechtfertigungsgemeinschaft vorgenommen werden. Dies wirft epistemische und institutionelle Fragen auf, die allein im Rahmen einer Theorie demokratischer Repräsentation von Tieren abgearbeitet werden können (Donaldson/Kymlicka 2013). IV. Der vielversprechendste Versuch, Tieren in Rawls’ Systemarchitektur einen Ort zu verschaffen, setzt bei der Idee der politischen Gesellschaft als eines fairen Systems der Kooperation an. Bevor noch über das Design des Urzustands oder mögliche Alternativen zu ihm nachgedacht wird, lässt sich die Frage aufwerfen, wie eine institutionelle Grundstruktur sozialer Kooperation aussehen soll. Ein faires System erfordert, dass niemand, der etwas investiert hat, leer ausgeht. Ihm liegt ein Ideal der Reziprozität zugrunde, das besagt, man dürfe „bei der Zusammenarbeit nicht die Früchte fremder Anstrengungen in Anspruch nehmen, ohne selbst seinen fairen Anteil beizutragen“ (Rawls 1975, 133), und das in dieser intuitiven Fassung den Beteiligten weder Vernünftigkeit noch moralische Statusgleichheit unterstellt.

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Der Urzustand führt dann weiter aus, was dieses Ideal in seiner Anwendung auf eine Gesellschaft von freien und gleichen Bürger*innen, die über die beiden moralischen Vermögen verfügen, genau heißen soll. Die grundlegende Idee fairer Reziprozität kann aber bereits für eine Situation herangezogen werden, in der eine dauerhafte Kooperation zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Spezies stattfindet, die in Bezug auf ihre Fähigkeiten und ihren Status nicht alle als Freie und Gleiche eingeschätzt werden. Für Rawls ist soziale Kooperation eine Praxis des wechselseitigen Vorteils, da „die gesellschaftliche Zusammenarbeit allen ein besseres Leben ermöglicht, als wenn sie nur auf ihre eigenen Anstrengungen angewiesen wären“ (ebd., 20). Dem liegen empirische (‚objektive‘) und normative Annahmen zugrunde. Objektiv sei es so, dass niemand außerhalb eines Systems sozialer Kooperation „ein befriedigendes Leben haben“ könne (ebd., 124). Normativ erzeuge soziale Kooperation die legitime Erwartung, bei der Verteilung der Früchte gemeinsamer Anstrengungen berücksichtigt zu werden. Tiere tragen auf vielfältige Weise dazu bei, dass unser Leben besser verläuft als ohne sie. Arbeitende Tiere wie Zug- und Transporttiere, auch Polizei- und Blindenhunde sind Teil eines produktiven gesellschaftlichen Zusammenhangs. Aber Arbeit ist nicht der einzige Beitrag, den Tiere leisten, auch tierliche Produkte wie Schafwolle, Milch und Leder und der Einsatz von Tieren in der Forschung zählen dazu. „All diese Tiere in Farmen, in Versuchslaboren, in Zoos, in unseren Häusern und Wohnungen und so weiter erbringen einen Beitrag zum Funktionieren unserer Gesellschaft, und sollten daher als Mitglieder einer kooperativen Gesellschaft einbezogen werden“ (Cochrane 2010, 56). Bereits unter Rawls’ enger Vorstellung von Kooperation im Rahmen eines gesellschaftlichen Produktionszusammenhangs ist mithin klar, dass Interspezies-Gesellschaften die Früchte gemeinsamer Praxis säen und ernten, offensichtlich allerdings unter höchst einseitigen und ausbeuterischen Bedingungen. Ergibt sich daraus der paradox erscheinende Befund, dass Tieren Gerechtigkeitsansprüche zuteilwerden, solange

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sie sich von Menschen ausbeuten lassen, und nicht länger (Garner 2012, 171)? Rawls zufolge setzt soziale Kooperation Arbeit oder eine andere Art des Beitrags voraus, die in ein produktives System eingebracht werden. In einer berühmten Passage behauptet er, dass „diejenigen, die den ganzen Tag vor Malibu surfen […] keinen Anspruch auf öffentliche Mittel“ hätten (1999, 455, Ü. PN). Analog scheint das kooperationsbasierte Argument auf solche Tiere nicht anwendbar, für die wir Menschen nichts tun und die für uns keine Leistungen erbringen. Sollten wir aufhören, Milchkühe zu Nahrungszwecken zu halten, bestünden ihnen gegenüber nur mehr moralische und Legitimitätspflichten, keine Pflichten der Gerechtigkeit. Aus ökozentrischer Perspektive wird dieser Unterschied dadurch unterlaufen, dass Menschen und Tiere als permanent in vielfältige, unüberschaubare symbiotische Prozesse eingebunden angesehen werden (Coeckelbergh 2009). Der Umstand, dass wir in Symbiose mit Insekten leben, die Obstbäume bestäuben, verpflichtet uns aber ihnen gegenüber zumindest nicht auf dieselbe Weise wie unsere Haltung von Nutztieren, denen wir eine bestimmte Lebensweise aufzwingen und mit denen uns eine gemeinsame Praxis verbindet. Der Nachteil einer systemischen Sicht auf ein symbiotisches Verhältnis der Arten liegt vor allem darin, dass sie die Normativität von Kooperationsbeziehungen ausschaltet, denen man sich im Prinzip auch entziehen können muss. Der Ausstieg aus kooperativen Verhältnissen muss zumindest hypothetisch möglich sein, um zwischen unabhängigen moralischen Anforderungen und Ansprüchen aus Kooperation unterscheiden zu können. In einer weiteren Hinsicht ähnelt aber die systemisch-symbiotische Sichtweise der Rawlsschen Konzeption sozialer Kooperation. Sie gibt keine Auskunft darüber, wann tierliche Teilnehmer an Kooperation aus ihr reformistische Ansprüche ableiten können, so dass Ausbeutung in faire Kooperation transformiert werden kann, und wann es sich um unrettbar ausbeuterische Verhältnisse handelt, die beendet werden müssen, weil keine Hoffnung auf wechselseitigen Vorteil besteht. Hier gibt die Tierrechtstheorie

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klare, apriorische Urteile ab, weil sie von vornherein weiß, was Menschen Tieren auf keinen Fall antun dürfen (Ladwig 2020), während eine an Rawls orientierte Konzeption der MenschTier-Kooperation ergebnisoffen angelegt wäre. Eine weitere Präzisierung dessen, was unter sozialer Kooperation zu verstehen ist, hat Rawls auf die feministische Kritik von Susan Moller Okin und anderen hin vorgenommen. In Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf betont er, dass auch „reproduktive Arbeit gesellschaftlich notwendige Arbeit ist“ (Rawls 2003, 251, Ü. geändert PN) und erkennt die Koexistenz von Kooperation und Abhängigkeit an. Tiere und Menschen sind in vielfachen Hinsichten aufeinander angewiesen, so dass sich neben produktiven Kooperationsbeziehungen auch solche der Pflege, der Aufzucht und der Sorge finden, die Gerechtigkeitsforderungen und politische Ansprüche aus sich entlassen könnten. Die Beziehungen zu Haushunden etwa lassen sich durchgehend als Kooperationsbeziehungen beschrieben, da sie auch dort, wo diese nicht als Polizei-, Militär- oder Blindenhunde spezifizierten Tätigkeiten nachgehen, oftmals für die „Senkung von Stress, körperliche Bewegung, gute soziale Beziehungen und ein Gefühl der Sicherheit“ sorgen (Valentini 2014, 43). Eine derartige Erweiterung des Kooperationsbegriffs wirft allerdings die Frage auf, ob es sich bei den häuslichen Beziehungen zwischen Menschen und Tiergefährten um gesellschaftsweite soziale Kooperation handelt, d. h. wie sich die relevante Gruppe, die miteinander lebenslang kooperiert, identifizieren lässt. Zwar sorgt die politische Ordnung für den gesetzlichen Rahmen des MenschHaustier-Verhältnisses, aber es ist die Grundstruktur der Familie, als deren dauerhafte und exklusive Mitglieder Haustiere (im Unterschied zu heranwachsenden Kindern) leben, aus der sie Ansprüche ableiten und an die ihre Ansprüche aus Kooperation allererst zu richten wären. Zwei aussichtsreiche Möglichkeiten, Tieren als sozial kooperierenden Wesen im Rahmen von Rawls’ Theoriearchitektur zu ihrem Recht zu verhelfen, sind in jüngerer Zeit verfolgt worden. Auf unterschiedliche Weise lässt sich dabei

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an seine Gerechtigkeitstheorie und seine Demokratietheorie anknüpfen. Einerseits könnten sich aus sozialer Kooperation Gerechtigkeitsansprüche in Form von Rechten für Tiere ableiten lassen, andererseits auf dem Umweg über politische Mitgliedschaft Maßnahmen gegen ihre Ausbeutung gewährleistet werden. Luise Müller wählt den ersten Zugang und argumentiert, dass Tieren aus sozialer Kooperation ein Anspruch auf basale Rechte erwächst. Tatsächlich führt Rawls als Grund für die Existenz von universellen Menschenrechten die Rolle an, die sie in Systemen sozialer Kooperation spielen. Im Recht der Völker behauptet er, „dass ein Set basaler Rechte derjenige institutionelle Mechanismus sei, der soziale Beziehungen stabilisiere, denn basale Rechte seien konstitutiv – eine ‚notwendige Bedingung‘ – für soziale Kooperation“ (Müller 2020, 37; vgl. Rawls 2002, 80). In einer Sklavenhaltergesellschaft, so Rawls, könne von sozialer Kooperation keine Rede sein. Die Rechte, die sich für Tiere von ihrer Teilhabe an sozialer Kooperation ableiten lassen, seien dann funktional zu verstehen: Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf soziale Absicherung wie Gesundheitsfürsorge und Altersversorgung dienten zum Erhalt der Kooperationsfähigkeit und der Würdigung der Kooperation. Damit zeichnete eine erweiterte Rawlssche Gerechtigkeitstheorie in ihren Ergebnissen den Umfang der moralisch-naturrechtlichen Tierrechtstheorie nach und ergänzte sie um distributive Ansprüche. Ein Vorteil dieser Lesart liegt darin, dass sie soziale Kooperation jenseits der Unterstellung moralischer Gleichheit denkt und daher mit differentiellen Ansprüchen für Menschen und Tiere verträglich ist. Müller weist auch zu Recht darauf hin, dass soziale Kooperation nicht notwendigerweise und durchgehend als freiwillig vorgestellt werden muss, um Ansprüche für die Beteiligten zu erzeugen. Ihre Interpretation setzt allerdings voraus, dass soziale Kooperation mit Tieren demselben Muster folgt wie die Kooperation mit Menschen. Aus der Zurückweisung einer Sklavenhaltergesellschaft folgt aber noch nicht, wel-

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che Rechte für genuin soziale Kooperation zwischen den Spezies notwendig unterstellt werden müssen. Dass in einer menschlichen Gesellschaft soziale Kooperation ausgeschlossen ist, wenn einige Menschen Privateigentum anderer sind, impliziert beispielsweise noch nicht, dass mit Tieren als Privateigentum keine soziale Kooperation möglich ist. Ebenso unterläuft die gerechtigkeitstheoretische Ableitung tierlicher Rechte den demokratischen Charakter von Rawls’ Legitimitätskonzeption, indem sie erzwingbare Rechte auf der Basis von sozialer Kooperation direkt, ohne Rekurs auf Prozesse legitimer Gesetzgebung zuschreibt. Alle erzwingbaren Ansprüche müssen aber durch das Nadelöhr demokratischer Rechtfertigung hindurch. Der andere aussichtsreiche Ansatz versucht daher, mit Rawls einen Zusammenhang zwischen sozialer Kooperation und der Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen herzustellen. Die begriffliche Beziehung zwischen Kooperation und Bürgerstatus (citizenship) ist bereits in Eine Theorie der Gerechtigkeit präsent und dient seit Rawls’ politischer Wende in den mittleren 1980er Jahren als Fundament seiner Theorieanlage. Gerechtigkeit als Fairness „beginnt“ mit der Vorstellung der Gesellschaft als eines fairen Systems der Kooperation und „nimmt eine Konzeption der Person an, die zu dieser Vorstellung passt“. Eine Person ist jemand, der oder die „am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, oder in ihm eine Rolle spielen kann, und dementsprechend unterschiedliche Rechte und Pflichten ausüben und respektieren kann. Daher sagen wir, dass eine Person jemand ist, der ein*e Bürger*in sein kann, d. h. ein ganzes Leben lang ein vollständig kooperierendes Mitglied der Gesellschaft sein kann“ (Rawls 1999, 397, Ü. PN). Der Bürgerstatus geht nicht in Arbeit und produktiver Aktivität auf, sondern äußert sich ebenso in politischen Praktiken der Rechtfertigung, Entscheidung und Erzwingung. Um ihre kooperativen Ansprüche mit legitimer politischer Zwangsbefugnis zu versehen, ist

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mithin notwendig, einen politischen Mitgliedschaftsstatus für Tiere zu entwickeln. Die bahnbrechende Arbeit zum Thema Bürgerstatus für Tiere ist Donaldson/Kymlickas Zoopolis (2013). Die kanadischen Philosophinnen leiten diesen Status aus den historischen Abhängigkeitsverhältnissen ab, in denen domestizierte Tiere mit uns leben, wobei sie dem Gesichtspunkt sozialer Kooperation nur flankierende Bedeutung zuschreiben. Zwar sehen sie domestizierte Tiere als potentielle „Mitglieder eines gerechten kooperativen Schemas“ (2014, 204) an, für das Menschen sie allererst gezüchtet haben. Gleichzeitig greifen sie auf das Unterwerfungsargument in einer historischen Lesart zurück, schließlich „brachten wir [die domestizierten Tiere] als eine beherrschte Kaste in unsere Gesellschaft” (ebd.). Donaldson und Kymlicka zielen auf Legitimität ebenso wie auf Gerechtigkeit, indem sie die Mitgliedschaft von Tieren in Form von Repräsentationsrechten und sozialen Ansprüchen auf Gesundheitsfürsorge und Ruhestand denken. Auf der Basis ihrer Konzeption ließe sich argumentieren, dass politische Unterwerfung auch ohne soziale Kooperation Ansprüche erzeugt, so dass politische Repräsentation, nicht aber soziale Vollmitgliedschaft auch für wilde Tiere in Frage kommt. Sie überblenden dabei mit dem Argument sozialer Kooperation und dem Argument historischer Ungerechtigkeit allerdings ideale und nicht-ideale Theorieelemente, die Rawls separat behandelt, und greifen auf vorgängige natürliche Tierrechte zurück, die einer Rawlsschen Konzeption fremd sein müssen. Die ausstehende Herausforderung für einen Rawlsschen Ansatz in der Politik des Mensch-Tier-Verhältnisses besteht mithin darin, die Perspektive von unterworfenen oder sozial kooperierenden Tieren in die repräsentative Einrichtung der politischen Institutionen aufzunehmen. Erst von dort aus ließe sich beantworten, wie legitimer politischer Zwang über sie ausgeübt und welche Formen der Kooperation ausbeutungsfrei gestaltet werden können.

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621 Nussbaum, Martha: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin 2010. Owen, David: Constituting the polity, constituting the demos. In: Ethics and global politics 5/3 (2012), 129– 152. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1975 (engl. 1971). Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1993). Rawls, John: Collected papers. Hg. Samuel Freeman. Cambridge, Mass. 1999. Rawls, John: Das Recht der Völker. Berlin 2002 (engl. 1999). Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf. Hg. Erin Kelly. Berlin 2003 (engl. 2001). Rowlands, Mark: Contractarianism and animal rights. In: Journal of Applied Philosophy 14/3 (1997), 235–247. Taylor Smith, Patrick: Rawls and animals: a defense. In: Jon Mandle/Sarah Roberts-Cady (Hg.): John Rawls. Debating the major questions. Oxford 2020, 285– 299. Valentini, Laura: Canine justice: an associative account. In: Political Studies 62/1 (2014), 37–52. Zuolo, Federico: Animals, political liberalism, and public reason. Basingstoke 2020.

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Umweltethik Felix Ekardt und Anna Winter

Die Umweltethik ist der Bereich der Praktischen Philosophie, der sich mit der gerechten Ordnung der Gesellschaft respektive dem richtigen menschlichen Verhalten bezogen auf die natürlichen Lebensgrundlagen beschäftigt. Heute ist oft auch von Nachhaltigkeitsethik die Rede, wobei Nachhaltigkeit das Ziel meint, so zu leben und zu wirtschaften, dass es auf Dauer (intertemporal) und grenzüberschreitend (global) durchhaltbar ist. Aktuell ist zudem speziell Klimaethik bzw. Klimagerechtigkeit häufig im Fokus, wobei freilich mitunter verkannt wird, dass nicht nur der Klimawandel, sondern auch Biodiversitätsverluste, gestörte Stickstoffkreisläufe, Bodendegradation sowie luft- und wasserbezogene Umweltprobleme existenziell bedrohlich (und ökonomisch verheerend) für die Menschheit sein können. Wesentlicher Treiber letztlich aller genannten Probleme ist die Nutzung der fossilen Brennstoffe Kohle, Gas und Öl in den Sektoren Strom, Wärme, Mobilität, Landwirtschaft, Kunststoffe und Zement, begleitet von weiteren Faktoren wie Produktion und

F. Ekardt (*)  Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Winter  Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

Konsum tierischer Nahrungsmittel sowie dem Pestizideinsatz. Ethik und Recht – letzteres allerdings konkreter und zudem sanktionsbewehrt – stehen mit alledem vor der Frage, welcher Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen respektive den Freiheitsvoraussetzungen der Menschen gesollt ist (zum Ganzen Ekardt 2016; Ekardt 2019). Rawls entwickelt in seiner Gerechtigkeitskonzeption keine explizite Umweltethik, obwohl die Umweltdebatte zum Zeitpunkt des Erscheinens seiner Theorie der Gerechtigkeit speziell in den USA bereits in vollem Gange war. Auch zu späteren Zeitpunkten hat er diese Auslassung nie korrigiert. Rawls sieht die intertemporale Gerechtigkeit als Frage, meint aber, sie letztlich durch seine sonstigen Gerechtigkeitsgrundsätze (das Freiheits- und das Differenzprinzip) bereits beantwortet zu haben. In seinem Differenzprinzip, also in der Aussage, dass die Gerechtigkeit trotz sozialer Verteilungsungleichheiten zum größtmöglichen Vorteil der sozial Schwachen organisiert werden solle, sei nämlich ein gerechter Spargrundsatz enthalten. Der Spargrundsatz soll gebieten, dass jede Generation der nächsten genau das zurückzulassen habe, worauf sie selbst mit guten Gründen Anspruch erheben würde (Rawls 1975: 319–327). Darauf sowie allgemein auf Rawls’ Gerechtigkeitsdenken hat der umweltethische Diskurs indes öfter Bezug genommen, wie im Folgenden zu verdeutlichen ist.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_79

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Diskursentwicklung: Vorsorgeprinzip Ein auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene verankerter Ansatz ist das Vorsorgeprinzip. Es rechtfertigt – oder verpflichtet zu – vorbeugende(n) Maßnahmen gegen kumulativ oder langfristig schädliche sowie selbst gegen (gänzlich oder in Detailfragen) unsichere Gefährdungslagen wie den Klimawandel oder Schadstoffexpositionen. Relevant wird dieses Prinzip, wenn – wie stets in der Politik – reale Entscheidungen in Abwägung verschiedener Belange (z. B. verschiedener Freiheitsgarantien) ergehen, wie dies gerade für den Umweltschutz im Konfliktfeld von Unternehmens- und Konsumentenfreiheit einerseits und dem Schutz der elementaren Freiheitsvoraussetzungen andererseits gängig ist. Insoweit wurde verschiedentlich auf Rawls’ Differenzprinzip und den MaximinAnsatz Bezug genommen, um zu begründen, dass das Vorsorgeprinzip in bestimmten Situationen den Staat zum Handeln verpflichtet und in anderen nicht. In der kontroversen Diskussion um Grund und Reichweite des Vorsorgeprinzips hat beispielsweise Stephen Gardiner (2006) ein rawlsianisches zentrales Vorsorgeprinzip (RZVP) zu formulieren versucht. Unter Vorsorge versteht Gardiner (vager als oben artikuliert), dass das Eintreten zentraler Bedrohungsszenarien durch Maßnahmen verhindert wird. Zur Bestimmung dieser zentralen Fälle bedarf es eines Kriterienkatalogs. Anhand der Kriterien sind die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips und die Grenze notwendiger Maßnahmen festzulegen. Für sein RZVP wendet Gardiner die Rawlsschen Kriterien für das Maximin-Prinzip an. Beim Maximin-Prinzip werden Entscheidungsoptionen nach dem günstigsten Worst-Case-Szenario ausgewählt. Nach dem RZVP sind Maßnahmen notwendig, wenn ein Bedrohungsszenario (Gardiner schließt Fälle aus, die so unwahrscheinlich sind, dass man sie intuitiv vernachlässigen würde) einhergeht mit den Rawlsschen Maximin-Kriterien: mögliche untragbare Folgen I), kein Interesse an potentiellen Gewinnen II), Ungewissheit über Reichweite und Eintrittswahrscheinlichkeiten III). Im Fall eines dergestalt

F. Ekardt und A. Winter

vorliegenden Bedrohungsszenarios sind Maßnahmen in dem Umfang zu ergreifen, in dem sie notwendig sind, um die untragbaren Folgen abzuwenden. Gardiner verweist zugleich auf eine utilitaristische Kritik an Rawls: Das MaximinPrinzip werde unplausibel, sobald das WorstCase-Szenario sehr unwahrscheinlich ist. Ein Beispiel dafür wäre, wenn man ein Jobangebot ablehnt, weil man fliegen müsste und das WorstCase-Szenario eines Flugzeugabsturzes ausschließen will. Gardiner verweist dazu auf die Differenzierung zwischen Risiko (mögliche Ereignisse und ihre jeweiligen Wahrscheinlichkeiten sind bekannt), Unsicherheit (die möglichen Ereignisse sind bekannt, nicht aber ihre Eintrittswahrscheinlichkeit) und Unwissenheit (keine Wahrscheinlichkeiten bekannt, keine abschließende Gewissheit über mögliche Ausgänge). Um das RZVP anzuwenden, muss eine gewisse Kenntnis über mögliche Ausgänge und ihre Eintrittswahrscheinlichkeit vorliegen. Nach Gardiner gibt es Fälle, in denen die Plausibilität des RZVP intuitiv auf der Hand liegt. Ein Beispiel seien Versicherungen. Damit ein Versicherungsunternehmen rentabel ist, müssen die Beiträge höher angesetzt werden als basierend auf Wahrscheinlichkeit und Kosten einer Zahlung notwendig. Dennoch ist es eigennutzenrational, eine Versicherung abzuschließen, vor allem dann, wenn die Folgen eines eintretenden Schadens ohne Versicherung untragbar wären. Ebenso vertritt Gardiner die Auffassung, dass die Anwendungsfälle des Vorsorgeprinzips im Umweltschutz häufig die Rawlsschen Kriterien zur Anwendung des Maximin-Prinzips erfüllen. Am Beispiel des Klimawandels, dessen Konsequenzen sich in einem komplexen Zusammenspiel ergeben, wird deutlich, dass die möglichen Ausgänge, die Eintrittswahrscheinlichkeit potenzieller Folgen, der Zeitpunkt, zu dem sie eintreten und ihr Ausmaß sich nicht sicher bestimmen ließen. Damit sei die Ungewissheit über die Wahrscheinlichkeiten möglicher Ausgänge gegeben und angesichts der voraussichtlich desaströsen Klimaschäden lägen die möglichen untragbaren Folgen ebenfalls vor. Das Kriterium eines geringen Interesses, mehr als das Minimum zu erzielen, sieht Gardiner in-

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sofern als gegeben an, als die absoluten Kosten des Klimaschutzes zwar hoch seien, aber dennoch tragbar wären, besonders im Kontrast zu den Kosten von Klimawandelfolgeschäden. Das RZVP sei eine hilfreiche Strategie, um die zentralen Anwendungsfälle des Vorsorgeprinzips zu charakterisieren. Gleichwohl könnte unterschiedlich beurteilt werden, inwiefern ein potenzieller Ausgang untragbar wäre oder in welchen Fällen von geringem Interesse an Gewinnsteigerung zu sprechen sei. Ein alternativer, ebenfalls als Reaktion auf Rawls verstehbarer Entwurf für eine Konkretisierung des Vorsorgeprinzips neben dem RZVP ist das Antikatastrophenprinzip (AKP) von Cass Sunstein (2007). Das AKP sollte laut Sunstein angewendet werden, um das Eintreten katastrophaler Risiken unbestimmbarer Wahrscheinlichkeit zu verhindern, sofern Menschen davon bedroht werden. In diesen Fällen solle nach dem Maximin-Prinzip entschieden werden, um das Eintreten von Worst-Case-Szenarien zu verhindern. Das Maximin-Prinzip ist laut Sunstein geeigneter für Situationen der Ungewissheit als bei klar benennbaren Risiken. Nach Gardiner muss ein Risiko eine gewisse Plausibilitätsschwelle überschreiten. Sunstein wendet ein, wenn ein Risiko sehr unwahrscheinlich ist, aber auch besonders leicht verhindert werden kann, sollten entsprechende Maßnahmen ergriffen werden. Er räumt jedoch ein, dass es kaum vorkommt, dass Maßnahmen, die zur Verhinderung einer Katastrophe geeignet sind, keine Kosten verursachen. Angesichts katastrophaler und ungewisser Folgen sei Vorsorge auch bei hohen Kosten und einem Interesse an möglichen Gewinnen geboten. Sunstein spricht sich insoweit dafür aus, das Kriterium geringen Interesses an möglichen Gewinnen aus Gardiners Ansatz auszuschließen und damit anders als Gardiner (und Rawls) stärker zu einer Gesamtabwägung aller Vor- und Nachteile einer Entscheidung zu kommen, indem das Kriterium, welches dies ausschließt, fallengelassen und allein die Ungewissheit und die großen Schäden zur Voraussetzung für die Anwendung des Vorsorgeprinzips gemacht werden. Wesentlich sei dann, welche Kosten man im Dienste des Maximin-Prinzips

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zu zahlen bereit ist. Schwierigkeiten mit der Zuordnung von Prioritäten können sich, so Sunstein, dann ergeben, wenn man sich mehreren Gefahren ausgesetzt sieht und die Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten mancher Ereignisse bekannt sind, während über andere mögliche Folgen Ungewissheit besteht. All das gelte vor allem, sofern keine hohen Kosten entstehen und die Ressourcen nicht an anderer Stelle dringender gebraucht werden. Verteilungsfragen seien ebenfalls zu berücksichtigen. Sowohl Gardiners als auch Sunsteins Ansatz beinhaltet die Anwendung des Rawlsschen Maximin-Prinzips auf das Vorsorgeprinzip. Greg Bognar (2011) entwirft dazu, wiederum in Auseinandersetzung mit Rawls, einen alternativen utilitaristisch-prioritären Ansatz, wobei er Sunsteins Gedanken stärkt, dass letztlich eine Gesamtabwägung nötig ist. Ihm zufolge ist die wesentliche Schwäche des Rawlsschen Maximin-Prinzips, dass die Anwendbarkeit auf Konstellationen beschränkt ist, welche die drei von Gardiner benannten Kriterien erfüllen. Der Klimawandel könne, so Bognar, enorme, möglicherweise katastrophale Schäden verursachen. Angesichts der möglichen schlechten Folgen sollten Vorsorgemaßnahmen ergriffen werden, trotz einer gewissen Unsicherheit bezüglich der Eintrittswahrscheinlichkeit. Rawls und Gardiner hätten jedoch zu wenig das Wägen von Vorund Nachteilen verschiedener Entscheidungsoptionen im Blick. Wolle man die MaximinRegel wirklich auf Fälle beschränken, in denen man von zu den vermeidenden Nachteilen gegenläufigen Vorteilen gänzlich abzusehen bereit sei, sei ebenjene Maximin-Regel letztlich nicht hilfreich, weil in der Regel eben komplexe Vor- und Nachteile zu berücksichtigen seien. Es gebe also Fälle, in denen das Vorsorgeprinzip zur Anwendung kommen sollte, ohne dass diese Fälle die Rawlsschen respektive Gardinerschen Kriterien erfüllen. Das zeige sich schon beim Kriterium der Ungewissheit, denn selbst wenn man mit Sicherheit bestimmen könnte, welche Szenarien eintreten, seien Maßnahmen nach dem Vorsorgeprinzip geboten. Paradoxerweise, so Bognar, würde das Kriterium der Ungewissheit sonst nahelegen, dass Vorsorgemaßnahmen

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bei besserem Kenntnisstand weniger begründet wären. Im weiteren Verlauf greift Bognar letztlich die Utilitarismus-Kritik an Rawls auf. Utilitaristische Ansätze zeigten vor allem dann große Unterschiede zu Rawls, sofern eine der Entscheidungsoptionen ein nur geringfügig schlechteres Worst-Case-Szenario bietet, aber Aussicht das schlechtere Worst-Case-Szenario durch Aussicht auf einen hohen Nutzen auszugleichen. In dem Fall würde das Rawlssche Maximin-Prinzip diese Alternative ablehnen, um das WorstCase-Szenario abzuwenden, während das utilitaristische Prinzip auf den Gesamtnutzen abstellt und das geringfügig bedrohlichere Szenario zu Gunsten der möglichen positiven Ausgänge in Kauf nimmt. Ein anderer Fall, in dem das Abwägungsergebnis sich zwischen Utilitarismus und Rawlsianismus unterscheiden würde, wäre bei einer Option mit Aussicht auf besonders hohe Gewinne, die das Maximin-Prinzip aufgrund eines untragbaren Worst-Case ablehnt. Bognar ist der Auffassung, da eine Person im Urzustand ihre eigene Konzeption des Guten nicht kenne, sei eben gerade nicht klar, warum jener Person Aussichten auf mehr als eine Worst-Case-Vermeidung egal sein sollten. Bognar befürwortet damit Sunsteins Öffnung zu einer Gesamtabwägung. Sowohl bei Ungewissheit als auch bei Risiko müsse das Vorsorgeprinzip insoweit anwendbar sein. Sunsteins AKP sei daher insofern abzulehnen, als es nur die Ungewissheit und nicht das Risiko im Blick habe. Mit alledem würden die Grenzen eines Maximin-basierten Vorsorgeprinzips deutlich. Zwar sprächen Ungewissheit oder sehr schlimme Folgen für Vorsorgemaßnahmen, Vorsorge könne jedoch auch in anderen Fällen sinnvoll sein. Sehr schlechte Folgen würden Vorsorge begründen, aber nicht nur diese. Der Maximin-Gedanke als solche könne deshalb kein breites Vorsorgeprinzip begründen. Er sei damit auch keine wirkliche Entscheidungshilfe, sondern nur sehr selektiv von Interesse. Gleichzeitig gesteht Bognar Rawls und Gardiner hinsichtlich ihrer zentralen Intuition eine erhebliche Überzeugungskraft zu, soweit es um den Klimawandel geht: Laut Bognar könnten

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viele der Auffassung sein, dass es beim Klimawandel Risiken gibt, die vermieden werden sollten, selbst wenn eine Handlungsalternative gute Aussichten beinhaltet, die einen Ausgleich für das Risiko bieten. Diese Intuition könnte, laut Bognar, ähnlich wie das zweite Rawlssche Kriterium interpretiert werden, das vorgibt, keine Gewinne über das Minimum hinaus erzielen zu wollen. Man sollte also durchaus mehr Gewicht darauf legen, untragbare Worst-Case-Szenarien zu verhindern, als besonders gute Aussichten zu sichern. Während Utilitarist*innen ausschließlich den Nutzen selbst zum Maßstab machen, unabhängig davon, wem dieser Nutzen zugutekommt, gehen Prioritarist*innen – so Bognar – davon aus, dass der Nutzen auch an der Situation des Nutznießers zu bemessen ist. Dabei ist der Nutzen umso größer, je schlechter gestellt der Profitierende ist. Der Prioritanismus bietet laut Bognar das überzeugendere Ergebnis als der Utilitarismus, aber eben auch als der klassische Rawls-Ansatz. Eine wichtige Frage, die sich bei der Anwendung des Vorsorgeprinzips stellt, sei, wie viel Gewicht darauf liegt, den Worst-Case zu vermeiden. Während der Worst-Case beim Maximin-Prinzip um jeden Preis zu verhindern ist, sei das prioritäre Prinzip flexibler. Zudem (anders als das Maximin-Prinzip) sei das prioritäre Prinzip nicht nur unter bestimmten Bedingungen anwendbar. Unter der Bedingung der Ungewissheit würde das prioritäre Prinzip annehmen, alle potenziellen Ausgänge seien gleich wahrscheinlich. Die Bedenken, der utilitaristische Ansatz sei nicht geeignet, ausreichend mit einzubeziehen, wie schwerwiegend die WorstCase-Szenarien sind, könnten durch die Anwendung des prioritären Prinzips ausgeräumt werden.

Diskursentwicklung: Klimagerechtigkeit Eine weitere praktisch-philosophische Diskussion, in der sich Rawls-Anknüpfungen umweltethischer Art finden, ist die Debatte über den Klimawandel. Letztlich setzt dies die Diskussionen zum Vorsorgeprinzip und dessen

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Beziehung zum Differenzprinzip in spezifizierter Weise fort. Ethisch stellt sich insoweit die Frage – letztlich als Operationalisierung der Nachhaltigkeitsforderung nach intertemporaler und global-grenzüberschreitender Gerechtigkeit –, in welchem Umfang Klimaschutz in Relation zu konkurrierenden Anliegen geschuldet ist und wie mit den Verteilungswirkungen von Klimapolitik und Klimawandel umzugehen ist (ausführlich dazu Ekardt 2016; Ekardt 2019). Zur fairen Verteilung emittierter Treibhausgase adaptiert beispielsweise Henry Shue (2014) Überlegungen von Rawls zum gerechten Spargrundsatz. Ein wesentlicher Aspekt bei der Auswahl umweltpolitischer Maßstäbe seien die Folgen unseres Handelns für zukünftige Generationen, wie sie eben Rawls mit dem Spargrundsatz aufgreift. Verzögert sich der technische Wandel, steige das Risiko für kommende Generationen. Mit Ausnahme von Fällen wie unvermeidbarer Selbstverteidigung sei es ethisch falsch, anderen Menschen zu schaden. Selbst wenn eine verschwindend geringe Chance bestünde, dass gravierende Folgen eintreten würden, sei es falsch, andere diesem Risiko auszusetzen. Der Klimawandel stelle eine Bedrohung für zukünftige Generationen dar. Daher heißt die Entscheidung, fossile Brennstoffe länger als notwendig zu verbrauchen, ein vermeidbares Risiko in Kauf zu nehmen, welches eine Bedrohung für das menschliche und nicht-menschliche Leben darstelle. Zukünftige Generationen seien den Folgen der von uns hingenommenen Risiken vollkommen ausgesetzt. Rawls erfasst die Frage nach den „Rücklagen“ in Form von Ressourcen als die Frage nach der richtigen „Sparquote“. Man solle die nächste Generation nicht in eine schlechtere Situation bringen als die eigene, was im Fall von endlichen Ressourcen heißen könnte, dass eine Form von Substitution möglich wäre, etwa durch effizientere Nutzung dank technologischen Fortschritts (Rawls 1975: 319– 327). Dabei seien, so Shue, drei Aspekte zu berücksichtigen: (a) Nicht alles sei unsicher: Manche Effekte stellen sich bereits ein, wie geänderte Regenfälle, Stürme und Dürren. Daher wäre es irreführend, den Klimawandel als nur künfti-

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ges Risiko ohne aktuelle Auswirkungen zu diskutieren. (b) Es mache einen Unterschied, ob man sich selbst oder andere einem Risiko aussetzt. Aus der begründeten Bereitschaft, sich selbst einem gewissen Risiko auszusetzen, könne nicht abgeleitet werden, dass es ethisch vertretbar ist, andere diesem Risiko auszusetzen. Selbst wenn (und das trifft nicht ansatzweise zu) der Klimawandel für zukünftige Generationen das gleiche Risiko darstellen würde wie für heutige Generationen, wäre es daher nicht ethisch gerechtfertigt, zukünftige Generationen diesem Risiko auszusetzen. (c) Der wesentliche Punkt ist für Shue indes, dass in manchen Risikofällen die Gewichtung der Eintrittswahrscheinlichkeit eine relativ präzise Abwägung eröffnen kann. Shues Ansatz umfasst – ähnlich der Diskussion um das Vorsorgeprinzip im Gefolge des Differenzprinzips – drei Kriterien für eine Pflicht zum Klimaschutz: drohende massive Verluste, signifikante Eintrittswahrscheinlichkeit, keine exzessiven Präventionskosten angesichts der Größenordnung der möglichen Verluste sowie anderer wichtiger Nachfragen nach den Ressourcen. Manche Verluste seien gänzlich inakzeptabel, besonders wenn massive Entbehrungen von Notwendigkeiten betroffen sind, die jedem Menschen aufgrund seines Menschseins rechtlich zustehen. Ähnlich wie Bognar (2011) geht Shue – in seinem Fall integriert in eine Konzeption der Klimagerechtigkeit – somit auf Distanz zum Differenzprinzip, indem er Abwägungen verschiedener Vor- und Nachteile ansatzweise zulässt, bezogen auf die Höhe der Präventionskosten. Auch was ein massiver Verlust sei, solle im Lichte ebenjener Kosten beurteilt werden. Ein solches Abwägen sei möglich, auch wenn nicht alle Schäden in Geldwerten aufträten – z. B., wenn es um verlorene menschliche Lebensjahre geht. Das bedeute auch: Kosten, die zur Vermeidung des einen Unglücks exzessiv wären, könnten zur Vermeidung eines anderen Problems angemessen sein. Zwar gebe es Tragödien von so verheerendem Ausmaß, dass es angemessen scheint, diese um fast jeden Preis zu verhindern, andererseits endet die Zahlungsbereitschaft zwangsläufig mit der Erschöpfung der begrenzten finanziellen Mittel, die überhaupt

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zur Verfügung stehen. Da dies indes bezogen auf das Klimaproblem eher nicht zu besorgen sei, bestünde eine starke Verpflichtung zum Klimaschutz. Dale Jamieson (2014) vertritt im Klimagerechtigkeits-Diskurs im Gefolge der Rawlsschen Vorstellung von gleicher Achtung und gleichen Rechten die Auffassung, dass die Forderung nach einem gleichen Recht auf Emissionen für alle Menschen ethisch unbestreitbar sei. Doch sei es erforderlich herzuleiten, wie viele Emissionen insgesamt gestattet werden sollten und wie die Berechtigung, sie zu emittieren, verteilt werden sollte. Die Verteilung könnte ganz grundsätzlich auf unterschiedlichen Kriterien basieren: pro Kopf, nach Produktivität, bestehenden Emissionen, einem anderen Prinzip, einer Kombination unterschiedlicher Prinzipien. Die letzten beiden Optionen seien letzte Auswege. Eine Verteilung nach bestehenden Emissionen sei nicht plausibel, da von der tatsächlichen Beanspruchung eines Gemeinguts nicht auf die moralische Rechtfertigung dieser Beanspruchung geschlossen werden könne. Der zweite Vorschlag, die Verteilung nach Produktivität, sei nicht gänzlich abwegig, grundsätzlich sei es zu befürworten, dass Emissionen effizient genutzt werden. Jamieson hält es für die plausibelste Option, wenn jedem Menschen die gleiche Menge Emissionsrechte zustehen. Es sei nicht nachvollziehbar, anzunehmen, einer Person aus Amerika oder Australien mehr Emissionsrechte zuzuweisen als einem Menschen aus Brasilien oder China. Um zu vermeiden, dass die Regelung einen Anreiz darstellt, die Geburtenrate zu erhöhen, um mehr Emissionsrechte zu erhalten, sei es naheliegend sich auf ein Basisjahr zu einigen, nach dem die Verteilung vorgenommen wird. Damit folgt Jamieson einerseits dem Rawlsschen Ansatz gleicher Rechte. Andererseits bezieht er ihn auf eine Verteilungsfrage und geht damit über den moderaten Non-Egalitarismus des Differenzprinzips (Rawls 1975; Rawls 2002; verkannt bei WBGU 2009) deutlich hinaus. Offen sei indes, so Jamieson, in wessen Verantwortung die Umsetzung dieser verteilungsgerechtigkeitstheoretischen Maßgabe falle. Dabei

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seien drei Modelle relevant. Zunächst denkbar sei die Vorstellung souveräner Staaten, die für die moralischen Entscheidungen des eigenen Volks verantwortlich sind und unter Achtung ihrer gegenseitigen Souveränität durch Abmachungen und Eroberung die internationale Ordnung schaffen. In diesem Sinne wären die Völker gleichsam Vertreter und Nutznießer der Verantwortung für den Umgang mit dem Klimawandel. Angesichts der globalisierten Wirtschaft und der gemeinsamen Bedrohung sei dieser Zugang jedoch wenig plausibel. Das zweite Modell sei das der Souveränität der Völker nach John Rawls. Rawls lehnt die globale Anwendbarkeit des Differenzprinzips ab (Rawls 2002). Gegenüber den Individuen anderer Gesellschaften habe man keine direkten Pflichten. Rawls unterscheidet insoweit zwischen Völkern und Staaten. In Rawls’ Theorie sind Völker definiert, in sich gefestigt und ihr Territorium ist eindeutig abgrenzbar. Real existierende Beispiele wie die Kurden oder die Palästinenser würden, so Jamieson, jedoch zeigen, dass bereits der Versuch ein Volk zu definieren, ein schwieriges und sehr politisches Unterfangen darstellt. Rawls’ Recht der Völker sei entweder eher eine Moral der Staaten oder fuße auf einem vagen und instabilen Fundament. Aus Rawls’ Verständnis der territorialen Bestimmtheit von Völkern leitet sich zudem eine moralische Bedeutung von nationalen Grenzen ab, die so nicht begründet werden könne. Denn diese Annahme verkenne, wie ungerecht die unterschiedlichen Aussichten von Menschen sind, abhängig von ihrem genauen Geburtsort, und wie fragwürdig die Entstehung der Grenze selbst ist, zum Beispiel, wenn diese durch eine ehemals vertretene Kolonialmacht festgelegt wurde. Demgegenüber stehe der Kosmopolitismus, der die Individuen als Akteure und Nutznießer der Pflichten ansieht. Das umfasst eine Verteilungsgerechtigkeit, die über nationale Grenzen hinausreicht, unabhängig von Staatsangehörigkeit und Wohnsitz. Laut Jamieson sei es nicht erforderlich, zwischen der Verantwortung von Individuen einander gegenüber und der Verantwortung zwischen Völkern zu wählen, diese Konzepte können koexistieren. Aus den unterschiedlichen Verantwortlichkeiten

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der verschiedenen Rollen, die wir einnehmen, ergebe sich ein komplexes Bild. Jedenfalls ließe sich festhalten, dass wir verpflichtet seien, das Problem Klimawandel kosmopolitisch anzugehen. Während sich Menschen, Macht, Geld und Informationen transnational bewegen, sei nicht nachvollziehbar, warum Pflichten an nationale Grenzen gebunden sein sollten. Es gehe beim Klimawandel nicht nur um die Förderung Benachteiligter, stattdessen sei die Verantwortung für das Risiko, dem wir andere durch unser Verhalten aussetzen, eine bedeutsame Dimension. Darrel Moellendorf (2014) unternimmt ebenfalls eine Adaption und Fortschreibung Rawlsscher Prinzipien mit ihrem Schutz der Schwächsten und in gewisser Weise des Spargrundsatzes –bezogen auf den Klimawandel befürwortet er zwei Prinzipien für Entscheidungen der Klimagerechtigkeit. Das erste Prinzip sei das Anti-Armutsprinzip. Jeder würde unfreiwillige Armut vermeiden wollen. Es sei nicht vertretbar, dass arme Menschen die Kosten von Anpassung oder Vermeidung des Klimawandels tragen. Niemand sollte daher den global Armen jetziger oder zukünftigen Generationen die Kosten des Klimawandels oder einer Klimapolitik aufbürden, wenn das die Armutsbekämpfung zu beeinträchtigen drohe, sofern es alternative Ansätze gebe, die die Armen davor bewahren würde, diese Kosten zu tragen. Zwar könnten wir nicht garantieren, dass Armen in der Zukunft keine Kosten zugemutet werden, wir hätten allerdings zum einen die Möglichkeit, die Kosten heute nicht auf global Arme zu verteilen und wir können potenzielle zukünftig anfallende Kosten durch jetzt implementierte Mitigationsmaßnahmen verhindern. Die Kosten nicht auf Arme zu übertragen, sei schon an sich moralisch wichtig, es verhindere jedoch auch eine Verschlechterung der Startposition für die Nachkommen der armen Menschen von heute. Klimapolitikansätze seien dann im Sinne dieses Prinzips gefährlich, wenn sie vermeidbare armutsverlängernde Kosten auf die Armen induzierten. Grenzen einer hinnehmbaren Erderwärmung könnten also nicht allein am Risiko für zukünftige Generationen bemessen werden, die Risiken für die Ent-

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wicklung der Menschheit seien immer mit abzuwägen. Ob die Mitigation des Klimawandels moralisch richtig ist, hinge davon ab, dass ein Mitigationsplan die Kosten nicht auf die Armen verteilt und dass der Klimawandel für die global Armen nicht die schlechtere Alternative ist. Das zweite Prinzip ist für Moellendorf das Prinzip der Leistungsfähigkeit. Moellendorf verweist zunächst darauf, dass nach Rawls Vorteile, die jemand relativ Privilegiertes genießt, nur dann gerechtfertigt sind, wenn die Institutionen so konzipiert sind, dass sie die am meisten Benachteiligten am besten stellen. Das könne man erweiternd als eine Form der Verantwortung des Nutznießers bestimmter Zustände auslegen. Demnach hätte man nicht das Recht, von einem gesellschaftlichen Kooperationsschema so weit wie möglich zu profitieren; stattdessen verpflichte ein Privileg dazu, eine entsprechende Ordnung zu schaffen, welche den am meisten Benachteiligten begünstigt. Das Rawlssche Verständnis, dass innerhalb eines Kooperationsschemas, welches die Kooperation zwischen unterschiedlichen relativen Vorteilen vermittelt, die Institutionen danach zu beurteilen sind, wie die am meisten Benachteiligten gestellt werden, sei entgegen Rawls (2002) mit Jamieson (2014) eben auch relevant für die Rahmenbedingungen der Nutzung fossiler Brennstoffe. Die Verfügbarkeit von fossiler Energie in Vergangenheit und Gegenwart bringe einen bedeutsamen Vorteil, und die Länder des globalen Nordens hätten einen außerordentlichen Energiebedarf, um ihren Lebensstil beizubehalten. Trotz jenes Interesses, Energie günstig zur Verfügung zu stellen, sei der Übergang weg von den günstigen fossilen Brennstoffen notwendig. Da alle ein Interesse hätten, den Klimawandel auf ein bestimmtes Maß zu begrenzen, würde ein entsprechendes Abkommen eine kooperative Regelung gemeinsamer Vorteile für alle Beteiligten darstellen. Eine Energiewende wäre allerdings mit höheren Energiekosten verbunden, wobei diese Kosten entsprechend einer globalen Ausdehnung des Differenzprinzips nicht der Armutsbekämpfung entgegenstehen dürften, sondern vielmehr an die Leistungsfähigkeit gekoppelt werden müssten. Die Aussichten

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der Armen mit einem solchen Abkommen dürften nicht schlechter sein als ohne den weltweiten Klimaschutz. Arme aus den am wenigsten entwickelten Ländern und Entwicklungsländern könnten zurecht jedes Prinzip intertemporaler Verantwortungszuweisung ablehnen, sobald es die Aussichten der Armutsbekämpfung gefährdet. Das spräche dafür, dass die Verantwortung eines Staates für die Mitigation des Klimawandels an dessen Zahlungsfähigkeit geknüpft ist. Wesentlich sei allerdings, dass insgesamt die Beurteilung der Zahlungsfähigkeit und die entsprechende Übertragung von Verantwortung gewährleiste, dass Ländern, die eine besonders geringe Zahlungsfähigkeit haben, keine Kosten tragen müssten, die der Entwicklung des Landes und der Bekämpfung von Armut im Weg stünden. Der Ansatz, Armutsbekämpfung und Umweltschutz, speziell Klimaschutz, zusammenzudenken, wird im jüngeren philosophischen Diskurs (etwa Ott 2010) ebenso wie die Frage des Abwägens verschiedener Belange neben einer Rawls-Adaption häufig auch in Anlehnung an den Fähigkeitenansatz von ursprünglich Martha Nussbaum geführt (zuletzt Nussbaum 2013). Die dabei postulierten zehn zentralen menschlichen Fähigkeiten sollen dann die Vielfalt der erstrebenswerten normativen Belange abbilden, als eine Art Alternative zum Rawlsschen Differenzprinzip. Jedenfalls sei es, so etwa Nussbaum (2013), kontraproduktiv, einzelne Teile der Ziele wie ein strenges Klimaabkommen zu fördern, ohne Rücksicht auf die ganzheitliche Betrachtung der globalen Ziele und die besten Gesamtstrategien. Nussbaum befürwortet, ähnlich wie Rawls (2002) und anders als Moellendorf (2014), die Vorstellung von Grotius, einer Welt, die durch Nationalstaaten organisiert ist, da Nationalstaaten besonders geeignet sind, dem Bedürfnis der Menschen ihre Gesetze zu gestalten, gerecht zu werden. Dementsprechend sollten internationale Abkommen knappgehalten werden. Umverteilung sollte, so Nussbaum, die nationalen Grenzen respektieren und durch nationale Politik gesteuert wer-

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den. Dabei müsste entgegen der utilitaristischen und Kosten-Nutzen-analytischen Tradition die Inkommensurabilität bestimmter Güter anerkannt werden (zur Kritik jener Traditionen auch Ekardt 2018). Die vorstehende – nur exemplarische – Benennung einzelner umweltethischer Rezeptionen, Kritiken und Fortschreibungen Rawlsscher Gedanken verdeutlicht die paradigmatische Rolle von Rawls für den praktisch-philosophischen Diskurs der letzten 50 Jahre, ist mit der Umweltethik doch von einem Bereich die Rede, welcher Rawls bestenfalls am Rande interessiert hat. Wie auch sonst in der philosophischen Debatte erfährt das Differenzprinzip einerseits besondere Aufmerksamkeit, andererseits aber auch einiges an Modifikation und Widerspruch.

Rawls und die Umweltethik: Desiderate Omnipräsent bei den zitierten Stimmen (mit Einschränkungen bei Moellendorf 2014 und Ott 2010) zur Geltung kommt der für die angelsächsische Welt charakteristische philosophische Empirismus, mit dem normative Fragenkreise wie die nach Klimagerechtigkeit angegangen werden. Ob faktische Intuitionen und Präferenzen – sofern es nicht um echte Faktenfragen etwa naturwissenschaftlicher Art geht – in normativen Argumentationen wirklich etwas zu suchen haben, bleibt dabei unerörtert. Dies gilt freilich auch für John Rawls selbst, letztlich zurückverweisend auf Klassiker wie David Hume, Thomas Hobbes, John Locke und Adam Smith. Denn so sehr sich Rawls auf Kant und auch Hegel beziehen mag, so sehr nutzt er mit dem Überlegungsgleichgewicht eine empiristische (bzw. kulturrelativ-kontextualistische) Basis für die Gewinnung seiner Basisprinzipien Unparteilichkeit und gleiche Achtung. Die liberal-kantianische Theoriearchitektur „Freiheit und Demokratie um der Achtung (Würde) und Unparteilichkeit willen, Achtung und Unpartei-

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lichkeit um der Vernunft willen“ wird damit letztlich verlassen. Die damit verbundenen Probleme – naturalistischer Fehlschluss, dogmatische Setzung, wessen Intuitionen, möglicher Selbstwiderspruch dieser letztlich nonkognitivistischen Theoriebasis in Relation zum ansonsten kognitivistisch vorgetragenen Anspruch (Ekardt 2016 mit Hinweisen auf mögliche elenktische Auswege; zu jenen auch Habermas 1983; Alexy 1995) – bleiben auf diese Weise ungelöst. Aufgrund dieser hinterfragbaren Theoriebasis kann bereits Rawls selbst für seine einzige wirklich umweltethische Figur, den Spargrundsatz, auch keine wirkliche Begründung anbieten. Es ist nicht trivial, sondern bedürfte einer Begründung, warum der Rawlssche Urzustand zu intertemporaler Gerechtigkeit führen sollte. Die Rawlssche Versicherung, man könne sich seinen Urzustand auch als „zeitübergreifend“ vorstellen, indem die Unwissenheit der hypothetischen Entscheider hinter dem Schleier des Nichtwissens schlicht auf ihren Geburtszeitpunkt ausgedehnt werde (was in der Tat zu zeitlich unparteiischen Entscheidungen führen würde), beantwortet nämlich nicht die Frage, ob man sich Derartiges vorstellen sollte. In Rawls’ eigener Theoriekonstruktion müsste er dafür nachweisen, dass „unsere“ faktischen Intuitionen diese Zeitneutralität verlangen. Ist Rawls’ Rede von allgemein geteilten faktischen Intuitionen (neben den oben genannten erkenntnistheoretischen Problemen) auch sonst eher eine bloße Behauptung, so ist es für die vermeintlich allgemein geteilte Behauptung der Zeitneutralität eher noch problematischer – denn insoweit existieren erdrückende alltägliche wie auch verhaltenswissenschaftlich gesicherte Befunde dahingehend, dass „wir“ gerade nicht zeitneutral, sondern gegenwartsfixiert denken und handeln (näher Ekardt 2019). Die umweltethische Debatte kann ferner das Problem nicht lösen, dass das Rawlssche Differenzprinzip vor großen Begründungsproblemen steht, sondern macht dieses Problem eher noch sichtbarer. Die benannten

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Autor*innen präsentieren folgerichtig stets Abweichungen vom Maximin-Prinzip, welches auch ansonsten den umstrittensten Teil der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie darstellen dürfte. In empiristischer Tradition wird (besonders sichtbar in der Kosten-Nutzen-Analyse; dazu Ekardt 2018) der Versuch, das konkret Geschuldete exakt zu bestimmen, oft etwas überzogen. Auch wenn man mit elenktischen Argumenten Würde und Unparteilichkeit und darauf basierend Freiheit, Freiheitsvoraussetzungsschutz und gewaltenteilige repräsentative Demokratie universal ableiten mag (Habermas 1983; Alexy 1995) und daraus wiederum bestimmte Abwägungsregeln hergeleitet werden können (Ekardt 2016), so ist es doch kein Zufall, dass sich liberal-demokratische Verfassungen just auf jene Abwägungsregeln beschränken und jenseits minimaler Vorgaben kein Konzept sozialer Verteilungsgerechtigkeit präsentieren – und auch keine Aussage darüber, wie intensiv Vorsorge betrieben werden muss. Zur Überwindung dieser begrenzten Aussagen konstruierte Beispiele (bei Moellendorf 2014, Jamieson 2014 usw.) dahingehend, ob man z. B. eine Person schlechter stellen darf, wenn dies für ganz viele eine leichte Verbesserung bringt, sind in dieser Strenge kaum beantwortbar. Sie verfehlen auch die Realität des Klimaproblems, wo es um Leben und Tod für sehr viele Menschen geht, einerlei welche der konkret gangbaren Pfade man beschreitet. Aussichtsreicher wäre es hier vielleicht gewesen, die europäische Menschenrechtstradition stärker zu rezipieren und eine daraus abgeleitete Abwägungsregel in Anschlag zu bringen, die trotz aller Spielräume jedenfalls die Beseitigung der physischen Grundlagen (auch längerfristig) von Freiheit und Demokratie verbietet. Allein dies dürfte schon einen weitreichenden Klimaschutz tragen, damit das Ausmaß der nötigen klimapolitischen Ambition verdeutlichen und zusammen mit den als Abwägungsregeln begreifbaren Prinzipien der Problemverursachung sowie der Leistungsfähigkeit bezüglich noch hinnehmbarer Emissionen Anhaltspunkte liefern, wie die Ver-

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teilungsproblematik zumindest eingegrenzt werden kann, ohne jedoch den erheblichen verbleibenden Spielraum zu leugnen. Vor dem beschriebenen Hintergrund ist nur mäßig überraschend, dass mit der Umweltethik ein – konkretisiert und sanktionsbewehrt – rechtlich stark ausbuchstabierter Bereich aufgerufen ist und dennoch die umweltethische Debatte in der Rawls-Rezeption bislang quasi keinen Niederschlag im politisch-rechtlichen Diskurs gefunden hat. Klarer als Rawls sehen die meisten zitierten Stimmen indes, dass politische Entscheidungen ein unvermeidbares Abwägungsproblem involvieren, welches nicht durch absolute Aussagen zugunsten bestimmter vermeintlich abwägungsfreier Güter oder Personengruppen negiert werden kann (näher dazu und zu der irreführenden, weil auf einer falschen Entgegensetzung beruhenden Deontologie-Konsequentialismus-Kontroverse Ekardt 2018; Ekardt 2019). Ebenfalls klarer als Rawls sehen einige (besonders Moellendorf 2014), dass ein Grundrecht nicht nur auf Freiheit, sondern auch auf die elementaren Freiheitsvoraussetzungen wie Leben, Gesundheit und Existenzminimum besteht, was im Umweltschutz eine große Rolle spielt. Anders als Rawls wagen sich zeitgenössische praktische Philosophen (wie Moellendorf 2014 oder Jamieson 2014) auch in die Debatte über effektive Politikinstrumente z. B. des Klimaschutzes, wobei sie den wirtschafts-, politik- und rechtswissenschaftlichen Stand der Debatte in der Policy-/ Governance-/ Steuerungs-/ Rechtswirkungsforschung allerdings nur ansatzweise rezipieren (Ekardt 2019).

F. Ekardt und A. Winter

Literatur Alexy, Robert: Recht, Vernunft, Diskurs. Frankfurt a. M. 1995. Bognar, Greg: Can the maximin principle serve as a basis for climate change policy? In: The Monist 94/3/ (2011), S. 329–348. Ekardt, Felix: Theorie der Nachhaltigkeit. Ethische, rechtliche, politische und transformative Zugänge – am Beispiel von Klimawandel, Ressourcenknappheit und Welthandel. Baden-Baden 42021. Ekardt, Felix: Ökonomische Bewertung – Kosten-Nutzen-Analyse – ökonomische Ethik. Eine Kritik am Beispiel Klimaschutz – zugleich zu Zahlen im Nachhaltigkeitsdiskurs. Marburg 2018. Ekardt, Felix: Sustainability. Transformation, governance, ethics, law. Dordrecht 2019. Gardiner, Stephen: A core precautionary principle. In: The Journal of Political Philosophy 14/1 (2006), S. 33–60. Habermas, Jürgen: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M. 1983. Jamieson, Dale: Reason in a Dark Time. Why the struggle against climate change failed – and what it means for our future. Oxford 2014. Moellendorf, Darrel: The moral challenge of dangerous climate change: Value, poverty and policy. New York 2014. Nussbaum, Martha: Climate change: Why theories of justice matter. In: Chicago Journal of International Law 13/2 (2013) Article 9. Ott, Konrad: Umweltethik zur Einführung. Hamburg 2010. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1975 (engl. 1971). Rawls, John: Das Recht der Völker. Frankfurt a. M. 2002 (engl. 1999). Shue, Henry: Climate justice: Vulnerability and protection. Oxford 2014. Sunstein, Cass: Gesetze der Angst. Frankfurt a. M. 2007. WBGU: Kassensturz für den Weltklimavertrag – der Budgetansatz. Berlin 2009.

Teil IX

Wirkung: Rawls und seine Kritiker*innen

Feminismus und CareArbeit

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Kanchana Mahadevan und Thomas M. Schmidt

Kanchana Mahadevan, übersetzt von Thomas M. Schmidt

Die feministische Kritik an Rawls – wenn auch wohlwollend Die umfassende und weitverzweigte feministische Kritik an Rawls lässt sich gut erläutern und auf den Punkt bringen, wenn man sie auf die Debatte um Care-Arbeit bezieht. So geht Eva Feder Kittay (2018) davon aus, dass die Vernachlässigung des Phänomens von Abhängigkeit aufgrund von Behinderung durch Rawls, ihren Ursprung in diversen analogen Kritiken vonseiten des Feminismus findet (vgl. Abbey 2013). Dabei lassen sich unterschiedliche feministische Kritikstränge benennen: 1) So haben einige Feminist*innen Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit etwa in der Hinsicht bemängelt, dass sie Fragen der Gerechtigkeit innerhalb der Familie vernachlässige. Sie argumentieren, Rawls’ Fokus auf die Gleichheit der Individuen führe dazu, dass er davon ausgehe, dass es jedem mög-

K. Mahadevan (*)  Universität Mumbai, Mumbai, Indien T. M. Schmidt  Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected]

lich sei, Teil von gerechten kooperativen Beziehungen zu sein. Diejenigen aber, die in familiäre Verpflichtungen eingebunden sind, können keinesfalls in diesem Sinne als frei gelten. 2) Feminist*innen stellten ebenfalls heraus, dass, obwohl im Urzustand ein Schleier der Unwissenheit über soziale Positionen im Allgemeinen geworfen wird, die Position des Haushaltsvorstands – oft männlich konnotiert – doch bekannt bliebe (Kittay 2018, 229). 3) Und obwohl ferner der methodologische Individualismus im Urzustand willkürliche Machtungleichheiten ausschalten solle, diese nur in den Bereich der Familie, des Privaten, verlagert werden würden. 4) Des Weiteren wurde auch moniert, dass Rawls in seiner Darstellung der praktischen Vernunft Emotionen ausklammere (Matsuda 1986), was insofern irritiere, als er doch die kognitive Bedeutung von Gefühlen durchaus anerkenne (Okin 1989a). Dieser Beitrag will sich nun aber primär auf die feministische Kritik von Susan Okin (1989a; 1989b) und Martha Nussbaum (1999, 33, 57 f.) fokussieren, die auf Elemente von Rawls’ Theorie zurückgreifen, um sie dann auf feministische Fragestellungen anzuwenden (kritisch dazu Mahadevan 2014). Dazu gehören etwa die Vorstellungen vom unbedingten Wert des Menschen unabhängig von dessen sozialer Position, das Ideal, den eigenen Lebensweg autonom zu gestalten, und der normative Anspruch aller Menschen gleichberechtigt behandelt zu werden.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_80

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Nussbaum im Spezifischen argumentiert außerdem, dass die liberale Kritik an willkürlichen Hierarchien von Monarchie, Kaste und Rasse nur ein erster Schritt sein könne und zur Einbeziehung von Ungleichheiten aufgrund des Geschlechts weiterführen müsse. Der Liberalismus biete sich ferner deswegen als Verbündeter für den Feminismus an, da seine nicht-organische Auffassung von Gesellschaft zu einem egalitären Gesellschaftsbild beitrage, bei dem es um das Wohlergehen von Einzelpersonen und nicht um das von Gruppen gehe. Kritische Feminist*innen haben allerdings einen solchen von Nussbaum affirmierten Liberalismus als zu individualistisch kritisiert. Er impliziere einen psychologischen Egoismus, der wiederum zu einem normativen Egoismus führen müsse (Jagger 1999, 59 f.). Im Widerspruch dazu hält Nussbaum jedoch fest, dass es keinerlei Hinweis für einen solchen Egoismus bei Rawls gebe, sondern dass dieser vielmehr eine dezidiert nicht-egoistische Darstellung der menschlichen Psychologie anbiete. Auch hält Nussbaum einige Strömungen der feministischen Vernunftkritik für problematisch, weil sie Emotionen und Vernunft dichotomisiere und damit den kognitiven Gehalt von Gefühlen ignoriere (Nussbaum 1999, 72). In der Tat sind moralische Gefühle für Rawls (1971, 487, 489) mit natürlichen Gefühlen und dem Grundsatz der Gerechtigkeit vereinbar. Die natürlichen Tendenzen des Menschen, Freude, Schuld, Empörung und Trauer zu empfinden, überschneiden sich nämlich mit moralischen Gefühlen und können diese sogar befördern. So kann z. B. Liebe durch Trauer oder Empörung ausgedrückt werden. Die kognitive Reflexion auf moralische Prinzipien und Urteile versucht dann, die Grundlage moralischer Gefühle zum Vorschein zu bringen. In dem Sinne schlägt Rawls teilweise eine Brücke zwischen Humes Emotivismus und Kants Kognitivismus – eine radikale Gegenüberstellung von Emotionen und Vernunft begründe sich also nicht. Allerdings erfordern moralische Gefühle in ihrer vollwertigen Form ein Verständnis der zugrundeliegenden Prinzipien und die Fähigkeit, darauf basierende Urteile zu fällen (Rawls 1971, 1989). Daher sind

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moralische Gefühle für Rawls nicht einfach nur unmittelbare Gefühle oder Empfindungen, sondern leiten sich aus Tugenden ab. Im Kontext der Diskussion um die Rolle von Gefühlen verteidigt Nussbaum (1999, 61) dann auch das Ideal, Emotionen unter gewissen Umständen zu kontrollieren. Während sie sich dabei systematisch auf die Stoiker und Spinoza, aber auch auf Traditionen wie den Hinduismus und Buddhismus bezieht, skizziert sie anhand etwa der indischen Gewerkschaft SEWA, wie sich diese in ihren Demonstrationen auf die Prinzipien Gandhis beruft (Nussbaum 1999, 61). Den methodologischen Individualismus in Rawls’ Theorieaufbau interpretiert sie als Grundlage für die Anerkennung der inhärenten Würde eines jeden Menschen, die nicht zum Zwecke anderer geopfert werden darf. Eine solche Perspektive kann laut Nussbaum zur Bewertung derjenigen Familienkonstellationen helfen, in denen Frauen sich für den Rest ihrer Familie aufopfern oder sogar Gewalt erdulden müssen. Für sie besteht die Aufgabe der praktischen Vernunft dann darin, Gewohnheiten derart radikal zu überdenken, dass sie das Leben der Menschen verbessern und Unterordnung verhindern. Anstatt Frauen dazu zu drängen, sich fürsorglichen Gewohnheiten zu widmen, eröffnet der Rawlssche Liberalismus damit eine Perspektive diese Konventionen zu reflektieren und zu kritisieren (Nussbaum 1999, 79). Daran anschließend schlägt Nussbaum konkret vor, dass der politische Liberalismus aus dem Leiden von Frauen in familiären Kontexten lernen muss: von Hunger oder von mangelndem Zugang zu Ressourcen. Feministische Bewegungen sollten jedoch nicht versuchen, durch illiberale Methoden egalitäre Beziehungen zwischen Frauen und Männern herzustellen, da dies zu einer problematischen Situation des Verzichts auf die Erfolge und Errungenschaften des Liberalismus führen würde (Nussbaum 1999, 67). Den Vorwurf, Rawls’ Theorie sei in Bezug auf Geschlechterunterschiede zu abstrakt, hält sie für eine unzutreffende Kritik (Nussbaum 1997, 67 f.). Der hohe Abstraktionsgrad von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie werfe keinesfalls die Interessen von Frauen und die Be-

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rücksichtigung ihrer konkreten Lebensumstände über Bord. Vielmehr diene er dazu, einen Kern menschlicher Freiheit und Würde zu begründen, aufgrund dessen faire Chancen für alle existieren müssen. Dies führe aber nicht, wie vorgeworfen, zwangsläufig dazu, die Besonderheiten der Lebenssituation von Frauen zu ignorieren, etwa indem aufgrund einer falsch verstandenen Gleichbehandlung der Geschlechter, spezifische Bedürfnisse nach Schwangerschaftsurlaub oder zusätzlichen Bildungsmaßnahmen zurückgewiesen werden. Rawls (1997, Fn. 58) selbst hat einige dieser vom Feminismus vorgebrachten Kritikpunkte anerkannt und auch darauf reagiert (vgl. Okin 1989; McClain 1992; Llody 1995; Nussbaum 1999). Damit ist er einer der wenigen Philosophen, die sich mit der feministischen Kritik auseinandergesetzt und daraufhin etwa ein geschlechtsneutrales Vokabular in seine Theorie integriert haben. Infolge der feministischen Kritik hebt Rawls dann auch die Rolle von Fragen der Gerechtigkeit in der Familie deutlicher hervor und gibt zum Beispiel in seinem späteren Werk den patriarchal konnotierten Begriff des Haushaltsvorstands auf (Rawls 1993; 1999; 2000). Zugleich hält er aber daran fest, dass seine Konzeption von Gerechtigkeit sowohl für die Familienstruktur selbst als auch für die Stellung von Frauen in der Gesellschaft Geltung beansprucht (Rawls 1997, Fn. 58). Für Rawls ist die Familie zusammen mit der Institution der Ehe, der Scheidung und der Erbschaft Teil der Grundstruktur einer Gesellschaft und muss durch politische Institutionen entsprechend der Gerechtigkeitsgrundsätze geregelt werden. Trotz dieser expliziten Verschiebung in Rawls’ Spätwerk hat er die Familie schon seit seiner Theorie der Gerechtigkeit eine zentrale Rolle zugesprochen, nämlich als ein Ort der moralischen Entwicklung. Die moralische Entwicklung verläuft über die Stufe 1) der Autorität, insbesondere die der Familie, 2) der sozialen Assoziationen, die sich auf einen größeren Personenkreis erstrecken, 3) hin zu allgemeinen Prinzipien mit einem Bewusstsein für deren zugrundeliegenden Normen. Der familiäre Kontext, oft hierarchisch organisiert, basiert dabei auf dem Prinzip von

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Belohnung und Bestrafung, während der Kontext der Assoziation, der Sympathie erfordert, auf Zustimmung und Missbilligung beruht. Auf der Grundlage dieser Darstellung der moralischen Entwicklung benennt Rawls (1971, 490 f.) dann die drei Gesetze der Moralpsychologie: Das erste Gesetz besagt, dass in gerechten Familien ein Kind geliebt wird und dadurch lernt diese Liebe zu erwidern. Das zweite Gesetz besagt, dass ein Individuum durch Verbindungen der Sympathie und des gegenseitigen Vertrauens lernt, soziale Pflichten zu erfüllen. Das dritte Gesetz besagt, dass Individuen, die durch die ersten beiden Gesetze in Kontexten gerechter sozialer Arrangements sozialisiert wurden, dann auch einen Gerechtigkeitssinn ausbilden können. Für Rawls (1971, 457–462) ist dabei die Stabilität einer wohlgeordneten Gesellschaft unter anderem durch die Kultivierung der entsprechenden moralischen Empfindungen bedingt, die sich an den Hauptmerkmalen der Gerechtigkeit orientieren. Um die verschiedenen Wege aufzuzeigen, auf denen moralisches Lernen stattfinden könne, bezieht er sich sowohl auf den Empirismus und Sentimentalismus (Hume, Sidgwick, Freud) als auch den Rationalismus (Rousseau, Kant, in gewissem Maße auch Mill und Piaget). Der Sentimentalismus vertritt die Auffassung, dass moralisches Lernen durch motivierende Gefühle erfolgt, zum Beispiel durch Belohnung und Bestrafung durch Autoritätspersonen wie den eigenen Eltern. Im Gegensatz dazu vertritt die rationalistische Tradition die Sicht, dass moralische Gefühle als die Kultivierung von kognitiven Prozessen verstanden werden müsse. Eine solche Kultivierung findet statt, wenn der Intellekt und der Verstand reifen und man die Position des Selbst und anderer in einer sozialen Ordnung begreift. Rawls berücksichtigt zwar die Komplexität der Realität moralischen Lernens, indem er diese beiden Traditionen behandelt, räumt aber immer wieder die Überlegenheit der Reflexion ein. Nichtsdestotrotz übernehmen auch moralische Gefühle eine sozialtheoretisch wichtige Funktion in seiner Gerechtigkeitstheorie. Gegen die Kritik, sein Theorieaufbau sei zu abstrakt, verteidigt Rawls schließlich auch in sei-

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ner Diskussion mit feministischen Kritiker*innen eine sparsame Konzeption des Menschseins. Diese sei ausreichend, um geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten zu behandeln. Bei einer solchen dünnen Konzeption können rationale und vernünftige Personen – sowohl Frauen als auch Männer – die Position der Unparteilichkeit in der ursprünglichen Position einnehmen, um zu den beiden Grundsätzen der Gerechtigkeit zu gelangen. Anstatt also wie Feminist*innen wesentliche Unterschiede, soziale Positionen und spezifische Güter in den Vordergrund zu stellen, hält Rawls an einem spärlichen Begriff der menschlichen Identität fest, der auf Rationalität und Vernünftigkeit beruht. Fürsorgliches und kollaboratives Denken und Handeln haben damit allerdings in Rawls’ Modell der menschlichen Natur, das auf Eigeninteresse und gegenseitigem Desinteresse beruht, nur wenig Raum (Matsuda 1986, 624– 625). Kittay (2018) bringt dies auf den Punkt, wenn sie argumentiert, dass das Problem einer solchen Perspektive darin bestehe, Fragen der Gerechtigkeit für sozial abhängige und betreuende Personen nicht hinreichend untersuchen könne. Die menschliche Abhängigkeit sollte aber als Normalzustand betrachtet werden. Zwar können sich die Vertreter in Rawls’ Urzustand Abhängigkeit vorstellen (vgl. Rawls 1997, 229), aber es gibt keine Garantie, dass sie dies wirklich tun. Abhängigkeit wird damit zu einer Ungewissheit, die nichts mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu tun habe.

Rawls’ Konzeption sozialer Kooperation: Vernünftig und reziprok Kittay (2018, 219–234) merkt an, dass Rawls darum bemüht ist, die Ansprüche von Freiheit und Gleichheit auszutarieren, indem er eine gerechte Struktur sozialer Kooperation konstruiert (vgl. Rawls 2001, 2). Die Gleichheit und Freiheit der Bürger*innen wird dann dadurch verwirklicht, dass sie unter gerechten Institutionen leben, innerhalb derer sie ihre Vorstellungen vom Guten finden und revidieren können. Die Grundsätze der Gerechtigkeit sind wiederum das

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Ergebnis von Vereinbarungen zwischen Akteuren unter fairen Bedingungen der Zusammenarbeit. Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit wurde oft als spezifische Ausformung einer liberalen umfassenden Lehre verstanden, weshalb Rawls (2001, vi–vii) in seinen späteren Schriften einen anderen Fokus wählt. Er betrachtet Gerechtigkeit als Fairness ausdrücklich als eine politische Konzeption, die keine substanziellen metaphysischen, religiösen oder traditionellen Weltanschauungen widerspiegelt. Anders als der Utilitarismus und der Intuitionismus bekennt sich Rawls nicht zu einem bestimmten Verständnis der menschlichen Natur oder anthropologischer Fähigkeiten; anders als die Spieltheorie befürwortet er ferner keine nutzenmaximierende Strategie, die auf ein egozentrisches Ziel ausgerichtet ist (Rawls 2001, 206). Gerechtigkeit als Fairness ist weder eine allumfassende synoptische Darstellung einer perfekten Gesellschaft noch der Versuch, Institutionen ganz neu zu imaginieren (Rawls 1999, 191; 2001, 207). Vielmehr geht er auf bereits bestehende Institutionen und Praktiken der Gerechtigkeit ein, die er rekonstruiert und ergänzt. Gerechtigkeit ist dabei nur eine Tugend sozialer Institutionen, die willkürliche Unterschiede beseitigt und ein gerechtes Gleichgewicht zwischen verschiedenen, oft widersprüchlichen Ansprüchen herstellt. Damit sollen die Gerechtigkeitsprinzipien lediglich darauf abzielen, die Grenzen der Ausübung öffentlicher Gewalt sowie die Rechte und Pflichten der Bürger*innen festzulegen. Rawls’ (2001, 14) Gerechtigkeit als Fairness und die beiden Gerechtigkeitsprinzipien bilden damit einen sparsamen Rahmen, der für die Grundstruktur moderner demokratischer Gesellschaften gelten soll. (Er stellt etwa fest, dass ihr Geltungsbereich enger ist als der vom Utilitarismus, Perfektionismus und Intuitionismus vertretenen Lehren). Ziel ist es, faire Bedingungen der gesellschaftlichen Kooperation und die Art und Weise, wie Institutionen Rechte und Pflichten zuweisen, zu benennen; beruhend auf der Annahme, dass alle Bürger*innen freie und glei-

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che, vernünftige und rationale Personen sind, die als Mitglieder einer Gesellschaft ihr Leben lang zusammenarbeiten (2001, 8). Angesichts der zentralen Bedeutung der praktischen Vernunft für den Ansatz von Rawls (2007, 54 f.), schlägt er vor, dass Vernünftigkeit im Sinne von fair, umsichtig und vorsichtig zu konzeptualisieren sei, um sich auf die Perspektiven der anderen in jeweils ihrer Situation einzustellen. Vernünftigkeit ist die Fähigkeit, mit anderen auf faire Weise entsprechend gemeinsam akzeptierter Regeln zu kooperieren, obwohl man in seinen Interessen und Ansichten verschieden ist (vgl. Krasnoff 2015). Rationalität hingegen konzentriert sich auf die Motivation von Einzelnen, mit anderen zu kooperieren, indem sie sich auf die Vorteile besinnen, die sich aus dem Blickwinkel ihrer persönlichen Interessen ergeben würden, womit aber dem Menschen kein rationaler Egoismus unterstellt wird (Rawls 2001, 206). Rawls (2001, 204) führt seine Perspektive auf Gerechtigkeit dabei auf die Sophisten zurück, die Gerechtigkeit als klugen Kompromiss zwischen Personen und nicht als Attribut von Herrschaft konzipieren. Gerechtigkeit ist hier also ein Ausgleich zwischen vernünftigen Personen mit Eigeninteressen. Sie schafft dort einen Ausgleich, wo Personen angesichts unterschiedlicher und widerstreitender Interessen auf ihren Ansprüchen bestehen. Die Idee von Gerechtigkeit ist also nur dann von Nöten, wenn es Personen (Einzelpersonen, aber auch künstliche Personen wie Unternehmen, Nationen) gibt, die widersprüchliche Interessen durchsetzen wollen. In ähnlicher Weise wäre eine leitende Idee von Gerechtigkeit auch dann nicht notwendig, wenn Personen nur von ihrem Eigeninteresse geleitet werden, denn dies schlösse jegliche Form von Kooperation aus. Für Rawls können Individuen also vernünftig abwägen, um zu den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu gelangen. Dies führt zur Reziprozität weiter, die als komplementäres Prinzip die Idee von Gerechtigkeit ergänzen soll (Rawls 1999, 191). Gerechtigkeit und Fairness können nicht aufeinander reduziert werden, da sich Gerechtigkeit auf verbindliche institutionelle Re-

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geln bezieht, während Fairness sich auf die individuelle Willensentscheidung bezieht, über diese Praxis zu reflektieren. Gerechtigkeit und Fairness sind nach Rawls (1999, 190) durch das Konzept der Reziprozität verbunden. Reziprozität strebt keinen einseitigen Vorteil an. Sie buchstabiert die Gründe aus, die als öffentliche Gründe angegeben werden können, sodass die Beziehung der Bürger*innen zur Grundlage demokratischer Selbstgesetzgebung werden kann (1999, 578). So ermöglicht Reziprozität unter Personen mit Eigeninteresse dennoch die Begründung von gerechten Regeln des Zusammenlebens (Rawls 2001, 208). Kittay (2018, 244) stellt fest, dass nach Rawls’ sparsamer Version eines vernünftigen, rationalen und reziproken Menschenbildes alle Bürger*innen ihr gesamtes Leben hindurch vollständig kooperierende Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft darstellen. Sie weist darauf hin, dass damit davon ausgegangen wird, dass sich alle Bürger*innen in genau derselben normalen Situation befinden, ohne Bedürfnisse zu haben, die über ihre Fähigkeiten hinausgehen, wie z. B. das Bedürfnis nach Hilfe bei Krankheit oder Behinderung. Dieses Idealmodell wird dann zur Folie für die Behandlung von denjenigen, die nicht in es hineinpassen. Die Idee ist, dass, wenn wir eine brauchbare Theorie für den vermeintlichen Normalbereich menschlichen Lebens aufstellen können, wir später auch versuchen können, diese anderen Fälle zu behandeln (vgl. Kittay 2018, 255). Doch wie Kittay feststellt, ist genau dies die Wurzel des Problems in der Rawlsschen Theorie.

Reziprozität versus Abhängigkeit Kittay zufolge ist Rawls’ Ansatz, Gerechtigkeit an Reziprozität zu koppeln, insofern nicht überzeugend, als dadurch Gerechtigkeitsfragen, die sich aus Abhängigkeitsverhältnissen ergeben, vernachlässigt werden. Die Unvermeidbarkeit des Heranwachsens, von Krankheit, Behinderung und Alter zeigt aber, dass Abhängigkeit ein allgegenwärtiges Phänomen und eine Aufgabe ist (Kittay 2018), die heutzutage vor

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allem von Pflege-Arbeiter*innen (bezahlt oder unbezahlt) geleistet wird. Frauen, Migrant*innen und Menschen aus unterprivilegierten Ethnien, Gruppen und Kasten schultern dabei oftmals die Hauptlast dieser Care-Arbeit. Daher müsste eine gerechte Verteilung von Ressourcen zum einen auch die Gerechtigkeitsansprüche derjenigen berücksichtigen, die diese Arbeit verrichten, obwohl sie hinsichtlich der Teilnahme an öffentlichen Beratungen durch fehlende Ressourcen, etwa Zeit, eingeschränkt sind. Care-Arbeiter*innen sind dementsprechend nicht als Mitglieder einer freien und gleichen Gemeinschaft durch das Prinzip der Reziprozität inkludiert. Zum anderen müssten die Ansprüche derer mehr Beachtung erfahren, die als Pflegebedürftige beeinträchtigt sind. Diese Gruppe ist aber deswegen nicht angemessen inkludiert, da es ihnen an den notwendigen Fähigkeiten mangelt, um Teil einer freien und gleichen Gemeinschaft zu sein. Kittay (2018, 239, 262) stellt dabei fest, dass Rawls Abhängigkeitsphänomene auf verschiedenen Ebenen vernachlässigt: Er vernachlässigt sie in Bezug auf 1) die Umstände der Gerechtigkeit, 2) seine Konzeption sozialer Kooperation und 3) die moralischen Fähigkeiten von Personen. Erschwerend kommt hinzu, dass Kittay zufolge, Ungleichheiten bedingt durch Abhängigkeit im Rawlsschen Paradigma prinzipiell nicht hinreichend berücksichtigt werden können. Man könnte zwar mit Rawls argumentieren, dass seine Konzeption von Gerechtigkeit sich nicht nur auf das Prinzip der Reziprozität beschränkt, indem er etwa mit dem gerechten Spargrundsatz auch die Anliegen zukünftiger Generationen berücksichtigt. Ferner fordert das Differenzprinzip die Berücksichtigung der Ansprüche der Schlechtestgestellten, also potentiell auch von Care-Arbeiter*innen und abhängigen Personen. Kittay wendet jedoch ein, dass die Berücksichtigung von Gerechtigkeitsfragen, die durch solche Abhängigkeiten entstehen, mehr erfordere als nur das Sparen von Ressourcen für künftige Generationen. Grund dafür sei, dass nur diejenigen an Beratungen teilnehmen können, die als freie und gleichberechtigte Mitglieder in der politischen Öffentlichkeit auftreten können,

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um damit reziproke öffentliche Beziehungen einzugehen. Die scharfe Trennung zwischen öffentlichen und privaten Anliegen verunmöglicht also, dass in Rawls’ Theorie die Probleme, welche sich aus Abhängigkeit ergeben, angemessen thematisiert werden können. Dies verkennt aber die Komplexität der Lebenssituation von Abhängigen und Pflege-Arbeiter*innen. Damit wird aber auch die genaue Interpretation des Differenzprinzips im Sinne von Abhängigen und Care-Arbeiter*innen untergraben. Gerade abhängige Personen können oftmals nur über ihre*n Betreuer*in mit der Öffentlichkeit in Verbindung treten. Dies ruft gleichsam das komplexe Beziehungsgeflecht in Erinnerung, das zwischen diesen beiden Personengruppen besteht: Die*der Betreuer*in ist oft keine freie und gleiche Person im Sinne von Rawls, die neben ihrem eigenen noch den Standpunkt der abhängigen Person vertreten kann. Sie*er steht vielmehr in einer ambivalenten Beziehung zur*zum Betreuten, etwa durch unterschiedliche Interessen. Daher plädiert Kittay dafür, beim Nachdenken über Fragen der Gerechtigkeit, Abhängigkeit als menschlichen Normalzustand zu verstehen, anstatt sie, wie Rawls (2001, 201 f.) mit seiner Konzeption von moralischen Personen, als einen Ausnahmefall zu betrachten. Eine Folge eines solchen Perspektivwechsels wäre, dass man Rawls’ Liste von Grundgütern durch solche erweitert, welche explizit die Bedürfnisse von abhängigen Personen und Care-Arbeiter*innen betreffen (Kittay 2018, 236–238). Zu den von Rawls genannten Grundgütern zählen etwa die Gewissens- und Glaubensfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Freiheit der Berufswahl, die faire Chancengleichheit öffentliche Ämter wahrzunehmen oder das Recht auf Selbstachtung. Diese Liste begründet sich durch Rawls’ Personenvorstellung, nach denen Menschen mit dem moralischen Vermögen von reziproker Vernunft und Rationalität ausgestattet sind. Obwohl Rawls dabei die Verbindung zwischen individuellem und zwischenmenschlichem Wohlergehen durchaus anerkennt, schafft er nicht hinreichend Raum, um mit den Grundgütern Bedürfnisse abzudecken, die sich aus

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dem sozialen Phänomen der Abhängigkeit ergeben. Diese ergeben sich durch mehr als Reziprozität. Sie bedürfen der Empathie und dem Eingehen auf die Bedürfnisse anderer. (Kritisch zu Kittays Einwand gegen Rawls positioniert sich Christie Hartley (2014). Sie argumentiert, dass das Reziprozitätsprinzip nicht in der Hinsicht interpretiert werden müsse, dass sich diejenigen, die über gerechte Normen beraten, zugleich auch einen gegenseitigen Vorteil zusprechen. Man könnte vielmehr auch mit Rawls’ Konzeption von Reziprozität über Fragen von Abhängigkeitsverhältnissen nachdenken.) Trotz dieser blinden Flecken erkennt Kittay in Rawls’ Gerechtigkeitsverständnis durchaus das Potential, um auf Gerechtigkeitsprobleme einzugehen, die sich durch Abhängigkeitsverhältnisse einstellen. Sie schlägt vor, die moralischen Fähigkeiten der Person durch die Kompetenz zu erweitern, auf Verletzlichkeit mit Fürsorge zu reagieren (Kittay 2018, 237). Wenn eine solche Kompetenz als dritte moralische Kompetenz von Personen angenommen wird, muss die Liste von Primärgütern zwangsläufig durch das Recht auf Fürsorge erweitert werden. Die verschiedenen anderen Grundgüter würden dann aus einer solchen Sicht der Dinge bedeutungslos werden, wenn eine Person nicht durch das Gefühl getragen wird, gegebenenfalls umsorgt zu sein. Zugleich ist sich Kittay (ebd., 238) darüber im Klaren, dass diejenigen, die Verantwortung für die Pflege anderer tragen, nicht ihrer Fähigkeit beraubt werden dürfen, für sich selbst zu sorgen. Daher schlägt sie als ein weiteres Primärgut vor, dass man, sofern man in einer Fürsorgebeziehung ist, das Recht hat, sich nicht aufopfern zu müssen. Werden diese neuen Grundgüter hinzugenommen, so kann Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption tatsächlich ihrem Anspruch näherkommen, komprehensiv egalitär zu sein (Kittay 2018, 249). Darüber hinaus merkt Kittay an, dass Rawls’ Vorstellung von Personalität insofern aufgehoben werden muss, als Pflege-Arbeiter*innen nicht den Status erreichen können, in Kooperationsbeziehungen als freie und gleiche aufzutreten; also dem ersten und zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz zu genügen. Zum einen

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können sie ihre Arbeit oft nicht frei aussuchen, da die Entscheidungen, die sie treffen, von umfassenden Problemen der Genderdiskriminierung geprägt sind, etwa patriarchalen Strukturen. Zum anderen profitieren sie oft nicht vom Differenzprinzip, da sie schlecht oder gar nicht bezahlte, gleichwohl gesellschaftlich unbedingt notwendige Arbeiten verrichten. Sie sind dabei mehr oder weniger genötigt diese Arbeit anzunehmen, weil sie auf dem Markt als „billige“ Arbeitskräfte auftreten. Der Markt kann dabei prinzipiell nicht das Problem der Pflegearbeit gerecht lösen, z. B. indem einfach die Bezahlung von Pflegearbeit erhöht wird. Wenn Pflege nämlich als bloße Ware verstanden wird, so wird sie immer ungleich zugunsten reicher Bevölkerungsschichten verteilt sein und nicht den Ansprüchen aller Menschen gerecht werden. Oftmals ist es aber auch der Fall, dass Pflegearbeit gar nicht auf dem Markt angeboten wird, sondern privat und unbezahlt, zusätzlich zu bezahlter Arbeit erfolgt (vgl. Tronto 1993). Auch von daher können Gerechtigkeitsprobleme, die sich aus Pflegeverhältnissen ergeben, nicht über das Instrument des Marktes zufriedenstellend gelöst werden. Aus Kittays (2018, 252) Erweiterungen von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie resultiert schließlich ein drittes Gerechtigkeitsprinzip, dem zufolge alle das Recht auf Fürsorge entsprechend ihrer Bedürfnisse haben, welches von jeder*jedem entsprechend der Fähigkeit zur Fürsorge ausgeübt werden muss; vermittelt über Institutionen, die helfen, dass sowohl die Versorgten als auch die Care-Arbeiter*innen mit angemessenen Ressourcen ausgestattet sind. Anders als die ersten beiden Gerechtigkeitsgrundsätze basiert Kittays dritter Grundsatz nicht auf dem Prinzip der Reziprozität, sondern vielmehr auf dem Faktum als Mensch prinzipiell ein verletzliches, abhängiges Wesen zu sein. Als Fallbeispiel für die Verwirklichung ihres dritten Gerechtigkeitsgrundsatzes führt Kittay (1999; 2002; 2018, 233–236) die postnatale Situation einer Mutter an. In dieser ist ihre Verletzlichkeit und Abhängigkeit durch die körperliche Anstrengung der Geburt gesteigert, während sie zugleich auch für die Bedürfnisse und An-

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forderungen ihres Babys verantwortlich ist. Hier kann es sich empfehlen, dass die Mutter von Dritten unterstützt wird, etwa durch eine Doula, die sie berät und emotional zur Seite steht. Die Beziehung zwischen der Mutter und der Doula ist dabei nicht durch Reziprozität zwischen autonomen Personen charakterisiert, sondern vielmehr durch sich überschneidende Abhängigkeiten: Die helfende Person hilft einer anderen, weil sie in Not ist. Zugleich hat die helfende Person auch Anrecht auf Betreuung, wenn sie diese einmal benötigt. Kittay schlägt in diesem Kontext vor, die vormalig in die private Sphäre gehörende Aufgabe der Doula zu einem öffentlichen Ideal für Care-Arbeit ohne Ausbeutung zu machen. Dazu muss man allerdings insofern über Rawls’ Konzeption moralischer Personen als vernünftig und rational hinausgehen, als sich der Doula-Status nur durch die Tatsache von Abhängigkeit begründen lasse. Dies schließt gleichwohl nicht die Option aus, dass Abhängigkeitsverhältnisse auf Kosten ihrer Mitglieder instrumentalisiert werden. Wie Amy Baehr (1996) argumentiert, müsste dafür die liberale Personenkonzeption sowohl durch soziale Identitäten als auch durch kommunikative Freiheiten im Sinne von Habermas ergänzt werden. Nur dies könnte Kittays dritten Gerechtigkeitsgrundsatz in angemessener Weise verwirklichen. Baehr geht also mit Habermas davon aus, dass die persönliche Freiheit abhängiger Individuen in der privaten Sphäre nur durch ein Gegenstück in der politischen Sphäre realisiert werden könne (vgl. Habermas 1996, 61–63). Private und öffentliche Freiheit sind miteinander verbunden und jede setzt die andere voraus (Habermas 1996, 261). Dies kann jedoch nicht bedeuten, wie Baehr anschließend bemerkt, durch aktive Beteiligung in der politischen Öffentlichkeit regelungsbedürftige Probleme ins öffentliche Bewusstsein zu heben. Eine solche Konzentration auf Deliberation im öffentlichen Raum führte nur zu demselben Problem, mit dem sich schon Rawls’ Reziprozitätsprinzip konfrontiert sah: Abhängige und Pflege-Arbeiter*innen sind oft nicht in der Lage, gleichermaßen umfangreich an öffentlichen Beratungen teilzunehmen.

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Kommunitarismus

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Oliver Hidalgo und Ragna Verhoeven

Die durch John Rawls’ Werk Theory of Justice entfesselte Renaissance der normativen politischen Philosophie in den USA provozierte zur dort vertretenen These des Liberalismus seit den 1980er Jahren die Ausbildung einer Antithese. Jene vor allem im anglo-amerikanischen Raum geprägte Auseinandersetzung wurde bekannt unter dem Label des ‚Kommunitarismusstreits‘. Assoziiert mit dem Begriff ‚Kommunitarier‘ werden für gewöhnlich Autoren wie Michael Sandel, Charles Taylor, Michael Walzer und Alasdair MacIntyre, aber auch Amitai Etzioni, Benjamin Barber, Robert N. Bellah oder Robert Putnam (vgl. Bell 1995 und 2013). Sie alle eint eine die ‚Gemeinschaft‘ (lat. communitas) und den politisch-kulturellen bzw. religiösen Kontext betonende Kritik am liberalen Individualismus, für den Rawls gleichsam Pate steht. Aus jener geteilten kritischen Position leitet sich auch die Bezeichnung ‚Kommunitarist*innen‘ oder ‚Kommunitarier*innen‘ (engl. community, communitarians) ab, die der genannten Gruppe an Rawls-Kritiker*innen von außen als Etikett übergestülpt wurde (Reese-

O. Hidalgo (*)  Universität Regensburg, Regensburg, Deutschland E-Mail: [email protected] R. Verhoeven  Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected]

Schäfer 2019b, 7). Beim Kommunitarismus handelt es sich zudem nicht um ein homogenes Feld von Autor*innen (Höffe 1996, 95). Lediglich eine geistesverwandte Grundeinstellung oder eine ‚Familienähnlichkeit‘ im Sinne Wittgensteins ist ihnen zu attestieren (Haus 2003, 14). Die Schlüsseltexte des Kommunitarismus (Etzioni 1998; Goodin/Pettit 2006) tragen ihre Argumente dabei zum Teil explizit, zum Teil implizit in Form der Kritik an Rawls vor. Zu denken wäre hier beispielsweise an Taylors What’s wrong with negative liberty? (Taylor 1985), den Sources of the Self (Taylor 1989) oder The Malaise of Modernity (Taylor 1991a), Walzers Spheres of Justice (Walzer 1983) sowie Sandels The Procedural Republic and the Unencumbered Self (Sandel 1984) bzw. Liberalism and the Limits of Justice (Sandel 1982). Erwähnenswert sind überdies Monografien wie MacIntyres After Virtue (MacIntyre 1981) oder Barbers Strong Democracy (Barber 1984). Auffällig ist, dass die genannten Werke allesamt in den 1980er und frühen 1990er Jahren erschienen, was die konstitutive Rolle von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit für die einschlägige Debatte verdeutlicht. Rawls selbst reagierte auf die Kritikpunkte, die die erwähnten Autoren vortrugen, 1993 mit der Publikation seines Werkes Political Liberalism (Rawls 1993), in dem er die politische und nicht metaphysische Dimension seiner Überlegungen zur Gerechtigkeit betonte (Rawls 1996, xii), ganz so, wie er

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_81

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es 1985 bereits im Aufsatz Justice as Fairness. Political not Metaphysical getan hatte (Rawls 1994, 255–292). Indes ließen sich schon aus der Theory of Justice wenigstens implizit einige kommunitarismusaffine Elemente herauslesen wie beispielsweise das Differenzprinzip oder der Gerechtigkeitssinn, was zugleich suggeriert, dass die Ansätze des Kommunitarismus von vornherein nicht als harsche Absage, sondern als mehr oder weniger komplementärer Gegenentwurf zum Liberalismus konzipiert waren. Entsprechend konnte Rawls im Politischen Liberalismus durch das Aufgreifen der zuvor bevorzugt von Kommunitarist*innen identifizierten Problemkreise seine eigene Gerechtigkeitstheorie modifizierend weiterentwickeln. Für diese Verhältnisbestimmung prägten Etzioni (1997a, 33) oder Taylor (1991b) die geflügelten Worte der „kreativen Spannungen“ bzw. der „cross-purposes“, die das Zusammenspiel zwischen Rawls und den Kommunitaristen charakterisieren. Der politische Liberalismus Rawlsscher Provenienz ist somit in wesentlichen Zügen eine Frucht der Auseinandersetzung mit dem Kommunitarismus. Kommunitaristische Ansätze reihen sich damit vornehmlich in das Konglomerat verschiedener Theoriestränge und Theorieschulen ein, die sich gegen den vom Liberalismus betonten methodologischen und normativen Individualismus stellen. In dieser Hinsicht zu nennen wären etwa ebenso der Republikanismus oder auch der Deliberativismus, die gemeinsam mit den Kommunitarier*innen unterschiedlicher Couleur am Liberalismus den zu gering ausgeprägten Fokus auf positive Freiheit, reale Gleichheit, Partizipation und Bürgertugenden, Lebenswelt und common goods monieren. Gerade der Kommunitarismus in den Positionen von Taylor, Barber, Sandel und Etzioni zeichnet sich dabei durch ein zutiefst politisch-praktisches Anliegen aus, das sie aus ihrer Konfrontation mit Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit entwickelten. Seit den 1990er Jahren rückten die Kommunitarist*innen daher zunehmend von dem eher theorielastigen, moralphilosophisch imprägnierten Rawls-Diskurs ab und formulierten verstärkt politische Vorschläge (Galston 1993 und 2002). Dies motivierte Rawls

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dazu, im Political Liberalism das genuin politische Interesse seiner Gerechtigkeitstheorie zu bekräftigen. Der vorliegende Beitrag zur Rawls-Rezeption durch den Kommunitarismus gibt in erster Linie einen Überblick über die einschlägigen Kritikpunkte am Rawlsschen Liberalismus. Eine Schwerpunktsetzung ist hier unausweichlich. So konzentrieren wir uns zunächst auf die Entfaltung der ‚Kritik am ungebunden Selbst‘, die auf Basis der namensgebenden Perspektive der Gemeinschaft erfolgt und zwischen den an sich heterogenen Ansätzen des Kommunitarismus ein Scharnier bildet (Abschn. 1). Stärker ausdifferenziert sind im Anschluss die Kritik an der negativen Freiheitskonzeption des (Rawlsschen) Liberalismus, wie sie v. a. Taylor, sowie an der unterkomplexen Gleichheit, wie sie dezidiert Walzer geübt hat (Abschn. 2). Gleichsam als Fluchtlinie münden diese Ingredienzien in die grundsätzliche Ablehnung des (liberalen) Universalismus und der von letzterem forcierten Trennung zwischen Rechtem und Gutem, wie sie die Kommunitaristen gegen Rawls und seine liberalen Epigonen in Stellung brachten (Abschn. 3). Nach einem ergänzenden Blick auf die ‚starke Demokratie‘, wie sie namentlich Barber gegen das liberale, von Rawls goutierte Verständnis der ‚schwachen‘ (repräsentativen) Demokratie lancierte (Abschn. 4), fasst das abschließende Unterkapitel 5 die konkurrierenden und komplementären Beziehungslinien zwischen Rawls und seinen kommunitaristischen Kritikern zusammen. Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit wird dadurch insgesamt als fruchtbarer Boden erhellt, aus dem eine kritisch-normative Beschäftigung mit den Grundsätzen der liberalen Theorie erwachsen konnte.

Die Kritik am ungebundenen Selbst Einer der Hauptansatzpunkte der Kommunitarier für eine Kritik an der Theory of Justice ist Rawls’ Denkfigur des Urzustands. Sie bemängeln, dass Rawls vom Individuum und somit von einem vorsozialen Selbst ausgehe. Die kommunitaristische Position stellt jedoch heraus,

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dass jeder Mensch a priori in eine Gemeinschaft hineingeboren ist, die seine Identität schafft (Etzioni 1997b, 141). Somit sei Rawls’ Konstruktion eines hiervon unbeeinflussten, quasiarchimedischen Punktes wie des ‚veil of ignorance‘ schlicht unrealistisch und führe zu einem verzerrten Ergebnis im Rahmen seiner Vertragstheorie. Besonders Sandel trägt diese Kritik in The Procedural Republic and the Unencumbered Self (1984) vor. Aber auch andere Autoren betonen die Kontextgebundenheit der einzelnen Individuen, die nicht nur die Konzeption eines kollektiven Guten impliziert (Haus 2019, 194, siehe Abschn. 3), sondern zugleich die Voraussetzung für die Ausbildung eines Gemeinsinns darstellt, dessen intellektuelle Wurzeln bis zu Aristoteles zurückreichen. Besonders Taylor und MacIntyre nehmen entsprechende Anleihen bei der aristotelischen Tugendethik, um die Vorstellung einer guten Gemeinschaft mit ihren historisch gewachsenen Wert- und Moraltraditionen den rational, auf den eigenen Vorteil bedachten Individuen bei Rawls entgegenzusetzen (Haus 2003, 32). Findet man bei Sandel indes noch eine starke, direkte Auseinandersetzung mit den Thesen von Rawls, rücken andere Kommunitarier wie z. B. Taylor in dieser Hinsicht vom Ausgangspunkt der Debatte ab. In The Malaise of Modernity (1991a) identifiziert Taylor (1995, 8) den Individualismus lediglich allgemein als erste Ursache der übergreifenden Beunruhigung, die er in seinem Werk hypostasiert. Er stellt fest, dass der soziale Zusammenhalt schwindet, da sich die Menschen nur noch auf sich selbst konzentrieren. Weiterhin betont er die dialogische Entwicklung und Konstitution des Menschseins und somit die Wichtigkeit der Gemeinschaft für die Wertschätzung und Anerkennung des Einzelnen (ebd., 41). Mit dem Begriff der Authentizität wendet sich Taylor zugleich gegen den Relativismus des Nebeneinanderstehens von individuellen Meinungen und setzt sich für die ‚authentische‘ Selbstwerdung im Kontext des kulturellen und politischen Zusammenlebens als moralisches Ideal ein (ebd., 20, 32; siehe auch Taylor 1992a). Rawls wird in diesem Kontext neben Ronald Dworkin oder Will Kym-

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licka als einer von vielen liberalen Autor*innen erwähnt, die in ihren Maßstäben des ‚guten Lebens‘ nur das gelten lassen, „was jeder einzelne in jeweils eigener Weise anstrebt“ (Taylor 1995, 25, Anm. 3). Dass ein solches ungebundenes Selbst, das gemäß eigener Façon nach Glück strebt, gar nicht existiert, hatte Taylor zuvor ausführlich in den Sources of the Self (1989) entfaltet. Dort rekonstruiert er die vielfältigen, teils widersprüchlichen „Quellen“, aus denen die neuzeitliche Identität schöpft. Letztere konstituiere sich folglich – anders als bei Kant oder dem in gleicher Tradition stehenden Rawls – nicht allein aus sich heraus, sondern aus bereits vorgefundenen Gütern, die das Subjekt für seine Sinnorientierung nutzt. Das Selbst hat beim Hegelianer Taylor insofern immer seine „Geschichte“ und „konstituiert sich nicht nur“, sondern „findet sich“ gewissermaßen „auch vor“. Entsprechend ist das Individuum „nicht allein auf sich gestellt, sondern ein Selbst unter anderen“ (Ottmann 2012, 342 f.). Noch weitaus pessimistischer als Taylor spricht MacIntyre in After Virtue (1981) nicht nur von den Schwierigkeiten, in der sich zunehmend individualisierenden Gesellschaft überhaupt noch so etwas wie Authentizität evozieren zu können, sondern von einer quasi unlösbaren Krise der Moderne, in der die Fundamente einer moralischen Existenz des Menschen längst weggebrochen seien. Beide, Taylor und MacIntyre sind sich immerhin einig, dass die Idee einer Gemeinschaft, in die das Leben der Individuen eingebettet ist und aus der sie ihre subjektive Identität beziehen, der Rawlsschen Perspektive des Urzustands entgegenzusetzen ist, den sie mit einem atomistischen Gesellschaftsbild gleichsetzen. Als ‚Kommunitarier‘ fordern sie folgerichtig, die Position der politisch-kulturellen Gemeinschaft im Ganzen stärker zu betonen und nicht den Belangen und Ansprüchen des Einzelnen strikt unterzuordnen. Hierzu passend wird die Konsistenz und Kohärenz der Entwicklung der gesellschaftlichen Ordnung, die Rawls aus dem Urzustand deduziert, von kommunitaristischer Seite massiv bezweifelt. Den ursprünglichen Optimismus der Theory of Justice, wonach Idee und Realität der

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„sozialen Gemeinschaft“ (Rawls 1998, 565 ff.) relativ problemlos aus einer individualistisch angelegten Anthropologie bzw. der individuellen Vernunft erwachsen können, vermögen Kommunitarist*innen jedenfalls nicht zu teilen. Sich eine solche Gemeinschaft aus lauter Individualisten mit Rawls als das Zusammenspiel von Einzelmusiker*innen in einem Orchester vorzustellen (ebd., 569, Anm. 4), ermangelt für den Kommunitarismus nicht nur einer verbindenden, gleichsam dirigierenden ‚Seele‘, die der Kakophonie vorbeugt, sondern überhaupt die von allen geteilten Bereitschaft, nicht allein als Solist glänzen und andere ausstechen zu wollen. Rawls’ Reaktion findet sich gebündelt im Politischen Liberalismus. Hier rückt er bekanntlich von der eher starren und abstrakten Konzeption der geordneten Gesellschaft aus der Theory of Justice wenigstens zum Teil ab und versucht eine ‚realistischere‘, in den Kontext westlicher Demokratien eingebettete und mithin praxisnähere Interpretation anzubieten, die in erster Linie der Prämisse des gesellschaftlichen Pluralismus geschuldet ist (Rawls 1996, xvii). Geleitschutz erhielt er hierfür etwa von Allen Buchanan (1989, 864), der Rawls’ Gerechtigkeitstheorie insgesamt weniger von der durch die Kommunitarier desavouierten Idee des Individualismus, sondern vom Grundprinzip des Pluralismus durchdrungen sieht. Im Zentrum stehe das Problem der Pluralität von Meinungen und Positionen, die sich nur aufeinander abstimmen ließen, falls sich die Gesellschaft auf bestimmte Gerechtigkeitsgrundsätze einigt. Der Rawlssche Kontraktualismus schließe somit die Gemeinschaftsperspektive keineswegs per se aus, sondern widme sich lediglich der Notwendigkeit ihrer auf Basis garantierter Freiheitsrechte erfolgenden Organisation (ebd.). Die kommunitaristische (Über-)Betonung der Gemeinschaft laufe hingegen Gefahr, in eine totalitäre, den legitimen Ansprüchen des Individuums feindlich gesonnene Logik umzuschlagen (ebd., 860). Gegen eine derartige Zuspitzung wehrten sich wiederum die Kommunitaristen mit dem Argument, die Rechte des Individuums mitnichten aus ihrem Denken zu verbannen, sondern im Vergleich zu Rawls nur einen besseren

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theoretisch-normativen Einbezug der Gemeinschaftsdimension gewährleisten zu wollen. So schrieb beispielsweise Etzioni (1997a, 313): „Individuen spielen sehr wohl eine Rolle, aber nur innerhalb des Kontexts ihrer Kollektive.“ Strittig zwischen Rawls und den Kommunitariern war infolgedessen lediglich, ob die Theory of Justice und andere Schriften aus dem Rawlsschen Œuvre einen tragfähigen Ausgleich zwischen den Ansprüchen der Individuen und des Kollektivs, respektive eine sozial verträgliche Selbstentfaltung beinhalten oder nicht.

Kritik an negativer Freiheit und unterkomplexer Gleichheit Verbunden mit der Kritik an der (angeblichen) Überbetonung des Individuums ist die kommunitaristische Polemik gegen den Rawlsschen Liberalismus ebenso gegen das Konzept der negativen Freiheit gerichtet. In dieser Hinsicht wendet Taylor (1992b, 118) gegen Thomas Hobbes, Jeremy Bentham und vor allem Isaiah Berlin ein, dass sich Freiheit niemals „ausschließlich im Sinne der Unabhängigkeit des Individuums von der Einmischung anderer definieren“ könne, sondern – im Anschluss an Rousseau, Marx oder Tocqueville – „zumindest zum Teil auf der kollektiven Kontrolle über das gemeinsame Leben beruht“. Rawls wird im Kontext dieser Gegenüberstellung von negativer und positiver Freiheit zwar zunächst gar nicht explizit erwähnt, die in Taylors Aufsatzsammlung unmittelbar anknüpfende Kritik an der „distributiven Gerechtigkeit“ (ebd., 145 ff.) lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass sie die einschlägige Auffassung von Rawls in direkter Beziehung zu einer überwiegend negativ gehaltenen Freiheitskonzeption sieht. Letzteres wird transparent, wenn Taylor Rawls’ Gerechtigkeitstheorie an dieser Stelle damit umschreibt, dass „vereinzelte Menschen […] nichtsdestoweniger unter Bedingungen mäßiger Knappheit miteinander zusammenarbeiten“ (ebd., 145). Dazu rekurriert Taylor (ebd., Anm. 1) auf Sandels Liberalism and the Limits of Justice (1982), wo die „Schwierigkeiten“, von Rawls’

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Formulierung der Gerechtigkeit bereits „gründlich untersucht“ worden seien, um hernach selbst das aus seiner Sicht bestehende Missverständnis von Rawls aufzudecken: „die Prinzipien der Gerechtigkeit zu begründen“ und es gleichwohl zu unterlassen, „den historischen und kulturellen Variationen der Vergemeinschaftungsformen, die wir bilden, und der Arten von Gütern, die wir anstreben, irgendwelche Beachtung zu schenken (zumindest nicht denen in entwickelten Gesellschaften)“ (Taylor 1992b, 173). Infolgedessen sollten die beiden (Gerechtigkeits-)Prinzipien, die Rawls aufstellt – die Gleichverteilung von (negativen) Grundfreiheiten sowie die sozial verträgliche Ungleichverteilung des gesellschaftlichen Wohlstands – im Grunde gar nicht als eine Theorie der Gerechtigkeit gelesen werden, sondern vielmehr als „Plädoyer für eine bestimmte Art der Gesellschaft“, in der die aufgestellten „Verteilungsprinzipien die wahrhaft gute Gesellschaft mit Leben erfüllen“ (ebd.). Das heißt, Taylor wirft Rawls vor, regelrecht blind für die politische Bestimmungsgrundlage einer liberalen Gemeinschaft gewesen zu sein, die negative Freiheit, Rechtsgleichheit und ökonomischen Ausgleich als Prinzipien eines guten Zusammenlebens für sich erkannt hat und auf Basis entsprechender Entscheidungsprozesse zu verwirklichen trachtet. Anders ausgedrückt, wer negative Freiheit begehrt, benötigt positive Freiheit, um erstere als politische und soziale Praxis zu etablieren, eine Position, die durchaus an den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie bei Habermas (1999) erinnert. Im Gegensatz dazu hat Rawls für Taylor (1992b, 273, Anm. 9) hingegen nur den „Mythos“ des Gesellschaftsvertrags wiederbeschworen, der bereits bei Rousseau daran scheitern musste, aus egoistischen, nutzenmaximierenden Individuen kooperative Bürger*innen zu machen. Doch nicht nur die Freiheitsidee des Liberalismus, auch die Vorstellung der Gleichheit, die in der Theory of Justice vertreten wird, erscheint in den Analysen des Kommunitarismus unterkomplex. In dieser Hinsicht hat sich besonders Walzer hervorgetan, die im Vergleich zu den Ausführungen bei Rawls deutlich höhere

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Komplexität der Gleichheit bzw. der Gleichverteilung von Gütern in der modernen pluralistischen Gesellschaft zu beleuchten. Im entsprechend übertitelten Schlüsselkapitel seiner Spheres of Justice argumentiert Walzer (2006a, 26–64), dass das auch von Rawls anvisierte Ziel der Erfassung einer ‚gerechten‘ Gleichheit mehrere Güterkategorien innerhalb der sozialen Welt wie politische Macht, Wohlstand, Sicherheit, Arbeitsbedingungen, Freizeit, Bildung, Zugehörigkeit, Liebe und Anerkennung in Betracht zu ziehen hat. Hiermit korrespondieren ebenso diverse Distributionsprinzipien, von denen der freie Austausch, der Verdienst und das Bedürfnis die drei wichtigsten sind (ebd., 51 ff.). Eine kohärente Gerechtigkeitskonzeption erfordere nun die entsprechende Berücksichtigung der hieraus resultierenden unterschiedlichen „Sphären“ der sozialen Wirklichkeit. ‚Gerechtigkeit‘ könne es ergo nur geben, wenn keine Einzelsphäre der Gesellschaft eine hegemoniale Stellung erreicht, Herrschaft monopolisiert und so mit der ihr eigenen Logik der Distribution die Verteilung in den anderen Sphären vorwegzunehmen vermag. Dies wäre etwa der Fall, wenn Bildung oder politische Ämter ein Privileg der Reichen bleiben, die Gesetze für die politischen Machthaber nicht gelten, Liebe, Anerkennung und soziale Sicherheit von der beruflichen Karriere abhängen oder auch, wenn sich eine politische Gemeinschaft hermetisch gegen Einwanderer abriegelt. Eine komplexe Gleichheit und damit soziale Gerechtigkeit ist nach Walzer hingegen garantiert, wenn alle Sphären ihre Unabhängigkeit zumindest insofern behalten, dass sich die ihnen zukommende Verteilungslogik (z. B. politische Macht auf Wahlen und Abstimmungen zu begründen, wirtschaftlichen Erfolg auf Kompetenz, Fleiß und Unternehmergeist, soziale Sicherheit nach den vorhandenen (Grund-)Bedürfnissen zu gestalten usw.) ungehindert entfalten kann. Dass Rawls jene einleuchtende Komplexität der Gleichheit in der Theory of Justice wohl tatsächlich unterschätzt hat, führte ihn dazu, sich im Politischen Liberalismus stärker auf die Probleme der Pluralität in einer konkreten politischen Gemeinschaft zu konzentrieren (Rawls

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1996, xvii). Damit bewegte er sich allerdings in Richtung einer Revision, die mit dem ursprünglich universal anmutenden Charakter seiner Konzeption an einigen signifikanten Stellen bricht. In dieser Hinsicht davon zu sprechen, dass der Kommunitarismus Rawls’ Theorie bedeutsam verändert hat, ist wohl kaum übertrieben. Dass Rawls seinem eigenen Verständnis nach in diesem Zusammenhang den ‚liberalen‘ Impetus seiner Theorie gleichwohl sogar intensiviert, liegt an seiner stärkeren Betonung des Vorrangs der Grundfreiheiten gegenüber allen Ansprüchen der Gleichheit. Hatte die Theory of Justice diesbezüglich noch vom „gleichen Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten“ (equal right to the most extensive total system of equal basic liberties) gesprochen, reduziert sich die (politische und rechtliche) Gleichheit im Political Liberalism auf ein „völlig angemessenes System von Grundfreiheiten“ (equal claim to a fully adequate scheme of equal basic rights and liberties) (Rawls 1996, Lecture 8, Section 8). Nicht nur seinen kommunitaristischen, auch seinen liberalen und libertären Kritiker*innen machte Rawls insofern Konzessionen.

Kritik am Universalismus und der Trennung von Rechtem und Gutem Rawls’ Behandlung des Gerechtigkeitsproblems, die sich in der vielzitierten Formulierung der beiden Grundsätze aus der Theory of Justice verdichtet, ist als eine Art minimaler Grundkonsens konzipiert, in dessen Rahmen die Pluralität der Werte, Meinungen und Vorstellungen vom Guten friedlich koexistieren kann (Rawls 1998, 337 f.). Ausschlaggebend für die liberale Charakteristik sowie die Konsistenz von Rawls’ Ansatz ist dabei der erste Grundsatz, der allen Menschen respektive Vertragspartnern bestimmte (Freiheits-) Rechte und Grundgüter (basic goods) zusichert und überdies im Sinne einer lexikalischen Ordnung Priorität gegenüber der „demokratischen Gleichheit“ des zweiten Grundsatzes genießt (ebd., 81 ff.). Jene Logik wurde von der Rezeption für gewöhnlich unter dem Label eines Vorrangs des ‚Rechten vor dem Guten‘ subsumiert,

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wonach „unter den modernen Bedingungen eines Wertepluralismus nur das allgemeine Prinzip gleicher Rechte, Freiheiten und Chancen als normativer Maßstab [der Gerechtigkeit] dienen kann“ (Honneth 1993, 8). Dahinter verblasst der Horizont gemeinschaftlich geteilter Werte bzw. wird ein solcher als Freiheitseinschränkung problematisch. Kommunitarier*innen kritisieren demgegenüber den Primat des Rechten und rücken ‚das Gute‘ in den Vordergrund. Damit ist gemeint, dass ohne eine gemeinschaftliche Vorstellung vom Guten das (Ge-)Rechte unterbestimmt bleibt und Fragen nach der gerechten Ordnung gar nicht sinnvoll ins Visier geraten. Vor allem Sandel (1982, 48 ff.) kritisierte deswegen die Rawlssche „Anthropologie“ des rationalen, Nutzen maximierenden Individuums sowie die Leitidee eines rein voluntaristisch verfassten moralischen Subjekts (ebd., 50–55) als eben die beiden Chiffren, die dem an Kant angelehnten, deontologischen Vorrang der individuellen Rechte vor dem gemeinschaftlich Guten Vorschub leistet (ebd., 6 f.; Forst 1996, 23–30). So richtet sich die kommunitaristische Kritik weitergehend auch gegen die liberale Vorstellung, dass sich die Legitimität des Staates aus seiner (vermeintlich) neutralen Position gegenüber Fragen des guten Lebens speist (MacIntyre 2006, 261). Denn ein Staat kann realistisch gesehen keine Gesetze erlassen, die eine völlige Wertneutralität wahren (Stelzer 2019, 356). Folglich soll der Staat sich seiner moralischen Rolle bei der Gesetzgebung gezielt bewusst sein. Gleichzeitig ist jedoch sicherzustellen, dass solche Macht nicht der eines Polizeistaates gleicht (Etzioni 1996, 160). Diese mögliche Gefahr suchen Kommunitarier durch einen stärkeren Fokus auf das soziale Verantwortungs- und Pflichtverhalten der Bürger*innen zu bannen (Etzioni 1995, 34 f.). Jene Forderung nach einer neuen Gewichtung von Pflichten gegenüber Rechten wird vor allem von Etzioni (1997b, 36) vorgebracht und auch als ‚Verantwortungsgesellschaft‘ betitelt (Galston 1993, 217). Die gegenseitige Verantwortung dient ebenso als Motivation, innerhalb der Gemeinschaft gerecht zu handeln. Gerade diese

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Motivation wird von Sandel (1984, 82) in Bezug auf Rawls’ Theory of Justice in Frage gestellt: Denn warum sollten die rational auf ihren eigenen Vorteil sowie lediglich die eigene Risikominimierung bedachten Individuen bei Rawls die von ihm theoretisch aufgestellten Gerechtigkeitsgrundsätze befolgen, wenn sie nichts gemeinschaftlich verbindet? (ebd., 89 f.). Diese Problematik bezieht sich bei Sandel v. a. auf das Differenzprinzip und die hiervon in Aussicht gestellte sozial verträgliche Verteilung materieller, ökonomisch bewertbarer Güter (vgl. Rawls 1998, 82). Anderenteils aber wies insbesondere Walzer (2006b, 54, 56, 121) darauf hin, dass eine politische Gemeinschaft gerade bei existentiellen Fragen wie der legitimen Landesverteidigung gegen eine Aggression von außen einer kollektiven, wertebasierten Identität dringend bedarf. Ein kontraktualistisch begründeter Rechtsverband im Sinne von Rawls wäre hingegen damit überfordert, Ressourcen bereitzustellen, die gegebenenfalls auch vor dem Einsatz des eigenen Lebens nicht zurückschrecken. Das kommunitaristische Insistieren auf eine konkrete gemeinschaftliche Wertebasis wendet sich im Ganzen gegen die abstrakt-universalistischen Bezüge, die Rawls Reanimation der kantischen Vertragstheorie unweigerlich impliziert. Dass sich jede politische Gemeinschaft letztlich ihre eigenen, historisch und kulturell kontextabhängigen Regeln gibt, werde von Rawls’ universalistisch imprägnierter Theory of Justice weitgehend ignoriert, weshalb sie die von ihr selbst adressierten normativen Fragen auch nicht zufriedenstellend lösen könne (MacIntyre 2006, 325–339). Das heißt indes nicht, dass Kommunitarier den Universalismus individueller (Menschen-)Rechte strikt negieren, sondern lediglich, dass sie auch hier wieder eine alternative Gewichtung vornehmen. Dies zeigt sich z. B. an Taylors Ideen zum Multikulturalismus und der Politik der Anerkennung, die sowohl auf einer Differenzsensibilität als auch einem schwachen Universalismus aufbaut (Taylor 2009, 24 ff.). Zwischen einer „Politik der allgemeinen Würde“, die „auf etwas Universelles zielt“, das heißt „auf etwas, das für alle gleich ist, auf ein identisches Paket von Rechten und

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Freiheiten“, und einer „Politik der Differenz, die [die] unverwechselbare Identität eines Individuums oder einer Gruppe anzuerkennen [verlangt], ihre Besonderheit gegenüber allen anderen“ (ebd., 25), sei folgerichtig eine optimale Balance zu finden. Jenes kommunitäre Streben nach einem Kompromiss zwischen Universalismus und Partikularismus wird von liberaler Seite hingegen seinerseits skeptisch beäugt. So argumentieren Liberale wie Rawls, dass durch eine bestimmte Vorstellung des gemeinschaftlichen Guten die Gefahr eines Konformitäts- oder gar Homogenitätsdruck entsteht, die die innerhalb einer Gesellschaft vorhandenen Dynamiken nicht widerspiegeln kann (Stelzer 2019, 353). Im Ergebnis könnte es zu einer Diskriminierung von Randgruppen kommen oder aber die Freiheit der Bürger*innen eingeschränkt werden, sich frei und ungehindert ihrer persönlichen Vorstellung des Guten hinzugeben (ebd., 355). Ein argumentatives Patt zwischen dem liberalen Eintreten für ein universales Freiheitsverständnis und der kommunitaristischen Anerkennung von Differenzen und Besonderheiten ist damit fast unausweichlich vorprogrammiert.

Kritik an der ‚schwachen‘ Demokratie Das Kernelement der kommunitaristischen Kritik am methodologischen und praktischen Individualismus des Liberalismus Rawlsscher Provenienz wirkt sich zugleich massiv auf das jeweilige Verständnis der Demokratie aus. In dieser Hinsicht warf wiederum bereits Sandel (1984) Rawls die mangelnde Berücksichtigung eines Prozeduralismus vor, der auf demokratischem Wege mithilfe von politischen Entscheidungsverfahren und Aushandlungsprozessen zu kollektiv verbindlichen Regeln gelangt. Mit Rawls und seinem offenbar fehlenden Vertrauen in die Offenheit demokratischer Willensbildung ließe sich letztlich hingegen sogar eine Form der philosophischen „Gerechtigkeitsexpertokratie“ rechtfertigen (Maus 1998, 92). Ihr eigenes Demokratieideal fanden viele Kommunitarist*innen daher nicht zufällig (und

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zumindest bis zu einem bestimmten Grad) in den direktdemokratischen Vorbildern der Antike. Bekannt geworden ist in dieser Hinsicht besonders Barbers Begriff der Strong Democracy, der im Gedenken an Rousseaus Ausführungen zur moralischen Korruption des Individuums in der liberalen Moderne die „Bürger“ zuvorderst als „Gemeinschaftswesen“ auffasst (Barber 1994, Kap. 6). In ähnlicher Manier beklagt Sandels Buch Democracy’s Discontent (1996) den Verlust des (antiken) bürgerlichen Republikanismus in der Moderne und bemüht sich um eine public philosophy, die die Installation neuer Formen der Selbstregierung unterstützt. MacIntyre (1984), bei dem die positive Orientierung an der Antike am weitesten geht, restaurierte dazu die klassische Tugend des Patriotismus gegenüber einem übersteigerten modernen Individualismus und Nationalismus. Seyla Benhabib (1996) schließlich unterstreicht in der Manier der Neoaristotelikerin Hannah Arendt das Machtpotential des sich gemeinschaftlich vollziehenden Handelns gegenüber der Vorstellung des atomisierten Individuums in der liberalen Gesellschaft. Im zumeist ‚starken‘, die Partizipation und Selbstregierung hervorhebenden Demokratieverständnis der Kommunitarier (siehe bereits Etzioni 1968) wiederholt sich zudem die Kontroverse zwischen den liberalen Befürworter*innen der negativen Freiheit und den republikanischen Epigonen ihrer positiven Variante (siehe Abschn. 2). Vor allem bei Barber (1994, 100, 270 ff.), der nicht nur das Erbe der Antike, sondern auch den Pragmatismus von Dewey sowie den Republikanismus von Machiavelli, Rousseau, Paine, Jefferson und Arendt (ebd., 9 f., 26, 41, 99 ff., 107 f. 139, 147–158, 167, 205 ff., 232 f.) rehabilitiert und eine starke Demokratie der „mageren“ liberal-repräsentativen Version entgegenstellt (ebd., 31–95), zeigt sich das kommunitaristische Verständnis der Volksherrschaft in seiner reinen, radikalen Form. Als Hort der Partizipation, Bürgerbeteiligung und Selbstgesetzgebung (ebd., Kap. 4 und 5) bildet die Demokratie bei Barber und anderen Kommunitarist*innen nicht nur eine Herrschaftstechnik, sondern in erster Linie eine Lebensform (ebd.,

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25  f.). Gerade die Lebensfähigkeit liberaler Demokratien wird bezweifelt, solange diese auf einem Verständnis fußen, das legale Verfahren und repräsentative Institutionen gegenüber einer aktiven Mitsprache der Bürger*innen favorisiert (Honneth 1993, 15). Dennoch wird die Vorgabe des Liberalismus auch hier nicht verabschiedet, sondern lediglich modifiziert: Zwar reizt Barber (1994, 241 ff.) die Stärkung direktdemokratischer Elemente so weit wie möglich aus, doch will er dadurch die repräsentativen Organe nicht abschaffen, sondern nur ergänzen. Die Gefahr einer Überbeanspruchung der Bürger*innen hat Barber zweifellos gesehen (ebd., Kap. 7). Mithin reiche es aus, wenn das Volk „wenigstens zu gewissen Zeiten Gesetze verabschieden und durchführen“ kann. Der Bedarf an einer jederzeit „effizienten Regierung“ gerät hingegen keineswegs „aus dem Blick“ (ebd., 14).

Der Kommunitarismus als immanente Kritik am Liberalismus Rawlsscher Prägung? Walzer (1990, 21) charakterisierte einst die verschiedenen kommunitaristischen Ansätze als periodische Korrektur ihrer liberalen Antipoden. Dabei versuchen die Kommunitarist*innen, wie gesehen, die Gemeinschaft, anstelle von atomisierten Individuen in den Blick zu nehmen und weniger Gewicht auf Rechte zu legen als auf die moralische Auseinandersetzung mit ‚dem Guten‘, bzw. ‚Tugendhaften‘ (s. o. Abschnitte 1 und 3). Ein größeres Augenmerk liegt überdies auf der Möglichkeitsebene der positiven Freiheit (Abschn. 2), womit eine Betonung der Partizipationsoptionen für aktive Bürger*innen einhergeht (Abschn. 4). Die praktischen, praxisbezogenen Ideen und Anliegen des Kommunitarismus sind in diesem Zusammengang deutlich. Statt einer Ablehnung der liberalen Theorie finden im Modus kommunitaristischer Ansätze daher in erster Linie Erweiterungen, Modifikationen und Relativierungen der Überlegungen statt, wie sie insbesondere Rawls repräsentiert. Dem (Rawlsschen) Liberalismus entgegen gesetzt wird von Seiten des

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Kommunitarismus mithin allenfalls eine „thin theory of community“ (Cochran 1989), die wichtige Prämissen des Individualismus intakt lässt, obgleich sie deren Widerspruch zur Gemeinschaftlichkeit sowie zur Einbettung des Einzelnen in einen sprachlich-kulturellen, ethnischen, moralischen oder religiösen Kontext aufdeckt. Nichtsdestotrotz bedeutet der Kommunitarismus mehr als eine reine, immanent bleibende Liberalismuskritik und lässt sich vom ursprünglichen Ausgangspunkt der Debatte – der Theory of Justice – mittlerweile eine ganze Bandbreite an neuen, weiterführenden Ideen nachzeichnen, die das Label des Kommunitarismus integriert. Der Aushandlungsprozess zwischen Liberalen und Kommunitariern kann somit eventuell als ‚ewige Wiederkehr‘ des Kampfes zwischen Assoziation und Dissoziation, Verbindung und Trennung der Individuen gesehen werden, der die permanente Gefährdung des Gemeinschaftsgedankens in liberal-individualistischen Gesellschaften illustriert. Im Rahmen dieser Kontroverse gelingt es bestenfalls, die jeweilige Legitimität und folgerichtig Spannung zwischen individuellen und kollektiven Ansprüchen aufrechtzuerhalten (Hidalgo 2014, 281–293). Beim Liberalismus-Kommunitarismus-Streit geht es also letztlich weniger um die Frage, welche Seite über die andere triumphiert, als um die stetige Fortsetzung des Dialogs über die Grundsätze und Grenzen des Liberalismus. Die vom liberalen Individualismus meist ausgeblendete Perspektive der Gemeinschaftsbindung des Selbst ist demzufolge in wiederkehrenden Abständen zu rehabilitieren, sprich die im Liberalismus bereits angelegten sozialen Bindekräfte sind dieser Lesart nach immer dann zum Erstarken zu bringen, sobald der Duktus des Individualismus zu dominant wird. Die Theory of Justice hat jene Debatte um die zentralen Fragen des Zusammenlebens in demokratischen Gesellschaften angestoßen und bereichert und ist dadurch zur Drehscheibe für eine innovative Neufassung der normativen politischen Theorie – mit entsprechend alternativen Gerechtigkeitskonzepten (vgl. MacIntyre 1988; Walzer 2006a; Sandel 2009) – avanciert. Inwieweit sich

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der Kommunitarismus in Gegenwart und Zukunft als Theoriestrang weiter etablieren und emanzipieren wird, bleibt abzuwarten.

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Radikale Demokratie

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Michael Reder

Was ist radikale Demokratietheorie? Die radikale Demokratietheorie ist in den vergangenen 20 Jahren zu einem immer wichtigeren Paradigma innerhalb der politischen Philosophie und Theorie geworden. Viele traditionelle Ansätze der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dienen als Bezugspunkt für diese Arbeiten. Radikale Demokrat*innen wollen entlang philosophischer Grundbegriffe dieser Traditionen (Individuum, Rationalität usw.) das Soziale, Normative und Politische philosophisch neu denken. Zentral in dieser Auseinandersetzung sind John Rawls und andere deliberative Autor*innen (in der Tradition von Jürgen Habermas) und deren philosophische Theorien. Insbesondere Rawls ist zum wichtigen Abgrenzungspunkt vieler Argumente geworden. Für die radikale Demokratietheorie sind seine Theorien der Gerechtigkeit und des Liberalismus zu Gegenbildern par excellence avanciert. Um zu verstehen, wie sich diese Absetzung von Rawls entlang zentraler Kategorien und Begriffe seiner politischen Philosophie vollzogen hat, ist es sinnvoll, zuerst die Grundannahmen der radikalen Demokratietheorie zu rekonstruie-

M. Reder (*)  Hochschule für Philosophie München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

ren. Was sind ihre zentralen Vertreter*innen und zentralen Argumente? Bei allen Unterschieden teilen radikale Demokratietheorien nämlich einige zentrale Annahmen, die Basis ihrer Absetzung von Rawls sind. Radikale Demokratietheorien schließen an die Philosophie Georg Friedrich W. Hegels an. Manche von ihnen greifen zudem die Marxsche Wendung der Hegelschen Theorie auf. Andere Traditionslinien des 20. Jahrhunderts wie beispielsweise die Überlegungen von Antonio Gramsci, Carl Schmitt, Michel Foucault oder Jacques Derrida spielen ebenfalls (in unterschiedlicher Weise und Intensität) eine wichtige Rolle innerhalb des Paradigmas. Vertreter*innen der radikalen Demokratie sind u.  a. Chantal Mouffe und Ernesto Laclau (Laclau/Mouffe 1991; Mouffe 2007; 2008), auf die besonders oft in diesem Zusammenhang Bezug genommen wird, aber auch Jacques Rancière (2010), Alain Badiou (2010) oder Judith Butler (2003; 2016) gehören zu dieser Denkschule. Laclau und Mouffe (1991) haben bereits in den 1980er Jahren eine sozialphilosophische Basis für demokratietheoretische Überlegungen erarbeitet. Das Soziale ist ihrer Ansicht nach nicht positiv gegeben, sondern zeigt sich stets als eine komplexe Form von Diskursivität, worin sich der diskursanalytische Ansatz von Foucault widerspiegelt. Bedeutung entsteht für Mouffe nicht durch eine Referenz auf die äußere Welt, sondern nur innerhalb g­esellschaftlicher und

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_82

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politischer Diskurse (vgl. Demirovic 2007). Diskurs ist eine gesellschaftliche Totalität, die sich ständig dynamisch verändert. Aufgrund dieser Dynamik und der Unmöglichkeit, das Soziale auf eine Bedeutung zu fixieren, ist Gesellschaft ihrer Ansicht nach immer fragil und kontingent. Deswegen entstehen stets neue Auseinandersetzungen um die Stabilisierung der Diskurse. Mouffe bezieht sich argumentativ in diesem Zusammenhang auf Carl Schmitt, der in der politischen Philosophie seitjeher wegen seiner antiliberalen Züge und auch nationalen Engführungen der Staatsphilosophie umstritten ist. Indem Mouffe auf Schmitt Bezug nimmt, integriert sie einerseits teilweise diese (kritisierten) Merkmale seines Ansatzes in ihre Argumentation. Andererseits betont sie, dass sie Schmitt produktiv weiterdenken möchte. Dies zeigt sich besonders an ihrer Deutung der Schmittschen Unterscheidung von ‚Freund‘ und ‚Feind‘. Der Staat ist für Schmitt durch kollektive Identitäten geprägt, die einander notwendig ausschließen und daher bekämpfen. Daran schließt Schmitt eine Kritik des Liberalismus an: Der Liberalismus fokussiere erstens zu sehr auf Einzelne und missachte eben jene kollektiven Identitäten und überschätze zweitens das Potenzial zu gesellschaftlichen Einigungen. Mouffe äußert in ihren Arbeiten eine gewisse Sympathie für dieses Verständnis des Politischen als Pluralisierung politischer Kämpfe (Mouffe 2008). Sie kritisiert an Schmitt allerdings, dass seine Überlegungen zu einer totalitären Gesellschaftsform neigen, weil der ‚Feind‘ letztlich als zu bekämpfender politisch keine Anerkennung mehr findet. Deswegen plädiert sie für eine Transformation vom Antagonismus zum Agonismus. Statt vom ‚Feind‘, spricht sie vom ‚Gegner‘, dessen Positionen in Demokratien leidenschaftlich bekämpft werden können. Mit dem Begriff des ‚Gegners‘ bringt sie zum Ausdruck, dass jeder*jedem das Recht zugestanden werden sollte, eigene Positionen (auch vehement) zu vertreten. Der ‚Gegner‘ ist ein legitimer ‚Feind‘, von dem man akzeptiert, dass er berechtigter Weise Teil des politischen Kampfes um Deutungshoheit ist.

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Dieses agonistische Modell von Demokratie ist kennzeichnend für viele radikaldemokratische Ansätze. Ihnen geht es weniger um die philosophische Begründung einer einheitlichen Rationalität des Politischen oder die Legitimation demokratischer Institutionen. Stattdessen spielt die Rekonstruktion der agonistischen Kräfte um Diskurshoheit eine wichtige Rolle. Ranciére (2010) stellt deshalb den Dissens und nicht den Konsens ins Zentrum und Butler (2016) fragt nach grundlegenden Verschiebungen von Diskursen jenseits traditioneller Unterscheidungen. Daraus entsteht ein neues Bild des Politischen, das weit gefasst ist und den paradoxen Charakter der Demokratie in den Blick zu nehmen versucht. Die Paradoxie besteht darin, dass in der Demokratie zwei scheinbar entgegengesetzte Aspekte verbunden werden, und zwar individuelle Freiheit und das Prinzip der Gleichheit. Die Spannung zwischen beiden Aspekten hält Mouffe (2008) für unüberwindbar und gleichzeitig für eine zentrale Antriebsfeder der Demokratie. Daraus ergibt sich eine sich ständig neuformierende Auseinandersetzung unter politischen Gegner*innen, die um die Hegemonie sozialer und politischer Diskurse streiten (Nonhoff 2007). Dieses Verständnis des Politischen hat auch Folgen für das Verständnis von Normativität. Radikale Demokratietheorien fragen nämlich nicht nach dem Politischen vorgeordneten, universalen normativen Prinzipien. Sondern Normativität erwächst vielmehr aus dem relationalen Geflecht des Sozialen selbst. Demokratie als politische Herrschaftsform rückt die ins Zentrum, die aus diesem Geflecht ausgeschlossen, vergessen oder diskriminiert werden (Butler 2016). Der Demos der Demokratie – und damit ihr normativer Kern – ist die Stimme der Prekären. “The demos is the name of a part of the community: the poor. But the ‘poor’, precisely, does not designate an economically disadvantaged part of the population, but simply the people who do not count” (Rancière 2010, 32). Die Suche nach abstrakten und universalen ethischen Prinzipien wie der Gerechtigkeit steht in der Gefahr, diese vielfältigen Formen des Ausschlusses zu missachten und damit gewalttätig gegenüber diesen Menschen zu werden (Butler 2003).

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Radikaldemokratische Abgrenzungen von Rawls In der (negativen) Abgrenzung der radikalen Demokratietheorie von Rawls spielen einige Begriffe und Konzepte eine besonders wichtige Rolle. Dies sind die Deutungen des Sozialen, der Rationalität, des Normativen und des Politischen (Reder 2018). In allen vier Rücksichten wird im Folgenden gezeigt, wie sich radikale Demokratietheorien von Rawls absetzen. Vor dem Hintergrund einer konstruktivistischen und an Foucault angelehnten diskurstheoretischen Grundlegung betonen radikaldemokratische Ansätze zuerst, dass sie gegenüber liberalen Ansätzen ein anderes Verständnis des Sozialen implizieren. So halten sie den methodischen Individualismus liberaler Theorien für unbegründet und plädieren demgegenüber dafür, das Soziale als eine Auseinandersetzung um diskursive Hegemonien zu verstehen. Kollektive haben in diesen Streitigkeiten eine besondere Rolle, weil diskursive Verschiebungen niemals von einem Individuum allein vollzogen werden können, sondern nur im kollektiven Streit. Demgegenüber verliert das Individuum begründungstheoretisch an Bedeutung. Politische Philosophie, so das Argument, sollte nicht wie Rawls zurück zu Kant blicken und das Soziale argumentativ auf dem Individuum aufbauen, sondern Subjektivität als Teil der diskursiven Formungen von Kollektivität verstehen. Damit verbunden ist zweitens eine Absetzung vom Rawlsschen Verständnis von Vernünftigkeit im Allgemeinen und dem überlappenden Konsens im Besonderen, wobei auch hierbei die diskurstheoretischen Annahmen eine wichtige Rolle spielen (Demirovic 2007). In der Perspektive der Radikaldemokrat*innen impliziert Rawls ein unhaltbares Ideal der Vernunft, das zu stark auf Einigung abstellt und damit die Pluralität gesellschaftlicher Meinungen unterminiert. An Foucaults Verständnis von Diskurs anschließend, kann es einen solchen überlappenden Konsens gar nicht geben. Diskurse formieren Gesellschaft immer als etwas Plurales mit unterschiedlichen Rationalitäten, die nicht mehr an eine übergreifende Einheit zurückgebunden wer-

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den können (Sievi 2017). „Rawls und Habermas wollen die Bindung an liberale Demokratie auf einem Typus der rationalen Zustimmung gründen, der die Möglichkeit der Herausforderung ausschließt. Aus diesem Grund müssen sie Pluralismus in einen nicht-öffentlichen Bereich verbannen, um Politik von dessen Konsequenzen abzuschirmen“ (Mouffe 2008, 95). Die Pluralität der gesellschaftlichen Meinungen wird bei Rawls aber unberechtigter Weise (als Unvernünftiges) in das Private abgeschoben, so der Vorwurf. Damit zeigt sich nicht nur die radikaldemokratische Kritik an den liberalen Verständnissen von Rationalität und Konsens, sondern es wird auch deutlich, dass Rawls’ Rationalitätsverständnis auf gesellschaftstheoretische Implikationen hin befragt werden muss. Denn seinem Verständnis von Rationalität, so der Vorwurf, liegt gleichzeitig eine Trennung von privat und öffentlich zu Grunde, die aus diskurstheoretischen Gründen keinen Sinn ergibt. Kämpfe um Diskurshoheit queren immer schon diese Grenze. Pluralität, so die Schlussfolgerung, darf deshalb nicht, wie Rawls dies zu tun scheint, ins Private abgeschoben werden, sondern ist als konstitutives Merkmal des Sozialen jenseits einer solchen (allein theoretisch motivierten) Trennung zu verstehen. Neben diesen sozialontologischen und epistemischen Verschiebungen fokussieren radikale Demokratietheorien auch auf alternative Verständnisse des Normativen und Politischen. Beide Kategorien sind dabei enger miteinander verbunden als dies bei Rawls der Fall ist. In Bezug auf das Verständnis von Normativität betonen radikale Demokratietheorien, dass dieses nicht in theoretisch eindeutigen und abstrakten Kategorien gefasst werden kann, die dem sozialen und politischen Leben vorgelagert sind. Die Überlegungen von Rawls zum Urzustand als Begründungsnarrativ von Gerechtigkeit dienen hierbei als paradigmatische Abgrenzungsfolie. Ein solches Verständnis, so der Einwurf, ist losgelöst von der Realität und den diskursiven Auseinandersetzungen. Es verfällt einem kantischen Duktus, das als top-down und monologisch charakterisiert wird (Butler 2003). Beides verfehlt

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den Kern des Normativen. In einem an Hegel (oder Marx) angelehnten Verständnis wird demgegenüber die Pluralität sozialer Sphären (der Sittlichkeit) betont, aus denen heraus unterschiedliche normative Forderungen erwachsen, über die im politischen Raum gestritten wird. Wichtig ist, dass sich radikale Demokratietheorien vor diesem Hintergrund keineswegs als relativistisch verstehen. Ganz im Gegenteil implizieren sie alle einen mehr oder weniger explizit ausgeführten ethischen Universalismus. Dieser wird aber eher im Sinne eines bottomup Ansatzes im Modus der Wiederholung gedacht, der als ein schwaches Kriterium lediglich das des prekären Lebens bzw. der Verwundbarkeit kennt (Butler 2003; 2010). Dieses normative Kriterium kann wiederum als eine (implizite) Absetzung von Rawls’ Ansatz dienen, der Gerechtigkeit als ein starkes Kriterium aus theoretischen Überlegungen heraus begründet. An dieses Verständnis von Normativität schließt direkt die Konzeption des Politischen an, die ebenfalls in Absetzung von Rawls gewonnen wird (Colliot-Thélène 2011). Radikale Demokratietheorien implizieren einen deutlich weiteren Begriff des Politischen als dies bei Rawls der Fall ist. Während auf der Ebene der Politik Strukturen, Prozesse und Inhalte für das formal-politische System verhandelt werden, schließt die Ebene des Politischen die diskursive Ebene mit ein und damit auch alle Formen von Subjektivierung oder (informeller) Widerstandspraxis. Mit Rekurs auf einen so verstandenen Begriff des Politischen fokussieren Radikaldemokrat*innen ihr Nachdenken weniger auf (demokratische) Institutionen. Sie spielen vielmehr in diesen Ansätzen nur eine untergeordnete Rolle und werden allesamt als ein Ergebnis von diskursiven Auseinandersetzungen gedeutet, was beispielsweise auch für das Recht als staatliche Institution gilt (Flügel-Martinsen 2009). Politische Auseinandersetzungen können nicht in eine (scheinbar) ideale Form von demokratischer Institutionalisierung überführt werden, sondern der diskursive Kampf um die bessere Gestaltung der Welt ist einer, der ständig neu geführt werden muss. Auch die vermeintlich gerechteste rechtliche Lösung muss auf der

M. Reder

Ebene des Politischen immer wieder neu inhaltlich gefüllt, hinterfragt und revidiert werden. Demokratie gibt es deshalb, wie Derrida argumentiert, nur im Kommen (Derrida 2003). Ein solches Verständnis des Politischen hat auch Auswirkungen auf die Frage nach globalen demokratischen Strukturen. Während Autor*innen wie Thomas Pogge im Gefolge von Rawls an das rationale Argument für den Aufbau gemeinsamer globaler Institutionen ‚glauben‘, fokussieren Autor*innen wie Mouffe oder Rancière auf die Bedeutung des Streites verschiedener globaler Akteur*innen und Regionen (Mouffe 2007). Ein Beispiel hierfür ist ihre Betonung der Pluralität demokratischer Modelle in unterschiedlichen Weltregionen. Einen letzter grundlegender Kritikpunkt der radikalen Demokrat*innen an Rawls sei herausgearbeitet: sie wollen die Emotionen als Teil der Politik verstehen, eines politischen Feldes, das nicht mehr durch ein starkes Vernunftkonzept harmonisiert werden kann. Liberale Theorien wie die von Rawls vernachlässigen ihrer Meinung nach die Bindung innerhalb einer Gesellschaft. Mouffe betont deshalb das Moment der Leidenschaft, die sie als Motor demokratischer Prozesse interpretiert. „Politik hat immer eine Dimension leidenschaftlicher Parteilichkeit. (…) Genau das fehlt aber bei der heutigen Glorifizierung der leidenschaftsfreien und unparteiischen Demokratie“ (Mouffe 2007, 40 f.), wie sie mit Verweis auf Rawls oftmals propagiert wird. Die Betonung der Unparteilichkeit lässt aber genau den Glutkern des Politischen erlöschen. Abschließend lässt sich festhalten, dass die radikale Demokratietheorie, in dezidierter Abgrenzung zu Rawls, ein alternatives Verständnis von Demokratie entwirft, dass die Kontingenz des Sozialen betont, einen begründungstheoretischen Fokus auf kollektiv-diskursive Strukturen legt und Demokratie nicht auf ihre institutionale Verfasstheit reduziert. Rawls ist dabei in vielfacher Hinsicht eine Projektionsfolie und Abgrenzungslinie für Ansätze der radikalen Demokratie. Indem sich die Autor*innen an seinen Grundbegriffen abarbeiten, entwerfen sie ein alternatives Verständnis von Demokratie.

82  Radikale Demokratie

Abschließend soll skizziert werden, wie sich heute diese Impulse mit anderen Ansätzen verbinden und daraus eine grundlegende Abwägung und Einschätzung der Rawlsschen Argumente ableiten lässt.

Rawls mit radikalen Demokratietheorien weiterdenken Die gegenwärtigen Debatten sind nicht nur durch Einwände radikaler Demokratietheorien gegen die liberale Theorie von Rawls und seiner Nachfolger*innen geprägt, sondern auch durch Repliken und Verteidigungen derselben. Gerade in diesem Diskurs zeigen sich Potenziale wie Begrenzungen der Philosophie von Rawls. Als erstes zeigt die von der radikalen Demokratietheorie angestoßene Debatte, dass über den epistemischen und rationalitätstheoretischen Gehalt normativer und politischer Begriffe neu nachgedacht werden muss. Mit Blick auf Rawls regt sich bei immer mehr politischen Philosoph*innen Skepsis gegenüber einem kantischen Modell von Vernunft, das durch die Forderung nach Konsens zu stark auf Einheit abzielt und zu wenig die Pluralität von Meinungen und deren Begründungen ernst nimmt. Zwar betont Rawls selbst das Faktum des Pluralismus als Ausgangspunkt seiner Theorie, doch scheint die ethische und politische Argumentation der liberalen Theorie der Gerechtigkeit diesem nur bedingt gerecht zu werden. Der Rückgang zu den Gründungsfiguren der kritischen Theorie, beispielsweise zur negativen Dialektik Adornos, die Betonung marxscher Betrachtungen von Gesellschaft oder auch die Renaissance des Plädoyers für Pluralismus bei Hannah Arendt sind drei andere wichtige Beispiele im aktuellen Diskurs. Alle arbeiten letztlich an einer Weitung des Vernunftverständnisses, um die Pluralität der Welt stärker in den Blick nehmen zu können als Rawls dies trotz der Betonung des Faktums des Pluralismus zu tun scheint. Diese Abgrenzung oder auch Weitung der Grundkategorien von Rawls zeigt sich ebenfalls hinsichtlich seines Verständnisses von Normativität. Auch hier können radikale Demo-

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krat*innen als ein Impuls im Konzert mit anderen philosophischen Strömungen gedeutet werden. Gerade angesichts einer enorm komplexen interkulturellen und globalisierten Welt erscheint es heute aus der Perspektive verschiedener philosophischer Denkschulen fraglich, ob das Ziel der Philosophie noch der Aufweis einer theoretisch begründeten universalen Normativität im Stil der Prinzipien der Gerechtigkeit sein sollte. Nicht nur die Kritik radikaler Demokratietheorien macht deutlich, dass das Zeitalter der normativen Großtheorien vorbei ist. Die Verschiebung von einer moralphilosophischen Begründung von Gerechtigkeitsprinzipien hin zu einer Rekonstruktion kritischer Praktiken der Solidarität als Basis einer Theorie des Politischen ist ein markantes Beispiel dieser Verschiebung. Natürlich geht damit, so der Einwurf der Rawlsianer*innen, die Möglichkeit einer eindeutigen ethischen Beurteilung verloren. Doch ist eine solche heute kaum noch zeitgemäß und widerspricht der politischen Realität, so die Antwort der Kritiker*innen. Kritisiert wird in diesem Zusammenhang auch der nationalstaatliche Rahmen von Rawls’ Ansatz, den er selbst betont hat. Dass die Philosophie nur nach der Normativität eines bestimmten Typus der wohlgeordneten liberalen Gesellschaft fragen kann und soll, wird heute vielfach als Begrenzung gedeutet. Stattdessen folgen immer mehr Ansätze einer deskriptiven Ethik, die normative Ansprüche jenseits traditioneller Grenzziehungen rekonstruieren und kritisieren will. Vielfach überzeugend erscheint heute schlussendlich der Hinweis der radikalen Ansätze, dass das Feld des Politischen nicht auf Institutionen beschränkt werden sollte. Institutionen sind wichtig für Demokratien, aber sie leben nicht allein von diesen. Darauf hat beispielsweise bereits der Pragmatismus in Deweyscher Provenienz aufmerksam gemacht, der heute neben den radikaldemokratischen Ansätzen vermehrt für ein weites Verständnis des Politischen und der Demokratie eintritt (Reder 2018). Viele gegenwärtigen philosophischen Ansätze nehmen diese Impulse auf. Es geht dann nicht nur um Institutionen, sondern um politische Praktiken

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und Haltungen in einem umfassenden Sinne. Dies gilt umso mehr auf globaler Ebene. Natürlich braucht es auch dort gerechte Institutionen, für die Nachfolger*innen von Rawls in den vergangenen Jahren vehement argumentiert haben. Aber wie lassen sich von einem fast ausschließlich am Nationalstaat orientierten Denken globale Dynamiken hinsichtlich ihrer komplexen Problemlagen philosophisch überzeugend denken? In diesem Zusammenhang haben die radikalen Demokratietheorien ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Weitung des Rawlsschen Ansatzes geleistet. Daran schließt eine letzte, durch die radikale Demokratietheorie angestoßene Entwicklung an, die sich ebenfalls als produktives Weiterdenken von Rawls versteht. Vor dem Hintergrund der skizzierten Kritik an einem institutionenethischen Zugang plädieren heute immer mehr Ansätze für einen Fokus auf Formen des Protests, des Widerstands oder sogar der Revolution. Denn gerade angesichts gegenwärtiger ambivalenter Entwicklung liberaler Demokratien fragen immer mehr Ansätze danach, ob und wie alternative Formen politischer Überzeugungen und Praktiken als eine grundlegende Kritik bestehender Institutionen an Bedeutung gewinnen (Heil/Hetzel 2004). Dabei wird auch im Sinne von Marx vermehrt auf die materialen Grundlagen des Politischen, ihre Asymmetrien und Ausschlussformationen geachtet. Auch wenn Rawls mit seinen Gerechtigkeitsprinzipien solche Formen in den Blick nehmen wollte, so zeigen die letzten dreißig Jahre auch, dass dies mit einer rein liberalen Theorie nicht immer überzeugend möglich ist.

M. Reder

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Postkolonialismus und Transkulturalität

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Franziska Dübgen

Der schwierige Dialog: Ambivalenzen, Abwehrreflexe und Asymptoten Betrachtet man die Diskursfelder von Postkolonialismus, Dekolonialer Theorie, Critical Philosophy of Race und Inter-/Transkultureller Philosophie auf der einen Seite und liberaler Philosophie im Anschluss an Rawls auf der anderen, so zeigt die Literatur, wie diese Debatten weitestgehend aneinander vorbeilaufen und erst in jüngster Zeit miteinander ins Gespräch gebracht werden. Sheila Foster beschreibt diese misslungene Kommunikation wie folgt: „Rawls and race scholars are speaking past one another“ (Foster 2004, 1715). Innerhalb ersterer Theoriefelder besteht eine tief verankerte Skepsis gegen liberale, universalistische Positionen. Dies hat theoretische Gründe, was zentrale Vorannahmen betrifft, beispielsweise den in Rawls liberaler Philosophie vorausgesetzten methodologischen Individualismus, den Glauben an eine kulturell und race-neutrale Sprache und ebensolche Vernunft und den Fokus auf formale Institutionen statt auf informelle, lebensweltliche alltägliche Praktiken. Postkoloniale Kritiker*innen warnen eindringlich vor der potenziellen Gewalt des

F. Dübgen (*)  Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected]

Normativen: Die kontinuierliche Gewalt, die im Namen scheinbar universalistischer Prinzipien verübt wird, desavouiere deren Inhalt, lautet ein Vorwurf (Dhawan 2011). Andererseits verdrängt die Abwehr in diesen Theorieformationen gegen einen „white liberalism“ (Mills 2017) auch das gemeinsame, asymptotisch am Horizont sich befindliche Ziel einer gerechteren Welt, in der Vernunft und Verständigung statt ökonomischer Macht regiert und Menschen unterschiedlicher Kulturen friedlich koexistieren. Dieser meist nur im Subtext vorhandene normative Horizont der Kritik markiert die Ambivalenz in der Auseinandersetzung mit dem Werk von John Rawls, da sich die Autor*innen auf ähnliche moralphilosophische Prinzipien berufen, ohne dieselben theoretischen Fundamente zu teilen (Dübgen 2014).

Rawls’ langes Schweigen zu Imperialismus, Versklavung und Rassismus Vertreter*innen oben genannter Theorieformationen werfen Rawls sein lange Zeit anhaltendes Schweigen gegenüber Imperialismus, Versklavung und Rassismus vor. Dieser fokussiere in seiner Theorie vorrangig den Rahmen eines Nationalstaates und habe vor allem Fragen der sozioökonomischen Gleichstellung im Blick. Dieses ökonomistische, nationalstaatliche

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4_83

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Einrahmung von normativen Fragen blende transnationale Machtasymmetrien, Ethnozentrismus, Rassismus und globale Geschlechtergerechtigkeit weitestgehend aus und biete für diese Problemfelder keine oder wenig normative Orientierung. Es ist erstaunlich, dass zu einer Zeit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und des Protests gegen den Vietnamkrieg, die beide die US-amerikanische politische öffentliche Debatte stark polarisierten, sowie vor dem Hintergrund der Befreiung vieler ehemals kolonisierter Staaten seit den 1960er und 1970er Jahren, sich Rawls in seiner politischen Philosophie und Moralphilosophie zu den Themenfeldern Kolonialismus, Segregation und Rassismus weitestgehend ausschwieg. Er intervenierte nicht in die hitzige philosophische Debatte über Affirmative Action zur Gleichstellung von schwarzen Bürger*innen und bezog auch keine Stellung bezüglich der Frage der Reparationszahlungen. Man kann Rawls mit seinen eigenen Schriften dahingehend verteidigen, dass er politische Machtungleichheiten und ökonomische Ausbeutung für fundamentale Ungerechtigkeiten hielt und davon ausging, dass sich auch andere Formen der Ausgrenzung durch einen Fokus auf diese beiden Bereiche abmildern oder sogar abschaffen ließen. In Gerechtigkeit als Fairneß schreibt er: „Geschichtlich gesehen sind diese Ungleichheiten [bezüglich der Grundrechte und Chancen auf der Basis von Race] offenbar aus Ungleichheiten der politischen Macht und der wirtschaftlichen Ressourcen hervorgegangen. […] Freilich, ein derart pauschales historisches Urteil mag hin und wieder ungewiß sein. Doch in einer wohlgeordneten Gesellschaft der Jetztzeit besteht in dieser Hinsicht keine Ungewißheit […]“ (Rawls 2003, 110). Rawls betont zudem, dass Rassismus und Sklaverei in der von ihm entworfenen wohlgeordneten, pluralistischen Gesellschaft keinen Platz finden würden (2003, 109). Aus der Perspektive schwarzer Philosoph*innen kann dieses lange Schweigen dennoch auch als ein Merkmal von Weißsein in der Hinsicht gelesen werden, dass es ein Privi-

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leg von Menschen ist, die zu der dominanten Mehrheitsgesellschaft dazugehören, spezifische Problemfelder, Vulnerabilitäten und minoritäre existentielle Erfahrungen auszublenden – und gleichzeitig den Anspruch zu verfolgen, eine universalistische Theorie zu entwerfen, die kontext- und zeitunabhängig Geltung beansprucht (Mills 2017, 49–71). Die vermeintliche Neutralität von Rawls idealer Philosophie maskiere ihre spezifische soziale Verortung, die sich blind (oder zumindest einäugig) für die Erfahrungen von nicht-weißen, postkolonialen Subjekten erweise und daher zu wenig zu bieten habe, um normativ und politisch auf das gravierende Unrecht von Versklavung, Segregation, Apartheid und Kolonialismus zu reagieren.

Zentrale methodische und inhaltliche Kritikpunkte an Rawls’ Gerechtigkeitstheorie Grundsätzlich entfaltet sich die Kritik innerhalb dieser Strömungen am Modus idealer Theoriebildung, wie sie in Rawls Gerechtigkeitstheorie Anwendung findet. Eine solche Herangehensweise abstrahiere von konkreten Phänomenen wie rassistischer Ausbeutung, Diskriminierung und Marginalisierung. Dadurch verliere sie alltäglich bedeutsame Formen des Unrechts aus dem Blick. In einer idealen Welt könne es insofern keine „Rassen“ geben, da diese stets ein Produkt von hierarchisierenden Zuschreibungen seien. Insofern könnte auf einer idealen Theorieebene nicht darüber nachgedacht werden, wie mit Situationen umgegangen werde, in denen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer „Rasse“ Menschen diskriminiert würden. Es bleibe infolge bei Rawls offen, wie eine theoretische Vermittlung zwischen einer farbenblinden idealen Theorie und der sozialen Wirklichkeit stattfinden solle (McCarthy 2015, 71; Dang 2015, 4). Zentrale normative Debatten, beispielsweise um Kompensation müssten sich aber mit den konkreten empirischen Voraussetzungen auseinandersetzen, welche die Aufarbeitung von historischem Unrecht bedingen.

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Dieser Kritikpunkt ist verbunden mit der Skepsis gegenüber dem Selbstverständnis liberaler Theoriebildung als „freistehend“. Diesem Verständnis halten Vertreter*innen der postkolonialen und race-kritischen Theorie Folgendes entgegen: Theorieproduktion sei stets von den jeweiligen hermeneutischen Vorverständnissen und lebensweltlichen Hintergrundannahmen eines Philosophen/einer Philosophin geprägt (McCarthy 2015, 72). Die Fragen und Konzepte, mit denen wir zu philosophieren begönnen, seien Bestandteil eines kollektiven Imaginären, das von den jeweiligen herrschaftsförmigen Zuständen durchzogen sei. Scheinbar neutrale Konzepte wie Erfolg und Vernünftigkeit könnten stets als Ideologeme fungieren, um rassistische und kulturelle Hierarchien zu untermauern. Es bedürfe daher einer Sensibilität bezüglich der Art und Weise, wie in Konzepten, Bildern und Modellen des Gesellschaftlichen die bestehenden Dominanzverhältnisse stillschweigend fortwirkten (McCarthy 2015, 73). Rassismus stecke in den ‚most innocent and neutral-seeming concepts‘ und könne problemlos neben formalen Verpflichtungen gegenüber Neutralität und Farbenblindheit koexistieren (Foster 2004, 1717). Der dem Liberalismus Rawlsscher Prägung zugrundeliegende methodologische Individualismus verkenne zudem, wie stark individuelles Handeln in gesellschaftliche Strukturen eingebettet sei. Gesellschaftlich relevante Manifestationen von Ethnozentrismus und Rassismus ließen sich aber nicht allein mit Blick auf individuelles Handeln angemessen identifizieren. Daher müsste normative Theorie, die in einer Gesellschaft verankerten, sozialen Praktiken verstärkt in den Blick nehmen (Graham 2010). Die Eingrenzung von Gerechtigkeitsfragen innerhalb eines nationalstaatlichen Rahmens verhindere zudem, transnationale Interdependenzen und Machtasymmetrien angemessen zu berücksichtigen. Der Fokus von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie auf die Grundstruktur einer Gesellschaft und die sie regulierenden Institutionen sei zudem wenig dafür geeignet, bedeutsame race-spezifische

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Ungerechtigkeiten zu adressieren, die außerhalb von Gesetzen und Institutionen, beispielsweise in der Wirtschaft und im Arbeitsleben, stattfinden (Shiffrin 2004). Diskriminierungserfahrung in diesen Sphären habe jedoch einen hohen Einfluss auf den Grad an Selbstrespekt, den Menschen entwickeln und auf der Basis dessen sie ihre Chancen innerhalb einer Gesellschaft überhaupt erst wahrnehmen können (ebd.). Es sei daher erstaunlich, dass Rawls, der Selbstachtung für ein wichtiges Grundgut hält, diesem Lebensbereich keine Beachtung schenke. Insgesamt problematisch an Rawls Gerechtigkeitstheorie sei zudem ihr Fokus auf distributive Fragen der Gerechtigkeit, der ökonomische Unterdrückung gegenüber anderen Formen der Unterdrückung (wie Race und Gender) privilegiere. Für Rawls zählen zu den am wenigsten begünstigten Bürger*innen vor allem wirtschaftlich benachteiligte Menschen. Die Intersektionalität von unterschiedlichen Achsen der Unterdrückung, welche die finanzielle Prekarität nochmals intensiviert oder abmildert, findet hierbei keine Berücksichtigung. Zudem blende der Fokus auf die Verteilung von Gütern die strukturelle Dimension der Produktion von Reichtum in kapitalistischen Gesellschaften aus, die häufig auf Ausbeutungsbeziehungen gegenüber spezifischen sozialen Gruppen basiert (Graham 2010). Prekär aus einer postkolonialen Perspektive erscheint zudem der Umstand, dass der in der Theorie der Gerechtigkeit imaginierte Urzustand (s. Kap. 57) die historische Genese des Status quo ausblendet. Der Urzustand ist ein zeitloser Ort, an dem es keine Ereignisse der Vergangenheit gibt, welche das jeweilige Denken, das kollektive Gedächtnis und die Institutionen einer Gesellschaft prägen. Wenn wir aber davon ausgehen, dass wir die Gerechtigkeit einer Gesellschaft auch aus ihrem Bezug zu ihrer Vergangenheit heraus begreifen müssen und Fragen der historischen Aufarbeitung, der Wiedergutmachung und der kollektiven Geschichtsschreibung einen wichtigen Aspekt der kulturellen und epistemischen Gerechtigkeit darstellen, dann ist die Fiktion eines Urzustandes als utopischer Fluchtpunkt nicht

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hilfreich, um die hiermit verbundenen Fragen angemessen zu erörtern (Dang 2015, 19; Dübgen 2014, 239; McCarthy 2015, 54 f.). Rawls’ Glaube an die Fähigkeiten eines reflexiven Überlegungsgleichgewichts und der öffentlichen Vernunft, mithilfe derer wir zu wohlbegründeten, verallgemeinerbaren Konklusionen gelangen können, wird ebenfalls aus race-kritischer und postkolonialer Perspektive infrage gestellt: Immerhin gebe es keine unbestrittenen Werte, Bedürfnisse und Grundgüter, die sich abstrakt durch die Vernunft ermitteln ließen. Vielmehr seien diese Werte stets politisch umkämpft und sollten in ihrer Umstrittenheit offengelegt werden (McCarthy 2004, 160). Rawls’ Konzeption einer öffentlichen Vernunft übersehe zudem, dass in einer durchmachteten Gesellschaft Diskurse durch Stereotype, Falschinformationen und spezifischen Gruppeninteressen verzerrt würden (Dang 2015, 20). An der spezifischen Gerechtigkeitskonzeption bei Rawls entfalten sich zudem folgende Kritikpunkte: Es sei nicht nachvollziehbar, warum Rawls als Eventualität (contingency) in seiner Gerechtigkeitstheorie, insbesondere vor dem Hintergrund der USamerikanischen Gesellschaft, neben der sozialen Klasse, der Begabung und dem Glück von Einzelnen nicht die jeweilige Race berücksichtige, wenn diese doch eklatant die jeweiligen Chancen und Perspektiven der Bürger*innen bis heute präge. Würde man Race als Eventualität aufnehmen, so ließe sich auf dieser Basis ein Antidiskriminierungsprinzip konstruieren, welches den gleichen Genuss von Grundrechten und -freiheiten für Menschen jeglicher race absichern könne (Dang 2015, 17; Shiffrin 2004). Darüber hinaus sei die lexikalische Anordnung zwischen dem Prinzip der gleichen Grundrechte und -freiheiten und dem ihm nachgeordneten Prinzip der fairen Chancengleichheit nicht nachvollziehbar: Denn wenn nicht alle Menschen (beispielsweise aufgrund von Rassismus) über die gleichen Chancen in einer Gesellschaft verfügten, so könnten sie als Resultat dessen ihre Grundrechte und -freiheiten auch nicht angemessen wahrnehmen.

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Auch der zweite Grundsatz von Rawls Gerechtigkeitstheorie wurde der Kritik unterzogen: Das Differenzprinzip lässt sich Rawls zufolge auch leicht modifiziert auf Mitglieder unterschiedlicher „Rassenzugehörigkeit“ anwenden: Wenn Mitglieder einer spezifischen Race über weniger Grundrechte und Chancen verfügten als diejenigen einer anderen, so sei dies dann gerechtfertigt, wenn es für sie von Vorteil und von ihrem Standpunkt aus akzeptabel sei (Rawls 2001, 110). Dabei stellt sich erstens aus race-kritischer Perspektive die Frage, ob eine Schlechterbehandlung auf der Basis von „Rassenzugehörigkeit“ überhaupt im Interesse der Opfer sein kann. Zweitens, selbst wenn hieraus Vorteile erwüchsen, so wäre diese Benachteiligung dennoch an sich moralisch nicht rechtfertigbar. Seana Valentine Shiffrin veranschaulicht diesen Kritikpunkt anhand des folgenden Beispiels: „Suppose a racist portion of the population would work more effectively if they were permitted to provide their services on a discriminatory basis; suppose further that the surplus of their increased productivity were distributed (by others) to the victims of discriminatory treatment. This might pass a difference principle test, but it seems unthinkable to permit on that basis“ (Shiffrin 2004, 1660).

Rawls’ Verteidigung seiner Gerechtigkeitstheorie Rawls gesteht ein, dass Rassismus eine ‚Lücke‘ in seiner Gerechtigkeitstheorie darstellt (Rawls 2003, 111). Eine theoretische Lücke sei jedoch unproblematisch, wenn sich aus einer Theorie heraus politische Werte ableiten ließen, die in der Lage seien auf die aufgezeigten Schieflagen zu reagieren (ebd.). In einer wohlgeordneten, demokratischen Gesellschaft, gäbe es weder Rassismus noch Sklaverei: „Demnach betrachten wir eine demokratische Gesellschaft von vornherein als eine politische Gesellschaft, die einen konfessionell oder aristokratisch geprägten Staat ausschließt – von einem auf dem Kastengedanken, auf Sklaverei oder Rassismus

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basierenden Staat ganz zu schweigen. Daß diese Staatsformen ausgeschlossen sind, ergibt sich als Konsequenz, wenn man die moralischen Vermögen als Grundlage der politischen Gleichheit auffaßt“ (Rawls 2003, 47 f.). Insofern müsste Race auch nicht als Eventualitiät konzeptionell berücksichtigt werden. Seinen Fokus auf die Grundstruktur einer Gesellschaft und sozioökonomische Gerechtigkeitsfragen rechtfertigt er damit, dass diese fundamental für die Herausbildung anderer Formen von Ungerechtigkeit seien (Rawls 2003, 110–111). Der Rawls’ Gerechtigkeitstheorie zugrundeliegende moralische Egalitarismus, so lässt sich seine Theorie weiter verteidigen, schließe Rassismus zudem ex ante aus. Und schließlich ließe sich sein Fokus auf Institutionen sehr wohl dafür nutzen, institutionellen Rassismus zu bekämpfen und auch Argumente für öffentliche Maßnahmen wie Affirmative Action hervorzubringen (Shelby 2004, 1707).

Methodologische und inhaltliche Forderungen gegenüber Rawls Vertreter*innen sowohl der postkolonialen Theorie, der Critical Philosophy of Race als auch der transkulturellen Philosophie fordern in kritischer Auseinandersetzung mit der Idealen Theoriebildung eine Ausweitung und Prozeduralisierung des normativen Diskurses. Sie verlangen, dass normative Werte verstärkt im Austausch zwischen unterschiedlich positionierten Menschen sowie auf der Basis von deren Exklusionserfahrungen und spezifischen Vulnerabilitäten hervorgebracht werden sollten und Universalismus dabei als unabschließbarer Prozess vorgestellt werden könnte. Eine solche performative Wende könne den Provinzialismus weißer, angloeuropäischer, liberaler normativer Theorie überwinden oder zumindest dezentrieren. Dabei müssten transnationale Interdependenzen, Historizität und ungleiche Macht innerhalb des euroatlantisch geprägten normativen Diskurses stärker ins Zentrum einer selbstreflexiven politischen Theorie rücken und die ideale Theoriebildung durch einen Fokus auf

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konkretes, alltägliches Unrecht ersetzt werden. Der philosophische Diskurs über Normativität müsse sich ausweiten und jenen Subjekten verstärkt Gehör schenken, die bisher in der Theoriebildung ausgeschlossen wurden. Zudem heben die Autor*innen auf einer sozialontologischen Ebene die Verwobenheit von Individuum und Gesellschaft hervor. Durch eine verstärkte Auseinandersetzung mit der nicht-idealen Welt durch interdisziplinäre Methoden der Sozialwissenschaften soll die normative Theoretiker*in zudem dazu befähigt werden, verstärkt auf lebensweltliche Problemfelder wie Rassismus, Nationalismus und Ethnozentrismus zu reagieren. Neben einem Fokus auf Klassenfragen, sollte sich Gerechtigkeitstheorie diversen Achsen der Unterdrückung zuwenden. Mit Blick auf die Aufarbeitung historischen Unrechts sei die Inklusion einer temporalen Achse in die Gerechtigkeitstheorie relevant, um korrektiv dann einzugreifen, wenn dieses die Gegenwart weiterhin prägt und verzerrt. Als positiven Bezugspunkt teilen diese kritischen Theorieformationen mit Rawls normativer Theorie das (häufig nicht explizierte, sondern stillschweigend vorausgesetzte) Ziel einer gerechteren, pluralistischen, auf Respekt und gegenseitige Rücksichtnahme basierenden Welt.

Alternativen zum Rawlsschen Ansatz innerhalb der transkulturellen Philosophie Innerhalb der transkulturellen Philosophie haben einige Autor*innen auf der Basis der oben ausgeführten Kritik jedoch auch eigene Ansätze entwickelt, die sie als Alternativen bzw. Ergänzung zu der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie verstehen. Henry Odera Oruka (2000) argumentiert innerhalb seiner kritischen Auseinandersetzung mit Rawls für ein menschliches Minimum als Grundprinzip der Gerechtigkeit (Graneß 2011). Anders als Rawls hält er die Einrahmung von Gerechtigkeitsfragen innerhalb von Nationalstaaten für unangemessen. Aus einer postkolonialen Perspektive fragt Oruka zunächst

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danach, was reiche, ehemalige Kolonialländer Menschen in ärmeren Ländern des globalen Südens schulden. Dabei wendet er sich gegen die Vorstellung, Entwicklungshilfe sei ein Akt der globalen Wohlfahrt. Aus einer postkolonialen Perspektive seien die heutigen Transferleistungen gar keine Hilfe, sondern eine Praxis, die sich allein aus der Tatsache heraus ergebe, dass der internationale Handel zwischen den reichen und den armen Nationen durch die Realität eines ungleichen Austausches gekennzeichnet sei. Sie basierten demnach auf dem Faktum historischer Ungerechtigkeiten, wie beispielsweise dem Kolonialismus, (ebd., 8). Oruka bezieht sich auf historische Wiedergutmachung als globales, universelles Prinzip. Ergänzend hierzu führt er das Prinzip eines Rechts auf ein menschliches Minimum als absolutes Recht ein, welches prima facie Rechte, beispielsweise auf nationales Eigentum an Luxusgütern, begrenze. Einem Individuum müsse ein menschliches Minimum zugesichert werden, das es ihm ermögliche, „[…] rational und selbstbewusst sein zu können […]“ (ebd., 12). Dieses Recht sei ein universales moralisches Recht eines jeden, „[…] unabhängig von Rasse, Herkunft oder religiösem Glauben […]“ (ebd., 12). Notwendige Bestandteile eines solchen Rechts auf ein Minimum, das jede Person innehabe, seien das Recht auf Sicherheit, Gesundheit und Subsistenz (ebd., 10–13). Anders als Rawls geht Oruka davon aus, dass Ansprüche der Gerechtigkeit auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg eingeklagt werden können. Amartya Sen (2009) kritisiert ebenfalls den Modus idealer Theoriebildung bei Rawls’ Gerechtigkeitstheorie. Er fordert eine normative Theorie, die es vermag, zwischen unterschiedlichen konkreten Lebensformen komparative Urteile zu fällen. Es sei Aufgabe der politischen Philosophie, normative Orientierung für die Beurteilung konkreter situativer Kontexte zu geben. Er bezieht sich in seiner Kritik auf die Unterscheidung zwischen niti und nyaya in der frühen indischen Jurisprudenz aus dem klassischen Sanskrit, die beide als Gerechtigkeit

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übersetzt werden können. Nyaya stehe für eine umfassende Realisierung von Gerechtigkeit. Niti fokussiere dagegen konkrete Eigenschaften von Institutionen innerhalb einer Gemeinschaft und Verhaltensweisen von Individuen. Eine Institution könne noch so gerecht nach ihren Regeln und Prozeduren konzipiert sein; sie müsse den Blick für Nyaya offenhalten, um sicherzugehen, dass sie auch in der Praxis tatsächlich gerecht operiere. Diese klassische Unterscheidung in der indischen Jurisprudenz eröffne im Gegensatz zur idealen Theoriebildung eine ‚realization-focused perspective‘ (ebd., 21). Statt eine vollkommen gerechte Ordnung zu entwerfen, sei es wichtiger, die manifesten Formen des alltäglichen Unrechts in den Blick zu nehmen. Weitere Diskurse innerhalb der transkulturellen Philosophie, die sich als Alternativen zum herrschenden liberalen Gerechtigkeitsparadigma im Anschluss an Rawls verstehen, umfassen die Debatte um ‚Ubuntu‘ als genuin afrikanische Moraltheorie (Eze 2021), welche soziale Teilhabe, die konstitutive Interdependenz zwischen Menschen und ihre Pflichten gegenüber der Gemeinschaft ins Zentrum rückt sowie die Debatte in der zeitgenössischen arabischislamischen Philosophie um den Begriff der Würde als Leitmotiv für sozialen Wandel (Bennani 2012). Transkulturelle Vergleiche zwischen diesen postkolonialen, alternativen Gerechtigkeitstheorien und dem Rawlsschen Ansatz stehen in der Forschungsliteratur noch weitestgehend aus.

Literatur Bennani, Azelarabe Lahkim. Die Zukunft des arabischen Frühlings aus der Perspektive der sozialen Rechte. In: polylog 28 (2012), 54–65. Dang, Ai-Thu: Eyes wide shut: John Rawls’s silence on racial justice. In: Documents de travail du Centre d’Economie de la Sorbonne 30 (2015). Dhawan, Nikita: Transnationale Gerechtigkeit in einer postkolonialen Welt. In: Dies./Marío do Mar Castro Varela (Hg.): Soziale (Un)Gerechtigkeit. Kritische Perspektiven auf Diversity, Intersektionalität und Antidiskriminierung. Münster/Berlin 2011, 12–35.

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Zeittafel

21. Februar 1921  Rawls wird in Baltimore, Maryland als zweiter von fünf Söhnen von Frauenrechtlerin Anna Abell Stump Rawls und Rechtsanwalt William Lee Rawls geboren. 1928  Rawls erkrankt an Diphtherie, sein jüngerer Bruder Bobby infiziert sich bei ihm und verstirbt. 1929  Rawls erkrankt an einer Lungenentzündung, sein jüngerer Bruder Tommy infiziert sich bei ihm und verstirbt. 1939  Rawls erlangt in Princeton einen Bachelor of Arts in Philosophie mit seiner 2010 posthum veröffentlichten religionsphilosophischen Arbeit Meaning of sin and faith, wobei zahlreiche dort gegen den Pelagianismus gerichtete Argumente sich später in gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht in A theory of justice wiederfinden; in seiner Studienzeit wird er insbesondere vom Wittgenstein-Schüler Norman Malcom beeinflusst; die letzten Jahre seines Studiums beschäftigt er sich mit dem Gedanken, Priester zu werden.

1943  Rawls schreibt sich für die U.S. Army ein und beobachtet in seinen Einsätzen im Zweiten Weltkrieg erschütternde Gewalt, was zum Verlust seines christlichen Glaubens führt. 1945/1946 Enttäuscht von der U.S. Army, insbesondere durch die vor Ort wahrgenommenen Folgen des Atombombenabwurfs über Hiroshima, verweigert Rawls einen Befehl und wird degradiert; er verlässt wenig später das Militär. 1946 Rawls kehrt nach Princeton zurück, um in Moralphilosophie zu promovieren. 1949 Heirat mit Margaret Warfield Fox, das Paar hat vier Kinder. 1950  Rawls erlangt in Princeton seinen Doktorabschluss mit der Thesis A study in the grounds of ethical knowledge: considered with reference to judgements on the moral worth of character. 1952  Mithilfe eines Fulbright Fellowships geht Rawls nach Oxford; dort wird er insbesondere von Isaiah Berlin und H.L.A. Hart beeinflusst. 1962 Rawls wird Professor an der Cornell University und übernimmt wenig später die James Bryant Conant Professur in Harvard, die er bis zu seiner Emeritierung innehat.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4

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1971  A theory of justice erscheint. 1993  Political liberalism erscheint. 1999  Rawls erhält die National Humanities Medal und den Rolf-Schock-Preis in der Kategorie Logik und Philosophie; im selben Jahr erscheint The law of peoples.

Zeittafel

2001  Justice as fairness: a restatement erscheint. 24. November 2002  Rawls verstirbt mit 81 Jahren.

Werkverzeichnis

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Aufsätze und andere Beiträge A Study on the Grounds of Ethical Knowledge: Considered with Reference to Jugdments on the Moral Worth of Character, Ph.D. Dissertation, Princeton University, 1950. Dissertation Abstracts 15 (1955): 608– 609.

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Namenregister

A Ackermans, Bruce, 424 Adams, Robert M., 75, 77, 79, 80, 87 Adloff, Frank, 251 Adorno, Theodor W., 474, 659 Agresto, John, 423 Alexander, Sydney, 137 Allen, Danielle, 513 Althusius, Johannes, 29 Althusser, Louis, 4 Anderson, Benedict, 247 Apel, Karl-Otto, 463, 464, 470, 604 Arendt, Hannah, 9, 51, 353, 596, 652, 659 Aristoteles, 8, 25, 81, 201, 247, 250, 409, 482, 483, 529, 533, 647 Aron, Raymond, 243 Arrow, Kenneth, 16, 136, 279 Audard, Catherine, 68 Audi, Robert, 373, 408 Augustinus, 80, 81 Austin, John Langshaw, 16 B Badiou, Alain, 655 Baehr, Amy, 642 Barber, Benjamin R., 645, 646, 652 Barry, Brian, 361, 501, 578, 583, 584 Barth, Karl, 77 Bayle, Pierre, 385 Beitz, Charles R., 49, 222, 255, 412, 501, 563, 583, 584, 586, 587 Bellah, Robert N., 645 Benhabib, Seyla, 350, 604, 652 Bentham, Jeremy, 22, 32, 110, 111, 147–151, 178, 179, 191, 192, 257, 648 Berger, Peter, 204 Berlin, Isaiah, 16, 648 Biebricher, Thomas, 545, 546 Bielefeldt, Heiner, 395 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, 186 Bodin, Jean, 85, 86, 385 Bognar, Greg, 625–627 Bok, Hilare, 17

Braithwaite, Richard Bevan, 362 Braune, Andreas, 459 Brocker, Manfred, 113 Brown, Chris, 584, 587, 589, 590 Brunner, Emil, 77 Buchanan, Allen, 53, 586, 648 Buchanan, James, 166, 183, 184, 362, 410, 411, 546 Burke, Edmund, 154 Butler, Joseph, 16, 103, 111–113 Butler, Judith, 655, 656 C Calvin, Johannes, 156 Caney, Simon, 56 Carens, Joseph H., 249, 584 Carr, Edward H., 366 Castellio, Sebastian, 385 Chomsky, Noam, 16, 33 Cohen, Gerald Allan, 298, 299, 498, 499, 578 Cohen, Joshua, 75, 76, 87, 88, 299, 375, 376 Condorcet, Marquis de, 16 Crouch, Colin, 546 D Derrida, Jacques, 655, 658 Descartes, René, 616 Dewey, John, 154, 251, 456, 490, 550, 652 Donaldson, Sue, 620 Dreben, Burton, 273 Dworkin, Gerald, 47 Dworkin, Ronald, 137, 222, 425, 442, 512, 647 E Easton, David, 596 Eberle, Christopher J., 600 Edgeworth, Francis Y., 111, 147 Elster, Jon, 423, 596 Engels, Friedrich, 22 Erasmus von Rotterdam, 385 Etzioni, Amitai, 645, 646, 648 Eucken, Walter, 546

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. J. Frühbauer et al. (Hrsg.), Rawls-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05928-4

675

676 F Filmer, Robert, 107 Forst, Rainer, 126, 333, 394, 407, 463–470, 539, 552, 605, 606 Förster, Annette, 245 Foster, Sheila, 661 Foucault, Michel, 655, 657 Franck, Sebastian, 385 Frankfurt, Harry, 512, 513 Freeman, Samuel, 51, 70, 103, 127, 131, 268–273 Freud, Sigmund, 637 Friedmann, Milton, 546 G Galvin, Richard, 118 Gandhi, Mahatma, 460, 636 Gardiner, Stephen, 624–626 Gaus, Gerald F., 234, 235, 597, 598 Gauthier, David, 361, 362 Geuss, Raymond, 603 Gilabert, Pablo, 477 Ginsborg, Hannah, 17 Goodman, Nelson, 399, 400 Gosepath, Stefan, 17 Gramsci, Antonio, 655 Gregory, Eric, 18, 75, 85 Grotius, Hugo, 630 Guterres, António, 578 Gutmann, Amy, 231 H Habermas, Jürgen, 3, 6–9, 18, 47, 76, 81, 86–88, 126, 128, 155, 187, 209, 229, 231, 234, 235, 333, 351, 357, 374–376, 401, 407, 408, 431, 457, 463, 470, 473–478, 482, 552, 564, 596, 597, 602, 606, 607, 642, 649 Hahn, Henning, 484, 486, 517 Hahn, Susanne, 402 Hampshire, Stuart, 16 Hare, Richard Mervyn, 16 Harnack, Adolf, 77 Harsanyi, John C., 133, 136, 363, 383, 416 Hart, Herbert L. A., 16, 65, 120, 266, 278, 296 Hartley, Christie, 268, 641 Hayek, Friedrich August von, 546 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 87, 88, 94, 96, 99, 100, 153–157, 162, 187, 199, 225, 353, 354, 425, 433, 435, 436, 474, 475, 597, 630, 655, 658 Helvétius, Claude Adrien, 22 Henning, Christoph, 335 Herman, Barbara, 163, 497 Hill, Thomas E., 497 Hinsch, Wilfried, 250 Hobbes, Thomas, 16, 24, 29, 103, 106, 107, 109, 112, 113, 154, 165, 166, 169, 183, 184, 191, 225, 257, 353, 354, 357, 359, 382, 409, 410, 521, 529, 538, 630, 648

Namenregister Höffe, Otfried, 13, 14, 16–19, 48, 113, 402, 510 Holmes, Stephen, 423 Honneth, Axel, 436 Honoré, Antony M., 573 Horkheimer, Max, 474 Hradil, Stefan, 516 Humboldt, Wilhelm von, 250 Hume, David, 16, 22, 94, 96, 103, 108, 135, 154, 155, 222, 521, 529, 630, 636, 637 Hutcheson, Francis, 22 I Idris, Murad, 592 J Jamieson, Dale, 628, 629 Jefferson, Thomas, 652 K Kambartel, Friedrich, 552 Kant, Immanuel, 4, 16, 17, 22, 24, 25, 27, 29, 67, 76, 87, 94–100, 106, 109, 112, 117–120, 122–124, 136, 141, 142, 153–156, 159–163, 165, 177, 187, 209, 225, 257, 258, 284, 302, 313, 331, 354, 359, 399, 405, 406, 411, 418, 419, 428, 435–437, 445, 447, 448, 452, 456, 457, 465, 474, 475, 482, 489–491, 493, 494, 497, 521– 523, 526, 529–533, 553, 596, 611, 614, 616, 630, 636, 637, 647, 650, 659 Kelly, Erin, 63 Kersting, Wolfgang, 318, 402, 410 Kierkegaard, Søren, 82 King, Martin Luther, 459, 460, 577 Kittay, Eva Feder, 635, 638–642 Kohlberg, Lawrence, 322 Koller, Peter, 508 Korsgaard, Christine M., 16, 163, 497, 531 Kymlicka, Will, 389, 442, 620, 647 L Laborde, Cecil, 375 Laclau, Ernesto, 200, 655 Ladwig, Bernd, 615 Lafont, Cristina, 231, 351, 375, 602, 607 Laslett, Peter, 353 Leibniz, Gottfried Wilhelm, 16, 94, 96, 155, 529 Leon, Philip, 79, 80 Lessing, Gotthold E., 385 Lippmann, Walter, 546 List, Christian, 596 Locke, John, 16, 24, 29, 103, 107–109, 154, 159, 165– 169, 177, 183, 205, 225, 257, 313, 353, 385, 421, 423, 539, 543, 630 Lu, Catherine, 437 Luban, David, 561

Namenregister Luther, Martin, 156 M Machiavelli, Niccolo, 652 Macintosh, Hugh Ross, 153 MacIntyre, Alasdair, 645, 647, 652 Martin, Rex, 271 Marx, Karl, 16, 22, 103, 110, 111, 114, 137, 171–176, 353, 474, 475, 481, 648, 655, 658–660 Maus, Ingeborg, 457, 549 Mauss, Marcel, 251 Meade, James, 227 Michelman, Frank I., 440 Mill, John S., 16, 22, 25, 67, 103, 109, 110, 114, 141, 147, 148, 156, 162, 171, 177–181, 257, 284, 313, 323, 405, 406, 415, 421, 637 Mill, John S, 147 Miller, David, 547 Mills, Charles W., 591 Mises, Ludwig von, 546 Moellendorf, Darrel, 629, 630 Moller Okin, Susan, 69, 70, 240, 619, 635 Moore, George E., 161, 529 Morus, Thomas, 367 Mouffe, Chantal, 200, 655, 656, 658 Mügge, Cornelia, 485 Müller, Luise, 619 Müller Armack, Alfred, 546 Murphy, Liam, 298, 299 Musgrave, Richard A., 137, 277, 364 N Nagel, Thomas, 75, 76, 85, 87, 88, 178, 309, 371, 373, 375, 376, 550, 551, 595 Nardin, Terry, 587 Neiman, Susan, 17 Nida-Rümelin, Julian, 403 Niesen, Peter, 13, 318 Nietzsche, Friedrich, 22, 82, 336, 577 Nikolaus von Kues, 385 Nozick, Robert, 138, 148, 154, 157, 222, 226, 543, 544 Nussbaum, Martha C., 41, 194, 279, 481–487, 499, 500, 509, 510, 630, 635, 636 Nygren, Anders, 80 O Olson, Mancur, 362 Oruka, Henry Odera, 665, 666 O’Neill, Martin, 72 O’Neill, Onora, 16, 222, 489–495, 497, 531, 532 Özmen, Elif, 451 P Paine, Thomas, 652 Pareto, Vilfredo, 135

677 Paulus, 80 Pedersen, Jørgen, 477 Pettit, Philip, 155 Piaget, Jean, 134, 322, 637 Piketty, Thomas, 228, 569–571, 573–578, 580 Platon, 33, 80, 81, 409, 529 Pogge, Thomas W., 7, 16, 17, 49, 105, 254, 255, 266, 269, 393, 412, 439, 442, 497–502, 584, 658 Popper, Karl, 156 Pufendorf, Samuel von, 29 Putnam, Hilary, 16 Putnam, Robert, 645 R Rancière, Jacques, 655, 656, 658 Rawls, John, 254, 255, 257, 439–441 Raz, Joseph, 541, 563, 588 Reagen, Ronald, 546 Reath, Andrews, 163 Richards, David, 501 Ritschl, Albrecht, 77 Roemer, John, 573 Rorty, Richard, 194 Ross, William D., 161 Rousseau, Jean-Jacques, 16, 24, 27, 29, 31, 103, 106, 109, 114, 156, 159, 163, 165, 167, 169, 177, 183–187, 194, 249, 257, 299, 353, 421, 596, 637, 648, 649, 652 S Sandel, Michael, 7, 40, 140, 155, 249, 383, 645–648, 650–652 Scanlon, Thomas M., 277, 375, 442, 467, 501, 564, 607 Scheffler, Samuel, 299 Scheuerman, William E., 459 Schmitt, Carl, 548, 549, 655, 656 Schweickart, David, 573 Segall, Shlomi, 271 Sen, Amartya, 67, 279, 291, 292, 296, 298, 481, 484, 485, 499, 500, 510, 666 Shiffrin, Seana Valentine, 664 Shklar, Judith, 514 Shue, Henry, 627 Sibley, W. M., 428 Sidgwick, Henry, 16, 22, 103, 111, 112, 147, 150, 154, 161, 191, 193, 529, 637 Singer, Peter, 418, 419, 587 Smith, Adam, 22, 171, 545, 630 Sontheimer, Kurt, 249 Spinoza, Baruch de, 385, 636 Sunstein, Cass, 625, 626 T Tan, Kok-Chor, 56 Taylor, Charles, 7, 155, 222, 250, 554, 645–649, 651 Thatcher, Margret, 546

678 Thomas von Aquin, 81 Thoreau, Henry David, 9 Tocqueville, Alexis de, 156, 421, 424, 648 Tönnies, Ferdinand, 249 Troeltsch, Ernst, 77 Tully, James, 591 V Vallier, Kevin, 598 W Walzer, Michael, 140, 155, 251, 464, 465, 510, 512, 561, 645, 646, 649, 651, 652 Weithman, Paul, 99, 268 Wenar, Leif, 19

Namenregister Wenner, Fabian, 272, 273 White, Stuart, 269 Wietmarschen, Han van, 205 Williamson, Thad, 72, 228 Wittgenstein, Ludwig, 645 Wolff, Christian, 529 Wolterstorff, Nicholas, 47, 351, 600–603 Y Young, Iris M., 514, 515 Z Zuolo, Federico, 616