Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820: Heft 9 Bastille. Citoyen-Sujet, Civisme 9783486825183, 9783486544510


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German Pages 109 [112] Year 1988

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Table of contents :
Bastille
Einleitung
I. Vom Festungsnamen zum politischen Schlagwort (ca. 1680-1724)
II. Entwicklung eines aufklärerisch-kritischen ,Bastille‘-Begriffs (ca. 1730-1770)
III. ,Bastille‘ als Inbegriff des ,Despotismus‘ (1774-Frühjahr 1789)
1. Radikalisierung der Anti-Bastille-Pamphlete
2. Liberalisierungstendenzen in der Gefängnis-Praxis der Bastille
3. Verallgemeinerung des radikalen ,Bastille‘-Begriffs vor der Revolution
4. Die antidespotische Funktion des Mythos der ,Bastille‘ und deren vorweggenommene Zerstörung
IV. Umwertung der ,Bastille‘ vom Unterdrückungs- zum Freiheitssymbol: „ce gouffre du despotisme vient d’être changé en un foyer de liberté“
1. Triumph der Pariser Bürger über die ,Bastille‘
2. Bekräftigung des vorrevolutionären ,Bastille‘-Begriffs in der ,Bastille‘-Publizistik 1789/90
3. Revolutionäre ,Bastille‘-Symbolik in der Provinz 1789-1799
4. ,Bastilles‘ als aktivistischer Pflichtbegriff der Radikalen (1789- 1794)
5. ,Bastilles‘ als Parteibegriff zur innenpolitischen Fremdbezeichnung (1791-1799)
6. Die ,Bastille‘ als Symbol der revolutionären Zäsur, der republikanisch-nationalen Einheit und Identität (1790-1803)
V. Ausblick: Durchsetzung des ,Bastille‘-Symbolik gegen konservative Verdrängungsversuche (1804-1830)
Citoyen-Sujet, Civisme
Einleitung
I. Die klassische Konfiguration: ,citoyen-bourgeois‘ und ,sujet-citoyen‘
II. Der Aufstieg des ,citoyen‘: Von der Nützlichkeit zur Souveränität (1750-1789)
III. Die Revolution: Der Zenit des ,citoyen‘-Begriffs
IV. Der Neologismus ,civisme‘
V. Rückwärtsbewegung und Stabilisierung (1794-1820)
Artikelliste
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Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820: Heft 9 Bastille. Citoyen-Sujet, Civisme
 9783486825183, 9783486544510

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Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820

Herausgegeben von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt in Verbindung mit Gerd van den Heuvel und Anette Höfer Heft 9

Bastille Rolf Reichardt Citoyen-Sujet, Civisme Pierre Rétat

R. Oldenbourg Verlag München 1988

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Das Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820 erscheint als Band 10 der Reihe Ancien Régime, Aufklärung und Revolution (hrsg. von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt).

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich : 1680-1820 / hrsg. von Rolf Reichardt u. Eberhard Schmitt in Verbindung mit Gerd van den Heuvel u. Anette Höfer. München : Oldenbourg (Ancien régime, Aufklärung und Revolution ; Bd. 10) Literaturangaben NE: Reichardt, Rolf [Hrsg.]; GT H. 9. Bastille / Rolf Reichardt. Citoyen-sujet, civisme / Pierre Rétat. - 1988 ISBN 3-486-54451-9 NE: Reichardt, Rolf [Mitverf.] © 1988 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Hofmann-Druck KG Augsburg Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-54451-9

Inhalt Bastille / Rolf Reichardt Citoyen-Sujet, Civisme Pierre Rétat Artikelliste

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Bastille ROLF REICHARDT Einleitung

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I. Vom Festungsnamen zum politischen Schlagwort (ca. 1680-1724) 2 II. Entwicklung 1730-1770)

eines aufklärerisch-kritischen

,Bastille'-Begriffs

(ca. 6

III. , Bastille' als Inbegriff des , Despotismus' (1774- Frühjahr 1789) 1. Radikalisierung der Anti-Bastille-Pamphlete 2. Liberalisierungstendenzen in der Gefängnis-Praxis der Bastille 3. Verallgemeinerung des radikalen ,Bastille'-Begriffs vor der Revolution 4. Die antidespotische Funktion des Mythos der .Bastille' und deren vorweggenommene Zerstörung IV. Umwertung der ,Bastille' vom Unterdrückungs- zum Freiheitssymbol: „ce gouffre du despotisme vient d'être changé en un foyer de liberté" 1. Triumph der Pariser Bürger über die ,Bastille' a) 14. Juli 1789: „La Bastille ou la mort" - b) „Mainte fillette gentile / Va danser sur le sommet" - c) „Que l'emplacement de la Bastille devienne la place de la liberté" 2. Bekräftigung des vorrevolutionären .Bastille'-Begriffs in der .Bastille'-Publizistik 1789/90 3. Revolutionäre ,Bastille'-Symbolik in der Provinz 1789-1799 . 4. ,Bastilles' als aktivistischer Pflichtbegriff der Radikalen (17891794) 5. .Bastilles' als Parteibegriff zur innenpolitischen Fremdbezeichnung (1791-1799) 6. Die .Bastille' als Symbol der revolutionären Zäsur, der republikanisch-nationalen Einheit und Identität (1790-1803) V.

Ausblick: Durchsetzung des, Bastille'-Symbolik ve Verdrängungsversuche (1804-1830)

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gegen konservati62

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Einleitung Bis heute ist Bastille in Frankreich und darüber hinaus ein geradezu magisches Losungswort, zumal für die politische Linke. Als die Anhänger des Sozialisten Mitterand am 10. Mai 1981 spontan „zur Bastille" zogen, um ihren Sieg bei den französischen Präsidentschaftswahlen zu feiern, knüpften sie halb unbewußt nicht nur an die republikanischen Wahlsiege der 1870er Jahre an, nach denen der 14. Juli gesetzlich zum Nationalfeiertag erklärt worden war (6. VII. 1880) und massenhaft auf der Straße verkaufte populäre Bildblätter ausdrücklich den Bastillesturm von 1789 als Gründungsereignis der republikanischen Tradition beschworen 1 ); sie handelten auch ähnlich wie die Volksmenge, die sich am 24. Februar 1871 zu einer Kundgebung für die Revolution von 1848 und für die Republik auf dem Pariser Bastilleplatz versammelt hatte 2 ), und gemahnten zugleich an die Julirevolution von 1830, in deren Gefolge der ,Bürgerkönig' Louis Philippe auf dem Gelände der ehemaligen Bastille die Freiheitssäule hatte errichten lassen. Wie konnte der Name einer längst geschleiften Staatsfestung, deren ,Eroberung' durch die aufständische Menge am 14. Juli 1789 kaum eine militärische Bedeutung besessen hatte, einen solchen Symbolwert gewinnen?

I. Vom Festungsnamen zum politischen Schlagwort (ca. 1680-1724) Der alte Name Bastille war das Ergebnis eines sprachlichen Singularisierungsprozesses. Abgeleitet von den im Hundertjährigen Krieg verbreiteten bastidas und bastides, wie die Belagerungstürme und die neu befestigten Städte auf altfranzösisch und altprovenzalisch hießen 3 ), wurde das erstmals 1356 belegte Wort bastilles auf die 137082 erbaute achttürmige königliche Stadtfestung von Paris angewandt und blieb schließlich dieser allein vorbehalten 4 ). Da die Bastille besonders seit Richelieu kaum noch zum Schutz von Paris, sondern hauptsächlich als Staatsgefängnis diente, verband sich ihr Name mit 0 R. SANSON: Les 14 Juillet, Abb. vor S. 95 u. nach S. 110. ) M. AGULHON: Marianne au combat, Paris 1979,179. 3 ) FEW, 1278. 2

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) BOURNON, 1 - 3 5 .

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der Vorstellung eines furchtgebietenden, über den Regeln der ordentlichen Justiz stehenden Machtinstruments der Krone. Der burleske Dichter und ,Libertin' Claude L E P E T I T , später wegen majestätsbeleidigender illegaler Schriften auf dem Scheiterhaufen verbrannt, schrieb um 1656 in einer Satire auf Paris, die bis 1714 achtmal aufgelegt wurde, unter der Überschrift „La Bastille": Que voy-je, dans ce marescage, Digne de curiosité, Se tenir sur sa gravité, En citadelle de village? [...] C'est la Bastille, ce me semble; [...] voilà bien de quoy Faire que tout le monde tremble!5) Wenn auch eine derart negative Akzentuierung von Bastille im späten 17. Jh. tabuisiert war und nicht in breiterem Umfang nachweisbar ist, so bestätigte doch das Akademiewörterbuch von 1694 durch Definition und Beispiel den nun auf das ,Pariser Staatsgefängnis' eingeengten allgemeinen Sprachgebrauch: „On appeloit ainsi autrefois un chasteau ayant plusieurs tours ramassées proche l'une de l'autre; & ce nom est demeuré à un chasteau basti de cette maniéré dans Paris. Il est prisonnier à la bastille."'6) Der verdeckte Bedeutungswandel des Wortes Bastille vom mehr oder weniger neutralen Namen zum polemischen, antiabsolutistischen Schlagwort erhielt wesentliche Impulse durch die verstärkten staatlichen Zwangsmaßnahmen in der späten Regierungszeit Ludwigs XIV., insbesondere durch die neue Praxis, nicht allein wie bisher nur politische Staatsverbrechen, sondern auch und vor allem protestantisches Bekennertum mit der Bastille zu ahnden. Kurz nach dem Tode des Sonnenkönigs kursierte in Paris heimlich ein Spottgedicht, das die Bastille mit den anderen Staatsgefängnissen und der zunehmenden innenpolitischen Willkür überhaupt in Verbindung brachte und seinem mutmaßlichen Autor, dem jungen V O L T A I R E , 1717 eine elfmonatige Haft in der Bastille eintragen sollte: 5

) C. L E PETIT: La Chronique scandaleuse, ou Paris ridicule (1668), Str. 9495, in ders.: Oeuvres libertines, ed. F. LACHÈVRE, Paris 1928,151f. 6 ) Dict.Acad. ( 1 6 9 4 ) , I 8 8 . Bei RICHELET ( 1 6 8 0 ) fehlt ein entsprechender Artikel. FURETIÈRE ( 1 6 9 0 ) , O . S . , definierte ähnlich: „Petit Château fortifié à l'antique avec des tours, & qui sert maintenant à mettre des prisonniers, comme celle de Paris." 9

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Tristes et lugubres objets, J'ai vu la Bastille et Vincennes, Le Châtelet, Bicêtre et mille prisons pleines De braves citoyens, de fidèles sujets. J'ai vu la liberté ravie, De la droite raison la règle peu suivie, J'ai vu le peuple gémissant Dans un rigoureux esclavage. 7 )

Sogar ein populäres Chanson sah in der Bastille ein Machtinstrument, das die Regierung auch gegen die finanzpolitische Opposition des Pariser Parlaments einsetzen werde: „La Bastille et l'Arsenal / sauront arrêter le mal"8). Auch erschien erstmals ein Pamphlet, das über eine gelungene Flucht aus der Bastille berichtete9). Der Begriff hatte um 1715 bereits ein solches Eigengewicht gewonnen, daß von ihm das Adjektiv bastillé abgeleitet wurde, um z. B. in der Bastille gefangene jansenistische Pfarrer - „les docteurs bastillés" - zu bezeichnen10). Die im frühen 18. Jh. erreichte Politisierung des Begriffs wird am deutlichsten faßbar bei Constantin de RENNEVILLE, einem diplomatischen Vertreter Frankreichs in den Niederlanden, der zum Protestantismus neigte, Staatsgeheimnisse verkauft hatte, bei einem Frankreichaufenthalt als angeblicher Spion verhaftet wurde und 1702-1713 in der Bastille einsaß. Seine nach der Freilassung in tausend Exemplaren im Ausland gedruckte, sogleich vergriffene und in zwei erweiterten Neuauflagen verbreitete Leidensgeschichte stellte schon durch einen dem Text vorausgeschickten Kupferstich die Bastille an den Pranger: Zugleich knüpfte Renneville ausdrücklich an ein Pamphlet gegen die portugiesische Inquisition11) an: „L'Inquisition de Goa qui passe pour le Tribunal le plus inique qui soit au monde, n'est rien en comparaison des injustices qui se pratiquent à la Bastille."12) Unter Beru7

) Les maux de la fin du règne de Louis XIV (1115), in: RAUNIÉ, I lf. ) Exploits du Parlement (1718), ebd., 171. 9 ) [J.-A. d'Archambaud, comte de BUCQUOY:] Événement des plus rares, ou L'Histoire du sieur abbé comte de Buquoy, singulièrement son évasion du Fort-l'Évêque et de la Bastille, 0.0.1719. Von diesem Pamphlet erschienen mehrere Abwandlungen um dieselbe Zeit. 8

W)) B r i e f N ° 5 4 v o m 5 . V I . 1712, in: MARAIS, 1 1 4 5 . u

>) [C. DELLON:] Relation de L'Inquisition de Goa, Leyde 1687; bis 1701 davon 3 weitere Auflagen. 12 ) RENNEVILLE: Inquisition, t.I-IV nebst Suppl., Amsterdam/Leiden 1724, hier I S.XLV; s. a. IV S.4; ebd. I S.LXXXV zu Auflagenhöhe u. Verkauf der Schrift. 10

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Fig. 1: Anonymer Kupferstich (72:129 mm) zu RENNEVILLE: L'Inquisition françoise, ou Histoire de la Bastille, Amsterdam 1715, vor S. 1 (Originalgröße) . An derselben Stelle wurde dies Kupfer wiederholt im jeweils ersten Band der Neuauflagen von 1719 und 1724.

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fung auf seine Erlebnisse und auf Augenzeugenberichte suchte Renneville diese Behauptung zu belegen, indem er nicht nur die niedrigen Beweggründe (ministerielle Rachsucht) und den willkürlichen Verhaftungsbefehl durch einen königlichen Siegelbrief (lettre de cachet) betonte und angab, weder eines Vergehens beschuldigt noch förmlich verhört und verurteilt worden zu sein, sondern auch und besonders die inneren Zustände in der Bastille in den schwärzesten Farben schilderte: vom Diebstahl seiner Wertsachen durch die Wärter bei der Einlieferung und der Bereicherung des tyrannischen' Kommandanten Bernaville an den Tagesgeldern der Häftlinge über die Verwahrlosung der Zellen (chambres), die fast zum Hungertod treibenden Mängel der Ernährung und die medizinische Vernachlässigung der Gefangenen bis hin zum Schrecklichsten, den unterirdischen Verliesen (cachots) für widerspenstige Häftlinge, welche dort, fast nackt in ihrem Kot schmachtend, durch Dunkelheit, Kälte, Schnee, den Anblick von Folterwerkzeugen und die Angriffe der Ratten schlimmeren Martern ausgesetzt seien als bei einer Hinrichtung auf dem Rad. Über seine Person hinaus berichtete Renneville auch von drei Dutzend weiteren 5asri//e-Häftlingen und schmückte deren Erlebnisse so phantasiereich aus, daß sich seine Kampfschrift wie ein Abenteuerroman las. Das Fazit dieses ersten, beispielgebenden Anti-Basi///e-Pamphlets lautete: la Bastille est un monde renversé, puisque ce sont les honnêtes gens qui sont dans les prisons & dans les cachots, & que ce sont au contraire les scélérats qui y jouissent de la liberté & du pouvoir de maltraiter les autres.13)

II. Entwicklung eines aufklärerisch-kritischen ,Bastille'-Begriffs (ca. 1730-1770) Diese polemische Verurteilung der Bastille ging bis zur Mitte des 18. Jh. zwar schon aus Rücksicht auf die Zensur nicht in die allgemeinsprachigen Wörterbücher ein, welche mit geringfügigen Abwandlungen die Definitionen der 1690er Jahre wiederholten 14 ); doch wurde der Begriff zumindest in der aufklärerischen Diskussion weiter kritisch aufgeladen. Dabei wurde vereinzelt die Sicht Rennevilles über13) Ebd., IV 18. 14 ) Dict. Trévoux (41740, (ed. 1743), 1911; Enc., II (1751), 129: Kurzartikel von G. le Blond.

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nommen, wenn etwa ein gebildeter ehemaliger Bauer einen fiktiven englischen Gesprächspartner vor jedem Aufmucken gegen den königlichen Absolutismus in Frankreich warnen ließ: „Douter un moment de la légitimité de ce pouvoir, [...] ce serait se précipiter [...] dans les ténèbres de la Bastille et des autres cachots de l'inquisition françoise"15). Verbreiteter aber war eine vorsichtigere, gleichwohl Willkür und Rechtlosigkeit der Einkerkerungen betonende Kritik, für die V O L T A I R E in seinem vielgelesenen Epos auf Heinrich IV., welches er (nach den frühen Vorworten) während seiner ersten Haft in der Bastille begonnen haben wollte, den fast zu einem geflügelten Wort gewordenen Vers prägte: Dans cet affreux château, palais de la vengeance, Qui renferme souvent le crime et l'innocence.16)

Die Festigung und zunehmende gesellschaftliche Durchsetzung des negativen politischen Bastille-Begniis bis in die 1760er Jahre vollzog sich nun hauptsächlich im Zusammenhang mit drei Faktoren. Erstens schlug sich im Begriff die Tatsache nieder, daß nach den Protestanten jetzt zahlreiche Jansenisten in der Bastille inhaftiert wurden, darunter viele Anhänger einer in der Pariser Gemeinde SaintMédard entstandenen populären, sektenartigen Spielart, allein 50 im Jahre 1740; deren Propagatoren galten als ZtosiiZ/e-Kandidaten, als „bastillables", wie die neue Adjektivbildung hieß17). Wenn die Einlieferung solcher jansenistischer convulsionnaires in die Bastille Gegenstand der volkstümlichen Druckgraphik wurde18) und wenn sogar ein Chanson für inhaftierte Jansenisten eintrat, so ist das als Hinweis darauf zu werten, daß die von Intellektuellen und vornehmen Häftlingen ausgegangene Kritik an der Bastille die Ebene der einfachen Bevölkerung erreicht hatte: 15

) V. JAMEREY-DUVAL: Mémoires (verf. um 1 7 3 3 - 4 4 ) , ed.J.-M. GOULEMOT, Paris 1981,349. ) La Henriade (1730), Chant IV, Vers 455-456; eine Anm. Voltaires zu „château" stellt klar: „la Bastille"; vgl. die krit. Ausg. von O . R . T A Y L O R , Genève 1970 (=The Complété Works of Voltaire, 2), S. 264 u. 298 (bis 1741 viermal wiederholtes Vorwort). 17 ) M A R A I S , I V 3 4 5 ( 2 9 . I I . 1 7 3 5 ) . Siehe auch B . R . K R E I S E R : Miracles, Convulsions and Ecclesiastical Politics in Early Eighteenth-Century Paris, Princeton 1 9 7 8 , bes. S . 3 9 3 ; sowie C . QUÉTEL: „Depar le Roy". Essai sur les lettres de cachet, Toulouse 1 9 8 1 , 6 8 - 7 3 . 18 ) Abb. einer Vignette und eines Einblattdruckes bei FUNCK-BRENTANO: Lettres de cachet, 1903, S. IX u. nach S. 7. Siehe auch C.-L. M A I R E : Les convulsionnaires de Saint-Médard, Paris 1981, Abb. 4 und 23. 16

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Que deviendra donc notre France? [ . . . ] On n'y voit plus que violence [...], Interdit, exil et prison [ . . . ] Cher Desessarts, quel est ton crime? [...] Pour avoir nourri des chrétiens Tu souffres la Bastille. Mais qu'ont fait Joubert et Nivelle Pour être pris? Ils ont expliqué, pleins de zèle, Les saints Ecrits.19)

Leidensberichte aus der Bastille freigelassener Jansenisten bekräftigten die Anklagen Rennevilles20). Zweitens wurden um die Jahrhundertmitte postum die Erlebnisse früherer Bastille-Gefangener bekannt, auf die sich die Publizistik in der Folgezeit immer wieder berief. Während bei den Erinnerungen des unter Richelieu inhaftierten Kammerdieners Annas von Österreich die den Insassen gewährte interne Bewegungs- und Kontaktfreiheit, freilich auch (von anderen Berichten nicht bestätigte) Hinweise auf eine Folterkammer auffielen21), rührte die Gesellschafterin am Hof des Herzogs von Maine, 1718-20 als Mitwisserin einer Verschwörung gefangen gehalten, ihre Leser durch die Schilderung, wie ihre Liebschaft mit einem Mithäftling durch die Gefängnisleitung abgebrochen wurde22). Das breiteste und beständigste Publikumsinteresse fand jedoch die mysteriöse Geschichte vom ,Mann mit der eisernen Maske'. Gerade weil man von ihm nicht mehr wußte, als daß er seit seiner Einlieferung in die Bastille im Jahre 1697 durch eine Samtmaske strenges Incognito wahrte, vom Gouverneur selbst ehrfurchtsvoll bedient und 1703 nachts unter falschem Namen beigesetzt worden war, nährte seine Gestalt den Argwohn gegen die undurchschaubaren Geheimnisse des Staatsgefängnisses. Aufmerksam gemacht von anonymen Memoiren und besonders von VOLTAIRES Siècle de Louis XIV (1751), bemühten sich immer neue Schrifts19

) Les Gémissements de la France (1730), in: RAUNIÉ, V 234-236. ) Anecdotes aussi sûres que curieuses touchant la conduite tyrannique et barbare qu'on a exercé sur Denyse RÉGNÉ à la Bastille, o.O. 1760. Da D .Régné Analphabetin war, kann sie das,Tagebuch' nicht selbst niedergeschrieben haben.

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) P. de LA PORTE: Mémoires,

Genève 1 7 5 5 , 1 2 2 - 2 0 1 .

) M.-J. de STAAL: Mémoires, vol. I-IV, Londres 1755; bis 1767 zwei weitere Auflagen.

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teller vergeblich, die offenbar sehr vornehme Identität des Homme au masque de fer zu ergründen 23 ). Drittens trug die Verhaftung einer Reihe von Schriftstellern und philosophes dazu bei, daß die Bastille nicht länger hauptsächlich als Gefängnis für Hochverräter, Spione und Antikatholiken, sondern zunehmend als Unterdrückungsinstrument gegen die Aufklärung verstanden wurde. So beklagte Mably, daß in Frankreich die politische Opposition durch die Bastille zum Schweigen gebracht, daß „les Bastilles" - also die Gefängnisse überhaupt-von Gefangenen überquellen' würden 24 ). Die Correspondance littéraire wertete das Verbot unliebsamer Theateraufführungen der Comédie française und die Festsetzung des Autors Marmontel in der Bastille als einen Akt des ,Despotismus' und kritisierte, daß bereits eine Akademierede gegen die ,Verleumder' der Schriftsteller ausreiche, um den Redner in die Bastille zu bringen 25 ). Es erregte Aufsehen bei den Gebildeten, daß aufklärerische Schriften wie die beiden ersten Ergänzungsbände zur Diderotschen Encyclopédie oder die anonymen Lettres provinciales des Anwalts Pierre B O U Q U E T von der Polizei beschlagnahmt und in die Bastille eingelagert wurden 26 ). Und V O L T A I R E - dessen 1717 verfaßtes Spottgedicht auf seine Festnahme nun bekannt wurde 27 ), der zumal nach seiner zweiten, wieder sehr milden Haft von 1726 die Aura eines Bastille-Märtyrers besaß und in einer philosophischen Erzählung die Bastille als Symbol des alten Europa einem 23

) Vgl. nacheinander [Mme de VIEUX-MAISONS:] Mémoires pour servir à l'histoire de la Perse, Amsterdam 1745, 20-23 (bis 1763 drei weitere Auflagen); VOLTAIRE: Le siècle de Louis XIV (1756), Chap.XXV, in ders.: Oeuvres historiques, ed. R . POMEAU, Paris 1957, 895-97; P . CLÉMENT: Les cinq années littéraires, t.IV, La Haye 1754, S. 52-56 (Brief vom I.V.1752); G . - F . - P . de SAINT-FOIX: Lettre au sujet de l'Homme au masque de fer, Amsterdam/Paris 1768; dazu Besprechung und Leserbriefe in: Année littéraire, 1768, IV 4 (4.VI.1768) S. 74ff., IV 15 (30.VI.1768) S. 351-355, VI6 (10.IX.1768) S . 128-132; H. GRIFFET: Traité de différentes sortes de preuves qui établissent la vérité de l'histoire, Liège 1769, 322; SAINT-FOIX: Réponse au R. P. Griffet et Recueil de tout ce qui a été écrit sur le prisonnier masqué, Londres/Paris 1770. - Einen zusammenfassenden Überblick gibt COTTRET, S . 135-150. 24 ) G . B . de M A B L Y : Des droits et des devoirs du citoyen (verf. 1758, erstmals veröff. 1789), ed. J . - L . LECERCLE, Paris 1972,151f. ; s.a. ebd. S. 39 u. 119. GRIMM, IV 183 (15.11.1760) und X 15f. (15.VII.1772). Zur Verhaftung einer Schauspielerin vgl. BACH., II 186 (20.IV.1765). 26

27

) BACH., X X I V 2 2 0 u . 2 6 0 ( 1 2 . I X . u . 2 0 . X I I . 1 7 7 2 ) .

) Text erstmals bei

GRIMM

(ed. Kölving), Bd.

1, S.

73-75.

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u n v e r d o r b e n e n ,Wilden' gegenüberstellte 2 8 ) - verharmloste zwar in unter der H a n d herumgereichten Briefen die E i n k e r k e r u n g seines Gegenspielers La Beaumelle 2 9 ) und b e m e r k t e ironisch: „Les Anglois pensent q u ' o n met à la bastille la moitié de la nation française [ . . . ] Cela n'est pas tout à fait vray. D u moins je croi n'avoir rien à craindre." 3 0 ) A b e r wie d ' A l e m b e r t , der die V e r h a f t u n g Morellets als Teil einer z u n e h m e n d e n Verfolgung der A u f k l ä r e r wertete 3 1 ), äußerte auch er seit den 1760er Jahren immer schärfere Urteile gegen die Bastille, selbst wenn es sich wie im Fall Diderots um das Gefängnis zu Vincennes handelte: „j'ai vu Fréret, le fils de Crébillon, D i d e r o t , enlevez et mis à la Bastille; [ . . . ] il ne m e reste qu'à achever dans m a retraitte u n e vie que je d é r o b e aux persécuteurs." 3 2 ) So m u ß t e u m 1770 sogar die Neuauflage des offiziösen Wörterbuchs der A c a d é m i e française zugeben, daß die Bastille - wenn auch angeblich wertneutral - sprichwörtlich geworden war 3 3 ). D o c h ein anonymes aufklärerisches Lexikon machte die vollzogene Negativierung des Begriffs deutlich, indem es die Bastille zusammen mit Bicêtre, dem Pariser Staatsgefängnis f ü r sozial niedrig stehende Gefangene, abhandelte: „Mots que tout Philosophe doit avoir présens à l'esprit, quand il écrit sur la Sagesse, excepté moi, qui ne veut imprimer qu'après m a mort." 3 4 )

M

) L'Ingénu (1767), Chap. 10: ,L'Ingénu enfermé à la Bastille avec un janséniste', in VOLTAIRE: Romans et contes, ed. H. BÉNAC, Paris 1960, 248252 sowie 262 u. 269f. 29 ) Am 19.XII.1756 an N.C. Thieriot: „On m'a enfin envoyé de Paris une de ces abominables éditions de la pucelle [ . . . ] On dit qu'on a découvert que la Baumelle en était l'auteur, et qu'on l'a transféré de la Bastille à Vincennes dans un cachot, mais c'est un bruit populaire qui me paraît sans fondement." (BEST. D 7087) - Zu den milden Haftbedingungen vgl. C. LAURIOL: La Beaumelle, Genève 1978, 490f. 3°) A m 24.11.1733 an d e n s e l b e n (BEST. D 5 7 0 ) . ) A n V o l t a i r e a m 1 6 . V I . 1 7 6 0 (BEST. D 8 9 8 2 ) .

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) An C. Palissot am 16.111.1767 (BEST. D 14048). ) Dict.Acad. 41762, ed. 1774), 1103: „Proverbialement & figurément, en parlant d'un homme qui ne bouge de sa place, quoiqu'on l'appelle, on dit, Il ne branle non plus que la Bastille"'.

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) CHAUMEIX ( 1 7 7 1 ) , 31.

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III. ,Bastille' als Inbegriff des »Despotismus' (1774-Frühjahr 1789) 1. Radikalisierung der Anti-Bastille-Pamphlete Es ist bemerkenswert, daß zur gleichen Zeit, als sich unter dem Reformminister Turgot auch in Frankreich Ansätze zu einem aufgeklärten Absolutismus zeigten, die Bastille geradezu ein antiabsolutistischer Mythos wurde. Die nun in immer dichterer Folge erscheinenden Pamphlete zur Bastille wuchsen sich fast zu einer eigenen Literaturgattung aus und kritisierten die Bastille wie die Staatsgefängnisse überhaupt mit neuartiger Grundsätzlichkeit und Radikalität. Den Anfang machten 1774 die Remarques Historiques et Anecdotes sur le Château de la Bastille, deren gut informierter, ungenannter Verfasser dem Gefängnispersonal selbst oder dessen Bekanntenkreis angehört haben muß. Genauer und umfassender als die bisherigen ßflsii'He-Pamphlete enthüllte dieser für eine wißbegierige aufgeklärte Öffentlichkeit die vom Geheimnis umgebenen inneren .Mißstände' des Staatsgefängnisses: die erniedrigenden Leibesvisitationen bei der Ankunft, die schlechte bis ekelerregende Ernährung, die Behinderungen bei der Teilnahme an der Messe und beim Empfang von Besuchern, die Verweigerungen von Lektüre und Schreibmaterial, die Einschränkungen des Hofgangs, die Manipulationen bei den Verhören, die Verliese für verbotene Bücher, die noch in drei Räumen vorhandenen Eisenkäfige, die - ihm allerdings nur vom Hörensagen bekannten - Geheimzellen für zu Tode zu marternde Häftlinge (oubliettes) und die mit einer Kruste aus abgelagerten Ausdünstungen bedeckten cachots. All diese Anklagen brachte der Autor auf den Generalnenner der Willkür: „Tout est dans ce Château, mystere, ruse, artifice, piege, espionnage [ . . . ] parce que le premier principe dans ce Château est la volonté arbitraire." Obwohl er eine gewisse Humanisierung unter Ludwig XVI. zugab, stellte er für die Regierungen seit Richelieu die Behauptung auf: „les Ministres ont érigé le Despotisme en Loi [ . . . ] Il est donc vrai de dire que la Bastille, les Châteaux-forts, les Exils ont été le grand mobile du Gouvernement du dernier Regne, comme des deux précédens." 35 ) Diese aufsehen35

) Remarques Historiques & Anecdotes sur le Château de la Bastille, o.O. 1774, 48 S., hier nacheinander S. 23, 29 und das Vorwort. Als Autor nennt B A R B I E R ohne Beleg Brossay du Perray, über den nichts zu ermitteln ist. 17

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erregende Broschüre war bis zur Revolution ein verlegerischer Dauerseller; 1774 mindestens dreimal nachgedruckt, wurde sie 1777/85 in einem Pamphlet des literarischen Untergrunds und zugleich 1783 (erweitert um Auszüge aus R E N N E V I L L E ) erneut aufgelegt und sogar noch einmal im Sommer 1789 wiederholt 36 ). Dieselbe Entlarvungsstrategie verfolgte ein anonymes Pamphlet des Grafen M I R A B E A U , für den Financiers wegen einer steuerpolitischen Kampfschrift eine lettre de cachet erwirkt hatten. Obwohl er vom Schloß in Vincennes berichtete, zog Mirabeau offensichtliche Parallelen zur Bastille. Er bekräftigte die meisten Anklagen der Remarques Historiques, verlieh ihnen jedoch durch seine leidenschaftliche Beredsamkeit zusätzliches Gewicht. Insbesondere prangerte er die vom Grundsatz der Geheimhaltung begünstigte .Rachsucht' und ,Habgier' des Gefängniskommandanten an - „le voleur est inséparable de l'homme, l'homme est inséparable de la place ! " - und kritisierte die über die ordentliche Justiz hinweggreifenden lettres de cachet: „or le monarque qui peut faire arrêter & conduire un homme à la Bastille, peut également le livrer aux cours de la justice [ . . . ] Le souverain commet un acte de tyrannie [ . . . ] s'il punit secrètement." 37 ) Unter Ausnutzung der mit den unterirdischen Verliesen verknüpften Greuelvorstellungen - Schreckenskammern, in denen „ganze Generationen" verschwänden - setzte Mirabeau sogar Staatsgefängnisse und cachots gleich: „ces lieux où tout est cachot" 38 ). Zehn Jahre später wiederholte er ähnliche Vorwürfe gegen das Bicêtre-Gefângnis39). Die größte Publizität erlangte jedoch die mit besonderem Sinn für öffentliche Wirkung aufgemachte Schrift des Journalisten Simon-Ni36

) Vgl.

nacheinander

die

Rezensionen

in BACH., VII

( 1 9 . U . 2 3 . I I I . 1 7 7 5 ) ; [ C . THÉVENEAU DE MORANDE:] Le Gazetier

311

u.

313

cuirassé,

ou

Anecdotes scandaleuses de la Cour de France auxquelles on a ajouté des Remarques historiques et anecdotes sur le château de la Bastille et l'Inquisition de France, Imprimé à cent lieues de la Bastille, à l'enseigne de la liberté, 1777 (Neuaufl. 1785); J. HOWARD: État des prisons, des hôpitaux et des maisons de force (engl. 1777), I, Paris 1 7 8 8 , 3 8 0 - 3 8 6 ; Remarques sur la Bastille, nouv.éd., augm. d'un grand nombre d'anecdotes intéressantes et peu connues, Londres 1783; Remarques et anecdotes sur le château de la Bastille ..., Paris [1789], 1 - 5 2 . 37 ) Des lettres de cachet et des prisons d'État (1778), hier zit. nach der 2. A u f l . , Hamburg 1782, nacheinander I 5 7 , 1 1 0 5 u. 254. 38 ) Ebd. I 249 u. II 25; s.a. II 11 u. 45. 39 ) De la maison de force appelée Bicêtre, suivi de Réflexions sur les effets de la sévérité des peines ..., o . O . 1788.

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colas-Henri L I N G U E T über seine zwanzigmonatige Bastille-Haft wegen schonungsloser Reportagen von einem Pariser Zivilprozeß 40 ). Linguet bereicherte die Standardanklagen der vorausgehenden (ihm bekannten) Skandalberichte gegen die Zustände in der Bastille, indem er schilderte, wie man versucht habe, ihn zu vergiften, und wie demütigend für die Häftlinge der Anblick des Schmucks der Hofuhr sei: die Abbildung zweier in Ketten gelegter Gefangener. Mit neuartiger Aggressivität brachte er die Praktiken der Isolation der Häftlinge und der allgemeinen Geheimhaltung auf den Begriff der ,Seelenfolter' („ces tortures de l'âme" 41 ) - wenn er auch mangels Tatsachen die cachots und oubliettes nur in dunklen Andeutungen erwähnen konnte - und verurteilte die Bastille als Instrument einer zunehmend „barbarischen", in der damaligen Welt angeblich ,einmaligen' Willkür, die hier statt Staatsverbrechern fast nur noch gewöhnliche Angeklagte einkerkere, um sie der Justiz zu entziehen, ja heimlich zu morden 42 ). Derart emotionalisiert, wurde der Name Bastille bei Linguet nicht nur zur Grundlage neuer Bezeichnungen für Einkerkerungen' („Embastillemens"), .Gefängnispersonal' („Bastilleurs"), ,Gefängnismißstände' („Bastillerie") und ,Gefängnispolitik' („Bastillage") überhaupt 43 ), sondern - in der Pluralform - auch zum Inbegriff eines Despotismus', der das Königreich entgegen dem eigentlichen Willen des Monarchen zu einem großen Gefängnis mache, ja gleichsam Frankreich selbst gefangenhalte: „Les Bastilles Françoises [ . . . ] dévorent journellement des hommes de tous les rangs & de toutes les nations"; „tant de Bastilles que le France renferme, ou plutôt qui renferment la France." 44 ) Daraus folgte Linguets Appell an Ludwig XVI., dem neuen aufklärerischen Geist der justice und humanité zu folgen und entsprechend einem Gesetz von 1780 die geheime und daher gesellschaftlich nutzlose Haft in der Bastille abzuschaffen 45 ). Ein dem Pamphlet vorangestellter Kupferstich nahm die Einlösung dieser Forderung beschwörend vorweg, indem er den König auf einem Denkmalssockel in der Bastille-Rume darstellte, wie er den Gefangenen die Freiheit schenkt: The Ideas and Careers of Simon-Nicolas-Henry Linguet, Urbana 1980, 200-210. LINGUET: Mémoires sur la Bastille, Londres, Impr.de T. Spilsbury 1783, 157 S., hier S. 53; s.a. S. 55, 76 u. 98. Ebd. S. 5 - 8 , 22, 25f., 31, 36f., 39, 55, 90 u. 102f. Ebd. S. 39, 69,116,142. Ebd. S. 7 u. 154. Ebd. S. 9, 25f., 56f., 108-110.

40

) D . G . LEVY:

41

)

«) «) *>) 45 )

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Fig. 2: Kupfer, gezeichnet vom Verleger Spilbury, gestochen von Wordman und Mutlow, 114: 172 mm. Frontispiz zu LINGUET: Mémoires [46], sowohl in der Zeitschriften- wie in der Buchausgabe. Der Titel des Blattes stammt aus VOLTAIRE: Alzire (1736), 2. Akt, 2. Szene. Unter der inkrimierten Hofuhr das korrekte Zitat aus einer königlichen Gesetzespräambel: „Ces souffrances inconnues et ces peines obscures, du moment qu'elles ne contribuent point au maintien de l'ordre par la publicité et par l'exemple, deviennent inutiles à notre justice. Déclar. du 30 août 1780" (Vgl. ISAMBERT, Nr. 1386, XXVI 378). 20

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Besonders auch durch diese bildliche ,Erpressung' fand das 1783 sowohl in Linguets Zeitschrift 46 ) wie in mindestens sechs französischsprachigen Buchausgaben verbreitete Pamphlet eine solche öffentliche Resonanz 47 ), daß im Oktober 1789 ein Journalist meinte, bei mehr derart vernichtender Kritik hätte die Bastille bereits seit Jahren nicht mehr existiert 48 ). Tatsächlich regte Linguets publizistischer Erfolg nicht allein die Neuauflage älterer Basfi/Ze-Schriften an (s. o.); er provozierte auch eine für diese , Gattung' neuartige Flugschriftenpolemik, in der eine konservative Replik Linguets Darstellung als verleumderisches Lügengespinst abtat und die angeblich in ihrer Milde einmalige Bastille als rechtmäßige Konsequenz der Monarchie im Sinne Montesquieus verteidigte 49 ), während SERVAN, Reformanwalt am Obergericht zu Grenoble, eine solche Apologie dadurch ad absurdum führte, daß er die Bastille ironisch zu einer staatsbürgerlichen Pflanzschule, einem wohltätigen Erfordernis des privaten und öffentlichen Rechts wie des Gottesgnadentums erklärte: „la Bastille est divine au second degré; [ . . . ] l'essence de la Monarchie est d'avoir une Bastille & plusieurs Bastilles; plus & mieux." 50 ) Weitere , Opfer' der Bastille meldeten sich durch Pamphlete zu Wort: noch im Frühjahr 1789 der sich als Graf ausgebende Vincent RICHARD, ein wegen angeblichen Staatsverrats von April 1780 bis Mai 1781 verhafteter Offizier, der nun Entschädigung für seinen daraus folgenden wirtschaftlichen Ruin forderte 51 ); vor allem aber - zumindest indirekt - der ehemalige Feldscher Henri DANRY, der 1749 wegen eines (vorgetäuschten) Attentats auf Madame Pompadour eingekerkert worden war, sich durch drei Gefängnisausbrüche den Ruf 4é

) Annales politiques, civiles et littéraires du dix-huitième siècle, N o s 7 3 - 7 5 , Januar 1783, X S. 1-160. 47 ) [A.-J.-M. SERVAN:] Apologie de la Bastille, pour servir de réponse aux Mémoires de M. Linguet sur la Bastille, Kehl/Lausanne 1784,2: „Chacun sait quel est aujourd'hui le poids des estampes: on les respecte bien plus que les écrits." «) La Bastille dévoilée, livr. III, Paris 1789, 35. 49 ) Observations sur l'Histoire de la Bastille publiée par Monsieur Linguet, Londres 1783; die teilweise vermutete Autorschaft von J. Dusaulx ist nicht belegt. - Siehe auch Thomas EVANS: Réfutation des Mémoires de la Bastille ..., Londres 1783. 50 ) SERVAN: Apologie [47], 11 u. 16; dazu die Rezensionen in: BACH., X X X 19 ( 1 7 . X . 1 7 8 5 ) ; s o w i e GRIMM, X I V 3 3 6 F . ( I I I . 1 7 8 6 ) . 51

) Mémoires secrets de Robert, comte de Paradès, écrits par lui au sortir de la Bastille, o.O. 1789,167-184.

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eines Freiheitshelden erworben hatte und ab 1784 (nach seiner endgültigen Freilassung) als Edelmann „Masers de Latude" und BastilleMärtyrer von hochgestellten Persönlichkeiten Pensionen von insgesamt über 2000 Livres im Jahr gestiftet bekam und in Paris beim amerikanischen Botschafter Jefferson zu Gast war. Seine anonymen, von einem Offizier herausgegebenen „Memoiren" prangerten zwar nur stellenweise die cachots, die millionenfachem Tod' gleichkommende nutzlose Grausamkeit, kurz den ,inquisitorischen' Charakter der Bastille an 52 ); doch zeigte ein gleichzeitiger Kommentar des Herausgebers, welches Kritikpotential die weithin als ,Abenteuerroman' aufgemachten Memoiren enthielten: schien Latudes „neununddreißigjährige Folter" doch zu bestätigen, daß in der Bastille die persönliche Rachsucht und bestialische Grausamkeit von „Henkern" herrschten, daß die Regierung unter dem Einfluß der Polizei zu einem,Spitzelregime' entartet sei und den absoluten Monarchen zu einem tyrannischen „Monstrum" erniedrige, daß nur noch das Eingreifen Ludwigs XVI. dies Schandmal des Aufklärungszeitalters beseitigen könne 53 ). 2. Liberalisierungstendenzen in der Gefängnis-Praxis der Bastille Diese Polemik trat in wachsende Spannung zu den tatsächlichen Verhältnissen in der Bastille. Ihre Denunzierung der mit dem BastilleBegriff eng verbundenen lettres de cachet verschwieg, daß die königlichen Siegelbriefe nicht nur Verhaftungen, sondern ebenso Freilassungen verfügten, daß sie aufs ganze gesehen weniger ein Unterdrückungsinstrument der Regierung waren als vielmehr meist auf Antrag von Privatpersonen ergingen, welche die ,Familienehre' durch diskrete Haft schädigender Familienmitglieder schützen wollten, und daß ein Runderlaß des Staatsministers Breteuil vom März 1784 den Intendanten einschärfte, derartige Anträge strenger auf ih52

)

53

)

22

[ J . - Y . de Beaupoil, marquis de SAINTE-AULAIRE:] Histoire d'une détention de 38 ans dans les prisons d'État, Amsterdam 1787, 3f., 6, 67-70, 83f., 97, 101, 111, 120. Textgleich und von demselben herausgegeben: Le Donjon de Vincennes, la Bastille et Bicêtre, ou Mémoires de M. Masers de Latude, o.O. 1787. Zur Bedeutung von Latude vgl. LÜSEBRINK/REICHARDT: Oralität und Textfiliation, S. 112-124; sowie C. QUÉTEL: Les évasions de Latude, Paris 1986. [SAINTE-AULAIRE:] Lettre de M.le Marquis de Beaupoil, à M. de Bergasse sur l'histoire de M. de Latude, Potsdam 1787; gleichartig das anonyme Pamphlet: A un ami à l'occasion du mémoire de M. Masers de Latude, ou Histoire de l'abbé Buquois, Paris 1787.

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re Berechtigung zu prüfen und nur noch Haftzeiten von höchstens 2 3 Jahren vorzuschlagen. In der französischen Gesellschaft des Ancien Régime galt eine lettre de cachet als die am wenigsten ehrenrührige Strafe, weil sie vom König selbst angeordnet wurde und das Incognito des Gefangenen wahrte. Deshalb war das in der Verwaltungskorrespondenz der Bastille immer wieder bekräftigte Geheimhaltungsprinzip keineswegs nur politisch begründet und das Namensgeheimnis des Homme au masque de fer keine Besonderheit 54 ). Während die Anti-ßiwftV/e-Pamphlete die Vorstellung von überquellenden Staatsgefängnissen verbreiteten, zeigt die GefangenenStatistik der Bastille - bei insgesamt etwa 50 zur Verfügung stehenden Zimmern - eine rückläufige Tendenz des Jahresdurchschnitts der Einlieferungen von 40 (1660-1715) über 43 (1715-74) auf 19 (1774-89), die sich besonders ab 1760 so beschleunigte, daß die Bastille 1783-89 fast leer stand und der zuständige Minister den Festungsturm von Vincennes, eine Nebenstelle der Bastille, schließen ließ: „Dans la visite que M. le baron de Breteuil a faite au commencement de son ministère, de la Bastille & de Vincennes, il a témoigné son horreur pour ces prisons d'état; il a depuis fait vuider tout-à-fait la dernière." 55 ) Der gleichzeitige Rückgang der Haftzeiten von durchschnittlich etwa 3 Jahren auf 1 - 2 Monate erweist den Fall ,Latude' als untypische Ausnahme. Und selbst die tatsächlichen Gefangenen konnten immer weniger als ,Opfer des Despotismus' gelten, wenn man berücksichtigt, daß von den insgesamt 288 Bastille-Häftlingen der Regierungszeit Ludwigs XVI. 40 sogleich wieder freigelassen wurden, 12 freiwillig einsaßen, 53 gewöhnliche Betrüger, 11 Gewalttätige, 31 an den Brotunruhen vom Frühjahr 1775 beteiligt und 11 im Zusammenhang mit der Halsbandaffäre angeklagt wurden, während die 38 Drucker und Buchhändler und die 24 - meist obskuren - Schriftsteller in der Regel wegen Abfassung und Verbreitung pornographischer und majestätsbeleidigender Schriften in Haft sa54

) FUNCK-BRENTANO, 1979, lOff. sowie S. 5 6 - 6 1 der Erlaß von Breteuil; F.X. EMMANUELLI: „Ordres du Roi" et lettres de cachet en Provence à la fin de l'Ancien Régime, in: RH 252.1974, 357-392; C. QUÉTEL: Lettres de cachet et correctionnaires dans la généralité de Caen au XVIII e siècle, in: A Normandie 28. 1978, 127-159; ders.: „De par le Roy" [17], passim. ; A. FARGE/M. FOUCAULT: Le désordre des familles. Lettres de cachet des Archives de la Bastille au XVIIIe siècle, Paris 1982. 55 ) BACH., XXIV 119 (31.XII.1783). Siehe auch La Bastille dévoilée, fasc. II, Paris 1789, 39.

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ßen 56 ). Wird damit Linguets These bestätigt, aus dem Staatsgefängnis Bastille sei eine gewöhnliche Haftanstalt geworden, so wird zugleich seine Behauptung von der politischen Funktion der Bastille stark relativiert. Noch weniger entsprach ihre Denunzierung als,Folter-Institution' der materiellen Wirklichkeit 57 ). Nicht nur daß die Gefangenen binnen 24 Stunden nach ihrer Einlieferung von einem Kommissar des Chätelet-Gerichts in Anwesenheit eines Protokollführers verhört und bei mangelnden Verdachtsgründen wieder auf freien Fuß gesetzt werden mußten (letzteres bei 20% der Fälle 1774-89); sie wurden auch nur ausnahmsweise und aus disziplinarischen Gründen (z.B. Flucht) in die cachots gesperrt, bis Necker eine solche Verwendung der berüchtigten unterirdischen Verliese 1776 endgültig untersagte. Und da die Folterung von Gefangenen in der Bastille bereits im 17. Jh. eingestellt worden war, diente die alte Folterkammer als Bücherlager. Die legendären oubliettes schließlich existierten vollends nur in der kollektiven Phantasie. Mehr noch: im Rahmen des 18. Jh. war die Bastille objektiv kein Elendsquartier, sondern oft geradezu eine Nobelherberge mit guter medizinischer Betreuung (kgl. Arzt, Hebamme, Apotheker), in deren geräumige Turmzimmer vornehme Insassen u.a. Kammerdiener, eigene Möbel und ihr Tafelsilber mitbringen durften (so der Marquis de Belle-Isle 1784), wo man nach dem Verhör verhältnismäßig leicht Verwandte und Freunde sehen konnte und bei der Entlassung zunächst nur gelegentlich (z. B. 1717 für Voltaire 1200 1.), ab 1784 regelmäßig eine königliche Pension ausgesetzt bekam. Mochte vereinzelt eine spezielle Zubereitung einem verwöhnten aristokratischen Gaumen nicht schmecken, so war doch die oft nach individuellen Ansprüchen differenzierte, vom König bezahlte Kost (durchschnittlich 101. pro Tag und Kopf) selbst nach den Berichten ehemaliger Gefangener so luxuriös, daß manche Häftlinge nur die Hälfte ihres Verpflegungssatzes in Anspruch nahmen und sich den Rest bei der Entlassung auszahlen ließen. Auch wurden die Häftlinge bei Bedarf nach ihren Wünschen eingekleidet; was ,Latude' als ,halb ver5«) G . BORD, 1883; E . BIRE, 8 6 - 9 6 ; FUNCK-BRENTANO, 1 8 9 0 , 2 9 1 ; d e r s . , 1903;

ders. 1979, 94; EMMANUELLI [54], 382-386, bes. die Tabellen u. Kurven fig. 5, 6 F u. 7 A ; QUISTEL: „Depar le Roy" [17], die Statistiken S. 32f. 57 ) Vgl. zu den folgenden beiden Abschnitten, soweit nicht anders angegeb e n , d i e v o r g e n . A r b e i t e n v o n BORD ( 1 8 8 3 ) , BIRE ( 1 8 9 3 ) , FUNCK-BRENTANO ( 1 8 9 0 , 1 9 7 9 ) , BOURNON ( 1 8 9 3 ) u n d QUSTEL ( 1 9 8 1 ) .

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rottete Lumpen' bezeichnete, war ein neuer fellgefütterter Mantel, den er nach seinem zweiten Ausbruch verkaufte. Überhaupt: wenn auch die frühere völlige Bewegungsfreiheit der Gefangenen in der Bastille wegen Mißbrauchs eingeschränkt worden war, so trug der Bastille-Gouverneur doch meistens Sorge, ihnen - zumal Schriftstellern - die Haft möglichst zu erleichtern: von La Beaumelle, für dessen mitgebrachte Bibliothek von über 600 Bänden 1753 eigens Regale angefertigt wurden, über Freren, der alles Nötige zur Fertigstellung eines neuen Buches erhielt 58 ), bis hin zum Marquis de Sade (inhaftiert 1787-89), der u. a. sein Zimmer neu tapeziert bekam, alle zwei Wochen mehrere Stunden allein mit seiner Frau verbrachte und sich seinen gewohnten Wein aus der Provence kommen und in einem cachot kühlen ließ 59 ). Kurzum, da die Bastille im späteren 18. Jh. zu Recht als das humanste und .ehrenvollste' Gefängnis Frankreichs galt, waren Adelsfamilien froh, wenn sie - wie im Fall de Sade - die hohe Pension aufbringen konnten, um ihre,mißratenen Söhne' dort einzuquartieren. 3. Verallgemeinerung des radikalen ,Bastille'-Begriffs vor der Revolution Indessen fanden die genannten Tatsachen fast keinen Eingang in den allgemeinen Bastille-Bzgr'iii vor der Revolution, sondern wurden im gesellschaftlichen Bewußtsein verdrängt. Zwar räumte Mercier um 1783 ein, daß die Staatsgefängnisse weniger belegt seien als früher; zwar registrierte die Presse vereinzelt, daß Breteuil den von Linguet beanstandeten Uhrschmuck im Hof der Bastille entfernen und deren Nebenstelle in Vincennes schließen ließ; zwar rief eine regierungstreue Verteidigungsschrift über vierzig frei in Paris lebende ehemalige Bastille-Häftlinge als Zeugen für die Erträglichkeit der Gefängniszustände auf; zwar schränkte ein Aufklärungsgegner zutreffend Voltaires Behauptung ein, die in der Bastille inhaftierten philosophes seien allesamt politisch „Verfolgte" gewesen 60 ).

58

) Brief des Polizeileutnants Berryer an den Kommandanten Chevalier vom 24.1.1757, in: R A V A I S S O N , XII441.

» ) A . BEGIS, 5 3 2 - 5 3 4 . w

) Vgl. nacheinander M E R C I E R : Tableau, VII 215; B A C H . , XXIV 119f. (31.XII.1783); Observation [49], 144; C. PALISSOT: Oeuvres, IV, Paris 1788, 417f. (abgedr. bei B E S T . D 14048, XXXI445).

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Aber derselbe M E R C I E R machte sich die Vorwürfe der Pamphletistik, insbesondere der Remarques von 1774 zu eigen, blieb vom ,Mann mit der eisernen Maske' fasziniert und konnte nicht an der Bastille vorübergehen, ohne mit Schaudern ihrer ,unschuldigen Opfer' zu gedenken 61 ). Die Presse, welche ausführlich über die Pamphlete gegen die Bastille berichtete 62 ), warnte Regierungskritiker mit dem Zuruf: „ne criez pas si fort, craignez la Bastille" 63 ), erklärte die Bastille zum „geschworenen Feind" von Pressefreiheit und Schriftstellern 64 ), verbreitete ein Gedicht über die Schrecken der cachots65) und veröffentlichte einen ,Erlebnisbericht' des Grafen CAGLIOSTRO , der im Zusammenhang mit der Halsbandaffäre festgenommen worden war und während seiner lOmonatigen Bastille-Haft u . a . Freunde zum Essen empfangen hatte: Toutes les prisons d'Etat ressemblent-elles à la Bastille? Vous n'avez pas d'idée des horreurs de celle-ci. La cynique impudence, l'odieux mensonge, la fausse pitié, l'ironie amere, la cruauté sans frein, l'injustice et la mort y tiennent leur empire. Un silence barbare est le moindre des crimes qui s'y commettent. 66 )

Die Mémoires secrets streuten sogar die ,Nachricht' von der Hinrichtung eines Bastille-Häftlings aus 67 ), ein Verdacht, den B R I S S O T 1784 selber als sein Amt mißbrauchender Polizeispitzel drei Wochen verhaftet - noch verallgemeinerte: C'est dans le profond silence de la Bastille, et des nombreuses prisons gardées par des moines, que s'exécutent les meurtres, les empoissonnemens, les assassinats de toute espèce ordonnés par ces barbares. 68 )

Daß solche Angstvorstellungen keineswegs nur gespielt waren, zeigt die im Herbst 1788 vertraulich geäußerte Furcht des späteren Abgeordneten und Revolutionärs B O I S S Y D ' A N G L A S , wegen der Leitung einer Kampagne im Vivarais für reformierte Generalstände verhaftet zu werden: „j'irai aux Etats généraux ou à la Bastille, peut-

61

) M) «) M) 65

Tableau, III (1783) 2 7 5 - 2 7 9 , XI (1788) 290; Entretiens (1768) 38. Vgl. z. B. den Sammelbericht bei METTRA, X V 104-107 (10.IX.1783). Ebd. 1302 (3.IV.1775). Ebd. VIII407 (2.XI. 1779) XVI 279 (3.VIII.1784).

) FERRAND: L e s C a c h o t s , (15.X.1787), 271-273.

élégie,

in:

J.

Encyclopéd.

1787,

VII/2

) BACH., X X X I I 2 5 4 (10.VIII.1789); s. a. BÉGIS, 1880, 5 3 7 - 5 4 1 . 67 ) BACH., XVIII 224 (22.XII.1781). 68 ) [J.-B. BRISSOT] Lettres sur la liberté politique, Liège 1783, S. 58 Anm. h.

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être." 6 9 ) U n d als der Marquis de SADE am 2. Juni 1789 aus seiner Zelle durch ein als Verstärker benutztes O f e n r o h r auf die Straße rief, „daß die Bastille-Gefangenen ermordet würden und daß man ihn befreien solle", wurde er aus Rücksicht auf die erregte Volksstimmung sogleich in die Anstalt von Charenton verlegt 7 0 ). I n d e m so die radikale Polemik der Anti-_Ba.s/I7/e-Pamphlete weithin Allgemeingut wurde, erweiterte und verschärfte sich der BastilleBegriff vor der Revolution zum anklagenden politischen Schlagwort, das nicht nur im Plural sämtliche Staatsgefängnisse mit all ihren Mißständen in sich schloß 71 ), sondern darüber hinaus als Kollektivsingular den Zustand despotischer Entartung der Regierung und Verf e c h t u n g der Bürger überhaupt bezeichnete. A u s dieser Sicht stand Frankreich A n f a n g 1789 vor der Alternative, entweder die bevorstehenden Generalstände zur Gewinnung der Freiheit zu nutzen oder durch Unentschlossenheit die herrschende Unterdrückung der Nation - „une éternelle Bastille" - zu besiegeln 7 2 ).

4. Die antidespotische Funktion des Mythos der,Bastille' und deren vorweggenommene Zerstörung D a ß der Bastille-Begnii sich während der beiden letzten Jahrzehnte des Ancien Régime in entgegengesetzter Richtung zur GefängnisPraxis entwickelte, daß er sich also im selben Maße radikalisierte, wie regierende Politiker vor den in ihm enthaltenen Anklagen zurückwichen, und damit zu einem Mythos wurde, geschah nicht selbsttätig', sondern erklärt sich aus seiner gesellschaftlichen Funktion. War Bastille doch mehr als andere Schlagworte geeignet, die wachsende öffentliche ,Despotismus'-Kritik zu kristallisieren und publikumswirksam zu versinnbildlichen. D i e Bastille bot nicht nur die überzeugendste Möglichkeit, die ,Untertanen' einmütig und schroff dem despotisme ministériel gegenüberzustellen, weil - im Gegensatz etwa zu den Steuern - keine soziale G r u p p e als solche profitträchtig mit ihr verfilzt war und sich durch ihre Anprangerung selbst kompromittiert hätte. Sie machte es der Absolutismuskritik auch leicht, vage Verdächtigungen und halb69

) Brief an Ungenannten, ed. L. BRESSON: Une assemblée politique en 1788, in: RF1. 1881,124f.

70

) BÉGIS, 1 8 8 0 , 5 3 4 .

71

) Sieheoben Anm. 44u. 50sowieu. a. MERCIER: Tableau, VII (1783),214. 72 ) [J.-L.CARRA:] L'Orateur des États-Généraux, [Paris, Winter 1788/89], 6.

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wahre Berichte zu propagieren, weil der Grundsatz der Geheimhaltung Spekulationen begünstigte und Richtigstellungen verhinderte, weil sie außerhalb der ordentlichen Justiz stand und trotz Milderung ihrer Praxis für Regierung wie Gefängnispersonal unkontrollierte Willkürmaßnahmen offenließ. Außerdem erwies sie sich als besonders geeignet, Regierung bzw. Verwaltung und König - mehr oder weniger bestimmt - auseinanderzudividieren, die angeprangerten Mißstände als Verstöße der korrupten Administration gegen den ,wahren königlichen Willen' darzustellen und damit den Monarchen auf Reformen zu verpflichten. Da sie zugleich ein konkretes, finster wirkendes Festungsgebäude im Zentrum des Königreiches war, konnte sie ungleich mehr als andere, abstraktere Begriffe bildlichemblematische Symbolkraft gewinnen und sich im Bewußtsein auch der Grundschichten festsetzen. Folglich mußte eine Zerstörung dieses château royal im Pariser Volksviertel des Faubourg Saint-Antoine für die Zeitgenossen gleichbedeutend sein mit der Beseitigung des ,Despotismus' überhaupt. Im Rückblick ergibt sich, daß die ßasiiV/e-Pamphlete des späten Ancien Régime die genannte Funktion in zunehmendem Maße erfüllten. Ihre im frühen 18. Jh. noch starken religionspolitischen und ironischen Elemente traten mit den 1770er Jahren zugunsten immer schwerer wiegender Verdächtigungen und einer immer grundsätzlicheren Infragestellung der bestehenden Staatsordnung zurück 723 ). Gleichzeitig mehrten und verstärkten sich die Appelle an den König. Die ganze Bedeutungsentwicklung von Bastille im Ancien Régime lief auf die Forderung hinaus, dieses ,Bollwerk des Despotismus' zu beseitigen. Wann diese implizite Konsequenz in den kollektiven Vorstellungen konkrete Gestalt annahm, ist noch nicht ganz geklärt. Möglicherweise deutet bereits jene gegen die Bastille gerichtete „kleine Volksunruhe" vom August 1709, die sogleich erstickt wurde, in eine solche Richtung 725 ). Und wenn das bei den schweren Lebensmittelunruhen 72a

) Vgl. die quantifizierenden Wortfeldanalysen repräsentativer BastilleFlugschriften bei L Ü S E B R I N K / R E I C H A R D T : La „Bastille", S. 198-214; sowie R E I C H A R D T : Zur Geschichte politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich zwischen Absolutismus und Restauration, in: LiLi 47.1982, 49-74, hier S. 57-70. 72b ) Brief des Kriegsministers Voysin an Bernaville vom 23.VIII. 1709, ed. F . F U N C K - B R E N T A N O , in: Revue Rétrospective, N. S., Juli 1889, 42.

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vom Mai 1775 umlaufende Gerücht, „die Aufrührer wollten sich der Bastille und des Arsenals bemächtigen", auch lediglich auf Solidaritätsbekundungen der Aufständischen für ihre festgenommenen Genossen beruht haben oder gar (wie die Presse meinte) völlig „falsch und absurd" gewesen sein sollte 73 ), so zeigen doch die vom Marschall Biron getroffenen Vorkehrungen, daß in der Regierung entsprechende Aktionen des .Volkes' befürchtet wurden. Jedenfalls: spätestens mit Linguet (s. o.) griff die Forderung nach einer Schleifung der Bastille um sich und fand Resonanz sogar in Kreisen der Verwaltung. So veröffentlichte der Bauinspektor von Paris 1784 einen Stadtplan, in den anstelle der Bastille eine „Place de Louis XVI" eingezeichnet war 74 ); der Vetter des Königs höchstpersönlich veranlaßte und überreichte eine Denkschrift zur Abschaffung der Bastille und der lettres de cachet75) ; der Pariser Polizeileutnant ließ im August 1788 einen Plan ausarbeiten, um die Bastille aus Kosten- und städtebaulichen Gründen zu schleifen und stattdessen wieder das Vincennes-Gefängnis zu eröffnen 76 ); ja noch am 8. Juni 1789 legte ein Finanzgerichtsrat der Königlichen Architekturakademie den Plan einer 170 Fuß hohen, von einem Königsstandbild gekrönten Freiheitssäule vor, welche die gerade tagenden Generalstände anstelle der Bastille errichten lassen sollten: J'ai pensé que le Monument de la reconnoissance d'un peuple libre, élevé sur l'emplacement même de la Bastille, devoit surpasser, en élévation, le Monument de despotisme & de servitude qu'il auroit remplacé. 77 ).

Was seit Linguet hauptsächlich wohlsituierte, gebildete Einzelpersonen formuliert hatten, wurde nun, in den cahiers de doléances des Frühjahrs 1789, zur gemeinschaftlichen, populären Forderung. Es zeugt von der Verbreitung des Bastille-Mythos, daß die Wahlversammlungen vor allem des Dritten Standes einer ganzen Reihe von Stadt- und Landgemeinden von der Provinz bis zum Pariser Becken die Schleifung verlangten: 265f., ( 1 2 . V . 1775) Projet d'une place publique à la gloire de Louis XVI sur l'emplacement de la Bastille, Paris 1 7 8 4 , abgeb. in: B O U R N O N , nach S . 1 7 6 . C.-L. D U C R E S T : Mémoire présenté au Roi par Mgr. de duc d'Orléans..., le20 août 1787 (Paris 1787); dazu B A C H . , X X X V I 136f. (3.XI.1787). P . - F . DE R. DU PUGET: Projet de démolition de la Bastille . . . , ed. F . BACH., X X X 74

)

75

)

76

)

77

) D A V Y DE CHAVIGNÉ:

CORBET:

FUNCK-BRENTANO, 1 8 9 0 ,

le...,

311-316.

Projet d'un monument sur l'emplacement [Paris] 1789, 3f.

de la Bastil-

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Que [...] la Bastille et autres châteaux dénommés prisons d'Etat soient démolis, leurs terrains vendus ou employés sur-le-champ à des objets d'utilité publique; et que, sur une partie du terrain occupé dans ce moment par la Bastille, il soit élevé un monument consacré à la liberté et à la gloire de Louis XVI.78). Vollends zu einer Wahlkampflosung wurde der Slogan von der Schleifung der Bastille in Paris selbst; erschien er beim Adel nur in Form einer untertänigen Bitte 79 ), so nahm er beim Dritten Stand die populäre Diktion der vorrevolutionären Pamphlete auf: „Les cachots, les bastilles seront à jamais démolis, et cet acte de justice célébré par des réjouissances publiques" 80 ). Aus alldem geht hervor, daß die Bastille längst vor ihrer tatsächlichen Einnahme durch die Aufständischen im gesellschaftlichen Bewußtsein bereits zerstört war. Wahrscheinlich nur aus Unentschlossenheit und aus der Furcht, den Eindruck der Schwäche zu verstärken, gab Ludwig XVI. dem wachsenden Drängen, selber - und zu seinem Ruhm - die Schleifung anzuordnen, nicht nach.

IV. Umwertung der ,Bastille' vom Unterdrückungs- zum Freiheitssymbol: „ce gouffre du despotisme vient d'être changé en un foyer de liberté"81) 1. Triumph der Pariser Bürger über die ,Bastille' a) 14. Juli 1789: „La Bastille ou la mort" Welchen Anteil die kollektiven Vorstellungen über die Bastille am Zustandekommen des Bastillesturms hatten, läßt sich nicht exakt be78

) Cahier der vereinigten Stände der Wahlkreise Montfort l'Amaury u. Dreux (Dep. Seine-et-Oise) vom 16.111.1789, Abschnitt „Police", in: AP, IV 40 b. - Siehe auch: Cahier des Dritten Standes der Stadt Martigues (Wahlkreis Aix) vom 29.111.1789, Sect. 1, Art. 14, in: AP, VI 343 a; Cahier des Dritten Standes von Les Troux (Landwahlkreis Paris) vom 14.IV. 1789, Art. 16, in: AP, V 149 b; Cahier der Landgemeinde Grand et Petit Charonne (ebd.) vom 15.IV.1789, Art. 47, in: AP, IV 410 b; Cahier des Dritten Standes der Baronnie Boullainvilliers (ebd.), Tit. 1, Art. 37, in: ebd. 337 b. 79 ) Cahier des Adels der Stadt Paris vom 10. V. 1789, Instr. 2, in: CHASSIN, III 324.

8°) Cahier des Distrikts ,Église des Théatins', Art. 37, in: CHASSIN, II 437. Siehe auch: Cahier des Distrikts ,Les Mathurins', Art. 4, in: ebd. II 427; Cahier des Distrikts ,Saint-Louis-de-la Culture' vom 22.IV.1789, in: ebd. II 469f.; General-Cahier des Dritten Standes der Stadt Paris, Art. 40, in: ebd. III 364. 30

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stimmen. Er mag gering erscheinen im Vergleich zur wachsenden, allbeherrschenden Furcht der Pariser Bevölkerung vor einem aristokratischen Komplott' gegen die in Versailles tagende Nationalversammlung, vor einem Angriff der königlichen Truppen auf die Hauptstadt sowie angesichts der Tatsache, daß die Bastille erst am Ende mehrtägiger Volksunruhen - nach den Mautschranken, dem Kloster Saint-Lazare und dem Hôtel des Invalides - zum festen Ziel der aufständischen Menge wurde. Doch deuten mehrere Anzeichen daraufhin, daß dabei der radikale Bastille-Begriii unterschwellig gegenwärtig war und nur weniger Anstöße bedurfte, um zum Antrieb für die revolutionäre Massenaktion zu werden. Ohne daß die Bastille schon öffentlich genannt worden wäre, schrieb ein Abbé Lefevre, der in der Nacht vom 13. zum 14. Juli 1789 unter dem Zwang waffensuchender Bürger Schießpulver aus den Rathausbeständen austeilte, als Zweckbestimmung in das Ausgabebuch: „pour prendre la Bastille" 82 ). Diese Zielsetzung erhielt am Morgen des 14. Juli einen ersten konkreten Anlaß, als die in Alarmbereitschaft versetzten Bürger-Milizionäre bei der Plünderung des Gewehr-Depots im Hôtel des Invalides erfuhren, daß das zugehörige Schießpulver vor zwei Tagen in die Bastille geschafft worden war: „nous marchâmes par diverses routes, et sans nous être concertés, du côté de la Bastille, à travers les applaudissements d'un peuple immense", berichtet ein Teilnehmer 83 ). Als gleichzeitig Einwohner des Faubourg Saint-Antoine die Nachricht verbreiteten, die (tatsächlich nur für Böllerschüsse eingerichteten) Kanonen auf den Zinnen der Bastille seien drohend auf die Stadt gerichtet, schickte das revolutionäre Stadtkomitee eine Delegation zum Gouverneur der Bastille. Die kollektive Empörung über die Bastille steigerte sich weiter, als ein Brief, in dem der Stadtkomiteevorsitzende den Gouverneur zum Durchhalten ermutigte, von Wachposten der Aufständischen abgefangen und öffentlich im Rathaus verlesen wurde: La foule qui remplissait le Comité manifestait sa fureur contre le Gouverneur de la Bastille [ . . . ] , lorsqu'un vieillard s'écria: ,Mes amis, que faisons-nous avec ces traîtres? Marchons à la Bastille!'84) 81

) Bastille dévoilée, II (Sept. 1789), 5. ) BN, Ms., N. a. fr. 2670, fol. 47. 83 ) J . D U S A U L X : Discours prononcé dans l'Assemblée nationale, Paris, 6.11.1790,5. W ) 1 7 9 0 / 9 1 redigierter Augenzeugenbericht des Journalisten L . - G . P I T R A : La Journée du 14 Juillet 1789, ed. J. FLAMMERMONT, Paris 1 8 9 2 , 1 9 . 82

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Den letzten Anstoß gab mittags eine Salve der Bastille- Verteidiger auf Aufständische, die in den Vorhof der Festung eingedrungen waren; als hinterhältiger Verrat des Gouverneurs' mißdeutet 85 ), provozierte diese Kurzschlußhandlung Racheabsichten bei den Augenzeugen, mobilisierte - unterstützt durch das Vorzeigen von Opfern die auf dem Grève-Platz am Rathaus versammelte Volksmenge und trieb Kleinbürger wie den Wäschereiinhaber Hulin dazu, die Belagerung der Festung zu organisieren und königliche Gardisten zur Teilnahme mitzureißen: Êtes-vous citoyens, braves gardes françaises [ . . . ] ? Voyez-vous ces malheureux que l'on apporte [ . . . ] ? Entendez-vous le canon [ . . . ] avec lequel ce scélérat de Launey assassine nos pères, nos femmes, nos enfants qui sont sans armes autour de la Bastille? [ . . . ] on assassine les Parisiens comme des moutons, et vous ne marcherez pas à la Bastille!

Und Garden wie Bürger zogen los mit dem Ruf „La Bastille ou la mort!" 86 ) - während schon bei der Bastille eintreffende bewaffnete Trupps zu den Verteidigern hinaufschrien: „nous voulons la Bastille; en bas la troupe" 87 ). Entstehung und Entwicklung, Charakter und Träger dieser Straßenrufe zeigen, daß die Forderung des Sturms auf die Bastille - weitgehend unabhängig von gleichzeitigen Verhandlungen der Stadtregierung mit dem Gouverneur - spontan bei einfachen Bürgern aufkam und sich mit den politischen Ereignissen in einer sozialpsychischen Kettenreaktion verdichtete, wie der offizielle Sprecher der Pariser Wahlmänner selbst zusammenfaßte: „On s'étoit porté à la Bastille, mais seulement pour y avoir des armes et des munitions. Insensiblement on osa davantage. Le peuple, dont l'audace alloit toujours en croissant, vient bientôt nous demander la prise de cette forteresse" 88 ). Schon wenige Tage nach dem 14. Juli erschien der Bastille-

85

) FLAMMERMONT, S . C C I V - C C V I I I ; GODECHOT, 2 8 2 .

Abends berichtete Bancal des Issarts der Nationalversammlung: „Une partie du peuple, qui avait été témoin des malheurs arrivées à la Bastille, s'est portée à l'Hôtel-de-Ville, est entrée dans la salle du comité, et a demandé à grands cris le siège de la Bastille." (AP VIII, 2 3 3 b) - Siehe auch den Augenzeugenbericht von C . FOURNIER-L HÉRITIER: Mémoires, ed. A . A U L A R D , Paris 1 8 9 0 , 1 5 . 87 ) Bericht der Invaliden, in: Bastille dévoilée, II (Sept. 1789), 89. 88 ) J . D U S A U L X : De l'Insurrection parisienne et de la prise de la Bastille. Linguet- Dusaulx, Paris 1889, 211f. 86

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) PITRA [ 8 4 ] , 3 9 - 4 1 .

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stürm in der volkstümlichen Straßenmeinung als selbstverständliche, notwendige Heldentat der Bürger und Französischen Garden: Instruits de la nécessité de prendre la Bastille, ils courent en foule au lieu du combat [ . . . ] Le Gouverneur leur donne des paroles de paix et lorsqu'une centaine de citoyens sont entrés il [ . . . ] égorge ainsi de sang froid une foule d'honnetes gens. Cette abominable trahison [ . . . ] redouble le courage [ . . . ] et en moins de deux heures la Bastille est de nouveau attaquée, prise d'assaut [• • r ) .

b) „Mainte fillette gentile / Va danser sur le sommet"90) Tatsächlich brauchten die Belagerer zwar weder - wie zeitgenössische Berichte behaupten - eine Bresche zu schießen noch mußten sie die - militärisch unwichtig gewordene - Festung im Sturm erobern, weil diese vorzeitig kapitulierte. Gleichwohl waren ihr siegreiches Eindringen am 14. Juli gegen 16 Uhr, die Massakrierung des Gouverneurs - dieses „monstre de la Bastille"91) - , die Befreiung der letzten Bastille-Häftlinge und deren triumphales Geleit durch die Stadt hochbedeutsam. Nicht nur daß die Einnahme der Bastille vollends die Unzulänglichkeit der königlichen Truppen erwies und der Nationalversammlung Bewegungsfreiheit verschaffte; sie hatte auch und vor allem eine große psychologisch-symbolische Wirkung, indem sie den städtischen Grundschichten recht eigentlich das Bewußtsein ihrer Stärke gab und allgemein als das die Revolution schlechthin begründende Schlüsselereignis gedeutet wurde: Depuis l'époque mémorable de cette heureuse révolution, le nom de Bastille, ce nom, la honte de la France & du ministere, n'est plus répété maintenant qu'avec un sentiment d'horreur et de joie tout ensemble 92 ).

Vorübergehend vom tagesaktuellen Geschehen überdeckt, trat also der radikale Bastille-Begriîi wieder an die Oberfläche des sozialen Bewußtseins, sobald die Festung eingenommen war; denn erst auf 89

) Récit sur le siège de la Bastille, auf der folg. Abb. unten, zusammengesetzt aus Passagen der Flugschrift Les Lauriers du Fauxbourg Saint-Antoine, ou Le prix de la Bastille renversée, Paris, 20. VII. 1789, 4f. •w) Vers aus dem Lied Réjouissance après la Victoire (1790), gesungen nach der Weise ,Les Petits Savoyards', in: B A R B I E R / V E R N I L L A T , IV 58 f. 91 ) Aussage des Kochs, der D e Launay den Kopf abgeschnitten hatte, vom 15.VII.1789, ed. J. GUIFFREY, in: RH 1.1876, 505. 92 ) ,Introd.' zu Recueil fidèle de plusiers manuscrits trouvés à la Bastille, Paris 1789, 5 (Kursivierung im Original); s.a. Moniteur No. 22 (23.VII.1789), 1185 b. 33

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der Grundlage jenes vorrevolutionären Begriffs konnte der Bastillesturm zum allgemein anerkannten Freiheitsfanal werden. Der Fall der Bastille versetzte die Pariser weithin in einen volksfestartigen Freudentaumel. Eine Flut hastig gedruckter, oft von einfachen Bürgern verfaßter Flugschriften schilderte alle Einzelheiten der,Eroberung' und feierte den ,Sieg des Volkes' über das,Bollwerk des Despotismus' 93 ). D i e Wahlmänner von Paris hielten am 15. Juli in Notre-Dame einen Dankgottesdienst ab. In der Gemeindekirche von Saint-Jacques et des Saints Innocents wurde am 5. August zu Ehren der gefallenen Bastille-Kämpfer gepredigt: Un jour, une heure ont suffi pour détruire ce colosse de la Puissance arbitraire [ . . . ] - Elle [la Bastille] est prise. - Elle est à nous. - Ils entrent en foule, les Citoyens vainqueurs, dans les affreux cachots du Despotisme; ils arborent, sur ces tours sourcilleuses d'où dominoit la tyrannie, l'étendard de la liberté. Les Traîtres ne sont plus.94) Billige Gedenkmünzen mit der Umschrift „À la gloire de la Nation Française libre" 95 ) hielten die Beschießung der Bastille einprägsam fest. Auf der Straße wurden Blätter mit bildlichen Darstellungen des Bastillesturms verkauft und dazu nach bekannten Weisen neue, volkstümliche Texte gesungen: Ce Tombeau de Tant de Familles Qui Péricent dans les Cachots, Cette Infame est [!] forte Bastille N'etouffera plus nos Sanglots. Milice Bourgeoise C'est à vous qu'on doit ce bonheur Ainsi qu'a toi digne Garde Françoise Qui le premier fut le Vainqueur. 96 )

93

) Vgl. die Besprechungen der Bastille dévoilée im Moniteur No. 166 (15.VI.1790) V 626-628 u. No. 171 (20.VI.1790) IV 666f. - Ferner neben den obengen. Flugschriften das Gedicht La Prise de la Bastille ou le despotisme vaincu, Paris 1789; Le Parisien fêté, ou Tribut aux Parisiens sur la liberté qu'ils ont rendu à la France, Paris, 15. VIII. 1789; La Victoire des Parisiens, Paris 1789. 94 ) C. F A U C H E T : Discours sur la liberté françoise, Paris 1789, S. 2 u. 13. 95

) 96

HENNIN, N o s .

28-31.

) Chanson nouvelle sur la Prise de la Bastille, gesungen nach der Weise ,Vive Henry, vive Henry...', 2. Strophe des ersten Liedes auf vorstehend abgebildeter Gravur. Weitere Lieder u. a. bei B A R B I E R / V E R N I L L A T , IV 49 u. 55-63.

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Fig. 3: Kolorierte Radierung, gestochen und verlegt von Gautier, Paris, Juli 1789,172:322 m m (BN: Estampes, Coll. HENNIN, Nr. 10330). N ä h e r e s zu den

mannigfaltigen Bezügen der diesem populären Bildblatt beigegebenen Texte (unten Bericht über den Bastillesturm, seitlich Siegeslieder) bei LÜSEBRINK/ REICHARDT: Oralität und Textfiliation, S. 124-143.

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Ja die soziale Resonanz des Bastillesturms reichte bis zu den Kindern; als ein heimkehrender Pariser Bürger sich abends über die helle Erleuchtung seines Hauses wunderte, erklärte ihm seine etwa achtjährige Tochter, sie habe viele Kerzen angezündet, ,weil doch die Eroberung der Bastille und die Befreiung der armen Gefangenen gefeiert werden müsse' 97 ). c) „Tout ce que je desirons, c'est que [ . . . ] l'emplacement de la Bastille devienne la place de la liberté"98) Mehr noch als die Einnahme der Bastille lag deren Zerstörung in der Konsequenz des vorrevolutionären ßasftV/e-Begriffs. Die revolutionäre Pariser Stadtregierung beschloß denn auch sogleich die Schleifung, ließ diese Anordnung am 16. Juli auf den öffentlichen Plätzen anschlagen, mit Pauken und Trompeten ausrufen 99 ) und beauftragte den patriotischen Bauunternehmer Pierre-François Palloy, der sich bereits eigenmächtig ans Werk gemacht hatte, mit den Schleifungsarbeiten. Diese wurden von populären Gravuren im Bild festgehalten100) und von Schaulustigen aus allen Ständen besungen und bejubelt: Quatre cents hommes travaillent à la démolition de la bastille [ . . . ] Un peuple immense l'environne et contemple avec une douce complaisance les ruines de ces lourdes tours, où, depuis des siècles, l'innocence si souvent opprimée a gémi sous le despotisme de ministres cruels et barbares. Chaque bloc de pierre qui se précipite dans les fossées fait pousser des cris de joie 101 ).

Die Mehrheit der Nationalversammlung sah in der Zerstörung der Bastille einen Akt von so großer, überlokaler Bedeutung, daß sie die 97

)

98

)

") 10

°)

101

)

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A . - F . - P . de F A L L O U X (ed.): Madame Swetchine, sa vie et ses oeuvres, 1.1, Paris 1860,14. Les Trois Poissardes buvant à la santé du Tiers-État, [o. O., Sommer 1789], 19. Procès-verbal de séance et délibérations de l'assemblée générale des électeurs de Paris..., I-III, Paris 1790,. hier II 3 - 6 . z. B . Démolition de la Bastille, Paris 1789, abgeb. bei B O U R N O N , 207; Vue intérieure de la Démolition de la Bastille, Kupfer in: Rév. Paris, N o . l (12.-17.VII.1789), zu S. 20. Le Moine qui n'est pas bête, [Paris, Herbst 1789], 1. - Siehe auch Bastille dévoilée, II (Sept. 1789), 7; Remarques et anecdotes sur le Château de la Bastille, suivies d'un détail historique du Siège, de la prise et de la démolition de cette forteresse. Enrichies de deux Gravures analogues, Paris 1789, 94; D U S A U L X : Discours [83], 3f.; sowie das Lied von Mlle D I D I E R : La Gloire Immortelle, ou la Prise de la Bastille, Paris 1790, Str. 1 - 2 .

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zunächst von der Stadt Paris getragenen Schleifungskosten auf die Staatskasse übernahm gemäß der Begründung: „ce n'est pas un projet d'économie que l'on a exécuté; c'est une destruction politique; c'est un acte vraiment révolutionnaire; c'est un événement national et qui est la suite nécessaire de la sainte insurrection du 14 juillet."102) Die Bastille zu schleifen und an ihrer Stelle ein Freiheitsdenkmal zu errichten, das war seit 1783 immer mehr eine Vorstellung geworden. So verkündete die radikale Presse sogleich nach dem Schleifungsbeschluß: Enfin, cet affreux repaire où l'autorité ministerielle immoloit les victimes au despotisme, bientôt n'existera plus, à sa place va s'élever un monument à la liberté; les mêmes pierres qui tenoient emprisonné quelquefois le crime & plus souvent l'innocence, ne formeront bientôt qu'un temple auguste où l'on n'entendra que les hymnes à l'humanité103).

Die nun diskutierten - meist auf eine Säule hinauslaufenden Denkmalspläne, zu denen auch ein Preisausschreiben aufrief, waren politisch radikaler als jene der cahiers de doléances. Obgleich der Pariser Stadtrat, nachdem Ludwig XVI. durch seinen Besuch im Rathaus und die Anhörung eines Revolutionsliedes die Einnahme und Schleifung der Bastille praktisch anerkannt hatte, am 17. Juli einstimmig „die Errichtung eines Königsstandbilds auf dem Bastilleplatz" beschloß104) und obgleich manche älteren Pläne erneuert wurden105) und auch neue Vorschläge Ludwig XVI. als ,Freiheitsstifter' apostrophierten106), galt dieser nicht länger als möglicher Schirmherr einer Schleifung, seit die Bürger aus eigener Kraft gehandelt hatten. Ohne den König auch nur zu erwähnen, wollte einer der ersten neuen Pläne die Bastille-Ruine als Mahnmal stehen lassen und lediglich io2) Barère namens des Finanz- und Nationalgüterausschusses am 4.X. 1790 in der Nationalversammlung, in: AP, XIX 433 b; ebd. 434 b das entsprechende Dekret. "») Rév. Paris, No. 2 (18.-25.VII.1789), 9; s.a. ebd. No. 1 (12.17.VII.1789), 23; sowie La Bastille, Paris 1789,13. 104 ) CALLIÈRES: Chanson sur la prise des Invalides et de la Bastille, Paris 1 7 8 9 ; DUSAULX: Insurrection [ 8 8 ] , 2 4 3 . 105 ) Zu CORBET [74] am 18.111.1790 vgl. LACROIX/FAGE, 1. Sér., IV 448f. Leserbrief von DUMORIER, in : Moniteur No. 143 (23.V.1790), IV 436. 106 ) z. B . GATTEAUX: Projet d'un monument consacré à la Révolution [März 1790], angezeigt in: Courrier de Paris dans les Provinces, No. 16 (21.III.1790), 245; La Bastille au Diable, Paris 1790,57f. Zu Plänen von Mouillefarine und Cathala vgl. BOURNON, 230 f., sowie LACROIX/FAGE, 1. Sér., V236-238. 37

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mit einer Grabinschrift versehen: „Ci gît le Despotisme, qui fut tué en deux heures le 14 Juillet 1789" 107 ). Ein anderer Vorschlag zielte sogar auf das Standbild eines gespenstartigen Anti-Königs mit Eisenkrone und gebrochenen Lilien, zu dessen Füßen die von der liberté angeketteten Polizeileutnants Ströme von lettres de cachet spien 108 ). Das alles ging in den revolutionären Bastille-Begriil ein. 2. Bekräftigung des vorrevolutionären ,Bastille'-Begriffs in der ,Bastille'-Publizistik 1789/90 Über die aktuellen Ereignisberichte und Freudenkundgebungen zu Einnahme und Schleifung der Bastille hinaus hatte deren Fall eine Flut allgemeinerer Veröffentlichungen zur Folge, die in starkem Maße auf die vorrevolutionären Anti-ßa.sti7/e-Pamphlete zurückgriffen. Erschien doch der Fall der Bastille als notwendige Folge und gerechte Vollstreckung ihrer früheren Verurteilungen; und anhand von Einzelnen bei der Einnahme der Festung erbeuteter und Journalisten zugespielter Aktenstücke ließen sich bisherige Verdächtigungen nun regelrecht dokumentieren'. So führte schon im Frühherbst 1789 eine kommentierte Zusammenstellung von über dreihundert embastillements seit dem 15. Jh. den ,Beweis': „à mesure que le despotisme fit des progrès en France, le nombre des prisonniers de la Bastille augmenta" - was von der liberalen Presse auch entsprechend gewertet wurde: „Le but de l'Auteur a été de constater l'authenticité de tous les faits relatifs à la Bastille." „Que d'infortunés ces murs ont vu gémir dans leur sein! Siecles barbares de Louis XIII, de Louis XIV & de Louis XV, c'est pendant votre impitoyable durée qu'on pouvoit les compter par milliers [ . . . ] de cadavres vivans, de victimes immolées à l'intolérance religieuse, à l'ignorance, à l'orgueil, à la vengeance" 109 ). Eine Art Zeitschrift, deren Redaktion sich bei den ungeduldigen Abonnenten entschuldigte, daß die Lieferungen nicht noch 107

) Idées d'un citoyen au sujet de la Bastille, à l'occasion d'un concours affiché au Palais Royal, o. O. 1789, 3; ähnlich ein Brief Barères an Bürgermeister Bailly vom 29.IV.1790, in: LACROIX/FAGE, 1. Sér., V220f. 108 ) Le Nouveau Tableau de Paris, o. O. 1790, 7 - 1 2 . 109) VGL Nacheinander [J.-L. C A R R A : ] Mémoires historiques et authentiques sur la Bastille, I—III, Londres/Paris 1789, hier 112; Rezensionen in: Annales politiques et littéraires, No. 12 (14.X.1789) Suppl. S. 1; sowie i m / . encyclopéd. 1789, VIII/3 (1.XI.1789), 455; s.a. Anzeigen u. Rezensionen im Moniteur, No. 187 (6.VII.1790), V 46, sowie No. 248 (5.XI.1790), V 564.

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schneller erschienen, widmete sich ausschließlich der Aufgabe, aus Akten (welche im Lycée öffentlich ausgelegt wurden), aus Zeugenbefragungen, Funden bei den Schleifungsarbeiten und Flugschriften alles entlarvende Belastungsmaterial über die Bastille zu sammeln: „On y trouvera un recueil de preuves & d'exemples, des atrocités auxquelles s'est incessament porté le despotisme ministériel" 110 ). Für die Öffentlichkeit belegte dieses „répertoire d'assassinats" unumstößlich, daß die in der Bastille verübten ,Greuel' von 1774 bis 1789 ständig zugenommen hatten 111 ). Die revolutionäre Tagespresse selbst verbreitete immer neue Schreckensnachrichten über den alten Bastille-,Despotismus', besonders konsequent Prudhommes Révolutions de Paris, die den ersten Band mit einem Kupfer über den Bastillesturm sowie einem ¿tosft7/e-Emblem auf dem Titelblatt eröffneten und bis Januar 1790 regelmäßig für ihre Rubrik ,Suite des papiers de la Bastille' warben 112 ). Diese auflagenstarke, vielfach von einander abschreibende Bas/;7/e-Literatur von 1789/90 zeugt nicht nur von einem ebenso lebhaften und breiten wie profitträchtigen sozialen Interesse an allem, was die Bastille betraf; sie diente zugleich der Bestätigung und Festigung des vorrevolutionären Bastille-Mythos und damit der Rechtfertigung und Glorifizierung des Bastillesturms, ja der Revolution überhaupt. Zum einen wurden hier alte, ins soziale Wissen eingeschliffene Anklagepunkte erneuert: u. a. die Willkür der lettres de cachet-, die Räuberischen Durchsuchungen' der Häftlinge bei der Einlieferung; die Umgehung der ordentlichen Justiz; die Mißstände bei Zellenausu0

) La Bastille dévoilée, ou Recueil des pièces authentiques pour servir à son histoire, livr. I-IX, Paris, August 1789 - Sommer 1790, hier 15; s. a. IV 1. Gegen die in Bibliographien ohne Beleg vermutete Verfasserschaft von Charpentier oder Manuel spricht die Selbstbezeichnung der Redaktion als „comité de gens de lettres & de citoyens zélés" (ebd., I 8) Die Schrift erschien in mehreren, teilweise unterschiedlich paginierten Ausgaben. I») Moniteur No. 166 (15.VI. 1790), IV 627. Siehe auch ebd. No. 102 112

( 2 . X I I . 1 7 8 9 ) , II 285; N o . 8 0 ( 2 1 . 1 1 1 . 1 7 9 0 ) , I I I 6 5 6 ; N o . 171 ( 2 0 . V I . 1 7 9 0 ) , I V 666F.; s o w i e die B e s p r e c h u n g in GRIMM, X V 4 9 4 - 4 9 6 ( V I I I . 1 7 8 9 ) .

) Sogleich nachgedruckt in einem ganzen Band der Remarques historiques sur la Bastille. Sa démolition, & Révolutions de Paris... Avec un grand nombre d'anecdotes intéressantes & peu connues, II, Londres 1789,137 S. Der Moniteur brachte nach einer Artikelserie zum Bastillesturm eine „ N o t i c e historique sur la Bastille" ( N o . 2 3 - 2 4 , 2 4 . - 2 5 . V I I . 1 7 8 9 , 1 1 9 5 197 u. 2 0 1 - 2 2 5 .

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Bastille

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stattung, Verpflegung und ärztlicher Versorgung; die vom ,Verrat' Launays und dessen angeblichem Testament 113 ) bestätigte Verderbtheit der Bastille-Gouverneure; die Leiden der Bastille-Opfer - zumal der philosophes von Voltaire bis Linguet 114 ) - , wobei der geheimnisvolle ,Mann mit der eisernen Maske' 115 ) und der zum Volkshelden gewordene, vom Jakobinerclub als Ehrenmitglied aufgenommene ,LATUDE'116) solche Neugier und Begeisterung weckten, daß sie Thema von eigenen Flugschriften, Theateraufführungen, populären Gravuren und sogar (im Fall Latude) einer öffentlichen Ausstellung im Salon de peinture von 1789 wurden. Zum anderen kamen mit dem Fall der Bastille neue, noch schärfere Anklagen hinzu: ehemalige Bastille-Häftlinge, die bisher geschwiegen hatten, veröffentlichten ihre Leidensgeschichten und meldeten ihre Entschädigungsansprüche an 117 ), am publikumswirksamsten der ehemalige Kirchensekre113

) Testament de Charles de Launay, Gouverneur de la Bastille, trouvé à la Bastille, le jour de l'assaut, o. O. [Sommer 1789]; Copie de quelques pièces intéressantes trouvées à la Bastille, où l'on voit la manière dont M. Delaunay se défaisait des mauvais sujets, Paris 1789. 114 ) Siehe auch das Gedicht Récit des malheurs, peines et souffrances, qu'éprouvoient les prissoniers enfermés à la Bastille. Par l'un d'eux détenu pendant 50 ans dans cette prison, Paris 9 septembre 1789, 8 S. ; sowie Histoire des plus célèbres prisonniers de la Bastille..., Paris 1790. 115 ) Rév. Paris No. 13 (2.-9.X.1789), 36f.; C A R R A : Mémoires historiques [109], 1315-324; Bast, dévoilée, die ganze Lieferung IX, 1790; Recueil fidèle de plusiers manuscrits trouvés à la Bastille, dont un concerne spécialement l'Homme au masque de fer, Paris 1789; L'Homme au masque de fer dévoilé, d'après une note trouvée dans les papiers de la Bastille, Paris 1789; bildliche Darstellung in dem kolorierten Aquatinta L'Homme au masque de fer, um 1790 (Carnavalet, PC. Hist. 6 a); Theaterstück von LEGRAND: Louis et le Masque de fer, ou Les princes jumeaux. Tragédie en 5 actes, en vers, Paris 1791, Erstaufführung am 24.IX. 1791 am Pariser ,Théâtre de Molière'. 116 ) Vgl. u. a. Rév. Paris No. 14 (10.-16.IX.1789), 36-39; [H. D A N R Y : ] Le despotisme dévoilé, ou Mémoires de Henri Masers de Latude, détenu pendant trente-cinq ans dans les divers prisons d'Etat, réd. sur les pièces originales par M. Thiéry..., Paris 1790, bis 1792 an die 20 Auflagen; auszugsweiser Vorabdruck bei C A R R A : Mémoires historiques [109], II 282-321. Mehr zur sozialen Rezeption der Latude-Memoiren bei LÜSEBRINK/ REICHARDT: Oralität und Textfiliation, S. 112-124. 117 ) Épître d'un prisonnier délivré de la Bastille, Paris 1791; R.-A. DE PELLISSERY: Lettres de M. de Pellissery, prisonnier onze ans et deux mois à la Bastille et treize mois à Charenton, Paris 1791 (2 weitere Auflagen); zu letzterem s. a. Bast, devoilée, III 18-30 u. V 5-17. - Zusammenhänge solcher Häftlingsberichte mit dem Schauerroman skizziert H.-J. LÜSEBRINK: La Bastille, château gothique, in: Europe 62,1984,104-112. 40

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Bastille

tär LE PRÉVÔT DE BEAUMONT; w a r e r d o c h 1 7 6 8 z u n ä c h s t in d e r B a s t i l l e

eingekerkert und erst im Oktober 1789 aus dem Bicêtre-Gefângnis freigelassen worden, weil er sich für das ureigenste Interesse des .Volkes': das tägliche Brot, eingesetzt und das ,Hungerkomplott' (pacte de famine) der absolutistischen Verwaltung, einen regelrechten „Nationicide", aufgedeckt hatte: victime déplorable du plus violent despotisme, dépouillé par l'autorité de fausses lettres de cachet, de mon état, de ma fortune, de mon honneur, de ma liberté, sans accusation ni jugement préalables, incarcéré, recélé, volé, calomnié, outragé, [...] comme le plus criminel enchâiné aux pieds et aux mains dans les cachots, [...] je suis peut-être aujourd'hui la seule des grandes victimes d'état ressuscitée d'entre les malheureux qui ont été accablés par le pouvoir arbitraire118). Mehr noch: Da bei der Einnahme der Bastille lediglich sieben Gefangene aus den Turmzimmern befreit worden waren - eine geringe Zahl, die ein populärer Journalist wie Beffroy de Reigny kaum glauben konnte 119 ) - und da diese alle entweder wirklicher Vergehen schuldig oder geistesgestört waren und sich kaum als ,Märtyrer des Despotismus' vorzeigen ließen, erfand die kollektive Vorstellung die Phantasiegestalt des ,comte de Lorges', eines angeblich 1757 wegen seiner republikanischen Gesinnung eingekerkerten Edelmanns, der die vainqueurs de la Bastille am 14. Juli als Befreier begrüßt und ihnen würdevoll seine Leiden erzählt habe: „Nous n'avons pas vu, mais 118

) J . - C . - G . LEPRÉVÔT DE BEAUMONT: Dénonciation

et pétition...

aux

repré-

sentons de l'Assemblée de la seconde législature, Paris, premier novembre 1791, 6f. -Siehe auch ders.: Dénonciation d'un pacte de famine générale au roi Louis XV, ouvrage manuscrit trouvé à la Bastille, le 16 juillet dernier, très-relatif au temps présent, [Paris, Ende 1789], zugl. veröff. in CARRA: Mémoires

historiques

[109], 3 5 8 - 3 9 1 ( e b d . S. 2 3 3 - 4 5 ü b e r L e p r é v ô t

de Beaumont, sowie S. 193-202 über einen Parallelfall: Vauxvilliers); ders. : Dénonciation et pétition à l'assemblée nationale, in Ami du Peuple, N o . 416 ( 1 . I V . 1791), 1 4 3 - 1 4 8 ; d e r s . : H o r r i b l e c o n s p i r a t i o n liguée an-

ciennement entre le ministre, la police et le parlement de Paris, contre la France entière... (Fortsetzungsbericht), in Rév. Paris Nos. 31-40 ( 6 . I I . - 1 7 . V I . 1 7 9 0 ) , N o s . 4 4 - 4 7 ( 8 . V . - 5 . V I . 1 7 9 0 ) u n d N o . 52 ( 3 . -

10. VII. 1790); ders.: Le Prisonnier d'Etat.. ..Paris 1791. - Erst nach zwei Berichten des ,Comité des lettres de cachet' gewährte das Parlament Leprévôt 1792 eine Pension. Zu den sozialen Ängsten um den pacte de famine siehe die Artikel , Accapareur/Monopole' und Subsistances' im vorliegenden Handbuch. U9 ) L.-A. BEFFROY DE REIGNY: Histoire de France pendant trois mois, Paris 1789, 84; s. a. Rév. Paris N o . 2 ( 1 8 . - 2 5 . V I I . 1 7 8 9 ) , 8 - 1 3 ; sowie Bast,

voilée, II 79f.

dé-

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Bastille

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plusieurs personnes nous ont assuré avoir vu un vieillard sorti de ce séjour d'horreur, qui portoit une énorme barbe grise de la longueur plus d'un pied; si l'on en croit les rapports il gémissoit dans les cachots depuis trente ans" 120 ). Diese Idealgestalt war so populär, daß sie zum Gegenstand von Bildblättern wurde und daß das Wachsfigurengeschäft von Curtius den ,comte de Lorges' leibhaftig ausstellte - „représenté d'après nature, chargé de chaînes & dans une espèce de cachot" 121 ). Der Anklagepunkt jedoch, der nun am sinnfälligsten ,erhärtet' wurde und sich am engsten mit dem Bastille-Begritt verband, war die Vorstellung der unterirdischen Verliese und der Folter. Während hinsichtlich der mit grauenhaften Zerstückelungsmaschinen ausgestatteten angeblichen oubliettes die (zutreffende) Ansicht überwog: „le respect dû à la vérité nous oblige de dire que ces infernales machines n'existaient plus à la Bastille, ou du moins qu'on n'en a trouvé aucun vestige" 122 ) - , wurde die Bastille, wie seriell-statistische Wortfelduntersuchungen bestätigen (Fig. 4), als Symbol des ,Despotismus' vollends mit dem Cachot-Begriff gleichgesetzt. Mochten die ehemaligen Gefängniswärter der Bastille vor einer Untersuchungskommission ausgesagt haben, daß die cachots seit mindestens 15 Jahren nicht mehr für Häftlinge benutzt worden seien 123 ), mochte der Abbé Barruel richtigstellen, daß der angeblich noch immer in einem cachot schmachtende Mönch Dumazel nie in der Bastille eingesessen hatte und schon 1765 in seinem Kloster regulär bestattet worden war124) - was sich fest und auf Dauer in das kollektive Bewußtsein

12

°) La Bastille, Paris 1789, 6f. Anm. 3. Siehe auch Remarques et anecdotes. .. [101], 81 f.; Le comte de Lorges à la Bastille, o. O., Sept. 1789, unter anderem Titel abgedr. in CARRA: Mémoires historiques [109], III 3 5 8 391. Z u d e m ganzen P r o b l e m vgl. LEMOINF., 1 2 9 - 1 3 6 ; sowie LÜSEBRINK/

121

)

122

)

123

) )

124

42

REICHARDT: La „Bastille" dans l'imaginaire social, S. 216-223. Bast, dévoilée, IV 132, wo das als „roman" kritisiert wird. Siehe auch eine volkstümliche Gravur: Delivrance de Mr. le Comte de Lorges par la Nation, ce 14 Juillet 1789, o. O. [1789], abgeb. in J. MISTLER/F. BLAUDEZ/ A. JACQUEMIN: Épinal et l'imagerie populaire, Paris 1961, vor S. 57. Moniteur No. 24 (25.VII.1789), I 201 a. Siehe auch Bast, dévoilée, II 23f. ; die Gegenmeinung in: Les Oubliettes retrouvées dans les souterrains de la Bastille, Paris [1789]. Procès-verbal[99], II 179f. (zum 19.111.1789). Leserbrief in: Rév. Paris No. 8 (29. VIII.^i.IX. 1789) 33f.; vgl. dazu den ,Bericht' ebd., No. 7 (22.-28.VIII.89), 36f.

Bastille

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einprägte, war die ,Meldung': „on ouvre le cachots; on rend à la liberté des hommes innocens, des vieillards étonnés de revoir la lumière [...] on a découvert, dit-on, des machines de mort inconnues à l'homme"125). Oder wie ein Bastille-Sieger, der am 14. Juli noch verschlossene cachots aufbrechen ließ, berichtet: Personne n'habitait plus ces sombres et infernaux séjours; mais des chaînes, et autres instruments de supplice qui s'offrirent à notre vue, nous apprirent que c'était là où les malheureux que l'on voulait conduire à la mort par de longues souffrances expiaient126).

Daß dies in der Bastille bis zuletzt geläufige Praxis gewesen sei, schien eine ganze Reihe von Funden zu beweisen: Ketten und Schleifkugeln, ein Eisenkorsett, die als ,unbekanntes Marterwerkzeug' gedeutete Handpresse des 1786 inhaftierten Druckers Lenormand127), ferner Mauerinschriften verzweifelter Gefangener128), schließlich und vor allem zwei bei den Abbrucharbeiten unter dem alten Bauschutt gefundene menschliche Gerippe, welche die Bauarbeiter sogleich dem zuständigen Stadtdistrikt meldeten und in einem cachot zur Besichtigung ausstellten: „Aussi les voilà prouvés ces bruits populaires, que la Bastille avait des oubliettes; ainsi la voilà justifiée, cette horreur générale qu'inspirait à tous les hommes libres [...] ce terrible château."129) Obwohl ein Untersuchungsausschuß der Académie des Sciences zu dem Ergebnis kam, daß jene Gerippe älter als 100 Jahre seien, in keinem cachot gelegen hätten, keine Spuren von Foltern und Ketten zeigten und wahrscheinlich von verunglückten Bauarbeitern stammten130), wurden sie in halbamtlichen Dokumentationen, vom Vorsitzenden der Pariser Commune wie auf populären Bildblättern als Beweis der ,Bastille-Barbarei' gewer-

1») Ebd. No. 1 (12.-17.VII.1789), 18. 126

)

FOURNIER-LHÉRITIER [ 8 6 ] , 2 0 .

>27) Moniteur No. 23 (24.VII.1789), I 194 b; Rév. Paris No. 5 ( 9 . 15.VIII.1789), 33; D U S A U L X : Insurrection [88], 235d.; dazu B O R D : Prisonniers, 95. 128 ) Rév. Paris No. 4 (2.-8.VIII.1789), 31-36, u. No. 10 (12.-18.IX.1789), 31-33; Bast. dévoilée, VII (Mai 1790), 151f. ; MAUCLERC: Le Langage des murs, ou Les cachots de la Bastille dévoilant leurs secrets, Paris 1789, abgedr. in Remarques historiques sur la Bastille [112], II131-137. 129 ) Moniteur No. 112 (22.IV.1790), IV 176 a. 15°) Ebd. No. 123 (30.IV.1790), IV267f. 43

Bastille

38 1789

1774

artifice, assauts, barbaries. cruautés, cruel, délation, espionnage, exils, exterminer, faire périr, horrible, intrigue. lettres de cachet, misères, piège, redoutable. supplice, terreur, vexations, victimes arbitraire, espionnage, fers, odieux, proscription. ruse violences despotique, piège inquisition, tyrannie

séjour d'horreur et de larmes

prison

secret cachots 11 grille(s) 20

château Paradigmen Ursachen

Syntagmen

BASTILLE

Quelle: Remarques

abrutissement, barbare. caprices, crainte, délation, despote, détestable. dure, esclavage, fers, injuste, joug, oppresseur, opprimer, servitude, vengeance servitude, vengeance

esclavage monument(s): -consacré au despotisme, -exécrables, -odieux prison (lrhonible p.) forteresse (l:affreuse)

arbitraire

Paradigmen 5 3 2 1

esclaves, odieux, oppression

9 11 despotisme

Antonyme

Gouverneur Louis X I ministres Richelieu. Louis X I V Louis XIII. la volonté arbitraire du prince

citadelle, colosse effroyable du despotisme. séjour de grands forfaits & de l'ombrageux ostracisme, labyrinthe impénétrable d'un farouche pouvoir, dépôt infâme d'instrumens nouveaux de tortures et de mort, théâtre récent de la plus exécrable trahison château, tombeau(x) de la justice et de l'humanité

Syntagmen

BASTILLE

Ursachen

Antonyme

loix liberté

[35], 1774, 50 S.

Gouverneur

autorité illémitée. corruption des coure. Louis X I V . ministère. Richelieu Quelle: Remarques S. 5 5 - 1 1 0

13 7 5 3 2

liberté patriotisme loix humanité

[101], 1789, Avertissement u.

Fig. 4: Wandel des semantischen Feldes von Bastille im Vergleich zweier Texte (Wortfelder) Dies Schaubild zum Wortfeld Bastille greift aus einer Reihe von BastillePamphleten, die ebenso ausgewertet wurden, zwei korrespondierende Texte heraus. Zur näheren methodischen Erklärung und inhaltlichen Aufschlüsselung vgl. REICHARDT: Zur Geschichte politisch-sozialer Begriffe [72a], S. 5770.

44

39

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tet 131 ) und vom Distrikt Saint-Louis de la Culture stellvertretend für alle Bastille-Opfer auf dem Friedhof von Saint-Paul feierlich beigesetzt132). Die Vorstellung von ,Folterungen in den Verliesen der Bastille' drang so ins breite Bewußtsein, ja ins Unterbewußtsein ein, daß Touristen gegen Bezahlung eine Nacht in einem cachot verbrachten 133 ) und daß Besucher der Bastille mehrfach unterirdische menschliche Schreie zu hören meinten 134 ). Derart erhärtet, wurde der Bastille-Mythos, soweit er negativ rückwärtsgewandt war, in der revolutionären Presse zum Sammelbegriff für alle Mißstände des Ancien Régime 135 ), ging in Lieder und Theaterstücke ein136) und wurde zum Memorierstoff sansculottischer Anti-Katechismen: „Qu'est-ce que c'était la Bastille? R[éponse:] Une prison affreuse, où le tyran faisait enterrer vifs ceux qui osoient élever la voix contre la tyrannie." 137 ) 3. Revolutionäre ,Bastille'-Symbolik in der Provinz 1789-99 Dieser Popularisierung des Bastille-Begnifs in Paris entsprach seine Verbreitung in der Provinz. Mindestens einhundert Gemeinderäte aus dem ganzen Land schickten auf die Nachricht vom Bastillesturm Glückwunschadressen an die Pariser Stadtregierung und Bürgermiliz: „Généreux Citoyens, [ . . . ] Votre conduite sage, ferme et 131

) Particularités sur la découverte de plusieurs cadavres trouvés dans les souterrains de la Bastille, [Paris 1790]; Recueil de pièces intéressantes. Délibérations et différentes pièces relatives aux cadavres trouvés dans la Bastille, Paris 1790; Extrait des registres du Comité de Saint-Louis de la Culture, du 8 mai 1790, Paris 1790; Ansprache des Abbé Fauchet vor einer Abordnung des Distrikts Saint-Louis de la Culture am 8. V.1790, in: LACROIX/FAGE, 1. Sér., V 361f. koloriertes Aquatinta: On a trouvé dans ce terrible séjour sur l'escalier a un squelette, [Paris 1790], 132 ) Chronique de Paris No. 159 (8. VI. 1790), 635. 133 ) Ann. patriotiques No. 159 (3.VI.1791), 1498. 134 ) D U S A U L X : Insurrection [88], 235f. (zum 15.VII.1789); Rév. Paris No. 55 (24.-31.VII.1790), 137; LEMOINE: Palloy, 28f.; ders.: Hommes, 137. 135 ) z. B. Rév. Paris No. 124 (19.-26.IX.1791), 343; Père Duchesne No. 146 (Juni 1792), 4, sowie N o . 188 (Anfang XI. 1792), 4. 13é ) z. B. P.-M. PAREIN: La Prise de la Bastille. Fait historique en trois actes . . . , Paris 1791, 61; T. ROUSSEAU: La Prise de la Bastille, ou Paris sauvée ... Chant national, musique de M.P. Ligny [1791/92], in: Collection de Pièces importantes relatives à la Révolution française, Paris 1821, 31. 137 ) Alphabet des sans-culottes, Paris 1793/94,9; s. a. Journées mémorables de la Révolution française, par demandes et par réponses à l'usage de la jeunesse républicaine, Paris 1794/95, 41f. u. 49. 45

Bastille

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héroïque vient d'opérer la Révolution heureuse [ . . . ] Le despotisme est donc enseveli sous les tours effrayantes de la Bastille. La Liberté des François est assurée" 138 ). Im Herbst 1789 machten Gaukler und Wanderbühnen gute Geschäfte, indem sie in der Provinz auf städtischen Marktplätzen den Bastillesturm darstellten oder auch nur die Bastille (offenbar im Guckkasten) „zeigten" 139 ). Schon früh wurde der Fall der Bastille sogar in einer Predigt beschworen: Ne fut-ce pas en effet, Messieurs, le comble du bonheur, que ces incomparables citoyens [ . . . ] aient eu le temps de faire le siège de cette citadelle, où la mort aiguisant impitoyablement le glaive de la douleur, punissant la plus légère offense par le carnage, égorgeait aujourd'hui un victime, et en marquait une autre pour le lendemain [ . . . ] O jour à jamais mémorable, où le despotisme le plus flétrissant [ . . . ] fut confondu! 140 )

Jakobinerclubs im Südwesten forderten die Nationalversammlung auf, dem Vierzehnten Juli auf dem Bastilleplatz ein Denkmal setzen zu lassen141). Auch gab der Bastillesturm den Anstoß zu Aufstandsbewegungen in der Provinz: „A l'exemple de la capitale, presque toutes les villes se sont emparées de leurs forteresses. Il n'y a point de cité qui n'ait voulu porter les armes, & faire un siège; [ . . . ] il sembloit que chaque ville ou bourg regrettoit de n'avoir pas une tête à trancher ou une bastille à prendre" 142 ). Zwar dürfte diese Deutung der Pariser Presse zu sehr verallgemeinern; denn die Munizipalrevolution des Sommers 1789 verlief oft gemäßigt, ohne sich lokaler Festungen oder Staatsgefängnisse zu bemächtigen; und daß die Bauern während der Grande Peur die Schlösser ihrer Grundherren als lokale Bastilles in Brand gesteckt hätten, ist bislang nicht belegt 143 ). Aber einzelne Bei138

) Adresse der Kleinstadt Anduze (Dep.Gard) vom 23.VII.1789, in: Procès-verbal [99], III 229. Bei anderen ebd. veröffentlichten Adressen wird die „Bastille" allerdings nicht so ausdrücklich genannt. 139 ) Zit. nach M . O Z O U F : Le simulacre de la fête révolutionnaire, in: Les Fêtes de la Révolution, ed. J . E H R A R D / P . VIALLANEIX, Paris 1977, 341f. 140 ) Gehalten Anfang 1790 in Angoulême, danach gedruckt u.d.T.: Le Triomphe des braves Parisiens sur les ennemis du bien public (1790/91), in Roux: Scripta, N° 2, S. l l f . 141 ) Adresse der ,Amis de la Constitution' von Poitiers und Livourne, am 15.XI.1791 im Parlament verlesen, in: AP, XXXV, 350 a. i«) Rév. Paris, N° 6 (16.-22. VII. 1789), 43. 143 ) F. LEFEBVRE: La Grande Peur, Paris 1932, 65, 95, 98, 103f., 148; D. LiGOU: Apropos de la révolution municipale, in: RHES38.1960,146-177; L.A. HUNT: Committees and Communes. Local Politics and National Revolution in 1789, in: CSSH 18. 1976, 321-346.

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41

Bastille

spiele zeigen, daß die Nachricht vom Bastillesturm auch unmittelbar zum Volksaufstand gegen die alte Stadtoligarchie (Montauban), zur gewaltsamen Befreiung von Gefangenen (Pamiers, Departement Ariège) oder zur Kapitulation der Stadtfestung (Bordeaux) führen konnte; das im August den Aufständischen in Lyon übergebene Staatsgefängnis Pierre-Scise wurde auf aktuellen flugblattartigen Kupferstichen ausdrücklich „Bastille lyonnaise" genannt 144 ). Eindeutig handelten auch Marseiller Arbeiter und Bauern der Umgebung, als sie im Mai 1970 mit Spitzhacken und Brecheisen die Hafenfestung Saint-Nicolas zu schleifen begannen, die Ludwig XIV. nach einer Reihe von Aufständen hatte errichten lassen, und gegenüber der einschreitenden Nationalgarde wenigstens die Zerstörung der gegen die Stadt gerichteten Zinnen forderten 1 4 5 ). Auch anderswo wirkte die Kunde von der Pariser Bastille als Aufruf zur Beseitigung oder Reformierung örtlicher Zitadellen und Gefängnisse: Un Français, dont les oreilles ont été mille fois frappées des horreurs de la bastille, [ . . . ] est allé à Provins [Kleinstadt östlich von Paris]. Son étonnement a redoublé d'y voir encore une espèce de bastille: La France étoit donc chargée de ces édifices élevés par la vengeance! [ . . . ] Nous invitons toutes les villes du royaume à surveiller ces repaires abominables 146 ).

Darüber hinaus wurde die Bastille selber in der Provinz regelrecht zum sinnfälligen „ex-voto de la liberté" 147 ) nicht nur in Gestalt von Steinen ihrer Verliese und Türme, wie Touristen sie mitnahmen oder der vainqueur de la Bastille Bonnemère sie mit Inschrift und Abbildung seiner Heimatstadt Saumur verehrte 1 4 8 ), sondern auch und vor allem in Form tragbarer Nachbildungen. Denn in Konkurrenz mit dem Pariser Geschäftsmann Pommay, der kleine Gips-Bastillen für 144)

Vgl. nacheinander D . LIGOU: Montauban à la fin de l'Ancien Régime et aux débuts de la Révolution, Paris 1958,206; ders. : Révolution municipale [143], 164; M. LHÉRITIER: Les débuts de la Révolution à Bordeaux, Paris 1919,78. - Zu Lyon vgl. H E N N I N , S. 369; M. W A H L : Les premières années de la Révolution à Lyon, Paris 1894, 2 3 1 - 3 3 .

145

) Rév. Paris N° 44 (8.-15.V. 1790), 301-303; AP, X V 7 0 5 - 7 0 7 (28.V.1790); Protest gegen das Schleifungsverbot der Nationalversammlung, in: Ami du Peuple, N° 118 (30.V.1790), 7f.; P. GAFFAREL: La prise des bastilles marseillaises, in: RF 72. 1919, 314-325. 14«) Rév. Paris N° 55 (24.-31.VII. 1790), 137. 147 ) Brief Palloys an den Verwaltungsrat des Departements Puy-de-Dôme vom 5.XI.1790, zit. JALOUSTRE [150], 288. 148 ) Beschlüsse, Rede und Inschrift vom Juni 1790 in: LACROIX/FARGE, L.Sér., VI 29, 9 2 , 1 1 7 - 1 1 9 .

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den hohen Preis von 48 Livres anbot 149 ), kam P A L L O Y auf die noch wirkungsvollere Idee, aus den Steinquadern der von ihm geschleiften Bastille selbst originalgetreue Nachbildungen zu meißeln, kostenlos allen Departements zu überlassen, und zwar mit Beigaben wie den Memoiren von ,Latude', der Schilderung des 14. Juli von Dusaulx (s. o. Anm. 88 u. 116) und der Abbildung eines Denkmals für die Gebeine der Bastille-Opfer, - die insgesamt alle Elemente der BastilleIdeologie von 1789/90 enthielten: Il ne m'a point suffi d'avoir aidé à renverser les murs de cette forteresse, il fallait en perpétuer l'horreur de son souvenir. D'une Bastille j'en ai fait 83 dont j'ai fait hommage à chacun des départements, afin que ses ruines s'étendent, pour ainsi dire, sur toute la France et rappellent à jamais aux citoyens vertueux l'atrocité de nos despotes. 150 )

So reisten im Winter 1790/91 Palloys Beauftragte als Apôtres de la liberté von einer Departementshauptstadt zur andern, um vor versammelten Wahlbeamten, Nationalgardisten und Honoratioren den Fall der Bastille in Ansprachen zu würdigen und jene , Reliquien' der Revolution feierlich zu übergeben wiez. B. am 13. November 1790 in Dijon: Le jour où la Bastille a été conquise, les François ont commencé d'être libres. [ . . . ] En tous lieux la Bastille menaçoit l'homme éloquent et sensible: il sembloit qu'elle ne fût point renfermée dans l'enceinte de Paris; ses chaînes s'étendoient jusqu'aux extrémités des provinces, prêtes à accabler celui qui osoit parler le langage de la philosophie et de la raison [ . . . ] Enfin la Bastille n'est plus [ . . . ] Mais nous avons sous les yeux l'image de tous les maux de l'ancien régime [ . . . ] A la vue du modèle de la Bastille, [ . . . ] nos neveux [ . . . ] croiront voir les sombres cachots; le bruit des chaînes frappera leur oreille; les longs gémissemens des victimes retentiront dans leur ame: une salutaire horreur repoussera par-tout les tyrans. [ . . . ] Ah! que ceux qui regretteront l'ancien gouvernement, viennent méditer auprès de ces restes de la Bastille.

Und um auch der breiten Bevölkerung dieses Symbol der Unterdrückung und der Freiheit einzuprägen, wurde die Nachbildung jeweils in einer festlichen „procession civique" (so ein Protokoll) durch die Hauptstraßen der Stadt getragen und schließlich öffentlich ausgestellt 151 ). 149

) Anzeige im Journal de Versailles, des départemens de Paris, de Seine et de Oise, N° 42 (12.VII.1790), 172. 150 ) Formularschreiben Palloys an die Departements vom Herbst 1790, zit. nach C. JALOUSTRE: U n e pierre mémorable, souvenir de la Bastille (Clermont), in: R Auvergne 14. 1897, 224f.; s. a. LECOCQ, 137. 151 ) Ansprache des Departementsratsvorsitzenden Navier mit dem Proto-

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Im Winter 1791/92 erweiterte Palloy, der wichtigste Propagator des Bastille-My\ho§, seine Bildmission auf die sehr viel breitere Ebene der Distriktstädte; von den cachots des ehemaligen Staatsgefängnisses stammende Steine, in welche der Text der Menschenrechtserklärung eingraviert und ein kolorierter Kupferstich über die Bastille eingelassen war, wurden vielerorts von patriotischen Rednern in Empfang genommen, in feierlichem Umzug dem Volke gezeigt und nicht selten vom konstitutionellen Pfarrer in der Kirche geweiht 152 ). In den folgenden Jahren setzte Palloy die Versendung von BastilleReliquien fort, zwar weniger systematisch, dafür aber bis ins Ausland 153 ). koll der Feierlichkeiten, in: LECOCQ, 324-331. - Siehe auch das außerdem Melun, Auxerre, Mâcon und Lyon betreffende Reisetagebuch von Le Gros, ed. G. BORD: Journal de route d'un vainqueur de la Bastille envoyé en mission par le patriote Palloy, in: Revue de la Révolution, a.4, vol.7. 1886, 163-177; ferner ders. (ed.): Réception d'une pierre de la Bastille à Angers, in: ebd., a.l, vol.2. 1883,176-179. - Zur Bedeutung des „Patriote Palloy" vgl. nach den älteren Biographien von FOURNEL und LEMOINE ( S . U . Literatur) die neue Untersuchung von LÜSEBRINK: Lés „Vainqueurs de la Bastille", S. 347-353. 152 ) Vgl. u.a. Inauguration dans la salle des séances du district de Versailles d'une pierre des cachots de la Bastille,.. .le 16 décembre 1791, Versailles 1791; Procès-verbal de tout ce qui s'est fait lors d'un dépôt d'une pierre de la Bastille à la maison du district de Château Thierry, le 17 septembre 1792, o. O. 1792; Procès-verbal des cérémonies et des discours . .. des corps administratifs réunis à la ville d'Epernay, ... le 22 septembre 1792, [Epernay 1792]; À . SOREL: Envoi d'une pierre de la Bastille à la ville de Compiègne en 1792, in: Bull.de la Société historique de Compiègne 6. 1884, 64-77; M . MAZIÈRE (ed.), in: Comité archéologique et histor. de Noyon. Mémoires 15.1899, 53f.; M.E. LAURAIN: Une pierre de la Bastille à Clermont, 6 février 1792, in: Mémoires de la Société archéologique et histor. de Cermont (Oise) 1.1904,15-26; M . DOMMANGET: Une pierre de la Bastille à Senlis en 1792, in: AR 10.1918,118-121; ders.: Les pierres de la Bastille, in: AHRF 4.1927,130-134. Näheres zur innenpolitischen Funktion der Bastille im damaligen Dijon bei LÜSEBRINK/REICHARDT: La „Bastille", S. 227-230. - Dieselben bereiten die Ausgabe des .Reiseberichts' von Titon Bergeras vor, den Palloy um die gleiche Zeit nach Westfrankreich entsandte. 153 ) Bericht des Konventskommissars Laplanche über die Einweihung eines Bastille-Steins in Orléans am 1 7 . I X . 1 7 9 3 , in AULARD: Comité, V I 4 3 0 ; zu einer gleichzeitigen Einweihung in Clermont-Ferrand vgl. JALOUSTRE [ 1 5 0 ] , 2 3 1 - 2 3 5 ; PALLOY: Pierre de la Bastille (Formularbrief von 1 7 9 4 ) ; ders.: Adresse aux Brabançons ... en leur adressant une pierre de la Bastille en 9bre 1792, Paris 1792; zur Stadt Luxembourg 1795 vgl. L. van GELUWE: Une épave de la Bastille, in: La Cité, 1 9 0 2 , 2 2 6 - 2 3 4 . 49

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Daß diese Verbildlichung der Bastille keine Eigenwilligkeit eines Einzelnen, sondern Ausdruck sozialer Vorstellungen und Dispositionen der Zeit war, zeigen auch die revolutionären Jahresfeiern des 14. Juli in der Provinz. Wohl war es zunächst noch eine Ausnahme, daß zur Feier des Tages Bauern mit Mistgabeln und Flinten eine Baift'We-Attrappe stürmten, einrissen und den ,Gouverneur' in Gestalt einer Puppe in Stücke rissen (1790 im Dorf Saint-Maur), daß der Bastillesturm von der städtischen Nationalgarde in einer Art politischen Mysterienspiels dargestellt wurde (1791 in Saint-Omer 154 ). Und während der radikalen Revolutionsphase, als der 14. Juli hinter dem Tageskampf zurücktrat, genügten den meisten örtlichen Clubs verbale Gedenkbekundungen: „Eh bien! citoyens, sans le 14 juillet, [ . . . ] là Bastille, cette prison d'enfer, existerait encore et renfermerait vos plus intrépides défenseurs" 155 ). Doch nachdem ein ministerieller Runderlaß an alle Departements empfohlen hatte, zur Festigung des republikanischen Bewußtseins der Bevölkerung den Bastillesturm auch in Form von Freilichtspielen zu feiern, wurde es 1798 und 1799 zumindest in den größeren Städten landesweite Praxis, daß die Zimmerleute eine ,Bastille' aufschlugen, welche am 14. Juli Infanterie, Artillerie und Kavallerie, die Marseillaise auf den Lippen und von der Trikolore geführt, gegen eine Handvoll »Verteidiger' im Sturmangriff eroberten; ein Schauspiel, worum ein Pariser Patriot die Provinz beneidete: une Bastille simulée qu'on eût prise d'assaut? On vient bien de le faire à Chartres! C'est ainsi que par la magie des arts on remet sous les yeux des faits éclatans qui, retracés en grand, laissent des impressions profondes dont le souvenir ne s'efface jamais. 156 )

Vor der Revolution, so viel wir wissen, hauptsächlich bei der Pariser Bevölkerung und allgemein bei den Oberschichten des Königreiches geläufig, wurde der politisierte Bastille-Begnif also nach dem 154

) M.

La Bastille de Saint-Maur, in: A H R F 4 . 1927,133f. ; L. Les fêtes révolutionnaires dans une région frontière: Nord et Pas-de-Calais, in: Fêtes de la Révolution [139], 201f. 155 ) Sitzungsprotokoll vom 13. VII. 1794 bei E. L E R O Y (ed.): La Société populaire de Montignac 1793-1794, Bordeaux 1888,186; s.a. ebd. S. 187 die Adresse desselben Clubs an den Abgeordneten Lakanal. 156 ) Lemaire, in: Patriote français N° 298 (16. VII.1798), 1195 b; s.a. einen Bericht der Regionalpresse zu gleichen Feiern in Angers, zit. B. Bois: Les fêtes révolutionnaires à Angers de l'an II à l'an VIII, Paris 1929,176f. ; sowie M . O Z O U F : Simulacre [139], 341f. - Der Runderlaß vom 1.VII.1796 in: A . N . , F I C I 90. DOMMANGET:

TRÉNARD:

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14. Juli 1789 innerhalb kurzer Zeit praktisch im ganzen Lande zu einem nationalen Wahrzeichen, das warnend an den .Despotismus' des ancien régime erinnerte, wie er besonders von den cachots versinnbildlicht wurde. 4. ,Bastilles' als (1789-1794)

aktivistischer

Pflichtbegriff

der

Radikalen

Zugleich gewann der Begriff - besonders im radikalen Revolutionsverständnis - aber auch eine neue, zukunftsgerichtete und aktivistische Dimension. Diese wurde personifiziert von den am Bastillesturm beteiligten Männern, die sogleich als Vainqueurs de la Bastille gefeiert, mit spontanen Spenden bedacht und durch Lotterien unterstützt wurden 157 ) . Zwar wurde es ihnen als Absonderung von ihresgleichen verübelt, daß sie sich durch offizielle Listen der,Bastille-Sieger' (insges. 954 Namen) selber musterhaften Patriotismus bescheinigten, daß sie zeitweise als Volontaires nationaux de la Bastille eine Sondereinheit der Nationalgarde bildeten (Erlaß vom 16.X. 1789) und unter dem Namen Vainqueurs de la Bastille einen eigenen politischen Club gründeten (6.III.1790-5.1.1791), daß sie einen besonderen Platz beim Föderationsfest von 1790 beanspruchten und durch ein Entschädigungsgesetz Auszeichnungen und materielle Belohnungen zugesprochen erhielten, von denen sie schließlich nur persönliche Ehrenzeichen und -urkunden annahmen 158 ). Dennoch verkörperten die ,Bastille-Sieger' für die prorevolutionäre Öffentlichkeit so sehr das Ideal des Freiheitskämpfers, des opferbereiten und wehrhaften citoyen, daß die Anheuerung einiger von ihnen durch die Polizei allgemeine Empörung und ein Ausschlußverfahren zur Folge hatte 159 ). 157

) Vgl. den Bericht aus der Nationalversammlung vom 18.VII.1789, in: AP, VII248 a. Zu den Vainqueurs allgemein LEMOINE: Hommes, 147ff.; sowie D U R I E U X , passim; neuerdings vor allem LÜSEBRINK: Die „Vainqueurs de la Bastille", passim. 158) Ygi di e Beratungen u. Beschlüsse der Nationalversammlung vom 19.VI.1790 (AP, XVI 371), 25.VI.1790 {Moniteur N° 178, 27.VI.1790, IV 723f.; AP, XVI 463f.),19.XII.1790(AP, XXI 566f.), 10.11.1791 (AP, XXIII 81), 4.VI. 1791 (AP, XXVI 754f); sowie die mit einem BastilleEmblem versehene Ehrenurkunde vom 19. VI.1790, als Reprod. im Anhang von D U R I E U X . 159 ) Die verstreuten Dokumente zu dieser affaire des mouchards am bequemsten gesammelt bei L A C R O I X / F A G E , l.Sér., I 619f., 630-638; s.a. Rév. Paris N° 50 (19.-26.VI.1790), 616-622, sowie N° 81 (22.29.1.1791), 144.

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Wie die ganz überwiegend kleinbürgerliche Sozialstruktur der P a stille-Sieger' den 14. Juli als Tat des einfachen .Volkes' auswies160), so dienten bei neuen revolutionären Aufständen populäre Vainqueurs de la Bastille als Führer 161 ), wurde immer wieder ihr Vorbild beschworen, um die städtische Volksmenge in Alarmbereitschaft zu versetzen und zur Erhebung aufzurufen: „Les mêmes bras qui ont renversé les tours de la Bastille seront toujours prêts dès qu'il s'agira de renverser les projets du despotisme. " 162 ) Der Sieg über die Bastille war fester, verpflichtender Bestandteil des sansculottischen Selbstverständnisses - „nous, pères de famille, citoyens, soldats, vainqueurs de la bastille" 163 ); die Betonung der Zugehörigkeit zu den ,Bastille-Siegern' wurde 1793/94 zur stehenden Formel, um revolutionäre Identität und republikanische Gesinnung nachzuweisen 164 ). Neben ihrer personellen Verkörperung hatte die im revolutionären Bastille-Begnff enthaltene Verpflichtung auch ihr unmittelbares Ziel - die nun viel allgemeiner und konsequenter als vor 1789 als „autant des Bastilles"165) bezeichneten Staatsgefängnisse und Haftanstalten: „La Bastille est détruite, mais Pierre-en-Cise, les châteaux de Ham, de Joux, des îles Sainte-Marguerite, &c. les maisons de force Château-Thierry, de Rouen, du Mont-Saint-Michel, de Charenton, &c. existent encore" 166 ). In einer bis zum Frühjahr 1794 anhal160

) „la prise de la Bastille est principalement due à dix mille pauvres ouvriers du fauxbourg S. Antoine" (Ami du Peuple N° 149, 30.VI.1790,1); s. a. ebd., N° 172 (29.VII. 1790), 3f.; Bast.dévoilée, II 123; Rév. Paris N° 95 (30.IV.-7.V.1791), 169; sowie zur Kontrolle G. R U D É : Die Massen in der Französischen Revolution (1959), München 1961, 8 1 - 8 3 u. 330-336. '«) z. B. Hulin am 5.X.1789; vgl. Rév, Paris N° 13 (2.-9.X.1789), 10. '«) Ebd., N° 151 (26.V.-2.VI. 1792), 380. Ähnlich Héberts Aufruf zur Eroberung der päpstlichen Enklave Avignon (Père Duchesne N° 54, 26.V.1791, 2), seine Warnung an die ,Monopoleure' (ebd., N° 89, X.1791, 3) und sein Appell zur Brechung des kgl. Vetos (ebd., N° 102, Ende XII. 179 l , 7 f . ) . 163) y o n Gonchon in der Legislative vorgetragene Adresse des Faubourg Saint-Antoine zum 20.VI.1792, in: Rév. Paris N° 155 (23.-30.VI.1792), 573. 164 ) Adressen an den Konvent, in: AP, Bd. 87,12. Germinal (N° 31); Bd. 88, 25. Germinal (24); Bd. 90,16. Floréal (52), 27. Flor. (52 u. 55); Bd. 91, 13. Prairial (22), 28. Prair. (12), 27. Prair. (44 u. 53). 165 ) P . - M . PAREIN: Les crimes des Pariemens ou les horreurs des prisons judiciaires dévoilées, Paris 1791, 4. 16é ) Bast, dévoilée, II (X. 1789), 129; fast wörtlich dasselbe im Moniteur N° 24 (25.XII.1789), 1205.

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tenden Kampagne forderten Sprecher der radikalen Revolution, alle aufgrund von lettres de cachet inhaftierten Gefangenen zu befreien und vom Ancien Régime hinterlassene Bastilles wie das Irrenhaus Charenton 167 ) oder das Bicêtre-Gefângnis - „la Bastille du pauvre" zu schließen 168 ); sie feierten es als ihren Erfolg, wenn eine Bastille wie die Pariser Haftanstalt Saint-Lazare in eine Kaserne umgewandelt wurde 169 ), empörten sich über die Verwendung des Armenhauses in Saint-Denis als Haftanstalt („cette nouvelle Bastille" 170 ) oder über Bestrebungen, die Bastille Saint-Nicolas in Marseille wieder zu eröffnen 171 ). Und solche Bekundungen mündeten in die direkte Aktion, als z. B. die Kleinbürger aus dem Faubourg Saint-Antoine Reparaturarbeiten am Festungsturm von Vincennes als Vorbereitung einer „nouvelle Bastille" deuteten und sich am 28. Februar 1791 daran machten, den Turm zu schleifen 172 ), oder als nach dem Einmarsch der Revolutionstruppen in Lyon die lange geforderte Schleifung von Pierre-Scize173) ab Januar 1794 tatsächlich durchgeführt und von Bastille-Gedenkmünzen gepriesen wurde: Darüber hinaus enthielt der Bastille-Begnïî - zumal im Plural - für radikale Aktivisten den Ansporn und die Verpflichtung, gegen alle Hemmnisse und Gegner der Revolution überhaupt - „ces effroyables bastilles politiques et religieuses"174) - zu kämpfen, was auch in der nach 1789 gebräuchlicher werdenden Wortform bastillé zum Ausdruck kam: „C'est aujourd'hui l'expression nouvelle pour désigner un prisonner d'état, & pour rendre odieuse, autant que l'ancienne bastille, toute autorité, même étrangère, qui oseroit exercer quel-

167

) Bast.dévoilée, III 29; Ami du Peuple N° 295 (29.XI.1790), 5f. T a l l i e n a m 30.IV. 1792 im Pariser Jakobinerclub, in AULARD: Jacobins, III 546f. 168) Moniteur N° 171 (20.VI.1790), IV 667 b; s. a. Ami du Peuple N° 315 (19.XII.1790), S. 3 zu La Force. im) Rév. Paris N° 10 (12.-18.IX.1789), 13. 170 ) Ami du Peuple N° 337 (11.1.1791), 5. 171 ) Père Duchesne (N° 353 (7.II.1794), 7. 172 ) Journal de la Municipalité et du département de Paris (6.III.1791), zit. nach LACROIX/FAGE, 2.Sér., II 776; ebd. 7 7 4 - 7 9 4 weitere D o k u m e n t e . Siehe auch Rév. Paris N° 108 (30.VII.-6.VIII.1791), 171; Grands Détails et relation de tout ce qui s'est passé à Vincennes ..., [Paris 1791]; Grande motion faite à l'Assemblée nationale pour la suppression de la prison d'Etat de Vincennes, [Paris, März 1791], 173 ) Siehe oben S. 41; sowie Bast.dévoilée, VII Ii. 174 ) Manifeste du peuple français, [Paris 1792], 1.

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que empire arbitraire sur ses sujets." 175 ) Das konnte sich sowohl gegen die katholischen Klostergemeinschaften richten176), die 1790 aufgelöst wurden, als auch gegen Konservative, ,Monopoleure' und ausländische Truppen, die im Frühjahr 1792 den Komplottverdacht der Sansculotten nährten: „Oui, foutre, je le répète, nous sommes plus en danger maintenant que dans le mois de juillet 1789. Nous n'avions alors qu'une bastille à renverser, et il y en a des milliers aujourd'hui." 177 ) Dementsprechend feierte etwa der Pariser Jakobinerclub den organisierten Volksaufstand vom 10. August 1792 und die folgende Abschaffung der Monarchie als ,neuen Bastillesturm' 178 ). Ja einem der Sansculotterie nahestehenden Patrioten wie Palloy erschienen alle Schlösser französischer Emigranten, alle Fürstentümer Europas als ebenso viele Bastilles, die von der Revolution erobert werden müßten: Au bruit de la chûte de la bastille, toutes les bastilles du monde ont chancelé dans leurs fondemens; tous les rois ont pâli sur leurs trônes [ . . . ] Puissent un jour toutes les bastilles de l'Europe tomber sous mes coups! [ . . . ] Il me seroit doux d'expirer sur le cadavre du dernier des despotes, et sur les débris de la dernière bastille. 179 ) 175

) Pamphlet-Lexikon von GALLAIS (1790), 33. ) „Mais souffrirez-vous [ . . . ] qu'il subsiste dans toute l'étendue de la France un millier de bastilles plus dangereuses encore que celle que les parisiens renversent aujourd' hui? Ces bastilles [ . . . ] sont les monastères." (Le moine qui n'est pas bête [Herbst 1789], 3.) 177 ) Père Duchesne N° 133 (V.1792), 6. 178 ) Rede von M. Anthoine am 12.VIII.1792, in A U L A R D : Jacobins, IV 195; s. a. Père Duchesne N° 172 (Ende IX.1792), 2f. 179 ) PALLOY: Pétition faite à la barre de la Convention nationale, le9aoûtl793. 176

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Und ein radikaler Katechismus, der auch in der Provinz benutzt wurde, enthielt das republikanische Gelöbnis: „autant qu'il sera en notre pouvoir, nulle bastille ne restera sur la terre, nul tyran sur son trône, nul peuple dans les fers [ . . . ] Nous le jurons par les ruines de la Bastille."1«)) Dieser Wortgebrauch von Bastilles als antidespotisch-republikanischer Pflichtbegriff konzentrierte sich, wie die Belege zeigen, zeitlich auf die radikale Revolutionsphase, sozial auf die sansculottischen Aktivisten der städtischen Volksrevolution, welcher die gemäßigten Revolutionäre und auch die Jakobiner zurückhaltend gegenüberstanden. Wie im Frühjahr 1790 Robespierres Antrag, unabhängig von strafrechtlicher Zweckmäßigkeit alle vom Despotismus' der lettres de cachet inhaftierten Gefangenen prinzipiell freizulassen, im Parlament keine Mehrheit fand 181 ), so suchten der Pariser Bürgermeister Bailly und die Nationalversammlung eine eigene Gedenkfeier der Vainqueurs de la Bastille zuerst zu verhindern und sich dann der Teilnahme an ihr zu entziehen 182 ). 5. «Bastilles' als Parteibegriff zur innenpolitischen Fremdbezeichnung (1791-1799) Da Bastille ein so populäres Schlagwort geworden war, geriet der Begriff auch in die innenpolitischen ,Partei'-Auseinandersetzungen der Französischen Revolution hinein - allerdings im wesentlichen nur seine negativ-rückwärtsgewandte Seite. Konservative wie Radikale bedienten sich vor allem des Plurals Bastilles, um sich wechselseitig Verletzungen des Freiheitsprinzips vorzuwerfen. Dies scheint auf konservativer Seite im Frühjahr 1791 begonnen und sich zunächst gegen die neuen, volksoffenen Clubs und den von Paris 1793,1 u. 3. - Weniger radikal, aber tendenziell gleichartig Bast, dévoilée, V I I 2 - 6 . 1S0 ) BIAS-PARENT: Catéchisme Français Républicain, Paris, an II, 50f.; übernommen von Dorfeuille bei einer Rede vor der Bürgerschaft in Chambéry am 20.11.1794, veröff. in: Journal Républicain des deux départemens Rhône et Loire N° 37 (24.III. 1794), 256; sowie von PALLOYS Plakat: Morale et devoirs des François, [o. O., Frühjahr 1794], Siehe auch À bas les brigands, o. O., 16.XI.1794, 22f. 181 ) Berichte des .Comité des lettres de cachet', Beratungen und Gesetz, in: AP, XI 66f., 661-663 u. 730f.; sowie XII160-162, insbes. Sp. 161 a Robespierres Rede vom 13.111.1790. UB) Moniteur N° 214 (2.VIII.1790), V 283; AP, XVII486 u. 489f.; LACROIX/ FACE, l.Sér., VII459-466.

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ihnen ausgehenden Meinungsdruck gerichtet zu haben: „Autrefois nous ne connaissions qu'une Bastille, une seule était à craindre; mais aujourd'hui il en existe dans toutes les villes de France" 1 8 3 ). Dann richtete sich dieser Wortgebrauch gegen die Justiz' der Straße und der Guillotine, welche an die Stelle der Bastille getreten seien 184 ), gegen Chaliers Versuch vom Februar 1793 in Lyon, die Gegenrevolutionäre hinrichten zu lassen 185 ). Im Maße wie die Jakobinerdiktatur nicht nur Gegner, sondern auch radikale Führer der Revolution als ,Verdächtige' verhaften ließ, schlössen sich teilweise sogar Enragés derselben Auffassung an: „Ce n'est pas [ . . . ] en faisant de la France une vaste Bastille, que notre révolution fera la conquête du monde." 186 ) Doch häufiger gebrauchten Gemäßigte und Konservative den Begriff in diesem Sinne, und zwar besonders nachträglich in bezug auf die Terreur, ob sie nun die durch eine Verhaftungswelle überfüllten Gefängnisse im Departement Nièvre als „bastilles révolutionnaires" anprangerten 1 8 7 ), ihrerseits die Vernichtung der schuldigen „embastilleurs" gelobten 188 ) oder die von den revolutionären Überwachungsausschüssen landesweit eingerichteten maisons d'arrêt verurteilten: „Bastilles nouvelles, sorties des cendres de l'ancienne, et mille fois plus horribles, plus tyranniques, plus &ct." 189 ) 183

) A vis aux Français sur les Clubs, o. O. [März] 1791, zit. nach A U L A R D : Jacobins, II267. ) Nouveau pot-pourri national, o. O. [Sommer 1792], 13. 185 ) „Le bureau d'inquisition secondé d'un infâme espionnage, r'ouvre les bastilles, multiplie les lettres de cachet", in: Histoire de la Révolution de Lyon, Lyon 1793, zit. nach G . G I G U E (ed.): Registre du secrétariat général des Sections de Lyon, Lyon 1907, 324. 18 6 . ) J. Roux aus der Haft in Sainte-Pélagie im Publiciste N° 265 (Anfang IX. 1793), in Roux: Scripta, N° 38, S. 277. Siehe auch J. V A R L E T : Gare l'Explosion, o. O., 6.X. 1794, 9. 187 ) Bericht des Parlamentskommissars Guillemardet aus Luzy an den Sicherheitsausschuß vom 16.1.1795, zit. A U L A R D : Comité, XIX 522; s.a. Courrier républicain, 21.X.1794, zit. A U L A R D : Réaction, 1191; Le Charlatanisme politique, Hambourg 1799,8f. : „cette loi des suspects qui éleva cent mille bastilles sur les débris d'une seule." 188 ) Messager du soir, 18.1.1795, zit. A U L A R D : Réaction, I 404; s. a. dieselbe Zeitung vom 20.1.1795, zit. ebd., S. 410. 189 ) Artikel ,Mots enfantés par la Révolution', in: Quotidienne N° 54 (13.IV.1795), 4; s.a. den Polizeibericht an den Innenminister vom 22.XII. 1795, in A U L A R D : Réaction, II 555f. Ein Bericht der radikalen Rév. Paris (N° 183, 5.-12.I.1793, 117-119) über die ,maisons d'arrêt' vermied dagegen den ßösii/fe-Begriff. m

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Griffen Kritiker und Gegner der Schreckensherrschaft damit auf ein Schlagwort zurück, das sie sonst eher vermieden, dem sie sich aber nicht ganz entziehen konnten, so wandten umgekehrt die Sprecher der radikalen Revolution den bei ihnen viel geläufigeren Bastil/e-Begriff auf wirkliche wie vermeintliche modérés und konterrevolutionäre' an. Auch hier zeichnete sich dieser Sprachgebrauch vor der Terreur erst ansatzweise ab, wenn Hébert die Brissotins bezichtigte, in Paris die Bastille und die „Inquisition" neu errichten zu wollen 190 ), verallgemeinerte sich aber nach Robespierres Sturz, als die thermidorianische Reaktion den Jakobinern ihre Methoden heimzahlte. Nun unterstützte der Begriff den Aufruf zur Standhaftigkeit der Revolutionäre: „On a beau embastiller, assassiner les patriotes, on n'assassinera pas la vérité: elle se fera jour à travers les grilles de vos nouvelles bastilles." 191 ) Oder er richtete sich warnend gegen die ,royalistische Konterrevolution' und ihre Gefängnisse: „Nos mains, chargées de chaînes, pourraient, en les secouant, ébranler, renverser même vos nouvelles bastilles, et vous rencontreriez votre juste supplice"192). Meistens jedoch kristallisierte er die Kritik republikanischer Parlamentskommissare am Anti-Terror in der Provinz193) und besonders die Angst und Verzweiflung verfolgter Revolutionäre angesichts immer neuer Säuberungswellen unter der bis zum 18. Brumaire erstarkenden politisch-sozialen Reaktion: „Chaque jour nos bastilles s'ouvrent et reçoivent les amis sincères de la constitution de l'an trois, entassés dans des souterrains inhabitables" 194 ). Umstritten war bei der Instrumentalisierung von Bastille(s), embastiller und vereinzelt auch embastilleur zur Diskreditierung des innenpolitischen Gegners vor allem in den Jahren 1794 bis 1799 nicht die Bedeutung dieser Schlagworte, sondern nur ihre ,zutreffende'

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) Père Duchesne N° 240 (kurz nach 25. V. 1793), 8; s. a. Roux'im Mai 1792 in mehreren Kirchen gehaltene Predigt: Discours sur les moyens de sauver la France et la liberté, in Roux: Scripta, N° 5, S. 68. 191 ) BABEUFS Journal de la liberté de la presse N° 12 (20.IX.1794), 5. 192 ) À bas les brigands, o. O., 16.XI.1794, 21. 193 ) Jourdan an den Konvent aus Clamecy am 17.XII.1794, zit. AULARD: Comité XVIII 783; Guillemardet an den Wohlfahrtsausschuß aus Troyes am 23.1.1795, zit. ebd., XIX 742. 194 ) Observateur du Midi N° 27 (29.1.1797), 108; s. a. Tribun du Peuple N°31 (28.1.1795): „affameurs, inquisiteurs, bastilleurs, tyrans en un mot"; Polizeibericht an den Innenminister vom 19.XII.1795, zit. AULARD: Réaction, II 536; Bericht der Geheimpolizei vom 21.VI.1799, ebd. V 584.

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Anwendung. Die negativ-polemische Komponente des Begriffs wurde dabei nur bestätigt. 6. Die,Bastille' als Symbol der revolutionären Zäsur, der republikanisch-nationalen Einheit und Identität (1790-1803) Dagegen geriet die vom Bastillesturm begründete, positiv-freiheitsbezogene Seite des Begriffs kaum in den Parteienkampf hinein. Einzelne frühe Ansätze beschränkten sich auf die Argumente, daß die Bastille ein Gefängnis der Aristokratie gewesen sei und ihr Fall für die breite Bevölkerung also keinen Freiheitsgewinn bedeute 195 ), daß außerdem die Festung nicht erobert, sondern von ihrem kopflosen Gouverneur ohne Not aufgegeben worden sei196). Doch solche nicht unbegründeten Bedenken verstummten bald vor der herrschenden Überzeugung von der grundlegenden Bedeutung der Prise de la Bastille, wie ein Wörterbuch sie im Januar 1792 definierte: „Grande prouesse des Parisiens [...] Elle a entraîné le bouleversement de la France" 197 ). In der Tat: das bis zu einfachen Bürgern verbreitete zeitgenössische Bewußtsein von der einschneidenden, alles Überkommene beseitigenden Wirkung der Französischen Revolution konnte sich nirgends populärer und symbolkräftiger kristallisieren als an der Einnahme und Zerstörung der Bastille. Aus ihr wurden gerne alle Errungenschaften der Revolution, insbesondere die Liberté, hergeleitet: Le jour de la prise de la bastille n'aura jamais d'égal dans l'histoire de la nation française. Le dévoûment, le courage, l'ardeur de tous les citoyens, leur concorde, leur parfaite égalité, le respect de tous les droits, la justice du peuple, l'ordre au sein du désordre, l'alégresse au milieu des alarmes, les tyrans vaincus et mis à mort, [ . . . ] et par-tout la grandeur, le génie d'un peuple qui brise

195

) Anonymer Brief aus Burgund an Palloy vom Herbst 1790: „la conquête de la Bastille et sa démolition ont flatté pour un moment la canaille parisienne, mais nous qui ne sommes pas fait pour un pareil séjour, nous gémissons de l'enthousiasme et du prix que l'on met à une chose si indifférente pour nous puisqu'elle n'étoit dédiée qu'aux grands et aux aristocrates" (zit. nach LECOCQ, 145f.). Siehe auch Ami du Peuple N° 56 (24.XI.1789), 223. 196 ) So die eher konservativen Pamphlet-Lexika: B O U R B O N - B U S S E T (1789), 8f.; Nouv. Dict. franc. (1790), Art. .Bastille'; Dict.laconique (1791), 9. 197

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) BUÉE ( 1 7 9 2 ) , 104.

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ses fers et qui reprend ses droits, voilà ce que caractérisoit cette sublime journée"19«).

Der Bastillesturm wurde zum festen Bezugspunkt allgemeiner Aussagen über die Revolution 199 ). So begann eine der radikalsten theoretischen Schriften der Jakobiner, die in 5000 Exemplaren an die Sansculotterie verteilt wurde, mit den Worten: „Au 14 juillet, lorsque la Liberté sortit brillante des débris de l'infâme Bastille [.. ,]"200). Als die Pariser Sektionen nach ihrem siegreichen Aufstand gegen den Konvent die Anklage ,alt' und ,lau' gewordener Abgeordneter von 1789 forderten, wurden sie mit der Begründung abgewiesen: „Les patriotes ne se distinguent pas par l'âge: nous sommes tous du même âge. Nous sommes nés à la liberté le 14 juillet; la prise de la Bastille, voilà notre baptême." 201 ) Die aus diesem Zäsurbewußtsein folgende Konsequenz einer neuen, mit dem Fall der Bastille beginnenden Zeitrechnung wurde teilweise wirklich gezogen. Ab Januar 1790 datierte die Zeitung Révolutions de Paris nach Jahren der Liberté, gefolgt u.a. vom Moniteur (ab 14.VII. 1790) und von Gorsas' Courrier (ab 31.VIII.1790202). Solche Symbolhandlungen kamen auch in zahlreichen Flugschriften vor, ohne sich freilich allgemein durchzusetzen. Anfang Januar 1792 gingen radikale Sprecher der Revolution noch einen Schritt weiter und forderten die Verlegung des Jahreswechsels vom 1. Januar auf den 14. Juli; in einem Zeitungsartikel hieß es unter der Überschrift Quatorze Juillet 1789, seule & véritable Ère de la liberté française: Le 14 juillet nous a valu l'exercice solennel de la déclaration des droits de l'homme & du citoyen, qui n'eût été long-temps encore qu'une brillante théorie; le 14 juillet nous a valu le 4 août, les 5 & 6 octobre. [ . . . ] C'est par le mois 198

) Rév. ParisN°53 (10.-17.VII.1790), lf.; s. a. ebd. N° 131 (7.-14.I.1792), 84; Bast.dévoilée, II (IX.1789), 129. Zur wachsenden Glorifizierung des 14. Juli in den Berichten vom Bastillesturm vgl. LÜSEBRINK/REICHARDT: La prise . . . , S. 78-85. 199 ) „La Révolution française de 1789 a donné l'éveil aux nations. La chute de la bastille a retenti dans toute l'Europe" (Rév. Paris N° 84, 12.19.11.1791, 281). Siehe auch Ami du Peuple N° 441 (27.IV.1791), 351; sowie allgemein LÜSEBRINK/REICHARDT: La prise de la Bastille, passim. 200 ) J. V A R L E T : Déclaration, solennelle des droits de l'homme dans l'état social, o. O. 1793, 3. ^ Legendre am 2. VI. 1793 im Konvent, zit. nach Ann. patriotiques N° 154 (4.VI.1793), 707; dasselbe in: AP, LXV 688f. 202 ) A . G . G O R D O N : Making the Revolutionary Calendar, in: A H R 36.1930/ 31, 517f.

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de juillet, & non par celui de janvier qu'il faudroit ouvrir désormais le calendrier de tous les peuples [ . . . ] Reculer au premier janvier le 14 juillet 1789, c'est ne tenir compte de la révolution, & vouloir la dissimuler: elle n'a commencé qu'au 14 de juillet [ . . . ] Que le 14 de juillet soit le grand jour, le jour par excellence, & qui laisse une impression profonde pour tous les autres jours de l'année. [ . . . ] ne nous vantons pas d'avoir été libres six mois plus tôt, & ne mentons pas à la postérité: laissons plutôt à nos neveux un monument qui atteste à la fois notre franchise & notre courage; écrivons leur:,En janvier 1789 / Vos pères étoient esclaves: / A u 14 juillet 1789 / Ils étoient déjà libres.' 203 )

Wenn ein entsprechender Gesetzesantrag aus praktischen Erwägungen (Steuerberechnung usw.) auch keine parlamentarische Mehrheit fand, so erklärte doch die Legislative den Bastillesturm grundsätzlich zur revolutionären Zeitenwende, indem sie am 2.1.1792 dekretierte, künftig Münzen und alle amtlichen Akte nach ,Jahren der Freiheit' zu datieren 204 ). Im Maße wie die Revolutionsphase nach dem 14. Juli 1789 als unvollkommen erschien, weil sie mit dem Königtum ein Element der politischen,Unfreiheit' bestehen gelassen hatte, und wie die Zweite Revolution vom 10. August 1792 als radikalere Zäsur galt, setzte sich dann allerdings - trotz Widerständen - die Zeitrechnung nach Jahren der Republik' durch 2043 ). Zwar versuchte der Konventsausschuß unter Romme, im Republikanischen Kalender dem 14. Juli wenigstens durch den Monatsnamen La Bastille Rechnung zu tragen: „II faut que chaque jour rappelle aux citoyens la révolution qui les a rendus libres" 205 ). Aber im abschließenden Kalenderdekret vom 24.XI. 1793 hatte die République die Bastille als offizielles Symbol der neuen Zeitrechnung vollends verdrängt20«). Sonst jedoch, im sozialen Bewußtsein breiter Schichten wie in offiziellen Verlautbarungen der Revolutionszeit, blieb der 14. Juli 203

) Rév. Paris N° 131 (7.-14.I.1792), 8 4 - 9 0 . Ähnlich Courrier des 83 Départemens N° 4 (2.1.1792), 60f. 204 ) A P , XXXVII 6f. 204a ) Diskussion u. Dekret im Konvent a, 29.IX.1792, in: AP, LH 806. 205 ) Romme im Konvent am 8.X.1793, in: AP, L X X V I 1 2 2 b. - Zur MonatsNomenklatur - für den 10. Monat vom 19. VI. bis zum 18.VII. wurden auch die Namen La Vigueur, La Révolution, La Liberté vorgeschlagen vgl. die Konventsdebatte und -dokumente vom 20.IX.1793, in: A P , L X X I V 552-557. 206 ) AP, LXX 6 - 1 3 . zum größeren Zusammenhang vgl. M . M E I N Z E R : Der französische Revolutionskalender und die „Neue Zeit", in: Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins, ed. R. K O S E L L E C K / R . R E I C H A R D T , München 1987, S . 2 3 - 6 0 .

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gleichsam das Geburtsdatum der französischen Nation. War doch der Bastille-Mythos zu gefestigt, der Bastillesturm zu populär, als daß man hätte auf sie verzichten können. Über die bereits genannten Stimmen hinaus wirkten vielmehr Denkmals- und Münzkunst, Theater und Lied, Umzüge und Festreden zusammen, um die kollektive Erinnerung an die Bastille, insbesondere an deren freiheitsbegründenden Fall, lebendig zu erhalten. Die Föderationsfeiern vom 14. Juli 1790, das einmütigste und mitreißendste Fest der Französischen Revolution, standen nicht nur durch ihr Datum im Zeichen der Bastille; diese wurde selber von einzelnen Gruppen im Festzug besungen: L'av'nir qu'est bien loin doit apprendre Qu'si l'quatorz' jeuillet [!] est fêté, C'est en mémoir' d'ia liberté Que l'français opprimé sçut r'prendre, Et qu'la Bastille à pareil jour Pa' l'peupl' fut prise sans retour.207)

Bildete das Gedenken an die Bastille beim offiziellen Föderationsfest gleichwohl nur ein Element unter anderen, so stellten es populäre Begleitveranstaltungen in den Mittelpunkt: ein Te Deum am 13. Juli in Notre-Dame, bei dem eine Predigt die Schrecken der alten Bastille beschwor und eine im Libretto aus lauter Bibelsprüchen bestehende Oper die Prise de la Bastille publikumswirksam als Erfüllung der Heiligen Schrift darstellte 208 ): weiter vielbesuchte neue Theaterstücke über den Bastillesturm, bei denen u. a. die Vainqueurs de la Bastille als Belagerer auftraten 209 ); vom 18. bis zum 20. Juli drei 207

) Chanson des Forts de la Halle à la Fédération du 14 Juillet, [Paris 1 7 9 0 ] , Str. 5 ; s. a. M.-J. C H É N I E R : Hymne pour la fête de la Fédération, in: Journal de la Société de 1789 N ° 1 ( 5 . V I . 1 7 9 0 ) , 4 3 - 4 6 ; B . D U P O R T A I L : Chanson de la fédération du 14 juillet 1790, Paris 1790. 208 ) Abbé B A R T O L I O : Discours prononcé dans l'église métropolitaine de Paris, le 13 juillet 1790..., [Paris, August 1790]; M.-A. D É S A U G I E R S : La Prise de la Bastille. Hiérodrame tiré des Livres saints . . . , Paris 1790, mit zeitgenöss. Reaktionen abgedr. bei P I E R R E , 185-191. - Eine erste .serielle' Textuntersuchung von Festreden zum Vierzehnten Juli bei L Ü S E B R I N K / R E I C H A R D T : La „Bastille", S. 224-234. 209 ) Grande Fête Nationale, drame en musique avec divertissement pastoral et militaire, mêlé de ballets, drames et marches analogues, Aufführung am 14.VII. 1790 im ,Cirque du Palais Royal'; Prise delà Bastille, Aufführung am 14. u. 15.VII.1790 in ,Wauxhall d'Été' für 1,12 und 1,10 livres Eintritt; vgl. die Anzeigen im Moniteur N os 195 u. 196 (14. u. 15. VII.1790), V120 u. 128. 61

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Abende lang ein Lichter- und Tanzfest in den zu Lauben ausgeschmückten Grundmauern der Bastille, bei dem die Teilnehmer massenweise ein nachgebautes cachot als Gruselkammer besuchten 210 ); schließlich ein von den Vainqueurs de la Bastille organisierter Gedenkgottesdienst für die gefallenen Bastille-Kämpfer am 2. August in Notre-Dame (s.o. Anm. 94) - um nur die meistbeachteten öffentlichen Veranstaltungen in Paris zu nennen. Außerdem zeigten Gedenkmünzen, deren Motive teilweise auf Bild-Flugblättern wiederholt wurden, die Bastille, wie sie von der ,Sonne der Freiheit' überstrahlt wird oder wie Bauarbeiter ihre letzten Mauern abbrechen 2 "). Dies Nebeneinander von zurückhaltenden Respektbekundungen zum Jahrestag des Bastillesturms bei der politischen Spitze und volksnahen Bastille-Feiem in den unteren Bereichen der Öffentlichkeit wiederholte sich im Sommer 1791: einerseits Föderationsfeiern, bei denen nur eine im Festzug mitgeführte und auf dem Vaterlandsaltar ausgestellte Nachbildung der Bastille sichtbar und ausdrücklich an deren Fall gemahnte 212 ); andererseits wieder ein Te Deum mit Predigt und Désaugiers Hiérodrame in Notre-Dame 213 ), Wiederholungen bekannter 5&sfi7/e-Dramen, Erstaufführungen neuer Theaterstücke zum Bastillesturm 214 ), wieder ein populäres Tanzfest auf dem inzwischen weitgehend eingeebneten Gelände der Bastille, bei dem u. a. der Vorsitzende eines revolutionären Clubs den 14. Juli mit den Worten feierte: Citoyens, frères et amis [ . . . ] C'est ici où fut la Bastille. Avec quel plaisir nous foulons aujourd'hui à nos pieds ces pierres qui servirent pendant si long-tems à renfermer l'homme de génie, l'homme qui avoit eu le courage d'éclairer ses concitoyens [ . . . ] ! C'est dans ces cachots dont nous voyons encore les vestiges, que furent renfermés ces écrivains célèbres qui ont préparé & hâté notre révolution. [ . . . ] C'est la chûte de ce monument chéri du despotisme qu'est dû le 210

) Berichte von Gorsas im Courrier de Paris dans les Provinces, N os 16 u. 17 (19. u. 20.VII. 1790), 242f. u. 261f.; dazu den Kupferstich in Rév. Paris N° 54 (17.-24.VII.1790), zu S. 57. 211 ) HENNIN, N°s 156,159,160. 212 ) Vgl. die Marschordnung, abgedr. bei LACROIX/FAGE, 2.Sér., V 327f. 213 ) Ebd. S. 309-311. 214 ) La Bastille ou Le régime intérieur des prisons d'État, Aufführung am 6.VI.1791 am .Théâtre français comique et lyrique'; J.-J. BARBOT: La Prise de la Bastille, pièce nationale en trois actes et en vers (Aufführung am 25.VIII.1791 am ,Théâtre français de la rue de Richelieu'); PAREIN [136], aufgeführt am 25. VIII.1791 am .Théâtre de la Nation'.

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succès de notre révolution; c'est de cette époque que datera désormais notre ère politique. Le 14 juillet sera de siècle en siècle le jour mémorable. 215 )

Als Sieg der ,Freiheit' über den Bastille-,Despotismus' wurde am 11. Juli 1791 auch die Überführung der sterblichen Überreste Voltaires ins Panthéon gefeiert: in der vorausgehenden Nacht bewußt auf der Stätte von Voltaires zweimaliger Haft aufgestellt und mit der Inschrift kommentiert: „Reçois en ce lieu où t'enchaîna le despotisme, Voltaire, les hommages que te rend ta patrie"216) - wurde der neunspännig gezogene Sarkophag des philosophe im Festzug begleitet von einem Modell der Bastille; einer Fahne mit deren Abbildung und mehreren hundert Vainqueurs de la Bastille211). Ein ganz ähnlicher Festzug zog am 15. April 1792 vom Bastilleplatz zum Marsfeld, nur daß statt Voltaires Sarkophag nun eine Statue der Liberté auf dem Festwagen fuhr, zusätzlich vier beschriftete Steine der Bastille mitgetragen wurden und Palloy an die Soldaten von Châteauvieux (deren Niederschlagung einer Meuterei mit dieser Fête de la Liberté gefeiert wurde) aus in der Bastille gefundenen Ketten geprägte Eisenmedaillen verteilte mit der Abbildung eines befreiten Gefangenen vor der Bastille-Ruine und der Umschrift: „La Liberté a rompu mes fers, l'Egalité m'a elevé"218). So eng war die Bastille nun mit dem Begriff der Liberté verbunden, daß auch ein nicht auf den 14. Juli fallendes ,Freiheitsfest' sie einbeziehen mußte. Und zum dritten Föderationsfest drang dieser populäre Bastille-Kult an die politische Spitze durch, denn unter dem Eindruck immer neuer Vorschläge für ein Denkmal auf dem Gelände der geschleiften Festung219) beschloß das Parlament: „II sera formé sur l'ancien terrain 215

) J. L. TALLIEN am 18. VII. 1791, abgedr. in: Fête civique sur les ruines de la Bastille, le 14 juillet, l'an troisième de la Liberté, [Paris 1791], 3f. 216 ) Courrier des 83 départemens vom 12.VII.1791, zit. nach LACROIX/FAGE, 2.Sér., V 336. Siehe auch Ordre et marche de la Translation de Voltaire à Paris, [Paris 1791], 3 ; Translation de Voltaire à Paris et détails de la Cérémonie, Paris 1791, 23. 217 ) Détail exact et circonstancié de tous les objets relatifs à la fête de Voltaire, extrait de la, Chronique de Paris', [Paris 1791], 2; Rév. Paris N° 105 ( 9 16.VII.1791), 4 - 6 ; ebd. zu S. 9 ein Kupfer dazu. 218 ) HENNIN, N°S 351 u. 352; s. a. das Kupfer zum Festzug in Rév. Paris N° 145 ( 1 4 . - 2 1 . I V . 1 7 9 2 ) , z u S . 9 8 ; P . A . ROUSSELET: Réflexions

d'un

citoyen

sur

la fête pour les soldats de Château-vieux, o. O. [1792] ; Récit exact de ce qui s'est passé à la fête de la liberté, le 15 avril 1792, Paris 1792]. 219 ) Antrag von Barère am 13. VII. 1790, in: A P , XVII 69f. ; Plan eines ungen. Steinmetzen, vorgetragen im Parlament am 3.XI.1791, in: A P , X X X I V 619f.; PALLOY: Adresse à la nation (1792), am 11.III.1792 der Legislative vorgelegt.

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de la Bastille une place qui portera le nom Place de la Liberté. - Il sera élevé au milieu de cette place une colonne de la statue de la liberté." 220 ) Unter (auch gegen die alte Bastille gerichteten) Freiheitsliedern und einer Fahne mit der Aufschrift „Liberté conquise le 14 Juillet 1789" wurde am 17. Juli 1792 feierlich der Grundstein der Freiheitssäule gelegt, welche den Bürgern hinfort als „point d'honneur et de ralliement" dienen sollte221) und deren (noch offene) Ausführung eine Medaille Palloys vorwegnahm: auf einer Nachbildung der Bastille als Sockel erhebt sich eine Säule gekrönt von einem Standbild der Liberté, alles aus Steinen der Bastille gebaut und größer als die römische Trajansäule. Obwohl während der radikalen Revolutionsphase der Vierzehnte Juli und die Bastille im Schatten des Zehnten August und der Tuilerien standen, begann auch das von David organisierte ,Fest der Einheit und Unteilbarkeit der Republik' am 10. VIII. 1793 auf der Place

3. VII. 1792 dem König überreicht und etwa gleichzeitig an die Direktorien der Departements verschickt wurde. Abb. nach H E N N I N , N° 356. Bereits zum 11. III. 1792 hatte Palloy eine ähnliche Medaille anfertigen lassen (vgl. ebd. N° 349). Abb. des Originals bei A. W E I L : Histoire et numismatique du patriote Palloy, Lyon 1976, Taf. zu W 16 und W 17. M") Dekret vom 16.VI.1792, Art. 1 u. 2, in: AP, XLV 279. 221 ) Adresse aux Fédérés des 83 Départemens, réunis pour la Fédération du 14 juillet 1792, avec Ordre de la Marche..., les Inscriptions et les Chansons, [Paris 1792], bes. S. 3; s. .a. Grand Détail de toutes les cérémonies décrétées par l'Assemblée nationale pour pose de la première pierre de la colonne de la liberté..., [Paris 1792].

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de la Liberté, wo Vertreter aller Departements in einer Art Taufritus aus einem anstelle der Bastille gebauten Brunnen der Régénération tranken 222 ), - eröffnet ein Theaterstück über den Zehnten August mit einer Szene an diesem Brunnen, in der Sansculotten die Zerstörung der cachots feierten 223 ), - gab es 1794 immerhin halbamtliche Erklärungen zum Bastillesturm als ,Geburtsstunde der Freiheit' 224 ). Sobald die Jakobinerdiktatur gestürzt war, wurde der Vierzehnte Juli auch offiziell wieder im Konvent gefeiert gemäß dem Antrag von Grégoire: „Certes le 14 juillet sera une époque à jamais mémorable; c'est le jour où [ . . . ] le peuple a recouvré sa dignité en recouvrant la charte de ses droits sous les décombres de la Bastille: là il acquit le sentiment de sa force et apprit à renverser le trône." 225 ) 1796 begingen Direktorium und Departement Paris den Fall der Bastille in ähnlichen öffentlichen Reden, wurde auf dem ,Freiheitsplatz' eine Fahne mit der Aufschrift „Elle [la Bastille] ne se relèvera jamais" aufgepflanzt, erhob das Parlament die Jahresfeiern des Bastillesturms zum Gesetz (27.VII.1795), begann auch der Zug des neuen ,Festes der Freiheit' (9. Thermidor d.J.IV) - wie die meisten großen Festzüge der Revolutionszeit in Paris überhaupt - auf dem Bastilleplatz 226 ). Es entsprach der direktorialen Propagierung von Bastille-Feiern in der Provinz (s.o.S.), wenn am 9.VII.1797 ein öffentlicher Anschlag des Stadtrates von Angers die Bürger aufrief: Les Français se rappellent toujours avec enthousiasme le 14 juillet 1789: c'est à cette époque mémorable qu'ils portèrent le premier coup à la tyrannie [ . . . ] ; c'est cette journée fameuse qui a amené successivement les autres événements glorieux de notre Révolution. 227 ) 222

) Davids vom Konvent am 12. VII. 1793 genehmigter Plan, in: Moniteur N° 196 (15.VII. 1793), XVII119-121 ; Stiche der 6 Stationen des Festes nach Davids Entwürfen in: Carnavalet, Coll. Histoire de France, Qb 1, 10 août 1793. 223 ) G . B O U Q U I E R / P . - L . M O L I N E : La Réunion du Dix Août ou l'inauguration de la République française (1793), abgedr. in: AP, LXXX 32f. 224 ) Siehe oben 53 sowie u. a. die Reden am 13. VII. 1794 im Konvent, in: Moniteur N° 297 (15.VII.1794), XXI 212f. 225) Konventsrede vom 13.VII.1795, in: Moniteur N° 299 (17.VII.1795), X X V 230f. - Redeauszüge u. Berichte zu den Feiern selbst., ebd. N os 298 u. 300 (16. u. 18.VII.1795), XXX 218 u. 239f. 226 ) Vgl. nacheinander: Moniteur N° 313 (31.VII.1796), XXVIII 368f.; DuVERGIER, IX 148; M . O Z O U F : Le Cortège et la Ville. Les itinéraires parisiens des fêtes révolutionnaires, in: AESC 26. 1971, 889-916. 227 ) Zit. nach B. Bois: Les fêtes révolutionnaires à Angers de l'an II à l'an VIII, Paris 1929, 115.

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Denn je mehr die bürgerliche Republik' der Direktorialzeit von jakobinischen Kritikern und politischer Reaktion bedrängt wurde, um so mehr griffen ihre Sprecher auf das Symbol der Bastille zurück, um die Endgültigkeit der Ablösung des ancien régime durch das neue Zeitalter der Bürgerrechte zu bekräftigen 228 ), um sich gleichermaßen von der terreur der Jakobinerdiktatur wie vom reaktionären Gegenterror abzugrenzen 229 ), sich als Erben der gemäßigten Revolution von 1789 auszuweisen und die (scheinbare) nationale Einmütigkeit des 14. Juli 1789 und des ersten Föderationsfestes zu beschwören 230 ): le 14 juillet 1789 fit luire les premiers rayons de notre liberté [...] À partir de ce moment, la révolution, qui jusques-la sembloit n'être qu'une théorie, fut mise en action [ . . . ] À compter de ce même jour, une ligne ineffaçable de démarcation fut tracée entre les amis et les ennemis de la liberté [...] La terreur m

) „Affreuse bastille, dont le nom est justement exécré, est attaché à jamais à celui de la tyrannie royale & ministérielle; affreuse Bastille, c'est au fonds de tes cachots entr'ouverts, c'est sur tes premiers débris, [...] que tous les habitans de cette cité [...] jurèrent de ne jamais se laisser resservir; [...] ils ne reviendront plus les abus extirpés; l'intérêt & l'honneur d'une part, de l'autre [...] la haine vengeresse de l'aristocratie, ont élevé entre eux & nos droits une éternelle barrière. [...] On a tant fait pour diviser les Français! Saisissons avec empressement chaque occasion qui peut les réunir & leur retracer leur solidarité" ( J . D E B R Y : Motion d'ordre sur l'anniversaire du 14 juillet. Conseil des Cinq-Cents, séance du 26 Messidor an V, Paris 1797, 2f.). 229 ) „Français, combien il est doux de célébrer le jour qui vit naître la liberté [...]! Quel spectacle sublime, que celui d'un peuple qui [...] stipule avec modération, sur le théâtre même de ses victoires, les conditions de la paix et du repos de l'Europe! Voilà ce que peut le génie de la liberté; voilà ce que peuvent les bras que renversèrent la Bastille au 14 juillet! [...] Amis de la République, [...] éloignez de vous ces restes impurs d'une secte abhorrée, ces disciples sanguinaires de Robespierre et de Babeuf [...] Quelle est cette nouvelle terreur qui voudrait proscrire, jusqu'au nom de citoyen? [...] Oui, la révolution est terminée." (J. Debry in der öffentlichen Festsitzung des Direktoriums am 14.VII. 1797, in: Moniteur N° 258 [16.VII.1797], XXVIII 742f.) 30 2 ) „Qu'ils furent beaux ces premiers instans de la liberté, qui déjà présageoient celle des peuples qui nous environnent! Quelle [...] union des sentimens! [...] Que les Français retrouvent dans leurs législateurs les hommes du 14 juillet [...] Identifions-nous enfin, citoyens collègues, avec ce premier & beau moment de notre bienfaisante révolution." (J. A. M O R E A U : Motion d'ordre sur les 14 juillet. Conseil des Anciens, séance du 15 Messidor an 6, Paris 1798,2 u. 4.) - Siehe auch die Rede desselben im Rat der Alten am 14.VII.1798, in: Moniteur N° 298 (16.VII.1798), XXI 314f.; Merlins Rede auf dem Marsfeld am 14. VII.1798, in: Moniteur N° 299 (17.VII.1798), XXIX 316. 66

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avoit multiplié les détentions sans aucune mesure; la réaction à son tour donne le spectacle du même abus, contre lequel elle tonnoit avec force: [...] montrons-nous, comme au 14 juillet, animés d'un même esprit, pour fixer, en faveur de la liberté, la victoire"231). Wenn dabei auch die Teilnahme der breiten Bevölkerung zurückging und Militärparaden zunehmend in den Vordergrund traten, so erreichte doch das Verständnis des Bastillesturms als Symbol der nationalen Einheit, als Ursprung der gesamten Revolution, als Anbruch einer neuen Zeit und als republikanisches, menschheitsbeglückendes Vermächtnis anläßlich der Föderationsfeiern von 1798 und 1799 seine volle, traditionsbildende Ausprägung 232 ). Die Bastille-Feiern waren, zumal im republikanischen Frankreich, so eingebürgert, daß sogar ein konservativer Abgeordneter wie Briot für ihre Beibehaltung eintrat, daß sie auch nach dem Staatsstreich des 18. Brumaire entsprechend Bonapartes Willen als Fête de la Concorde begangen wurden (1800), daß der Erste Konsul eine Fest-Proklamation an alle Präfekten verschicken ließ 233 ) und daß eine Zeitung, welche die revolutionäre Tradition pflegte, über den 14. Juli 1802 berichtete: 231

) P. C. L. B A U D I N : Discours ... pour l'anniversaire du 14 juillet. Conseil des Anciens, séance du 26 messidor an 7, Paris 1799, S. 3, 5,15. Zu den Föderationsfeiern von 1799 s.a. Moniteur Nos 301 u. 302 (19. u. 20.VII.1799), XXIX 742f. 232 ) „C'est cette première journée de la liberté française, où, par une explosion soudaine, un mouvement de volonté vraiment national vainquit sans peine un despotisme de tant de siècles [...] Maintenant, représentants du peuple, quels furent les résultats de cette journée, tardive sans doute, mais décisive pour les peuples? Je réponds: l'homme rendu à sa dignité, ses droits reconnus et proclamés; les cloîtres et les prisons d'Etat laissant échapper leurs victimes; [...] les campagnes délivrées des chaînes féodales; l'égalité brisant les hochets nobiliaires; les talents civiques appelés à tous les emploits; [...] la République s'élevant sur les débris de la monarchie [...]; la considération du nom français parvenu à un degré jusqu'alors inoui; [...] chaque événement concourant à réaliser la grande pensée du premier siècle de l'ère française, c'est-à-dire, l'amélioration du sort des hommes, le changement graduel et total dans l'organisation des sociétés." (J.-M. Chénier, Festrede vor dem Rat der 500 am 14.VII.1798, in: Moniteur N° 298,16.VII.1798, XXIX 313f). 2 «) Vgl. nacheinander: Sitzung des Rats der 500 vom 29.VIII.1799, in: Moniteur N° 347 (3.IX.1799), XXIX 794f.; Bericht des Publiciste vom 18.VII.1800, zit. A U L A R D : Consulat, 1515; die am 6.VII.1802 versandte Proklamation zit. A . LATREILLE: L'ère napoléonienne, Paris 1974,119. Siehe auch den Bericht des Citoyen français vom 15. VII.1803, zit. AULARD: Consulat, IV 245. 67

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De toutes les parts nous recevons d'un grand nombre de républicains des lettres [ . . . ] Toutes nous parlent avec enthousiasme [ . . . ] des fêtes, des jeux des spectacles, des danses qui ont signalé ce beau jour dans beaucoup de communes, notemment celles de Lyon, Bordeaux, Strasbourg, Grenoble, Besançon, Nantes, Angers, Nancy, etc. Plusieurs font mention de banquets [ . . . ] où l'on a porté, presque à l'unisson, des toasts à la liberté publique et individuelle; à l'immortelle existence de la République; [ . . . ] aux vainqueurs de la Bastille; [ . . . ] à l'oubli des haines; enfin, à l'union de tous les coeurs français. 234 )

V. Ausblick: Durchsetzung der ,Bastille'-Symbolik gegen konservative Verdrängungsversuche (1804-1830) Zusammenfassend läßt sich die Begriffsentwicklung von Bastille als ein Dreischritt von Singularisierung, Politisierung und Repluralisierung auf einer neuen Ebene beschreiben. Vom wertneutralen Fachterminus für die spätmittelalterlichen Festungstürme auf die Pariser Stadtfestung des späten 17. Jhs. eingeengt, war der Name Bastille mit den Verhaftungen von Protestanten, Jansenisten und mißliebigen Schriftstellern besonders unter Ludwig XIV. und Ludwig XV. belastet worden, fungierte seit den 1770er Jahren zunehmend als wichtigstes Schlagwort der aufklärerisch-vorrevolutionären ,Despotismus'Kritik und hatte sich teilweise vom Gegenstand, den er bezeichnete, verselbständigt, indem er der Gefängnispraxis konträre, mythische Züge annahm und als Plural allgemeine Anwendbarkeit erlangte. Mit dem 14. Juli 1789 wurde diese negative, nun an das Ancien Régime gebundene Bedeutung nicht nur weiter ausgebaut und vollends popularisiert, um die Notwendigkeit, Legitimität und historische Größe des Bastillesturms zu bekräftigen; zugleich trat ihr zur Seite die neue komplementäre Grundbedeutung des kämpferischen Patriotismus, der nationalen Freiheitsgründung, der politisch-sozialen Eintracht, ja des Republikanismus. Empire und Restauration konnten den so gefestigten Begriff und die mit ihm verbundenen Vorstellungen zwar vorübergehend in den Untergrund drängen, nicht aber auslöschen. Sobald Bonaparte seine Herrschaft gefestigt hatte, suchte er systematisch jede Erinnerung an den Bastillesturm als Symbol des Volksaufstandes gegen die Obrigkeit zu ersticken. Als die Vainqueurs de la Bastille sich unter Beru234

) Citoyen français vom 21.VII.1802, zit

68

AULARD:

Consulat, III 165.

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fung auf ihre revolutionären Verdienste um Aufnahme in die 1802 geschaffene Ehrenlegion bemühten, ließ er die Versammlungen dieser „partisans de l'anarchie" im Faubourg Saint-Antoine polizeilich überwachen und ihre an ihn geschickten Abordnungen abfangen 235 ). Dann ließ er - trotz Protesten ehemaliger Jakobiner 236 ) - die offiziellen Jahresfeiern des Bastillesturms einschlafen; 1804 vorerst zum letzten Mal begangen, doch bereits auf den 15.VII. verschoben 237 ), trat seit der Kaiserweihe vom 2.XII. 1804, welche nun ihrerseits (statt des 14. Juli) mit einem Te Deum in Notre-Dame gefeiert wurde, praktisch Mariä Himmelfahrt an ihre Stelle238). Schließlich versuchte Napoleon auch die Bildsymbolik der Bastille zu entschärfen. Wenn er sich auch in einem Gesetz über den Bau eines Wasserbassins auf dem Gelände der ehemaligen Bastille als Erfüller der Revolution ausgab (3.XII.1803) und den Plan einer Siegessäule nicht, wie Davy de Chavigné 1806 vorschlug, dort, sondern auf dem Vendöme-Platz verwirklichte, so veranlaßte er doch das Parlament zu dem Dekret (2.II.1810), auf dem Bastilleplatz statt eines Freiheitsdenkmals einen kolossalen Bronze-Elefanten zu errichten, von dem allerdings nur ein Gipsmodell aufgestellt wurde 239 ). Überzeugte Republikaner wie der Theaterschriftsteller Ève-Démaillot, der als Wortführer jakobinischer Zirkel 1803-1814 in den Gefängnissen von Sainte-Pélagie, La Force und Vincennes inhaftiert war, begriffen das napoleonische Polizeiregime als Rückfall in den Bastille-,Despotismus' des Absolutismus und bejubelten seinen Zusammenbruch 240 ). 235

) Zitat aus d e m Bericht der Pariser Polizeipräfektur v o m 4. VIII. 1803, in AULARD: Empire, 1161. - A n d e r e Polizeiberichte über die Vainqueurs de la Bastille v o m 21.VIII.1803 bis zum 14.IX.1804, in AULARD: Consulat, I V 324; s o w i e ders.: Empire, 1 1 1 6 , 125f., 1 3 3 - 1 3 5 , 143, 170, 177, 319, 2 3 4 , 2 4 4 u . 2 5 7 ; s . a . DURIEUX, 1 0 .

236) Vgl. u. a. B . - F . - A . de FONVIELLE: Essais historiques, critiques, apologétiques et économico-politiques sur l'état de la France au 14 juillet 1804, Paris 1804. 237 ) Moniteur v o m 6. VII.1804, in AULARD: Empire, I 88. 23 8) L. MADELIN: Histoire du Consulat et de l'Empire, t. I X , Paris 1 9 4 8 , 1 0 5 . 239

) BOURNON, 2 3 4 ; LEMOINE, 1 8 0 f. ; M AGULHON: Marianne

au combat,

Paris

1979, 4 6 - 4 9 . 240 ) A . - F . EVE-DÉMAILLOT: Tableau historique des prisons d'état en France sous le règne de Buonaparte, Paris 1814; P.-F.-F.-J. GIRAUD: Histoire générale des prisons, sous le règne de Buonaparte, avec des anecdotes curieuses et intéressantes sur la Conciergerie, Vincennes, Bicêtre, Sainte-Pélagie, La Force, le château de Joux, etc., etc., et les personnages marquants qui y ont été détenus, Paris 1814.

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Aber Hoffnungen auf eine offizielle Rehabilitierung der BastilleSymbolik241) waren verfrüht angesichts einer Restauration, für welche die Bastille das Trauma der Revolution verkörperte 242 ), die auch getarnte Bekundungen wie den von Kaufleuten in Annonay am 14.VII. 1826 bei einem Freundschaftsessen ausgebrachten Trinkspruch auf die Liberté243) möglichst verhinderte und den ihr unangenehmen Bastille-Platz vom Staat der Stadt Paris übertragen ließ (31.VII.1826). Doch zeigen diese Beispiele zugleich, daß der Bastille-Begriff als ein wesentlicher Kristallisationskern der republikanischen Tradition verdeckt fortlebte. Als der populäre Chansonnier Béranger wegen Spottliedern auf den König 9 Monate im Staatsgefängnis La Force inhaftiert wurde, beschwor er im Lied Le Quatorze Juillet (1829) mit der Erinnerung an den Bastillesturm die Hoffnung auf,Freiheit' für sich und Frankreich überhaupt: J'étais bien jeune; on criait: Vengeons-nous! À la Bastille! aux armes! vite, aux armes! Marchands, bourgeois, artisans couraient tous. [...] Victoire au peuple! il a pris la Bastille! un beau soleil a fêté ce grand jour [ . . . ] [...] Mais je revois, après quarante années, Sous les verrous, le Quatorze Juillet. O Liberté! ma voix, qu'on veut proscrire, Redit ta gloire aux murs de ce séjour. A mes barreaux l'aurore vient sourire; Un beau soleil fête encore ce grand jour [.. ,]244)

Tatsächlich erschien die Julirevolution, besonders der Pariser Volksaufstand vom 27. bis zum 29.VII.1830, den Zeitgenossen als neuer ,Bastillesturm' 245 ). Vor allen anderen Elementen der Franzö-

241

) Vgl. u. a. die Flugschrift Quatorze Juillet 1815, Paris [1815] (BN: Lb 48.90). 242 ) „Bastille. - Objet de toutes les élégies, de toutes les complaintes des ultra; souvenir tendre et poétique de ces messieurs." (SAINT-MAURICE, 1823, 12). 243

244 245

70

) SANSON, 1 8 .

) P. J. de B É R A N G E R : Oeuvres complètes, t. III, Paris 1834, 259-262. ) Vgl. u. a. die Flugschriften La Prise de Paris par les Parisiens, Paris 1830 (BN:Lb 49.1404); La Révolution de 89 et 93, seconde édition, revue et corrigée par le peuple en 1830, Paris, août 1830 (BN:Lb 49.1438).

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sischen Revolution erschien denn auch der Bastille-Mythos dem Juliregime besonders geeignet, sich als wahrer Erbe der Großen Revolution geschichtlich zu legitimieren, indem es die Petition noch lebender Vainqueurs de la Bastille auf Zuerkennung lebenslänglicher Renten befürwortete: les pétitionnaires ont des droits à la reconnaissance de la nation et à la bienveillance du gouvernement. Nous ne devons pas oublier leur héroïque dévouement lors de la prise de la Bastille. - C'est cet événement glorieux qui prépara et assura la conquête de la liberté et son triomphe sur le despotisme et la féodalité. [ . . . ] la Révolution de 1789 est la soeur aînée de celle de 1830.246) Die so begründete Gesetzesinitiative der Regierung löste über mehr als zwei Jahre hin leidenschaftliche Parlamentsdebatten aus. In ihrem Verlauf unterlagen konservative Versuche, den Vierzehnten Juli zu entmythologisieren 247 ) und seinen radikalen Charakter zu stigmatisieren 248 ), der vereinten Entschlossenheit des Innenministers Argout („Non, Messieurs, vous ne flétrissez pas la prise de la Bastille!" 249 ) und der Mehrheit der Abgeordneten, sich die Bastille als Symbol ihrer patriotisch-nationalen Identität nicht nehmen zu lassen:

246) Ausschußbericht, von Bédoch am 28.XI. 1831 in der Deputiertenkammer vorgetragen, abgedr. in: Archives parlementaires, Sér. 2 (1800 à 1860), ed. J. MAVID ALU. a., 127 Bde, Paris 1862-1913, hier Bd. 72 S. 94. Ähnlich der Ausschußbericht in der Pairskammer, vorgetragen von M. Dumas am 6.III.1833 (ebd. Bd. 80 S. 621). - Für Hinweise auf diese Debatten danke ich Winfried Schulze. 247 ) Vgl. u.a. aus der Rede des Marquis de Dreux-Brézé in der Pairskammer am 9.III.1833: „J'ai regardé surtout comme un devoir de conscience de dissiper l'illusion funeste que la mesure proposée [d. h. der Gesetzesantrag] tend à perpétuer, en laissant croire que la fondation de la liberté date de la prise de la Bastille." (Ebd. Bd. 80 S. 763) 248 ) Aus den wiederholten Reden von Gaétan de La Rochefoucauld zur Streitfrage seine Äußerung in der Deputiertenkammer am 23.IV.1833: „Mais le 14 juillet, en détournant de son cours la noble, généreuse et admirable Révolution de 1789, a amené en France les 5 et 6 octobre, le 10 août, le 21 janvier, toutes journées d'exécrable mémoire [...]" (ebd. Bd. 83, S. 99). 249 ) Rede in der Pairskammer am 15.III.1833 (ebd. Bd. 81 S. 226). Siehe auch seine Äußerungen zur ^evolutionären' Parallelität von 1789 und 1830 in der Pairskammer am 23.11. und 9.III.1833 (ebd. Bd. 80 s. 339, 768f) wie in der Deputiertenkammer am 22. und 23.IV. 1833 (ebd. Bd. 83 S. 52 und 102). 71

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66

Cette insurrection [ . . . du 14 juillet 1789] Oui! elle était légitime et nécessaire. [ . . . ] Ne médisons pas de ces grands souvenirs; ne calomnions pas le passé qui nous a faits. 250 )

Dementsprechend beschloß die Chambre des Députés schließlich am 22. April 1833 mit 165 gegen 81 Stimmen für 401 anerkannte Bastille-Sieger: „II est accordé à chacun des vainqueurs de la Bastille, qui justifiera de ce titre, une pension annuelle de 250 francs." 251 ) Auch sonst zollte das Juliregime dem nach wie vor volkstümlichen Bastille-Kult Tribut. Als Louis-Philippe am 27. Juli 1831 auf dem vom Staat zurückerworbenen Bastille-Platz feierlich den Grundstein zur Colonne de la liberté und damit zur Grabstätte der Gefallenen der Julirevolution legte, setzten zur festlichen Umrahmung angefertigte Gemälde von Gosse die Prise de la Bastille von 1789 und die Prise de l'Hôtel de Ville von 1830 ausdrücklich in Parallele; die schließlich am 30.IV. 1840 als Krönung der Julisäule installierte Bronzestatue des Bildhauers Dumont glich zwar mehr einem harmlosen Merkur als der revolutionären Freiheitsgöttin, verkörperte als Génie de la Liberté aber dennoch den wichtigsten Komplementärbegriff von Bastille seit 1789252). Trotz solcher Zugeständnisse von politischen Restaurationsbestrebungen immer wieder in die illegale republikanische Opposition gedrängt, setzte sich die Bastille schließlich 1880 mit der Erklärung des 14. Juli zum Nationalfeiertag als Wahrzeichen der nationalen Identität des modernen Frankreich durch 253 ). Symbolisierte sie doch am sinnfälligsten und reinsten nicht nur die überwundenen Mißstände des Ancien Régime, sondern auch und vor allem die revolutionäre Zäsur von 1789, die patriotische Eintracht der Föderationsfeiern von 1790 und die Geburtsstunde eines neuen Zeitalters der ,Freiheit'. 250) Rede des Abgeordneten Villemain in der Pairskammer am 9.III.1833 (ebd. Bd. 80 S. 764). 251 ) Ebd. Bd. 83 S. 53 und 103. 252 ) A.-S.-M. BONNEVILLE: Lettre à MM. les députés des départements, sur le projet de monument national, commémoratif des journées de juillet 1789 et 1830, à élever sur la place de la Bastille, présentée au roi.. .le 7 septembre 1830,

P a r i s 1 8 3 2 ; LEMOINE, 2 0 4 f . ; DURIEUX, 10; J . - L . BORY: La

Révo-

lution de Juillet, Paris 1972, Abb. 35; AGULHON: Marianne [239], 56-62. 253 ) SANSON, passim; M OZOUF: Le premier 14 juillet de la République 1880, in: L'Histoire 25. Juli/August 1980,10-19; C. AMALVI: Le 14 Juillet: Du „Dies irae" à „Jour de fête", in: Les lieux de la mémoire, ed. P. NORA, I: La République, Paris 1984, 421-472.

72

67

Bastille

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Bastille

68

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74

CITOYEN - SUJET, CIVISME* PIERRE RÉTAT

Einleitung

2

I. Die klassische Konfiguration:,citoyen-bourgeois'

und,sujet-citoyen' 2

II. Der Aufstieg des ,citoyen': (1750-1789)

Von der Nützlichkeit

zur

Souveränität

III. Die Revolution: Der Zenit des,citoyen'-Begriffs IV. Der Neologismus,civisme' V. Rückwärtsbewegung

und Stabilisierung (1794-1820)

9 16 24 27

* Aus dem Französischen übersetzt von Gerd van den Heuvel. 75

Citoyen-Sujet, Civisme

2

Einleitung Das Begriffspaar citoyen-sujet läßt am Ende des 17. Jh. und sogar im größten Teil des 18. Jh. noch nicht den radikalen Gegensatz erkennen, den seine moderne Bedeutung kennzeichnet. Das politische Ideal der gemäßigten Monarchie vereinigt eine vielschichtige Beziehung der beiden Begriffe: eine Beziehung, die trotz genereller Stabilität bis zur Revolution Platz für Verschiebungen läßt, ja sogar für Brüche, die in die Zukunft weisen. Citoyen und sujet streben in ihren Bedeutungen zunehmend auseinander und verweisen auf zwei Konzepte der Gleichheit: Die aktive und legitime Gleichheit der Staatsbürger auf der einen, die Gleichheit in Unterwerfung und Abhängigkeit, wenn nicht die gemeine Gleichheit des Sklaven, auf der anderen Seite. Die Geschichte dieser beiden Begriffe ist deshalb untrennbar verbunden mit der sich ändernden Beziehung von Staat und Gesellschaft wie mit dem wachsenden Bewußtsein von der Würde und Autonomie des Einzelnen. Der Bewußtseinswandel hinsichtlich der Gesellschaft und der Legitimität der Staatsmacht wird begleitet von einem zunächst verhaltenen, dann plötzlichen Wandel der Wortbedeutungen.

I. Die klassische Konfiguration: ,citoyen - bourgeois' und ,sujet - citoyen' Die allgemeinsprachigen Wörterbücher, deren inhaltliche Entwicklung bis zur Revolution langsam und kaum merklich verläuft, zeigen eine lexikalische Situation auf, die durch die späteren Erschütterungen schwer verständlich werden wird. Am Anfang unterscheidet sich der citoyen nicht vom bourgeois, ,Einwohner einer Stadt' oder eines ,Gemeinwesens'; der Begriff verweist auf Privilegien, auf Rechte, die der citoyen genießt, auf das antike Vorbild, sei es griechisch oder römisch 1 ). Ein Zusatz von P. Aubert zum Dictionnaire von Richelet unterscheidet hingegen die beiden Begriffe: ')

(1680), 1141. Die Ausgabe Lyon 1728 verweist auf bourgeois. (1690), I o. S.; Der Dict. Acad. (1694), I 73, definiert den Bourgeois als „citoyen, habitant d'une ville"; Dict. Trévoux (1704), s. u. „Citoyen"; L E R O U X : Dictionnaire comique (1752), s. u. „Citoyen"; PRÉ4 VOST: Manuel lexique (1755) verweist auf Cité; Dict. Acad., 1762 (ed. 1777), I 204; F É R A U D , I (1787), 452f. In den Ausgaben des Akademiewörterbuches von 1798 und 1835 wird noch die Bedeutung wie 1694 angegeben. RICHELET

- FURETIÈRE

76

Citoyen-Sujet, Civisme

3

Le bourgeois est quelque chose de plus que le citoyen. Le citoyen est un habitant depuis plusieurs années; il est membre de l'Etat, et doit en supporter les charges, et remplir les emplois dont il est capable de s'acquiter [ . . . ] . Le bourgeois est celui qui acquiert, par l'habitation d'un certain nombre d'années, les privilèges qui sont comme la récompense des services qu'il a rendus à la ville où l'on a habité 2 ).

Es scheint, daß der Wechsel des Bezugspunktes von der,Stadt' zur Gesellschaft' oder zum,Staat' in der zweiten Hälfte des 18. Jh. stattgefunden hat. Die Definition Diderots in der Encyclopédie („C'est celui qui est membre d'une société libre de plusieurs familles, qui partage les droits de cette société, et qui jouit de ses franchises") zeigt es ebenso wie das Dictionaire de Trévoux von 1771: „Ce mot a un rapport particulier à la société politique, il désigne un membre de l'Etat, dont la condition n'a rien qui doive l'exclure des charges et des emplois qui peuvent lui convenir, selon le rang qu'il occupe dans la République". Es wird deutlich, daß soziale Heterogenität und der Begriff des Privilegs Grundelemente der Wortbedeutung bleiben. Der Artikel D I D E R O T S verweist auf „Société, Cité, Ville franche, Franchises" und unterstreicht, daß die Eigenschaft des citoyen in der Antike strengen Voraussetzungen unterworfen war. Die Encyclopédie von Félice - stets auf den Begriff bourgeois verweisend - gibt für das Wort civis exakt die Übersetzung bourgeois: In Rom seien alle citoyens bourgeois gewesen, im Gegensatz zu den Sklaven 3 ). Auf den ersten Blick erscheint der Begriff sujet in dem völlig anders gearteten Kontext der modernen Gesellschaft seit ihren lehnsrechtlichen Ursprüngen. R I C H E L E T definiert den sujet zunächst als vassal, und man erinnert oft an die alte gewohnheitsrechtliche Bedeutung, die man entweder als Wortmißbrauch oder als anerkennenswerte Wortverwendung betrachtet: „Autrefois les Seigneurs appellaient abusivement sujets, tous ceux qui tenaient d'eux quelques fiefs ou terres, qui leur devaient redevance" 4 ). Es handelt sich dabei aber nur um ein juristisches Überbleibsel; alle großen allgemeinsprachigen Wörterbücher übernehmen bis zum Ende des Jahrhunderts 2

) Diese Unterscheidung des citoyen-habitant und des bourgeois findet sich wieder im Grand vocabulaire français, T. VI (1768), S. 2 8 - 2 9 , aufgenommen auch vom Dict. Trévoux ( 6 1771) s. u. „Citoyen". 3 ) Vgl. nacheinander: Eric., III (1753), S. 488; Dict. Trévoux ( 6 1771), Art. „Nouveau"; FÉLICE: Eric., I X (1771), S . 755ff. 4 ) RICHELET (1728), add. Sujet 1762; siehe auch FURETIÈRE (1690), I I I , s. u. „Sujet", FERRIÈRE (1762), I I 692; Dict. Trévoux ( 3 1743), V 1828; Dict. Acad., 4 1762 (ed. 1777), I I 507f; ROBINET: Dict. Universel, 28 (1783). 77

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die Definition von FURETIÈRE („qui est soûmis naturellement à un Prince souverain, ou à une République"), und man zitiert in den Beispielen neben den „sujets du Roy" die der venezianischen Republik oder der Schweiz. Ob von ,Herrschaft' oder dem,Willen des Königs' die Rede ist, zuallererst wird auf Zitate zurückgegriffen, die gemäß der Ideologie der väterlichen und natürlichen Gewalt des Königs einem Verhältnis von ,Liebe' und,Gehorsam' Ausdruck geben: „C'est un Prince qui aime ses sujets"; „II y a une liaison réciproque entre le Prince et ses sujets-, il leur doit de l'amour, et ils lui doivent de l'obéissance. Nic[ole]". Gleichermaßen beinhaltet die Eigenschaft des citoyen dessen Freiheit, sie ist mit der Erniedrigung des Sklaven unvereinbar: „On peut être bon sujet, sans être idolâtre des Rois. Ab[lancourt]"; „Les sujets ne sont pas des esclaves". 5 ) Im Artikel „Sujet" der Encyclopédie bietet de Jaucourt eine systematische Definition an, die im Prinzip die der vorhergegangenen Wörterbücher bestätigt: On nomme sujets tous les membres de l'état, par opposition au souverain, soit que l'autorité souveraine ait été déférée à un seul homme, comme dans la monarchie, ou à une multitude d'hommes, réunis, comme dans une république: ainsi le premier magistrat de cette republique même est un sujet de l'Etat.

Er begründet die Unterwerfung mit der Vertragstheorie vom g e genseitigen Einverständnis'. Von Interesse ist dieser Artikel aber vor allem wegen seiner Gegenüberstellung von citoyen und sujet: Er definiert ersteren durch seinen Anteil an den „Privilegien der gesellschaftlichen Vereinigung", während der zweite nur „einfacher Einwohner" oder „durchreisender Fremder" ist. Diese noch auf antike (oder Genfer) Staatsstrukturen zurückweisende Unterscheidung ist ohne Bedeutung, denn de Jaucourt gebraucht im weiteren beide Worte synonym oder nebeneinander. Nur wenn vom ,Wohl des Vaterlandes' die Rede ist, wird sujet durch citoyen ersetzt. „À l'égard des conducteurs de l'état, tout sujet leur doit l'obéissance que demand leur caractère. Par rapport à la patrie, un bon citoyen se fait une loi de lui faire honneur par ses talens, sa probité, et son industrie." Man ist also citoyen oder sujet, je nachdem unter welchem Blickwinkel man sich betrachtet 6 ).

5

) Vgl. nacheinander: Dict. Acad.

(1694), II 311; FURETIÈRE ( 2 1701), s . u .

„Sujet"; Dict. Trévoux (1704), s. u. „Sujet"; Dict. Acad. (51798), II 610. 6) Enc., XV (1765), 643f.

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So erweist sich, daß insgesamt die Sprache der 1680er bis 1750er Jahre keinerlei Gegensatz zwischen den beiden Begriffen festlegt. Das Dictionaire des notions primitives von P U G E T D E S A I N T - P I E R R E (1773) zeigt diese Konvergenz der Bedeutungen offensichtlich: Sujet, dénomination de tout citoyen considéré relativement à sa dépendance au souverain. Tout est sujet dans les Républiques [ . . . ] . Dans les monarchies tout est sujet, hors le monarque [ . . . ] . Aussi est-il distingué des esclaves soumis à un despote dont la volonté fait loi [ . . . ] . Les sujets doivent donc jouir de toute l'étendue de la liberté qui ne peut tendre à troubler l'ordre public.

Die Encyclopédie von F É L I C E bietet im Artikel „Citoyen" eine noch knappere Formel an („C'est un sujet de condition libre attaché à la souveraineté d'autrui"), eine fast wörtliche Wiedergabe Bodins, der in den Six livres de la République (1576) ihn im Gegensatz zum Sklaven als „le franc sujet tenant de la souveraineté d'autruy" definiert hatte. Man ist also in einer Monarchie, welche die Gesetze respektiert, ganz und gar citoyen, denn man genießt dort die erforderliche Freiheit. „En France, hors le Roi, tout est citoyen depuis le Prince du sang jusques au paisan." Die Synonymes français des Abbé G I R A R D legen den exakten Grad der Koinzidenz beider Ausdrücke fest: „Un Empereur, un Roi ne sont pas Citoyens; ce sont des chefs qui gouvernent leurs peuples, ou qui commandent à leurs sujets; ceuxci obéissent par soumission, et le degré de modération ou d'excès de cette soumission fait que le vrai Citoyen se conserve chez eux, ou qu'il s'anéantit par la servitude." 7 ) Zweifellos erscheint der semantische Unterschied zwischen den beiden Begriffen evident, wenn Diderot in der Encyclopédie schreibt, „[que] l'être moral souverain est par rapport au citoyen ce que la personne physique despotique est par rapport au sujet"; aber unter Anerkennung der von Hobbes getroffenen Gleichsetzung der Begriffe schreibt er auch: „Le nom de citoyen ne convient ni à ceux qui sont subjugués, ni à ceux qui vivent isolés", d. h. die Bezeichnung kommt weder den ,Sklaven' noch den

7

) Vgl. nacheinander: P U G E T DE SAINT-PIERRE: Dictionnaire des notions primitifs (1773), s. u. „Citoyen"; Jean B O D I N : Les Six livres de la République, Paris 1577,1/6, S . 49f.; RICHELET ( 5 1728), Art. „Citoyen"; G I R A R D ( 9 1749), Art. „Habitant, Bourgeois, Citoyen". Wiederum aufgenommen ist dieser Artikel im Grand vocabulaire français, T. VI (1768), Art. „Citoyen", S. 28f., und im Dict. Trévoux ( 6 1771), s. u. „Citoyen".

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.Souveränen' zu 8 ). Diese beiden Vorbehalte begrenzen das weite Feld, wo ,Gehorsam' und ,Freiheit' in Einklang stehen. Die begriffsgeschichtliche Auswertung einiger anderer Texte bestätigt den Befund in den Wörterbüchern. B O S S U E T gebraucht in seiner Politique tirée des propres paroles de l'Écriture Sainte, an der er von 1677 bis zu seinem Tode arbeitet, unverändert den Ausdruck citoyen, um die „principes de la société parmi les hommes" festzusetzen; er charakterisiert den citoyen durch die ,Liebe zum Vaterland', seine Geselligkeit und den Gehorsam gegenüber Gesetzen. „II faut être bon Citoyen, et sacrifier à sa Patrie dans le besoin tout ce qu'on a, et sa propre vie." Jesus war ein „bon citoyen" genauso wie die Apostel und die ersten Gläubigen. Der peuple (oder les peuples) ist Hauptgegenstand der Bücher II und III, die sich mit der Macht des Königs (heilig, väterlich, absolut und der Vernunft unterworfen) beschäftigen: Das Volk ist Gegenstand der ,Liebe' des Königs, seiner umsichtigen Güte 9 ). Schließlich leitet Buch VI zu den „devoirs des sujets envers le Prince" über, der den Willen des ganzen Volkes verkörpert: „Les sujets doivent au Prince une entière obéissance"; „Les sujets n'ont à opposer à la violence des Princes que des remontrances respectueuses". Die Wortwahl ist hier sehr klar, sie trennt das Verhältnis des Staatsbürgers zum Gemeinwesen von dessen Beziehung zum König als Vater, als Herrn und Vertreter des göttlichen Willens. Demselben Menschen werden nur zusätzliche Eigenschaften zuerkannt. Der ,Untertan' schließt den citoyen nicht aus, zumindest

8

) Enc., III (1753), S. 489. Zu Hobbes siehe F. TRICAUD: Language and political thought in the XVIIth Century: a research on Hobbes as a bilingual philosopher, in: Historische Semantik und Begriffsgeschichte, ed. R. KOSELLECK, Stuttgart 1978, S. 3 0 3 - 1 3 . Der parallele Gebrauch von civis und civitas im lateinischen Text De Cive (1642) und von subject und souvereign (oder government) im englischsprachigen Text des Leviathan (1651) läßt eine Stärkung des Konzepts der absoluten Monarchie erkennen, aber auch eine mangelnde Eignung des klassischen Lateins für die Gedanken Hobbes. 9 ) BOSSUET: Oeuvres, Paris 1748, T. VII S. 274 (I, 6, 1); Die lexikalische Reihe citoyen-bourgeois-sujet muß erweitert werden um peuple, einen Begriff, den FURETIÈRE (1690) zunächst als „habitants d'une ville" definierte. Trévoux (1704) übersetzt ihn mit cives. - FURETIÈRE und Dict. Acad. (1694) ziehen die Beispiele vor, wo der König sich vom Volk „lieben" läßt, „das Herz.des Volkes hat".

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wenn es sich um eine „legitime Unterwerfung" handelt. Denn unter einer Willkürherrschaft, so Bossuet, „les Peuples sujets sont nés esclaves, c'est-à-dire vraiment serfs" 10 ). Bei JURIEU, dessen vertragstheoretische Begründung der Staatsmacht in Gegensatz zu Bossuet steht, erscheint der Begriff citoyen an keiner Stelle: Das ,Volk' verbindet sich in einem gegenseitigen Vertrag mit dem .Souverän' und „falls ein Souverän seine Rechte mißbraucht, verliert er seinen Untertanen", denn dieser ist kein Sklave 11 ). Es ist offensichtlich, daß die Gedankenführung des calvinistischen Theologen, auf die Gemeinschaft und Religion sowie die Verteidigung des „peuple de Dieu" ausgerichtet, die gegenseitige Verpflichtung von sujets und princes betont, unter der obersten Bedingung des Gehorsams gegenüber Gott. In dieser Hinsicht bricht Jurieu weniger, als behauptet wurde, mit der loyalistischen Tradition des Kalvinismus seit dem Edikt von Nantes. Bei MONTESQUIEU entspricht die Triade citoyen - peuple - sujet nicht mehr denselben politischen Prinzipien wie bei Bossuet; trotzdem hat die semantische Struktur sich nicht vollständig verändert. Obwohl citoyen generell in Bezug zu démocratie steht, bezeichnet der Begriff auch in ungenauer Weise die Mitglieder des Staates in der Monarchie und der Republik. Der Gebrauch von sujet konzentriert sich auf ,Monarchie' und ,Despotismus', allerdings mit je unterschiedlicher Bedeutung: Einerseits der ,gute Untertan', der dem,guten Bürger' entspricht, andererseits der schlechte Untertan', gekennzeichnet durch ,Sklaverei' und ,Furcht'. Im Despotismus gibt es keine Erziehung, denn: „il faut commencer par faire un mauvais sujet pour faire un bon esclave. Eh! pourquoi l'éducation s'attacheroit-elle à y former un bon citoyen qui prît part au malheur public?" In den „gemäßigten Staaten ist der niedrigste Bürger von Gewicht", während man sich unter absoluten Regierungen „überhaupt nicht um die Freiheit der Untertanen kümmert". Und gemäß der Montesquieuschen These von der falschen, aber dem Allgemeinwohl nützlichen Ehre, „dans les monarchies bien réglées, tout le monde sera à peu près citoyen, et on trouvera rarement quelqu'un qui soit homme

I0

) BOSSUET: Oeuvres, 481.

V I / 2 / 1 , S . 4 0 1 ; V I / 2 / 6 , S . 4 0 8 ; I I I / 3 , S . 3 0 0 ; V I I I / 2 , S.

") P. JURIEU: Lettres pastorales,

III, S. 15f (1. u. 15.IV.1688).

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de bien.". Liberté und utilité sociale definieren also den sujet-citoyen"). Diese komplexe Begriffskonstellation zeigt sich besonders deutlich im Antagonismus zwischen citoyen-sujet und esclave. Sie bleibt in den Remonstrationen der Obergerichte bis zur Revolution unverändert: hier wechseln sich die Begriffe sujets, citoyens undpeuple(s) wie Synonyme ab, deren Bedeutungen nur noch in Nuancen und den bei Bossuet festgestellten Unterscheidungen wechseln. Die Untertanen sind ,treu' und ,gehorsam', aber man fordert ihre „liberté légitime", ihre „droits essentiels" wie man auch die ,Freiheit', die Sicherheit' jedes Bürgers, seine „droits les plus précieux" und das ,Glück des Volkes', Gegenstand der ,väterlichen Liebe' des Königs, verlangt. „C'est sur la foi publique que réside la fortune de tous le citoyens; [...] elle est le lien le plus fort de l'amour et du respect des sujets pour le Souverain; votre parlement est le garant de cette foi publique envers vos peuples"13). Die Wortbedeutungen rücken den citoyen in die Nähe der liberté und den sujet in die Nähe der Unterwerfung. Aber eine Vielzahl von Texten zeigt, daß die Wortbedeutungen zwischen den beiden Polen oszillieren und sich oft umkehren. Diese unauflösliche semantische Verwandtschaft ist Ausdruck des Wunsches, sich aus freien Stücken zu unterwerfen, ein Wunsch, der allerdings vor der Revolution zunehmend schwieriger zu formulieren ist und dem in wachsendem und gefährlichem Maße das Bild von esclavage und despotisme gegenübersteht14).

12

) Vgl. nacheinander: MONTESQUIEU: L'Esprit des Lois, V, 19; VI, 2; VII, 1; IV, 3; VI, 2; III, 7; III, 6. Zusujet-monarchie-despotisme siehe auch II, 2: „le peuple, dans la démocratie, est, à certains égards, le monarque, à certains autres, il est le sujet." - Der Kollektivbegriff peuple, sehr selten peuples, findet sich in den drei Regierungsformen, in der Monarchie in Opposition zu prince (III, 5) oder mit dem König und dem Adel (V, 9), im despotisme mit prince (III, 10) oder mit „den Mächtigen" (III, 9). 13 ) FLAMMERMONT, I I I 86 (14.111.1770). Siehe auch 1528,569 (9.IV.1753); I I 186 (4.IV. 1759); 562 (3. III. 1766); 575 (1.IV.1766); 664 (5.-8.XII.1766); 843 (18.-20.III.1768); 929 ( 6 . - 8 . V . 1 7 6 8 ) ; III 262f (8.1.1775). 14 ) Siehe z . B . den Artikel „Devoir" der Enc. méthodique: Logique, II (1787), 2 im Abschnitt „devoirs des sujets", ein wortreicher, im Ton vorrevolutionärer Text, wo dennoch sujet und citoyen ständig als austauschbare Begriffe verwendet werden.

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II. Der Aufstieg des ,citoyen': Von der Nützlichkeit zur Souveränität (1750-1789) Seit den 1750er Jahren begleitet die Sprachentwicklung den Mentalitätswandel in den Eliten. Die Philosophie der Aufklärung demonstriert diesen Wandel in höchstem Maße, sie bestimmt seine Ideale und sein Vokabular, allerdings nicht allein, sie ist ein Teil dieses Wandels. Der Begriff citoyen, in ein Begriffsfeld integriert, das durch die benachbarten Termini patrie, patriotisme, intérêt, vertu, bonheur bestimmt ist, gewinnt eine neue Bedeutung und rückt in eine Schlüsselstellung ein. Mit neuer Bedeutung wird er in der zweiten Hälfte des 18. Jh. im sozialen Wissen institutionalisiert, aufgewertet und zum vergesellschafteten Menschen schlechthin erhoben. Citoyen bezeichnet nun oft die allgemeine Eigenschaft des Menschen in der Gesellschaft (man wird in diesem Sinne von „classes de citoyens" und „simples citoyens" sprechen), eine fundamentale Eigenschaft, die durch andere Merkmale ergänzt werden kann, aber als übergeordnete Bezeichnung dient, um einer unveräußerlichen und auf die Allgemeinheit bezogenen Existenz Ausdruck zu geben15). Tritt sie in Konkurrenz zu anderen Begriffen auf, erhält die Bezeichnung citoyen gewöhnlich einen herausragenden Stellenwert. Eine Société d'Agriculture - so die jesuitischen Journalisten - kann dem Staat mehr Dienste leisten als alle literarischen Gesellschaften, „cela ne sera même contredit par aucun de ceux qui composent nos académies: car il est à croire que ces habiles gens sont encore plus citoyens qu'hommes de lettres." Auch die von Beaudau redigierte Zeitschrift der Physiokraten sieht dieselbe Werthierarchie: „Un Savant, un Littérateur, un Artiste, doit être Citoyen, et c'est de-là que dépend essentiellement le mérite de ses travaux; s'ils ne sont pas animés par les sentimens patriotiques, ils sont indignes de la récompense qu'on a coutume d'attendre." Und CHICANEAUDENEUVILLÉ erklärt dem Leser im Vorwort zur zweiten Auflage seines Dictionnaire philosophique, weil er ein nützliches Buch habe schreiben wollen, habe er „den obs-

15

) Die Duchesse de Bourbon verlangt vom König „moins une réparation comme Princesse que comme Femme et Citoyenne, dont la plus infime doit être respectée partout". BACH., XI155 (17.III.1778). Siehe auch VÉRI, 1 2 5 5 (4.III. 1775) u. II 124 ( 4 . V I . 1 7 7 8 ) .

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kuren Titel eines citoyen der so verlockenden Bezeichnung eines schöngeistigen Schriftstellers" vorgezogen 16 ). Was diese Wortbedeutung von weniger prägnanten Belegen unterscheidet, ist der zugleich moralische und gesellschaftliche Anspruch: der citoyen ist der nützliche Mensch, der das öffentliche Wohl und die Interessen der Gesellschaft, deren Teil er ist, fördert. Der adjektivische Gebrauch zeigt diese aktive Komponente: „Quand les hommes seront-ils assez sages, assez citoyens, pour s'occuper chacun [ . . . ] de ses propres intérêts et de la sûreté publique, sans qu'il soit besoin de règlements ni d'amendes?" 17 Das Dictionnaire von F É R A U D verzeichnet diesen Wortgebrauch und gibt dazu Beispiele aus Werken von Thomas und Raynal. Man stellt den „bon citoyen", den „citoyen zélé", „éclairé", „estimable", „patriote" . . . dem „mauvais citoyen" gegenüber, demjenigen, der dieses Namens ,unwürdig' ist18). Homme und citoyen: Der eine ist vom anderen nicht zu trennen, alle beide sind der Tugend und ihrer dynamischen Umsetzung, der bienfaisance, der Ausübung aller Pflichten des Menschen in der Gesellschaft, verpflichtet. Collé erklärt seiner Familie und seinen Freunden seine Heirat: „Ce mariage fait le bonheur de ma vie, J'aime ma femme et j'en suis aimé; nous allons vivre ensemble; je redeviens , pour ainsi dire, citoyen. " Der citoyen, „redevable à sa patrie [ . . . ] de sa vie, de ses talens et de sa manière de les employer", denkt nicht an Selbstmord. Der bon citoyen, so de Réal in seiner Science du gouvernement, ist „l'homme dans l'ordre, celui qui remplit les devoirs de son état. C'est le Laboureur industrieux et vigilant; l'Artisan laborieux et désintéressé [...]". Aber diese Pflichten gehen noch 16

) Vgl. nacheinander: Mém. Trévoux, IV (1754), S. 820; Ephémérides 16,1 244 (27.XII.1765); CHICANEAU D E NEUVILLÉ ( 2 1764), S. XIII. 17 ) A f f . Poitou v. 27.1.1724. 18 ) Man kann z. B. in den Mémoires secrets von Bachaumont, vor allem ab 1770, die außerordentliche Vermehrung dieser Ausdrücke verfolgen. Siehe dazu P. RÉTAT: Les jésuites et l'économie politique: Les Mémoires de Trévoux, 1750-1762, in: Études de la presse au XVIIIe siècle, No 2, Lyon 1975, S . 129-43 und J. SGARD (ed. ) : La Presse provinciale au XVIIIe siècle, Grenoble 1983, bes. S. 49-77. - Zu citoyen-patriote siehe auch Éphémérides No 15, II237 (21. II. 1766) : „L'homme le plus respectable et le plus solidement heureux, est le vrai Patriote, honnête, juste, compatissant, qui chérit en général l'humanité parce qu'il est homme, qui respecte les loix de son pays et s'affecte de tous les intérêts publics parce qu'il est citoyen." 84

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weiter, sie umfassen die gesamte Gesellschaft und selbst die Menschheit; sie implizieren, daß der citoyen zur Verbesserung der Lebensumstände aller Menschen beiträgt, zur Bevölkerungsvermehrung, zur Gesundheitsfürsorge, zur Verbesserung der Lebensmittelversorgung. Durch Zeugung, Erziehung und Zuwachs des Wissens entsteht so eine Kette sozialen Fortschritts. Diderots „Père de famille" beklagt, daß die Klöster die Ansprüche der Gesellschaft hintertrieben, und ruft aus: „Et qui la repeuplera de citoyens vertueux, si les femmes les plus dignes d'être mères de famille s'y refusent?" Provinziale Journalisten erhoffen sich von Fortschritten der Frauenerziehung bessere Bürger - „citoyennes qui formeraient à la patrie de meilleurs citoyens". Der Redakteur der Affiches du Poitou begründet seine Vorschläge neuer Anbauformen in der Landwirtschaft durch ihren Nutzen für seine Mitbürger: „un recueil précieux, que les bons citoyens estimeront"; andererseits denunziert er die „mauvais citoyens", die auf ihren Vorbehalten gegen die Impfungen beharren19). Um zu handeln, erwirbt der citoyen Kenntnisse: Durch die Erfahrung, durch Bücher, durch den Besuch der Akademien. Ein optimistischer Schwung beflügelt die Texte dieser vorrevolutionären Jahrzehnte, ein absoluter Glaube an die Erziehung und die wohltätigen Folgen des Wissens20). „Ne nous lassons donc point de parler en faveur de l'utilité générale, et d'en indiquer les moyens; que tous les bons citoyens se réunissent pour s'éclairer mutuellement, pour s'occuper de leurs vrais intérêts, qui ne consistent que dans la prospérité de la chose publique. " In der Schweiz hat sich eine société de citoyens gebildet, „pour concourir à répandre la connaissance des vérités les plus utiles aux hommes"21). Deshalb erklären sich Autoren und Journalisten so oft zu citoyens-, eine Bibliographie der Titel, in denen das Wort auftaucht, wäre sehr aufschlußreich22). In den zahllosen Ge19

) Vgl. nacheinander: COLLÉ, II 91 (V.1757); ALLETZ: Encyclopédie (1761), S . 72; Mém. Trévoux (1761), S . 22; DIDEROT: Le Père de Famille, Acte III, sc. 1 (1758); Aff. Angers vom 19.IX.1779, 8.XII.1774, 22.IX.1774. M ) Siehe dazu J. SGARD: La presse provinciale et les lumières, in Ders. (ed.): La presse provinciale [18], S. 63f. 21 ) Vgl. nacheinander: Aff. Poitou vom 1.XII.1774; BACH., II 258 (8.XI. 1765). Siehe auch ebd. V17 (26.XI. 1769) : Im Essai sur les préjugés „on établit que la vérité n'est pas moins nécessaire aux souverains qu'aux sujets [...]; que le citoyen doit la vérité à ses concitoyens". 22 ) Siehe zu einigen signifikanten Beispielen unter den von den Mém. Trévoux rezensierten wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten: P . RÉTAT [18], S. 158-62. 85

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dächtnisfeiern der Epoche haben die Lobreden in den Akademien das Ziel, den Eifer anzustacheln. Sie geben Vorbilder für alle Stände und Schichten': „Les vrais citoyens désireraient d'y obtenir une place. Cet honneur, parmi nous, suppléerait aux statues de l'ancienne Rome"23). Eingebettet ist dieses Ideal letztlich in eine Ethik und praktische Lebensführung, welche die Bereicherung durch ,Künste' und Gewerbe zum Ziel hat. Die Mémoires de Trévoux illustrieren in den 1750er Jahren die Verbreitung dieser neuen Moral selbst in den sehr traditionsverhafteten Teilen der Gesellschaft sehr deutlich. In zahlreichen Texten tritt der citoyen in Verbindung mit den Begriffen commerce, concurrence, industrie, richesse, puissance, prospérité, patrie, nation. Hinsichtlich der Handelsfreiheit schreiben die Jesuiten klar und deutlich: Mettez les hommes en concurrence, vous intéressez tous leurs sentimens, vous animez tous les ressorts de leurs connaissances et de leur industrie, vous faites de vrais citoyens; et de-là quelles conséquences pour le bonheur de la Patrie!24) LACOMBE DE PRÉZEL will in seinem Dictionnaire du citoyen die Prinzipien des Wohlstands der Nationen' aufzeigen, alle Bürger an deren Erfolg Anteil nehmen lassen und sagt voraus: „Chaque citoyen y trouvera en quelque sorte l'inventaire de ses richesses"25). Dieser so sehr seiner Pflichten bewußte Bürger, wird er nicht eines Tages seine Rechte einklagen und seine Pflichten als sujet vergessen? Der Bedeutungsakzent des citoyen-Begriffs scheint nun mit wachsendem Nachdruck auf der .Freiheit' als absoluter Vorbedingung zu liegen. HOLBACH schreibt in der Politique naturelle:

Il n'est de vrais sujets que pour des souverains légitimes; et il n'est des souverains légitimes, que lorsqu'ils gouvernent les peuples de leur consentement, 23

) THOMAS: Essai sur les éloges (1773), zitiert nach J. C. BONNET: Naissance du Panthéon, in: Poétique 33. 1978, S. 48.

24

) Mém. Trévoux, IV (1754), S. 808. Siehe dazu P. RÉTAT [18], S. 1 2 9 - 4 3 .

Die Encyclopédie oeconomique (1770) beginnt in einer physiokratischen Sprache folgendermaßen: „Le voeu du sage, du vrai Citoyen, doit être celui de se conformer au but excellent du Créateur, qui est de procurer sur la terre, au plus grand nombre possible d'hommes, la plus grande variété de jouissances possibles." (Bd. I, S. III). Aber die physiokratischen Schriften ziehen eindeutig den Begriff propriétaire dem Begriff citoyen vor. 25) LACOMBE DE PRÉZEL: Dictionnaire

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du citoyen (1761), I S. XXIIIf.

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ou quand la volonté du chef est l'expression fidèle de celle de la société; en obéissant à des loix qu'elle approuve, le sujet peut se dire citoyen; il existe pour lui une Cité, une Patrie. 26 ).

Diese Aufwertung und Freisetzung des citoyen mußte über kurz oder lang zu Lasten der mit dem Begriff sujet verbundenen Unterwerfung gehen. Überdies prangerte die anti-religiöse Kampagne ohne Unterlaß die politischen Konsequenzen eines Bündnisses von Thron und Altar an, das nach Holbach .Despoten' und „sujets abjects, malheurex et méchants" zur Folge habe 27 ). Man registriert deshalb bei den Interpreten der Orthodoxie einen offensichtlichen Rückgang und eine Abkühlung ihrer Begeisterung für den citoyen sowie den Willen, ihn in die rechten Grenzen religiösen und politischen Gehorsams zurückzuführen. Die Mémoires de Trévoux mißbilligen „ce ton général d'attention et de plaintes sur les choses qui tiennent à la paix publique. Il ne faut point tant de lumières dans le corps des citoyens". Der Abbé C O Y E R beschwert sich über die Ratschläge, die der Père Berthier an den König richtet: „Défiez-vous" - so sagt er zum König - „de ceux qui, au vieux idiome de bons français, de bons serviteurs du Roi, ont substitué celui de Patriote et de Citoyens. A qui adresse-t-il l'avis? A un Roi qui s'offenseroit, si on cherchoit à lui plaire sans être citoyen; si on vouloit le servir sans servir la patrie; à un qui Roi se regarde comme l'ame des citoyens." Dem citoyen der Aufklärer wird der citoyen der Religion gegenübergestellt: „Le vrai Citoyen est celui qui adore son Dieu, qui honore son Roi, qui respecte la Religion, qui aime l'Etat, qui ne trouble jamais l'harmonie ni par des écrits irréligieux, ni par des discours téméraires." 28 ) Eine andere Schwierigkeit verbindet sich noch mit der Definition des Begriffs citoyen, die in Zukunft bedeutsam werden sollte: Können alle Mitglieder des Staates gleichermaßen ,Bürger' sein? Die Bezugnahme auf die Antike ebenso wie das Genfer Beispiel führten dazu, den Vorteil des Bürgerrechts zu begrenzen. D I D E R O T S Artikel in der Encyclopédie erinnerte daran, daß die Athener in der Verleihung M

) Ed. London 1773, T. I, Disc. IV, S. 160; siehe auch Ders.: Morale universelle, ed. 1820, II/3, S. 54. 27 ) HOLBACH: Le Bon Sens (1772), Kap. 145. M) Vgl. nacheinander: Mém. Trévoux, VII (1761), S. 1603; Abbé COVER: Lettre au R. P. Berthier sur le matérialisme (1759), S. 56, L. A. CARACCIOLI: Dictionnaire critique ..., Lyon 1768,1 49. - Nach einer Predigt des Erzbischofs d'Embrun, macht nur die Religion „des Citoyens pour l'Etat" (BACH., V 81,18.111.1770).

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dieses Rechts sehr zurückhaltend waren und es nicht entwertet hätten. Er räumte ein, daß nach Aristoteles der Zugang zur Staatsverwaltung den wahren citoyen kennzeichnete, „On n'a aucun caractère distinctif du sujet et du citoyen, sinon que ce dernier doit être homme public.". De FÉLICE stellt im Artikel „Citoyen" der Encyclopédie von Yverdon fest, „qu'un corps politique bien gouverné ne doit pas admettre à ce rang une vile populace". Da der citoyen der Aufklärungsphilosophie, wie er sich in der zweiten Hälfte des 18. Jh. herausbildet, einer sozialen Elite angehört, unterliegt er dem Auswahlkririum des Eigentums. Der Brief eines Lesers des Journal encyclopédique gibt dafür ein aufschlußreiches Beispiel: Man muß annehmen, ,,qu' il y a des qualifications requises pour le titre de citoyen, et que c'est là ce qui en constitue la dignité. Voulés-vous qu'il convienne à tout le monde? Il sera alors le synonime, ou à peu près, du mot homme, et n'aura dans aucun degré l'énergie qu'il eut à Rome, à Athènes, à Sparte. [ . . . ] Ainsi, sans liberté point de Citoyens. Allons plus loin. La propriété ne serait-elle pas encore une qualification ordinairement indispensable? Je le crois." Und H O L B A C H schreibt im Système social: „Tout homme qui a de quoi subsister honnêtement du fruit de sa possession, tout père de famille qui a des terres dans un pays, doit être regardé comme citoyen [...]. C'est le sol, c'est la glèbe qui fait le citoyen." Wer nichts besitzt, kann sich an kein Vaterland binden, denn „c'est l'amour de la patrie qui fait le citoyen" und „une politique éclairée devrait faire en sorte que le plus grand nombre des citoyens possédât quelque chose en propre" 29 ). Insgesamt wird der Begriff citoyen in der zweiten Hälfte des 18. Jh. neu gefaßt und überhöht, jedoch in einer Perspektive, welche die klassische semantische Struktur nicht grundsätzlich in Frage stellt. Anders ist es in den Werken des ,Bürgers von G e n f , der, wie er am Anfang des Contrat Social sagt, als „citoyen d'un Etat libre, et membre du Souverain" geboren ist30). Seine Werke setzen einen 29

) Vgl. nacheinander: J. encyclopéd. vom 15.VI.1766, S. 128; Holbach: Système social (1773), II 52; Ders.: Système de la Nature (ed. 1821), 1173; Ders.: Morale universelle (ed. 1820), II 187. Der Reiche ist mehr citoyen als ein anderer (ebd. II 160). 30 ) ROUSSEAU: Oeuvres (Pléiade), I I I 351 (alle folgenden Rousseau-Zitate nach dieser Ausgabe). Zum Charakter des ,Genfer Bürgers' und zur Ausbildung der politischen Philosophie Rousseaus siehe M . LAUNAY: J. J. Rousseau écrivain politique, 1712-1762, Grenoble 1971, S. 34ff und allgemeiner Ders.: Le vocabulaire politique de J. J. Rousseau, Genf 1977 (Stichworte Citoyen und Sujet). 88

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Prozeß in G a n g , dessen Zäsurwirkung erst mit der Revolution voll sichtbar werden wird. R O U S S E A U geht von einer bitteren und dramatischen Feststellung aus: „ O ù il n'y a plus de patrie il ne peut y avoir de citoyens. Ces deux mots, patrie et citoyen, doivent être effacés des langues m o d e r n e s . " Dieses Defizit in der Sache läßt die daraus abgeleitete Idealforderung u m so deutlicher hervortreten: Die W o r t e in ihrer striktesten Bedeutung verwerfen jegliche Vulgärbedeutungen, mit denen man sie befrachtet hat. Le vrai sens de ce mot s'est presque entièrement effacé chez les modernes; la plupart prennent une ville pour une Cité [...]. Je n'ai pas lu que le titre de Cives ait jamais été donné aux sujets d'aucun Prince [...]. Les seuls Français prennent tout familièrement ce nom de Citoyens, parce qu'ils n'en ont aucune véritable idée, comme on peut le voir dans leurs Dictionnaires, sans quoi ils tomberoient en l'usurpant dans le crime de Lèze-Majesté: ce nom chez eux exprime une vertu et non pas un droit. Ein schroffer und ergreifender Text, den m a n später oft a n f ü h r e n wird und der unbarmherzig mit allgemein akzeptierten Kompromissen bricht. D u r c h seine Teilhabe a der volonté générale am „moi comm u n " des Gemeinwesens definiert, n u n m e h r Quelle und Stütze des öffentlichen Rechts, sprengt der citoyen die B a n d e , die ihn an den monarchischen , U n t e r t a n ' b a n d e n . E r bleibt wohl sujet, „ c o m m e soumis aux lois de l ' E t a t " , aus seinen Rechten erwachsen Pflichten; aber es handelt sich dabei nur u m zwei unteilbare Gesichter desselben Vertragschließenden, der nur ,Untertan' wird, weil er zuvor die souveräne Gewalt ausgeübt hat. „L'essence du corps politique est dans l'accord de l'obéissance et de la liberté, et [ . . ] ces mots de sujet et de souverain sont des corrélations identiques dont l'idée se réunit sous le seul m o t de Citoyen" 3 1 ). Dieser strengen Idee entspricht ein aufgewertetes, faszinierendes Bild des citoyen, das seine Energie aus der römischen A n t i k e bezieht. Die Liebe zur ,Freiheit', zum ,Vaterland' und den .Gesetzen" beherrschen das Bild des citoyen, dies ist seine einzige Leidenschaft, diese Liebe läßt die großen Persönlichkeiten entstehen. D a s grundlegende politische Problem besteht in den Institutionen, welche die Bürger determinieren 3 2 ). D e m g e g e n ü b e r erscheint der sujet (außer31

) Vgl. nacheinander: Émile, IV 250; Contrat Social, I, 6 note (III 361); ebd. I, 7 (S. 363); ebd. III, 13 (S. 427). 32 ) Siehe insbesondere die Considérations sur le gouvernement de Pologne (1771), III 955-70. 89

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halb seiner theoretischen Gleichsetzung mit dem citoyen) in pejorativer Bedeutung, als entarteter citoyen, der durch Hang zur Ruhe, durch Zaghaftigkeit, sich seiner Rechte entäußert und sich der Regierung unterwirft: „Les sujets vantent la tranquillité publique, les citoyens la liberté des particuliers." Der seiner Rechte enteignete citoyen und der sujet sind nur die trügerischen Abbilder des,Sklaven' : „Pour vous, peuples modernes, vous n'avez point d'esclaves, mais vous l'êtes." 33 )

III. Die Revolution: Der Zenit des ,Citoyen'-Begriffs Am Vorabend der Revolution ist der Begriff des citoyen im politischen Diskurs noch weit davon entfernt, die dramatischen Alternativen des Contrat Social widerzuspiegeln. R. Robin hat klar die Zweideutigkeiten wie auch die funktionale Einheit des citoyen-Begiiiis in den cahiers de doléances des Auxois herausgearbeitet: Verringerung der Ungleichheiten im Steuer- und Gerichtswesen bei gleichzeitiger Beibehaltung der sozialen Unterschiede; über solche Mehrdeutigkeit hinaus bildet der affektiv aufgeladene citoyen-Begriii den Angelpunkt, in dem alle Elemente der geforderten Rechtsgleichheit zusammenlaufen 34 ). In bewundernswerter Weise gibt SIEYÈS diesem revolutionären Bewußtsein Ausdruck, in dem die Rechtsgleichheit ihrer selbst bewußt wird und auf die Politik übergreift. In seinem Qu'est-ce que le tiers état (Januar 1789) wird der citoyen zur Zentralfigur dieser Forderung. Hin und wieder im allgemeinen Sinn von ,einzelne Glieder der Gesellschaft' gebraucht, gewinnt das Wort eigenständige Kraft in Verbindung mit den Ideen der,Gemeinschaft', der ,Gleichheit', des ,Dritten Standes' und der ,Nation'. „Les avantages par lesquels les citoyens différent entre eux sont au delà du caractère du citoyen." Der Dritte Stand, d. h. die ,einfachen Bürger', haben nur das Allgemeinwohl im Blick: Die Bedingung der Gleichheit wird postuliert, um in die Sozialordnung einzutreten, um das aktive Wahlrecht wahrzunehmen und um seine politischen Rechte auszuüben. Davon schließt sich der Privilegierte selbst durch sein Privileg aus, weil er nur das Einzelinteresse im Auge hat.

») 34

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)

Contrat Social, III, 9; III, 4; III, 14; III, 15. La Société française en 1789: Semur-en-Auxois, 334 u. 3 2 9 - 3 5 .

R . ROBIN:

Paris 1970, S.

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Combien il serait aisé de se passer des privilégiés! Combien il sera difficile de les amener à être citoyens. [.. ] Le voeu du tiers sera toujours bon pour la généralité des citoyens, celui des privilégiés serait toujours mauvais, à moins que, négligeant leur intérêt particulier, ils ne voulussent voter comme de simples citoyens, c'est-à-dire comme le tiers état lui-même.35) Der Ausdruck simple citoyen gewinnt also eine neue Bedeutung als Kurzformel für Rechte in der Gesellschaft, für die Zugehörigkeit zur Nation. Noch bevor diese juristische und politische Maxime in der Déclaration des droits ihre feierliche Bestätigung findet, wird sie seit Beginn der Revolution von einer Vielzahl von kleineren Schriften verbreitet. Läßt die Broschüre La Liberté du Peuple die soziale Unterscheidung nach Geburt und Rang im allgemeinen noch gelten, so schließt sie sie für die Generalstände aus: Toute distinction cesse. Tout est citoyen, ou doit l'être, et quiconque ne l'est pas doit être exclu. Le titre de Citoyen est le seul qui convienne aux membres d'une Assemblée Nationale [...], on ne peut concevoir un Etat sans Citoyens, et ce sont eux seuls qui forment le corps politique.36) Seit Juli 1789 überflutet der Begriff citoyen den Diskurs der Revolution in dem Maße, daß eine Analyse im Rahmen dieses Beitrags kaum möglich ist. Eine Gesamtstudie wäre erforderlich, die allen Nuancen des Wortes nachgehen müßte, seinen lexikalischen Korrelationen, dem Gebrauch des Begriffs je nach Gesinnung und Augenblick 37 ). Einstweilen ist festzustellen, daß der citoyen zum wesentlichen Träger der Revolution wird. Er definiert sich durch ein bestimmtes Handeln und Verhalten: Der Begriff enthält eine dynamische Komponente, wie sie etwa der Bericht der Révolutions de Paris über die Journées vom 12. bis 17. Juli zum Ausdruck bringt. Die 35

) SIEYÈS: Qu'est-ce que le Tiers Etat?, ed. CHAMPION, 1888, S. 88, 78, 93. ) Vgl. nacheinander: La Liberté du Peuple, S. 9; L'Aristocratie magistrale (Mai 1789), S. 32: „La noblesse sentira que son premier titre est celui de Citoyen". Ebenso Saint-Jean Bouche d'Or, S. 44: „Abolissez ces trois ordres, et n'ayez que des Citoyens."; Catéchisme des trois ordres (Januar 1789), S. 29. Der Artikel von D. SLATKA: L'enjeu du conflit entre l'ancien et le nouveau - la figure moderne du citoyen", in: Elseneur, Université de Caen 1983, S. 60-94, zeigt, wie sich diese Haltung in den Texten zwischen dem 20. und 23. Juni 1789 niederschlägt. 37 ) Siehe etwa BCAD 2 (1975): Sur la Révolution française. Darin: J. MANcuso: Les chansons révolutionnaires (1789-1794), S. 87-102; J. L. RENAUDIE: ,Le Courrier' de Gorsas (4 août 1792 - 11 août 1792), S. 1033é

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postulierte Gleichheit gewinnt Gestalt in der Euphorie und dem Überschwang der Einheit sowie im Anblick der bewaffneten Menge : Cent mille citoyens ce jour là [17 juillet] portoient les armes dans la capitale [.. ]; gardes françaises, milices bourgeoises [...]> tous étoient confondus, mêlés, sans distinctions; tous étaient amis; tous étaient citoyens [...], les riches accueillaient les pauvres avec bonté; les rangs n'existoient plus, tous étaient égaux.

Bevor der citoyen sich diesen Gefühlen hingeben kann, ist er ein Freiheitskämpfer, an den der Journalist - das Gewissen der Revolution - seinen Appell richtet: De vils courtisans, souillés de vices et d'opprobres, pourroient-ils donc être vainqueurs contre des légions de citoyens [...]? Ne craignez point, nation courageuse; intrépides citoyens, la liberté vous attend.

Die Aufforderung hallt endlos wider, genau wie die Marseillaise, denn auch die Verteidigung der Freiheit kennt keine Grenzen. Der citoyen-soldat, der soldat-citoyen sind notwendige Wortschöpfungen der militanten Revolution. ,Mut', Patriotismus', .Energie' sind die immer wieder angeführten Eigenschaften des citoyen, ab 1792 werden sie den Sansculotten zugeschrieben. M A R A T ruft im Ami du Peuple aus: „N'oubliez jamais que tout citoyen en état de porter les armes est soldat né de la patrie, qu'il doit être armé pour la défense commune."38) Sprachinteressierte Beobachter registrieren sehr feinfühlig die semantische Innovation. Nicht ohne Spott bemerkt CHANTREAU Ende 1790 in seinem Dictionnaire national et anecdotique: „Sous l'ancien régime on ne savait ce que c'était", und er macht bissige Bemerkungen über den civisme der kleinen Ehrgeizlinge (Art. „Citoyen"). Man konstatiert die Entwicklung von der alten Bedeutung zum „sens allégorique et nouveau [...] qui fait de cette expression l'équivalent de patriote"39). Indem der citoyen endgültig seinen Bezug zu der ,Stadt' und dem .Bourgeois' verliert, bezeichnet er im Sinne Rousseaus nur noch das Mitglied des Gemeinwesens, der Nation. So schreibt ein Journalist als Kommentar zu Rousseaus Contrat Social (1,6):

38) Vgl. nacheinander: Räv. ParisNo 1 (12.-17.VII.1789),S. 32;ebd.,S.5; Ami du Peuple No 160 (12.VII. 1790), S. 3 Siehe dazu auch J . MANCUSO [37]. M) CHANTREAU (1790), S . 31ff; LAMAILLARDI£RE (1794), S . 8 - 1 1 .

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Le mot citoyen exprime la qualité d'un individu, considéré comme participant au pouvoir législatif ou souverain. C'est donc une absurdité de se dire citoyen de Paris, par exemple, ou de telle autre ville. Nous sommes citoyens de France, parce que c'est comme Français que nous participons au pouvoir législatif [ . . . ] . Ce n'est donc pas comme citoyen qu'on délibère aujourd'hui dans les districts, puisqu'il ne s'agit pas d'objets qui intéressent la France; c'est comme membre de la commune, puisqu'il s'agit de régler les affaires particulières de la ville de Paris.

Das Wörterbuch von GAUTIER (1791) stellt den revolutionären Inhalt des Begriffs in den Zusammenhang der politischen Grundrechte: Citoyen ist der „titre de l'homme libre en société", d. h. der citoyen ist derjenige, „der Teil hat an der Gesetzgebung". Der Begriff sujet wird durch eine einfache Gleichsetzung überflüssig: „L'homme qui n'est point citoyen est esclave", was heißen soll: „Les Français n'étaient pas citoyens, avant la révolution qui leur a rendu l'exercice de leurs droit naturels". Klarer kann man die Sprache der alten Monarchie nicht zurückweisen, und die Initiatorrolle Rousseaus, auf die sich dieser Artikel beruft, wird einmal mehr überdeutlich 40 ). Gleichzeitig unterliegt der Begriff sujet einem tiefgreifenden Wandel. Seine semantische Gleichwertigkeit zu citoyen, welche die Monarchie und selbst ihre Gegner mit Bedacht beibehalten hatten, verliert sich rasch. Hatten die cahiers de doléances noch an die „väterliche Güte" des Königs appelliert, „der auch für seinen geringsten Untertanen sorge", so wird der Begriff bald darauf ganz auf die „souveräne Nation" ausgerichtet, wie P É T I O N am 26.III. 1791 in der Nationalversammlung verkündet: „Des citoyens libres ne sont sujets que de la loi; en corps ils ne sont pas sujets d'un roi; en corps ils sont souverains." GAUTIER nimmt in Artikel „Sujet" seines Wörterbuchs die Rousseausche Unterscheidung auf: „[en France] tout est à la fois citoyen et sujet". Gleichzeitig endet die Rolle des Königs als Verkörperung der Souveränität: Es gibt keine Untertanen mehr, der König selbst ist Untertan. Man entrüstet sich, daß er Franzosen weiterhin „seine Untertanen" nennt: „Vingt fois j'ai réclamé contre cette expression indécente." Die Bürger sollen lernen, „que ces termes avilissans d'un maître à ses esclaves doivent être rayés pour jamais de tout acte qui émane de l'homme de la Nation [...]. C'est le Roi, dont on abuse, qui est le sujet de la Nation, le mandataire du Peuple; il est

«) Rév. Paris No 6 (23. V I I I . 1789), S. lOf; GAUTIER (1791), S. 72ff.

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soumis, plus que tout autre, à sa volonté souveraine [.. ]. La Nation sujette d'un individu! C'est un blasphème en politique." 41 ) Nur in Beziehung zum ,Gesetz' ist der sujet jetzt noch denkbar. Andererseits tendiert das Wort dazu, in pejorativer Bedeutung die Abhängigkeit vom despotischen Willen eines Einzelnen zu bezeichnen, wie die Definition des Journal de Paris zeigt: „Dans la langue française, c'est un homme soumis à toutes les volontés d'un autre homme." Als bemitleidenswerte .Untertanen' in letzter Konsequenz gelten nun die früheren Opfer der Staatsgefängnisse: „II fallait remplir la Bastille, il fallait faire voir à ces vils atomes qu'on appelle sujets la grandeur et la puissance de leur maître." Doch nicht nur das Ancien Régime, auch die gewählten Volksvertreter, die zu vergessen scheinen, daß die Souveränität bei ihren Wählern liegt, werden gleichfalls der ,Untertanen'-Politik verdächtigt: „II semble que dès qu'un homme a franchi le perron de l'hôtel de ville, il ne regarde plus ses commettans que comme sujets." 42 ) Gerade die fundamentale Antithese, die im Bedeutungsgegensatz der Begriffe souveraineté und esclavage liegt, unterstreicht die herausgehobene Stellung des citoyen. „Souvenez-vous, jeunes français, qu'il ne doit pas exister plus de ressemblance entre l'enfant d'un esclave et l'enfant d'un citoyen, qu'entre l'animal et l'homme" 43 ). Infolgedessen lassen die von der Nationalversammlung ersonnene Unterscheidung zwischen Aktiv- und Passivbürgern sowie das Silbermarkdekret zur Wählbarkeit die Emotionen hochschäumen und stehen am Anfang einer langen, bis 1792 dauernden Krise: Es geht um die Rechte des Bürgers, um Gleichheit und Souveränität. Am 5. Dezember 1789 ge-

41

) Vgl. nacheinander: Cahiers Gisors, S. 169 (25.III.1789); Moniteur No 86 (27.III.1791), VII726; G A U T I E R (1791), Art. „Sujet"; R O B E R T : Le Républicanisme adapté à la France (1790), S . 50; LAVICOMTERIE: DU Peuple et des Rois (1790), S. 47f. - Siehe auch den Kommentar der Zeitung Les Indépendans No VI (19.IV. 1791), S. lff zu der Rede Pétions in der Nationalversammlung am 26. März: Pétion wolle mit seiner Aussage, der Ausdruck „sujets du roi" gehöre zur „langue des esclaves", dieses Wort verabscheuungswürdig machen und „der Volksmeinung schmeicheln". Dem König unterworfen zu sein - so betonte Cazalès gegen Pétion, bedeute dem Gesetz unterworfen zu sein (Moniteur vom 27.III.1791 wie oben). 42 ) J. Paris No 87 (28.111.1791), S. 3; J. L. C A R R A : Mémoires historiques et authentiques sur la Bastille (1789), I 266; Rév. Paris No 15 (24.X.1789), S. 13. «) Journal républicain ...de Rhône et Loire No 37 (24.III. 1794), S. 256.

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ben die Révolutions de Paris den Ton an und zeigen, was auf dem Spiel steht: „Français [...]! Car désormais je ne puis appeler citoyens des hommes destinés à l'esclavage, Français! Vous n'avez été libre que peu de jours." Die Bouche de fer prangert eine mörderische Unterscheidung der Bürger an: „C'est un adjectif passif qui tue le substantif [...]. Vous ne pouvez donc pas être citoyens, que vous ne soyez actifs, et jouissans du droit politique, du droit de cité, du droit de liberté."44) M A R A T kämpft gegen das .ungerechte Dekret', das barbarische Dekret', das die ,Rechte des Armen' opfere: „II ne restera donc dans l'état qu'un trés-petit nombre de sujets, qui pourront prétendre à l'honneur d'être citoyens." Nur wählbare Bürger seien keine Sklaven, und Marat prägt den neuen Ausdruck „citoyen lézé", um den durch jenes Gesetz aus dem Vaterland ausgeschlossenen Bürger zu bezeichnen, einem Vaterland, dem der citoyen nichts mehr schuldet«). Die Frage einer Abstufung des Bürgerrechts nach dem Besitz verweist auf die ältere Konzeption des citoyen-propriétaire. Man rechtfertigt die Unterscheidung zwischen Aktiv- und Passivbürgern damit, daß Eigentum Unabhängigkeit gewährleiste46). Der citoyen steht also im Mittelpunkt einer Debatte zwischen der bürgerlichen Mehrheit der Nationalversammlung und denjenigen, die die Rechte der Armen einklagen. Die Flugschrift Le Tombeau du Despotisme stellt 1789 „les pauvres, les faibles, tous les vrais citoyens" auf die Bühne. M A R A T sieht die staatsbürgerliche Tatkraft im petit peuple verkörpert, der am glaubwürdigsten und zähesten seine Rechte einfordert: Ce n'est pas avec de vieux esclaves qu'on fait des citoyens libres. Il n'y a donc que les cultivateurs, les petits marchands, les artisans et les ouvriers, les manoeuvres et les prolétaires, comme les appelle la richesse insolente, qui puissent former un peuple libre, impatient du joug de l'oppression et toujours prêt à le rompre. *>) Rév. Paris N o 21 (28.XI.-5.XII.1790), S. 2; Bouche de Fer N o 68 (17. V I . 1791), S . 4 - 6 . - MERCIER wird den Ausdruck wieder aufnehmen: „l'adjectif tuait le substantif. Ah! Les vrais citoyens sont ceux qu'ont pris la Bastille." (Nouveau Paris, 1798, III 239). 45 ) Ami du Peuple N o 149 (30.VI.1790), 3ff; No 527 (5.VIII. 1791), S. 2; N o 583 (26.X.1791), S. 4 - 7 . ^ CHAPTAL: Catéchisme (1791), S. 50: „Pourquoi faut-il payer une contribution pour être citoyen actif? Celui qui contribue à la fortune publique semble devoir y influer plus qu'un autre, il a du moins plus d'intérêt à la défense."

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dehnte den politschen Titel auf die armen Bauern aus:

Deux pauvres bougres que l'on appelloit dans l'ancien régime des paysans, qui s'intitulent aujourd'hui citoyens, et qui le sont plus, foutre, que les plus huppés personnages, puisqu'ils nous nourissent. 47 )

Das generelle Verhältnis der Begriffe citoyen und peuple ist schwer zu präzisieren; die Textanalyse zeigt Variationen und Zweideutigkeiten. Nach dem 14. Juli weisen die Révolutions des Paris auf die Gefahr einer Selbstjustiz des Volkes hin: „que le peuple, trop peu éclairé pour se conduire, se laisse guider par les citoyens; notre cause est la même, nous ne pouvons le tromper." Als Mann der Ordnung lehnt der citoyen Gewalt ab 48 ). Bezeichnenderweise hütet sich dieselbe Zeitung bei ihrer Warnung vor einem neuen ,Despotismus' des aufständischen Volkes, den mit einem negativen Prädikat unvereinbaren Begriff citoyen zu gebrauchen 49 ); der citoyen muß makellos bleiben. Auch in radikalen Zeitungen wird das Volk in Aktion negativ gesehen; die citoyens bilden nur den aktivsten und bewußtesten Teil des Volkes als politische Größe; das ideale , Volk' verkörpert die Gerechtigkeit, den citoyens obliegt die Verteidigung der Freiheit. Girondisten äußern Angst vor diesem dynamischen , Volk' der Jakobiner, Robespierres, Héberts, Roux', das die bons citoyens einschließt50). Als Hüter der öffentlichen Freiheit steht der citoyen in einem konfliktreichen und schwierigen Verhältnis zur , Regierung' im Sinne Rousseaus. Man rühmt seinen Gehorsam im Rahmen eines durch die Gesetze harmonisierten Staatswesens. „Dans une République, le Citoyen est soumis au magistrat, le magistrat au Peuple, et le Peuple à la Justice." „Le vrai citoyen est celui qui, soumis de coeur et d'esprit 47

) Vgl. nacheinander: Le Tombeau du Despotisme, (1789), S. 6; Ami du Peuple No 451 (7.V.1791), S. 8; Père Duchesne No 291 (30.IX.1793), S. 4. 48 ) Rév. Paris No 2 (25. VII.1789), S. 6. - In der Correspondance secrète sind die Ausdrücke „bons citoyens", „citoyen paisible" zwischen 1789 und 1792 oft mit dem Sieg der ,Freiheit' verbunden, gleichzeitig aber mit .Mäßigung' und dem Willen, die Ordnung zu wahren (siehe II 581, 18.11.1792; II 601,16.11.1792). 49 ) Rév. Paris No 6 (23.VIII.1789), S. 2. Siehe dazu auch J. L. RENAUDIE [37]: „il n'y a pas de champ social spécifié attaché aux citoyens. C'est avant tout une notion politique." (S. 104-114). 50 ) J. GUILHAUMOU: Le Langage du Contrat Social, in: Peuple et Pouvoir, Lille 1983, S. 138 u. 49; und Ders. : Moment actuel et processus discursif, in: B C A D 2,1975, S. 150-70.

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à la lettre de la loi, ne se permet pas d'en interpréter même le sens implicite, et commence par obéir." Der Gehorsam gegenüber dem b e setz' bedeutet für den citoyen aber auch stets Mißtrauen gegen jene, die er zur Verabschiedung und Ausführung des ,Gesetzes' gewählt hat. „La plus belle fonction du citoyen, c'est de dénoncer les abus que commettent ceux que le peuple a honoré de sa confiance." „Veiller est le devoir de tout bon citoyen." Deshalb muß er sich ungerechten Anweisungen widersetzen und Machtmißbrauch anprangern: MARAT kann nicht begreifen, daß ein Mensch „kein citoyen, sondern eine Macht sein solle": Der König ist nur ein „privilegierter Bürger, den man durch den ersten besten ersetzen kann. In seiner ersten Konventsrede zum Prozeß gegen Louis XVI. verlangt SAINT-JUST, diesen nicht als citoyen, sondern als „Feind des Volkes" zu verurteilen, da er nicht Vorteile aus Gesetzen ziehen könne, die er selbst zerstört habe 51 ). Nichts verbindet mehr die Begriffe souverain und prince. In letzter Konsequenz wird die Eigenschaft des citoyen unvereinbar mit der Ausübung eines öffentlichen Amtes überhaupt: On dit ordinairement: le citoyen est celui qui participe aux honneurs, aux dignités; on se trompe. Le voici, le citoyen: c'est celui qui ne possède pas plus de bien que les lois ne permettent d'en posséder; celui qui n'exerce point de magistrature et est indépendant de la responsabilité de ceux qui gouvernent. Quiconque est magistrat n'est plus du peuple. Il ne peut entrer dans le peuple aucun pouvoir individuel [ . . . ] Lorsqu'on parle à un fonctionnaire, on ne doit pas dire citoyen; ce titre est audessus de lui.52)

So politisch, wie der citoyen hier erscheint, so stark wird er von den Revolutionären allgemein aufgewertet: Er vereinigt und verkörpert die Leitideen der Revolution, das Ideal der altrömischen vertu, der Unterordnung der Eigeninteressen unter das Gemeininteresse, die Einsatzbereitschaft für das Vaterland. Es ehrt Lafayette, daß er die ihm angebotene Bezahlung abgelehnt hat: „C'est ainsi que l'on sert en citoyen. Ainsi servait le vertueux Cincinnatus, dont notre digne général ne porte pas en vain l'effigie sur sa poitrine." 51

) Vgl. nacheinander: Pensées républicaines (1793/94), S. 92; Ann. patriotiques No 622 (16.X.1791), S. 1551; Ami du Peuple No 233 (4.VII.1791), S. 6; N o 519 ( 1 5 . V I I . 1 7 9 1 ) , S. 6; SAINT-JUST: Oeuvres

(ed. VELLAY), 1 3 6 9 -

72. 52 ) Ebd., II 506. Diese Passage ist nicht im Manuskript der BN, ediert von A . SOBOUL i n : A H R F 2 0 , 1 9 4 8 , 1 9 3 - 2 6 2 . - D i e Annales

patriotiques

schreiben in ähnlichem Sinne: „Le soldat est citoyen, l'officier ne l'est pas, et ne peut l'être." (No 473,18.1.1791, S. 929)

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In diesem Zusammenhang gewinnt auch die citoyenne ihre volle Bedeutung: Eine Arbeiterin opfert das Silber aus den Spitzen ihres Kleides, um ihrem Mann die Uniform eines soldat-citoyen kaufen zu können: „voilà une citoyenne". Im Gegensatz dazu schließt sich der egoistische Klerus, der die allgemeine Bereitschaft zu dons patriotiques nicht teilt, aus der staatsbürgerlichen Gemeinschaft aus: „Quoi! ces gens là ne sont pas citoyens et cependant ils délibèrent dans l'assemblée de la nation"! Man rühmt die Integrität und Unbeugsamkeit des citoyen, „der nicht einmal seinen Vater schonen darf, wenn es sich um das öffentliche Wohl handelt", ebenso seine humanen Eigenschaften: „Ecartez les mauvais pères, les mauvais maris, les fils ingrats; on ne peut être bon citoyen si on oublie les devoirs sacrés de la nature." 53 ) A b 1792 zeigen die Begriffe citoyen und citoyenne den Eingang der politischen Revolutionsideale in die Umgangssprache. „Nous ne devons plus avoir les mêmes moeurs, ni par conséquent le même dictionnaire", schreibt Mercier und zeigt sich „scandalisé [ . . . ] de voir encore dans quelques feuilles la dénomination féodale de paysan, qui doit être proscrite comme toutes celles de l'ancien régime." Paysan solle durch citoyens agricoles ersetzt werden. Diejenigen, die sich wie Roland - gegen diese Neuerung wehren, rechtfertigen sich mit den Skurpeln, „diesen heiligen Namen" Leuten zuzuerkennen, die ihn nicht verdienten. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um eine der wesentlichen symbolischen Handlungen der Revolution. MERC I E R gibt dem 1798 Ausdruck: „[Citoyen] est devenu le nom patronymique de la liberté française, et il ne doit plus périr qu'avec elle [ . . . ] . Nous voulons tous notre nom de guerre, le nom qui a constaté que nous n'avions plus de roi." 54 )

I V . D e r N e o l o g i s m u s ,civisme' Als Ableitungen von civique kannten die klassischen Wörterbücher nur die couronne civique der Römer, nicht aber civisme, dessen Ge») Vgl. nacheinander: Rév. Paris No 9 (13.IX.1789), S. 28; ebd., S. 13; ebd., No 11 (27.IX.1789), S. 24; R O L A N D , I 339 (29.1.1791); Catéchisme des électeurs (1791/92), S. 11. 54 ) Ann. patriotiques No 282 (10.X.1793), S. 1283; Artikel von Roland zum Wort citoyen, in Moniteur No 289 (15.X. 1792), XIV 205; M E R C I E R : Nouveau Paris, (1798) II 183. 98

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brauch seit 1770 nachweisbar ist55). 1789 gebraucht SIEYÈS den Begriff in neutralem Sinne: „Le privilégié ne serait représentable que par sa qualité de citoyen; mais en lui cette qualité est détruite, il est hors du civisme, il est ennemi des droits communs." Natürliche Ungleichheiten beeinträchtigen nicht die „égalité du civisme". Das Substantiv hat hier die Funktion einer Sprach Verkürzung. In den Zeitungen des Jahres 1793 findet das Adjektiv seinen Platz als Wertbegriff. Im Gegensatz zum „kalten Stoizismus" der Privilegierten geben die „einfachen Bürger" aller Klassen das Beispiel staatsbürgerlicher Aufopferung. Gleichzeitig greift man auf die antike Einrichtung der Bürgerkrone zurück: Fauchet predigt anläßlich der Totengedenkfeier für die Bastille-Gefallenen mit solcher Eloquenz, daß, „saisis d'un enthousiasme religieux et patriotique, les habitans du district lui ont décerné une couronne civique."56) Die politischen Wörterbücher registrieren sehr schnell diese Begriffe , die sie für Neologismen halten, einige auf sarkastische Weise : Le substantif de civique manquait à notre langue pauvre et timide [...]. Civisme est bien plus énergique, plus ronflant [als amour de la patrie oder vraie noblesse]. Civisme est un mot imaginé dans ces derniers temps par la scholastique pour désigner une nouvelle vertu, apparemment inconnue aux anciens. 57 )

Das Adjektiv in seiner neuen Bedeutung und das Substantiv werden in den Nachtrag des Akademiewörterbuches von 1798 aufgenommen. Die Ableitungen incivique, incivisme, anti-civique, anti-civisme sind im Nouveau Dictionnaire von SNETLAGE (1795) und im Néologiste français von REINHARD (1796) verzeichnet. Was civisme im einzelnen bedeutet, zeigt seine semantische Beziehung zu patriotisme: „c'est l'amour de la patrie intra muros, et patriotisme, c'est l'amour extra muros; un citoyen a du civisme, un soldat a du patriotisme"58). Allerdings scheint diese einfache Methode der getrennten semantischen Zuordnung offensichtlicher Synonyme nicht ganz dem tatsächlichen Sprachgebrauch zu entsprechen, wie folgende Definition zeigt: „C'est la dénomination générique de tou55

) G. von PROSCHWITZ: Introduction à l'étude du vocabulaire de Beaumarchais, Stockholm 1956, 63 u. 221f, der auch citoyenneté im Jahre 1783 nachweist. 5 «) Vgl. nacheinander: SIEYÈS: Qu'est-ce que le Tiers Etat? (ed. 1888), S . 88f; Rév. Paris No 11 (19.IX.1789), S. 23; ebd. No 4 (9. VIII. 1789), S. 19. 57 ) GALLAIS ( 1 7 9 0 ) , S . 5 1 ; Dict. raisonné (Januar 1 7 9 0 ) , S . 3 0 . 58 ) CHANTREAU (1790), Art. „Civisme". Diese Definition wurde von M E R CIER in seiner Néologie (Ms.) wieder aufgenommen. 99

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tes les vertus civiques. Elle équivaut à peu près à Patriotisme"59). Wie kann man zur Zeit des soldat-citoyen und des citoyen-soldat die beiden Bestandteile der Vaterlandsliebe' trennen? In Wirklichkeit bilden die Inhalte von patriotisme und civisme gemeinsam das Ideal des citoyen, sie sind die wesentlichen Tugenden, die ihn zum,Bürger' machen. Man erkennt ihn als solchen durch seinen Eifer {zèle), seine prompte Pflichterfüllung (empressement), seine Opfer- und Hingabebereitschaft (sacrifice, dévouement). Die patriotische Presse unterscheidet den civisme im Handeln, zu dem jeder verpflichtet ist, vom civisme moral. Etre pénétré d'amour pour la patrie, aller au-delà de ce que la loi commande par des sacrifices généreux et volontaires, faire par goût ou par passion ce que les autres font par devoir, voilà le civisme des sentiments.

Dies ist ein Gebot ohne Verpflichtung, und der Redakteur der Annales patriotiques wirft dem Gesetz über die certificats de civisme vor, die Gefühle einer Inquisition zu unterziehen60). Der leidenschaftliche Eifer des civisme nähert sich der Erhabenheit und den Handlungsformen eines religiösen Glaubens. So kommentiert M E R C I E R das Almosen eines armen Köhlers an eine notleidende Frau („un beau trait de civisme"): „On a dit jusqu'à présent la foi du charbonnier, que de pareils exemples se multiplient et on dira Le civisme du charbonnier". Derselbe Mercier fürchtet, die Verbreitung der certificats de civisme könne die „hypocrites de civisme" vermehren. M A R A T prangert den „faux civisme" der Volksfeinde an, den incivisme, dessen man die Armee verdächtige. Der civisme läßt sich durch Vorbilder anregen, durch die Lektüre erbaulicher Erzählungen. Um der Schuljugend das „Bild der Tugend ihrer Väter und Altersgenossen" zu zeigen, läßt der Konvent einen Recueil des actions héroïques et civiques des républicains français drucken. Das Projekt wird am 26. Frimaire des Jahres II (16.XII. 1793) von L. Bourdon unter dem Titel Annales du civisme et de la vertu vorgestellt61). Die ,Tu59

)

REINHARD ( 1 7 9 6 ) ,

S.

84.

- Siehe auch den interessanten Text in

LAMAIL-

LARDIÉRE ( 1 7 9 4 ) , S . 1 7 . M

) Dict. Acad. ( 5 1798)), Suppl.; G A U T I E R , Art. „Civisme"; Ann. patriotiques No 54 (23.11.1793), S. 249. 61 ) MERCIER: Néologie (Ms.), „Citoyen actif"; Ann. patriotiques No 53 (22.11.1793), S. 242; Ami du Peuple No 322 (27.XII.1790), S. 7; ebd. No 635 (20.IV.1792), S. 3; Procès-verbaux du comité d'Instruction publique, ed. M . J . GUILLAUME T . III (1897), S . 158-62, 258-60, 332f; T . IV (1901), S. 49 f.

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gend' gewinnt indessen eine klare Bedeutung: der civisme setzt die Identifikation mit der Sache der Revolution voraus, und zwar mit allen, zum Teil extremen politischen Konsequenzen, wie die Namen neuer staatsbürgerlicher' Einrichtungen von den certificats de civisme über die mariages civiques bis zu den fêtes civiques andeuten. So schreibt auch R E I N H A R D im Néologiste français: „Mais qui pourrait nombrer toutes les actions civiques enfantées par la Révolution?" Die prêtres-citoyens, die ihren Verfassungseid vor der Nationalversammlung geleistet haben, erhalten für diesen Beweis ihres civisme Beifall. Andererseits stellt Madame R O L A N D verbittert fest, daß Denunzieren als Nachweis von civisme gelte und daß der Vorwurf des incivisme konterrevolutionäre Absichten unterstelle. In einem Pamphlet heißt es: „L'homme malade de patriotisme [...] ne doit consulter ni l'amitié, ni l'honneur, ni la nature, mais il doit prouver à son pays que le civisme est la première vertu qui doit tenir lieu de toutes les autres."62) Zu einer Gesellschaft von ,Rächern des Gesetzes', deren Gründung er vorschlägt, will M A R A T nur den als Mitglied zulassen, der zuvor „des preuves authentiques de lumières et de civisme" gegeben habe. Indem er die Lauterkeit seiner Absichten beteuert, verlangt er sogar, daß die Bürger, welche er „ohne böse Absicht" verdächtigt habe, dies aufgrund ihres civisme als patriotisches Opfer hinnehmen. So muß das tugendhafte Opfer mit dem rastlosen Eifer seines Anklägers (ein Leserbriefschreiber Marats bedauert ihn wegen seines „ardent civisme, qui fait que vous n'existez que dans les alarmes de la patrie") zusammenarbeiten63). V. Rückwärtsbewegung und Stabilisierung (1794-1820) Bedingt durch die politische und soziale Entwicklung nach Thermidor erleidet das Ideal des citoyen unvermeidliche Rückschläge. In dieser Hinsicht enthalten alle Textzeugnisse Zeichen der Rückwärtsbewegung. Die revolutionäre Anrede citoyen hatte sich nicht ohne Widerstände durchgesetzt: BRISSOT beschwert sich im Patriote françois vom 21.IX.1792, die „aristocratie des titres bourgeois" sei noch 62

) REINHARD, Art. „Civique"; Ann. patriotiques No 456 (1.1.1791), S. 862; ROLAND, I 6 1 - 6 4 ( 2 8 . V I I I . 1 7 9 3 ) ; AULARD: Jacobins,

II 5 8 ( I . 1 7 9 1 ) .

«) Ami du Peuple No 342 (16.1.1791), S. 768; ebd. No 329 (3.1.1791), S. 4; ebd. (2. Ser.) No 55 (24.XI.1792), S. 2. 101

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am Leben. Selbst der Gebrauch der Anrede kann abartige Folgen haben: 1792 wird in Pamiers sieur durch citoyen ersetzt, erstreckt sich aber nicht auf die unteren sozialen Schichten64). M A R A T erzählt die bezeichnende Anekdote eines Schumachers, der einen Minister mit citoyen anredet, ihn duzt und hinausgeworfen wird mit den Worten: „Apprenez, mon petit monsieur, que mon civisme ne va pas jusqu'à souffrir de pareilles libertés." Aber alles hat sich in Benehmen und Umgangsformen geändert, als Mercier 1798 schreibt: „On pourrait prédire que l'usage du mot Monsieur, substitué aujourd'hui au mot Citoyen, suffirait pour tuer la République". Die aristokratische' Anrede Monsieur lebt wieder auf und untergräbt unmerklich den revolutionären Sprachgebrauch65). Die Zeitungen stellen fest - teils bedauernd, teils erfreut - , daß die Anrede citoyen langsam außer Gebrauch kommt66). L A H A R P E rechtfertigt die Anrede Monsieur dadurch, daß er citoyen zum Ehrentitel erhebt: „l'idée de bon citoyen, d'ami de la patrie, d'ami de l'ordre et des loix, dans le sens naturel de ces mots, comme de raison, et non pas dans le sens révolutionnaire." Ein Polizeibericht vom 12. Juli 1795 meldet, daß die Dekade nicht mehr beachtet und die Anrede citoyen lächerlich gemacht werde. Dieser geänderte Sprachgebrauch greift auch in den Ministerien um sich: „on vous monsieurise comme anciennement dans presque toutes les administrations [...] et si par hasard un patriote se permet de dire citoyen, on se permet de lui rire au nez."67) Durch ein Paradox, das die Republikaner anprangern, kann sich citoyen sogar zur Bezeichnung sozialer Minderwertigkeit verkehren. Bei einem Konzert habe man nur die Diener als citoyens angeredet. „Jamais ce mot n'est donné aux honnêtes gens qui composent la société de M. de Benezech. " Überhaupt sprächen vornehme Kreise das Wort citoyen in gleichem Ton aus, wie Adelige vor der Revolution von vilains oder manants geredet hätten. Aber auch in der Art, wie M

) Siehe dazu J. GODECHOT, in: AHRF 22.1950, S. 368. ) Ami du peuple (2. Ser.) No 128 (20.11.1793), S. 3; MERCIER: Nouveau Paris (1798), II 182. «•) Siehe Mercure français No 64 (7. VIII. 1795), S. 99-102 (lange Rechtfertigung von citoyen); Citoyen français (11.IV. 1802), in AULARD: Consulat, II 830f. Man beklagt gleichzeitig den herrschenden incivisme-, Ami des lois (11.X.1797), in AULARD: Réaction, IV 389; Le Démocrate ou défenseur des principes No 30 (1.IX.1799), S. 2. 67 ) Quotidienne No 372 (2.V.1797), S. 3; AULARD: Réaction, II 74; Journal des Hommes libres (5.VIII.1800), in AULARD: Consulat, I 582f. M

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die Zeitungen notwendige Zugeständnisse machen und vorschlagen, jenen „heiligen Titel" nicht zu „vergeuden", beweist, daß die Reichweite des Begriffs, seine politische und soziale Bedeutung mit den Jahren schrumpfen. Konservative wie Liberale verweigern demjenigen, der nicht lesen und schreiben kann, das volle Bürgerrecht im Gemeinwesen: Ein solcher Ungebildeter sei ein „mineur", „il n'est pas citoyen lui-même". Im physiokratischen Verständnis Du PONT D E NEMOURS- bildet das Eigentum die absolute Voraussetzung der Bürger-Souveränität : Les propriétaires, sans le consentement desquels personne ne pourrait ni loger, ni manger dans le pays, en sont les citoyens par excellence. Ils sont souverains par la grâce de Dieu, de la nature, de leur travail, de leurs avances, des travaux et des avances de leurs ancêtres.

Die Gazette française vom 23. September 1795 klingt wie ein Echo darauf: Dans toutes les associations policées, les propriétaires seuls composent la société. Les autres ne sont que des prolétaires qui, rangés dans la classe des citoyens surnuméraires, attendent le moment qui puisse leur permettre d'acquérir une propriété, afin d'obtenir le droit de cité.68)

Gleichzeitig unternehmen Vordenker der Reaktion einen Versuch, den alten, mit der Monarchie harmonisierenden Sinn des Wortes wiederherzustellen. Joseph de Maistre ruft auf zur Rückkehr zur reinen Wurzel der französischen Wortbedeutung, unter einer Regierung, die Freiheit in Gehorsam sichere: „C'était la mode en France (car tout est mode dans ce pays), de dire qu'on y était esclave: mais pourquoi donc trouvait-on dans la langue française le mot de citoyen (avant que la révolution s'en fût emparée pour le déshonorer), mot qui ne peut être traduit dans les autres langues européennes?" Und er zitiert einen Vers von Louis Racine auf Louis XV. : „Sois un Roi citoyen tout citoyen est Roi."69) Die politischen Zustände, auf die de Maistre verweist, sind allerdings nach der Revolution endgültig Vergangenheit. Die Teilhabe an der Souveränität bleibt integraler Bestandteil des modernen citoyen-Begriffs, so wie Rousseau und die Revolution ihn geprägt haben. Der Code civil unterscheidet in seinen Artikeln 7 und 8 die Eigenschaft, Franzose zu sein - durch die man nacheinander: AULARD: Réaction, II 667; AULARD: Consulat, III 184; J. Paris No 247 (26. V. 1795), S. 999; Observations sur la Constitution (1795), S. 7; AULARD; Réaction, II 267. D E MAISTRE: Considérations (1796), S. 72 f.

68) VGL.

»)

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die Zivilrechte genießt - , von der des citoyen, „qu'on acquiert ou ne conserve que conformément à la loi constitutionnelle". Die Zuerkennung von Rechten kann sehr begrenzt sein, aber der Bezug ist wesentlich. Nicht ohne Kühnheit sagt Napoleon: „Pour être devenu empereur, je n'ai pas cessé d'être citoyen", aber, ganz gemäß der ständig aufrecht erhaltenen Fiktion, präsentiert er sich als Sohn der Revolution. Sujet bleibt nun definitiv Antonym zu citoyen. Das Dictionnaire national von BESCHERELLE (1843) stellt die Alternativen der möglichen Begriffe klar heraus: „Dans les gouvernements absolus et dans les monarchies tempérées, il n'y a pas de citoyens, mais des sujets". Im Artikel „Citoyen" der Encyclopédie nouvelle von P. LEROUX aus dem Jahre 1837 taucht die politisch zentrale Frage nach dem Verhältnis von prolétaire und bourgeois auf: Eine neue Epoche beginnt, in der die Frage der Rechtsstellung des citoyen zurücktritt hinter ein soziales Problem, das die Rechtsfrage noch ausdehnt, sie aber auf eine völlig neue Ebene hebt 70 ). Die Bindung von citoyen an die Begriffe ville und bourgeois hat sich langsam aufgelöst. Seit dem Ende des 17. Jh. tritt der Begriff in einem erweiterten Sinne in Beziehung zur politischen Gemeinschaft und zum ,Vaterland'; er verliert seinen traditionellen Inhalt und nimmt die moderne Bedeutung an. Nunmehr bildet citoyen zusammen mit sujet undpeuple(s) eine nahezu homogene Einheit. Beim citoyen liegt der Bedeutungsschwerpunkt auf seiner freiwilligen Mitwirkung im Staatswesen, auf seiner jeweils freiwilligen und begründeten Zustimmung zum Staat. Damit ist eine bedeutsame Doppelentwicklung vollzogen. Seit den 1750er Jahren war der citoyen einerseits zu einer Lieblingsgestalt der Aufklärer, zum Träger des sozialen Fortschritts aufgestiegen; dieser vorherrschende Bedeutungswandel hatte den Sprachgebrauch der Gebildeten geprägt. Auf der anderen Seite war der Rousseausche citoyen, der die politisch radikale Forderung nach Volkssouveränität enthielt, bis zur Revolution in seiner Verbreitung marginal geblieben. 70

) Vgl. nacheinander: L A CASES: Mémoires de Saint-Heléne (1824), chap. 2, 1178. Siehe auch M A I N E DE BIRAN: Journal, 1 8 (1814): „Vous n'avez plus de sujets, mais des citoyens soumis aux lois." Ebenso STENDHAL: De L'amour (1822), II266: „ravaler les citoyens à l'état de sujets loyaux d'une monarchie."; B E S C H E R E L L E : Dict. national (1843), Art. „Citoyen"; P . L E ROUX: Encyclopédie nouvelle (1837), Art. „Citoyen".

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Die Revolution löste seine vorherige Bindung an monarchische Ordnungsbegriffe und stellte den citoyen in den Mittelpunkt des politischen Lebens: er wird zum Stifter der Einheit, zum Träger der Gleichheit, jenseits aller räumlichen, beruflichen und sozialen Bindungen, zum Ursprung von Recht und Freiheit. Von einem Komplementär- tendiert er zum Gegenbegriff von sujet zu werden. Diese semantische Polarisierung verfestigt sich nach 1794 endgültig, wenn auch die Reaktion unter dem Directoire und die Wechselfälle des frühen 19. Jh. Namen und Rechte des citoyen in Frage stellen und ihm vorübergehend seine Bürgerrechte nehmen.

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Artikelliste Numerische Zusätze bezeichnen den Ort des Erscheinens des jeweiligen Artikels (z.B. 3/36 = Heft 3, Seite 36ff. Abus Administration. Bureaucratie Agiotage, Agioteur Amérique - Angleterre Anarchie, Anarchiste Analyse, Expérience 6/7 Ancien Régime - Nouveau Regime Antiquité Aristocratie, Aristocrate Art, Arts et Sciences Artisan, Artiste Athéisme, Athée Autorité, Pouvoir, Puissance Avocat Barbarie, Civilisation, Vandalisme 8/7 Bastille 9/7 Bien commun, Esprit public Bon Sauvage Bonheur, Félicité publique Bourgeois, Bourgeoisie Canaille, Populace Capitaliste, Banquier, Financier 5/27 Caste, Classe Censure, Liberté de la presse Charité, Bienfaisance Citoyen - Sujet, Civisme 9/75 Civilité 4/7 106

Clergé Club, Cercle, Sociabilité Commune (s) Complot, Saint-Barthélémy Concorde, Division, Fraternité, Union, Unité Condition, Etat, Naissance, Qualité, Rang Conservateur Constitution, Constituionnel Convention Conversation, Démagogue, Orateur Corps, Etats, Ordres Corruption, Décadence Cosmopolitisme, Cosmopolite 6/41 Cour, Courtisan Crime Crise Critique 5/7 Curé, Prêtre Débauche, Libertinage, Libertin Déisme Démocratie, Démocrates, Démocratique 6/57 Despotisme, Tyrannie Dévotion, Dévots Doctrine, Principes Domestique, Maître, Valet Droit Droite - Gauche Economie politique 8/51 Egalité, Egalitaire Elite, Les meilleurs

Artikelliste Emeute, Emotion, Désordres, Troubles Enthousiasme Esclavage, Noirs Etat, Chose publique Etre suprême Faction, Parti (Girondins, Jacobins, usw.) Famille, Maison Fanatisme, Fanatique 4/51 Féodalité, Féodal 10/7 Femme Fermier, Gabelle, Maltôtier, Traitant Fermentation Financier, Banquier, Capitaliste 5/27 France, Français Gens de lettres, Auteur Gouvernement Guerre civile Guillotine, Supplice Histoire Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens 7/7 Honneur, Mérite Humanité Idéologie, Idéologues Idiomes, Dialectes, Langue Individu, Individualisme Industrie Instruction, Education Insurrection, Révolte, Sédition Intérêt, Intérêt public

Jansénisme, Jésuitisme Justice Libéral, Libéralité Liberté Liberté - Egalité - Fraternité Libre pensée, Libre penseur Loi, Législateur Lumières - Ténèbres Luxe Magistrat, Magistrature Majorité - Minorité Manufacture, Fabrique Marchand, Commerçant, Négociant Matérialisme, Matérialiste 5/61 Modération, Modéré Moderne, Anciens et Modernes Mœurs Monopoleur, Accaparement Morale Moyen-âge Nation 7/75 Nature, Naturel Noblesse, Nobles Notables Office, Officiers, Vénalité Opinion publique Ordre - Désordre Ouvrier, Prolétaire Parlements 10/55 Patrie, Patriotisme, Patriote Pauvres, Pauvreté Paysan, Laboureur Petits-maîtres, Muscadins, Incroyables, Merveilleuses 107

Artikelliste Peuple, Sans-culottes Philosophe, Philosophie 3/7 Police Politique, Machiavélisme Préjugés Privé - Public Privilège, Privilégiés Progrès, Perfectibilité Propriétaire Propriété Province Public, Publicité Raison, Vérité Réaction, Réactionnaire Réforme, Réformateur Religion Rente, Rentier Représentation politique République, Républicain, Républicanisme Révolution, Révolutionnaire Riches - Pauvres, Patriciens Plébéiens

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Robe, Robin Royauté Sens, Sensibilité, Sentiment Siècle Société, Social, Art social Souverain, Souveraineté Subsistances, Pain Superstition Système Terreur, Terrorisme, Terroriste 3/89 Tiers Etat Tolérance, Tolérantisme Travail, Travailleur Tribun, Orateur Utilité Utopie Vertu Ville Volonté générale

Mitarbeiter und Autoren von Artikeln: Sylvain AUROUX/Paris, Keith M . BAKER/Chicago, G e o r g e s B E N R E K A S S A / P B ris, Nicole u n d Y v e s CASTAN/Toulouse, R o g e r CHARTIER/Paris, A l b e r t CREMER/Göttingen, O t t o DANN/Köln, Michel ÜELON/Paris, C l a u d e D E S I R A T / T o u r s , H o r s t DippEL/Hamburg, Christof DIPPER/Düsseldorf, H e n r i D U R A N TON/Saint-Etienne, A r l e t t e FARGE/Paris, R o b e r t FAVRE/Lyon, Elisabeth FEHRENBACH/Saarbrücken, M a r t i n FoNTius/Berlin-Ost, H a n s - G ü n t e r F U N K E / R C g e n s b u r g , Rolf GEissLER/Berlin-Ost, D i e t e r GEMBiCKi/Genf, M a u r i c e G R E S SET/Besan^on, B e r n a r d GROSPERRiN/Chambéry, J a c q u e s GUILHAUMOU/Paris, H a n s Ulrich GuMBRECHT/Siegen, R a n HALEvi/Paris, F r i e d e r i k e J. H A S S A U E R R o o s / S i e g e n , G e r d van d e n HEUVEL/Hannover, Patrice HIGONNET/Camb r i d g e ( M a s s . ) , A n e t t e HÖFER/Essen, J o c h e n H o o c K / B i e l e f e l d , G e r n o d JUNGCURT/Heidelberg, B a r b a r a KALTz/Lyon, Steven K A P L A N / N C W Y o r k , P e t e r - E c k a r d KNABE/Köln, G ü n t h e r L o r r E S / E r l a n g e n , H a n s - J ü r g e n LÜSEBRINK/Bayreuth, Klaus MALETTKE/Marburg, J e a n MEYER/Paris, P i e r r e MiCHEL/Lyon, Michel MoRiNEAu/Clermont-Ferrand, Ulrich Christian PALLACH/Erlangen, Erich PELZER/Freiburg, J e a n - C l a u d e PERROT/Paris, C l a u d e PETiTFRERE/Tours, H e l m u t PFEiFFER/Konstanz, Rolf REICHARDT/Mainz, P i e r r e RETAT/Lyon, Ulrich RiCKEN/Halle, J ä n o s RiESz/Bayreuth, T h o m a s ScHLEicH/Oldenburg, Brigitte ScHLiEBEN-LANGE/Frankfurt, Wolfgang ScHMALE/Bochum, E b e r h a r d ScHMiTT/Bamberg, W i n f r i e d ScHULZE/Bochum, Michael S c o r r i - R o s i N / M a i n z , P e t e r ScHOTTLER/Bremen, William SEWELL/ T u c s o n ( A r i z . ) , M a r t i n e SoNNET/Paris, P e t e r M . SPANGENBERG/Siegen, B u r k h a r d STEiNWACHs/Konstanz, K a r l h e i n z STIERLE/Bochum, C h r i s t o p h STROSETZKI/Düsseldorf, H a n s - U l r i c h THAMER/Münster, A n n e ViGUiER/Toulouse, J ü r g e n Voss/Paris, Michael WAGNER/Mainz, E r i c WALTER/Amiens, D e n i s WORONOFF/Paris.

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