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German Pages 104 Year 1991
Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820
Herausgegeben von Rolf Reichardt und Hans-Jürgen Lüsebrink Heft 11
Utopie, Utopiste Hans-Günter Funke
R. Oldenbourg Verlag München 1991
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Das Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820 erscheint als Band 10 der Reihe Ancien Régime, Aufklärung und Revolution (hrsg. von Rolf Reichardt und Hans-Ulrich Thamer).
CIP-Titelaufhahme der Deutschen Bibliothek Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich : 1680-1820 / hrsg. von Rolf Reichardt und Hans-Jürgen Lüsebrink München : Oldenbourg. (Ancien régime, Aufklärung und Revolution ; Bd. 10) Teilw. hrsg. von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt in Verbindung mit Gerd van den Heuvel und Anette Höfer NE: Reichardt, Rolf [Hrsg.]; GT H. 11. Utopie, Utopiste / Hans-Günter Funke. - 1 9 9 1 ISBN 3-486-54462-4 NE: Funke, Hans-Günter © 1991 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Hofmann-Druck KG Augsburg Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-54462-4
Vorwort Herausgeber und Verlag teilen mit, daß von Band 11 des Handbuches an Hans-Jürgen Lüsebrink als Herausgeber mitwirkt. Dadurch wird die Herausgeberschaft interdisziplinär erweitert, wie es dem Charakter des Handbuches entspricht. Eberhard Schmitt, der das Handbuch insbesondere in seinen Anfängen tatkräftig und wirkungsvoll unterstützt hat, zieht sich mit Rücksicht auf andere berufliche Verpflichtungen als Mitherausgeber zurück. Wir danken ihm nachdrücklich: Ohne seine Ermutigung und seinen Rückhalt wäre das vorliegende Werk nicht zustande gekommen. Herausgeber und Verlag
Utopie, Utopiste HANS-GÜNTER FUNKE Einleitung Vom Eigennamen der „ Utopia" zur pseudogeographischen Metapher für den fiktiven (Ideal-)Staat (16. und 17. Jahrhundert) . . 1. Der Moresche Neologismus und seine Übernahme ins Französiche im 16. Jahrhundert (1529-1611) a) Die Neologismen „Nusquama" und „Utopia" und ihr Bedeutungspotential - b) Die Humanistenbriefe: Normfunktion der „Utopia" für Politik und Moral - c) Erstbelege für Utopie (und Ableitungen) im Französischen - d) „Utopia"-Rezeption als staatswissenschaftlicher Traktat: Utopie als pseudogeographische Metapher für den fiktiven (Ideal-)Staat (Cotgrave 1611) 2. Die Ausbildung der Gattung der Reiseutopie in der französischen Literatur und das „Verschwinden" des Wortes Utopie im 17. Jahrhundert a) Extreme Seltenheit des Wortes utopie und Rezeption der Renaissance-Utopien als „républiques imaginaires" - b) Entstehung der Gattung der Reiseutopie II. Von der pseudogeographischen Metapher für den fiktiven (Ideal-) Staat zur literarischen Gattungsbezeichnung und zum ambivalenten politischen Begriff (18. Jahrhundert) 1. „Wiederentdeckung" des Wortes utopie als pseudogeographische Metapher für den fiktiven (Ideal-)Staat (1710-1752) . a) Die Wortfamilie von utopie im 18. Jahrhundert und der Erstbeleg in Leibniz' „Théodicée" (1710) - b) Geudevilles „Utopia"-Paraphrase (1715): Nichtrealisierbarkeit vs. Normfunktion - c) utopie als „pays imaginaire" („Dictionnaire de Trévoux" 1752) 2. Ausbildung des literarischen Gattungsbegriffs utopie im System konkurrierender Gattungsbezeichnungen (17621798) a) Differenzierung der literarischen Gattung Utopie und ihrer Gattungsbezeichnungen im 18. Jahrhundert - b) utopie als literarischer Gattungsbegriff 3. Politisierung und Emotionalisierung des Utopiebegriffs im Zeichen des Unrealisierbarkeitsvorwurfs: Idealstaat, Traum, Hirngespinst - les utopiens, die Utopisten (2. Hälfte des 18. Jahrhunderts) a) Politisierung von utopie: Pejorisierung vs. Bedeutungsverbesserung - b) Pejorisierung: utopie als „chimère", raisonneur utopique und Utopien als Bezeichnungen für den „Utopisten", utopie als „pays des chimères" - c) utopie als pejorative Gattungsbezeichnung für Idealstaatsentwürfe und politische Re-
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formpläne - d) Bedeutungsverbesserung: utopie als „realisierte Utopie" und als „Ideal einer Staatsverfassung" - e) Ergebnisse der semantischen Entwicklung im 18. Jahrhundert Vom ambivalenten politischen Begriff zum pejorisierten politischsozialen Kampfbegriff im Streit zwischen Frühsozialismus und Bürgertum (1. Hälfte des 19. Jahrhunderts) Einleitung: utopie als Leitbegriff der politisch-sozialen Sprache 1. Politisierung und Pejorisierung des Utopiebegriffs im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, Bedeutungserweiterung des literarischen Gattungsbegriffs (bis 1830) a) utopie in den Wörterbüchern (1798-1835) - b) Frühsozialismus oder „utopischer Sozialismus" - c) Saint-Simons Kritik am konservativen Utopievorwurf gegen soziale Innovation (1818-1820) - d) Negativer und positiver (heuristischer) Utopiebegriff bei Fourier (1818 bis 1822) - e) Utopievorwurf gegen die Französische Revolution - f) Erweiterung des literarischen Gattungsbegriffs Utopie auf die Zeitutopien - g) Das Begriffspaar utopie/utopistes - h) Ergebnisse der semantischen Entwicklung 1800-1830 2. Von der Julirevolution 1830 zur Februarrevolution und zum Juniaufstand 1848: utopie/utopistes als Synonyme bzw. Antonyme von socialisme/socialistes und commun isme!communistes (1830-1850) 2.1 Ansätze zur Aufwertung des Utopiebegriffs: Integration der Tradition der literarischen Utopie und der Theoriebildungen der Frühsozialisten im Diskurs der „économie politique" (1830-1840) a) Überblick über die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts - b) Der bürgerliche Utopievorwurf gegen die Frühsozialisten („Revue des deux mondes") - c) Bedeutungsverbesserung: utopistes, „socialistes" und „réformateurs" als Synonyme - d) Der erweiterte Gattungsbegriff utopie der „économie politique" - e) L. Reybaud, „Etudes sur les réformateurs contemporains" (1840) - f) Aufwertung des Utopiebegriffs - g) Ergebnisse der semantischen Entwicklung 1830-1840 2.2 Sozialismus und Kommunismus seit 1840: Pejorisierung von utopie/utopistes als Synonyme bzw. Antonyme von „socialisme"/„socialistes" und „communisme"/„communistes" (1840-1848) a) Politisch-soziale Perspektivierung von utopie/utopistes b) Die Wörterbücher: utopie als Synonym von „communisme" - c) Der Sprachgebrauch der Kommunisten (Cabet, néobabouvistes) - d) Der Sprachgebrauch der Sozialisten (Leroux' „Encyclopédie nouvelle", Villegardelle, L. Blanc, „L'Atelier") - e) Drei kritische Synthesen des „Sozialismus" und „Kommunismus": Villegardelle (1846), Proudhon (1846) und Marx (1847) - f) Der Sprachgebrauch des Bürgertums
(„Revue des deux mondes", Reybaud, Thiers) - g) Ergebnisse der semantischen Entwicklung 1840-1848 2.3 Die sprachliche Reaktion des Bürgertums auf Februarrevolution und Juniaufstand 1848: utopie/utopistes als politische Schimpfwörter gegen Sozialisten und Kommunisten . . . . a) 1848 als Schockerlebnis für das politische Bewußtsein des Bürgertums - b) utopie als pejorativer Parteiname („Revue des deux mondes", Lamartine) - c) A. Sudre, „Histoire du communisme ou réfutation des utopies socialistes" (1848) d) Die Sachwörterbücher (Jouffroy; Coquelin/Guillaumin, 1852): utopie als Antonym des politischen Konservatismus und ökonomischen Liberalismus Zusammenfassung und Ausblick Literatur
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Einleitung Die Bedeutungsgeschichte des Wortes utopie beginnt im 16. Jahrhundert mit der Rezeption von Morus' Utopia in Frankreich, die Geschichte der literarischen Gattung Utopie hingegen beginnt in der französischen Literatur erst im 17. Jahrhundert mit der Entstehung der Reiseutopie (récit de voyage utopique), welche an den Prototyp, die Utopia, anknüpft. Im 18. Jahrhundert bilden sich die Haupttendenzen heraus, welche die semantische Entwicklung des Begriffes utopie seither bestimmt haben: die Bedeutungserweiterung zum literarischen Gattungsbegriff sowie die Wandlung zum politisch-sozialen Begriff, der die Möglichkeit der Pejorisierung wie die der Aufwertung in sich trägt. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts gewinnen die Termini utopie und utopiste die Funktion von Leitbegriffen der politisch-sozialen Sprache und dominieren in der Sozialismusdebatte, welche die erste Hälfte des Jahrhunderts erfüllt. Bei der Darstellung der semantischen Entwicklung des Begriffes utopie (und seiner wichtigsten Ableitung utopiste) erwies es sich daher als notwendig, den Untersuchungszeitraum um die ,Vorgeschichte' des Utopiebegriffs und der literarischen Gattung Utopie im 16. und 17. Jahrhundert sowie um die Phase der vollen semantischen Entfaltung des Begriffs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu erweitern.
I. Vom Eigennamen der „Utopia" zur pseudogeographischen Metapher für den fiktiven (Ideal-)Staat (16.-17. Jh.) 1. Der Moresche Neologismus und seine Übernahme ins Französische im 16. Jahrhundert (1529-1611) a) Im Dezember 1516 erschien bei Thierry Martin in Louvain (Martens, Löwen) die in lateinischer Sprache verfaßte Utopia des späteren englischen Lordkanzlers Thomas Morus unter dem Titel Libellus vere aureus nec minus salutaris quam festivus de optimo reipublicae statu deque nova Insula Vtopia, „Ein wahrhaft goldenes Büchlein nicht minder heilsam als unterhaltsam von der besten Staatsverfassung und von der neuen Insel Utopia"1. Dieses Werk, das sich ausdrücklich auf das Vorbild von Piatons Politeia beruft und eine kriti») R . W . GIBSON, S. 5 , N o . 1.
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sehe Analyse der sozioökonomischen und politischen Probleme des zeitgenössischen England (Buch I) mit dem normativen Gegenbild des fiktiven Idealstaats Utopia (Buch II) verbindet, wurde zum Prototyp der literarischen Gattung der Utopie der Neuzeit, der sie auch den Namen gegeben hat 2 . Neben der gattungsgeschichtlichen Differenzierung der Utopie in den verschiedenen europäischen Literaturen, die vor allem als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung von den einschlägigen Philologien untersucht wird, beginnt schon im 16. Jahrhundert eine begriffsgeschichtliche Entwicklung des Wortes Utopia und seiner Ableitungen, die im literarischen Gebrauch, in einer zunehmenden Zahl fachwissenschaftlicher Diskurse, schließlich auch in journalistischer und umgangssprachlicher Verwendung immer neue Bedeutungsmerkmale aufnehmen oder ältere zu neuen Bedeutungsvarianten kombinieren. Diese semantische Entwicklung, die in den europäischen Sprachen über zeitlich ungleiche Stufen zu ähnlichen Ergebnissen führt, soll hier am Beispiel des Französischen dargestellt werden 3 . Morus hatte offenbar zunächst den lateinischen Neologismus Nusquama, „Nirgendsland", abgeleitet von nusquam, „nirgends", als Eigennamen für sein Werk und die darin beschriebene Insel vorgesehen. Dieser Name wurde im September und Oktober 1516 von Morus und Erasmus in der Korrespondenz, welche die Drucklegung der Utopia begleitete, verwendet und erst im November 1516 durch den synonymen griechischen Neologismus Utopia abgelöst 4 . Die erfolgreiche Neuprägung, die Morus aus
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) Th. M O R E : Utopia, ed. E. Surtz, SJ u. J.H. Hexter, New Häven, London 1965 (The Yale Edition ofthe Complete Works of St. Thomas More, 4), „Introduction" (Surtz), S. CLIII ff., dort S. CLIV-CLX; im Text S.86, Zeilen 10 u. 16; S.100, Z.9; S.102, Z.14; S.104, Z.4; S.180, Z.28; in den Humanistenbriefen S.20, Z.18-19 (P. Aegidius); S.252, Z.17 (B.Rhenanus); S.20, Z . l - 9 „Hexastichon". 3 ) Zur Begriffsgeschichte von französisch Utopie gab es bisher keine angemessene Untersuchung; zu deutsch Utopie vgl. demnächst L . HOLSCHER: Art. „Utopie" in Gesch. Grundbegr. 4 ) ERASMUS: Opus epistolarum Des. ErasmiRoterodami, ed. P.S. Allen, Bd. II, Oxford 1910: die „Nusquama nostra" erscheint zum ersten Mal am 3. IX. 1516 (No. 461 Morus an Erasmus, S.339), zum letzten Mal am 31. X. 1516 (No. 481 Morus an Erasmus, S. 372); die „Utopia" erscheint in den Briefen vom 12. XI. 1516 (No. 487 Geldenhauer an Erasmus, S.380; No. 491 Erasmus an Gilles, S. 385), vom (ca.) 4. XII. 1516 (No. 499 Morus an Erasmus, S.421). Vgl. auch den Brief von P. Aegidius ( = Gilles) an H.
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den griechischen Wörtern 011, „nicht", und xöjrog, „Ort", zusammensetzte, ist sprachlich unkorrekt, weil die griechische Wortbildungslehre die Verneinung des Substantivs töjto5 durch Voraussetzen des alphaprivativum erfordert hätte 5 . Doch bietet die von Morus gewählte Form Utopia im Hinblick auf Morphologie und Phonetik den Vorteil, Ableitungen zu begünstigen und, vor allem bei phonischer Realisierung des Wortes im Englischen, durch Homophonie mit dem griechischen Neologismus Eutopia, „Glücksland", aus ei), „gut", und TÖJiog, „Ort", die Idealität der Staatskonstruktion hervorzuheben. So wird bereits in der Erstausgabe von 1516 in einem dem Text vorangestellten Lobgedicht das Wortspiel Utopia-Eutopia zur Charakterisierung des Wortes verwendet: Vtopia priscis dicta, ob infrequentiam, / Nunc ciuitatis aemula Platonicae, / [...] Eutopia merito sum uocanda nomine; Utopia hieß ich bei den Alten wegen meiner Einsamkeit, / Nun bin ich Rivalin des Platonischen Staates, / [...] Eutopia ist der Name, mit dem ich rechtens zu nennen bin6. Der französische Humanist Guillaume Bude hat in seinem wichtigen Brief an Thomas Lupset vom 31. Juli 1517, der seit der Pariser Ausgabe von 1517 der Utopia beigegeben wurde, den griechischen Neologismus Udepotia, „Niemalsland", aus OTJÖEJTOTE, „niemals", als Äquivalent für Utopia vorgeschlagen und mit dieser Wortbildung sowohl das Moment der Unrealisierbarkeit betont als auch, zumindest implizit, den Gedanken einer zeitlichen Projektion des Idealstaats angedeutet: „VTOPIA uero insula, quam etiam VDEPOTIAM appellari audio, [ . . . ] " ; „Die Insel VTOPIA aber, die, wie ich höre, auch VDEPOTIA genannt wird, [ . . ,]" 7 . Als lateinische Ableitungen des Eigennamens Utopia verwendet Morus im Text seines Werkes vor allem das Substantiv Utopienses („Einwohner Utopiens", „die Utopier"), außerdem, allerdings äußerst selten, das Substantiv Utopiani („Die Utopier") und die Adjektive Utopiensis und Utopianus
Buslidius (= Busleyden), datiert „Antuerpiae An. M.D.XVI. Cal. Nouemb." (Antwerpen, den 1. XI. 1516), in den Originalausgaben der Utopia von Louvain 1516; Paris 1517; Basel, März u. November 1518 (vgl. Utopia [= ed. März 1518], ed. E. Surtz, SJ u. J.H. Hexter [2], S. 20-24, dort 20. 5 ) B. KYTZLER: Zur neulateinischen Utopie, in: VOSSKAMP, II, 197-209, dort 197f. 6 ) Utopia [2], S. 2 0 , Z . 4 - 5 u. 9; KYTZLER [5], 197f. 7 ) Utopia [2], S. 4-14, dort S. 10, Z. 1-2. 11
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(„utopisch", „zur Insel Utopia gehörig")8. Mit dem Eigennamen „Utopia" bezeichnet Morus sein Werk, den in diesem beschriebenen Idealstaat und die Insel, auf der dieser Idealstaat liegt9. Die Etymologie des Wortes Utopia, Titelgebung und Text des Werkes, endlich kommentierende Hinweise des Autors in seinen beiden, dem Werk beigegebenen Briefen an Petrus Ägidius (Peter Gilles) wie in seiner Korrespondenz mit Erasmus erlauben es, den von Morus intendierten Bedeutungsumfang seines Neologismus zu rekonstruieren10. Als wesentliche Bedeutungsmerkmale, welche die Rezeption durch das Primärpublikum, die Elite der europäischen Humanisten, und damit auch die spätere semantische Entwicklung des Utopiebegriffes beeinflußt haben, ergeben sich: ,Nichtwirklichkeiti (ou-topia), ,Idealstaat' (de optimo reipublicae statu),,Modellcharakter1 durch Einzigartigkeit und ,Vorbildlichkeit' („[...] hanc Reipublicae formam, quam omnibus libenter optarim, Vtopiensibus saltem contigisse gaudeo; [...]."),,Glücksland' (Eutopia),,Normfunktion' zur,Realitätskritik' („[...] quam longe tarnen ab Vtopiensium felicitate absunt?"),,Realisierungsproblematik'11. Durch die Kontrastierung von Realitätskritik (Buch I) und normativem Gegenbild (Buch II), durch das ironische Spiel mit Authentizitätsanspruch und Fiktionalität des Utopieberichts, wie durch die explizite Thematisierung und kontrovers geführte Diskussion über die Realisierungsproblematik zwischen den Dialogpartnern am Ende des I. Buches, in der Peroratio des Erzählers Raphael Hythlodaeus und im Epilog des Morus (in der Eigenschaft als Protagonist, als Teilnehmer des fiktiven Dialogs) am Ende des II. Buches wurde das zeitgenössische Publikum der Humanisten zur Diskussion über die Frage der Veränderbarkeit der historisch gegebenen Wirklichkeit und über die Möglichkeit politischer
8) Ebd., Utopienses: passim; Utopiani (Seite/Zeile): 156/31,160/21,196/12, 226/11-12 Humanistenbriefe: 10/19, 12/14; Adj. Utopiensis: 246/5; Adj. Utopianus: 10/12 (Budé), 28/25 (J. Paludanus oder Desmarais), 38/4 (Morus); Utopus (Eponym): 112/1,120/24, 218/30, 220/7. 9 ) Ebd., Utopia = Buch: 40/10; Utopia = Insel: Titel, 42/6,106/14, 206/10; Utopia = Staat: 20/4 (Hexastichon), 130/25, 248/4 oder Utopiensium República: 240/30 oder Utopiana república: 38/4. 10 ) Ebd., besonders S. 106-108 Ende von Buch 1,236-244 Peroratio, 244 bis 246 Epilog, 38-44 u. 248-252 Morus an Aegidius (Gilles); ERASMUS: Opus epistolarum [4], Morus an Erasmus, 3. IX. bis 15. XII. 1516, Nos. 461, 467, 481, 499, 502 auf S. 339f., 346f., 370-372, 412-414, 419-421. ") Utopia [2], Zitate (Seite/Zeile) 244/3-4, 240/30-31.
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Reformen aufgefordert 12 . So wurde (und wird) der Leser mit der impliziten Frage des skeptischen Schlußsatzes entlassen: [ . . . ] ita facile confíteor permulta esse in Vtopiensium república, quae in nostris ciuitatibus optarim uerius, quam sperarim; [ . . . ] indessen gestehe ich doch ohne weiteres, daß es in der Verfassung der Utopier sehr vieles gibt, was ich in unseren Staaten eingeführt sehen möchte. Freilich ist das mehr Wunsch als Hoffnung13.
b) Die hier analysierten Bedeutungsmerkmale des Moreschen Neologismus bilden ein Bedeutungspotential, das in der semantischen Entwicklung des Utopiebegriffes durch erneute Rezeption der Utopia jederzeit ganz oder partiell aktualisiert und mit neuen Bedeutungsmerkmalen kombiniert werden konnte und auch tatsächlich immer wieder aktualisiert worden ist. Dies zeigt bereits die Rezeption der Utopia durch das von Morus intendierte Primärpublikum der Humanisten, der neuen bürgerlichen Führungselite der an der antiken Literatur und Wissenschaft geschulten Gelehrten und hohen Staatsbeamten, deren Verständnis der Utopia und des Utopiebegriffs in ihrer Korrespondenz und in ihren schon mit der Erstausgabe und den folgenden Ausgaben der „Utopia" (Louvain 1516, Paris 1517, Basel März 1518, Basel November 1518) veröffentlichten Empfehlungsbriefen dokumentiert ist14. Darin werden die in Mores Neologismus enthaltenen Bedeutungsmerkmale - Nichtwirklichkeit, Idealbild, Modellcharakter, Glücksland - bestätigt, vor allem aber wird die Normfunktion der Utopia für Politik und Moral noch unterstrichen: Sie verkörpert die Idee des Staates (Respublicae idea), sie ist der Inbegriff des Idealstaats (absolutissima república), sie bietet das Musterbild glücklichen, tugendhaften Lebens (morum formula; beatae uitae exemplar, ac uiuendi praescriptum), sie wetteifert siegreich mit Piatons „Staat" (ciuitatis aemula Platonicae), sie bildet die Norm für Kritik, Korrektur und Reform der wirklichen Staaten
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) Vgl. v. a. Morus an Aegidius [10]. ) Utopia [2], 246, Zeilen 1 - 2 , vgl. Th. MORUS: Utopia, Übersetzt von G. Ritter, mit einer Einleitung von H. Oncken, Darmstadt 1973, S. 114. 14 ) Utopia [2], S. 2-36,248-252; vgl. Edition Louvain 1516, fol. [l™-3™, a aTO] (vgl. BN: Rés. R. 1466; Cat. gén. des livres impr. delaB. N., Auteurs, Bd. CXVIII, Paris 1933, S. 1124), Edition Paris 1517, fol. [AI™-CVI">] 13
(vgl. BN, Cat. gén., Auteurs, Bd. CXVIII. S. 1125); G. HONKE: Die Re-
zeption der Utopia im frühen 16. Jahrhundert, in: VOSSKAMP, II, 168-182.
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(administrandae reipublicae ratio, institutorum seminarium)15. Als Synonyme für Utopia verwenden die Humanisten die Bezeichnungen ciuitas philosophica, Eutopia, Udepotia, Hagnopolis: „philosophischer Staat", „Glücksland", „Niemalsland", „Heilige Stadt". Der Utopia werden als normativem Idealbild eine kritische Funktion im Hinblick auf die Mängel der wirklich existierenden Staaten, eine pragmatische Funktion im Hinblick auf deren mögliche Veränderung durch Reformen zugesprochen, zumindest aber die katalytische Funktion, dem Leser die Veränderbarkeit der wirklichen Welt als Bedingung der Möglichkeit ihrer tatsächlichen Veränderung bewußt zu machen16. Wenn die Utopia mit den „Insulae fortunatae" und den „Elysäischen Gefilden" verglichen und zurecht ihre Verwandtschaft mit Piatons Politeia hervorgehoben wird, so unterstreicht diese Einordnung in eine literarische Tradition die Fiktionalität des Werkes und bildet zugleich einen wichtigen Ansatz für die Konstituierung der literarischen Gattung Utopie17. Für die begriffsgeschichtliche Entwicklung von utopie im Französischen besitzt vor allem der Brief von Budé an Lupset vom 31. Juli 1517, der die Pariser Ausgabe der Utopia begleitete (Paris, Gilles de Gourmont, 1517), besondere Bedeutung, weil er auch in der ersten französischen Übersetzung der Utopia von Leblond (1550) in Französisch abgedruckt wurde, während die übrigen Begleitbriefe der Humanisten erst 1715 in der Übersetzung von Nicolas Gueudeville dem nicht lateinkundigen Publikum zugänglich gemacht wurden18. 15
) Utopia [2] (Seite/Zeile): 32/29-30,34/15,32/30 (J. Busleyden); 12/12-13 (G. Budé); 20/5 (Hexastichon); 26/29-30 (J. Desmarais); 14/20 (G. Budé); die folg. Synonyme für „Utopia" ebd., 18/25 (Utopiensium Alphabetum), 20/9 (Hexastichon), 10/2 u. 12/6 (G. Budé). 16 ) Vgl. v. a. ebd. (Seite/Zeile): Budé 14/19-22, Gilles 22/10-11, Desmarais 26/29-30, Busleyden 34/12. n ) Ebd. (Seite/Zeile): 12/2-3 „[... Vtopiam] insulam nimirum fortunatam, Elysijs fortasse campis proximam [...]" (Budé) ; Politeia ebd. 20/5 (Hexastichon), 20/18-19 (Gilles). ls ) Ebd. 4-14; M O R U S , Übers. Leblond: La Description de l'isle d'Vtopie ov est comprins le miroer des republicques du monde, & l'exemplaire de vie heureuse: rédigé par [...] Thomas Morus [...] Auec l'Espistre liminaire composée par Monsieur Budé [...], Paris, C. L'Angelier, 1550 (BN:Rés. * E 630), S. [V-XVI] „GVILLAVME BVDE A THOMAS Lupset Angloys"; M O RUS, Ûbers. GUEUDEVILLE [44], Edition Leide, P. van der Aa, 1715, Humanistenbriefe unpag. vor Text, „Guillaume B U D É E [sic] Salüe Thomas LUPSET, Anglois"; Edition Amsterdam, F. L'Honoré, 1730, S. LXXVIILXXXVII.
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c) Die Erstbelege für die Übernahme des griechisch-lateinischen Wortes Utopia und seiner Ableitungen ins Französische sind in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts zu datieren: Utopique,, Adj. (1529 Tory), Utopie, Subst. (1532 Rabelais), Utopiens, Utopienes, Subst. (1546 Rabelais), Utopotie (1550 Leblond), Utopiens, Utopiennes, Adj. (1550 Leblond), Udepotie (1559 Aneau) 19 . Um die Mitte des 16. Jahrhunderts ist damit eine relativ große Wortfamilie ausgebildet, die erst im 18. Jahrhundert um neue Ableitungen erweitert werden wird. Sie umfaßt den Eigennamen des Moreschen Idealstaats Utopie, die substantivische Bezeichnung für die Einwohner dieses Landes, Utopiens, Utopiennes, zwei adjektivische Ableitungen mit der Bedeutung ,zu (Mores) Utopia gehörend', ,Utopia betreffend', Utopique und Utopien, -ne, endlich zwei Formen für die Eigennamen Utopia und Udepotia, Utopotie und Udepotie. Die in der Regel anzutreffende Großschreibung und die zuweilen zu beobachtende typographische Hervorhebung des Wortes Utopie und seiner Ableitungen betont deren Status als Neologismen und ihre enge semantische Bindung an den Eigennamen der Moreschen Utopia. Als Beispiel sei der Erstbeleg von Geoffrey Tory zitiert, der in seinem Champ Fleury (Paris 1529), einem Buch über die Kunst des Schriftschreibens, als Kuriosität auch das VTOPIENSIVM A L P H A B E T V M aus der Utopia abbildet und kommentiert: „[...] les Lettres Vtopiques que iapelle Vtopiques pource que Morus Läglois les a baillees & figurees en son Liure quil a faict & intitule. Insula Vtopia. Lisle Vtopique" 20 . Wenn Rabelais in der fiktiven Geographie seines Romanzyklus von Gargantua und Pantagruel den Eigennamen der Utopia als Bezeichnung für das Land seiner Riesen, le pays de Utopie, entlehnt (Pantagruel, 1532), stellt dieser Gebrauch des Eigennamens in einem völlig neuen fiktionalen Kontext kein bloßes Zitieren dar, sondern enthält einen An-
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Utopotie, S . [ X V I I ] „Dixain du translateur": champs Vtopiens, S. [XI] Budé à Lupset: loix Vtopiënes; B. ANEAU: La Répvbliqve d'Vtopie [22], 3-6 „Advertissement", dort S. 4. G. TORY: Champ Fleury. Au quel est contenu Lart & Science de la deue & vraye Proportiö des Lettres Attiques [etc.], Paris, G. Tory et G. Gourmont, 1529 (BN, Impr.: Microfiche m. 1005), Titelseite vo. „Les Vtopiques" (se. Lettres), S. 73 vo. „les Lettres Vtopiques", „Lisle Vtopique" (sc. „VTOPIENSIVM ALPHABETVM." in: Utopia [2], S. 18.
) TORY [ 2 0 ] ; RABELAIS [ 2 1 ] ; LEBLOND [ 1 8 ] , S . [ X I ]
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satz für den Bedeutungswandel vom Eigennamen zum Gattungsnamen für fiktive Länder und Staaten21. Gargantua datiert einen Brief „De Utopie" (Pantagruel, 1532); im Tiers Livre (1546) gründet Pantagruel une colonie de Utopiens, und der Bevölkerungsüberschuß en Utopie wird mit der physiologisch bedingten Fruchtbarkeit der Utopiens und Utopienes begründet. d) Im Jahre 1550 erschien in Paris die erste französische Übersetzung der „Utopie" von Jean Leblond mit dem Titel: La Description de l'Isle d'Vtopie, ou est comprins le Miroer des republicques du monde, & l'exemplaire de vie heureuse22. 1559 gab Barthélémy Aneau in Lyon eine überarbeitete zweite Ausgabe der Übersetzung von Leblond heraus mit dem veränderten Titel La Repvbliqve d'Vtopie, par Thomas Mavre [!], chancelier d'Angleterre, Oeuure grandement vtile & profitable, demonstrant le parfait estât d'vne bien ordonnée politique. Mit diesen beiden Ausgaben der Leblond-Übersetzung und ihren Begleittexten - vor allem der Übersetzung des wichtigen Briefes von Budé an Lupset (1550), Leblonds Lobgedicht auf „Utopia" (1550 und 1559) und dem „Advertissement déclaratif de l'oeuvre" von Aneau (1559) - , mit der Berücksichtigung der „Utopia" in den staatstheoretischen Abhandlungen von Sansovino (1567 ital., 1611 frz.), Bodin (1576) und Chappuys (1585) beginnt eine neue Phase der Utopia-Kezeption in Frankreich wie der semantischen Entwicklung von utopie im Französischen23: In gattungsgeschichtlicher Hinsicht
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)
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RABELAIS: Pantagruel (1532), in: Œuvres compi, ed. P. J O U R D A , 2 Bde., Paris 1962, Classiques Garnier, „Utopie", S. 262, 269, 335, 340, 361; ebd., 389ff. Le Tiers livre (1546), „Utopie", S. 405; Subst. „Utopiens", S. 405, 406, Subst. „Utopienes" [sic], S. 405. LEBLOND [18]; A N E A U : M O R U S , La Répvbliqve d'Vtopie [ . . . ] Traduite nouuellement de Latin en Françoys, Lyon, J. Saugrain, 1559 (BN Z. 38 894). B U D É an Lupset [18]; LEBLOND [18], S . [XVII] „Dixain du traducteur à la louenge de la saincte vie des Vtopiens."- A N E A U [22], S. [2] „Dizain", 3 - 6 „Advertissement déclaratif [etc.]".- F . SANSOVINO: Del governo, de regni et delle repvbliche antiche et moderne [...] libri XXI [ . . . ] , Venetia,
9
Utopie, Utopiste
wird Morus' Utopia mit Piatons Politeia der staatswissenschaftlichen Literatur zugeordnet; dem entspricht in begriffsgeschichtlicher Hinsicht eine Bindung des Wortes Utopie an den staatswissenschaftlichen Diskurs und seine Bedeutungserweiterung vom Eigennamen der Moreschen Staatskonstruktion zur pseudogeographischen Metapher für den fiktiven (Ideal-)Staat. In dieser Rezeptionsphase werden die Bedeutungsmerkmale des Eigennamens Utopie, die sich bei der Analyse der f/top/a-Deutungen durch das Primärpublikum der Humanisten für das Lateinische ergeben hatten, für das Französische bestätigt. Mit dem Eigennamen Utopie verbinden sich vor allem die Vorstellungen NichtWirklichkeit, Idealstaatsentwurf, Tugendideal, Nichtrealisierbarkeit, Normfunktion. Im staatstheoretischen Diskurs werden der Begriff der Norm für den politischen und moralischen Bereich und das Bewußtsein von der kritischen und pragmatischen Funktion des normativen Gegenbildes zu dominanten Elementen bei der Inhaltsbestimmung des Eigennamens Utopie. Die ,Utopie' wird definiert von Budé (frz. 1550, lat. 1517) als „vn exemplaire d'heureuse vie et vn arrest de viure, vne pepiniere delegantes & vtiles institutions "; von Leblond (1550) als „ le miroer des republicques du monde, & l'exemplaire de vie heureuse"; von Aneau (1559) als „vne morale Republique, & tresparfaite politique, 1'Image d'vne tres excellente pólice de Republique, vn Archetype parfait de vraye Politique"-, von Sansovino (1567, frz. 1611) als Fiktion, die „il vero modo di viver bene, & felicemente" lehre; Chappuys (1585) übernimmt die
M. Sessa, 1567 (BN: G. 3964), S. 182-200 (ro. et vo.) „Delgoverno della Repvb. d'Vtopia libro ventesimoprimo", vgl. frz. Übers. F . SANSOVIN: DU Govvernement et administration de divers Estais, Royaumes & Republiques, tant anciennes que modernes. [ . . . ] Paris, J. Milot, 1611 (BN: * E 5236), S. 359-383 (ro. et vo.) „Dv gowernement et administration de la Repvblique d'Ytopie."- J . B O D I N : Les six Livres de la République avec l'Apologie de R. Herpin, Faksimiledruck der Ausgabe Paris 1583 ['1576], Scientia Aalen 1961, S. 4,702-703,1041.-G. CHAPPUYS: L'Estat, description et govvernement des royavmes dv monde, tant anciennes que modernes. Comprins en XXIII. Liures [...], Paris, P. Cauellat, 1585 (BN: Rés. G. 279), S. [1] des „Avant-propos", 298-315 „De la Répvbliqve d'Vtopie, Estât & Gouuernement d'icelle. Livre vingt-qvatriesme. 17
Utopie, Utopiste
10
Formel Sansovinos, die „Utopie" lehre „le vray moyen de bien & heureusement viure"-, Du Verdier (1585) wiederholt wörtlich die Charakterisierung von Aneau24. Als repräsentatives Urteil über die dem Werk zuerkannte kritische und pragmatische Funktion kann der Schlußsatz des „Avertissement déclaratif" von Aneau gelten, die „Utopie" erstrebe [ . . . ] à delectable & vtile fin de remonstrer par vn plaisant discours, les fautes des Republiques présentes, & figurer vn Archetype parfait de vraye Politique, auquel les autres deuront conformer, ou pour le moins le plus près que possible sera en approcher25.
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sind im Gebrauch des Wortes Utopie und seiner Ableitungen deutliche Anzeichen für die Ablösung der Bedeutung vom Eigennamen Utopia zu beobachten. Wenn Leblond (1550) in seinem Lobgedicht auf die Utopia vorschlägt, den antiken Begriff der champs Elisiens durch das zeitgemäßere Synonym champs Vtopiens zu ersetzen, weil Utopia im Vergleich zur zeitgenössischen Wirklichkeit als Paradies anzusehen sei, so zeigt diese Gleichsetzung, das das Adjektiv Utopiens hier vor allem NichtWirklichkeit und Idealität ausdrückt, also metaphorisch gebraucht wird26. Als Herausgeber der Discours politiques et militaires von La Noue empfiehlt De Fresnes 1587 dem von den Religionskriegen heimgesuchten Frankreich die politischen Lehren dieses Werkes als nützlich und realistisch: Car l'autheur ne s'est point amusé à forger vne Idee de perfection Utopienne, comme quelques Philosophes anciens & modernes: mais il s'est estudié à s'accomoder tellement à nostre goust & disposition, [.. ,]27.
24
) BUDÉ [ 1 8 ] , S. [ X I I I ] u n d [ X V I ] ; LEBLOND [ 1 8 ] , T i t e l ; ANEAU [ 2 2 ] , „ A d v e r -
tissement", S. 3, 4, 6; SANSOVINO [23], ital., S. 182, franzôs. S. 359 vo.; CHAPPUYS [23], 298; A . D u VERDIER, La Bibliothèqve
d'Antoine
Dv
Ver-
dier, Seigneur de Vavprivas, Contenant le Catalogue de tous ceux qui ont escrit, ou traduicten François [etc.], Lyon, B. Honorât, 1585 (BN: Q. 61), S. 111. 25
26 27
) ANEAU [22], „Advertissement", S. 6.
) LEBLOND [18], S. [XVII] „Dixain du translateur". ) DE FRESNES: ,,AV ROY DE NAVARRE", in: Discovrs politiqves et militaires du Seigneur de la Noue. Novvellement recueillis & mis en lumiere. Basle, F. Forest, 1587 (BN: * E. 830), 7 S. unpaginiert, Zitat S. [6],
18
11
Utopie, Utopiste
Die komplexe Wortverbindung Idée de perfection Utopienne bezeichnet eine „politisch unrealistische/unrealisierbare Vorstellung/ Zielsetzung". In seiner 1556 entstandenen Abhandlung über die Genfer Verfassung schreibt François de Bonivard, die erbsündebedingte Bosheit der Menschen verhindere in Genf wie überall die korrekte Prozeßführung, „[...] si quii ne faut c[h]ercher rondts & entiers plaidoieurs, qui par cauillations ne prolongent les procez, sinon en vtopie"28. Das Wort utopie, hier erstmals in Kleinschreibung belegt, dürfte in diesem Kontext bereits die allgemeinere Bedeutung .fiktives erbsündefreies Gemeinwesen', ,Idealstaat' besitzen. Ohne das Wort utopie zu verwenden, gibt Jean Bodin in seinem zuerst 1576 veröffentlichten Werk Les six Livres de la République eine durch die negativ konnotierten Bedeutungsmerkmale ,Nichtwirklichkeit' und ,Realitätsferne' bestimmte Definition der Idealstaatsentwürfe (Républiquefs]) von Piaton und Morus als Républiquefs] en Idee sans effect, als „reine wirklichkeitsfremde Gedankengebilde", gegen die er seine wirklichkeitsgerechte, den „reigles Politiques" folgende Definition des Staates (République) abgrenzt29. Der Wortgebrauch von Bonivard und De Fresnes belegt eine semantische Entwicklung von Utopie/utopie, in der die Bedeutungsmerkmale ,Nichtwirklichkeit' und ,Idealstaatsentwurf' nicht mehr mit dem positiv bewerteten Merkmal der Norm (mit kritischer oder gar pragmatischer Funktion), sondern mit den negativ bewerteten Merkmalen ,Praxisferne' und ,Unrealisierbarkeit' kombiniert werden. Im Jahre 1611 wird das Wort utopie zum ersten Mal als Lemma in ein Wörterbuch aufgenommen; in A Dictionarie of the French and English Tongues von Rändle Cotgrave findet sich der Eintrag: „Vtopie: f. An imaginarie place, or countrey"30. Cotgrave bezeugt, daß der Prozeß der Bedeu-
M
) F. BONIVARD: Advis et devis de l'ancienne et nouvelle police de Genève [etc.], Genève, J.-G. Fick 1865, S. 1-158, dort 37. 29 ) BODIN [23], S . 4u. Iff.; vgl. MONTAIGNE: Essais, in: Œuvres complètes, ed. A . T H I B A U D E T / M . R A T , Paris 1962 (Bibl. de la Pléiade, 14), I , XXXI, S . 200ff., „Des Cannibales" (1580), 204 als Umschreibung der fiktiven Idealstaaten „inventions à feindre une heureuse condition d'hommes". 30 ) A Dictionarie of the French and English Tongues, Compiled by Rändle COTGRAVE, Reproduced from the first edition, London, 1611, with introduction by W . S. W O O D S , Columbia, Univ. of South Carolina Press, 1950; vgl. „Introduction" (5S. unpag.) die Bibliographie der späteren Ausgaben (2. u. 3.S.), die Quellen (3.S.) und die Beurteilung des Lexikons als (5.S.) „the chief lexicographical source of our knowledge about Middle 19
Utopie, Utopiste
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tungserweiterung vom Eigennamen der Utopia zur pseudogeographischen Metapher für den fiktiven (Ideal-)Staat abgeschlossen ist. Dieser Bedeutungswandel findet eine Parallele in der schon im 16. Jahrhundert wiederholt begegnenden Verwendung des Eigennamens Utopia als fiktive Ortsangabe in der Titulatur gedruckter Schriften 31 . Es fällt auf, daß die kurze englische Definition die in der vorausgehenden semantischen Entwicklung nachgewiesenen positiven Bedeutungsmerkmale ,Idealstaat' und ,Norm' wie auch die negativen Merkmale, Wirklichkeitsfremdheit' und ,Unrealisierbarkeit' zwar nicht ausschließt, aber auch nicht explizit aufführt. Dies erklärt sich sicherlich aus dem Organisationsprinzip des Äquivalenzwörterbuchs, das keinen Raum für eine ausführlichere Definition gewährt, so daß nur das wichtigste, allen Bedeutungsvarianten gemeinsame Element (imaginarie... countrey) aufgenommen worden ist. 2. Die Ausbildung der Gattung der Reiseutopie in der französischen Literatur und das , Verschwinden' des Wortes utopie im 17. Jahrhundert a) Die Rezeption der Utopia im Frankreich des 17. Jahrhunderts, die Konstituierung einer Gattung ,Utopie' und das Entstehen eines Gattungsbewußtsteins durch Veröffentlichung und Verbreitung der Renaissanceutopien, das Interesse der Staatswissenschaft an den Utopien, endlich die Ausbildung der Untergattung der Reiseutopie in der französischen Literatur stehen in auffälligem Kontrast zum Fehlen einer festen Gattungsbezeichnung und zum „Verschwinden" des Wortes Utopie und seiner Ableitungen im Französischen des klassischen Jahrhunderts. Obwohl das Wörterbuch von Cotgrave, das Utopie schon 1611 als Lemma aufgenommen hatte, auch in den neuen Ausgaben der Jahre 1632,1650,1660 und 1672-73 den Eintrag Vtopie von 1611 wiederholte, sind bisher nur zwei Belege (1623 u. 1668) bekannt geworden, in denen der Eigenname Utopie als Metapher im
31
)
20
and Renaissance French." Hauptquelle Cotgraves war NICOT: Thresor de la langue françoise, Paris 1606, der das Wort Utopie noch nicht enthält. GIBSON, 413ff. „Utopian Addresses", Nos. 860-877; erster lateinischer B e l e g S . 416, No. 861 „Utopiae, 1618"; erster französischer Beleg S. 418, No. 869 „[Meusnier de Querion (Anne Gabriel)]. Règlement pour l'opéra de Paris, avec des nottes historiques.- A Utopie, chez Thomas Morus, [au Papillon], 1743."
13
Utopie, Utopiste
Sinne von „pays imaginaire" interpretiert werden könnte: So wurde 1668 der Titel eines fiktiven Reiseberichts von H. Neville, The Isle of Pines, or a late discovery ofafourth island in Terra Australis, Incognita [...], in der französischen Übersetzung als Voyage du sens commun à l'isle d'Utopie wiedergegeben32. Ein kurzer Überblick über die Utopia-Rezeption und die französische Gattungsentwicklung im 17. Jahrhundert ist unerläßlich, weil diese die Voraussetzung für die semantische Entwicklung im 18. Jahrhundert bilden33. Schon im 16. Jahrhundert wurden Morus' Utopia und Piatons „Politeia" als artverwandte Werke aufgefaßt (1516 Gilles, 1567 Sansovino, 1576 Bodin, 1585 Chappuys) und zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen erhoben: Sansovino analysierte die „Utopia" in seiner Abhandlung Del governo, de regni et delle republiche antiche et moderne (1567, frz. 1611); Chappuys widmete, in Kenntnis des Werkes von Sansovino, das letzte Kapitel seines Buches L'Estât, description et govvernement des royavmes et republiqves du monde (1585) der Darstellung der „République d'Vtopie". Im 17. Jahrhundert bilden Campanellas Civitas solis (1623) und Bacons Nova Atlantis (lat. 1638, engl. 1627) mit der Utopia das für Frankreich bestimmende Textkorpus der Renaissance-Utopien. Gabriel Naudé, der in
32
)
33
COTGRAVE [ 3 0 ] : Stichwort Vtopie jeweils „Part I " der 2 . bis 4 . Ausgabe A Dictionarie of the French and English Tongues, London, A. Islip, 1632; A French-English Dictionary, London, H. Robinson, 1650; A French and English Dictionary, London, W. Hunt, 1660; dasselbe, London, A. Dolle, 1673.-Cotgraves Art. Utopie wird wiederholt von G. MIÈGE: A Dictionary of Barbarous French. Or, A Collection, Bay way of Alphabet, of Obsolete, Provincial, Mis-spelt, and Made Words in French. Taken out of COTGRA VE's Dictionary, With some Additions. A Work much desired, and now performed, For the Satisfaction of such as Read OLD FRENCH. London, Th. Basset, 1679. Vgl. hingegen COTGRAVE (31650). „The Epistle Dedicatory" des Hrsg. J . HOWELL (unpag., 6.S.), alle Abweichungen von „the refined Court-French now current" seien durch + gekennzeichnet (+ fehlt bei Utopie).-Belege von 1632 u. 1668: L. DOCHEZ: Nouveau Dictionnaire de la langue française, Paris 1860, s. v. utopie, gibt als Beleg C. Du PERRON, 16e s., „au pays d'Utopie, avec la république de Morus", wahrscheinlich aus Les ambassades et negotiations de l'illustrissime & reuerendissimecardinalDvPerron [...], Paris, A. Estiene, 1623 (Jacques Davy, cardinal, 1556-1618).- GIBSON, 373, No. 741 „[Neville (Henry)], 1620-1694. The Isle of Pines, [ . . . ] By Henry Cornelius Van Sloetten [ . . . ] London, 1668", Titel der frz. Übers, von 1668.
) Vgl. FUNKE: Zur Geschichte der Gattungsbezeichnungen der literarischen Utopie. 21
Utopie, Utopiste
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seiner Bibliographiapolítica (1633, frz. 1642) alle Werke der „politischen Wissenschaft" (prudentia civilis) zu beschreiben versuchte, charakterisiert die großen Renaissance-Utopien und unterstreicht die normative Zielsetzung ihrer Autoren, „[...] qui verae alicuius ac perfectissimae Reipublicae formam aut potius ideam nobis exprimere voluerunt [ . . . ] " , „ [ . . . ] qui se sont efforcé de nous faire voir la forme ou plutost l'idee de quelque veritable & parfaicte Republique [.. .J"34. Auch Naudé begreift die Utopien mithin als Norm für die Kritik der politischen Realität. Als Beispiele nennt er Morus' Utopia, Campanellas Civitas solis und die satirisch-allegorische Reisebeschreibung Mundus alter et idem sive Terra Australis incógnita (1607) des englischen Bischofs Joseph Hall, Naudé umschreibt die literarische Gattung Utopie mit Formulierungen, in denen sich eine spätere Gattungsbezeichnung für die Utopie (imaginaria Respublica, république imaginaire, gouvernement imaginaire) ankündigt: „perfectissimae Reipublicae formam aut ideam exprimere"; „imaginariae Reipublicae formam scriptis consignare", „[mettre] par escrit la forme d'vne telle Republique imaginaire"35. Die „Table des Autheurs" der französischen Übersetzung (1642) dieses Standardwerks von Naudé enthält eine bibliothekarisch-bibliographische Klassifikation, in der Morus und Campanella als Autoren der Utopia bzw. der Civitas solis unter der Gattungsbezeichnung Politiques imaginaires eingeordnet sind36. Die „Utopia" war dem französischen Publikum des 17. Jahrhunderts im lateinischen Original und in französischer Übersetzung zugänglich: Von 1601 bis 1672 erschienen zehn lateinische Ausgaben des Werkes; neben die beiden Ausgaben der älteren Übersetzung von Leblond (1550, 1559) trat 1643 eine neue Übersetzung von Samuel Sorbière, L'Vtopie de Thomas Morus (Amsterdam, lean Bla-
34
Gabrielis Navdaei Paris. Bibliographia politica [...], Venetiis, apud Fr. Baba, 1633 (BN: Q 3469), S. 34-36 Idealstaaten, 34 Zitat, 35 Utopia; NAUDÉ: La Bibliographie politiqve dv sr. NAVDÉ. Contenant les liures & la methode nécessaires à estudier la Politique. [Übers. Ch. CHALLINE], Paris, Vvede G. Pelé, 1642 (BN: Q 3470), S. 43-46 républiques imaginaires, 43 Zitat, 44 Utopia.
) G . NAUDÉ:
35) NAUDÉ [ 3 4 ] , l a t . , S . 3 4 u . 3 5 ; f r z . , S . 4 3 u . 4 4 .
frz., 2 2 ques imaginaires".
*») NAUDÉ [ 3 4 ] ,
22
S.
unpag. „Table des Autheurs", dort
4. S.
„Politi-
15
Utopie, Utopiste
eu)37. In seiner Bibliothèque françoise (1664), einer kommentierten Bibliographie des aktuellen Wissens der lateinunkundigen „honnêtes gens", berücksichtigte Charles Sorel auch drei Utopien (Gouvernemens imaginaires), darunter die Utopia und die Histoire du grand et admirable royaume d'Antangil, „[...] qui ont esté données pour vn modelte d'Estats bien gouuernez3S• Auch diese Formulierung verweist auf die Normfunktion der Utopien. b) Die anonyme Histoire du grand et admirable royaume d'Antangil, die unverkennbar dem Moreschen Prototyp nachgebildet ist, erscheint im Jahre 1616 als erste französische Utopie. Mit den kosmischen Reisen zum Mond und zur Sonne von Cyrano de Bergerac (1657,1662) entsteht die Gattung des phantastischen Reiseberichts, der sich als Satire mit utopischen Elementen kennzeichnen läßt. Aus der Verbindung der literarischen Tradition der Renaissance-Utopien mit der der authentischen Reiseliteratur entspringt die Gattungsvariante der .realistisch' gestalteten, als authentischer Reisebericht ausgegebenen Reiseutopie, die mit La Terre australe connue (1676) von Foigny, der Histoire des Sévarambes (1677-79) von Vairasse und der Histoire des Ajaoiens von Fontenelle (um 1682) begründet wird und im Jahrhundert der Aufklärung als erfolgreichste der utopischen Gattungen dominiert39. Die starke Anlehnung der Reiseutopie an die authentische Reiseliteratur, deren Gattungsbezeichnung (relation, voyage, histoire) sie übernimmt, hat im 17. Jahrhundert die Ausbildung einer eigenen Gattungsbezeichnung verhindert und die Bedeutungserweiterung des Eigennamens Utopie zur literarischen Gattungsbezeichung bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts verzögert.
37
) GIBSON, S. 1 6 - 2 3 , Nos. 8 - 1 7 : lat. Editionen; S. 27, No. 21 Sorbifere. SOR-
BIERE: L'Utopie de Thomas Morus, [ . . . ] traduite par Samuel Sorbiöre; Amsterdam, J. Blaeu, 1643. 38 ) Ch. SOREL: La Bibliotheqve frangoise, Paris 1664 (Preuß. Staatsbibl. Berlin: Am 132), S. 59-63 „Des livres de politiqve", 61f. Zitat. 39 ) Vgl. FUNKE: Studien zur Reiseutopie der Frühaufklärung, 94ff., dort besonders l l l f f . ; zum Folgenden FUNKE: Zur Geschichte der Gattungsbezeichnungen, 83f.
23
Utopie, Utopiste
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II. Von der pseudogeographischen Metapher für den fiktiven (Ideal-)Staat zur literarischen Gattungsbezeichnung und zum ambivalenten politischen Begriff (18. Jahrhundert) 1. ,Wiederentdeckung' des Wortes ,utopie' als pseudogeographische Metapher für den fiktiven (Ideal-)Staat (1710-1752) a) In den neuen Wörterbüchern, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts veröffentlicht und in weiteren Neuausgaben herausgegeben worden sind, fehlt das Lemma utopie: in den Wörterbüchern von Richelet (1680), Rochefort (1684), Furetière (1690) wie im Dictionnaire de l'Académie 01694, 21718,31740) und im Dictionnaire de Trévoux 01704,21721, 3 1732, 41743)40. Die Wörterbücher spiegeln hier nicht die aktuelle Sprachentwicklung wider, denn der erste Beleg des Wortes utopie datiert aus dem Jahre 1710. Utopie und seine Ableitungen bilden im 18. Jahrhundert eine relativ große Wortfamilie mit den Wortbildungen utopie (1710), Utopiens, Utopiennes, Subst. (1715), utopien(s), -ne(s), Adj. (1715), utopier, s'utopier, s'utopianiser (1715), utopiser (1770), utopique (1770, les utopiens („die Utopisten", 1789)41. Der Erstbeleg für Utopie im 18. Jahrhundert entstammt der in französischer Sprache geschriebenen Théodicée von Leibniz (1710), der den Plural des Eigennamens Utopie in einem Kontext gebraucht, der ihm die Funktion einer literarischen Gattungsbezeichung verleiht. Nach der ausführlichen Darlegung seiner These, daß die existierende Welt als die von Gott erwählte und erschaffene die beste aller möglichen Welten sei und folglich auch deren Unvollkommenheit akzeptiert werden müsse, verwirft Leibniz die fiktionalen Idealstaatskonstruktionen, die eine noch bessere (sündenfreie!) Welt als die existierende beste (der erbsündigen Menschheit) als möglich ausgeben:
RICHELET (1680); C. de ROCHEFORT: Dictionnaire général et curieux de la langue française, Fol., Lyon 1684; FURETIÈRE (1690); Dict. Acad. (1694); Dict. Trévoux (1704). 41 ) Belege vgl. im folgenden, zu utopiste vgl. unten II. 3 b) u. dort Anm. 67 und III. 1 d) u. dort Anm. 86. 40
)
24
Utopie,
17
Utopiste
Il est vrai qu'on peut s'imaginer des mondes possibles sans péché & sans malheur, & on en pourrait faire comme des Romans des Utopies, des Sevarambes; mais ces mêmes mondes seraient d'ailleurs fort inférieurs en bien au nôtre [ . . . ] vous le devés juger avec moi ab effectu, puisque Dieu a choisi ce monde tel qu'il est42. In möglichst wortgetreuer Übersetzung lautet der entscheidende Satz: „Zwar kann man sich mögliche Welten ohne Sünde und ohne Unglück vorstellen und man könnte daraus so etwas machen wie Romane von Utopias, von den Sevarambiern [ . . ,]" 43 . Leibniz gebrauchte noch nicht den Gattungsnamen des utopies, aber auch nicht mehr die denkbare Umschreibung des Romans à l'exemple de l'Utopie: D i e Vorstellung des Moreschen Werkes ist zwar noch sehr deutlich präsent und findet in der Anführung des gekürzten Titels der Histoire des Sévarambes eine Parallele, doch kann man hier die Pluralbildung des Eigennamens, des Utopies, als sprachlichen Ausdruck für die gattungsbildende Funktion des Prototyps, die Wortverbindung des Romans des Utopies als das Äquivalent einer Gattungsbezeichnung interpretieren.
Essais de Theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l'homme et l'origine du mal, Amsterdam, I. Troyel, 1710 (BN: R. 35361 bis 62), S. 117f., vgl. LEIBNIZ: Die philosophischen Schriften, ed. C. D. GERHARDT, Bd. V I . Hildesheim, Olms, 1961, S . 108. 43 ) Vgl. die Übers, von J. Ch. GOTTSCHED: Herrn Gottfried Wilhelms Freyherrn von Leibnitz Theodicee, das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freyheit des Menschen, und vom Ursprünge des Bösen, 4. Ausg., Hannover u. Leipzig, N. Förster, 1744, S. 155: „Zwar kann man sich wohl mögliche Welten ohne Sünde und Unglück einbilden, und davon gleichsam Romanen schreiben, wie von Utopia und von den Severamben [ . . . ] . " Leibniz' Wortverbindung „des Romans des Utopies" bezeichnet das, was wir heute „Gattung der literarischen Utopie" nennen, ist also das „Äquivalent einer Gattungsbezeichnung", doch ist der darin enthaltene Plural des Eigennamens „des Utopies" noch kein Beleg für die Verwendung des Wortes utopie als literarische Gattungsbezeichnung, obwohl dies in wichtigen frz. (Sach-)Wörterbüchern bis heute zu Unrecht behauptet wird; vgl. z.B. A. LALANDE, Vocabulaire technique et critique de la philosophie, 10e éd., Paris, 1968, S. 1178-1181 Art. „UTOPIE", dort S. 1179; FEW, 13 Bd./ 1. Teil, 1966, S. 37 Art. „töpos (gr.) ort" (unter Berufung auf LALANDE); Grand Larousse de la langue française en 7 vol, VII, 1978, S. 6357 s.v. „utopie", sens 2; Le Grand Robert de la langue française, Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française, 2e éd. entièrement revue et enrichie par A. REY, Paris, Bd. VIII, 1985, S. 611 s. v. „UTOPIE", sens 2. 42
) G . W . LEIBNIZ:
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b) Für das lateinunkundige Publikum des 18. Jahrhunderts wurde die Utopia 1715 durch die paraphrasierende Übersetzung von Nicolas Gueudeville, die erstmals alle Begleitbriefe der Humanisten enthielt, neu erschlossen: L'Utopie de Thomas Morus, Chancelier d'Angleterre; Idée ingenieuse pour remedier au malheur des Hommes; & pour leur procurer une félicité complette44. In dieser Übersetzung, deren Erfolg durch vier Ausgaben (1715a, 1715b, 1717,1730) bezeugt wird, sind die folgenden Bedeutungen und Ableitungen des Wortes Utopie zu belegen: Utopie als Eigenname der Insel, des Staates, des Moreschen Werkes; Udepotie als Synonym von Utopia (Budé); Utopiens, Utopiennes, Subst.; Utopien(s), -ne(s), Adj.; endlich als Neologismen Gueudevilles die postnominalen Verben Utopier (transitiv) und s'Utopier, s'Utopianiser (reflexiv), ,(sich) in ein Utopia verwandeln'45. Die relativ getreue Übertragung der Begleitbriefe dokumentiert das „Utopia"-Verständnis der Humanisten, in dem das Bedeutungselement der Normfunktion dominiert (vgl. I.I.); die „Utopia" gilt als „Modèle d'une vie heureuse" (Budé), als „cette idée de République, cette Régie de Moeurs, cette Image parfaite de la maniéré
**) Titel nach Orig. (Staatsbibliothek Braunschweig: I 10/539), Untertitel: „Cet Ouvrage contient Le PLAN D ' U N E REPUBLIQUE dont les Lois, les Usages, & les Coutumes tendent uniquement à faire faire aux Societez Humaines le passage de la Vie dans toute la douceur imaginable. REPUBLIQUE, Q U I DEVIENDRA infailliblement réelle, des que les Mortels se conduiront par la Raison. Traduite nouvellement en François P A R M1". G U E U D E VILLE [...]", Leide, P . van der Aa, 1715. Die anderen Ausgaben vgl. G I B SON, S. 28-31, Nos. 22a, 22b, 23, 24; die Ed. Amsterdam, R. & G. Wetstein, 1717 (Landesbibl. Coburg: G19/19) stimmt in Text, Druck und Seitenzahlen mit der 1. Ed. 1715 überein; BN besitzt nur Ed. 1730: Idée d'une république heureuse: ou L'Utopie de Thomas Morus, Amsterdam, F. L'Honoré, 1730 (Z. 32985). 45 ) Belege MORUS/GUEUDEVILLE [44], 1715, immer durch Kursive (bzw. durch Normalschrift in kursivem Text) hervorgehoben und mit Majuskel, Seitenangaben im folgenden nur bei seltenen Ableitungen bzw. Bedeutungen: Utopie, Insel, Land, Stadt Abraxa (S. 101), Werk des Morus; Subst. Utopien, Utopiens, Utopiennes (S. 149); Adj. Utopien,-s, Utopienne,-s, en Utopien (S. 350b), utop. Sprache; s'Utopier. S. [12] vgl. unten; Utopier: S. 138 vgl. unten, S. 342 „II y a [ . . . ] long tems, que Nôtre Législateur Dieu aurait Utopié le Genre Humain, [...]", vgl. S. 157 „faire de la Terre une Utopie"; s'Utopianiser: S. 348 vgl. unten; Udepotie: 8. S. derunpag. „Lettre de G. Budée [!] à Thomas Lupset".
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dont ils [sc. les hommes] devraient vivre ensemble" (Buslidius)46. In der Paraphrase Gueudevilles verblaßt die mögliche pragmatische Funktion der Utopia allerdings zu einem hilflosen Wunsch; der Hinweis auf eine Wundertat Gottes als Bedingung der Möglichkeit einer Realisierung Utopias ist für den Aufklärer Gueudeville mit der Feststellung der Unrealisierbarkeit gleichzusetzen: „Oh, s'il plaisoit au Ciel de vouloir bien Utopier toute l'Espece Humaine [•..]", „[...] fasse le Ciel que ce Monde puisse s'Utopianiserl" Schon in der „Préface du Traducteuer" teilt Gueudeville Mores skeptische Einschätzung: „[...] il n'ignoroit pas que des Millions de Têtes trouvant leur compte dans l'ancien train, le Monde ne s'Utopiera jamais"47. Die Neologismen Gueudevilles haben sich nicht durchgesetzt. Das Zurücktreten des positiv bewerteten Bedeutungsmerkmals der Norm vor dem negativ bewerteten der Nichtrealisierbarkeit ist charakteristisch für das Verständnis der Utopia wie für die semantische Entwicklung des Wortes utopie und seiner Ableitungen im 18. Jahrhundert. c) Von der Übersetzung Gueudevilles ist offenbar kein unmittelbarer Impuls für die Ausbildung einer Gattungsbezeichnung utopie ausgegangen; sein Verleger Van der Aa benutzt im Widmungsbrief zwar den Begriff „un Gouvernement Utopien", doch verwenden beide als Definition und Gattungsbezeichnung für Mores Utopia den Terminus plan de république48. Bis zum Ende der 1750er Jahre ist das Wort utopie selten zu belegen und behält die Bedeutung ,fiktiver Ort',,fiktives Land',,fiktiver (Ideal-)Staat'. So trägt eine Reiseutopie aus dem Jahre 1711 den Titel Relation du voyage de l'isle d'Euto-
46
) Ebd., unpag. „Lettre de G. Budée [!] à Thomas Lupset" (11. S.), unpag. „Lettre de Jérôme Buslidius à Thomas Morus" (3. S.). Vgl. J. LECLERC: Bibliothèque ancienne et moderne, Bd. VII, 1717, S. 210-214 Rezension von MORUS/GUEUDEVILLE [44], Ed. 1717, dort 212 u. 213f. erkennt Leclerc die kritische und die pragmatische Funktion der Utopia. 47 ) Vgl. oben Anm. 45, alle drei Zitate sind Zusätze oder paraphrasierende Veränderungen des Moreschen Textes; zur Wiederaufnahme von s'utopianiser in Cabets Voyage en Icarie (1840) vgl. unten III. 2.2 c). 48 ) MORUS/GUEUDEVILLE [ 4 4 ] , Ed. 1715, „Epître dédicatoire", 19 S . unpag., dort 7. S., Untertitel (vgl. Anm. 44), „Préface du traducteur", 16 S. unpag., dort 13. S.
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pie in Anspielung auf das Synonymenpaar Utopia-Eutopia 49 . Abbé Prévost bevorzugte 1737 in seiner Zeitschrift Le Pour et Contre die Gattungsbezeichnung roman allégorique für die Utopien; er kennzeichnet sie als allegorische Darstellungen der „Idées de politique & de gouvernement" ihrer Autoren, denen nur ein Unterhaltungswert zuerkannt werden könne, und erklärt in einem späteren Artikel das Wort Utopie unter Hinweis auf die Etymologie als nul lieu, nicht ohne die unkorrekte griechische Wortbildung zu rügen 50 . Ein Brief Voltaires aus Brüssel vom 6. Juli 1739 belegt für utopie die Bedeutungen , Werk des Morus',,von Morus beschriebener fiktiver Idealstaat' und „pays imaginaire". Voltaires Erstaunen über die mangelnde literarische Bildung der Brüsseler Gesellschaft, der der Sinn des Wortes utopie unbekannt gewesen sei, impliziert, daß dem zeitgenössischen französischen Publikum der Gebildeten hingegen der Begriff utopie in den genannten Bedeutungen geläufig gewesen sein muß. Le Motteux, der Autor des gelehrten Kommentars einer Rabelais-Ausgabe des Jahres 1741, interpretierte den Gargantua als allegorischen Schlüsselroman historischer Ereignisse des 16. Jahrhunderts; Abbé Desfontaines, der die Rabelais-Ausgabe 1741 rezensierte 51 , zitiert als eines der Beispiele allegorischer Deutung den im Pantagruel (Kap. 23) verwendeten Eigennamen Utopie, den le Motteux als Allegorie des an die Spanier verlorenen Königsreichs Navarra erklärt, und definiert die Bedeutung des Wortes als „pays imaginaire": Le nom grec d'Utopie, (c'est-à-dire, pays imaginaire, qui n'est dans aucun lieu) donné par Rabelais au Royaume de Grandgousier ou de Gargantua, indique le Royaume de Navarre, [ . . . ] dont il ne leur restoit presque rien, ayant été envahi par le Roi d'Espagne.
«)
50
)
51
)
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GIBSON, S. 340f., No. 673: „[„E.R.V.F.L.," signed to „lettre de l'auteur."] Relation du voyage de l'isle d'Eutopie. Delft, 1711 (Harvard Univ., Cambridge, Mass.; Arsenal-Paris; 1716 (Newberry Library, Chicago, 111.)." PRÉVOST: Le Pour et Contre, 1737, XIII, 131f., und XIII, 337ff., dort 355 u. note (a); den folg. Beleg vgl. BEST., D 2040 (VI 419f.), S. 419. RABELAIS: Œuvres de Maître François Rabelais, 3 Bde., in 4°, Amsterdam, F. Bernard, 1741, Rezension bei Abbé P.-F. Guyot DESFONT AINES: Observations sur les écrits modernes, 33 Bde., Paris, Chaubert, 1735-1743, (Genève, Slatkine Repr., 4Bde., 1967), Bd. X X V (1741), S. 37-45, dort S. 40 das folgende Zitat, S. 48: 1. VII. 1741 als Datum der Lettre CCCLXII.
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Als das Wort utopie 1752 in der fünften Ausgabe des Dictionnaire de Trévoux erstmals seit Cotgrave wieder als Lemma in ein Wörterbuch aufgenommen wird, kommt in der Definition die Kontinuität der schon 1611 erreichten Bedeutungserweiterung zum Ausdruck: „UTOPIE s. f. Région qui n'a point de lieu, un pays imaginaire." Es folgen die griechische Etymologie und die lateinische Übersetzung (non locus) des Wortes; als Beispiel wird auf Rabelais' Royaume de Grandgousier ou de Gargantua und auf dessen Deutung durch le Motteux verwiesen, als Quelle wird Desfontaines' Rezension angeführt 52 . Die Ablösung der Bedeutung vom Eigennamen der Moreschen Utopia zeigt sich auch darin, daß der Prototy der Gattung im Utopie-Artikel des Dictionnaire de Trévoux nicht einmal erwähnt wird. 2. Ausbildung des literarischen Gattungsbegriffs ,utopie'im System konkurrierender Gattungsbezeichnungen (1762-1798) a) In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erweiterte sich die Bedeutung des Utopiebegriffs von der pseudogeographischen Metapher für den fiktiven (Ideal-)Staat einerseits zum literarischen Gattungsbegriff, der im engeren Sinne die literarischen Utopien, im weiteren unrealisierbare Reformpläne der Staatsverfassung und Wirtschaft bezeichnen kann 53 , andererseits zum politischen Begriff, des-
52
) Dict. Trévoux ( 5 1752), VII, 967; vgl. auch die ironische Verwendung des Eigennamens Utopie als fingierter Druckort, s. oben Anm. 31, A. G. MEUSNIER DE QUERLON, 1743, und GIBSON, S. 392f., No. 780: [TYSSOTDE P A TOT (Simon)], Voyages et aventures de Jaques Massé. Bordeaux, 1710; „L'Utopie", 1760. 53 ) W. von WARTBURG: FEW, 13. Bd./l. Teil, S. 37, s. v. „töpos" u. O. BLOCH/ W. von WARTBURG: Dictionnaire étymologique de la langue française, Paris 5 1968, S. 660, s. v. „UTOPIE", erklären die Bedeutungserweiterung von utopie zur „bezeichnung einer idealen gestaltung des staatlichen lebens" („pour désigner une conception imaginaire d'un gouvernement idéal, une chimère") unter Hinweis auf fehlende Belege aus dem 17. u. frühen 18. Jh., zu Unrecht als Neuentlehnung aus dem englischen utopia; gegen diese Deutung spricht die Kenntnis der Utopia im lat. bzw. frz. Text zumindest bei einem Teil des gebildeten frz. Publikums, die durch vielfältige Zeugnisse nachgewiesen ist (u. a. Bibliographien, frz. Übers, und Moreana, Privatbibliothekskataloge etc.), vgl. oben 1.2. und II.l., besonders N A U D É [ 3 4 ] , l a t . 1 6 3 3 , f r z . 1 6 4 2 , SOREL [ 3 8 ] , 1 6 6 4 , LECLERC [ 4 6 ] , 1 7 1 7 , S .
212, der die Utopia als bekannt voraussetzt.
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sen Inhalt zum Teil noch durch positive, in zunehmendem Maße jedoch durch negative Konnotierungen bestimmt wird. Im 18. Jahrhundert, dem „Goldenen Zeitalter der Utopie", begünstigten Produktion und Rezeption, Gattungsentwicklung und zeitgenössisches Gattungsbewußtstein die Ausbildung eines ganzen Systems konkurrierender Gattungsbezeichnungen der literarischen Utopie und ihrer Untergattungen: Es erschienen über 80 neue Utopien in französischer Sprache; die französische Utopienproduktion umfaßte etwa 325 Editionen (ca. 75% davon erschienen nach 1750); über 60% der zwischen 1750-1789 veröffentlichten neuen Texte wurden in literarischen Zeitschriften rezensiert 54 . Die literarische Gattung der Utopie bildete im 17. und 18. Jahrhundert ein System von sechs Untergattungen aus (1. klassischer Idealstaatsentwurf der Antike und Renaissance, 2. Reiseutopie, 3. pseudohistorischer Reise- und Bildungsroman, 4. utopischer Verfassungs- und Reformplan, 5. Zeitutopie, Uchronie, 6. utopisches Drama), die nach dem Fakultätsprinzip der auf Naudé (1627) zurückgehenden „französischen Systematik" der bibliothekarisch-bibliographischen Klassifikation in Bibliothekskatalogen und Bibliographien verschiedenen Klassen zugewiesen und dies gilt zumindest für die ersten drei Untergattungen - seit etwa 1735 auch terminologisch unterschieden wurden. Die klassischen Idealstaatsentwürfe (Prototypen: Piatons Politeia, République; Morus' Utopia, Utopie) gehören zur Klasse „SCIENCES ET A R T S ; Philosophie, -Politique" und erscheinen unter den Gattungsbezeichnungen traité des états (1735), république imaginaire (1642,1734), roman politique (1721, 1734). Die zumindest unter quantitativem Aspekt dominierenden Reiseutopien phantastischer, vor allem aber »realistischer' Spielart (Prototypen: Cyrano de Bergerac, L'autre monde', Vairasse, Histoire des Sévarambes) gehören zur Klasse „ H I S T O I R E ; Géographie,-Voyages" und haben die Gattungsbezeichnungen voyage imaginaire (ou relation supposée) (1735), voyage allégorique (1763), roman politique (1763), voyage imaginaire merveilleux voyage imaginaire romanesque (1787). Die pseudohistorischen Rei-
54
) Statistik und graphische Darstellung der Utopieproduktion vgl. FUNKE: Studien zur Reiseutopie der Frühaufklärung, I, S. 567-572; Utopie-Rezensionen vgl. ebd., 578-602, und FUNKE: Utopierezeption und Utopiekritik, 89-112, dort 92; zur Gattungsdifferenzierung FUNKE: Zur Geschichte der Gattungsbezeichnungen, 86ff., und FUNKE: Aspekte und Probleme der neueren Utopiediskussion, 194f.
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se- und Bildungsromane (Protoyp: Fénelon, Télémaque) gehören zur Klasse „BELLES-LETTRES; Poétique, -Romans" und erhalten die Gattungsbezeichnungen roman politique (1735), roman moral, allégorique (1754). b) In dieses dynamische System konkurrierender Gattungsbezeichnungen, in dem eine deutliche Tendenz zur Vereinheitlichung der terminologischen Varianten durch die Ausbildung des allgemeinen Gattungsbegriffs roman politique zu erkennen ist, tritt zu Beginn der 1760er Jahre die Gattungsbezeichnung utopie, die im 18. Jahrhundert sehr viel seltener begegnet als der Oberbegriff roman politique, den sie erst im 19. Jahrhundert weitgehend ersetzen wird. Der Erstbeleg für utopie als Gattungsbegriff findet sich in der vierten Ausgabe des Dictionnaire de l'Académie Française (1762): „ U T O P I E . S . f . Titre d'un ouvrage. On le dit quelquefois figurément Du plan d'un Gouvernement imaginaire, à l'exemple de la République de Platon. L'Utopie de Thomas Morus"55. Neben die Bedeutung des Eigennames („Titre d'un ouvrage") tritt die des Gattungsnamens für die literarischen Utopien, die mit Hilfe der älteren Gattungsbezeichnung (plan d'un) gouvernement imaginaire (vgl. 1642 Naudé, 1664 Sorel) und des Hinweises auf den antiken Prototyp, Piatons Politeia, definiert wird. Die diafrequente Markierung „On le dit quelquefois" wie auch das Beispiel, das der ursprünglichen Bedeutung als Eigennamen gilt, zeigen an, daß der Wortgebrauch in der neuen Bedeutung noch nicht allgemein üblich ist. Die normbildende Funktion des Akademiewörterbuchs hat die Verbreitung der neuen Bedeutung des Wortes utopie gefördert, die seither häufiger in Wörterbüchern belegt wird. Die sechste Ausgabe des Dictionnaire de Trévoux (1771) wiederholt den eigenen Artikel „UTOPIE" aus dem Jahre 1752 (vgl. oben) und ergänzt ihn um den fast wörtlich kopierten Artikel des Akademie Wörterbuchs, so daß nun die Bedeutungen „fiktiver (Ideal-)Staat" und „Gattungsbezeichnung" nebeneinanderstehen56. Le Grand Vocabulaire François (1773) übernimmt den Utopieartikel des Akademiewörterbuchs; das französisch-italienische Äquivalenzwörterbuch von Alberti (1774) wiederholt den Artikel des Akade-
55
) Diet. Acad. (41762), II, 899. ) Diet. Trévoux (61771), VIII, 489, vgl. Diet. Trévoux (51752), s. oben Anm. 52.
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miewörterbuchs unter Verzicht auf die diafrequente Markierung („quelquefois"); die neue Ausgabe des Dictionnaire portatif von Richelet (1775) kürzt den Artikel „Utopie" auf die Gattungsdefinition: „Utopie, s. f. Plan d'un gouvernement imaginaire" 57 . Hatten die deutsch-französischen Äquivalenzwörterbücher(1784 Schwan, 1785 Laveaux, 1787 Ehrmann) utopie noch allzu lange mit „dt. Schlaraffenland" gleichgesetzt, also nur eine spezifische Variante der Bedeutung „fiktives Land" registriert, so ergänzt Schwan 1793, dem Akademiewörterbuch folgend: Man bedienet sich dieses Wortes, welches durch das bekante [!] Buch, L'Utopie de Thomas Morus, in Gange gekommen, um eine Regierungsform dadurch auf eine lächerliche Art zu bezeichnen, die nach dem Muster der platonischen Republik eingerichtet wäre 58 .
Hier erhält der Utopiebegriff die explizite Bedeutung eines pejorativen politischen Begriffs, während auf die Bedeutung als Gattungsbezeichnung nur implizit verwiesen wird. Endlich definiert die fünfte Ausgabe des Akademiewörterbuchs (1798) das Wort utopie als allgemein üblichen Gattungsbegriff: UTOPIE, s. f. se dit en général d'Un plan de Gouvernement imaginaire, où tout est parfaitement réglé pour le bonheur commun, comme dans le Pays fabuleux d'Utopie décrit dans un livre de Thomas Morus qui porte ce titre. Chaque rêveur imagine son Utopie59.
Auch in dieser Definition bleibt die ältere Gattungsbezeichnung plan de Gouvernement imaginaire als Synonym des Gattungsbegriffs
57
) Le Grand Vocabulaire François, XXIX, Paris 1773, S. 91; F. ALBERTI: Dictionnaire abrégé portatiffrançois-italien, I, Venise 1774, S. 849; P. RiCHELET: Dictionnaire portatif de la langue françoise, Nouvelle Éd., entièrement refondue & considérablement augmentée, par M. D e WAILLY, II, Lyon 1775, S. 779. 58 ) Chr. Fr. SCHWAN: Nouveau dictionnaire de la langue allemande et françoise. Composé sur les dictionnaires de M. Adelung et de l'Académie Françoise, II, Mannheim 1784, S. 559 s. v. „ S C H L A R A F F E " ; D e LAVEAUX: Dictionnaire François-Allemand & Allemand-François à l'usage des deux nations, II, Berlin 1785, S. 1599 s. v. „Utopie"; Th. Fr. EHRMANN: Dictionnaire de poche allemand-françois & françois-allemand, II, Strasbourg, Paris 1787, S. 411 s. v. „Utopie"; Chr. Fr. SCHWAN: Nouveau dictionnaire de la langue française et allemande, composé sur le dictionnaire de l'Académie Françoise, et sur celui de M. Adelung, IV, Mannheim 1793, S. 653 s. v. „UTOPIE", dort Zitat. Dict. Acad. ( 5 1798), II, 710.
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utopie erhalten. Die diafrequente Markierung „se dit en général" ersetzt die frühere Einschränkung „On le dit quelquefois" (1762). Als Gattungsbezeichnung für die literarische Utopie wurde utopie im 18. Jahrhundert sehr viel seltener gebraucht als das erfolgreichere Synonym roman politique, das sowohl im „literaturwissenschaftlichen" Diskurs (1734 Lenglet Dufrenoy, 1763 Formey; périodiques: Grimm, Correspondance littéraire, 1767; Journal encyclopédique, 1774,1781; Fréron, 1752,1753,1772) als auch im staatswissenschaftlichen Diskurs (Robinet, 1777-83; Brissot de Warville, 1782; Encyclopédie méthodique, Démeunier 1784-88) dominierte60. Ein Synchronschnitt um 1790 zeigt, daß utopie im dynamischen System der Gattungsbezeichnungen der literarischen Utopie außerdem mit den Synonymen république imaginaire, plan de gouvernement imaginaire, voyage imaginaire konkurrierte. 3. Politisierung und Emotionalisierung des Utopiebegriffs im Zeichen des Unrealisierbarkeitsvorwurfs: Idealstaat, Traum, Hirngespinst-/es utopieas, die Utopisten (2. Hälfte des 18. Jahrhunderts) a) Durch den Aktualitätsbezug der Moreschen Utopia (v. a. in Buch I) und durch die Normfunktion, die dem Prototyp und der entstehenden Gattung seit der Primärrezeption im 16. Jahrhundert zugeschrieben wurde, war für das Wort utopie und seine Ableitungen ein politisches Bedeutungspotential gegeben, das aber erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die semantische Entwicklung des Utopiebegriffs bestimmt hat. Die politisch noch relativ wertneutralen Bedeutungen von utopie als „pseudogeographische Metapher für den Idealstaat" (pays imaginaire, fiktives Land, fiktiver [Ideal-] Staat) und als „literarischer Gattungsname für (mehr oder weniger fiktionalisierte) Idealstaatsentwürfe" (plan d'un gouvernement idéal! d'une république idéale) bleiben zwar bestehen (vgl. oben II.2), werden aber durch pejorisierende Bedeutungen zurückgedrängt, welche die Bedeutungsmerkmale der Unwirklichkeit und Unrealisierbarkeit hervorheben: Kennzeichnend hierfür sind der Bedeutungswandel von utopie zu chimère (,unrealisierbare politische Idee',,Traum', M
) Näheres und Belege vgl. FUNKE: Zur Geschichte der Gattungsbezeichnungen, besonders 1 0 5 - 1 0 7 ; FUNKE: Utopierezeption und Utopiekritik; G. BENREKASSA, Le savoir de la fable. 33
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,Hirngespinst'), die Prägung des Neologismus utopien(s) im Sinne von ,Utopist(en)', ,Verfechter unrealisierbarer politischer, ökonomischer oder sozialer Ideen', endlich die Bedeutungsverschlechterung der pseudogeographischen Metapher utopie von pays imaginaire zu pays des chimères und der Gattungsbezeichnung utopie von plan de gouvernement idéal zu projet chimérique. Neben dieser pejorisierenden Tendenz gibt es auch Ansätze zu einer Bedeutungsverbesserung: utopie wird zur lobenden Charakterisierung wirklich existierender Länder als scheinbar realisierter Idealstaaten verwendet bzw. zur Kennzeichnung unrealisierbarer politischer Idealvorstellungen als „schöne Träume". Das Wort utopie findet damit Eingang in die politische Sprache: Es wird emotionalisiert und ambivalent (häufiger) mit pejorativer oder (seltener) mit positiver Konnotation verwendet. Die Politisierung des Utopiebegriffs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fiel in die Zeit eines einschneidenden Wandels der Leseinteressen und Erwartungen des französischen Publikums, das unter der Wirkung der aufklärerischen Propaganda ein wachsendes Interesse an der Lektüre und Diskussion politisch-ökonomischer Reformschriften zeigte. b) Die semantische Annäherung des Wortes utopie und seiner Ableitungen an chimère, chimérique (,realitätsfremde Idee', Träumerei', ,Hirngespinst'), die beide zu Synonymen werden läßt, wurde durch das beiden gemeinsame, überwiegend pejorativ konnotierte Bedeutungselement der NichtWirklichkeit und Unrealisierbarkeit vermittelt. Bereits 1740 wurde in der französischen Übersetzung der Fable ofthe Bees von Mandeville (engl. 1714) der abschließende Appell an den Leser, die Vorstellung eines großen Staates ohne große Laster als „a vain Eutopia" zu verwerfen, mit dem Satz „Abandonnez ces vaines chimères" wiedergegeben, engl. „Eutopia" also mit frz. „chimère" gleichgesetzt61. Duclos versuchte 1751 in seinen Considérations sur les moeurs de ce siècle die Verurteilung der Idealstaatsentwürfe (,,idée[s] de république imaginaire") als chimères durch die Betonung ihrer orientierenden Normfunktion abzuschwächen: „[...] ces sortes d'idées sont au moins d'heureux modèles, des
61
The Fable ofthe Bees: or, Private Vices, Publick Benefits, ed. F. B. K A Y E , 2Bde., Oxford U924 (Repr. 1966), 1.36; MANDEVILLE: La Fable des Abeilles, ou les Fripons devenus honnêtes gens, 2 Bde., Londres 1740, Bd. I, vol. I, S. 25.
) B . MANDEVILLE:
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chimères, qui ne le sont pas totalement, et qui peuvent être réalisées jusqu'à un certain point"62. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dienten chimère und chimérique häufiger zur Kennzeichnung literarischer Utopien und politisch-ökonomischer Reformschriften, Piatons République und Morus' Utopie wurden hierbei als Prototypen angeführt. So tadelt der konservative Réal de Curban in seinem staatswissenschaftlichen Sachwörterbuch La Science du gouvernement (1764) die Utopien von Piaton, Morus und Campanella als unrealisierbare „Républiques chimériques", „plans chimériques" und „projets romanesques"; das von Robinet herausgegebene aufklärungsfreundliche Dictionnaire universel des sciences morale, économique, politique et diplomatique (1777-1783) bezeichnet die Utopia und Piatons Politeia als „chimères", als wäre dies ein Gattungsname; auch Démeunier charakterisiert in seinem, 1784-88 als Sektion der Encyclopédie méthodique erschienenen Wörterbuch für Economie politique et diplomatique die Utopien von Piaton und Morus als „républiques chimériques"63. Die Grimmsche „Correspondance littéraire" beurteilte 1771 Merciers L'An 2440 abwertend als „rêverie perpétuelle" und „chimère". Restif de la Bretonne referierte in seinem utopischen Reformplan L'Andrographe (1782) das zeitgenössische Urteil, die Idealstaatsentwürfe und Reformprojekte seit Piaton und Morus gälten als „des chimères inexécutables". Dieser Gleichsetzung literarischer Utopien mit „chimères" entspricht der synonyme Gebrauch der Wörter chimère und utopie: Fréron rügte 1768 in seiner Année littéraire die Aussagen einer politisch-ökonomischen Reformschrift als „Idées Utopiennes ou Platoniques", als „vieilles chimères", die der Prüfung durch die Vernunft nicht standzuhalten vermögen; Brissot de Warville lobte 1782 Bernardin de Saint-Pierre mit 62
) Ch. Pinot DUCLOS: Œuvres complètes, 9 Bde., Paris 1820-21 (Genève, Slatkine Repr. 1968), I, 21. 63 ) G . DE R É A L [DE C U R B A N ] : La science du gouvernement, tome huitième, Contenant l'examen des principaux ouvrages composés sur des Matières de Gouvernement, Amsterdam 1764,15-22 Art. „Platon", 16: projet romanesque; 591-606 „Morus", 593 République chimérique, 594 plans chimériques; [J.B.R. ROBINET:] Dictionnaire [...], ou Bibliothèque de l'homme d'Etat et du citoyen, 30 Bde. in-4°, Londres 1777-1783, XXIX, 658-668 Art. „Utopie", dort 658; Enc. méthodique: Econ. polit., IV, 675-678 „ U T O P I E " (Morus), dort 675. Die folgenden Belege vgl. GRIMM, IX, 395f. (1. XII. 1771), dort 396; N.-E. R É T I F D E L A BRETONNE: L'Andrographe, ou Idées d'un honnête-homme, sur un projet de règlement [etc.], La Haye, 1782, S. [11].
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den Worten, sein Stil versetze den Leser „dans un pays où l'utopie n'est plus chimère"64. In seiner Apologie de l'Abbé Galiani, mit der Diderot 1770 gegen die Getreidefreihandelspolitik der physiokratischen Regierungspartei' und ihren Propagandisten Abbé Morellet polemisierte, kritisierte der Aufklärer die wirklichkeitsfremde Argumentationsweise Morellets als die eines Utopisten und verwendete dabei zwei neue Ableitungen von utopie: „[...] vous utopisez à perte de vue." und „[...] l'abbé Morellet [...] ne s'appuyant sur aucun fait de détail, les méprisant même, est un raisonneur abstrait, utopique; [.. .]"65. Der pejorative Charakter des Neologismus utopiser wird auch daran erkennbar, daß er in einer entschärften' Fassung der Apologie gestrichen wurde. Die Wortverbindung raisonneur utopique ist die früheste, von utopie abgeleitete, pejorative Bezeichnung für den Verfechter realitätsfremder politischer Ideen', für den ,Utopisten'. Eine zweite pejorative Bezeichnung für die,Utopisten' ist durch einen Bedeutungswandel des Wortes utopiens entstanden, das in der neuen Bedeutungsvariante nicht mehr auf das ,fiktive Volk der Utopier', sondern ironisch auf die zeitgenössischen Utopier, d. h. die ,realitätsfremden Politiker' der eigenen Gegenwart, bezogen wird. Dieser Neologismus ist bei Mirabeau und Rivarol zu belegen: „Les hommes sages y admireront toujours les résultats pratiques supérieurs aux sublimes théories de nos ,utopiens'" (Mirabeau, 1789). „Pour modérer le zèle de nos modernes utopiens, il [se. Rousseau] veut leur montrer l'inutilité de leur vaste entreprise" (Rivarol, 1792)66. Moderne Wörterbücher (z. B. FEW, Grand Larousse, Robert) datieren den Erstbeleg des Wortes utopiste wohl zu Unrecht in das Jahr 1792, denn der älteste, bisher bekannt gewordene Beleg für utopiste stammt erst aus dem 19. Jahrhundert 67 .
E . - C . FRÉRON: L'Année littéraire, Paris 1754-1790, Genève, Slatkine Repr. 1966, 292 Bde. in-12 in 37 Bden. in-4,14. IX. 1768, VI, 145-162, dort 145 u. 146; J.-P. BRISSOT: Mémoires, Paris 1912, II, 275 (zit. B . BACZKO, Lumières de l'utopie, Paris 1978, 40 u. n. 26). D . DIDEROT: Œuvres politiques, ed. P. VERNIÈRE, Paris 1963 (Class. Garnier), 59-124, dort 91 u. 97. H . de M I R A B E A U , in: Le Courrier de Provence, 11-14 sept. 1789, No. 41, S. 2, zit. AP, l re série, IX, 584 col. 2, note (vgl. BRUNOT: H L F , IX, 2e par-
M
)
65
)
67
) FOURIER
t i e , S . 8 4 8 ; RIVAROL, z i t . L . D O C H E Z [ 3 2 ] , S . 1 3 1 1 .
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1818, vgl. unten III. 1. d) und g). Vgl. nacheinander F E W , XIII, I. Teil, S. 37 s. v. „töpos": „Utopien (ca. 1800, Br 9), m. «celui qui a une
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Utopie in der Bedeutung pays imaginaire wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ambivalent, weil neben der traditionellen, politisch noch relativ wertneutralen Bedeutung ,fiktiver (Ideal-) Staat' die pejorative Bedeutung pays des chimères erscheint: Grimms Correspondance littéraire rügte 1753 die pseudowissenschaftlichen Spekulationen des Romans Amilec ou la Graine d'hommes von Tiphaigne de la Roche, weil diese „les limites non pas de l'empire de la nature, mais du pays des chimères" erweiterten; die Zeitschrift Le Conservateur meinte 1760, Morus habe seinen Idealstaat nicht auf der Landkarte, sondern „au païs des visions et des belles idées" gefunden; Rousseau (1764) sah die erbitterte Kritik an seinem Contrat social in dessen Wirklichkeitsbezug begründet, sonst hätten die Kritiker das Werk wohl nur mit Vairasse' Histoire des Sévarambes „dans le pays des chimères" verbannt68. Unrealisierbare Staatsentwürfe und politische Theorien werden ins „Land der Hirngespinste" oder, in synonymer Bedeutung, nach „Utopia" bzw. in „irgendein Utopia" (Utopie, quelque utopie) verwiesen. Rousseau kritisierte 1767 die politische Theorie der Physiokraten als realitätsferne Spekulation: „Votre système est très bon pour les gens de l'Utopie; il ne vaut rien pour les enfants d'Adam" 69 . Derselbe Vorwurf wurde gegen politische Schriften Rousseaus erhoben: 1755 kritisierte Formey die Idea-
tendance à l'utopie» [...]; utopiste (seit 1792, RANFT), adj. «qui a une tendance à l'utopie» [...]." Grand Larousse de la langue française en sept volumes, VII, Paris 1978, S. 6357: „utopiste [ . . . ] n. (de utopie: 1792, RANFT)" Le Grand Robert, VIII, Paris 1985, S. 611 „UTOPISTE [ . . . ] n. et adj.-1792; de utopie". Alle drei gehen zurück auf RANFT (Diss. Gießen 1908), doch dieser gibt utopiste weder als Adj. noch als Subst.; mein bisheriger Erstbeleg ist FOURIER 1818 für utopiste/Subst. u. FOURIER 1822 für utopiste!Adj. Zur Fehldatierung des angeblichen Erstbelegs von utopiste ins Jahr 1792 durch Ranft vgl. J. GRANDJONC: Communisme/Kommunismus!Communism, I (1989), 240 n. 933. Ich danke J. Grandjonc für die freundliche Überlassung von Kopien seiner Aufsätze von 1980 und 1981 (mit H. PELGER), die mir erst 1990 bekannt geworden sind. M) GRIMM, II 2 9 6 - 2 9 8 (1. X I . 1753), dort 297; [BRUIX, c h e v . d e : ] Le
Conser-
vateur (Sept. 1760), S.68; ROUSSEAU: Œuvres (Pléiade), III 810 (Lettres écrites de la Montagne, Sixième Lettre). W
) ROUSSEAU: Lettres philosophiques,
ed. H. GOUHIER, Paris 1974,166-170,
No. 47 A M. de Mirabeau (26. VII. 1767), S. 167; die beiden folgenden Zitate vgl. FORMEY: Bibliothèque Impartiale (Sept.-Okt. 1755), XII, 2 nde. partie, Goettingue et Leide, 1755, 214-215, zit. ROUSSEAU: Œuvres ( P l é i a d e ) , III 1288 (n. 1 z u S . l l l ) ; GRIMM, X 132 (Jan. 1773).
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lisierung der Genfer Stadtrepublik in der Widmung des Discours sur l'inégalité parmi les hommes, („[...] le plus grand nombre [se. des faits de ce narré] n'est guères relatif qu'à Y Utopie [...]"); 1773 verwarf die Grimmsche Correspondance littéraire Rousseaus Considérations sur le gouvernement de Pologne als „des lois et une forme de gouvernement pour quelque utopie". Die Antonyme der Wortverbindungen mit utopie („les enfants d'Adam", „les faits", „laconstitution polonaise") bezeichnen den Bereich der Realität und heben kontrastiv das Element des Unwirklichen, Unrealisierbaren von utopie hervor. c) Durch die Gleichsetzung mit chimère wird utopie auch zum pejorisierenden Terminus für den Idealstaat, um diesen „auf eine lächerliche Art zu bezeichnen" (Schwan 1793, vgl. oben II.2.). Grimm verriß 1767 eine Reiseutopie (voyage imaginaire) mit den Worten: „C'est un roman politique qui nous représente une espèce d'utopie ou de gouvernement idéal. Tout cela est à pleurer d'ennui" 70 . Bezeichnet espèce d'utopie hier den in der utopischen Erzählung beschriebenen Idealstaat, so wird utopie auch als Gattungsname pejorisiert und bezieht sich dann auf „wirklichkeitsfremde, unrealisierbare Idealstaatsentwürfe und politische Reformpläne". Diderot verwies 1774 eine realitätsferne Reformschrift des Physiokraten Lemercier de la Rivière „dans la classe des Utopies"71. Mirabeau charakterisierte 1784 die resignierte Haltung des zeitgenössischen englischen Autors Wallace, der als Folge einer Realisierung von Idealstaatsentwürfen Übervölkerung befürchtete: „II n'attend plus rien des Utopies, des systèmes de Gouvernemens parfaits qu'ont produit les anciens & les modernes" 72 . Das definierende Synonym „systèmes de Gouver-
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°) GRIMM, VII 259 (1. III. 1767), Rezension von [ANON.:] Voyage de Robertson aux terres australes, Amsterdam 1766.
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) DIDEROT [ 6 5 ] , 3 2 9 - 4 5 8 Observations
sur le Nakaz
(1774), S.365.
) MIRABEAU: Considérations sur l'ordre de „Cincinnatus", ou Imitation d'un Pamphlet Anglo-Américain [ . . . ] , Londres, J. Johnson; Rotterdam, C.R. Hake, 1785, 205-299 Observations sur l'importance de la Révolution de l'Amérique [ . . . ] par R. Price, dort S.282 Lob der Idealstaatsentwürfe (plans) mit Gütergemeinschaft von Platon, Morus und Wallis [= Wallace]; 329-385 Mirabeau: „Notes détachées sur l'ouvrage de M.le Docteur PRICE", dort 356ff. Note über Wallis oder Wallace, 358 (note + ) u. 359 kurze Charakterisierung des kommunistischen Idealstaatsentwurfs von WALLACE: Various prospects of Mankind, Nature, and Providence,
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nemens parfaits" und die im Relativsatz angeführte Gattungstradition in Antike und Moderne, die im Kontext des Werkes von Wallace durch den Hinweis auf die Prototypen der Politeia und Utopia präzisiert wird, zeigen, daß „des Utopies" in diesem Beleg die literarische Gattung Utopie bezeichnet. Wallace' Sorge vor einer Übervölkerung wird von Mirabeau mit dem Hinweis auf die Entwicklungsmöglichkeiten der Landwirtschaft optimistisch zurückgewiesen. Diese Argumentation Mirabeaus und sein zitierter Satz über Wallace werden in einer anonymen politischen Programmschrift der Revolutionszeit, De la Propriété, ou la Cause du pauvre (1791), übernommen: Die Kleinschreibung „des utopies, des systèmes de gouvernemens parfaits" (unsere Hervorhebung) betont hier die Funktion des Wortes utopie als Gattungsnamen. In einem Artikel des Mercure de France vom Januar 1789 stellte Mallet du Pan der englischen Verfassung als dem Musterbeispiel einer organischen historischen Entwicklung die unrealisierbaren rationalistischen Verfassungskonstruktionen der Utopien gegenüber: [ . . . ] c'est que de toutes les chimères, la plus déraisonnable est d'attendre de plans d'Utopie, formés sur le papier, ou adoptés même par les esprits justes, ce que les siècles & les passions amènent par degrés73.
Der Utopievorwurf galt hier wohl auch schon allzu radikalen Positionen in der Verfassungsdiskussion, welche die Vorbereitung der Etats Généraux begleitete. Im Dezember 1792 hingegen, nach dem Sturz Ludwigs XVI. und der Wahl zur Convention Nationale, kritisierte ein Rezensent des Journal encyclopédique die politische Reformschrift L'heureuse nation, ou Relations du gouvernement des Féliciens (1792), in der Lemercier de la Rivière die konstitutionelle Monarchie als Verfassung seines Idealstaatsentwurfs empfahl, als eine Utopie („Cette nouvelle Utopie est dédiée à la Nation Française."), als einen Verfassungsplan, welcher der Zeit der Assemblée Constituante entsprochen hätte, nun aber von der historischen Entwicklung der Französischen Revolution überholt worden sei: „[...] le plan de cette nouvelle constitution n'étoit pas dans le sens de la Révolution
1761 (darin „Prospect 2, the model of a perfect government [...]"), S.360 Zitat. Das folg. Zitat vgl. [ANON.:] De la propriété, ou la cause du pauvre, Plaidée au Tribunal de la Raison, de la Justice et de la Vérité, Paris 1791,S. 71. 73 ) Mercure de France (17.1. 1789), Repr. Slatkine, CXXXVI, S.66f.
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Françoise."74. Die beiden letzten Belege deuten auf die „konservative" bzw. „progressive" Funktion voraus, die der Utopievorwurf im 19. Jahrhundert gewinnen wird. d) Neben der pejorisierenden Tendenz sind aber auch Ansätze zu einer Bedeutungsverbesserung zu beobachten. So erscheint utopie im Sinne von .realisiertes Glücksland Utopia' oder realisierte Utopie' als lobende Bezeichnung ideal erscheinender Staats- oder Gesellschaftssysteme, die tatsächlich existieren. Der Weltumsegier Bougainville schloß die Beschreibung Tahitis in seinem Journal de voyage (15. April 1768) mit begeistertem Lobpreis auf die Liebesinsel, „[...] l'heureuse isle de Cythère. C'est la véritable Eutopie"75. Auch Bougainvilles Reisegefährte, der Arzt und Naturforscher Commerson, nannte Tahiti ein realisiertes ,Utopia' (21. Febr. 1769) und verwandte den Kollektivsingular „Utopien" als Synonym für „Tai'tien": „Je lui [sc. Tahiti] avois appliqué le nom d'Utopie que Thomas Morus avait donné à sa République idéale (en le dérivant des racines grecques eus et topos quasi felix locus) [.. .]"76. Beide griffen auf die (schon 1516 belegte, vgl. 1.1) Bedeutungsvariante Eutopia, .Glücksland', zurück. Die Veröffentlichung des Commerson-Briefes über Tahiti im Mercure de France (Nov. 1769) förderte die Entstehung des Tahiti-Mythos und verbreitete die Gleichsetzung von ,Tahiti' und ,Utopie'. Auch weniger exotischen Staaten konnte der Modellcharakter einer .realisierten Utopie' zuerkannt werden, so feierte Grimm 1770 den deutschen Kleinstaat Baden-Durlach als „une uto-
J. encyclopéd., Repr. Slatkine, LXXIV (Dez. 1792), 624-628 (Orig. 449-466), Zitate dort 624 u. 628 (Orig. 449 u. 465). 75 ) Bougainville et ses compagnons autour du monde 1766-1769, Journaux de navigation, ed. E . TAILLEMITE, 2 Bde., Paris 1977,1,141ff. Journal de Bougainville, S. 238; der zitierte Satz fehlt in dem 1771 veröffentlichten Reisebericht, vgl. L.-A. BOUGAINVILLE: Voyage autour du monde par la frégate du Roi, La Boudeuse' et la flûte, L'Etoile', ed. J. Proust, Paris 1982 (coll. folio, 1385), S.229ff. Beschreibung Tahitis, dort 245. 76 ) TAILLEMITE [75], II 419ff. Journaux de Commerson et Duclos-Guyot, S. 506-510 „POST-SCRIPTUM sur l'iste de la Nouvelle-Cythère ou Tayti par M. Commerson [.. .]",dortS.506; dieser Text erschien imMercure de France (Nov. 1769), S. 197-207 „LETTRE de M. Commerson, docteur en médecine, & médecin botaniste du Roi à l'Iste de France, le 25 Février 1769. Sur la Découverte de la nouvelle Isle de Cythère ou Taïti", dort S. 197. Zu „Eutopia" vgl. oben Annm. 6.
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pie nouvelle et réalisée"77. Eine zweite positive Bedeutung von utopie im Sinne von,unrealisierbare Idealvorstellung einer Staatsverfassung' kann 1793 und 1794 in Le Vieux Cordelier, der Zeitschrift des Jakobiners Camille Desmoulins, nachgewiesen werden. Vom radikalen Flügel der Jakobiner des modérantisme angeklagt, verteidigte Desmoulins im Dezember 1793 diese politische Tendenz als Teil seines „Credo politique", als „mon vieux système d'Utopie", als „[les] charmes de ma République de Cocagne"78. In einem weiteren apologetischen Artikel (Jan. 1794) nannte er als seine politischen Ziele „la liberté politique et individuelle des citoyens, une constitution utopienne, la République une et indivisible", Wohlstand, Rechtsgleichheit, Glück-eine Idealisierung der real existierenden Französischen Republik. Trotz des ironisch gefärbten Kontextes ist die positive Konnotation, die affektive Aufladung von système d', Utopie' und constitution utopienne unverkennbar und unterscheidet diese Bedeutungsvariante von der traditionellen, politisch relativ wertneutralen Bedeutung von utopie als république idéale. Dieser Tendenz zur Aufwertung des Wortes utopie und seiner Ableitungen entspricht ein Wandel in der Rezeption der Utopia, der seit den 1770er Jahren im staatsrechtlichen Diskurs eine partielle Realisierbarkeit (Robinet, 1777), z. B. im Bereich des Strafrechts (Brissot de Warville, 1782), zuerkannt wurde79. Die neue Utopia-Übersetzung von M. T. Rousseau (1780,21789) bezeugt die Aktualität des Moreschen Prototyps. GRIMM, VIII, 426 (1.1. 1770). ) C. DESMOULINS: Œuvres, Avec une préface d'Albert Soboul en t. I , 10 Bde., München, Kraus Reprint, 1980, Bd. X, Le Vieux Cordelier, S.348; das folgende Zitat ebd., S.367. Doch kennt DESMOULINS auch die pejorisierende Bedeutungsvariante des Adjektivs Utopien, -ne; in Le Vieux Cordelier vom 3. Febr. 1794 (No. 7, rééd. 1825,141; rééd. 1834,198) kritisiert er die politische Zielsetzung von Hébert und Robespierre als unrealisierbar: Sie erstrebten „une constitution utopienne [ . . . ] , une égalité impossible de biens" (zit. nach J . GRANDJONC, L'utopie en quête de science, S. 100 und n. 39 auf S. 110). 79 ) R É A L DE CURBAN, ROBINET (I. Préface, S.XXXIIf.) und DÉMEUNIER, Enc. méthodique: Econ. polit, (vgl. alle drei oben Anm. 63) sind utopiekritisch, heben aber die praktisch verwertbaren Elemente der Utopien hervor, vgl. FUNKE: Zur Geschichte der Gattungsbezeichnungen, S. 102f., zur ideologiekritischen Interpretation vgl. BENREKASSA, 61ff. ; - J.P. BRISSOT Bibliothèque philosophique du législateur, du politique, du jurisconsulte, Berlin, Paris 1782, lobt die Strafgesetzgebung in Morus' Utopia als Vorbild aktueller Strafrechtsreform, Bd. I, Discours préliminaire, S.XX, 78
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e) Als Haupttendenz der semantischen Entwicklung des Wortes utopie (und seiner Ableitungen) im 18. Jahrhundert kann man eine erhebliche Bedeutungserweiterung und -differenzierung feststellen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch Politisierung und Emotionalisierung die einander entgegengesetzten Tendenzen der Bedeutungsverschlechterung (chimère) und, in geringerem Maße, der Bedeutungsverbesserung (Eutopie, utopie réaliseé) hervorrief. Die wichtigsten Ergebnisse dieses Prozesses waren die Ausbildung des literarischen Gattungsbegriffs utopie für (mehr oder weniger) fiktionalisierte Idealstaatsentwürfe (politisch relativ wertneutral: Dict. AcadMl62\ „plan d'un gouvernement imaginaire") wie für unrealisierbare politisch-ökonomische Reformprojekte (pejorativ: 1774 Diderot, la classe des Utopies), das Eindringen des ambivalenten Utopiebegriffs in den „literaturwissenschaftlichen" und staatswissenschaftlichen Diskurs wie in die politische Sprache. Das Wort utopie gehörte nicht zu den Leitbegriffen der Aufklärung oder der Französischen Revolution, obwohl es Aufklärern (Voltaire, Helvétius, Diderot, Grimm, Rousseau; Periodika) und Zeitgenossen der Revolution (Mirabeau, Desmoulins, Rivarol) geläufig war. Utopie diente in der Regel als (tendenziell pejorative) Fremdbezeichnung, die den Unrealisierbarkeitsvorwurf ausdrückte, nicht als Selbstbezeichnung (Ausnahme: Desmoulins). Am Ende des 18. Jahrhunderts waren die wichtigsten Bedeutungen von utopie: fiktives Land (pays imaginaire), fiktiver Idealstaat (gouvernement [république] idéal [e]), literarische Gattung (plan d'un gouvernement [d'une république] idéal [e], roman politique, voyage imaginaire), unrealisierbare politische Idee, Hirngespinst (chimère) und (scheinbar) realisiertes „Glücksland" (Eutopie, utopie réaliseé). In nahezu allen diesen Bedeutungen konkurrierte utopie mit z. T. erfolgreicheren Synonymen (v. a. roman politique; chimère), seine Antonyme bezeichneten den Bereich der Realität, des Realisierbaren oder Möglichen (z. B. nature, faits, réalisable, praticable, possible). Bd.IX, S. 3 - 1 4 „Fragmens de l'Utopie" (= Einleitung), S.15-66 Textauszüge der Utopia. - Utopia-Übers. von M.T. ROUSSEAU: Tableau du meilleur gouvernement possible, ou l'Utopie de Thomas Morus, Paris, L. Cellot, 1780 (Rezension: Mercure de France, Slatkine Repr., CXIX, Juli-Dez. 1780, S.159); Du meilleur gouvernement possible, oulanouvelle Isle d'Utopie, de Thomas Morus, Traduction nouvelle, Seconde Éd., Paris, J. Blanchon, 1789, Préface du Traducteur, S.IX Bedeutung der Utopia in der zeitgenössischen Reformdiskussion.
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III. Vom ambivalenten politischen Begriff zum pejorisierten politisch-sozialen Kampfbegriff im Streit zwischen Frühsozialismus und Bürgertum (1. Hälfte des 19. Jahrhunderts) Einleitung: utopie als Leitgriff der politisch-sozialen Sprache War das 18. Jahrhundert das ,goldene Zeitalter' der literarischen Utopien, das v. a. eine Vielzahl fiktionalisierter Idealstaatsentwürfe hervorbrachte und den literarischen Gattungsbegriff utopie (= plan d'un gouvernement imaginaire, roman politique, voyage imaginaire) entwickelte, so erlebte das 19. Jahrhundert den Aufstieg des Wortes utopie (und seiner Ableitungen) zu einem Leitbegriff der politischsozialen Sprache, der schließlich als Synonym der Neologismen socialisme (1831) und communisme (1840) zum politischen Schimpfwort degradiert wurde. Die Politisierung, Pejorisierung und Perspektivierung des Wortgebrauchs sind als dominierende Tendenzen dieser semantischen Entwicklung zu erkennen. Die politischen und sozioökonomischen Wandlungen Frankreichs von der Französischen Revolution bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts - v. a. der Aufstieg des Bürgertums und der kapitalistischen Wirtschaftsformen, die ,industrielle Revolution', die Herausbildung des ,vierten Standes' der Industriearbeiterschaft und deren zunehmende Verelendung, die Anfänge der französischen Arbeiterbewegung, die wachsende Polarisierung von Kapital und Arbeit, endlich die Revolutionen von 1830 und 1848 - führten zu einer ständig anschwellenden Literaturproduktion gesellschaftskritischer Traktate, sozialer Reformpläne und frühsozialistischer Gesellschaftstheorien (SaintSimon, Fourier, Owen), deren Realisierbarkeit von der liberalen économie politique des Bürgertums und den kollektivistisch orientierten Schulen der Frühsozialisten kontrovers diskutiert wurde. Als Ausdruck des Unrealisierbarkeitsvorwurfs gegen politisch-soziale Reformansprüche wurde das Wort utopie immer häufiger verwendet und damit der Prozeß seiner Politisierung und Pejorisierung beschleunigt. Der Utopiebegriff wurde fast ausnahmslos als pejorative Fremdbezeichnung für Ideen und Theorien des politisch-sozialen Gegners verwendet und wurde damit perspektiviert, d. d. seine Bedeutung und Funktion waren jeweils vom politisch-sozialen Standort des Sprechers/Schreibers abhängig. Dem in der französischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Be43
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wußtsein eines Antagonismus zweier sozialer Klassen (bourgeoisie vs. peuple) und der diesen korrelierenden, einander entgegengesetzten Gesellschaftstheorien (libéralisme!économistes vs. socialisme/socialistes) entsprach eine ungleiche Verwendung des Utopiebegriffs: Das Bürgertum verwendete ihn fast ausschließlich als Fremdbezeichnung für die Theorien der Frühsozialisten und schließlich als Synonym für Sozialismus und Kommunismus (Ausnahme: Lamartine 1837); die Sozialisten und Kommunisten verschiedener Prägung hingegen begriffen das Wortpaar utopie/utopistes in der Regel als Antonyme der von ihnen als Selbstbezeichnung verwendeten Neologismen socialisme!socialistes und/oder communisme/communistes und wiesen den Utopievorwurf des Bürgertums energisch zurück; zuweilen gebrauchten sie ihn aber auch zur pejorisierenden Kennzeichnung der Theorien konkurrierender sozialistischer Schulen oder zur Abwertung des bürgerlich-liberalen Wirtschaftssystems, in seltenen Einzelfällen auch zur Charakterisierung der heuristischen Funktion der eigenen Theoriebildung (z. B. Fourier). Durch die bürgerliche Gleichsetzung des Utopiebegriffs mit den komplementären politischen Systembegriffen socialisme und communisme wandelte sich utopie nach deren Vorbild von einem statischen Sozialbegriff zu einem „zukunftsorientierten Bewegungsbegriff"80: Nach der literarischen Gattung Utopie (zuerst 1770: Mercier, L'An 2440) wurde damit auch der Begriff utopie „verzeitlicht". Im Diskurs der bürgerlichen économie politique wurden die literarische Tradition der Gattung Utopie von Piaton und Morus bis Restif de la Bretonne (oder Cabet) und die sozioökonomischen Systeme des Sozialismus inhaltlich und terminologisch, als in einer Kontinuität stehend, integriert: Das Begriffspaar utopie/utopistes galt nun in zunehmendem Maße für alle sozialistischen Gesellschaftsentwürfe und ihre Verfasser von Piaton und Morus bis zu den Sozialisten und Kommunisten des 19. Jahrhunderts. Dabei wurde die inhaltliche Aussage der Texte, nicht deren formale Gestaltung oder fiktionaler Charakter als das kontinuitätstiftende gemeinsame Element angesehen. Das neue Gewicht des politisch-sozialen Leitbegriffs utopie spiegelt sich in seiner ständig wachsenden Verbreitung, dem eine außerordentliche Zunahme der Zahl der Belege (ein Vielfaches der Belege 8°) Vgl. W. SCHIEDER, Art. „Sozialismus", 923f. (Zitat S.923) und „Kommunismus", 455f.
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vom 16.-18. Jhdt.) und eine qualitative Differenzierung der Quellengruppen und Kontexte (Wörterbücher, politisch-ökonomische Traktate, Zeitschriften, Briefe, Memoiren, wissenschaftliche und schöne Literatur) entspricht. Bei der Analyse der semantischen Entwicklung von utopie besitzen die Ableitungen (v. a. utopisteis, seit 1818), festen Wortverbindungen (z.B. mit Epitheta: utopies sociales, -socialistes, - communistes, - subversives), Synonyme und Antonyme (z.B. socialisme, communisme) einen hohen Informationswert. Die Periodisierung der semantischen Entwicklungsstufen des politisierten Utopiebegriffs stimmt mit der Chronologie wichtiger Epochen der politisch-sozialen Geschichte Frankreichs überein (1830,1840,1848). 1. Politisierung und Pejorisierung des Utopiebegriffs im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts: die Wörterbücher (1798-1835); die Frühsozialisten Saint-Simon und Fourier; der literarische Gattungsbegriff (bis 1830) a) Der am Ende des 18. Jahrhunderts erreichte Stand der semantischen Entwicklung des Utopiebegriffs wurde durch die zeitgenössischen Wörterbücher, deren Zahl im 19. Jahrhundert außerordentlich zunahm, registriert und verbreitet; utopie erschien seither regelmäßig als Lemma, Ableitungen des Wortes hingegen wurden erst seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts lemmatisiert (utopiste 1836, utopique 1876), obwohl sie schon sehr viel früher nachgewiesen werden können (utopiste 1818, utopique 1770). Normbildend wirkten die fünfte Edition des Dictionnaire de l'Académie Française (1798) und die sechste Edition des Dictionnaire de Trévoux (1771, vgl. oben II.2.b), auf welche die utopie-Artikel aller französischen Definitionswörterbücher und Äquivalenzwörterbücher der Zeit von 1800-1835 zurückgegriffen haben. Der Vergleich läßt ihre Filiationen erkennen81: 1. nur auf das Dictionnaire de Trévoux (61771) bezieht sich das erfolgreiche Wörterbuch von Gattel (21813, 41827, 6 1841,71844); 2. allein das Akademiewörterbuch (51798) bestimmt 81
) Die bibliographischen Nachweise dieses Abschnitts vgl. B. Q U É M A D A : Les dictionnaires du français moderne 1539-1863, Paris 1967, S. 567ff. „Relevé chronologique de répertoires lexicographiques français (1593-1863)", dort S. 578ff. 18. Jhdt., S. 596ff. 19. Jhdt., ich habe die in meinem Artikel genannten Wörterbücher in der Regel selbst eingesehen; Belege im folgenden.
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die utopie-Artikel von Boiste (1800, 21803,31808), Laveaux (1802, 1828), Levade (1804), Rolland (21809,1812), Richelet (1811), Masson (1813,1829), Verger (1823,1827), Raymond (1825,1835), Noël/ Chapsal (1826) und Rivarol (1827); 3. Kombinationen ungleicher Qualität aus Elementen der utopie-Artikel des Akademiewörterbuchs (51798) und des Dictionnaire de Trévoux (71771) finden sich bei Catineau (1802), Morin (1803), Boiste (51819, 61823, 101841) und Landais (1834,31836: + UTOPISTE, 91846). Das Akademiewörterbuch (51789) und das Dictionnaire de Trévoux (71771) belegen mit ihren Definitionen und Beispielen die folgenden Bedeutungen von utopie: 1) Eigenname des Werkes von Morus (titre d'un ouvrage), 2) Eigenname des von Morus erfundenen Landes {pays fabuleux d'Utopie, décrit par Thomas Morus), 3) Eigenname eines von Rabelais erfundenen Landes (Royaume de Grandgousier ou de Gargantua), 4) fiktives Land als Gattungsname (pays imaginaire), 5) der literarische Gattungsbegriff des Idealstaatsentwurfs (plan d'un gouvernement imaginaire), 6) fiktiver Idealstaat (,gouvernement imaginaire), 7) unrealisierbarer Traum (Chaque rêveur imagine son utopie). Als wichtige Bedeutungsmerkmale von utopie erscheinen die Vorstellungen Fiktivität/Fiktionalität, Idealität/Unwirklichkeit/Unrealisierbarkeit, Traum/Hirngespinst, Idealstaat/Idealgesellschaft, Glück (kollektiv/individuell). Diese Bedeutungen und Bedeutungsmerkmale von utopie können für das 19. Jahrhundert als allgemein bekannte mögliche Bedeutungen oder Konnotationen des Wortes angesehen werden (vgl. auch oben Zusammenfassung von II.3.). Die stufenweisen Erweiterungen des Artikels utopie in den Ausgaben des weit verbreiteten Wörterbuches von Boiste82 belegen die Tendenz zur Politisierung des Wortes, deren erste Ansätze bereits im 18. Jahrhundert zu erkennen sind (oben II.3): Beschränken sich die Mio/ne-Artikel der Ausgaben von 1800, 1803 und 1808 noch auf die beiden wichtigsten Bedeutungen des 18. Jahrhunderts, „plan d'un gouvernement imaginaire et parfait" und „pays imaginaire" (= Ac.Fr. 51798), so wird der Artikel 1819 um zwei Bedeutungen erweitert - „ouvrage de Thomas Morus" (= Ac.Fr. 51798) und „(fig.) état de félicité publique, parfaite" (= neu) - sowie um zwei Beispielsätze, 82
) Stichwort „Utopie" zuerst in P.C.V. B O I S T E : Dictionnaire universel de la langue françoise, Paris An IX. (1800), S.461; 21803, S.406; 31808, S.761; 5 1819, S.653 und «1823, S.691: Zitate; 101841, S.733: im Vgl. zu61823 fehlt nur der 2. Beispielsatz.
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zu denen 1823 ein dritter hinzutritt, die den Wortgebrauch von utopie in Kontexten politischer Rede illustrieren: 1) „Le républicanisme, avec les richesses et le luxe , est à placer, avec /'utopie, dans le beau idéal. " 2) „Si de beaux plans, de beaux discours pouvoient contribuer à la félicité publique, il y a long-temps que nos voisins et nous jouirions de /'utopie!" 3) „Jamais n'attaquez, ne détruisez l'inoffensive utopie de personne." Das erste Beispiel bezieht utopie zwar noch auf den von Morus erfundenen Idealstaat, suggeriert jedoch die Gleichsetzung von républicanisme und utopie als unrealisierbare politische Idee (1819!); im zweiten Beispiel bezeichnet utopie den unrealisierbaren politisch-sozialen Idealzustand (état de félicité publique, parfaite)', im dritten Beispiel wird utopie als „politisch-sozialer Idealzustand" zum harmlosen individuellen Hirngespinst pejorisiert. Die deutsch-französischen Äquivalenzwörterbücher der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgen in ihren utopie-Artikeln dem Akademiewörterbuch (51798, 61835). Dabei fällt auf, daß die deutschen Äquivalente des Wortes utopie dessen Bedeutungen stets auf die engere Bedeutung ,erdichtetes Land' reduzieren und hierfür die Wörter „Schlaraffenland" und „Utopien" als Synonyme verwenden (Schwan 1800, Silbermann 1800, Catel 1801, Laveaux 71810, Mozin 1812, Schuster 1841, dt. Übers, von Ac.Fr. 71835 von 1851). Vor allem durch das Fehlen der Bedeutung ,literarischer Gattungsbegriff' (plan de gouvernement imaginaire) suggeriert der lexikographische Befund den (falschen!) Eindruck eines Rückstandes der semantischen Entwicklung des deutschen Utopiebegriffs (bzw. seiner Synonyme) im Vergleich zu utopie82*, während die französisch-englischen und französisch-italienischen Äquivalenzwörterbücher die Bedeutung „literarischer Gattungsbegriff (des Idealstaatsentwurfs)" 82A) VGL
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1 1 2 . und A n m . 58; Chr. Fr. SCHWAN: Nouveau
Dict.
de la
langue allemande et françoise, 2 Bde., Louisbourg, Leipzig, Paris 1799-1800, II, 285 s.v. „Schlaraffe": „Das Schlaraffenland; le pays de Cocagne; l'Utopie." [J.H. SILBERMANN:] Nouveau Dict. françois-allemand et all.-fr. à l'usage des deux nations, 2 Bde., Strasbourg, Paris A n VIII [1800], 1,693 Utopie = Utopien; S.H. CATEL, Dict. fr.-all., 2 B d e . , Berlin 1801, II, 347 Utopie = Nimmerland n.; [J.-Ch. LAVEAUX:] Nouveau Dict. françois-allemand et all. -fr. à l'usage des deux nations, 2 Bde. Strasbourg, Paris 7 1810, II, 726 Utopie = Schlaraffenland, Utopien; Abbé MOZIN: Nouveau Dict. complet à l'usage des Allemands et des Français, 2 Bde., Stuttgart, Tubingue 1811-1812, II, 835 Utopie = Schlaraffenland; C.W.Th. SCHUSTER: Nouveau Dict. des langues all. et fr., Paris 1841,1,718 Schlaraffenland = pays de cocagne, Utopie, S. 882 s.v. Utopien = utopie;
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Utopie,
Utopiste
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registrieren: „A plan of an imaginary government" (Boyer/Chambaud 1817, Hamonière 1826), „Piano d'un governo ideale" (Alberti de Villeneuve 1834). b) Die Politisierung und Pejorisierung des Utopiebegriffs war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eng mit der Herausbildung des Frühsozialismus verbunden, dessen konkurrierende Theorien vor 1830 von Saint-Simon (1760-1825), Fourier (1772-1837) und dem Engländer Owen (1771-1858), nach 1830 v. a. von Enfantin, Considérant, Bûchez , L. Blanc, Cabet, Proudhon und P. Leroux entwikkelt und propagiert wurden. Als gemeinsame Merkmale zeigten diese die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft, die Empörung über das Elend der Industriearbeiterschaft, die Verurteilung des „laissez faire" des ökonomischen Liberalismus, die Forderung nach einer wissenschaftlich begründeten Rekonstruktion der ökonomischen und sozialen Strukturen zugunsten kooperativer oder kollektiver Organisationsformen und die Überzeugnung von der Möglichkeit einer friedlichen Umgestaltung der Gesellschaft aufgrund umfassender Reformpläne, bei deren Propagierung sie auf eine fiktionale Gestaltung im Sinne der Gattungstradition der literarischen Utopie verzichteten (Ausnahme: Cabet), wohl weil der Gattungsbegriff seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit der Bedeutung der „Unrealisierbarkeit" konnotiert war und fiktionale Formen dem wissenschaftlichen Anspruch geschadet hätten. Seit 1846/1848 unterzogen Marx und Engels die Theoriebildung der Frühsozialisten einer scharfen Kritik und verurteilten diese wegen ihrer unzureichenden ökonomischen Fundierung und wegen des Verzichts auf das Prinzip des Klassenkampfes und der Revolution als „utopischen Sozialismus"83, doch Dict. Acad. (61835), Wörterbuch der Französischen Akademie mit dt. Übers., Grimma, Leipzig 1851, II, 1107 Utopie = Utopien, Schlaraffenland. Zum Folgenden vgl. A. B O Y E R / L . CHAMBAUD: Dict. françoisanglois etangl.-fr., Paris 1817, I I , 1150; G. HAMONIÈRE: Nouveau Dict. de poche français-anglais etangl.-fr., Paris 31826, S. 193; Abbé F. (1'ALBERTI DE VILLENEUVE, Nouveau Dict. français-italien, Milan 1834,1. 1078. 83 ) Zum Utopiebegriff bei Marx und Engels vgl. W. SCHRÖDER: Utopischer Sozialismus und Kommunismus; zur Geschichte des frz. Sozialismus vgl. J. BRUHAT: „Le socialisme français". Die pejorativen Wortverbindungen „socialisme . . . utopiste" (MARX) und „communisme . . . utopique" (PROUDHON) erscheinen bereits im Jahre 1846, der politische Begriff socialisme utopique setzt sich aber erst nach 1878 durch. Vgl. auch Le Grand
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hat dieser wichtige Schritt zur Pejorisierung des Utopiebegriffs erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der sich verstärkenden Marx-Rezeption in Frankreich die semantische Entwicklung von utopie in vollem Maße beeinflußt. c) In den Schriften von Saint-Simon und Fourier ist der Utopiebegriff v. a. als Ausdruck des Unrealisierbarkeitsvorwurfs gegen politisch-soziale Reformprojekte seit 1818/1819 zu belegen. In seiner Zeitschrift L'Organisateur (Nov. 1819-Febr. 1820) verwendet SaintSimon als Selbstbezeichnung für seine Theorie Formulierungen wie „doctrine sociale", „nouveau système politique", „nouveau système d'organisation sociale", „projet d'organisation sociale", „projet de perfectionnement de l'ordre social"84. Er antizipiert den Utopievorwurf seiner Leser, der dem allgemeinen unreflektierten Sprachgebrauch seiner Zeit entspricht und eine konservative Abwehrhaltung gegen soziale Innovation ausdrückt, „[...] cette disposition, générale parmi nous, à traiter d'utopie tout projet de perfectionnement important de l'ordre social. " Als Voraussetzung für einen kompetenteren Gebrauch des negativen Utopiebegriffs, als Kriterium eines rationalen Urteils über die Möglichkeit, die künftige Möglichkeit oder absolute Unmöglichkeit politischer, sozioökonomischer oder kultureller Innovationen fordert Saint-Simon (unter Berufung auf die Fortschrittstheorie Condorcets) deren überzeugende Begründung aus der vorausgehenden kulturgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit. Die Bedingungen für den Gebrauch des negativ verstandenen Utopiebegriffs werden so historisiert, „verzeitlicht": das noch-nicht-Mögliche wird als das künftig-Mögliche dem negativen Utopievorwurf der Unrealisierbarkeit entzogen. Saint-Simon begreift seine Theorie konsequent als ein notwendiges Ergebnis der bisherigen Menschheitsgeschichte, also als realisierbar; als „[...] un résultat forcé de la marche que la civilisation a suivie depuis sept à huit siècles; d'où il résultera la preuve que ce n'est point une utopie." Im unreflektierten Wortgebrauch der Zeitgenossen wie im historisch reflektierten Verständnis Saint-Simons behält der Utopiebegriff die
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)
Robert Paris 21985, IX, 611 s. v.„UTOPIQUE": „Socialisme utopique (all. Engels, 1878), [...]." C.-H. DE S A I N T - S I M O N : Œuvres, Paris, éditions anthropos, 1966, Bd. II (= Œuvres de Saint-Simon, Paris, E. Dentu, 1869, IVe vol.), S.5ff. Introduction, S.13ff. L'Organisateur, De Novembre 1819 à Février 1820, passim, 61-76 „Septième Lettre", dort S.63 die beiden folgenden Zitate. 49
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Bedeutung ,unrealisierbarer Reformplan zur Innovation der Gesellschaft', in welcher die Pejorisierung und Politisierung des Begriffs Ausdruck findet. d) Auch Fourier verwendet den Utopiebegriff zunächst in den beiden Hauptbedeutungen, die sich seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet haben: für utopie im Sinne des literarischen Gattungsbegriffs findet er die treffende Definition „rêve d'harmonie sociale en pays fabuleux" (1822), für utopie im Sinne von,unrealisierbarer politischsozialer Reformplan' die prägnante Formel: „Qu'est-ce que l'utopie? C'est le rêve du bien sans moyen d'exécution, sans méthode efficace." (1818 u. 1822)85. In dem 1822 veröffentlichten Traité de l'Association domestique-agricole (= Théorie de l'unité universelle, 1841) läßt der Sprachgebrauch Fouriers eine interessante semantische Differenzierung des Utopiebegriffs erkennen. Fourier verbindet scharfe satirische Kritik an der bestehenden Gesellschaft, dem „état civilisé", mit der konstruktiven Darstellung seiner „théorie de l'Association et de l'Attraction passionnelle". Der Serie der von ihm verwendeten abwertenden Bezeichnungen für die zeitgenössische Gesellschaft [état civilisé (et barbare), société civilisée (et barbare), civilisation (perfectible, perfectibilisée), chaos social, cacophonie antisociale] und ihre inkompetenten Reformer (philosophes, sophistes, rêveurs, perfectibiliseurs) steht eine Serie positiver Selbstbezeichnungen der Theorie wie der Rolle Fouriers gegenüber (théorie/régime/ état/ordre/code sociétaire-, code social divin/passionnel/attractionnel ; système d'harmonie sociétaire, Harmonieinventeur). Dieser Opposition entsprechend, verwendet Fourier jeweils eine negative oder eine positive Bedeutungsvariante des Wortes utopie sowie den Neologismus utopiste(s) (= Erstbeleg 1818!) als abwertende Fremdbezeichnungen für die zeitgenössischen (Pseudo-) Wissenschaften und Wissenschaftler sowie deren Scheinerkenntnisse und Reformprojekte (les utopies de nos sophistes modernes; les utopistes philosophes, les faiseurs d'utopies) bzw. als lobende, zuweilen ironisch konnotierte Selbstbezeichnungen für die eigenen Leistungen (utopie sociétaire; 85
) Ch. FOURIER: Œuvres complètes, Bd. IV, Paris 1841 (Repr. Paris, éd. anthropos, 1966), Traité de l'association domestique-agricole, ou Attraction industrielle [U822, = 21841: Théorie de l'unité universelle], seconde partie, S.2; Bd. XI, Manuscrits publiés par la Phalange, Revue de la science sociale 1853-1856,1857-1858, vols. III-IV, ebd. vol. IV, S.356 (vgl. die nahezu gleichlautende Formel in Bd. IV, S.7).
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les utopies sociétaires ou tâtonnements; casse-cou utopiste)86. So bezeichnet er in einem Fragment des Jahres 1818 die Wissenschaften seiner Zeit, wie z. B. die liberalistische Wirtschaftstheorie, Politik und Moral als Utopien: „Ainsi toutes les sciences philosophiques sont des utopies, car elles ont toujours conduit les peuples à l'opposé des biens qu'elles promettaient." Die französische Wirtschaft erlebe einen Niedergang, „[...] tandis que des utopistes philosophes chantent le progrès des lumières." Dieser negative Utopiebegriff Fouriers, der den traditionellen Unrealisierbarkeitsvorwurf einschließt, gilt für die Tradition der literarischen Utopie von Piatons Staat bis zur „Bétique" in Fénelons Télémaque, für historische Realisierungen kollektivistisch organisierter Idealgesellschaften vom antiken Sparta bis zum Jesuitenstaat im Paraguay des 18. Jahrhunderts wie auch für zeitgenössische Reformprojekte, die „utopies de nos sophistes modernes", oder für konkurrierende sozialistische Theorien87. Er ist ein erstes Beispiel für die im 19. Jahrhundert häufiger anzutreffende Umkehrung des Utopievorwurfs, bei welcher der der Utopie gescholtene Autor das eigene Reformprojekt als „wahre Wirklichkeit", die zeitgenössische Realität aber als „Utopie" bezeichnet. Fourier spricht den negativ bewerteten Utopien seiner Zeit nur die positive Funktion zu, der Sehnsucht der Menschen nach einer Überwindung des zeitgenössischen „état civilisé" Ausdruck zu verleihen: „Ces utopies qui ne méritent pas de réfutation sérieuse, prouvent seulement qu'il existe une classe de savantas rêvant un bonheur E X T R A - C I V I L I S É " . Dieser negative Utopiebegriff bezeichnet als Antonym zu Fouriers eigener Theorie auch die Theorien konkurrierender sozialistischer Schulen wie z.B. die der Owenisten: „Enfin l'on tient en association la théorie régulière 88
M
)
87
)
S»)
FOURIER: Œuvres compi.; les utopies de nos sophistes modernes: IV 369; des utopistes philosophes: XI 356\ faiseurs d'utopie: IV 33,157, 561; utopie sociétaire: IV 43, 142, 144; les utopies sociétaires ou tâtonnants: VI 442; casse-cou utopiste: IV 143; die beiden folgenden Zitate Bd. XI [85], 300ff. „V. Généralités sur l'équilibre en composé (1818)", dort S.356 ,,(l er supplém.)": „Qu'est-ce que l'utopie? [...]." FOURIER: Œuvres compi., IV 369 Zitat; utopies de Platon: III (Théorie de l'unité univ. [85], 2= vol), 109; IV, 143; - Fénelon, Bétique: III, 42; IV, 143; V (Théorie de l'unité univ. [85], 4 e vol.), 553, vgl. Fouriers Kritik an Fénelons „Salente": V 477-485; - utopies = „les réunions de Spartiates, Hernutes, Croates, Paraguais": III 42; - utopies = zeitgenöss. Reformprojekte: III 37; IV 142, 369. 2 FOURIER: Œuvres compi., V 553 (1822 = 1841).
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diamétralement opposée aux utopies et jongleries philanthropiques des owénistes" 89 . Der positive Utopiebegriff Fouriers bezeichnet das Verfahren der spekulativen Teilrealisierung der eigenen Gesellschaftstheorie als heuristische Methode zu deren weiterer theoretischer Entfaltung wie als abstrakten Vorgriff auf deren konkrete Verwirklichung. In der Théorie de l'unité universelle (11822) fordert Fourier einen solchen „éveil spéculatif", skizziert den Rahmen eines „volume d'utopie sociétaire", beschreibt endlich als spekulative Teilrealisierung seiner Theorie die Fiktion einer von Napoléon im Zusammenwirken mit einem „casse-cou utopiste" (offenbar Fourier selbst!) erzwungenen „Association" von 120 reichen Familien in einem Haushalt als „Utopie d'issue violentée" oder „Utopie sociétaire" gleichsam als „solution abstraite du problème", die er dann in den folgenden Bänden kritisch überprüfen will: „Considérons cette utopie comme un canevas qu'il faudra remettre en scène aux tomes suivants, pour examiner ses chances de succès éventuel; [.. -]"90. Man könnte diesen heuristischen Utopiebegriff Fouriers als die Vorwegnahme einer Variante der „Methode des utopischen Denkens" („mode utopique") des 20. Jahrhunderts bezeichnen. e) Seit dem frühen 19. Jahrhundert wurde der pejorisierte politische Utopiebegriff, der Reformprojekte politisch-sozialer Innovation als unrealisierbar diskriminiert, auch in der kritischen Auseinandersetzung um die historische Bedeutung der Französischen Revolution verwendet. So bezeichnet Charles Nodier in seiner Ausgabe der Fragments sur les Institutions républicaines von Saint-Just (1831) diesen republikanischen Verfassungsentwurf des Jakobiners wie ähnliche politische Jugendträume seiner eigenen Generation herablassend als „toutes ces utopies d'enfans" 91 . In den 1829 veröffentlichten Mémoires de Bourrienne wird ein Ausspruch Napoleons aus dem 89
) FOURIER: Œuvres compl., VI 489 (Le nouveau monde industriel et sociétai-
90
re, 1 8 2 9 - 3 0 =
2
1845).,
) FOURIER: Œuvres compl., IV 43 (vgl. IV 7), 43, 144-155 (Association), 143 casse-cou utopiste ( = casse-cou scientifique: IV143, = casse-cou politique: IV 144,146, vgl. 149,153), 141 Utopie d'issue violentée, 142 l'Utopie sociétaire, 583 solution abstraite, 155 Zitat. 91 ) L.-A. DE SAINT-JUST: Fragmens sur les Institutions républicaines, ouvrage posthume de Saint Just, précédé d'une notice, par Ch. NODIER, Paris 1831,5-14 „Préliminaires", dort S. 12; den Hinweis auf Nodier verdanke ich der freundlichen Mitteilung von M. Winter, Koblenz.
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Jahre 1807 überliefert, in dem der Kaiser die Greuel der Französischen Revolution als Auswirkung des Finanzberichts von Necker und wirklichkeitsfremder politisch-sozialer Utopien verurteilt: „«[...] vos faiseurs de plans tracent des utopies sur le papier, des imbéciles lisent leurs rêveries, on les colporte, on y croit, le bonheur général est dans toutes les bouches, et bientôt après le peuple n'a pas de pain; il se révolte, et voilà le fruit ordinaire de toutes ces belles théories!» 92 " f) Bei der Verwendung des Wortes utopie in der Bedeutung des literarischen Gattungsbegriffs wird im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erstmals das Bewußtsein der Kontinuität von der älteren Gattungsvariante der Raumutopien zur neueren Gattungsvariante der Zeitutopien (Uchronien) begrifflich faßbar. Der Schriftsteller Félix Bodin ergänzte seinen „Roman de l'avenir" (1834) durch einen Annex über frühere Werke der „littérature futuriste", der er die Entwürfe künftiger Idealgesellschaften (utopies) wie auch die literarischen Bilder eines künftigen Weltendes (apocalypses ou fins du monde) zurechnete 93 . Unter Hinweis auf den Prototyp der Uchronie, Merciers L'An 2440 (1770), und auf eine jüngere Nachahmung, den Briefroman Les Voyages de Kang-hi ou Nouvelles lettres chinoises (1810) des Duc de Lévis, verurteilt Bodin die Zeitutopien als „des utopies sans action", denen er den Typus seines eigenen Romans entgegenstellt: „[.. .une] action romanesque transportée au milieu d'un état social ou politique futur." Bodin bezieht sich auf eine anonyme Rezension aus dem Journal de l'Empire (1810), deren politisch konformistischer Autor das von Mercier entworfene Zukunftsbild Frankreichs als wirklichkeitsfern verwirft 94 : „Rien n'étoit plus facile que de se porter à huit siècles en avant [...]; l'auteur peut alors se donner carrière, personne ne le contredira; il fera des utopies, des régénérations tout à son aise; on le lira comme on lit les contes des fées, l'Histoire des 92
) F. de B O U R R I E N N E : Mémoires de M. de Bourrienne [...] sur Napoléon, le Directoire, le Consulat, l'Empire et la Restauration, ed. D. Lacroix, 10 Bde., Paris 1829-1831, IV, 337 (Datum: 20. XII. 1807, S.332), Bd. I, S.V-XII „Note sur Bourrienne et ses Mémoires" von Lacroix. 93 ) F. B O D I N , Le roman de l'avenir, Paris 1834; S.397-399 notes; die Kenntnis Bodins und Lévis' [94] verdanke ich der freundlichen Mitteilung durch H. Hudde, Erlangen. 94 ) P . - M . - G . , duc de L E V I S : Les Voyages de Kang-Hi ou Nouvelles lettres chinoises, 2 Bde., Paris 1810; Rezension (gez. „H") im Journal de l'Empire, 23. III. 1810, S.ls.
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Sévarambes, les Hommes volans de Wilkens ou les Voyages de Gulliver. " Als Kriterium für die Kontinuität von den älteren Reiseutopien (Prototyp: Vairasse, Hist. des Sév., 1677-79) zu den neueren, in die Zukunft datierten Utopien hebt der Rezensent die Wirklichkeitsferne, die Unrealisierbarkeit der Gesellschaftsentwürfe hervor; der Kontext, der Vergleich mit der Märchenlektüre und die parallele Verwendung der Bezeichnungen „des utopies" und „des régénérations" (= Erneuerungen, Verbesserungen') zeigt, daß utopies hier in der Bedeutung von ,unrealisierbare politisch-soziale Reformideen/Reformpläne' verwendet wird. g) Ein Synchronschnitt um 1830 zeigt im Bereich der Wortbildung neben dem Leitbegriff utopie als neue wichtige Entwicklungen die feste Verbindung faiseur d'utopies (1822) und vor allem den synonymen Neologismus utopiste, der als Substantiv (les utopistes philosophes, 1818) und Adjektiv (le casse-cou utopiste, 1822) in den Schriften Fouriers belegt ist (Erstbelege!) und sich in den 1830er Jahren durchgesetzt hat, während die Ableitungen von utopie, die das 18. Jahrhundert ausgebildet hatte (vgl. oben II.l. und II.3.), verschwunden sind. Fourier verwendet die Synonyme faiseur d'utopie und utopiste als negative Fremdbezeichnungen, als deren Antonym aber die positive Selbstbezeichnung „inventeur". Damit ist das Begriffspaar utopie/utopiste(s) ausgebildet, das in der Sozialismusdebatte der Zeit von 1830-1848 als Synonym bzw. Antonym der Begriffspaare socialisme/socialistes und communisme/communistes große Bedeutung gewinnen wird. Das Wort utopiste erscheint zunächst noch selten, es entspricht älteren erfolglosen Wortbildungen des 18. Jahrhunderts wie raisonneur utopique (Diderot 1770) oder Utopien (Mirabeau 1789, Rivarol 1792, vgl. oben II.3) und konkurriert mit synonymen Bezeichnungen wie „faiseur de systèmes", „faiseur de plans", „faiseur de constitutions", faiseur d'utopies (Fourier 1822, 1829-30; d'Eckstein 1834; Nisard 1836; Proudhon 1846, L'Atelier 1849), „novateur", „rêveur" etc.95 Diese Bezeichnungen für den wirklichkeits-
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) Erstbelege von utopiste bei FOURIER vgl. Anm. 86 u. 90; raisonneur utopique und utopien vgl. Anm. 65 bzw. 66; faiseur d'utopies: Fourier vgl. Anm. 86; baron d'Eckstein an Lamennais (28. V. 1834), in F. de LAMENNAIS: Correspondance générale, Bd. VI, Paris 1977, S. 625-629, dort 628; J.M.N.D. NISARD: „Hommes illustres de la Renaissance", in Revue des Deux Mondes (= RDDM), V (1836), 545-593, dort 573; P.-J. PROUDHON:
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fremden Sozialreformer oder Weltverbesserer sind in der Regel negativ konnotiert im Sinne des sozialkritischen Liedes „Les fous" (1832) von Béranger, in dem dieser die Reformideen der Frühsozialisten Saint-Simon, Fourier und Enfantin als hochherzige Träume der „fous rêveurs" feiert 96 . Der älteste literarische Beleg für utopiste stammt von Théophile Gautier, der 1832 in der „Préface" seines Gedichtbandes Albertus den Vertretern des zeitgenössischen utilitaristischen Denkens, den „utilitaires, utopistes, économistes, saint-simonistes et autres", provozierend die selbstgenügsame Zwecklosigkeit der Dichtkunst entgegenstellt. 1836 erscheint utopiste als Lemma in den Wörterbüchern von Raymond und Landais97. Raymond definiert utopiste in seinem Supplément au Dictionnaire de l'Académie Française de 1835-das Akademiewörterbuch hatte das Wort nicht registriert-unpräzise als „Celui qui se jette dans l'utopie, ou qui n'a que des idées d'utopie." Unter Bezug auf die Bedeutung von utopie als ,unrealisierbarer politisch-sozialer Reformplan' gibt Landais zwei genauere Definitionen: „homme qui fait des utopies', qui rêve, qui imagine des plans, des projets dont la réalisation est impossible, ou paraît telle: c'est un utopiste." Im Gegensatz zu utopie erscheint die Ableitung utopiste von Anfang an als pejorisierende Fremdbezeichnung der politisch-sozialen Sprache für den „weltfremden Verfasser/Propagator unrealisierbarer politisch-sozialer Reformpläne"; später wird diese Bezeichnung auch retrospektiv für die Verfasser der fiktionalisierten Idealstaatsentwürfe der literarischen Utopietradition verwendet.
Textes choisis, ed. A. MARE, Paris 1945, S.213; L'Atelier, 10e Année, Nr.2 (28. XI. 1849), S. 427-433 „Nouvelle croisade contre le Socialisme", dort 431. Einen schönen Beleg für das Begriffspaar utopie/utopiste bietet FOURIER 1832 mit dem Titel einer Artikelreihe: „Revue des Utopies du XIX E siècle, et des sociétés d'utopistes parisiens", in La Réforme industrielle ou le Phalanstère, Paris, 5., 12. und 19. Juli 1832 (zit. nach J. GRANDJONC/H. PELGER, Die Diskussion über utopischen und wissenschaftlichen Sozialismus um 1840, S. 330 und n. 19). P.J. BÉRANGER: Œuvres compl., Paris 1851, II, S. 300-302 „Les fous", S. 301, 3 . - 6 . Strophe; zum Folgenden Th. GAUTIER: Poésies complètes, Paris 1896,1, 3 - 6 Préface (S. 6: Octobre 1832), S. 4 Zitat. 97 ) F. RAYMOND: Supplément au Dictionnaire de l'Académie Française, Sixième édition publiée en 1835, Paris 1836, S.832; N. LANDAIS: Dictionnaire général et grammatical des dictionnaires français, 3E éd., II Bde., Paris 1 8 3 6 , 1 , 7 6 5 , vgl. unten A n m . 99.
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h) Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß zwei Haupttendenzen die semantische Entwicklung des Utopiebegriffs im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bestimmt haben: 1) die Politisierung und Pejorisierung von Utopie und seinen Ableitungen, die schon im 18. Jahrhundert einsetzte und nun den Unrealisierbarkeitsvorwurf des negativen Utopiebegriffs in der Regel als Mittel der konservativen Diskriminierung gesellschaftskritischer und zukunftsorientierter Reformpläne und Reformideen erscheinen läßt (Wörterbücher, SaintSimon und Fourier, Diskussion der Französischen Revolution, Neologismus utopiste)-, 2) die Ausweitung des Bedeutungsumfangs von Utopie als literarischer Gattungsbegriff, der, im 18. Jahrhundert entstanden, nun die gesamte literarische Tradition vom älteren Typus der Raumutopie bis zum neueren Typus der Zeitutopie umfassen kann, wobei die Grenzen zwischen fiktionalisierten Idealstaatsentwürfen und nicht-fiktionalen politisch-sozialen Reformplänen fließend werden (Wörterbücher, Fourier, F. Bodin). In beiden Tendenzen erkennen wir den Prozeß der „Verzeitlichung" des Utopiebegriffs, der in dem folgenden Zeitabschnitt von 1830-1848 im Zeichen der politisch-ideologischen Radikalisierung und in Verbindung mit der Entwicklung der zukunftsorientierten Begriffe socialisme und communisme zur vollen Entfaltung gelangt. Der heuristische Utopiebegriff Fouriers und seine „Umkehrung des Utopie Vorwurfs" deuten auf spätere Entwicklungsmöglichkeiten des Utopiebegriffs voraus.
2. Von der Julirevolution 1830 zur Februarrevolution und zum Juniaufstand 1848: utopie/utopistes als Synonyme bzw. Antonyme von socialisme/socialistes und communisme/communistes (1830-1850) 1. Ansätze zur Aufwertung des Utopiebegriffs: Integration der Tradition der literarischen Utopie und der Theoriebildungen der Frühsozialisten im Diskurs der „économie politique" (1830 bis 1840) a) Die Julirevolution von 1830 markiert eine Wende in der Sozialgeschichte Frankreichs wie in der Geschichte des Frühsozialismus. Die entscheidende Beteiligung der Pariser Arbeiter an den Kämpfen der Revolution, die enttäuschten Hoffnungen der Arbeiterschaft auf ei56
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ne Verbesserung ihrer materiellen Lage, ihre wachsende Politisierung in den Jahren 1830-1835 (Arbeitervereinigungen, Zeitschriften, spontane Streiks und Aufstände) sind die ersten Lebenszeichen der entstehenden französischen Arbeiterbewegung. Vor allem die mit aller Härte niedergeschlagenen Aufstände der Seidenweber von Lyon 1831 und 1834, die Prozesse gegen die Aufständischen und die repressiven Gesetze von 1835, welche die Arbeitervereinigungen in die Illegalität treiben, heben das Elend der Industriearbeiterschaft und den neuen Klassengegensatz von Bourgeoisie und Arbeiterschaft in das öffentliche Bewußtsein und beeinflussen die jüngere Generation der Frühsozialisten, die dem Bürgertum entstammt und nun in verstärktem Maße Einfluß auf die Arbeiterschaft zu gewinnen sucht. Diese politischen und sozioökonomischen Wandlungen spiegeln sich auch in der semantischen Entwicklung des Utopiebegriffs. Seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts werden im Diskurs der économie politique des Bürgertums die literarischen Utopien von Piaton und Morus bis Restif de la Bretonne und die Theorien der Frühsozialisten, v. a. Saint-Simons, Fouriers und Owens sowie der diesen folgenden Schulen, als in einer kontinuierlichen Tradition stehend begriffen, wobei die Gesellschaftsentwürfe von Morelly und Mably, Saint-Just und Babeuf das Bindeglied zwischen der älteren fiktionalen und der zeitgenössischen nicht-fiktionalen Utopietradition darstellen: Die literarischen Utopien werden als Vorläufer der Frühsozialisten, diese als Fortsetzer oder gar als bloße Epigonen (Plagiatvorwurf!) der Utopietradition verstanden. Die um 1830 entstehenden, sich bald verbreitenden Neologismen socialisme (Erstbeleg 1831) und „socialiste(s)" (Erstbeleg 1833), Sammelbezeichnungen für die verschiedenen sozialkritischen und sozialreformerischen Schulbildungen und Autoren 98 , werden mit dem Begriffspaar utopiel utopiste(s) gleichgesetzt (als Fremdbezeichnungen): Der Begriff socialistes modernes (Reybaud 1836-38) für die Frühsozialisten impliziert den Begriff socialistes anciens für die Autoren der literarischen 98
) Vgl. W . SCHIEDER: Art. „Sozialismus", S.943, 941; H . M Ü L L E R : Ursprung und Geschichte des Wortes „SOZIALISMUS" und seiner Verwandten, Hannover 1967, S. 97 socialisme (1831), S. 102 socialistes (1833); A . E . BESTOR: The Evolution of Socialist Vocabulary, in: Journal ofthe History ofldeas, IX, 3 (Jan.-Oct. 1948), S.259-302, dort 277: socialisme 1831, socialiste 1833; J. D U B O I S : Le Vocabulaire politique et social en France de 1869 à 1872 (Thèse ès Lettres, Paris), S. 125, datiert die Erstbelege von socialiste und socialisme ins Jahr 1831.
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Utopietradition. Ansätze zu einer positiveren Einschätzung der Frühsozialisten finden ihren lexikalischen Niederschlag in der synonymen Verwendung der Wörter réformateurs und novateurs für socialistes (modernes) und utopistes, doch konnten diese Ansätze einer Bedeutungsverbesserung sich gegen die pejorisierende Grundtendenz der Verwendung des Utopiebegriffs in der politisch-sozialen Sprache der Epoche letzten Endes nicht durchsetzen. Der pejorisierende Gebrauch des politisierten Utopiebegriffs hängt mit den politischen Ereignissen der Epoche zusammen (z. B. Julirevolution 1830, Blanquisten-Aufstand 1839, vgl. unten). Wir haben bereits gesehen (vgl. oben III.l.), daß die Begriffe utopie (spätestens seit Dict. Acad. 51798) und utopiste (seit 1836: Raymond, 3. Ed. Landais) als Lemmata ihren festen Platz in den französischen Wörterbüchern gefunden haben. Mit der sechsten Ausgabe von 1835 verliert das Akademiewörterbuch seine Normfunktion für die semantische Entwicklung des Utopiebegriffs, weil es deren aktuellen Stand nicht wiedergibt: der Artikel utopie von 1835 ist im wesentlichen identisch mit dem von 1798, der Neologismus utopiste fehlt. Er wird in den Wörterbüchern von Raymond, Landais und Barré/Landois (1839) nachgetragen und erscheint erst 1842 (in wörtlicher Übereinstimmung mit Barré/Landois) im Complément du Dictionnaire de l'Académie Française (integriert erst in Dict. Acad. 7 1879!) als Lemma mit den drei negativen Bedeutungen: „Celui qui croit à une utopie. Créateur d'une utopie. Celui qui prend ses rêves pour des réalités99." Trotz gelegentlicher Ansätze zu einer Bedeutungsverbesserung (Lerminier 1838, Reybaud 1836-38, 1840, vgl. unten) haben die negativen Konnotationen des Begriffs utopiste seit seiner Entstehung überwogen (vgl. oben III.l.). Die semantische Entwicklung des Wortpaars utopielutopiste(s) kann als eine Einheit behandelt werden. Aus dem Jahre 1834 datiert der früheste bisher bekannte Beleg für die Verwendung des Adjektivs utopique im 19. Jahrhundert. 993
") Vgl. nacheinander s.v. „Utopiste" R A Y M O N D und LANDAIS vgl. Anm. 97; L . B A R R É / N . LANDOIS: Complément du dictionnaire de l'Académie française, Bruxelles 1839, S. 1047; Complément du dictionnaire de l'Acad. fr., Paris 1842, S. 1241; Dict. Acad. ( 7 1879), I 909. Wa ) Vgl. Revue Républicaine, Paris, 10. Juli 1834, Bd. 2, Lieferung 4, S. 110 (zit. nach J. G R A N D J O N C / H . PELGER, Die Diskussion über utopischen und wissenschaftlichen Sozialismus um 1840, S. 330 n. 18.)
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b) Die 1829 gegründete, vierzehntägig erscheinende, bürgerlich-liberale Kulturzeitschrift La Revue des deux mondes (= RDDM), die auch philosophische, politische und ökonomische Beiträge veröffentlichte, ist geeignet, die Verwendung des Utopiebegriffs in der politisch-sozialen Sprache des Bürgertums der Julimonarchie zu belegen. Das Wort utopie und seine Ableitungen sind in der RDDM relativ häufig anzutreffen: utopie (seit 1831), faiseur d'Utopie (seit 1836), utopies sociales et politiques (1839), utopie de la communauté (1842); utopistes (1837); socialistes (modernes) (1837), communisme (1841), communistes (1842). Aus der Sicht des liberalen Bürgertums, das in der Julimonarchie seine politischen und sozialen Idealvorstellungen verwirklicht sah, wurde das Wortpaar utopie/utopistes in der Regel pejorativ als Mittel konservativer Abwehr aller das bürgerliche Ideal übersteigenden politisch-sozialen Reformforderungen verwendet, z. B. gegen den Gedanken einer egalitären Republik (1831), gegen jede Infragestellung des Prinzips des Privateigentums (1831), gegen die „association universelle" der Saint-Simonisten (1833), gegen die sozialkritischen und -reformerischen Schriften von Saint-Simon (1833,1836,1839), Fourier (1838), Lamennais (1838) oder Bentham (1831,1838), gegen den antihistorischen Rationalismus der Reformpläne von Fourier, Bentham oder Saint-Just (1838,1840), gegen die kommunistische „Conjuration des Egaux" Babeufs (1833). Als ironisch-pejorativ konnotierte Synonyme erscheinen für utopies Bezeichnungen wie: systèmes, âges d'or terrestres, pays de Cocagne, rêves, républiques en l'air, rêveries, sociétés idéales, projets de réforme radicale, als synonyme Bezeichnungen für utopistes: hommes de l'avenir, faiseurs de plans, fabricateurs de systèmes, faiseurs d'Utopie, humanitaires. In einem satirisch-parodistischen „Leserbrief aus der Provinz", der im November 1836 in der RDDM unter dem Titel „Les humanitaires" veröffentlicht wurde, persifliert der Romantiker Alfred de Musset den modischen Jargon der frühsozialistischen Weltverbesserer und verurteilt zunächst die Systemgläubigkeit der Utopien von Morus bis Owen, dann den systemlosen Reformkatalog der Saint-Simonisten, die er als Epigonen Lykurgs, des Gesetzgebers des antiken Sparta, des Plagiats bezichtigt. Die systematischen Utopien verwirft Musset, einen Beispielsatz aus dem Utopie-Artikel des Wörterbuchs von Boiste zitierend (61823, vgl. oben III.l.) als harmlose Träume, denen er jeden Einfluß auf die Gestaltung der Wirklichkeit bestreitet:
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Les uns [sc. la première sorte d'humanitaires] ont un système tout fait, complet, relié, coulé en bronze, comme qui dirait une utopie. Rien ne leur manque ninelesgêne;leurmondeest créé, dormons là-dessus ; [ . . . ] . [ . . . ] mais, depuis que la terre tourne, jamais utopie n'a servi de rien, ni fait aucun mal, que l'on sache, pas plus Thomas Morus que Platon, Owen et autres, que Dieu tienne en joie. D'ailleurs il est écrit quelque part: jamais n'attaquez, ne détruisez l'inoffensive utopie de personne [Boiste] 100 .
Der Gattungsbegriff utopie schließt hier sowohl die literarischen Utopien seit Morus' Utopia als auch die Theorien der Frühsozialisten ein, eine Bedeutungserweiterung, die seither in der RDDM wiederholt begegnet (1836 Nisard, 1836-38 Reybaud etc.). Erscheint die konservative Funktion des Utopievorwurfs in dem zitierten Artikel Mussets eher verharmlosend, so zeigt sich die politische Brisanz des pejorisierten Utopiebegriffs in den Artikeln der RDDM, die, auf die revolutionären Ereignisse der 1830er Jahre reagierend, Staat, Gesellschaft und Besitz des Bürgertums gegen frühsozialistische Kritik verteidigen. So wandte sich A. Barchou, ein überzeugter Anhänger des Bürgerkönigtums, 1831 gegen die Utopie einer künftigen egalitären Republik „[...] une sorte de république systématiquement nivelée, dont les Etats-Unis d'Amérique ne nous offrent guère qu'une grossière ébauche, et dont Bentham nous enseigne l'utopie101." Der Artikel „De la propriété", in dem der Jurist Lerminier das Prinzip des Privateigentums als ewiges Naturrecht zu begründen sucht, wurde 1831 in einer Anmerkung des Herausgebers der RDDM als politisch opportune Verteidigung des Privateigentums gegen die „Utopien" der Julirevolution von 1830 vorgestellt: „Au milieu des utopies, des questions soulevées par la révolution de juillet, il nous paraît avoir tout le mérite de l'à propos." Nach dem gescheiterten Revolutionsversuch von Blanqui am 15. Mai 1839 verschärft sich der konservative Ton der RDDM; die Zeitschrift fordert eine starke Regierung, weil der allgemeine Autoritätsschwund die Umtriebe radikaler Gruppen (factions) fördere und die Sicherheit 100)
101)
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R D D M [95], Nov. 1836, vgl. A . de MUSSET: Œuvres complètes en prose, ed. M. A L L E M u. P A U L - C O U R A N T , Paris 1960, „Deuxième Lettre [se. Lettres de Dupuis et Cotonet], La Ferté-sous-Jouarre, 25 novembre 1836", dort 839 u. 839f. Zitate, 838 Mussets Kritik an Boistes Wörterbuch. R D D M , I - I I (1831), 526-560 A . B A R C H O U : Essai d'une formule générale de l'histoire de l'humanité d'après les idées de M. Ballanche, dort 535; die folg. Zitate ebd. I I I (1831), 502-516 LERMINIER: D e la propriété, dort 502 n. 1 ; XX (1839), 573ff. Chronique de la quinzaine (14. XI. 1839), 574.
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von Staat, Gesellschaft und Privateigentum durch „soziale und politische Utopien" erschüttere: Alors reparaissent les projets de réforme radicale, les utopies sociales et politiques, et ces discours insensés, et ces folles tentatives qui, sans mettre la société en danger, l'inquiètent cependant, la troublent [...].
c) Im Kontext politisch-sozialer Rede des Bürgertums werden Vorstellungen wie Eigentumskritik und Revolution zu Konnotationen des pejorisierten Utopiebegriffs. Insgesamt aber fehlt dem bürgerlichen Utopievorwurf der 1830er Jahre noch die aggressive Schärfe, ja Artikel der RDDM zeigen wiederholt den Versuch einer Bedeutungsverbesserung der Begriffe utopie und utopistes. Nachdem Lerminier 1838 in einer kritischen Würdigung Lamennais' dessen Livre du peuple in die Nähe der „utopistes" Bentham und Fourier gerückt und daraufhin George Sand in einem engagierten Artikel Lamennais gegen diese „accusation d'utopie" in Schutz genommen hatte, versuchte Lerminier in seiner Entgegnung, den Begriff des Utopisten in einer Definition zu präzisieren und aufzuwerten: Ce n'est pas pour déprécier ces grands hommes [se. Saint-Simon, Fourier], mais bien pour les qualifier, que j'ai employé ce mot [se. utopistes]. Un utopiste est le penseur qui a la double force de nier la société existante et d'édifier une société idéale102.
Louis Reybaud, ein Vertreter der liberalen économie politique, veröffentlichte 1836-38 in der RDDM unter dem gemeinsamen Titel „Socialistes modernes" eine Reihe von drei wegweisenden Artikeln über Saint-Simon und die Saint-Simoniens (1836), Charles Fourier (1837) und Robert Owen (1838), in denen er die Bezeichnungen „socialistes modernes", „réformateurs" und utopistes als Synonyme ansieht, im Sprachgebrauch der Artikel aber den Begriff „socialistes modernes" allein in der Titelgebung verwendet und im eigentlichen Text in der Regel die neutrale Bezeichnung „réformateurs" dem im allgemeinen Verständnis der Zeitgenossen negativ konnotierten Be-
««) RDDM, XIII (1838), 151-161 L E R M I N I E R : Du radicalisme évangélique. Le Livre du Peuple, par M. F. de La Mennais, dort 152; 324-336 G. S A N D : Lettre à M. Lerminier [.. .], dort 333f. u. 334; 458-475 L E R M I N I E R : Réponse à George Sand, dort 469. 61
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griff utopistes substituiert103. Unter dem Begriff „réformateurs" (= utopistes) subsumiert Reybaud alle Verfasser von fiktionalen oder nicht-fiktionalen Plänen zur Gesellschaftsreform, die Autoren der klassischen literarischen Utopien von Morus bis Fénelon ebenso wie die drei großen Frühsozialisten Saint-Simon, Fourier und Owen, aber auch Zinzendorf, J.-J. Rousseau oder William Penn. Reybaud stellt die Wirkungslosigkeit bzw. Unrealisierbarkeit aller dieser Reformpläne fest, preist Intelligenz, Moral und Idealismus dieser verkannten Reformer und empfiehlt sie der Achtung der Zeitgenossen: „[...] ces penseurs méconnus ont droit aux voeux de tous, aux sympathies générales." Reybaud begreift diese „socialistes modernes" als Propheten einer von der göttlichen Providenz durch den technischen Fortschritt der Maschinen ermöglichten materiellen und spirituellen Erneuerung der Menschheit: „Ceux-là se substituent au rôle que remplirent les prophètes des premiers âges; ils entonnent le cantique de l'avenir, et présageant la ruine des cités maudites, ils chantent les splendeurs de la Jérusalem nouvelle." Eine lobreichere Charakterisierung ist den Frühsozialisten aus der Feder eines Autors der bürgerlich-liberalen économie politique wohl kaum noch zuteil geworden. Die überarbeitete und erweiterte Fassung der Artikel Reybauds hat seit 1840 als weit verbreitetes Buch mit dem Titel Etudes sur les réformateurs contemporains ou socialistes modernes. Saint-Simon, Charles Fourier, Robert Owen das zeitgenössische Urteil über die Frühsozialisten wie die semantische Entwicklung der Begriffe socialistes! socialisme und utopie/utopistes außerordentlich beeinflußt (vgl. unten). d) Im Zentrum der Theoriebildung des ökonomischen Liberalismus steht die Überzeugung, daß die Ungleichheit und das Privateigentum von der Natur gegebene und daher legitime Prinzipien der menschlichen Gesellschaftsordnung darstellen. So ist es nicht verwunderlich, daß die bürgerlich-liberalistische économie politique diese Grundsät-
103
VII (1836), 292-341 L. R E Y B A U D : Socialistes modernes. I. Les Saints-Simoniens, 293 utopie, 294 réformateur, XII (1837), 455-487 Soc. mod. II. Charles Fourier, 457 réformateurs, utopistes, 458 das folg. Zitat; XIV (1838), 5 - 3 9 Soc. mod. III. Robert Owen, 9 das übernächste Zitat, réformateur, 39 abschließendes Lob auf die „trois hommes éminents, Saint-Simon, Fourier et Owen" und deren Vorschläge einer „organisation meilleure du travail"; - REYBAUDS „Etudes" vgl. unten III.2.1.e).
) RDDM,
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ze auch gegen die Gesellschaftskritik sowohl der Idealstaatsentwürfe der klassischen literarischen Utopien als auch der Theorien und Reformpläne der Frühsozialisten verteidigte und damit schließlich den literarischen Gattungsbegriff utopie als für beide gültig erweitert und beide als eine kontinuierliche Tradition begriffen hat: Im Diskurs der politischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts fallen damit die beiden Hauptbedeutungen des Utopiebegriffs, die das 18. Jahrhundert herausgebildet hatte - der literarische Gattungsbegriff und der Begriff der unrealisierbaren politisch-sozialen Reformidee - zusammen. Als erweiterter Gattungsbegriff bezeichnet utopie fiktionale wie auch nicht-fiktionale Idealstaatsentwürfe, Gesellschaftstheorien und Reformpläne der Vergangenheit wie der Gegenwart. In seinem 1828-1829 veröffentlichten Cours d'économie politique, einem Standardwerk des ökonomischen Liberalismus, hat Jean-Baptiste Say, Professor für politische Ökonomie am Collège de France, das Prinzip des Privateigentums als „le premier fondement de l'ordre civil et le premier stimulant de la production", das Prinzip der Gütergemeinschaft hingegen als unrealisierbares Phantasieprodukt der literarischen Utopien bezeichnet: L'âge d'or des poètes, l'utopie de Morus, le tableau des habitants de la Bétique tracé par Fénelon, sont des jeux de l'imagination faits pour plaire à l'imagination, mais ne constituent pas une organisation sociale possible. Il faut laisser cela aux romanciers; [.. .]104.
Adolphe Blanqui, Professor für „économie industrielle" am Pariser Conservatoire des Arts et des Métiers (u. Bruder des Revolutionärs Louis-Auguste Blanqui), hat 1837-1838 in seinen Überblicksdarstellungen der politischen Ökonomie Morus' Utopia, gesellschaftskritische Schriften der Aufklärung (z. B. von Galiani, Mably, Morellet) und die Werke der Frühsozialisten berücksichtigt. In seiner Histoire de l'économie politique en Europe (1837) referiert Blanqui zunächst kritisch, aber relativ anerkennend die „économie politique saint-simonienne", um dann in dem Kapitel „Des économistes utopistes" den Utopievorwurf der Unrealisierbarkeit gegen das „système sociétaire" Fouriers wie das „système social" des „socialiste
104
) J.-B. SAY: Cours complet d'économie politique pratique, 3E éd., 2 Bde., Paris 1852 (Repr. Osnabrück, O. Zeller), I, 506ff.: IVe partie, Ch. II De l'influence du droit de propriété, 516 u 509. 63
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anglais" Robert Owen zu erheben 105 . Das System Fouriers habe letztlich nur den Fundus unrealisierbarer politisch-sozialer Reformideen bereichert, „[...] il n'apportait [ . . . ] que sa part d'incertitudes et de rêveries au foyer universel de tous les doutes et de toutes les utopies de la civilisation." Blanqui, der, obschon Liberaler, selbst sozialkritisch eingestellt war, schloß seine ausgewogene, ja wohlwollende Darstellung der Frühsozialisten mit einem Appell an die bürgerliche Öffentlichkeit, diesen Utopisten Achtung zu erweisen: „Respectez les utopistes qui vous accusent d'insouciance et rougissez de leurs erreurs, car ils consument leur vie à penser pour des millions d'ingrats." Dieser Appell impliziert eine Aufwertung des Begriffs utopistes: Blanqui verbindet, wie vor ihm schon Reybaud, den Unrealisierbarkeitsvorwurf gegen die Theorie mit der moralischen Wertschätzung für die Person der Frühsozialisten. Die nahe Verbindung der Begriffe socialiste (auf Owen bezogen) und utopistes (auf Fourier und Owen bezogen) deutet auf deren Gleichsetzung als Synonyme hin, ein semantischer Entwicklungsschritt, der in der Titulatur der 1837 (sicher in Kenntnis der „Socialistes modernes" Reybauds) entstandenen, 1838 veröffentlichten Cours d'économie industrielle Blanquis vollzogen ist; der Untertitel dieser Buchveröffentlichung lautet: Leçons sur le capital, l'impôt, [...] le paupérisme, [...] et sur les socialistes modernes: ST. SIMON, FOURIER, OWEN et leurs disciples106. Während Say nur den Eigennamen der Utopia, nicht aber die Begriffe utopie und utopistes gebrauchte und Adolphe Blanqui die synonymen Begriffe économistes , utopistes', utopistes und socialistes modernes auf die großen Frühsozialisten beschränkte, hat Louis Reybaud in seinen 1840 als Buch veröffentlichten Etudes sur les réformateurs contemporains ou socialistes modernes. Saint-Simon, Charles Fourier, Robert Owen die Bezeichnungen utopies sociales und utopistes als Oberbegriffe sowohl für die Texte und Autoren der literarischen Utopietradition von Piaton und Morus bis zu Restif de
Histoire de l'économie politique en Europe, Paris 1837, 303-321 Ch. XLIII D e l'économie pol. saint-simonienne, 322-340 Ch. XLIV Des économistes utopistes, 323ff. Fourier, 333ff. Owen, 333f. „socialiste anglais"; die beiden folg. Zitate ebd., 323 u. 340. A . - J . BLANQUI: Conservatoire des Arts et des métiers. - Cours [...], Paris 1838,1 153ff. Huitième Leçon (22. XII. 1837), 162ff. Owen, 164f. SaintSimon, 165f. Fourier, 165 utopie-Vorwurf.
105
) A . - J . BLANQUI:
106
)
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la Bretonne (= utopies particulières) als auch für die Theorien der Frühsozialisten, der „réformateurs contemporains ou socialistes modernes", verwendet. Der Titel der dritten Ausgabe der Etudes (1842) erhält den Zusatz [...] augmentée d'une bibliographie raisonnée des principaux utopistes107. Reybaud hat damit die Terminologie, die seiner 1835-1837 verfaßten, 1836-1838 in der RDDM veröffentlichten Artikelreihe „Socialistes modernes" zugrundeliegt, reflektiert und systematisiert. Damit vollendete sich ein wesentlicher Abschnitt in der semantischen Entwicklung des Utopiebegriffs, dessen Ergebnisse durch die weite Verbreitung der Reybaudschen Etudes als einschlägiges Standardwerk in der politisch-sozialen Sprache (zumindest des Bürgertums) nahezu allgemeine Gültigkeit erlangten. e) Reybauds Artikelreihe „Socialistes modernes" und deren Buchveröffentlichung als Etudes sur les réformateurs contemporains ou socialistes modernes haben für die Geschichte des Utopiebegriffs vor allem vier Ergebnisse erbracht: 1) Die fiktionalen Idealstaatsentwürfe der literarischen Utopien und die nicht-fiktionalen Systeme der Frühsozialisten werden, als einer kontinuierlichen Tradition entstammend („Origine et filiation des Utopies sociales"), unter dem erweiterten Gattungsbegriff der utopie sociale zusammengefaßt, ihre Autoren unter dem Begriff utopistes; beide Bedeutungen haben seither ihre Gültigkeit behalten108. 2) Für die historischen Versuche zumeist religiös motivierter Gruppen, die Theorien der utopies sociales in kollektiv organisierten Lebensgemeinschaften in der Praxis zu verwirklichen („sectes sociales", „scissions collectives"), prägte Reybaud die treffende Bezeichnung l'utopie en action, die den heutigen Begriff „realisierte Utopie" vorwegnimmt, sich jedoch im zeitgenössischen Sprachgebrauch nicht durchgesetzt hat: „C'est l'utopie en action, fonctionnant soit comme appel soit comme censure109."
Etudes 11840, 2 1841, 3 1842-1843 („ouvrage qui a obtenu en 1841 le grand prix Montyon"), "1844-1848, 6 1849, 7 1864 (Catalogue BN Auteurs, CL, 1928, Sp. 138f.). 108 ) L . REYBAUD: Etudes, 1840, S . V - X I Introduction (dort S.Vf. Kontinuität der utopies sociales), 5 - 3 8 Origine et filiation [ . . . ] , 11-20 Utopies particulières, 2 1 - 3 8 Sectes sociales, 39-328 Socialistes modernes. 1( ») Ebd., S.20.
107
) L . REYBAUD:
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3) Reybaud verwendet die Bezeichnungen utopistes und socialistes (modernes), réformateurs und novateurs als Synonyme; die Gleichsetzung von utopistes und socialistes (welche die erst später nachweisbare Gleichsetzung von utopie und socialisme impliziert) ist für die semantische Entwicklung des Utopiebegriffs in den 1840er Jahren und nach der Februarrevolution und dem Juniaufstand von 1848 bestimmend geworden. Dabei sind utopie (sociale)/utopistes die Oberbegriffe: utopistes schließt die engeren nur für die Frühsozialisten gültigen Bezeichnungen réformateurs contemporains und socialistes modernes ein (utopistes = socialistes modernes), denn der höhere Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Generalisierbarkeit („généralisation plus vaste", „science universelle") der „modernen Sozialisten" stellt diese auf eine qualitativ höhere Stufe als die Utopisten vor dem 19. Jahrhundert, eine Auffassung, die auch von der heutigen Sozialismusforschung noch geteilt wird: „Les hommes que nous avons nommés socialistes, en empruntant ce mot à l'Angleterre pour en user avec discrétion, ces hommes ont un cachet particulier qui ne permet pas de les classer et de les confondre dans une catégorie consacrée 110 ."
4) Definition und Argumentation Reybauds plädieren für eine Bedeutungsverbesserung von utopie/utopistes, die vorübergehend den Sprachgebrauch einiger bürgerlicher und auch frühsozialistischer Autoren tatsächlich beeinflußt hat, doch bald der ideologischen Radikalisierung der vierziger Jahre (auch bei Reybaud selbst seit 1842!) zum Opfer gefallen ist (vgl. unten). Einerseits sieht Reybaud Leistung und Nutzen der Utopisten ( = „les utopistes enfin, dans la plus belle acceptation de ce mot") in deren gesellschaftskritischer Funktion, vor allem aber in deren katalytischer Funktion als fortschrittsförderndes Stimulans gegeben („un stimulant, un aiguillon nécessaires"), fordert für sie den Respekt der bürgerlichen Öffentlichkeit und bestätigt ihre Faszination auf einen Teil des bürgerlichen Publikums („Leur grandeur attire, leur nouveauté séduit."), andererseits aber warnt er vor den Gefahren dieser „appels subversifs", dieser „révoltes sociales", welche die moralischen, ökonomischen und religiösen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft erschütterten 111 . 110 m
) Ebd., S.Vif. ) Ebd., S.8f. kritische und katalytische Funktion, 143 Achtungsappell, 303 Faszination, 303f. Gefahren; die beiden folg. Zitate ebd., 11,14 Piaton, 25 Evangile.
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Die Bedeutungsverbesserung im Sprachgebrauch Reybauds wird erkennbar, wenn er z. B. Piaton als „le plus grand, le plus sublime des utopistes", als „l'illustre utopiste" bewertet oder im Hinblick auf ein wirklich gelebtes Christentum die provozierende Frage stellt: „[...] mais l'Evangile lui-même n'est-il pas une utopie?" f) Auch François Villegardelle, ein den Frühsozialisten nahestehender Autor, verwendet 1840 utopie/utopistes für die gesamte Utopietradition von Piaton und Morus bis Owen, Fourier und Enfantin 112 . Die eigene Epoche begreift er aufgrund ihrer sozialen Spannungen als „époque des utopies", die Gattung Utopie als detailliertes Idealstaatsmodell („type idéal d'organisation sociale") zur umfassenden Reform der bestehenden Gesellschaft („réorganisation intégrale de la société") und grenzt sie gegen die Reiseutopien von bloßem Unterhaltungswert ab („voyage imaginaire", „roman féérique"). Im Vorwort seiner Textausgabe von Morellys Code de la nature (1840) gebraucht er réformateurs und utopistes als Synonyme und rechnet zu dieser Gruppe auch den „communiste anglais" Robert Owen; in der 2. Auflage (1841) ersetzt er das als pejorativ empfundene utopistes durch réformistes, den noch sehr seltenen Neologismus communiste durch die schon geläufigere Neuprägung socialiste: Morelly gehöre zu der „famille nombreuse de réformateurs ou d'utopistes [21841: famille nombreuse de réformistes] qui part de Lycurgue, de Pythagore et de Platon et se continue par les différentes sectes chrétiennes jusqu'au dernier communiste [21841: jusqu'au socialiste anglais Owen] 113 ." Diese Subsumtion eines communiste bzw. socialiste unter die Gruppe der utopistes ist wohl der früheste Beleg für die die vierziger Jahre bestimmende Tendenz der semantischen Entwicklung, diese Begriffe als Synonyme zu verstehen. Die Ansätze zur Aufwertung des Utopiebegriffs haben zuweilen auf den zeitgenössischen Sprachgebrauch eingewirkt: Lamartine gibt 1837 einem lyrischen Gedicht, in dem er die Vision einer glücklicheren Gesellschaft der Zukunft gestaltet, den Titel „Utopie", einer der
N 2
)
I«)
ed. MORELLY, Code de la nature, Paris 1840 ( 2 1841), 16 réformateurs = utopistes, 8 Morellys Basiliade = utopie sociale; VILLEGARDELLE: ed. T. CAMPANELLA; La Cité du Soleil, ou Idée d'une république philosophique, Paris 1840, utopies: S. 10,12, 36, 37, 39, 42,44; utopistes: 11, 43; die drei Zitate des folg. Satzes ebd., 9f.,10, 9. 2 VILLEGARDELLE: ed. Code [112], Ed. 1840, S.16f., Ed. 1841, S.14. F . VILLEGARDELLE:
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äußerst seltenen Fälle, in denen utopie als Selbstbezeichnung verwendet worden ist; J. Mongin definiert in der von dem Sozialisten P. Leroux herausgegebenen Encyclopédie nouvelle (1841) utopie als „rêve politique", als spekulative Vorwegnahme zukünftiger Wirklichkeit (Verzeitlichung!) ; ganz ähnlich begreift die Encyclopédie des gens du monde (1844) utopie(s) als „rêveries des philanthropes", „généreuses illusions", als „idéal", das den Fortschritt der Menschheit zu orientieren vermag114. Im allgemeinen Sprachgebrauch der Epoche aber bleibt die pejorisierende Grundtendenz von utopie/ utopistes erhalten, dienen sie in der politisch-sozialen Sprache des Bürgertums als pejorative Fremdbezeichnungen zur konservativen Abwehr frühsozialistischer Vorstellungen zur Gesellschaftsreform. Aus der defensiven oder antizipierenden Perspektive frühsozialistischer Autoren ist dieser Sprachgebrauch häufig belegt. So schreibt die kommunistische Zeitschrift L'Intelligence (1837) mit Bezug auf das Gleichheitsprinzip: „On va m'objecter qu'un tel état de choses est irréalisable; que c'est un rêve, une chimère, une utopie; [.. .]115." Der Sozialist Louis Blanc (1839) kritisiert die bürgerlichen Autoren „[qui...] traitent d'utopies inutiles à combattre ce qu'ils sont trop ignorants pour discuter [...]•" g) Die semantische Entwicklung des Utopiebegriffs hat in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts vor allem drei neue Erscheinungen hervorgebracht: 1) die Bedeutungserweiterung des literarischen Gattungsbegriffs auf alle fiktionalen und nichtfiktionalen Gesellschaftsentwürfe der Utopietradition von Piaton und Morus bis zu den Frühsozialisten; 2) eine Verstärkung der Tendenz zur Politisierung, die in der Gleichsetzung von utopistes und socialistes (modernes) als Synonyme Ausdruck findet; 3) Ansätze zu einer Bedeutungsverbesserung der Begriffe utopie/utopistes (Gleichsetzung utopistes = „réformateurs"), die sich gegen die pejorisierende Grundtendenz des Sprachgebrauchs indessen nicht behaupten kann. Das bereits im 114
) A. de LAMARTINE: Œuvres poétiques, ed. M.-F. G U Y A R D , Paris 1965 (Bibl. de la Pléiade, 165), S.1149-1157 „UTOPIE", 1157 „Saint-Point, 21 et 22 août 1837" (Recueillements poétiques, 1839); - J . M O N G I N : Art. „UTOPIE" in P. L E R O U X / J . R E Y N A U D : Encyclopédie nouvelle, ou Dict. philosophique, scientifique, littéraire et industriel [ . . . ] , VIII Paris 1841, S. 5 7 5 579, dort 577b, 578b; - Encyclopédie des gens du monde, répertoire universel des sciences, des lettres et des arts, XXII, Paris 1844, S. 395. 115 ) L'Intelligence, Journal du droit commun, No. 1 er , Sept. 1837, S.5; das folg. Zitat L. BLANC: De l'organisation du travail 01839), 4 1845, S. 109.
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18. Jahrhundert (Diderot 1770, vgl. oben II.3.b) verwendete Adjektiv utopique ist seit 1834 (Revue Républicaine) wieder zu belegen, es tritt in Konkurrenz zu dem Adjektiv utopiste und verdrängt dieses um die Mitte des 19. Jahrhunderts. 2.2 Sozialismus und Kommunismus seit 1840: Pejorisierung von utopie/utopistes als Synonyme bzw. Antonyme von „socialisme"/ „socialistes" und „communisme"/„communistes" (1840-1848) a) Die Grundtendenz der semantischen Entwicklung von utopie! utopistes wird in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts durch einen neuen kräftigen Schub der Politisierung und Pejorisierung bestimmt, der auf die immer enger werdende Verbindung des Utopiebegriffs zu der Begriffsgeschichte von socialisme!socialistes, vor allem aber von communisme/communistes, den Neologismen für den neuen, radikaleren Zweig des Frühsozialismus, zurückzuführen ist. Hierbei läßt sich ein tendenziell unterschiedlicher Sprachgebrauch beim Bürgertum und bei den Sozialisten und Kommunisten beobachten: Werden socialisme/socialistes und communisme/communistes sehr bald als Selbstbezeichnungen verwendet, so bleiben utopie/ utopistes pejorative synonyme Fremdbezeichnungen des Bürgertums für die Sozialisten und Kommunisten und werden aus deren Sicht als Antonyme ihrer Selbstbezeichnungen - zurückgewiesen. Die Pejorisierung des Utopiebegriffs im Sinne des Unrealisierbarkeitsvorwurfs bildet das gemeinsame Bedeutungsmerkmal des bürgerlichen wie des sozialistischen und kommunistischen Sprachgebrauchs. Die krisenhafte Entwicklung der bürgerlichen Julimonarchie in den Jahren vor der Februarrevolution von 1848 förderte die Herausbildung zahlreicher Varianten frühsozialistischer Theoriebildungen und Aktivitäten verschiedener Gruppierungen, so vor allem der Schüler von Saint-Simon und Fourier (V. Considérant, P. Leroux, C. Pecqueur), des christlichen Sozialismus (Lamennais, Bûchez, L'Atelier), des demokratischen Staatssozialismus (L. Blanc), der Anhänger von Proudhon und der verschiedenen Strömungen des Kommunismus (Cabet, néo-babouvistes, Auguste Blanqui)116. Die kommunistischen Gruppierungen waren seit der Mitte der dreißiger Jahre unter dem Einfluß der von Buonarroti vermittelten Lehre Babeufs entstanden und traten am 1. Juli 1840 mit dem aufsehenerregenden „Premier Banquet communiste" in Belleville an die Öffentlichkeit. >16) Vgl. J. BRUHAT: Le socialisme français de 1815 à 1848, S. 331-406, besonders 370ff.
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Die Neologismen babouvistes (1839) und babouvisme (1840) wurden sehr schnell durch die konkurrierenden Neologismen communistes (1839) und communisme (1840) verdrängt, die durch ihre Verwendung in polemischen Zeitschriftenartikeln und Broschüren bald in den allgemeinen Sprachgebrauch übergingen und in den Wörterbüchern (1842) Aufnahme fanden 117 . Der Begriff communisme bezeichnete „[...] alle Theorien, die auf der Basis der Abschaffung des Privateigentums eine egalitäre Gesellschaftsordnung herbeiführen wollten." Die Begriffe „communisme"/„communistes" benannten den Gegenpol zum ökonomischen Liberalismus und besaßen für das Wertbewußtsein des Bürgertums von Anfang an die Funktion von „Reizwörtern". b) Das Dictionnaire national ou Grand dictionnaire classique von Bescherelle (1845-46) enthält die Lemmata C O M M U N I S M E , C O M M U N I S T E , S O C I A L I S M E , U T O P I E und U T O P I S T E , noch ohne daß eine semantische Verwandtschaft dieser Begriffe zu erkennen wäre 118 . Der Neologismus Communisme wird definiert als „Doctrine de la communauté des biens, ou, ce qui revient au même, abolition du droit de propriété." Das Wort Communiste wird definiert als „Qui professe le communisme. Sectateur, partisan du communisme." Der Artikel „Utopie" gibt zunächst die fünf seit Ende des 18. Jahrhunderts üblichen Bedeutungen: Insel, Idealstaatsentwurf („plan de constitution") und Werk des Morus, fiktives Land (Rabelais), literarische Gattung („plan de gouvernement imaginaire"). Die dann folgenden Beispielsätze implizieren drei weitere Bedeutungen, unrealisierbares politisch-soziales Reformprojekt, moralische Norm („l'idéal") 117
) Ebd., 390f. u. 393ff. zu Buonarroti und „néo-babouvisme"; vgl. R D D M , X I X (1839), 424 «idées babouvistes» (31. VII. 1839); F . VILLEGARDELLE [112], Ed. Morelly, Code, 1840, S . 8 „les Babouvistes"; SCHIEDER: Art. „Kommunismus", besonders 470-473, 471 communistes (1839), 473 communisme (1840) dort auch das folgende Zitat; Wörterbücher: J.Ch. BAILLEUL: Dictionnaire critique du langage politique, Paris 1842, S.199 s. v. „Communistes ou Egalitaires"; E. DUCLERC et PAGNERRE: Dictionnaire politique, Encyclopédie du langage et de la science politiques, Paris 1842, S. 775-778 Art. „PROPRIÉTÉ" (Courcelle Seneuil), S. 776 (Zitat vgl. unten). » 8 ) M. BESCHERELLE: Dict.nat., Paris 1845-46, I, 706 Art. „COMMUNISME", „COMMUNISTE", „COMMUNAUTAIRE"; II, S.1577 s.v.. „UTOPIE" (dort der im folgenden zitierte Beispielsatz von „A.de Vitry"), UTOPISTE; II, Suppl., S.VI s. v. „SOCIALISME".
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zur Beurteilung der Gesellschaft (kritische Funktion), Vorwegnahme zukünftiger Wirklichkeit (antizipierende Funktion): Mais ce dont les adversaires de toute vue qui paraît nouvelle se doutent bien moins encore, quand ils s'irritent ou qu'ils s'égaient aux dépens des utopistes, c'est que les prétendues utopies ne font que reproduire, ou devancer de peu, des faits réels déjà consacrés par l'histoire, ou qu'elle ne tardera pas à enregistrer.
Diese Auffasung von utopie als spekulative Realisierung des erst in der Zukunft Möglichen bringt die Verzeitlichung des Utopiebegriffs zum Ausdruck und entspricht den schon früher festgestellten Ansätzen zu einer Bedeutungsverbesserung (vgl. III.2.1, J. Mongin 1841; III.l. Fourier 1822). Unter dem Lemma Utopiste wiederholt Bescherelle die drei Bedeutungen des entsprechenden Wörterbuchartikels von Barré/Landois (1839, vgl. oben III.2.1). Die Autoren des Dictionnaire politique von Duclerc und Pagnerre (1842) vertreten die Position des ökonomischen Liberalismus und zeigen daher eine deutlich ablehnende Tendenz gegenüber sozialistischen oder gar kommunistischen Gesellschaftstheorien, deren Terminologie sie eine schädliche Wirkung auf die Gestaltung der politisch-sozialen Wirklichkeit bescheinigen (vgl. Artikel: Association, Communauté, Egalité, Propriété, Socialistes)119. Die Begriffe utopie/utopistes werden nur im pejorativen Sinne des Unrealisierbarkeitsvorwurfs verwendet, als Synonyme mit abwertend-ironischen Konnotationen erscheinen für utopie Bezeichnungen wie „reconstruction complète de l'ordre social", „combinaison imaginaire", „plan de palingénésie", „réforme chimérique", als Synonyme für utopistes: socialistes, réformateurs, novateurs, régénérateurs. Die Artikel „Communauté", „Egalité" und „Propriété" enthalten die schärfste Kritik an der neuen politischen Bewegung des Kommunismus; sie sind zugleich die Schlüsselbegriffe, auf die sich der bürgerlich-liberalistische Utopievorwurf gegen den Kommunismus konzentriert. In seinem Artikel „Propriété" versucht Courcelle Seneuil, die Gegner des Privateigentums zu widerlegen und nennt als theoretische und praktische Beispiele des Kommunismus Piatons Politeia, 119
Dict.pol.., 1 1 3 - 1 1 7 „ASSOCIATION", 2 4 2 bis 243 „COMMUNAUTÉ", 359-361 „ÉGALITÉ" (alle 3 von E. Regnault), 775-778 „PROPRIÉTÉ" (Courcelle Seneuil), 886-889 „SOCIALISTES" (L. Reybaud); S. 359 wirklichkeitsverändernde Wirkung politisch-sozialer Schlüsselbegriffe; die drei folg. Zitate vgl. im Art. „PROPRIÉTÉ", S. 776 und 777.
) DUCLERC/PAGNERRE [117],
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die Bauernkriege, religiöse Sekten, den Jesuitenstaat in Paraguay, die Verschwörung Babeufs, endlich die Owenisten und als jüngste Bewegung die Kommunisten, „les communistes (néologisme tout récent)". Er verwendet die Neologismen communisme, communistes (Subst.) communiste (Adj.) und verweist die kommunistischen Gesellschaftstheorien (doctrines de la communauté) wie den Gedanken einer praktizierten kommunistischen Gesellschaftsordnung (une organisation communiste) ins Reich der Utopien: „ [ . . . ] dès qu'un système ne peut vivre qu'à la condition de changer totalement et brusquement toutes les passions, toutes les idées vivantes, il est relégué dans le monde des utopies et des songes." Diese Formulierung ist sicher einer der frühesten Belege für die pejorative Verwendung der Begriffe Kommunismus und Utopie als Synonyme (vgl. oben III.2.1, Villegardelle 1840 und 1841: noch ohne Pejorisierung). Daß diese Gleichsetzung einen neuen kräftigen Impuls der Pejorisierung für den Utopiebegriff zur Folge haben mußte, zeigt schon die aggressivemotionale Verurteilung des Komunismus im gleichen Artikel: „II serait impossible, assurément, de trouver un instrument d'avilissement et de dégradation plus énergique et plus infaillible que la communauté; aucune organisation sociale ne serait plus propre que celleci à développer l'égoïsme, à propager les vices et les crimes." Diese emotionale Aufladung der Neologismen communisme/communistes belegt auch das im Geiste des Bürgerkönigtums geschriebene Dictionnaire critique du langage politique [...] de notre époque von J. Ch. Bailleul (1842): „COMMUNISTES ou Egalitaires. Secte nouvelle qui déborde les démagogues, et laisse bien loin derrière elle le suffrage universel." 120 Die soziale Zielsetzung der neuen Bewegung (ökonomische Gleichheit durch Kollektivbesitz) übertrifft an Radikalität die politische Zielsetzung der demokratischen Republikaner (allgemeines Wahlrecht). Der communisme wird im Bewußtsein der Zeitgenossen mit der Zerstörung von Privateigentum, Familie, Religion, den drei Pfeilern der bürgerlichen Gesellschaft, gleichgesetzt. c) In der politisch-sozialen Sprache der vierziger Jahre werden den pejorisierten Kampfbegriffen utopie!utopistes im Sprachgebrauch einerseits des Bürgertums und andererseits der Sozialisten und der Kommunisten unterschiedliche Bedeutungen und Funktionen zugewiesen (Perspektivierung des Utopiebegriffs). Zunächst soll der 120
) B A I L L E U L [117], S. 199, vgl. ebd., 231f. s. v. „Égalitaires".
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Sprachgebrauch der Kommunisten, vor allem am Beispiel Cabets, des Begründers des „communisme icarien", und der Neobabouvisten (Laponneraye, Lahautière, Pillot, Dézamy) betrachtet werden. Nach dem Vorbild der Moreschen Utopia hat Cabet sein Gesellschaftssystem, in dem sich Merkmale des revolutionären Kommunismus von Babeuf und Buonarroti mit Zügen der Utopietradition und des Christentums verbinden, in der Form einer klassischen Reiseutopie mit dem Titel Voyage en Icarie (1840) dargestellt121. Mit dieser erfolgreichen Utopie, die bis 1848 fünf Auflagen erlebte, zahlreichen Broschüren und der Zeitschrift Le Populaire de 1841 hat Cabet 1840 bis 1847 den „communisme icarien", die bedeutendste kommunistische Strömung seiner Zeit, geschaffen, die im Gegensatz zu den ,,néo-babouvistes" die Realisierung der neuen Gesellschaft allein durch friedliche Propaganda und seit 1847 durch die Gründung eines kommunistischen Modellstaats in den USA erstrebte. Als Teil des Romans werden die Einwände gegen die „communauté" referiert und widerlegt, wird ein Überblick über die Geschichte der „communauté" (und der literarischen Utopie) von der Antike bis zum 19. Jahrhundert gegeben. Der Wortführer der „Objections" schilt Piaton und Morus als „visionnaires", „monomanes", „fous" und verweist auf den banalen Gebrauch des pejorativen Utopiebegriffs: „[...] ces mots chimère Platonicienne ne sont-ils pas devenus synonymes de rêve, d'extravagance et de folie, comme l'Utopie du rêveur anglais est devenue synonyme d'impossibilité et presque de niaiserie!" Im Gegenzug wird Morus' Utopia mit hohem Lob bedacht, wird - wahrscheinlich in Anlehnung an die t/topia-Übersetzung Gueudevilles von 1715 (vgl. oben II. 1) - der Schlußsatz des „Utopia"-Epilogs zitiert («Mais, quoique sans beaucoup d'espoir, je souhaite que le
m
) E. CABET: Voyage en Icarie, Préface de H. DESROCHE, Paris 1970, S. XI frz. Ed. 11840 Voyage et aventures de Lord William Carisdall en Icarie. Traduit de l'anglais de Francis Adams par Th. Dufruit, 21842 Voyage en Icarie; Roman philosophique et social, S. XXXI ff. u. S.550 Cabets Berufung auf Morus' Utopia-, zum Folgenden vgl. S.371ff. Chap. VII. „Objections contre l'Egalité et la Communauté", dort 382 Zitat utopie = rêve etc., 383ff. Chap. VIII. „Réponse aux objections contre l'Egalité et la Communauté", 470ff. Chap. XII. „Opinions des Philosophes sur l'Egalité et la Communauté", dort 479-481 Morus' Utopia, 480 Schlußsatz der Utopia (s'utopianiser), 481 Zitat utopie = perfection nouvelle, 486 u. 487 romans politiques-, Selbstbezeichnungen Cabets für seine Theorie: z. B. S. IV, VI (Préface), S. 574.
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monde puisse s'utopianiser.»), wird endlich die positive Bedeutung von utopie als politisch-soziales Ideal definiert, dessen Realisierung allein durch den Egoismus der Herrschenden verhindert werde: „[... Y Utopie] est si connue, que son nom passe dans la langue comme nouveau substantif; on dit sans esse une Utopie pour dire une perfection nouvelle et imaginaire; [...]." Cabet hat das Wort utopie jedoch nicht als Selbstbezeichnung für sein Buch oder für sein Gesellschaftssystem verwendet; die Gattung der literarischen Utopie nennt er „roman politique" (vgl. oben II.2), sein eigenes Buch einen „plan d'organisation", ein „modèle" des kommunistischen Systems, des „système communautaire" (système de la communauté, doctrine communautaire). Die Bezeichnung utopie verwendet Cabet in der Regel im pejorativen Sinne und zwar wenn er den Utopievorwurf bürgerlicher oder auch kommunistischer Autoren gegen seinen Roman Voyage en Icarie oder gegen sein Kolonisationsprojekt referiert. So hat 1841 die kommunistische Untergrundzeitschrift Les amis du peuple seinen Icarie-Roman als „une utopie fausse et étroite" kritisiert122. Dem bürgerlichen Utopievorwurf stellte Cabet am 9. Mai 1847 seinen Aufruf zur Koloniegründung, zur Realisierung Ikariens entgegen, der eine Welle begeisterter Zustimmung unter seinen Anhängern auslöste: „On nous jette toujours à la face les mots de rêve et d'utopie . . . Allons, Icariens, fermer la bouche à nos détracteurs! Allons fonder et réaliser Icarie! . . . " Enthusiastische Zuschriften der Ikarier, die im Populaire veröffentlicht werden, feiern die bevorstehende Realisierung Ikariens als Widerlegung des Utopievorwurfs; „Allons prouver [...] que notre système n'est pas une utopie, ni la félicité qu'il promet un rêve, [...]." In der apologetischen Broschüre bas les communistes! vom April 1848 karikiert Cabet die Inkompetenz seiner bürgerlichen Kritiker in einem Dialog, in dem er den „Bourgeois" auf die Frage des „Icarien", ob er Cabets Voyage en Icarie denn überhaupt gelesen habe, antworten läßt: „Je ne veux pas perdre mon temps à lire des rêves, des utopies . . . Vive la République ! A bas le Communis-
122
) Vgl. E. CABET: Ma ligne droite, Paris 1841, S. 61; die folgenden Zitate vgl. CABET: Réalisation de la Communauté d'Icarie, Paris, Rouen 1847, S. 34-39 „ALLONS en ICARIE!" (= Aufruf „Le Populaire" 9 Mai 1847), S. 39 Zitat; ebd. 57 (Zitat), 60, 74 vgl. Ikarier-Zuschriften gegen Utopievorwurf; CABET: À bas les communistes!, Paris 1848, S. 1 - 4 , dort S. 4.
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me!" Auch in diesem Beleg wird die enge Verbindung der pejorisierten Begriffe Utopie und Kommunismus im Bewußtsein der Zeitgenossen dokumentiert. Die „néo-babouvistes" verstanden ihre kommunistische Gesellschaftstheorie als Fortentwicklung der Lehre Babeufs und Buonarrotis, beriefen sich auf das historische Vorbild von Piaton, Lykurg, Morus, Campanella und Morelly und sahen die Realisierung der kommunistischen Gesellschaft erst als eine Möglichkeit der Zukunft, deren Beförderung ihre Propaganda diente und die schließlich durch einen gewaltsamen Umsturz herbeigeführt werden sollte. Zwischen 1837 und 1848 traten die Neobabouvistes mit mehreren, zumeist kurzlebigen Zeitschriften und zahlreichen Broschüren an die Öffentlichkeit und führten Polemiken mit bürgerlichen Zeitschriften, aber auch gegen Cabets Le Populaire und gegen die christlich-sozialistische Arbeiterzeitschrift L'Atelier123. Als Selbstbezeichnung für ihre Theorie verwendeten sie die Termini communisme, doctrine (système) communiste (communautaire), système de la communauté, als allgemeinere Bezeichnungen von Gesellschaftstheorien „théories de réorganisation (organisation) sociale", „plans des institutions sociales" u. ä. Wiederholt bezeugen sie die extreme Pejorisierung der Begriffe communisme/communistes im bürgerlichen Sprachgebrauch: „[...] les ennemis du peuple ont fait du nom Communiste le synonime [!] d'une injure, le thème raccourci de la plus grosse accusation124." Den Utopiebegriff verwenden die Néobabouvistes nicht als
123
) Vgl. S. BERNSTEIN: Le néo-babouvisme d'après la presse (1837-1848), in Babeuf et les problèmes du babouvisme (Colloque international de Stockholm), Paris 1963, S. 247-276, S. 254ff. A. LAPONNERAYE: L'Intelligence (1837-1840), S. 263ff. Th. D É Z A M Y : L'Egalitaire (1840), S. 265ff. J . - J . M A Y U . G . C H A R A V A Y : L'Humanitaire (1841), S. 268ff. R . de LAHAUTIÈRE: La Fraternité [de 1841] (1841-1843), S. 270ff. La Fraternité de 1845 (1845-1847); - E. CABET: Le Populaire (1841-1851); - L'Atelier (18401850). 124 ) La Fraternité de 1845, Organe des intérêts du peuple, Journal de réorganisation sociale et de politique générale, No. 35, Nov. 1847, S. 291; vgl. schon La Fraternité [de 1841], Journal moral et politique, No. 8, Dez. 1841, 13-15 „Situation présente du Communisme", S. 13 „Les sarcasmes, les injures, les paroles de haine, pleuvent sur lui des toutes parts [...]." Die beiden folgenden Belegstellen vgl. La Fraternité de 1845, No. 11, Nov. 1845, S. 99 (Zitat), und ebd., No. 35, Nov. 1847, S. 292 zitiert La Presse, 17. X. 1847: «C'est une Utopie, tant mieux. Il n'y a qu'avec les rêves qu'on fait de grandes choses. [...].»
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Selbstbezeichnung, sondern zitieren ihn als pejorisierende Fremdbezeichnung, die das Bürgertum gegen die Kommunisten richtet. Nur in La Fraternité de 1845 erscheint das Wort utopie einmal als literarische Gattungsbezeichnung im weiteren Sinne (Nov. 1845: „l'histoire des différentes utopies qui se sont produites jusqu'à nos jours") sowie einmal, ironisch zustimmend, in dem Zitat aus einer bürgerlichen Zeitschrift, welche den Utopiebegriff (utopie, chimère, rêve) - gegen die übliche Pejorisierung - als Ausdruck einer den Fortschritt stimulierenden und antizipierenden Phantasie verwendete. Sehr viel zahlreicher sind die Belege für den pejorativen Utopiebegriff des bürgerlichen Sprachgebrauchs, der von den Neobabouvistes häufig in „Objections" antizipiert und dann widerlegt wird. Schon in der Broschüre Premier Banquet communiste von William-Louis wird 1840 auf die Gleichsetzung von „communistes" und utopistes hingewiesen: „Laissons donc les hommes à vue courte nous traiter d'utopistes et de rêveurs125." Th. Dézamy, einer der Organisatoren des „Banquet", zitiert 1841 in seiner Zeitschrift L'Egalitaire den Utopievorwurf des ökonomischen Liberalismus („les utilitaires") gegen das Prinzip des Kommunismus, „[...] la communauté des biens, contre laquelle les utilitaires de déchaînent sans cesse, ou qu'ils affectent de traiter ironiquement de dangereuese utopie, d'audacieuse chimère." J.-J. Pillot veröffentlicht 1841 eine Broschüre über den Kommunistenprozeß desselben Jahres mit dem triumphierenden Titel La communauté n'est plus une utopiel Zuweilen findet sich eine Umkehrung des Utopievorwurfs (vgl. oben III.l, Fourier 1818), der von den Kommunisten, welche für sich eine richtige Einschätzung der Wirklichkeit in Anspruch nahmen, an ihre Gegner zurückgegeben wurde. So fordert Dézamy 1845, man müsse auf die Utopien des ökonomi-
125
)
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Premier Banquet communiste, 1840, S . 4, z i t . J . D U B O I S [98], S. 441, No. 5348; die folg. Belege vgl. L'Egalitaire. Journal de l'organisation sociale, I. no. 2, Juni 1840, S. 4 1 - 4 8 „Economie sociale. Système utilitaire", S. 46; P I L L O T : La communauté n'est plus une utopie! Conséquences du procès des communistes. Par Jean-Jacques Pillot, l'un des condamnés, Paris 1841. WILLIAM-LOUIS:
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sehen Liberalismus, die „utopies des économistes", verzichten126. Ganz ähnlich wendet die von R. de Lahautière herausgegebene kommunistische Zeitschrift La Fraternité (de 1841) den Utopievorwurf gegen die Konservativen, gegen die inkonsequente Reformpolitik der Sozialisten und gegen die Vertreter des ökonomischen Liberalismus: Non, nous ne sommes point des utopistes. Les utopistes sont ceux qui rêvent le maintien de ce qui est quand l'édifice croule de toutes parts, ceux qui, voulant harmoniser des intérêts exclusifs, entent l'Egalité sur la Propriété. Ceux-là sont encore utopistes qui, en demandant la réorganisation du travail, se dispensent d'en rechercher les conditions, ou prétendent le réorganiser sans l'intervention souveraine de l'Autorité sociale; ceux enfin qui, [ . . . ] en ne reconnaissant [ . . . ] d'autre ressort à l'activité humaine que les appétits individuels, attendent l'harmonie du libre essor des passions et des rivalités d'intérêts."
Gelegentlich wird auch unter konkurrierenden kommunistischen und sozialistischen Zeitschriften der Utopievorwurf erhoben. Die kommunistische Zeitschrift L'Humanitaire weist 1841 den Utopievorwurf zurück, den die christlich-sozialistische Zeitschrift L'Atelier gegen die vollkommene Realisierung der „communauté" erhoben hatte: Nur wenn der wissenschaftliche Nachweis für die Unrealisierbarkeit des kommunistischen Gesellschaftssystems erbracht würde, würde diese Zielvorstellung aufgegeben, „[...] l'utopie aperçue, nous la rejeterons de notre esprit 127 ." Die kommunistische Zeitschrift La Fraternité de 1845 kritisiert im Mai 1847 Cabets Kolonisationsprojekt (Populaire, 9 Mai 1847, „Allons en Icarie") als Verrat an den Zielen des Kommunismus, als „la recherche d'un bonheur égoïste et chimérique", als unrealisierbare Utopie: „[...] vous la [se. la cause commune] sacrifieriez à l'entreprise la plus désastreuse, la plus égoïste, à la plus impraticable des utopies." 126
) Th. D É Z A M Y : Le jésuitisme vaincu et anéanti par le socialisme, Paris 1845, S . 139ff. n. 1 zitiert zustimmend G É R A R D : Dictionnaire d'Histoire naturelle, dort S. 141 «Mais il convient avant tout de renoncer aux utopies des économistes, [...]». Zurückweisung des bürgerlichen Utopie Vorwurfs ebd., 159,163f., 207f. ; vgl. auch D É Z A M Y : Code de la Communauté, Paris 1842 (Repr. Paris, EDHIS, 1967), S. 43,152 n.l, 276, 279, 291. Das folgende Zitat vgl. La Fraternité, I, No. 12, April 1842, S. 46-48 „Que la communauté est praticable", dort S. 47. 127 ) L'Humanitaire, Organe de la science sociale, No. 2, August 1841, S. 16, als Antwort auf L'Atelier vgl. unten Anm. 130. Das folg. Zitat vgl. La Fraternité de 1845, IIIe Année, No. 29, Mai 1847, S. 242f., dort. 243.
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d) Im Sprachgebrauch der Sozialisten (z. B. L. Blanc, Encyclopédie nouvelle von P. Leroux, L'Atelier, F. Villegardelle, Proudhon) zeigen utopie/utopistes im wesentlichen diesselbe semantische Differenzierung wie in dem der Kommunisten. Das Wort utopie erscheint in der Bedeutung des literarischen Gattungsbegriffs im weiteren Sinne, der die literarische Utopietradition und die Frühsozialisten einschließt (Encyclopédie nouvelle 1841, Proudhon 1846), oder im engeren Sinne, der sich auf die fiktionalisierten Idealstaatsentwürfe von Piaton und Morus bis zu Cabets Voyage en Icarie beschränkt (F. Villegardelle 1846). Am häufigsten aber werden utopie/utopistes als pejorisierte politische Begriffe verwendet, um politisch-soziale Reformideen oder Reformpläne durch den Unrealisierbarkeitsvorwurf als Hirngespinste, deren Autoren und Anhänger als wirklichkeitsfremde Träumer und gefährliche Weltverbesserer zu diskreditieren. Dieser in den vierziger Jahren schon als banal erscheinende Utopievorwurf wird naturgemäß in der Regel vom Bürgertum und von dem bürgerlichen ökonomischen Liberalismus gegen die Gesellschaftstheorien und Reformforderungen der Sozialisten (wie der Kommunisten) erhoben (vgl. unten) und von diesen zurückgewiesen (L. Blanc 1839,1845; L'Atelier 1840; P. Leroux 1841,1848; F. Villegardelle 1846; Proudhon 1840,1846) oder als Vorwurf an das Bürgertum zurückgegeben (L. Blanc 1845). Die Perspektivierung des pejorisierten politischen Utopiebegriffs wird auch darin sichtbar, daß der Utopievorwurf schließlich auch von Sozialisten gegen Kommunisten {L'Atelier, 1841, 1845, 1847), von dem „Sozialisten" Proudhon gegen alle anderen Sozialisten und Kommunisten {Système des contradictions économiques ou Philosophie de la misère, 1846), endlich von Karl Marx gegen alle seine sozialistischen und kommunistischen Vorläufer, einschließlich Proudhons, erhoben worden ist {Misère de la philosophie. Réponse à 'La Philosophie de la misère' de M. Proudhon. 1847). Vor allem durch die tiefgreifende Wirkung, die in Frankreich zunächst von Proudhon, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann auch von Marx (u. Engels) ausgegangen ist, hat die pejorisierende Gleichsetzung von utopistes, socialistes und communistes, von utopie, socialisme und communisme als Synonyme weite Verbreitung gefunden und die Verwendung des Utopiebegriffs in der Alltagssprache wie in allen fachspezifischen Diskursen negativ beeinflußt. In dem „ Utopie"-Artikel der 1841 von P. Leroux herausgegebenen Encyclopédie nouvelle verwendet J. Mongin den Gattungsbegriff 78
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utopie politique, den er mit „rêve politique" gleichsetzt (vgl. oben III.2.1), für fiktionalisierte und nicht-fiktionalisierte Idealstaatsentwürfe von Morus bis zu Babeuf, Owen, Saint-Simon und Fourier128. F. Villegardelle hingegen bezieht in seiner Histoire des idées sociales (1846) die Gattungsbegriffe utopie und utopie sociale in der Regel nur auf die fiktionalisierten Idealgesellschaftsentwürfe in der UtopiaNachfolge, die „classe des utopies sociales", der im 19. Jahrhundert Cabets Voyage en Icarie zuzurechnen ist. Louis Blanc, der in seinem viel diskutierten Buch „Organisation du Travail" (1839) staatlich geförderte „ateliers sociaux" für die Arbeiter als Alternative zum Konkurrenz-System der liberalistischen Wirtschaft gefordert hatte, antwortete in der vierten Ausgabe (1845) auf die zahlreichen Kritiken v. a. bürgerlicher Zeitschriften129. Er weist den banalen Vorwurf der Unrealisierbarkeit zurück, der jeden Reformer treffe, und wendet ihn gegen die konservativen Befürworter des sozialen Status quo, welche die Dynamik der Geschichte verkennten: Il ne nous reste plus qu'à repousser le reproche banal auquel s'expose quiconque ose s'élever contre les préjugés de son époque. «Vous êtes un utopiste», ne manquera-t-on pas de nous dire. [ . . . ] Mais quel est le véritable rêveur, le véritable utopiste? Est-ce celui qui, à telle époque donnée de l'histoire, ne tient compte que des faits qui existent, mais dont la durée est manifestement impossible, ou celui qui s'attache pricipalement aux faits qui n'existent pas encore, mais dont l'apparition est inévitable et imminente?
Auch bei Villegardelle (1846) finden wir diese Umkehrung des Utopievorwurfs, nun aber als „retrospektives Urteil" einer in der Zukunft realisierten fortschrittlicheren Gesellschaftsstufe formuliert: „C'est alors que nos législations compliquées paraîtront avoir été conçues par des rêveurs, et les utopies sociales par les esprits positifs. Die 1840-1850 von Arbeitern redigierte und herausgegebene Zeitschrift L'Atelier, Organe spécial de la classe laborieuse, die dem 128
) J. MONGIN [ 1 1 4 ] , S . 5 7 7 u . 5 7 8 . Z u m f o l g e n d e n Z i t a t v g l . F . VILLEGARDEL-
LE: Histoire des idées sociales avant la Révolution Française ou les Socialistes modernes, devancés et dépassés par les anciens Penseurs et Philosophes, Paris 1846, v. a. S. 1 2 , 1 6 0 , 1 9 1 - 1 9 3 (nota), dort 193 Zitat. 129 ) L. BLANC: Organisation du travail, IVe Édition considérablement augmentée [etc.], Paris 1845, S. 103ff. Referat und Widerlegung der Kritik, gegen den Utopievorwurf: S. 169 ( = das folg. Zitat), 172,178f., 185 u. „Annexe" S.4; das übernächste Zitat vgl. VILLEGARDELLE [128], S. 14.
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christlichen Sozialismus Bûchez' nahestand, vertrat einen gemäßigten Reformkurs mit dem Ziel, „associations ouvrières" zu schaffen, und engagierte sich sowohl gegen den ökonomischen Liberalismus des Bürgertums als auch gegen die kommunistischen Theorien der babouvistischen Zeitschriften130. Einerseits kritisierte sie die individualistische bürgerliche Moral, die den Utopievorwurf gegen alle überindividuellen Wertbegriffe richte: „Tout ce que nous appelons principe national, et devoirs communs, ils l'appellent utopie, [...]." Andererseits erhoben die „Ateliéristes" aus christlicher Sicht gegen die kommunistische Zielsetzung einer Realisierung vollkommenen Glücks auf dieser Erde wiederholt den Utopievorwurf („âge d'or"): „[...] car les théories n'ont de valeur à nos yeux qu'autant qu'elles sont réalisables. Si donc, vous n'aviez point encore aperçu l'utopie, réfléchissez sérieusement, et vous ne tarderez pas à la rejeter de votre esprit." L'Atelier erhebt schließlich (1847) den Utopievorwurf gegen beide Gegner, „communistes" wie „économistes individualistes" („[...] en supposant que la théorie de ces derniers fût comme celle des autres à l'état d'utopie; [•••]"), wobei es seine Sympathie für die relativ höhere Moral der Kommunisten nicht verhehlt. e) Am Vorabend der Februarrevolution von 1848 haben drei Autoren von ungleichem Rang, die dem Frühsozialismus entscheidende Impulse verdankten, François Villegardelle (1846), Pierre-Joseph Proudhon (1846) und Karl Marx (1847), eine kritische Synthese der ideologischen Varianten des Sozialismus und Kommunismus versucht und dabei den Begriffen utopie/utopistes eine zentrale Bedeutung zugewiesen. F. Villegardelle, der sich von saint-simonistischen und fourieristischen Anfängen zu einer kommunistischen Position entwickelt hatte, suchte in seiner Histoire des idées sociales avant la Révolution Française, ou les Socialistes modernes, devancés et dépassés par les anciens Penseurs et Philosophes (1846) die Ursprünge des
130
) L'Atelier. Organe spécial de la classe laborieuse, 1840-1850, 3 Bde., Paris, Repr. EDHIS, 1978; die folg. Zitate ebd. Bd. I, No. 4, Dez. 1840, 25-26 „Devoir", dort 25 gegen bürgerlichen Utopie Vorwurf; No. 10, Juni 1841, 73-75 „Aux ouvriers communistes", dort 74 Utopievorwurf gegen Kommunisten, zur Antwort von L'Humanitaire vgl. oben Anm. 127; Bd. II, 7 e Année, No. 10, Juli 1847, 532f. „Les individualistes et les communistes", dort 533.
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zeitgenössischen Kommunismus im frühen Christentum, in der literarischen Utopietradition seit Morus' Utopia (utopies sociales), vor allem aber in den „systèmes communistes" der Aufklärer Morelly und Mably, der bedeutendsten „écrivains communistes du dix-huitième siècle", und verteidigte die zeitgenössischen Sozialisten und Kommunisten gegen den bürgerlichen Utopievorwurf131. Die deutliche Wendung gegen die „socialistes modernes", die der Untertitel der Histoire Villegardelles zunächst vermuten läßt, wird durch sein Lob auf die positive zeitgenössische Entwicklung einer sozialistischen économie politique (v. a. Saint-Simon, Fourier, L. Blanc, Proudhon) korrigiert. Bei keinem der frühsozialistischen Autoren spielt der pejorisierte politische Utopiebegriff quantitativ und qualitativ eine so bedeutende Rolle wie bei Proudhon (1809-1865), dessen Persönlichkeit und dessen scharfe Gesellschaftskritik die „phase de prolifération des socialismes français" (J. Bruhat) in den vierziger Jahren beherrschten132. Schon in seiner polemischen Frühschrift Qu'est-ce que la propriété? (1840) - Proudhon gab die skandalerregende Antwort Brissots: „La propriété, c'est le vol." - nannte er das Privateigentum „contradiction", „chimère", „utopie" im Sinne der Unrealisierbarkeit, ja Irrealität und zog aus dieser Prämisse die logische Schlußfolgerung, daß auch die Regierung, die Gesellschaft der Julimonarchie, die auf das Prinzip des Privateigentums gegründet seien, Utopien sein müßten: „[...] et si l'édifice social tout entier est bâti sur cette impossibilité absolue de la propriété, n'est-il pas vrai que le gouvernement sous lequel nous vivons est une chimère, et la société actuelle une utopie?" Weit ergiebiger für die Begriffsgeschichte von utopie! utopistes aber ist Proudhons Système des contradictions économiques ou Philosophie de la Misère (1846), in dem Proudhon die Wörter utopie, utopiste (Subst. u. Adj.), utopique und, je einmal, die zukunftsweisenden Wortverbindungen „la faculté utopique" (= utopische Phantasie) und „le communisme [...] est utopique" (II. 258,
VILLEGARDELLE [128], S. 39ff. Christentum, 160ff. Morus, 184ff. Mably, 214 Zitat; 13ff. gegen Utopievorwurf, 154f. (note) Lob auf die sozialistische „économie politique". 132 ) Vgl. B R U H A T , 3 8 5 - 3 8 9 , dort 3 8 6 ; zum Folgenden vgl. P . - J . PROUDHON: Qu'est-ce que la propriété? Paris, E. Flammarion, o. J. (Œuvres compl. de P.-J. Pr., I), S. 121 u. 170. 131
)
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unsere Hervorhebung) verwendet133. Sein Utopiebegriff ist absolut negativ (I, 86 „le dégoût de l'utopie n'est pas moins universel"): Nachdem das Bürgertum gegen Proudhons Vorstellungen zur Reform des Kreditwesens den Utopievorwurf erhoben hatte (II. 144 „vous criez [...] à l'utopie"), erhebt Proudhon nun den Utopievorwurf in einer an Schärfe kaum zu überbietenden Generalabrechnung gegen die Sozialisten und Kommunisten seiner Zeit, vor allem im 12. Kapitel „Neuvième époque. - La communauté" (II, 256-310), das er, ironisch, in die Form eines Briefes kleidet: „A mon ami Villegardelle, communiste". Proudhon konstatiert die Spaltung der zeitgenössischen Gesellschaft in zwei Systeme, die sich die Herrschaft streitig machen: „l'économie politique, ou la tradition; et le socialisme, ou l'utopie" (I, 67); es stehen „propriété" gegen „communauté", „économistes" gegen „utopistes" (II, 306). Proudhon spricht beiden Richtungen die Wissenschaftlichkeit ab und setzt sich das Ziel, durch eine Kritik beider, der „économie politique" wie des „socialisme" (=utopie) deren spätere Synthese auf einer höheren Ebene vorzubereiten. Proudhon verwendet fünf Bedeutungen bzw. Ableitungen des Utopiebegriffs: 1. utopie sociale als literarische Gattungsbezeichnung im weiten Sinne (II, 259: „toutes les utopies sociales, depuis YAtlantide de Platon jusqu' à Ylcarie de Cabet"); 2. faculté utopique (II, 259) als (negativ konnotierte) utopische Phantasie, Erfindungskraft der Verfasser literarischer Utopien; 3. utopie, utopiste, utopique im Sinne des traditionellen Unrealisierbarkeitsvorwurfs gegen wirklichkeitsfremde politisch-soziale Reformideen und ihre Erfinder oder Anhänger; 4. utopie/utopistes als Synonyme von socialisme / socialistes und communisme / communistes mit der Folge, daß die Bezeichnungen utopie, utopie socialiste, utopie communiste, socialisme und communisme austauschbar werden; 5. utopie als Nichts, „non-lieu", „chimère", „néant", „rien". Für die besonders wichtige vierte Bedeutung und die eng mit ihr verbundene fünfte seien einige Schlüsselbelege zitiert. Die Etymologie von „ou-topia", Nicht-Ort, rechtfertigt für Proudhon die Gleichsetzung von utopie und socialisme: „Quant au
133
) P.-J. PROUDHON: Système des Contradictions Economiques ou Philosophie de la Misère, ed. R. PICARD, 2 Bde., Paris 1923 (Œuvres complètes de P.-J. Proudhon), utopie: z. B. 167,81, 85; II 256f., 258,259 etc.; utopistes: 16; II 265, 280, 302; utopiste (Adj.): I 88; utopique: II 6,258, 259; Belege im folgenden unmittelbar nach Zitat im Text lokalisiert.
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socialisme, il a été jugé dès longtemps par Platon et Thomas Morus en un seul mot, UTOPIE, c'est-à-dire non-lieu, chimère" (1,85). Da für Proudhon aber jedes sozialistische System letzten Endes auf den Kern der kommunistischen „communauté" zurückführbar ist, gilt die Gleichung socialisme — communisme = utopie = rien: „Le socialisme, ou la communauté, déchoit d'une manière continue, déchoit parce qu'il est utopie, c'est-à-dire néant" (II, 257); der Kommunismus ist „utopisch", irreal: „Trouvant alors que le communisme est, comme la propriété, en décadence continue; qu'il est utopique, c'està-dire égal à rien, [...] je suis forcé [...] de conclure contre la communauté [...]" (II, 258). Die absolute Pejorisierung des Begriffs communisme (=socialisme) aber muß auch die Pejorisierung des Utopiebegriffs erneut verstärken: Le communisme, dans la science comme dans la nature est synonyme de nihilisme, d'indivision, d'immobilité, de nuit, de silence: c'est l'opposé du réel, le fond noir sur lequel le Créateur, Dieu de lumière, a dessiné l'univers." (II, 301f.).
Proudhons Generalangriff auf Sozialismus und Kommunismus hat Karl Marx herausgefordert, auf Proudhons Philosophie de la Misère (1846) mit seiner 1847 in französischer Sprache in Paris und Brüssel veröffentlichten Schrift Misère de la philosophie zu antworten. Marx verurteilt Proudhon als kleinbürgerlichen Theoretiker, der, zwischen bürgerlicher économie politique und communisme schwankend, seinem Anspruch, beide zu kritisieren, nicht gewachsen sei134. In diesem Zusammenhang faßt auch Marx sein Urteil über alle bisherigen Sozialisten und Kommunisten in einem negativen Urteil zusammen, das er historisch begründet, und bezeichnet seine Vorläufer als Utopisten: D e même que les économistes sont les représentants scientifiques de la classe bourgeoise, de même les socialistes et les communistes sont les théoriciens de la classe prolétaire. Tant que le prolétariat n'est pas encore assez développé pour se constituer en classe, [ . . . ] ces théoriciens ne sont que des utopistes qui, pour obvier aux besoins des classes opprimées, improvisent des systèmes et courent après une science régénératrice.
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K . M A R X : Misère de la Philosophie. Réponse à ,La Philosophie de la misère' de M. Proudhon, Paris, Bruxelles 1847, S. 119f. Urteil über Proudhon, S. 118f. das folgende Zitat, vgl. MEWIV, 142f.
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Marx kritisiert hier die frühen Sozialisten und Kommunisten als „utopistes", als realitätsferne Theoretiker des Gesellschaftswandels. Der spätere pejorative Begriff socialisme utopique, mit dem sich die marxistische Theorie als „socialisme scientifique" von ihren Vorläufern distanziert (Engels 1878), wird um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Sprachgebrauch von Proudhon (1846 „le communisme [ . . . ] est utopique", vgl. oben) und Karl Marx (1846 „socialisme . . . utopiste") vorbereitet. In einem Brief in französischer Sprache an den russischen Liberalen Pavel Annenkov vom 28. Dezember 1846 spricht Marx von seiner Kritik am „utopistischen" Sozialismus: [ . . . ] j'ai provoqué beaucoup d'inimitiés par le persiflage du socialisme moutonnier, sentimental, utopiste." 135 Die feste Formel socialisme utopique findet sich zuerst in den „Carnets" Proudhons: „Après le 10 mars [1850], j'avais en deux articles commencé l'élimination du socialisme utopique." f) Durch die Auseinandersetzung mit dem Frühsozialismus bedingt, hatte die Grundtendenz der Politisierung und Pejorisierung schon in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts die semantische Entwicklung des Utopiebegriffs im Sprachgebrauch des Bürgertums bestimmt, doch war der Ton bürgerlicher Utopiekritik eher ironischherablassend als von aggressiver Schärfe, ja es hatte wiederholt Ansätze zu einer relativen Aufwertung des Utopiebegriffs gegeben (vgl. oben III.2.1). In den vierziger Jahren ist hingegen eine deutliche Verschärfung der pejorativen Tendenz wie des polemischen Tons im Sprachgebrauch des Bürgertums zu beobachten, die auf die Entstehung und Ausbreitung kommunistischer Gesellschaftstheorien, die die sozialistischen Reformforderungen an Radikalität weit übertrafen, zurückzuführen sind. Das Prinzip des kollektiven Besitzes (