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German Pages 101 [104] Year 1986
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Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 - 1 8 2 0
Herausgegeben von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt in Verbindung mit Gerd van den Heuvel und Anette Höfer Heft 6 Analyse, Expérience Sylvain Auroux, Barbara Kaitz Cosmopolite, Cosmopolitisme Gerd van den Heuvel Démocratie, Démocrates Horst Dippel
R. Oldenbourg Verlag München 1986
Das Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 -1820 erscheint als Band 10 der Reihe Ancien Régime, Aufklärung und Revolution (hrsg. von Rolf Reichardt und Eberhardt Schmitt).
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich : 1680-1820 / hrsg. von Rolf Reichardt u. Eberhard Schmitt in Verbindung mit Gerd van den Heuvel u. Anette Höfer. München : Oldenbourg (Ancien régime, Aufklärung und Revolution ; Bd. 10) NE: Reichardt, Rolf [Hrsg.]; GT H. 6. Analyse, expérience / Sylvain Auroux ; Barbara Kaitz. Cosmopolite, cosmopolitisme / Gerd van den Heuvel [u.a.], -1986. ISBN 3-486-53661-3 NE: Auroux, Sylvain [Mitverf.]
© 1986 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf deshalb der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Hofmann-Druck KG Augsburg Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-53661-3
Inhalt Analyse, Experience / Sylvain Auroux, Barbara Kaitz Cosmopolite, Cosmopolitisme / Gerd van den Heuvel Démocratie, Démocrates / Horst Dippel Artikelliste
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Analyse, Expérience SYLVAIN AUROUX/BARBARA KALTZ
I. , Analyse': Vom Fachausdruck zum Schlagwort 1 II. Die Entwicklung in den Logiken und die Kristallisierung bei Condillac 8 III. Die, Analyse' als Angelpunkt aufklärerischen Denkens 15 IV. , Expérience'und das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit . . . 22
Während der Ausdruck analyse im ausgehenden 17. Jahrhundert noch im wesentlichen auf den Bereich der philosophischen und mathematischen Fachsprache beschränkt bleibt, erfährt er in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine entscheidende Veränderung seines Geltungsbereichs, seiner Frequenz, seiner diskursiven Qualität, bis er zum Angelpunkt aufklärerischen Denkens überhaupt wird. Für den Ausdruck expérience ist insofern eine umgekehrte Entwicklung zu verzeichnen, als dieser, zunächst der Allgemeinsprache zugehörig, allmählich auch im Bereich der Wissenschaften an Boden gewinnt. In der Philosophie der französischen Aufklärung erscheinen beide Ausdrücke als miteinander verknüpft und werden zu Schlüsselbegriffen wissenschaftlicher Erkenntnis erhoben. Auf welche Weise diese überaus folgenreichen semantischen Verschiebungen zustandekamen und welche theoretischen und gesellschaftspolitischen Konsequenzen sie hatten, wird im folgenden versuchsweise rekonstruiert. I. ,Analyse': Vom Fachausdruck zum Schlagwort Nach den Angaben im Larousse de la langue française - Lexis (Paris 1977) ist analyse im Französischen seit 1578, analytique seit 1579 belegt (vgl. auch Anm. 52). In griechischer, später lateinischer Gestalt ist der Ausdruck seit jeher Bestandteil des philosophischen Fachwortschatzes, weil die aristotelische Darstellung der formalen Logik 7
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und der Wissenschaftslehre in seinen beiden analytischen Schriften erfolgt 1 ). Der Ausdruck, dem bei Aristoteles eine gewisse Ambiguität eignet - was wir heute unter ,Analyse' verstehen, entspricht bei ihm zu einem guten Teil dem Ausdruck diairein und dessen Ableitungen (vgl. Phys. 184 a23) - , dient den Scholastikern in lateinischer Form zur Bezeichnung des Verfahrens, das von den Wirkungen zu den Ursachen vorgeht. Bis zur cartesianischen Philosophie blieb die Verwendung des Ausdrucks im Französischen offenbar darauf beschränkt. Als Descartes in seinen Réponses aux Secondes Objections (1641) den Ausdruck übernimmt und ihn der ,Synthese' gegenüberstellt (siehe unten Schema I), ist analyse mithin ein von der Scholastik übernommener terminus technicus der Philosophie, darüber hinaus aber auch ein mathematischer Fachausdruck zur Bezeichnung des Beweisverfahrens, bei dem die Lösung des Problems vorausgesetzt wird(d.h. der sog. „analyse zététique" beiViète 1 "). Der Terminus erfährt durch Descartes eine zweifache Aufwertung: seine in den Méditations Métaphysiques (1641) verwendete Methode bezeichnet er ebenso als ,Analyse' wie seine neue geometrische Methode (daher géométrie analytique). Das Wort geht bereits mit der ersten Ausgabe des Dictionnaire de l'Académie in die Wörterbücher der französischen Sprache ein (mitsamt der Ableitungen 2 ) ; es wird zunächst definiert als „maniere de connoistre, d'examiner quelque chose que ce soit en la réduisant dans ses principes" ('1694,1 38). Hier wie in den späteren Ausgaben findet man in mehr oder weniger expliziter Form folgende Bedeutungsangaben: 1. „La réduction, la résolution d'un corps dans ses principes"; 2. „Faire l'analyse d'un discours, pour dire, Le réduire dans ses parties principales"; 3. „L'art de résoudre les problêmes par l'Algèbre" (41762 [ed. 1777], I 46). Inder5. Ausgabe erfolgt ein Hinweis auf die Bedeutung des Wortes in der Logik („La méthode de résolution, qui remonte des conséquences aux principes, des effets aux causes", 5 1798, I 56). Die Bedeutung 1 entspricht somit der etymologischen ') Bezeichnenderweise weist FURETIÈRE (1690) in seinem Eintrag „Analytique" auf diese Schriften des Aristoteles hin. la ) Zur Bedeutung von François Viète siehe Encyclopédie I (1751), Eintrag „Algèbre", S. 259-262. 2 ) Dict. Acad. ('1694), I 38: „Analyse, analytique, analytiquement"; ebenso ebd. ^1695), I 23; ("1762, ed. 1777), I 46: „Analyse, analyser, analysé, analyste, analytique, analytiquement; ebenso ( 5 1798), I 56 abgesehen von der orthographischen Variante i statt y.
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Bedeutung (résolution; vgl. auch RICHELET 1 6 8 0 und CORNEILLE 1 6 9 6 ) , die zweite der im 1 7 . / 1 8 . Jh. sehr geläufigen Bedeutung von résumé?*). Bemerkenswert ist, daß die Mathematik erst an dritter Stelle erwähnt wird und daß der doch eigentlich allererst bedeutsame Bereich der Logik erst in der Ausgabe von 1798 einbezogen wird (die im übrigen von einer zuvor nicht erreichten Frequenz des Ausdrucks zeugt). Erheblich darüber hinaus geht der Dictionnaire de Trévoux; ausgehend von der Bedeutung 2 werden vielfältigere Anwendungsbereiche genannt: „Examen de quelque discours ou proposition"; „Quand on démonte une machine, on en connoît toute Y analyse, et la construction"; ,,1'anatomie d'un animal"; „Vanalyse de toutes les plantes" (31743, 1 437). Vor allem aber erfolgt im Eintrag „Analyser"3) eine wichtige Generalisierung, und damit auch eine Wertung: „II faut analyser toutes choses [...]" (S. 438). Etwa zwischen 1740 und 1750 erhält der Ausdruck analyse (mit seinen Ableitungen) eine neue diskursive Qualität: ob man ihn verwendet oder nicht, ob man sich auf das damit verzeichnete Verfahren beruft oder nicht, wie man bestimmte Verwendungsweisen darstellt, stets ist eine Stellungnahme impliziert, wie die beiden folgenden Beispiele zeigen. An dem zweiten läßt sich darüber hinaus ablesen, daß die Tendenz zur Wertung sich in den letzten dreißig Jahren des 18. Jhs. weiter verstärkt. Chicaneau de Neuville verzeichnet analyse, nicht aber syllogisme; Paulian führt analyse nicht an, dagegen syllogisme4). Bekanntlich verschwindet in dieser Zeit die Theorie des Syllogismus aus den Logiken (abgesehen von den eindeutig reaktionären Logiken wie etwa der von Hauchecorne5). Als Verfahren ist analyse mithin verbunden mit dem neuen Geist der philosophes und hebt sich deutlich von den herkömmlichen Logiken ab (siehe die nachfolgenden Ausführungen zur Encyclopédie). Der Eintrag „Analyse" in Féraud (dessen reservierte Einstellung zu den philosophes bekannt ist6) stützt sich offensichtlich auf den 2a
) Vgl. etwa den Eintrag „Analyse" in NONNOTTE (1772): „L'auteur de l'analyse de Bacon qui a paru en 1758 [...]". 3 ) Dict. Trévoux (31743), 1438: „Ce mot est employé avet succès dans plusieurs ouvrages; pour dire, faire l'analyse".
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) Vgl. PAULIAN (1770), S. 13: „On est sûr de raisonner juste si l'on met en
usage les règles d'Aristote sur le syllogisme". ) Vgl. AUROUX, 1982, 51-54; zu Hauchecorne doit S. 50. 6 ) Vgl. J. STÉFANINI: Un provençaliste marseillais, l'abbé Féraud (17251807), Aix-en-Provence 1969, S. 65-101 und 163f. 5
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Dictionnaire de l'Académie, wobei die Bedeutungen 2 und 3 umgestellt werden und bemerkt wird, die eigentliche Bedeutung sei diejenige, die wir oben als die etymologische bezeichnet haben. Nach Féraud wird analyser nicht im Bereich der Mathematik verwendet, sondern ist vor allem für die Bedeutung 2 des Dictionnaire de l'Académie gebräuchlich, während man für die Bedeutung 1 eher „faire l'analyse de" sagt7). Weiter heißt es bei Féraud: „Ces termes sont fort à la mode dans le sens figuré. Jamais on n'a tant parlé â'analysé et d'analyser; mais ce n'est pas dans l'ancienne acception [= Bedeutung 2 des Dictionnaire de l'Académie...], c'est par une métaphôre tirée de la Chimie". Diese wenigen Zeilen enthalten Wesentliches für das Verständnis der Begriffsgeschichte von analyse: den Hinweis auf die Modeerscheinung, die mit einem Verlust an begrifflicher Schärfe einhergeht und einen Bruch mit der Tradition darstellt; die Rolle der Chemie (auf die wir weiter unten noch eingehen werden) und schließlich die negative Einschätzung, die die Ausdrucksweise in Férauds Eintrag widerspiegelt. Besonders deutlich wird dies in den nachstehenden Formulierungen, von denen die erste das 18. Jh. durch seinen „esprit d'analyse" kennzeichnet 8 ), während die zweite dem ausschließlich negativ konnotierten Neologismus analyseur gewidmet ist (man vergleiche etwa frz. raisonneur): En général, l'esprit de l'autre siècle, dit ironiquement l'Abbé Coyer, manquait d'une qualité essentielle: il n'était pas subtil: il ne saisissait que les grands traits. Le nôtre s'attache aux petits: nous analysons les sentimens, nous disséquons les vertus, nous fendrions un cheveu en quatre. , Analyseur' est un mot nouveau. Il ne se dit que par mépris. „Les philosophes de nos jours paraissent plus justes à notre: Analyseur" (FÉRAUD, 1 7 8 7 , 1 1 0 7 ) .
Wenden wir uns nun der Perspektive zu, in der analyse positiv bewertet wird, was mit einer gesellschaftlich und ideologisch entgegengesetzten Position korreliert. Hinzuweisen ist hier auf Garats VorleI (1787) 107. - Unserer Auffassung nach liegt hier insofern ein Werturteil vor, als diese Bemerkung die Möglichkeit eines extensiveren Gebrauchs des Wortes auszuschließen sucht. In der Enc. (1403) finden wir dagegen u. a. analyser des corps; faire l'analyse wird der medizinischen Fachsprache zugeordnet: „... tout homme qui tient à l'art de guérir, fait faire des analyses. On donne comme une chose possible à tout homme du métier, à faire l'analyse d'un remede secret ou d'une eau qu'on veut connoître [...]". 8 ) Vgl. dazu FUNKE.
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) FÉRAUD,
Analyse,
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sung an der E c o l e Normale über die Analyse de l'entendement humain (1795) sowie auf die Classe des Sciences Morales et Politiques de l'Institut (1795 - 1803), die einen Abschnitt über die „analyse des sensations et des idées" enthielt 9 ) ; erinnert sei auch an die damit verbundenen concours10). D i e Ecole Normale war ausdrücklich dazu bestimmt, die .Analyse' zu lehren und in den verschiedenen Disziplinen mithilfe der analytischen Methode zu unterrichten 102 ). U m die Jahrhundertwende ist .Analyse' mithin die Losung der idéologues, d.h. eines Teils des gemäßigten Bürgertums 1 1 ). D e r Ausdruck ,Losung' wird hier nicht nur verwendet, um den Gebrauch griffiger Formeln zu kennzeichnen - den Condorcet übrigens als einen Fehler dieser Zeit heftig kritisiert hat 12 ) - , sondern er verweist auch auf das Verständnis von analyse, wie es sich später etwa bei J. de Maistre herausgebildet hat: Tout novateur invente un mot qui sert de ralliement à ses disciples, s'il doit en avoir. Bacon avec son induction, Kant avec sa critique, Condillac avec son 9
) Vgl. S. MORAVIA: Il Tramonto deU'illuminismo, Bari 1968, S. 410-426; und M. S. STAUM: The Class of Moral and PoliticalSciences 1795-1803, in: FHSt 11 (1980), 371-97. 10 ) Siehe STAUM: Les concours de l'Institut en sciences morales et politiques, in: Histoire Epistémologie Langage IV (1982), H. 1, S. 111-16. 10a ) Zu dieser Aufgabe der Ecole Normale vgl. J. Paris No 167 vom 7. März 1 7 9 5 , S. 6 7 4 ; Décade
philosophique
N o 23 (10. X I . 1794), S. 4 6 2 - 6 4 ; so-
wie GUSDORF, S. 381: „L'Ecole Normale de l'an III devait être le temple de l'analyse". u ) Wie STAUM [10] ausführt, waren die Kandidaten der concours zweiter Klasse hauptsächlich Lehrer. Unsere soziologische Charakterisierungals Vertreter des gemäßigten Bürgertums - ist bewußt unscharf: es fehlt bislang an gründlichen Detailstudien über sämtliche Verfechter der ,Analyse'. Es steht außer Frage, daß viel genauer zu unterscheiden wäre; so ist z. B. Condorcet ein Gegner der ,Analyse', wie sie von Condillac und den idéologues verstanden wird. Vgl. dazu CONDORCET, Fragment sur le sens du mot analyse en géométrie (Bibliothèque de l'Institut de France, ms. 873, ff. 224-7), ed. K. BAKER, in: Revue de Synthèse 38 (1967), 227-251. 12
) Vgl. etwa CONDILLAC: Grammaire (1775), ed. Le Roy, S. 427 (sowie 1798, ed. Le Roy, II 419): „Les langues sont des méthodes analytiques". - In einem unveröffentlichten Brief an Mme. Suard (BN: Naf 23639, fol. 14 recto) schreibt CONDORCET: „Je ne crois point du tout l'amour du phrasisme chose indiférente. Je crois au contraire le salut de la France attaché à la destruction de ce goût. C'est ce malheureux goût qui rend tant de gens dupes ou complices des charlatans, qui fait que le public n'a d'idées justes sur rien, et que toute l'instruction se borne à retenir ou à savoir faire quelques maximes vagues, qui ne sont ni vraies ni fausses". 11
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analyse, ont enrôlé la foule; ils ont fait secte; c'est à dire que l'orgueil national n'a pas cessé de marcher à la suite de l'orgueil individuel qui s'annonçait comme un grand inventeur. Dans le fait cependant, ces mots ne sont que des illusions [.. .]13).
Aus dem genau abgegrenzten terminus technicus analyse ist also ein beliebig einsetzbares Schlagwort geworden, das als die „panacée intellectuelle de toute une époque" fungiert ( G U S D O R F , S . 1 5 ) . .Analyse' gilt als die universale wissenschaftliche Methode schlechthin: L'Analyse est la méthode d'investigation et de raisonnement actuellement usitée dans toutes les branches des connaissances humaines et à laquelle les sciences doivent leurs plus beaux résultats. Ennemie des axiomes, des principes généraux et des définitions, l'analyse divise ce qui est composé pour en saisir les vrais éléments, puis, une fois en possession de ces matériaux premiers, elle se relève alors de ces données simples aux agrégats les plus composés, et en détermine la génération14).
Dieser Wandel läßt sich mithilfe von drei Parametern beschreiben, nämlich erstens der Entwicklung der Logik (siehe folgenden Abschnitt), zweitens einer Reihe wissenschaftlicher Ergebnisse (z.B. der analytischen Geometrie von Descartes bis Monge, der Chemie Lavoisiers, der Medizin und der Gewebetheorie von Pinel und Bichat) und drittens der - von de Maistre richtig beobachteten - nationalistischen Tendenz, diese Ergebnisse der analytischen Methode zuzuschreiben, als Leistung der Franzosen und damit ihres , analytischen Geistes' zu verbuchen15). Diese Tendenz ist als Ausdruck der ideologisch motivierten Überzeugung zu begreifen, daß Frankreich, und ganz besonders das revolutionäre Frankreich, in der Geschichte der Menschheit eine universale Aufgabe zu erfüllen habe. „Cette ère est vraiment l'ère française", erklärt DESTUTTDE TRACY in der Einleitung zu seiner Grammaire (1803). Dem universalen Geist, der sein Wesen im revolutionären Staat findet, eignet die .Analyse' als Prinzip:
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) J. DE MAISTRE: Examen de la philosophie de Bacon, où l'on traite différentes questions de philosophie rationnelle, ouvrage posthume, Paris 1836, 2 Bde., hier 18. 14 ) PH. PINEL: Dictionnaire des sciences médicales, Paris 1812, Eintrag „Analyse". 15 ) Die neuere Wissenschaftsgeschichte kommt hier z.T. zu anderen Ergebnissen; vgl. etwa O. KEEL in bezug auf die Einführung des Gewebebegriffes. 12
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Il est prouvé que notre révolution tient essentiellement à l'esprit d'analyse, d'examen que l'art de l'Imprimerie a introduit16).
In kausaler Hinsicht ist wohl der letztgenannte Parameter entscheidend; bezüglich der begrifflichen Möglichkeit jedoch ist der erstgenannte wesentlich: Aufweiche Weise entwickelte die .Analyse' sich von einer Methode unter anderen zu der einzig denkbaren wissenschaftlichen Methode? Dieser Frage werden wir im folgenden Abschnitt nachgehen; zuvor noch einige Bemerkungen zum linguistischen Status des Wortes analyse. Angesichts der geradezu inflationären Verwendung des Wortes in seinen verschiedenen Bedeutungen mutet es sehr eigenartig an, daß es in sämtlichen Synonymwörterbüchern fehlt, die doch eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Sprachwissenschaft der Aufklärung spielten17). Weder Girard (1718) noch Beauzée (1769) noch Roubaud (1785) widmen ihm auch nur eine Zeile; nur Condillac (dessen Wörterbuch jedoch bis 1951 unveröffentlicht blieb) trifft eine Unterscheidung zwischen analyser und décomposer19), die für seine Theorie von zentraler Bedeutung ist (siehe nachstehenden Abschnitt). Dabei stößt man in den Logiken auf die folgenden Begriffe, die zur Definition von analyse verwendet werden und durchaus als potentielle Synonyme gelten können19): décomposition (REGNAULD, 1742, 256; COCHET, 1750, 94), dissection (GUINOT, 1778, 527), dissolution (REGNAULD, 1742, 256), division (REGNAULD, 1742, 256) und résolution (COCHET, 1750, 94). Die Gleichsetzung von analyse und résolution (bzw. im Bereich der Algebra der méthode résolutive; vgl. „résoudre une équation") tritt allmählich zugunsten eines spezifischeren Vokabulars um décomposition zurück (vgl. Dict. Acad., 1695; réduire Peuple et des Rois, Paris 1 7 9 0 , S . 2 9 . ) Vgl. dazuH. M. G A U G E R : Die Anfänge der Synonymik, Tübingen 1 9 7 3 . 18 ) „Ces deux mots diffèrent en ce que pour décomposer il suffit de séparer les parties, au lieu que pour analiser il faut de plus saisir les rapports des parties. En un mot analiser, c'est décomposer dans un ordre qui montre les principes et la génération de la chose" (ed. Le Roy, III 179). 19 ) Wir beziehen uns hier auf das in A U R O U X (1982) behandelte Korpus, das auf eine Auswertung von W. R I S S E (Bibliographia logica. Verzeichnis der Druckschriften zur Logik mit Angabe ihrer Fundorte, Bd. 1:16401800, Hildesheim 1965) zurückgeht. - Nach Auffassung jener Epoche ist die Synonymie eine lexikalische Relation, wodurch Paraphrasen mit Definitionscharakter ausgeschlossen sind (wir kommen darauf im nächsten Abschnitt zurück).
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) L A V I C O M T E R I E : DU
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schloß allerdings damals décomposition mit ein). Dissection, dissolution und division20) sind stärker eingeschränkte Bezeichnungen, deren Relation zu analyse nur eine hyponymische sein kann. In Frage käme also nur noch décomposition (was gegenüber Descartes eine Änderung auf begrifflicher Ebene voraussetzt, auf die wir noch näher eingehen werden). Warum geht Beauzée auf diese Synonymierelation nicht ein21)? Vielleicht ist die Erklärung in der Konzeption von Synonymwörterbüchern zu suchen, die als allgemeinsprachliche Wörterbücher keine Fachausdrücke aufnehmen22). Anders als Beauzée begreift Condillac demnach analyse nicht als fachsprachlichen Ausdruck, sondern als Element der Allgemeinsprache.
II. Die Entwicklung in den Logiken und die Kristallisierung bei Condillac Zunächst ist noch einmal auf Descartes einzugehen. Im Schema I ist der hier interessierende Abschnitt aus seinen Réponses aux Secondes objections überblicksartig zusammengefaßt. Die lexikalischen Elemente, die Descartes zur Charakterisierung von analyse verwendet, sind mit Großbuchstaben wiedergegeben und zusätzlich mit + oder — gekennzeichnet, wenn sie in beiden Spalten auftauchen. Als wichtigstes Ergebnis der cartesianischen Konzeption erweist sich die Dichotomisierung der wissenschaftlichen Methode, die Gegenüberstellung von ,Analyse' und .Synthese' als unterschiedlichen Erkenntisweisen. Wenn die .Analyse' durch Descartes auch aufgewertet wird, so ist damit doch keine Abwertung der .Synthese' verbunden. Diese DichotoSynonymes, erwägt eine Synonymie zu diviser und partager (I 210); für résolution nimmt er eine Relation zu décision an, die auch für den Bereich der Wissenschaft gelten soll: „En fait de science, on dit, la décision d'une question, et la résolution d'une difficulté" (1375). 21 ) Hinsichtlich der Doktrin bleibt B E A U Z É E ein Anhänger von Descartes, weshalb es für ihn keine wirkliche décomposition des Denkens geben kann. Vgl. Enc., Eintrag „Grammaire" (1757, VII 841): „La logique, par le secours de l'abstraction, vient à bout d'analyser en quelque sorte la pensée, toute indivisible qu'elle est, en considérant séparément les idées différentes qui en font l'objet" (gleichlautend B E A U Z É E : Grammaire générale, Paris 1767, S. VI des Vorworts). 20
) BEAUZÉE:
22
) Vgl. das Vorwort v o n M . ROQUES ZU seiner A u s g a b e v o n CONDILLACS
Synonymes, 14
1951.
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Analyse,
Schema
I:
Expérience
.Analyse' und ,Synthese' bei Secondes Objections, 1647)
3) EFFETS -» CAUSES 4) + INVENTION („voie par laquelle une chose a été inventée") 5) + CONCISION (= - EXPLOITATION) („on n'a pas coutume d'y exprimer fort amplement les choses qui sont claires") 6) + DIFFICILE , f - CLARTÉ 1 l - CONVICTION J ' („pas propre à convaincre les lecteurs opiniâtres ou peu attentifs [...] si on laisse échapper [...] la moindre des choses qu'elle propose la nécessité de ses conclusions ne paraîtra point") 7) + ENSEIGNEMENT („elle me semble être la plus vraie, et la plus propre pour enseigner") 8) + OBJET INTELLECTUEL
DESCARTES
(vgl. Réponses aux
3') CAUSES -» EFFETS 4') -INVENTION 5') + EXPLOITATION (= - CONCISION) („longue suite de définitions, de demandes, d'axiomes, de théorèmes et de problèmes") 6') -DIFFICILE f + CLARTE 1. 1 + CONVICTION J > („démontre en vérité clairement ce qui est contenu en ses conclusions [...], et [...] arrache le consentement du lecteur tant obstiné et opiniâtre qu'il puisse être") 7') -ENSEIGNEMENT
8') -OBJETINTELLECTUEL („elle ne convient pas toutefois si bien aux matières qui appartiennent à la métaphysique") 15
Analyse,
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mie wird in den späteren Logiken festgeschrieben; stets enthalten die Ausführungen zur Methode in den Logiken des 18. Jhs. eine (wenn auch oft sehr knappe) Beschreibung der beiden gegensätzlichen Methoden 23 ). Schon die Autoren der Logik von Port-Royal hatten zur Charakterisierung der symmetrischen Beziehung zwischen den beiden Methoden gefällige Metaphern gefunden: Ces deux méthodes ne diffèrent que comme le chemin qu'on fait en montant d'une vallée en une montagne, du celui qu'on fait en descendant de la montagne dans la vallée; ou comme diffèrent les deux manières dont on peut se servir pour prouver qu'une personne est descendue de Saint Louis 23 '). Diese Vorstellung einer vollkommenen Symmetrie findet man in karikierter Form bei Regnauld wieder, der die beiden Methoden durch umgekehrte Enthymeme zu veranschaulichen sucht (vgl. Schema II). Schema I I : Die beiden entgegengesetzten Verfahren ( R E G N A U L D ,
1742,257)
SYNTHESE
ANALYSE
L'Être est substance ou mode [...] La substance animée est animal [...] L'animal raisonnable est homme L'homme est Ariste ou bien Eudoxe etc.
Ariste est homme L'homme est animal raisonnable L'homme raisonnable vit [•••] Toute substance a l'être en partage
Verglichen mit Descartes und vor allem Port-Royal enthält die Serie der Logiken 24 ) kaum Originelles; es sei jedoch darauf hingewiesen, daß einige Autoren versuchen, die analytische Methode lediglich als einen Abklatsch der Algebra darzustellen 25 ). Wichtig ist weiter23
) Vgl. J.-P. DE C R O U S A Z : Système de logique abrégé par son auteur, avec une préface sur l'usage et l'abus des abrégés, Lausanne 1735 : „On appelle Méthode Analytique celle [...] qui suit l'ordre de l'invention. L'Oposée a reçu le nom de synthétique". 23A ) A R N A U L D A . und P. N I C O L E : La Logique, ou l'Art de penser, Paris 1662, IV/2. 24 ) Vgl. Anm. 19. 25 ) Vgl. A B B É J. SAURY: Eléments de Logique à l'usage des gens du monde, formant la première partie d'un cours complet de philosophie, Paris 1773, S. 139: „La méthode analytique remonte des conclusions aux principes. On suppose d'abord que la question proposée est vraie, et de là on tâche de remonter jusqu'à quelque chose de connu, qui ait une connexion nécessaire avec la question proposée. SI, au contraire, on arrive à un principe absurde nécessairement lié avec la question proposée, on conclut 16
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hin, daß der Synthese mit der Zeit weniger Beachtung geschenkt wird (wiederum mit Ausnahme von Hauchecorne). In der Logik von PortRoyal sind hinsichtlich der .Analyse' lediglich die vier Regeln der cartesianischen Methode angeführt, weil sie „consiste plus dans le jugement et dans l'adresse de l'esprit, que dans des règles particulières" (s. Anm. 23a), während die Synthese, mit anderen Worten die Beweisführung, in neun inhaltsreichen Kapiteln abgehandelt wird. Da die Synthese mit den Regeln der traditionellen Logik (d. h. der Theorie der Beweisführung) verbunden ist, erfährt sie dasselbe Schicksal wie eben diese Regeln in dem Maße, wie die Mathematisierung der Logik voranschreitet26). Bei D E FELICE erfolgt jedoch eine bedeutsame Verschiebung, eine Abschwächung der Dichotomie: „L'Analyse est l'unique secret des découvertes" (1770,358); „si l'analyse est la méthode qu'on doit suivre dans la recherche de la vérité, elle est aussi la méthode dont on doit se servir pour exposer la découverte qu'on a faite" (1770,370). Diese Formulierungen hat De Felice übrigens stillschweigend von Condillac übernommen. Schon in seinem Essai sur l'Origine des connaissances humaines (1746) hatte dieser eine Kritik der .Synthese' vorgebracht und vor allem die Beziehung aufgehoben, die die Synthese mit dem mathematischen Beweis haben mochte: „Ce n'est point à la méthode synthétique que les mathématiques doivent leur certitude" ( C O N D I L L A C , 1746, ed. Le Roy, I 25). Später kommt Condillac immer wieder auf diese Frage zurück27) und erhebt die ,Analyse' zum Schlüsselbegriff der Philosophie. Daß die ,Analyse' in den letzten 25 Jahren des 18. Jhs. so sehr zur Modeerscheinung wurde, ist ganz einfach dadurch zu erklären, daß die Philosophie Condillacs à la mode war, wie schon an der steigenden Zahl der Neuauflagen seiner Werke abzulesen ist28). que la question proposée est absurde. Cette méthode est très propre à découvrir la vérité, et les géomètres en font un grand usage pour résoudre les problèmes par le moyen des équations". 26 ) Vgl. AUROUX: Il programma logico deU'illuminismo francese, in: La grammatica delpensiero, eds. D . BUZZETTI und M . FERRIANI, Bologna 1982,11-43. 27 ) Vgl. CONDILLAC: Essai sur l'origine des connaissances humaines, Amsterdam 1746,1.II. VII; Traité des Systèmes, Den Haag 1749, XVII (später getilgt); Art de penser, in: Cours d'études pour l'instruction du prince de Parme, Parme, Imprimerie royale, 1775, Bd. IV, I.IX; La logique ou les premiers développements de l'art de penser, Paris 1780, II. VI. VII. M ) Siehe dazu AUROUX: La vague condillacienne, in: Histoire Epistémologie Langage IV (1982), H. 1, S. 107-110. 17
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In dem hier interessierenden Zusammenhang ist wichtig, daß die Philosophie Condillacs eine wesentliche Entwicklung vollzieht, indem sie die von Descartes eingeführte Symmetrie der beiden Methoden aufhebt und die Synthese nur noch negativ bewertet (vgl. C O N D I L L A C , 1780, ed. Le Roy, II 405: „méthode ténébreuse", „commence toujours mal", „affecte beaucoup d'ordre",,fatigue l'esprit sans l'éclairer"). Schließlich wird die ,Synthese' ganz aus der wissenschaftlichen Tätigkeit ausgeschlossen. Das Kapitel über die .Analyse' in Condillacs Art de penser (in dem viele Formulierungen auf den Essai von 1746 zurückgehen) enthält eine Reihe traditioneller Merkmale von .Analyse' (siehe Schema III), die - in einer anderen Distribution teilweise schon bei Descartes zu finden sind. Zu fragen ist nun, wie diese Entwicklung zustandekam. Schema III: CONDILLAC, Art de Penser ( 1 7 7 5 ) , II.IV: „De l'Analyse" I) II) III) IV) V) VI) VII) VIII) IX)
TOUT-» PARTIE GENERATION des OBJETS DECOUVERTE PRECISION FACILE COMPOSITION et DECOMPOSITION EVIDENCE ENSEIGNEMENT NATUREL
Von Descartes bis Condillac bleiben mithin bestimmte Definitionselemente der .Analyse' konstant; sie wird als ars inveniendi, als die beste Lehrmethode und als die natürlichste Methode angesehen 29 ). Die Merkmale Einfachheit, Evidenz und Genauigkeit (letzteres ist mit dem Merkmal + explicitation im Schema I vergleichbar) werden im Zuge der Verdrängung der .Synthese' auf die .Analyse' übertragen. Die traditionellen Elemente der .Synthese' (Axiome, Definitionen, syllogistische Beweisführungen 30 ) werden völlig abgewertet und abgelehnt (dementsprechend verschwinden mit der Zeit die Abschnitte über die Syllogistik in den Logiken). Auf drei neue Elemente, die bei Descartes noch nicht vorhanden waren, ist hinzuweisen, nämlich auf die Betonung der décomposition 29
) So ist nach unserer Auffassung der Ausdruck „la plus vraie" bei Descartes zu interpretieren (vgl. Schema I unter 7)). 30 ) Vgl. CONDILLAC: Art de penser [27], ed. Le Roy, I 747: „Le syllogisme est le grand instrument de la synthèse".
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(vgl. i im Schema III), die genetische Dimension (vgl. ii) und die Verbindung von composition und décomposition (vgl. Anm. 18). Wie bereits ausgeführt, taucht der Hinweis auf das erste Element bereits in den ersten Wörterbüchern der französischen Sprache auf. Wenn dabei der Schwerpunkt auch auf einer Metapher aus dem Bereich der Chemie liegt, so handelt es sich doch um eine weitreichende Veränderung im philosophischen Bereich, die von Port-Royal ausgelöst wurde. Bei Descartes entspricht die rationale Ordnung der Relation Prinzip - Folge31); das Einfache ist im physikalischen Sinn nicht Teil des Ganzen, worauf es bezogen ist (vgl. das Stück Wachs im Verhältnis zur Ausdehnung). In der Abstraktionstheorie Port-Royals wird die einfache Idee Teil der komplexen Idee (1662,1.V); die erstgenannte ist allgemeiner und im Umfang der zweiten enthalten. Abstrahieren, vom Allgemeinen zum Besonderen vorgehen heißt Ideen zerlegen, sie analysieren. Die Logiken nach Port-Royal schreiben diese Veränderung fest, und damit die Verbindung von ,Analyse' und Zerlegung von Ideen des menschlichen Geistes beim Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen313). Die darin implizierte genetische Dimension kommt zum Tragen, sobald der Empirismus den Rationalismus als Grundlage des Denkens ablöst32). Am erstaunlichsten ist zweifellos die Übertragung der beiden konträren Definitionselemente décomposition und composition auf analyse, mit deren Hilfe zuvor die beiden Methoden einander gegenübergestellt wurden (so etwa bei D'ARGENS, 1737, 189). Der cartesianische Analysebegriff war indessen problematisch: Jede Methode wird als eine Ordnungsstruktur der Erkenntnistätigkeit begriffen, die von einem Ausgangs- zu einem Zielpunkt vorgeht, nämlich vom Bekann31
3U
) Siehe dazu Y. BELAVAL: Leibniz critique de Descartes, Paris 1960. Vgl. Regulae ad directionem ingenui (1701 veröffentlichtes Jugendwerk), Regel IX.
) V g l . CROUSAZ, 1735, S. 6 6 1 ; REGNAULD, 1742, S. 2 5 7 ; COCHET, 1750,
S. 106; sowie GUINOT, 1778, S. 527: „On pourrait appeler l'analyse l'art de généraliser". 32 ) Vgl. J. MOSCONI. - In bezug auf die Genese der Ideen und jene der Dinge ist eine Ambiguität festzustellen; Condillac postuliert, daß die richtige Abfolge der Genese von Ideen diejenige der Dinge sein muß. Es finden sich allerdings auch Autoren, die klar zwischen zwei Arten von .Analyse' unterscheiden: „II y a deux sortes d'analyse, la physique et la morale. - L'analyse physique est la décomposition des parties d'une chose. L'analyse morale est l'examen d'une proposition ou maxime" (CHICANEAU DE NEUVILLE 1 7 5 6 ) .
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ten zum Unbekannten. Sobald man .Analyse' und ,Synthese' als von ihrer Ordnung her entgegengesetzte Methoden begreift und annimmt, es gebe nur eine einzige mögliche Abfolge der Erkenntnisinhalte, gelangt man zu einem Widerspruch. Darauf weist Condillac hin, indem er die von uns zitierte Metapher von Port-Royal wiederaufnimmt: On ne peut aller que du connu à l'inconnu. Or, si l'inconnu est sur la montagne, ce ne sera pas en descendant qu'on y arrivera; et s'il est dans la vallée ce ne sera pas en montant (Logique, 1780, ed. Le Roy, II405).
Das Problem wird aufgehoben, indem die traditionelle Symmetrie von ,Synthese' und .Analyse' aufgegeben wird. Da die wissenschaftliche Methode nicht auf die composition verzichten kann, wird diese nunmehr der,Analyse' zugeordnet. Das solchermaßen von Condillac geschaffene semantische Netz ist so wirksam, daß der Termins .Synthese' zur Bezeichnung der composition für die Chemie Lavoisiers blockiert ist (anders als im 19. Jh.33). Als allgemeine Methode/Wissenschaft beruht Condillacs .Analyse' auf einer bestimmten Vorstellung von der Funktionsweise des menschlichen Geistes, mithin auf sehr gewichtigen erkenntnistheoretischen Hypothesen. Die Universalität von .Analyse' ist nur unter den folgenden Bedingungen möglich: a) Die Erkenntnis funktioniert nach einem genetischen Modell und beginnt mit der Empfindung; b) der Kontext der Entdeckung ist identisch mit demjenigen der Rechtfertigung; c) es gibt eine natürliche Ordnung für das Fortschreiten der Erkenntnis. Die Universalität der .Analyse' ist gegründet auf eine empiristische Philosophie (siehe Abschnitt IV), noch allgemeiner auf der Annahme, daß Wissenschaftstheorie eine Theorie (und d. h. eine ,Analyse') des Verstehens34) ist. 33
) Vgl. die folgende Beschreibung der Methode Lavoisiers durch Cabanis: „Pour [...] étudier [un corps], il faut le décomposer: et si l'on parvient à le recomposer, en combinant de nouveau ses parties constitutives, qu'on avait d'abord isolées, alors l'analyse est parfaite" ( C A B A N I S : Coup d'oeil sur les révolutions et la réforme de la médecine, 1804, in: Œuvres, II186, zitiert nach G U S D O R F , S. 375. 34 ) C L . B U F F I E R stellt als erste Aufgabe in seiner Logik (Lesprincipes du raisonnement exposés en deux logiques nouvelles avec des remarques sur les logiques qui ont eu le plus de réputation en notre temps, Paris 1714, S. 385): „Analyser la manière dont se forment les opérations de notre esprit". Bemerkenswert ist daran zum einen, daß als erste Aufgabe in einer Logik eine .Analyse' gestellt wird, und zum zweiten, daß es bei dieser Analyse gerade um das Verstehen geht.
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Aus diesem Grund erhebt Destutt de Tracy später die idéologie zur „théorie des théories"35). Als die .Analyse' unter dem Einfluß Condillacs und der idéologues zum Schlüsselwort des französischen Denkens geworden ist, fällt sie mit einer bestimmten Auffassung vom Menschen und von rationaler Tätigkeit überhaupt zusammen. So sind wohl ihr Erfolg wie ihre Grenzen zu erklären. Diese Auffassung war verknüpft mit der Annahme, die décomposition als Kern der .Analyse' sei stets dieselbe, gleich ob im mathematischen, im chemischen oder im metaphysischen Bereich - wogegen sich Condorcet als Mathematiker zu Recht aussprach36).
III. Die »Analyse' als Angelpunkt aufklärerischen Denkens Bisher wurde vor allem auf zwei Aspekte eingegangen, nämlich die Verbreitung des Wortes analyse und seinen Aufstieg zum Schlagwort, dessen jeweilige Bedeutung und Referenz nicht mehr genau belegt werden mußten (was auch gar nicht mehr möglich war), sowie die Entwicklung des Begriffs in unserem Korpus logischer Schriften bis zu dem Zeitpunkt, an dem die .Analyse' nach erheblichen semantischen Verschiebungen als das Verfahren des rationalen Menschen zur Welterkenntnis überhaupt hingestellt wird. Diese beiden Entwicklungsstränge führen dazu, daß das semantische Netz um analyse nunmehr zur Kennzeichnung der verschiedenen wissenschaftlichen Methodologien dient und daß jede Errungenschaft einer wissenschaftlichen Disziplin - da sie jeweils analytisch expliziert wird - das Ansehen der .Analyse' steigert. Das semantische Netz um analyse fungiert mithin als ein von den französischen Aufklärern gemeinsamer Angelpunkt ihrer Vorstellungen von rationaler Tätigkeit, wobei
35
) Elémens
d'idéologie
1 (1801), 3 1817, S. 307. Vgl. dazu CL. DÉSIRÂT/
T. HORDÉ: Les Idéologues et les sciences du langage. Introduction, in: Histoire Epistémologie Langage IV (1982), H. 1, S. 5-20. - Die Bezeichnung idéologie erhielt den Vorzug gegenüber psychologie, wegen der metaphysischen Konnotationen der letzteren. Vgl. Anm. 12; siehe auch den Eintrag „Méthode", im Supplément III zur Enc. (1776), S. 917, und Condorcets unveröffentlichten Brief an Mme. Suard, (BN Naf 22199), in dem die Rede von Irrtümern ist. 21
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in diesem Denken Dinge in einen Zusammenhang gebracht werden, deren Zusammengehörigkeit alles andere als selbstverständlich ist: das Auge vermag kaum Gemeinsamkeiten zwischen den Abbildungen zur mathematischen ,Analyse' und jenen mit chemischen Laborgeräten in der Encyclopédie zu erkennen (siehe Abb. 1 - 3 ) . Letztere hat durch ihre Verbreitung zweifellos entscheidend dazu beigetragen, daß die, Analyse' zu diesem gemeinsamen Angelpunkt aufklärerischen Denkens wurde. Der Stellenwert der .Analyse' in der Encyclopédie läßt sich natürlich im entsprechenden Eintrag von 1751 (der weitgehend auf Condillac beruht; vgl. auch den Eintrag „Méthode") erkennen, sowie in den Bänden der Encyclopédie méthodique zur Logik und zur Metaphysik 37 ); besonders aufschlußreich sind jedoch die Verweise auf ,Analyse' in den Tables (1780,1 65). Verwiesen wird dort nämlich auch auf Stellen, in denen das Wort analyse gar nicht erscheint, natürlich auf Geometrie und Algebra, aber auch auf die Physik (zu der übrigens damals noch die Biologie, die Anatomie - „la dissection anatomique d'un animal est aussi une analyse", I 403 - und sogar die Geographie gehörten; vgl. I 613), die Astronomie, die .Analyse' von Zufällen, und schließlich, was besonders bedeutsam ist, auf die Chemie. Hier bestätigt sich, was zum Paradigmawechsel ausgeführt wurde: Zum Zeitpunkt ihrer Generalisierung ist die Chemie 38 ), also die physikalische Zerlegung, das Modell für die .Analyse' , und nicht die Mathematik. Letztere behält jedoch weiterhin exemplarischen Wert, weil sie historisch gesehen als erste Wissenschaft modernes Denken aufgenommen hatte. Da im Bereich der Mathe37
) Der Haupteintrag zu „Analyse" sowie die Einträge „Analyse (Grammaire)" und „Analytique" stammen von D'ALEMBERT, ebenso die Einträge „Méthode (Logique)" und „Méthode (Mathématique)". Der Verfasser des Eintrags „Analyse (Logique)" ist Abbé YVON, für die Einträge „Analyse (Littérature)" bzw. „Analyse (Chimie)" zeichnen MALLET bzw. MALOUIN. Der Eintrag „Méthode (Arts et Sciences)" ist von dem Chevalier de JAUCOURT verfaßt. - Zum Erfolg der Enc. vgl. R . DARNTON: The Business of Enlightenment: A Publishing History of the „Encyclopédie", 1775-1800, Cambridge, Mass. 1979. "Federführend bei der Herausgabe der Bände Logique et Métaphysique der Encyclopédie méthodique war P.-L. LACRETELLE; im Eintrag „Logique" (1786) wird ausführlich Condillacs Logique (1780) zitiert. 3S ) Vgl. den Eintrag „Analyse": „Analyser des corps ou les résoudre en leurs parties composantes est le principal objet de l'art chimique" {Enc., 1403). Zu beachten ist, daß diese Veränderung bei Buffon, Diderot und Condillac mit einer Ablehnung des mathematischen Paradigmas für die Methodologie der physique einhergeht.
22
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Chymie
Abb. 1 Darstellung der chemischen .Analyse' in: Enc., XXIV (Tafelbd. III), 1763, s.v. „Chimie", ungezähltes Kupfer vor Taf. I. 23
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Abb. 2 Darstellung chemischer ,Analyse', in: ebd., Taf. VIII.
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Abb. 3 Darstellung der mathematischen .Analyse', in: Enc., XXVI (Tafelbd. V), 1767, s.v. „Sciences mathématiques", Abt. „Analyse", Taf. I. 25
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matik die .Analyse' der Antike (Pappus) und die .Analyse' der Neuzeit (Descartes, Leibniz, Newton) einander gegenüberstehen, ist man bemüht, für die Chemie ebenso zwischen einer ,Analyse' der Antike (distillation) und einer der Neuzeit (analyse menstruelle) zu unterscheiden39). Der Paradigmawechsel hat zur Folge, daß die analyse mit einer materiellen Operation verbunden wird: distillation: moyen d'analyse [...]. Opération chimique qui consiste à détacher par le moyen du feu, de certaines matières renfermées dans des vaisseaux, des vapeurs ou des liqueurs, et à retenir ces dernières substances dans un vaisseau particulier destiné à les recevoir (Enc., IV, 1754,1056). analyse menstruelle: analyse par combinaison, par précipitation, par extraction, par intermède: c'est ainsi que les chimistes modernes appellent la voie de procéder à l'examen chimique des corps, en séparant par ordre leurs principes constitutifs par le moyen de la dissolution partielle et successive (Enc., X, 1765,343).
Die .Analyse' der Neuzeit ist eine Ordnungsstruktur für die Abfolge der auf die Wirklichkeit gerichteten Denkvorgänge, bei denen sich das denkende Subjekt verschiedener Mittel bedient. Dies muß sich vor Augen führen, wer die Analogie begreifen will, die der berühmten Aussage Condillacs über die Sprachen als .analytische' Methoden zugrundeliegt (vgl. Anm. 12). Willkürliche Sprachzeichen sind nicht anders als Kolben (vgl. Abb. 2) gegenständliche Mittel zur .Analyse' des konkret Gegebenen. Später werden unter dem Einfluß der idéologues40) weitere Bereiche der .Analyse' unterworfen: die Chemie, die ihre methodologischen Grundlagen festigt (LAVOISIER: Traité élémentaire de chimie, 1 7 8 9 ) , die Geschichte (VOLNEY: Leçons d'Histoire à l'Ecole Normale, 1 7 9 5 ) , die Medizin (PINEL: Nosographie philosophique ou la méthode de l'analyse appliquée à la médecine, 1 7 9 8 ; sowie CABANIS 1 8 0 4 [siehe Anm. 33]), die Grammatik (U. DOMERGUE: Grammaire générale analytique, 1 7 9 8 4 1 ) , die Biologie (LAMARCK: Discours d'ouverture du 39 40
41
26
) Vgl. XVI869. ) Vgl. D. J. GARAT: Cours d'Analyse de l'entendement (Vorlesung an der Ecole Normale), 1800; P. F. LANCELIN: Introduction à l'Analyse des Sciences, ou de la génération des fondements, et c(es instruments de nos connaissances,
Paris, 3 B d e . , 1801-1803.
) Die Bezeichnung analytique taucht also erst relativ spät auf; den Anstoß dazu hatte aber bereits CONDILLAC (Grammaire, 1775) gegeben, indem er längere Segmente analysierte, anstatt mit der traditionellen Defini-
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cours des animaux sans vertèbres, 1808) und die Literatur (M.-J. CHÉNIER: Tableau historique de l'état et des progrès de la littérature depuis 1789, 181542). U m die Jahrhundertwende ist die ,Analyse' aus der
wissenschaftlichen Methode nicht wegzudenken, wenn auch manche ihren von den idéologues behaupteten enzyklopädischen Wert in Zweifel ziehen, wie etwa GUINOT ( 1 7 7 8 , 5 3 2 ) : „L'analyse n'est pas faite pour embrasser un système total de science". So sind vielleicht bestimmte Eigenheiten beim Gebrauch des Adjektivs analytique zu erklären. Zwei seiner Hauptbedeutungen, und zwar die im 19. Jh. geläufigsten, tauchen in den von uns bearbeiteten Quellentexten nämlich an keiner Stelle auf; es handelt sich um diejenigen, die in der Gegenüberstellung von analytischer vs. synthetischer Aussage bzw. analytischer vs. synthetischer Sprache zum Ausdruck kommen. Beide entstammen dem französischen Denken des 18. Jhs. Die erste entspricht der Gegenüberstellung von terme explicatif vs. terme déterminatif sowie der Unterscheidung zweier Arten von Relativsätzen in Port-Royal43), die zweite der von GIRARD ( 1 7 4 7 4 4 ) und später von A. Smith45) entwickelten Sprachtypologie, die dann zu dem Begriff der .analytischen Sprache' bei A. W. Schlegel führt46). Beide Gegenüberstellungen verweisen auf die analyse de la pensée. Der erklärende Ausdruck ist derjenige, der in dem ihm vorausgehenden enthalten ist; in der analogen Sprache Girards (dem entfernten Vorläufer von Schlegels analytischer Sprache) gilt der ,analytische Bau' bzw. die
tion der Wortarten zu beginnen. Nach A. CHERVEL (Les grammaires françaises 1800-1914, Répertoire chronologique, Paris 1982, Institut National de Recherche pédagogique) erscheint analyse im Titel der bis 1820 gedruckten Grammatiken mit der folgenden Frequenz: 1800 (1), 1802 (1), 1803 (1), 1805 (2), 1806 (1), 1807 (1), 1809 (1), 1810 (2), 1811
(2), 1812 (2), 1813 (1), 1819 (1) und 1820 (1). Vgl. dazu auch J.-CL. CHEVALIER. - Als Reaktion auf diese Entwicklung veröffentlicht etwa C. Leber 1808 eine Grammaire générale synthétique, ou développement des principes généraux des langues (Paris, Schoelle). 42 ) Die Rolle der analyse in der französischen Literatur untersucht einge43
h e n d CHR. STOECKLIN ( K a p . I I I ) . ) Vgl. TONELLI; AUROUX: T h e A n a l y t i c a n d t h e Synthetic.
" ) Vgl. Enc., Einträge „Grammaire" (VII, 1757,844) und „Langue" (IX, 4S
1765,258).
) A. SMITH: A Dissertation on the Origin of Language, 1761; vgl. Enc.
4é
méth.:
Grammaire
et Littérature,
II (1784), 422-33.
) Vgl. SCHLEGELS Observations sur la langue et la littérature provençales, 1818, S. 16.
27
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.analytische Ordnung' des Denkens47). Analytique wird jedoch nie losgelöst von der Idee der Methode, der Ordnung, der Referenz auf die Entwicklung des Denkens, um nur die bloße Zerlegung, die Erkenntnis a priori zu bezeichnen. In Anlehnung an die bei den Generativisten übliche Darstellung semantischer Merkmale durch Baumgraphen können wir die semantische Struktur von analytique für die französische Aufklärung (1) bzw. die Zeit nach Kant (2) folgendermaßen wiedergeben: analytique (1) I méthode
analytique (2) méthode
décomposition
a priori
ordre décomposition
décomposition + composition
IV. .Expérience' und das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit Aus der Semantik von analytique, dem Fehlen einer Beziehung zur Vorstellung eines a priori ergibt sich, daß die Relation von analyse und expérience zur Zeit der französischen Aufklärung anders funktioniert als später unter dem Einfluß Kants. In der Geschichte der Philosophie haben zwischen analyse, expérience und a priori sehr unterschiedliche Beziehungen bestanden; in der Aufklärung wird ein bedeutsamer Übergang vollzogen48). Nach scholastischer Auffassung geht das apriorische Denken von den Ursachen zu den Wirkungen vor und entspricht somit dem synthetischen Verfahren. Umgekehrt entspricht die Erfahrung dem analytischen Verfahren, das von den 47
) Siehe E. COSERIU: Adam Smith und die Anfänge der Sprachtypologie, in: Festschrift Hans Marchand, eds. H. E . BREKLE und L . LIPKA, Den Haag 1967, 46-54; sowie E. HAGGBLADE: Contributors to the Beginnings of Language Typology, in: Historiographia Linguistica X (1983), H. 1/2, S. 13-24. 4S ) Vgl. LALANDE: Vocabulaire technique et critique de la philosophie, Paris I. Aufl. 1902-1923, Eintrag „A priori".
28
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dem denkenden Subjekt bekannten - Wirkungen zu den Ursachen vorgeht; expérience und a priori sind Antonyme 49 ). Die Verbindung von analyse und a priori wird durch den cartesianischen Inneismus vollzogen, wobei analyse jedoch weiterhin auf die Abfolge von Wirkung und Ursache referiert50). Bei Condillac wird die Referenz auf die Abfolge Wirkung/Ursache beibehalten (die meist als die Relation von Ganzem und Teil interpretiert wird; vgl. Schema IV). Als Empiriker behauptet Condillac jedoch natürlich nicht die Vorgängigkeit der .Analyse' gegenüber der Erfahrung. Unseres Wissens taucht a priori bei ihm nur am Rande auf, als er sich auf ein Argument von Bayle bezieht 51 ). Endgültig wird die cartesianische Umkehrung bei Kant (vgl. Schema IV), der a priori mit analyse verknüpft und letzterer zugleich die Referenz auf die Abfolge von Wirkung und Ursache nimmt, durch die in bezug auf die Erfahrung eine Ambiguität entstanden war (bei der Erfahrung ansetzen heißt bei der Wirkung der Dinge auf uns ansetzen; vgl. Aristoteles, Phys. 1.1). Schema IV: .analyse' und .expérience' bei Descartes, Condillac und Kant Definition von .Analyse'
Abfolge Wirkung/Ursache
Vorgängigkeit in bezug auf .expérience'
Descartes
+
+
Condillac
+
-
Kant
-
+
49
) VGL. LEIBNIZ: Discours de Métaphysique, 1686, § 8: „Connaître a priori (et non par expérience)". Vgl. DESCARTES: Princ. Phil., 1644,1, § 24: „Déduire en telle sorte des notions qui sont naturellement en nos âmes, que nous ayons une science parfaite, c'est-à-dire que nous connaissions les effets par leurs causes". 51 ) Vgl. Traité des Systèmes (1749), ed. Le Roy, 1128; jedenfalls gehört es nicht zu seiner gängigen Fachsprache. - Die Idee der Vorgängigkeit einer Erkenntnis in bezug auf die Existenz des Erkenntnisgegenstandes dient im 18. Jh. vor Kant manchmal dazu, die Notwendigkeit dieser Erkenntnis zum Ausdruck zu bringen. Da man dieser Idee auch bei Hume begegnet, kann man nicht die Auffassung vertreten, sie sei mit dem Empirismus unvereinbar (vielmehr hat Vorgängigkeit nicht eigentlich eine chronologische Bedeutung in der Geschichte des Erkenntnisprozesses, wie Kant später bemerken wird); siehe dazu AUROUX: La Sémiotique des Encyclopédistes, Paris 1979,221-22. 29
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In der Philosophie der französischen Aufklärung sind analyse und expérience mithin keineswegs unvereinbare, sondern vielmehr zusammengehörige Ausdrücke; die .Analyse' ist nach der allgemeinen Konzeption von wissenschaftlicher Methode notwendig auf Erfahrung gegründet. Umgekehrt bezieht sich SENEBIER in seinen theoretischen Ausführungen über die Rolle der Erfahrung in der wissenschaftlichen Argumentation auf die methodische Zerlegung der Erscheinungen, d.h. auf die ,Analyse' (1775, 92). Die beiden Ausdrücke sind etwa zur gleichen Zeit und durch den selben philosophischen Ansatz (nämlich den CONDILLACS in seinem Traité des Systèmes, 1749, und der encyclopédistes, vgl. D I D E R O T : De l'Interprétation de la nature, 1753) in den Vordergrund getreten; wie analyse wird expérience um 1750 zu einem allgemein verwendeten Schlüsselbegriff wissenschaftlicher Erkenntnis, wie analyse erscheint auch expérience als mit der Entwicklung der modernen Wissenschaft verknüpft. So erhebt CONDILLAC expérience bei seiner Darstellung der Entdeckung der Masse der Luft durch Toricelli zum Paradigma der experimentellen Methode (1749, ed. Le Roy, I 211). Und Destutt de Tracy sieht später in den Fortschritten der expérience die Bedingung des wissenschaftlichen Fortschrittes überhaupt und das Fehlen von expériences als die Ursache für wissenschaftliche Stagnation in früheren Zeiten 51 '). Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch: Während analyse, ursprünglich Fachausdruck, allmählich in die Allgemeinsprache vordringt, erfolgt bei expérience genau die umgekehrte Entwicklung52), wie schon im Dictionnaire de Trévoux (31743, II 2140) bemerkt wird: Les expériences sont devenues si célèbres & si communes depuis 50 ou 60 ans, que le mot d'expérience est devenu comme un terme d'art en Physique & et plusieurs parties des Mathématiques.
Vor Condillac wird expérience in den Logiken kaum erwähnt; so fehlt z . B . das Wort in den Registern von BUFFIER (1714) [34] und REGNAULD (1742). Die ursprüngliche Zugehörigkeit des Wortes zur Grammaire, 1803, ^1817, S . 4: „[les] compatriotes [d'Aristote et d'Hippocrate] ont toujours ignoré l'art des expériences". S2 ) Vgl. die Angaben für Erstbelege im Petit Robert: 1260 für expérience, 1503 für expérimental, 1453 für expérimenté, 1372 für expérimenter und 1824 für expérimentation. Für analyse ist 1638 (für analytique 1579) angegeben, wodurch die Verbindung zur cartesianischen Philosophie offenkundig wird.
51A
30
) DESTUTT DE TRACY,
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Allgemeinsprache ist die Erklärung für seine Aufnahme in die Synonymwörterbücher, in denen es von essai (vgl. Montaigne) und épreuve abgegrenzt wird. Die ursprünglich von G I R A R D vorgenommene Bedeutungsdifferenzierung - „l'expérience confirme nos opinions, l'essai conduit notre goût; l'épreuve rassure notre confiance" (Synonymes, 1718) - findet sich ebenso in späteren Wörterbüchern 53 ) wie in Werken wieder, die besonders auf den Wert der Erfahrung abheben 54 ) (vgl. Schema V). Schema V : Die Synonymreihe (nach BEAUZÉE/GIRARD, —^
1769,1243)
gemeinsames Merkmal Unterschiede ^
Art und Weise, in der wir Kenntnis von den Dingen erlangen
Aspekt, unter dem der Gegenstand betrachtet wird
vérité des choses (existence)
usage des choses (usage)
qualité des choses (attribut)
Geistestätigkeit
opinion
goût
confiance
Wort
expérience
essai
épreuve
Expérience steht weiterhin in einer Synonymierelation zu observation, wiederum einem Ausdruck der Allgemeinsprache; das unterscheidende Merkmal ist ± aktiv , infolge einer Technisierung von expérience (in dieser Bedeutung tritt im 19. Jh. expérimentation an dessen Stelle): Pour découvrir des phénomènes, il ne suffit pas toujours d'observer; il faut encore employer des moyens propres à les rapprocher, à les dégager de tout ce qui les cache, à les mettre à portée de notre vue. C'est ce qu'on nomme des expériences (CONDILLAC: Art de raisonner, 1775, ed. Le Roy, 1637 55 ). 53
) Auch CONDILLAC übernimmt sie, verweist aber auf tentative und phénomène, wobei der erste Ausdruck als Hyperonym fungiert: „L'expérience, l'essai et l'épreuve sont différentes espèces de tentatives qui diffèrent par l'objet qu'on a en vue" (ed. Le Roy, III 531). Mit Hilfe des zweiten werden observation und expérience auf Grand des Merkmals ± passiv gegenübergestellt: „Par phénomène on entend tous les effets de la nature. L'observation est un phénomène observé. L'expérience est une tentative qu'on fait pour observer le phénomène qui en résultera". M ) Vgl. DIDEROT: De l'Interprétation de la nature (1753), § XXIV: „La physique expérimentale s'occupe en général de l'existence, des qualités et de l'emploi". 55 ) Vgl. damit auch das Zitat aus den Synonymes in Anm. 53. 31
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26
Bei den Verschiebungen der - recht komplexen - semantischen Struktur von expérience wirken gesellschaftspolitische Faktoren mit, denen aufgrund der Zusammenhänge mit dem Empirismus besonderes Gewicht zukommt 56 ). Die Polysemie des Ausdrucks und die dadurch bedingten Schwierigkeiten einer exakten Begriffsbestimmung sind schon in der ersten Auflage des Dictionnaire de l'Académie zu erkennen. Zur Verdeutlichung wird im folgenden zwischen expérience1 und expérience2 unterschieden, d.h. zwischen der Bedeutung „épreuve qu'on fait de quelque chose soit à dessein soit par hasard" [im folg. exp. 1 ] und der Bedeutung „connaissance des choses acquise par un long usage" [im folg. exp. 2 ]. Mit diesen Formulierungen wird expérience in den fünf Ausgaben des Dictionnaire de l'Académie aus dem 18. Jh. definiert, wie auch - mit einigen Varianten - in den meisten anderen Wörterbüchern. Aufschlußreich sind die Varianten im Dictionnaire de Trévoux (31743), II 2140-41: Essai, épreuve réitérée de quelque effet qui sert à notre raisonnement, pour venir à la connoissance de sa cause [exp. 1 ]. L'expérience n'est autre chose que les idées qu'on a de tout ce qu'on a vû ou lû, sur lesquelles le jugement réfléchit pour en faire un bon usage [exp. 2 ].
Wie man sieht, entspricht exp. 1 hier der kanonischen Definition von analyse (Abfolge: Ursache/Wirkung). Exp. 2 gibt wohl die gebräuchlichste und auch die ursprüngliche Bedeutung wieder. Exp. 1 ist der wissenschaftlichen Methodologie zugeordnet, was die Varianten verdeutlichen. Dadurch, daß vom Zufall nicht mehr die Rede ist, daß der Aspekt der Wiederholung und die explizite Referenz auf die wissenschaftliche Argumentation hinzutreten 57 ), wird im Falle von exp. 1 aus der Erfahrung als einem Prozeß zwischen zwei Aktanten (A 1 , A 2 ) eine Tätigkeit des ersten Aktanten. Dieser ist stets das erkennende Subjekt 58 ). 56
) Bei der berüchtigten Affaire de Prades (1751-54) werden die Hauptpostulate des Sensualismus offiziell als „blasphématoires, hérétiques, favorables au matérialisme, pernicieux à la tranquillité publique, propres à renverser la religion naturelle" bezeichnet. 57 ) Vgl. CONDILLACS Regel: „ne rien admettre qui n'ait été confirmé par des expériences bien faites" (Traité des Systèmes, 1749, ed. Le Roy, 1210). 58 ) Es sei auf einen Beleg hingewiesen, in dem das Subjekt von exp. 1 die Natur ist: „L'expérience physique est la manière constante et uniforme que la nature emploie dans ses opérations: les mêmes causes produisent
32
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Bei F É R A U D ist wohl am stärksten ein B e m ü h e n zu erkennen, zwischen den Bedeutung exp. 1 und exp. 2 zu unterscheiden (wiewohl er für exp. 1 lediglich die Definition des Dictionnaire de l'Académie übernimmt). Unterschiede werden in der Möglichkeit der pluralischen Verwendung gesehen („Expériences au pluriel, ne se dit que de celles d e physique. Ailleurs on dit toujours expérience au singulier, surtout dans le moral"), sowie in der Kombinierbarkeit mit den Verben avoir und faire („En physique où le pluriel est admis, on dit faire et non pas avoir des expériences"). Exp. 1 wird somit auf den Bereich der Physik beschränkt, was im übrigen der allgemeinen Auffassung entspricht, nach der A 2 nie eine Person ist („on dit l'expérience des afaires, mais on ne dit pas l'expérience des hommes"). Umgekehrt wird exp. 2 aufgewertet: „Expérience est surtout d'un grand usage pour exprimer les connaissances des choses acquises par un grand usage". Schema VI verdeutlicht diese semantischen Differenzierungen, wobei die von Schema VI: Semantische Merkmale von .expérience' EXPERIENCE A2 — Person
+ aktiv + passiv + WissenschaftAlltag liches Argumentieren + Wiederholung + Dauer + Physik + Singular + Plural j + /faire/ I — /avoir/ I
+ passiv
+ Geist + Singular - Plural + /avoir/ — /faire/
constamment les mêmes effets" (CHICANEAU DE NEUVILLE, 1756). Dieser Einzelbeleg ist nach unserer Auffassung im Zusammenhang mit dem in Anm. 53 zitierten Text Condillacs zu sehen und scheint uns zu zeigen, wie sehr im aufklärerischen Denken die Betonung der Erfahrung in der Kenntnis der Welt mit einer bestimmten Auffassung von der Natur und deren Regelmäßigkeit korreliert (vgl. Dict. Trévoux, s. v. „Épreuve réitérée"). 33
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neu eingebrachten Definitionselemente durch gestrichelte Linien gekennzeichnet sind 59 ): Die Dichotomie von expérience, die Beschränkung von exp. 1 auf die Physik in Verbindung mit der Kennzeichnung von A 2 durch das M e r k m a l , P e r s o n ' sind vor dem Hintergrund der ideologischen Auseinandersetzungen zu sehen, bzw. der Beziehungen zwischen expérience und Empirismus sowie der gesellschaftlichen Praxis, der Revolution. FÉRAUD
D a ß die E r f a h r u n g als T h e m a an Boden gewinnt, wird üblicherweise mit der Entwicklung des Empirismus (Locke) und dem Niedergang des Rationalismus (Descartes) in Verbindung gebracht. Das trifft indessen nur zum Teil zu, denn die Gegenüberstellung von rationaliste und empiriste als solche kennt das 18. Jh. nicht 60 ). Gleichwohl stellen die A u t o r e n jener Zeit stets einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der experimentellen M e t h o d e und jener der Philosophie empiristischer Prägung (die auf Bacon zurückgeht) her: „[Bacon] f . . . ] nous a tournés du côté de l'expérience; il nous a appris à observer et interpréter la nature" 6 1 ). Das Wort empirisme erscheint 1736 im Bereich der Medizin und mit einer pejorativen Bedeutung: QUESNAY bezeichnet in seinem Essai physique sur l'économie animale613) die M e t h o d e jener Ärzte, die immer neue Fälle ohne jede Doktrin behandeln, als empirisme. Diese Bedeutung behandelt auch de Jaucourt in seinen Encyclopédie-Artikeln „Empirique" und „Empirisme"; die moderne Bedeutung, die eine bestimmte Theorie über den Ursprung der Erkenntnis bezeichnet, erscheint erst 1781 mit Kants erster Kritik und ist f ü r das Französische erst seit dem Beginn des 19. Jhs. belegt. D e r Wert der Erfahrung für die wissenschaftliche Erkenntnis hängt nicht wesentlich mit 59
) Expérimenter kann sich sowohl auf exp.1 als auch auf exp.2 beziehen (vgl. Férauds Umschreibung: „éprouver par expérience"). Expérimenté bezieht sich auf Dinge wie auf Personen, wobei die jeweilige Rolle der beiden Aktanten beachtet wird; vgl. FÉRAUD, Art. „Analyse", 1,1787: „Avec les choses il a le sens passif, avec les personnes le sens actif. 60 ) Die moderne (von Kant thematisierte) Opposition erinnert an die Gegenüberstellung von philosophie rationnelle und philosophie expérimentale bei DIDEROT [54], die jedoch keine Hypothese über den Ursprung der Erkenntnis beinhaltet. 61
) GRIMM, III 150 (1756); s.a. D'ALEMBERT: Discours
Préliminaire
l'Encyclopédie, 1751. 61A
34
) QUESNAY X X X V I I ; vgl. d a z u SALOMON-BAYET, S. 1 9 5 , 2 1 4 , 2 7 1 - 2 8 5 .
de
Analyse, Expérience
29
einer Lehre vom Ursprung der Erkenntnis zusammen. Die Aufwertung der Erfahrung, die wir schon bei Descartes finden 62 ), wird im 18. Jh. stetig weiter entwickelt; sie geht mit den Fortschritten der Newtonschen Physik und insbesondere mit der Entwicklung der Physiologie einher (vgl. dazu DUCHESNEAU). Die von Réaumur und Spallanzani erfolgreich angewendete Methode zur Entdeckung des Verdauungsvorganges ist Gegenstand intensiver Reflexion im letzten Drittel des 18. Jhs. 1770 schreibt die Société des sciences von Harlem folgende Preisfrage aus: „Qu'est-ce qui est requis dans l'art d'observer; et jusqu'où cet art contribue-t-il à perfectionner l'entendement?". 1775 erscheint der Essay von Jean SENEBIER , der den ersten accessit erhielt , 1777 der mit dem ersten Preis bedachte von Benj amin CARRARD . Wenngleich die Erfahrung zunächst von den sensualistes thematisiert wird, so wird es allmählich überhaupt undenkbar, daß ohne die Erfahrung eine objektive Erkenntnis erreicht werden könne. Selbst ein so eingefleischter Cartesianer wie der Grammatiker Beauzée erklärt im Zusammenhang mit seiner Tempustheorie: „L'expérience est la pierre de touche des systèmes" (Art. „Temps", in: Enc, XVI, 1765, 98). Was wir heute als Nationalismus' bezeichnen, ist mithin nicht gleichzusetzen mit einer Ablehnung der Erfahrung. Im französischen Denken des 18. Jhs. wird vielmehr auf eine gemeinsame Struktur von expérience rekurriert, wie Schema VII über die verschiedenen Stufen Schema VII: Die Beziehungen zwischen Erfahrung und Erkenntnis (18. Jh.) EXPERIENCE
A allgemeine Begriffe
B exp.
D î
C exp.
wissenschaftliche Theorie E
2
gemeinsames Wissen
62
) DESCARTES: Princ. Phil. (1644), Lettre Préf. au traducteur: „La plupart [des vérités] [...] qui restent à trouver, dépendent de quelques expériences particulières, qui ne se rencontreront jamais par hasard, mais doivent être cherchées avec soin et dépense par des hommes intelligents". 35
Analyse,
Expérience
30
des Erkenntnisprozesses zeigt; die Beziehungen zwischen Erfahrung und Erkenntnis sind darin durch Pfeile symbolisiert. Die Unterschiede zwischen den Erkenntnistheorien ergeben sich aus den jeweils angenommenen Abfolgen von Sequenzen dieser Stufen des Erkenntnisprozesses und insbesondere aus der Entscheidung für eine bestimmte Anfangsstufe der Erkenntnis. Nach dem Empirismus (bzw. dem .Sensualismus', wie man damals sagte) ist diese Anfangsstufe Teil von exp. 1 ; die nachfolgenden Erkenntnisschritte führen zur Bildung von Allgemeinbegriffen. Nach idealistischer Auffassung stehen dagegen Allgemeinbegriffe am Anfang, mit anderen Worten, es wird angenommen, daß bestimmte Erkenntnisse dem Menschen angeboren sind 63 ). Der schematische Überblick soll zum besseren Verständnis der Einträge „Expérience" in den von uns ausgewerteten Wörterbüchern beitragen. Nirgends findet sich darin nämlich ein Hinweis auf den Sensualismus. Die Zitate im Dictionnaire de Trévoux und in F É R A U D sind Bossuet, Malebranche, Pluche oder Fléchier entnommen, nicht Lockes oder Condillacs Schriften. Nichts wird darin gesagt über die Möglichkeit, unmittelbar von allgemeinen Ideen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen zu gelangen (gegen diese Hypothese hat sich Diderot 1753 mit Entschiedenheit ausgesprochen). Im Dictionnaire de TrévouxM) wird dagegen die Annahme eines Erkenntnisprozesses verworfen, der von exp. 1 zur wissenschaftlichen Erkenntnis fortschreitet, d . h . eben jenes Verfahrens, das Diderot als „expérience pour voir" propagierte, im Gegensatz zu seinem Freund Condillac. Die Dichotomie von exp. 1 und exp. 2 (die es bei Diderot nicht gibt, jedenfalls nicht in deutlicher Form) ermöglicht den Übergang zur experimentellen Methode 6 5 ) und die Abwendung vom Sen-
63
) DESCARTES [62]: „Les vérités que je mets entre mes principes ayant été connues de tout temps et de tout le monde". M ) Dict. Trévoux ( 3 1743), II2140: „II y a depuis quelque temps des gens curieux & oisifs, qui prennent le nom de Philosophes, & dont toute la Philosophie consiste à faire des expériences, sur la gravité de l'air, sur l'équilibre des liqueurs, sur L'aiman". - Vgl. dazu auch G . BACHELARD: Le Nouvel Esprit Scientifique, Paris 1934. 65 ) Man darf hier allerdings nicht übersehen, daß die Autoren des 18. Jhs. mit „méthode expérimentale" nicht genau dasselbe bezeichnen wie später Cl. Bernard, in dessen Theorie den Hypothesen ein gewichtiger Stellenwert zukommt (vgl. dazu DUCHESNEAU, S. 405). Die Methode besteht vielmehr damals im wesentlichen in der Auffindung der Ursachen, in der Analogie und der Zerlegung von Erscheinungen, d.h. in der .Analyse'. Die tätige Erfahrung wird als ein Verfahren begriffen, Er-
36
31
Analyse,
Expérience
sualismus. D i e Beschränkung von exp. 1 auf die Physik und vor allem die Festlegung von A 2 auf das Merkmal ,menschlich' führt auf der ideologischen Ebene zu einer ähnlich, indessen weit komplexeren Entwicklung, die vor allem in der revolutionären Phase zum Ausdruck kommt. A b 1790 ist eine häufige Verwendung des Wortfeldes um expérience im gesellschaftspolitischen Kontext festzustellen. Es finden sich zunächst Belege für die Bedeutung exp. 2 : „L'expérience du passé commence enfin à nous profiter, à nous et à nos frères de tous les départements" 66 ). Aufgefaßt als die Summe des Erlebten und geeignet, menschliches Handeln anzuleiten, werden der Erfahrung Modalitäten menschlicher Erkenntnis zugeordnet (apprendre, détromper61, éclairer), gerade so wie zuvor der Vernunft. D o c h stößt man bald auch wieder auf Metaphern aus dem Bereich der wissenschaftlichen Praxis, die auf exp. 1 verweisen: Les crimes et les désordres moraux sont les maladies du corps politique: les loix en sont les remèdes, mais ces remèdes comme ceux de la médecine, sont rarement efficaces: il y en a beaucoup de nuisibles, quelques uns sont meurtriers. C'est à l'expérience et à l'observation à éclairer les gouvernemens sur les circonstances et les instans où il convient de supprimer les remèdes dangereux et de diriger l'usage de ceux qui peuvent être salutaires 68 ). D i e semantische Struktur von expérience ist hier eine völlig andere als bei Féraud; der zweite Aktant ist durch das Merkmal + Person scheinungen zueinander in Beziehung zu setzen, und nicht als eine Methode zur Überprüfung abstrakter Hypothesen, die bei den lumières auf Vorbehalte stoßen. So fordert etwa Condillac die empirische Kenntnis von der Wahrheit des conséquent ebenso wie des antécédent. Die moderne Konzeption der experimentellen Methode ist dem Rationalismus verpflichtet (vgl. SALOMON-BAYET, S. 284) und in der Nachfolge Kants entstanden. 66 ) Lequinio im Pariser Jakobinerclub am 5. VIII. 1794 ( A U L A R D : Jacobins, VI 321). 67 ) Vgl. Ann. patriotiques N° 333 (1793), 1511: „[...] il faudra que l'expérience détrompe ce qu'on appelle les croyans de bonne foi de ce préjugé déplorable [ . . . ] . " - Die Frage, inwieweit die Verwendung der Referenzen raison vs. expérience mit Unterschieden auf der politischen Ebene einhergeht, müssen wir hier offenlassen. 6S ) J. Paris N° 105 (1788), 465. - Vgl. auch Le Réveil du Tiers Etat, 1789, S. 2: „[...] nous avons l'avantage inappréciable de l'expérience, au moyen des observations que nous avons pu faire sur le défaut de notre gouvernement et des autres gouvernemens; il semble que nous devions plus facilement nous rapprocher de la perfection dont un gouvernement est susceptible". 37
Analyse,
Expérience
32
gekennzeichnet. In diesem Sinne schlägt die Société des jeunes gens français (die mit den Amis de la Constitution verbunden war) die G r ü n d u n g einer Ecole Centrale d'Expériences69), d . h . einer experimentellen Schule, vor. Die politische Relevanz dieser semantischen Verschiebung erhellt aus dem folgenden Zitat: „La Révolution française est en quelque sorte la première expérience faite sur un grand corps de nation" 7 0 ). Seit Condillac sind, wie wir gesehen haben, die Ausdrücke analyse und expérience miteinander verknüpft; ihre gesellschaftspolitische Dimension läßt sich u. a. daran ablesen, daß ihre Kritiker eine mehr oder weniger reaktionäre Position vertreten. Ihre Verbindung mit dem Freiheitsbegriff belegen die nachstehenden Zitate: Il faut laisser l'expérience à sa liberté71). La synthèse est le despotisme de l'enseignement; elle maîtrise ceux qu'elle instruit, et l'erreur est toujours à côté d'elle comme à côté de toutes les tyrannies. L'analyse, au contraire, n'exigeant d'autre docilité que l'attention, ramène sans cesse l'esprit humain à l'usage le plus actif de ses facultés72). Expérience verfügt jedoch über einen umfassenderen Geltungsbereich als analyse, da der Ausdruck unmittelbar in Beziehung zum revolutionären Geschehen gesetzt wird. Insofern ist aufschlußreich, daß die Verfechter der analyse, die idéologues, hinsichtlich des Ausdrucks expérience eine gemäßigte Position vertraten. Im sozialwissenschaftlichen Bereich gaben sie dem Ausdruck observation und nicht expérience den Vorzug und traten f ü r eine Société des Observateurs de l'homme ein 73 ). Blickt man zurück auf die äußerst komplexe Bedeutungsentwicklung der Ausdrücke analyse und expérience in dem hier untersuchten Zeitraum, ist besonders ihre kontinuierliche Aufwertung und Konsolidierung im ausgehenden 18. Jahrhundert hervorzuheben. Sie kommt vor allem in einer weiteren Ausdehnung des Geltungsbereiw
) Schulpolitische Adresse der ,Société des Jeunes Gens français' an den Pariser Jakobinerclub vom 7. X. 1791, unterzeichnet von L. Bourdon ( A U L A R D : Jacobins, III 173). 70 ) Prospekt der Décade philosophique (1794), zitiert nach M. RÉGALDO: Un milieu intellectuel: la, Décade philosophique', 1794-1807, Lille/Paris 1976, IV 609. 71 ) DIDEROT [54], XLVIII. 72 ) D A U N O U : Essai sur la constitution, Paris 1793. 73 ) Die Gesellschaft bestand von 1800 bis 1805. 38
33
Analyse, Expérience
ches von analyse und in der Frequenz des Auftretens von expérience in der gesellschaftspolitischen Argumentation zum Ausdruck. Im 19. Jh. sollten Hypothesen dann z.B. bei dem Physiologen Claude Bernard eine neue Funktion erhalten, die sich von der aufklärerischen Auffassung von wissenschaftlicher Methode deutlich unterschied.
Literatur L'illuminismo francese e la tradizione logica di PortRoyal. Bologna 1982. - The Analytic and the Synthetic as Linguistic Topics, in: Topoi 4, 1985,193-199. B . CARRARD: Essai qui a remporté le prix de la société hollandaise de science de Harlem en 1770, sur cette question: Qu'est-ce qui est requis dans l'art d'observer et jusques où cet art contribue-t-il à perfectionner l'entendement? Amsterdam 1777. J . - C . CHEVALIER: Grammatical Analysis and Logical Analysis in France, in: Topoi 4,1985,187-191. F . DUCHESNEAU: La Physiologie des Lumières. Empirisme, Modèles et Théories. Den Haag 1982. F.-B. DE FELICE: Leçons de Logique. Yverdon 1770,2 Bde. G. FUNKE: Analyse und Synthese im französischen rationalistischen Sensualismus, in: Philosophia naturalis III. 1954, H. 1, S. 70-97. G . GIRARD: Les vrais principes de la langue françoise: ou La parole réduite en méthode, conformément aux loix de l'usage. Paris 1747, 2 Bde. J.-P. GOCHET: La clef des sciences et des Beaux-Arts, ou la logique. Paris 1750. A . GUINOT: Leçons Philosophiques, ou le germe des connaissances humaines dans ses premiers développements. De la Logique. Nancy 1778,2 Bde. G . GUSDORF: La conscience révolutionnaire. Paris 1978. A. HAUCHECORNE: Logique Française pour préparer les jeunes gens à la rhétorique. Paris 1784. O . KEEL: Les conditions de la décomposition .analytique' de l'organisme: Haller, Hunter, Bichart, in: Les Etudes philosophiques 1. 1982, 37-62. S . AUROUX:
39
Analyse, Expérience
34
Analyse et genèse: regards sur la théorie du devenir de l'entendement au 18e siècle, in: Cahiers pour l'Analyse 4.1966,47-
J . MOSCONI:
82.
N. REGNAULD: Logique en forme d'entretien, ou l'art de trouver la vérité. Paris 1742. C . SALOMON-BAYET: L'Institution de la Science et l'Expérience du Vivant. Paris 1978. J . SENEBIER: L'art d'observer. Genf 1775. C . STOECKLIN: L'Analyse: Formation, succès et limites d'un concept méthodologique. Des encyclopédistes à la Révolution française. Basel 1980. G. TONELLI: Analysis and Synthesis in Eighteenth Century Philosophy prior to Kant, in: ABG 20.1976,178-213.
40
Cosmopolite, Cosmopoli(ti)sme GERD VAN DEN HEUVEL I. II. III. IV. V.
Einleitung Der ¡philosophe'als ¡cosmopolite'in der Aufklärung Der ¡cosmopolite'als Individualist und Libertin ¡Patriotisme'contra ¡cosmopolitisme'bei Rousseau Kosmopolitischer, Internationalismus ' und die revolutionäre Aufwertung des Weltbürgertums (Ende des Ancien Régimes bis ca. 1792) VI. Diskreditierung des, Weltbürgers' als Feind der Revolution (1793/94) VII. Politische Ablehnung und literarhistorische A ufwertung des ¡Kosmopolitismus' (1795 -1830)
1 3 5 6
7 10 13
I. Einleitung Anknüpfend an die antiken Traditionen des ,Kosmopolitismus', wie sie gegründet auf die Überzeugung von der natürlichen Gleichheit aller zufällig in verschiedenen staatlichen Gebilden zusammengefaßten Menschen bei Piaton, Antiphon, Sokrates, Xenophon, Cicero u. a. zum Ausdruck kamen 1 ), formulierten neben anderen Erasmus von Rotterdam und Montaigne die Ideale einer die nationalen Gegensätze überbrückenden Weltgesellschaft und einer Völkerverbrüderung, die nicht mehr, wie im Mittelalter die Civitas Dei des Augustinus, als gottgewollte Aufgabe begriffen wurden, sondern laizistisch als freie Entscheidung von Individuen für Humanität und Toleranz2). Das von wenigen europäischen Philosophen und Staatstheoretikern im 16. und 17. Jh. angesichts wachsender nationaler und religiöser Konflikte auf unterschiedliche Weise thematisierte Ideal des Weltbürgertums' und des weltoffenen Kosmopoliten' 3 ), das nach Meinung von Cyrano de Bergerac gerade der honnête homme sich zu ei') H . J. BUSCH/A. HORSTMANN: Artikel „ K o s m o p o l i t , Kosmopolitismus",
in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, IV, Sp. 1155-58. 2
) E b d . 1 1 5 8 F ; SCHLERETH, X X I f f U. X V I I - X I X .
3
) Siehe
z . B . Eméric CRUCÉ: Le Nouveau Cynée (1624); Guillaume PoDe orbis terrarum concordia (1544); Jean BODIN: Colloquium heptaplomeres (1593). Siehe dazu SCHLERETH, X X I I .
STEL:
41
Cosmopolite, Cosmopolitisme
2
gen machen sollte4), erlangte gesamteuropäisch - aber immer beschränkt auf einen kleinen Kreis von Intellektuellen - stärkere Resonanz im Zeitalter der Aufklärung. Besonders durch umfangreiche internationale wissenschaftliche Korrespondenzen, erste Periodika, die im gesamten, von französischer Kultur und Sprache geprägten Europa Verbreitung fanden, sowie persönliche Kontakte zahlreicher Gelehrter konkretisierte sich seit dem letzten Drittel des 17. Jh. das Wunschbild eines freien, grenzüberschreitenden Austausches von Menschen und Ideen. Allerdings: Die These, daß das 18. Jh. das Zeitalter der .Kosmopoliten' und des ,Kosmopolitismus' gewesen sei5), läßt sich an den historischen Quellen nur mit großen Einschränkungen belegen. Selbst die angeblich so internationale République des lettres blieb in Frankreich weithin in nationaler Begrenzung befangen, wie die geringe Zahl ausländischer Mitglieder der Provinzialakademien zeigt; und auch die Bildungsreisen der Oberschicht erreichten nicht die gelegentlich vermutete Internationalität6). Cosmopolite als Begriff für den sich an keine Nation gebunden fühlenden Weltbürger oder den abwechselnd in verschiedenen Ländern lebenden Menschen ist im französischen Sprachraum erstmals 1560 nachgewiesen7), konnte sich aber gegenüber synthetischen Begriffsbildungen wie citoyen du monde bis zum Anfang des 18. Jh. nicht durchsetzen8), wurde erst 1721 vom Dictionnaire de Trévoux erstmals lexikalisch verzeichnet und 1762 mit deutlich abwertendem Akzent in das Dictionnaire de l'Académie française aufgenommen9). 4
) „Un honnest homme n'est ni François, ni Aleman, ni Espagnol, il est citoyen du monde, et sa patrie est par tout." Brief an den Sohn von F. de la Mothe le Vayer aus dem Jahre 1 6 4 8 . Zitat nach F. LACHÊVRE: Les œuvres libertines de Cyrano de Bergerac, 2 Vol., Paris 1921, II280. 5 ) P. HAZARD: Die Herrschaft der Vernunft. Das europäische Denken im 18. Jahrhundert, Hamburg 1949, S. 350-52. 6 ) D. ROCHE: Le Siècle des Lumières en Province, T. I—II, Paris 1978, S. 300-22. 7 ) Im Titel eines Buches De la République des Turcs [...] par Guillaume Postel, Cosmopolite, Poitiers 1560. 8 ) So bezeichnete sich z.B. Leibniz gegenüber Christian Habbeus in Paris 1676 als „un Amphibie, tantost en Allemagne, tantost en France, ayant, Dieu mercy de quoy m'arrester pour quelque temps, de part et d'autre." Vgl. G. W. LEIBNIZ: Sämtliche Schriften und Briefe (Akademieausgabe), Reihe I, Bd. 1 (1923), S. 445 (14. II. 1676). ' ) P . HAZARD: „Cosmopolite", S. 3 5 6 . - „COSMOPOLITE. Celui qui n'adopte point de patrie. (Un Cosmopolite n'est pas un bon citoyen)." Dict. Acad. ( " 1 7 6 2 , ed. 1 7 7 7 ) , 1 2 6 8 . 42
Cosmopolite, Cosmopolitisme
3
II. Der ,philosophe' als ,cosmopolite' in der Aufklärung War das Selbstverständnis der Aufklärer das einer intellektuellen, durch den Gebrauch der raison gekennzeichneten und der humanité, tolérance und bienfaisance verpflichteten Elite, die sich über alle Grenzen hinweg und jenseits aller nationalen Egoismen als „petite troupe des philosophes" (Voltaire) zum Vorreiter des Fortschritts der gesamten Menschheit erklärte, so folgte daraus, daß ein wesentliches Attribut des philosophe und des homme de lettres seine kosmopolitische Einstellung war19). So definierte d'Alembert den homme de lettres als einen „écrivain cosmopolite"11), und die Encyclopédie beschrieb den cosmopolite als „homme qui n'a point de demeure fixe, ou bien un homme qui n'est étranger nulle part" und verwies im übrigen auf das Stichwort philosophe12). Voltaire, Montesquieu, Hume, Franklin, Lessing und die Encyclopédistes13), sie alle bezogen in ihr Selbstverständnis die Rolle des cosmopolite, des im Grunde nirgendwo gebundenen Intellektuellen mit ein, der seine Wahlheimat dort sieht, wo er in freier Kommunikation mit Gleichgesinnten sich entfalten kann. So schrieb Hume aus Paris: „I am a citizen of the World; but if I were to adopt any country, it would be that in which I live at present"14). Getragen und zusammengehalten wurde diese Gemeinschaft der philosophes nicht zuletzt von einer in ganz Europa und auch Nordamerika verbreiteten Publizistik, die von Bayles Nouvelles de la République des lettres (1684) über das Journal étranger bis zum Journal encyclopédique (bis 1793) reichte15). Besaß der cosmopolite einerseits keine nationalen Vorurteile, so spielten andererseits für ihn auch soziale Unterschiede der gemeinsamen Idealen verpflichteten philosophes in der egalitären Salonkultur 10
) „Si je savais une chose utile à ma nation qui fut ruineuse à une autre, je ne la proposerais pas à mon prince, parce que je suis homme avant d'être Français, (ou bien) parce que je suis nécessairement homme et que je ne suis Français que par hasard." MONTESQUIEU: Mes Pensées, No 10 (ca. 1720-34), in Ders.: Œuvres (Seuil), 855. n ) Eloge de la Motte. Zitat nach A. HATZFELD: Dictionnaire Général de la Langue Française, T. I—II. Paris 1890,1553. 12 ) Enc., IV (1754), 297. 13
) SCHLERETH, b e s . 1 - 4 6 .
14
) Hume an Gilbert Elliot am 2 2 . September
1764.
Zitat nach
SCHLERETH,
S. 3. 15
Le ,Journal étranger' dans l'histoire du cosmopolitisme littéraire, in: SVEC 56.1967, S. 783-97.
) M . R . DE LABRIOLLE:
43
Cosmopolite,
Cosmopolitisme
4
keine Rolle. Nach Diderot fand man dort den wahren cosmopolite, den citoyen du monde, und jeder Fremde konnte unabhängig von Name und Verdienst dort die größte Gastfreundschaft erwarten 16 ). Das Selbstverständnis des cosmopolite und die Auffassung von dem, was cosmopolitisme sei, beinhaltete aber nicht ein politisches Programm in dem Sinne, daß eine Überwindung der noch kaum voll entwickelten Nationalstaaten angestrebt wurde. ,Kosmopolitismus' dokumentierte sich in einer Anteilnahme am Fortschritt aller Nationen, war somit international und nicht programmatisch anti-national orientiert. In diesem Sinne sahen sich auch die Physiokraten, indem sie den Freihandel proklamierten, als „philosophes économistes, essentiellement cosmopolites" 17 ), - eine Selbstdarstellung, die ihre konservativen, den Parlamenten nahestehenden Gegner in den Vorwurf .philosophischer Hypokrisie' umkehrten („ce cosmopolisme, par lequel ils prétendent au titre de Philosophes par excellence"18) und den économistes den Begriff des cosmopolite geradezu als Schimpfwort entgegenwarfen. Demgegenüber sah die vom Disput um die économistes nicht beeinflußte, 1770 anonym erschienene Schrift Le Cosmopolisme, den cosmopolite nicht nur als Förderer des progrès in seinem Einflußbereich, sondern auch als denjenigen, der Anteil an jeder Errungenschaft nimmt, die der Menschheit dienlich ist: Un vrai Cosmopolite jouit de tous les biens qui surviennent à ses semblables; rien n'est indifférent à son cœur, il se dilate sur la terre entière, il croit assister à tous les triomphes de la vertu et de la vérité sa compagne: aux moindres édits publiés par un Monarque en faveur de ses sujets, il tressaille, bénit le Ciel avec eux et partage leur reconnoissance19). ) DIDEROT: Salon de 1765. Zitat nach SCHLERETH, 1 3 . ) Ephémérides, Bd. 6, S. 97 (No VII vom 22. IX. 1766). Siehe ähnliche Stellungnahmen von Mirabeau, Dupont, Montaudouin bei G. WEULERSSE: Le Mouvementphysiocratique en France, de 1756 à 1770 (1910). T. I-II. Paris/La Haye 1968, II 102f. 18 ) B É A R D É DE L'ABBAYE: Recherches sur les moyens de supprimer les impôts, précédées de l'examen de la Nouvelle Science. Paris 1770, S. 89. Siehe auch Forbonnais im Journal d'Agriculture vom Juli 1768, S. 17 und Abbé R O U B A U D : Représentations aux magistrats, concernant l'exposition des faits relatifs au commerce des grains. Paris 1769, Note S. 261, die beide den Physiokraten einen .kosmopolitischen Individualismus' vorwarfen. 19 ) L'Anglois à Paris. Le Cosmopolisme, publié à Londres à l'occasion du mariage de Louis Auguste, Dauphin de France. Ouvrage traduit de l'Anglois, Amsterdam 1770, S. 52. 16
17
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Cosmopolite, Cosmopolitisme
5
Diese zwar emphatische, im übrigen aber noch ganz auf die obrigkeitliche Initiative zur gesellschaftlichen Veränderung vertrauende Stellungnahme kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß der .Kosmopolitismus' ein Ideal mit recht vagen Konturen blieb, der Begriff in seinen äußerst heterogenen Bedeutungselementen niemals ein wirkliches Programm der Aufklärung bezeichnete, und selbst seine Protagonisten in ihrem praktischen Verhalten - man denke nur an Voltaires Abneigung gegen Juden oder Humes Verunglimpfung der Iren nationalen Vorurteilen weiterhin verhaftet blieben. III. Der ,cosmopolite' als Individualist und Libertin Wie in der allgemein gehaltenen Definition der Encyclopédie bereits zum Ausdruck kommt, blieb der Begriff des cosmopolite nicht auf den engeren Kreis der philosophes beschränkt, sondern bezeichnete daneben auch im 18. Jh. den weltgewandten, sich überall und in jeder Situation zurechtfindenden .Weltbürger' der, wie Fougeret de Mon» bron ihn autobiographisch in seiner 1753 erschienenen Schrift Le Cosmopolite ou le Citoyen du Monde20 beschrieb, ständig auf Reisen ist, sich bei allen Völkern und in allen Kulturen heimisch fühlt, galante Abenteuer sucht, ohne jemals feste Bindungen einzugehen, sich über etablierte Religions- und Moralvorstellungen hinwegsetzt und in jeder Hinsicht seine Individualität auslebt: Tous les pays me sont égaux, pourvu que j'y jouisse en liberté de la clarté des Cieux, et que je puisse entretenir convenablement mon individu jusqu'à la fin de son terme. Maître absolu de mes volontés, et souverainement indépendant, changeant de demeure, d'habitude, de climat, selon mon caprice, je tiens à tout et je tiens à rien21).
Anders als der kosmopolitisch orientierte philosophe, der seine Existenz und sein Tun auf eine umfassende bienfaisance und tolérance und damit allen Menschen zugutekommende utilité publique gründet, kennt Monbron als cosmopolite keine ethischen, der Allgemeinheit verpflichteten Normen seines Handelns: Qu'ils m'applaudissent, ou non, mon amour propre n'en sera ni flatté, ni humilié. L'estime des humains dépend de si peu de chose; on l'acquiert et on la perd si aisément, que l'acquisition n'en vaut pas les fraix, quelque mediocres ^ London 1753. 21 ) Ebd. 164. 45
Cosmopolite,
Cosmopolitisme
6
qu'ils puissent être. Veut-on que je m'explique d'une manière plus affirmative? Je méprise trop les hommes pour ambitionner leur approbation et leurs applaudissemens22).
IV. ,Patriotisme' contra »cosmopolitisme' bei Rousseau Waren die philosophes überzeugt, durch universelle Anteilnahme am Geschick aller Menschen und mit Hilfe einer internationalen République des lettres die Aufklärung ungeachtet der jeweiligen politischen Systeme individuell jedem Menschen vermitteln zu können und so zum Fortschritt der Menschheit beizutragen, so verurteilte R O U S S E A U in seiner politischen Philosophie diesen ,Kosmopolitismus' aufgrund seines idealistischen, die wahre ,Natur' und die wirklichen Bedürfnisse und Interessen der Menschen verkennenden Charakters und setzte dem cosmopolitisme das Ideal des patriotisme in einer überschaubaren, autarken, zuallererst um das Wohl der eigenen Staatsbürger besorgten Republik entgegen. Für Rousseau war der cosmopolite ein asoziales, egoistisches Wesen, das durch die universelle Ausdehnung seiner Anteilnahme am Schicksal der Menschheit zu einer wesentlichen Tugend, dem Mitleid (commisération) gegenüber seinen Nächsten nicht mehr fähig war und zugleich die Tugend des Staatsbürgers, den Patriotismus einbüßte 23 ). Er verurteilte diese „prétendus cosmopolites, qui, justifiant leur amour pour la patrie par leur amour pour le genre humain, se vantent d'aimer tout le monde, pour avoir droit de n'aimer personne" 24 ). Rousseau sah im ,Kosmopolitismus' keinen realen Bezugspunkt zum Leben, ja nach seiner Meinung verhinderte eine kosmopolitische Einstellung gerade, daß die Menschen sich in kleinen, den Interessen aller Mitglieder dienenden und durch die volonté générale regierten Gemeinwesen zusammenschlössen; zudem widerspreche der ,Kosmopolitismus' der n a türlichen Veranlagung' des Menschen: Il est certain que le mot de genre humain n'offre à l'esprit qu'une idée purement collective qui ne suppose aucune union réelle entre les individus qui le 22
) Ebd. 165. I. FETSCHER: Rousseauspolitische Philosophie, Frankfurt/M. 31975,bes. S. 75-82, 118-127, 204-07. - Die positiven Aussagen Rousseaus zum ,Kosmopolitismus' datieren vor dem Bruch mit den Encyclopédistes. Siehe dazu P. HAZARD: „Cosmopolite", 358f. 24 ) Du Contrat Social (Manuscrit de Genève, Livre I, Chap. II), verf. ca. 1 7 5 6 - 6 0 . In: J . J. ROUSSEAU: Œuvres (ed. Launay), II 3 9 5 . 23
46
)
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Cosmopolite,
Cosmopolitisme
constituent. [...] Si la société générale existait ailleurs que dans les systèmes des philosophes, elle serait [...] un être moral qui aurait des qualités distinctes de celles des êtres particuliers qui la constituent25). Und im Émile warnte Rousseau: „Défiez-vous de ces cosmopolites qui vont chercher au loin dans leurs livres des devoirs qu'ils dédaignent de remplir autour d'eux. Tel philosophe aime les Tartares, pour être dispensé d'aimer ses voisins"26). Die auf Rousseau zurückgehende Ablehnung des .Kosmopolitismus'27) bildete fortan den Gegenpol zur optimistischen Beurteilung der Wirkungsmöglichkeiten einer internationalen Aufklärung durch die Encyclopédistes. Von einigen Vermittlungsversuchen zwischen kosmopolitischer und patriotischer Einstellung abgesehen 28 ), bildeten die Begriffe patriote und cosmopolite am Ende des Ancien Régime und verstärkt in der Revolution ein Gegensatzpaar.
V. Kosmopolitischer »Internationalismus' und die revolutionäre Aufwertung des Weltbürgertums (Ende des Ancien Régime bis ca. 1792) Stand der ,Kosmopolitismus' in der auf Rousseau zurückgehenden Bedeutung als politisch-philosophisches Ideal dem ,Patriotismus' diametral gegenüber, so blieb daneben eine neutralere Konnotation, Ebd. 393. Emile ou de l'Education (1762), in: Œuvres (ed. Launay), III 21.
„COSMOPOLITE. On a voulu exprimer par ce grand mot le sentiment d'une bienfaisance universelle. Mais qui croirait qu'un mot si imposant fût inventé par l'égoisme? La philosophie moderne nous rend citoyens du monde, & nous fait regarder l'amour de la patrie, comme un sentiment mesquin. Le philosophe a pour concitoyens tous les hommes; il aime avec une tendre humanité le Lapon & l'Orang-Outang qu'il ne verra jamais, afin de regarder comme étranger son compatriote qu'il voit tous les jours" (CLÉMENT, 1788,168f.). M ) „Cosmopolite. Citoyen de l'univers. Titre qui convient admirablement bien au Philosophe. Le Sage n'a point de patrie. Sa patrie c'est l'univers et ses concitoyens tous les hommes. Il parle pourtant toujours de Patrie, et il a fort à cœur la gloire de la nation" (CHAUMEIX, 57). - Skeptischer und eher an den realen Möglichkeiten zur Überwindung internationaler Konflikte orientiert, betrachtete VOLTAIRE 1765 den Weltbürger: „Souhaiter la grandeur de son pays, c'est souhaiter du mal à ses voisins. Celui qui voudrait que sa patrie ne fut jamais ni plus grande, ni plus petite, ni plus riche, ni plus pauvre serait le citoyen de l'univers". Dict. philos., Stichwort „Patrie" (1764), S. 337.
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Cosmopolite, Cosmopolitisme
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etwa zur Bezeichnung dessen, was wir heute als ,international' bezeichnen würden, bestehen. Als cosmopolite par excellence galt der Fernhandelskaufmann (commerçant), doch kosmopolitisch orientiert war er aufgrund seiner weltweiten Tätigkeit, nicht etwa, weil er als ,vaterlandsloser Geselle' zu betrachten war: „Le terme de cosmopolite ne doit pas être regardé comme une injure! je parle ici des choses et non des personnes, de la profession du commerçant et point du tout de ceux qui l'exercent"29). Cosmopolites im negativen Sinne waren hingegen die banquiers, die ihr Geld ins Ausland brachten und damit ungeachtet aller nationalen Interessen spekulierten („magiciens dangereux, cosmopolites hardis"30). Als Publikationsorgan internationaler Nachrichten verstand sich die am 15. Dezember 1791 erstmals erschienene Zeitung Le Cosmopolite ou Journal Historique, Politique et Littéraire, die keineswegs ein politisches Programm des ,Kosmopolitismus' entwickelte, sondern neben Berichten über Theater, die Nationalversammlung und Ereignisse aus den Départements ausgiebig Neuigkeiten aus dem Ausland verbreitete31). Die begeisterte Resonanz, welche die Revolution bei ihrem Ausbruch in ganz Europa fand, und die verbreitete Auffassung, sie sei das Ergebnis der Aufklärung, deren Prinzipien zwar in Frankreich zuerst verwirklicht, aber in Zukunft für alle Länder universell anwendbar seien, führte zu einer Wiederbelebung des nunmehr politisch konkret faßbaren Ideals des Weltbürgertums32). Dies kam nicht nur darin zum Ausdruck, daß Persönlichkeiten aus ganz Europa in Paris, der Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques (1767), ed. E. Depitre, Paris 1910, S. 373. (Seitenzählung nach Ausg. 1767); Zur Aufwertung des kosmopolitischen commerçant siehe auch Dupont de Nemours im Journal d'Agriculture (Mai 1766), S. 70 und A. MONGLOND: Le Préromantisme français, T. I—II, Grenoble 1930, II 86f. - Im gleichen Sinne verstand sich auch A. Cloots als Weltbürger: „On me dit tous les jours: Que vous soyez cosmopolite, rien de plus naturel: vous avez des terres en Prusse, des maisons en Hollande, des fonds en Angleterre, en France, en Espagne, en Autriche et dans les Etats du Nord." (A. CLOOTS: Voeux d'un Gallophile, Amsterdam 1786, S. 178). M ) MERCIER: Tableau, I I (1783), S. 68. - „Le banquier est un cosmopolite qui a deux patries, l'une où il trouve l'argent à bon marché, et l'autre où il le vend fort cher." ( B A C H . , X V 218 [22. V I . 1780]). 31 ) Von Proly gegründet, Red. J. M. J. Régnier und P. M. Lenoble. Die Zeitung erschien bis zum 31. III. 1792. 32 ) Allerdings wurde Cosmopolit(ism)e kein zentraler politischer Kampfbegriff und erschien kaum in revolutionären Pamphletlexika. 29
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) L E MERCIER DE LA RIVIÈRE:
Cosmopolite, Cosmopolitisme
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Hauptstadt der Revolution, zusammenströmten, sondern auch in den Diskussionen der Nationalversammlung, z.B. zur Abschaffung der Sklaverei, zur Ablehnung von Angriffskriegen und in den zahlreichen Vorschlägen, völkerbundähnliche Institutionen zu schaffen. Jeder Franzose erschien z. B. dem Feuilletonisten Beffroy de Reigny als Verkörperung überall anteilnehmender Weltoffenheit, und in der Diskussion um die Religionsfreiheit im Jahre 1791 wurden dem .bornierten Absolutheitsanspruch' einzelner Religionen ein durch Einsicht gewonnener und von Toleranz geprägter „Culte cosmopolite" und eine „Morale universelle" entgegengestellt33). In den Jahren 1790 und 1791 agitierte der aus einer Freimaurerloge hervorgegangene Cercle Social mit Nicolas de Bonneville und Claude Fauchet an der Spitze in seinem Publikationsorgan Bouche de Fer für eine Völkerverbrüderung, eine Abschaffung der Nationalstaaten und eine universelle Demokratie, löste sich aber bereits Ende 1791 auf34). Die über ganz Europa verstreuten, dem Pariser Jakobinerclub assoziierten Volksgesellschaften konnten sich zumindest bis 1792 als „Concitoyens du Monde" ansprechen, einig in der Ablehnung der bisherigen Regierungssysteme und im Eintreten für die „fraternité du genre humain"35). Selbst der Krieg gegen das europäische Ausland vermochte 33
) Vergl. nacheinander: Brief aus Deutschland an den Cercle social, in dem der anonyme Autor seiner Hoffnung auf eine baldige „Confédération universelle" und einen „ordre cosmopolitique" Ausdruck gab, die Kriege überflüssig machen würden (Bouche de Fer, No 1 [3.1.1791], 1215); COUSIN JACQUES [d.i.: BEFFROY DE REIGNY]: Courrier des Planètes, Sec. année, No 67 (1. VIII. 1789): De la Liberté du Culte, Paris 17. X. 1791, S. 17. - Bezeichnenderweise erschien auch zu Beginn der Revolution im Jahre 1789 Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) erstmals in französischer Übersetzung von Charles de Villiers im Spectateur du Nord unter dem Titel Idée de ce que pourrait être une histoire universelle dans les vues d'un citoyen du monde. Vgl. D. HOEGES: Der vergessene Rest. Tocqueville, Chateaubriand und der Subjektwechsel in der französischen Geschichtsschreibung, in: HZ 238 (1984), S. 287-310, hier S. 302. M ) Zum Gedanken der „révolution universelle" unter der Leitung der cosmopolites siehe Bouche de Fer, No 34 (23. III. 1791), 545; No 91 (13. VII. 1791), 3; No 92 (14. VII. 1791), lf. Dazu auch: MATHIEZ: Etrangers, S . 43 und MONGLOND [Anm. 29], S . 127; sowie G. KATES: The Cercle social, the Girondins, and theFrench Revolution, Princeton 1985. 35 ) Adresse de la Société Constitutionnelle de Londres à la Société des Amis de la Constitution, séante aux Jacobins, à Paris vom 27. V. 1792 (AuLARD: Jacobins III 621-23). - Im selben Tenor auch Marat im Ami du Peuple No 96 (13.1.1790), 2.
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Cosmopolite, Cosmopolitisme
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anfänglich die Begeisterung für eine Verbrüderung der Völker nicht zu beeinträchtigen, ja wurde gerade zum Motor des revolutionären Messianismus, war er doch ein Krieg gegen die,Tyrannen', an dessen Ende ein „Congrès des peuples [...] soit en France, soit en Angleterre, soit en Pologne"36) stattfinden sollte. Ausgangs- und Mittelpunkt konkreter kosmopolitischer Programme blieb jedoch stets Frankreich, so auch bei Anacharsis Cloots, einem preußischen Baron, der am 26. September 1792 zusammen mit 17 anderen citoyens du monde die französische Staatsbürgerschaft zugesprochen erhielt, sich selbst als „orateur du genre humain" titulierte und für die „République universelle", eine zentral gelenkte Assoziation aller europäischen Völker eintrat37). Cloots sah die Verwirklichung seiner Ideen jedoch nur durch die Expansion Frankreichs und die gewaltsame Befreiung der unterdrückten Völker aus den Händen der .Tyrannen' gewährleistet, was schließlich Robespierre als „rage des conquêtes" bezeichnete38). Cloots bis Ende 1793 reichende Propaganda für die „République universelle", die regiert werden sollte durch ein „gouvernement fraternel [qui] ne sera qu'un vaste bureau central de correspondance, pour avertir officiellement les cosmopolites de tous les événémens qu'il importe de savoir"39), brachte ihm die Denunziation als angeblicher preußischer Spion ein und führte schließlich zu seiner Hinrichtung am 24. März 1794. VI. Diskreditierung des Weltbürgers als ,Feind der Revolution' (1793/94) Blieb eine Abneigung gegen die cosmopolites auch während der Jahre 1789-92 latent vorhanden40), definierte ein gemäßigtes, pro-reM
) AULARD: Jacobins, IV 118f (20. VII. 1792); siehe auch ebd., II 605. ) A. CLOOTS: La République universelle ou Adresse aux Tyrannicides, Paris 1792. Siehe dazu AULARD: Jacobins, IV 521-25 (Sitzung vom 26. XI.
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1 7 9 2 ) . Z u C l o o t s vgl. MATHIEZ: Etrangers,
4 8 - 5 7 ; C h . DEDEYAN: Le
Cosmopolitisme européen sous la Révolution et l'Empire, T. I—II, Paris 1976, I 229-31; A. SOBOUL: Anacharsis Cloots, in: AHRF 52. 1980, S. 29-58. - Die Idee der „République universelle" proklamierte auch eine Abordnung Savoyens im Jakobinerclub anläßlich des Anschlusses an Frankreich (AULARD: Jacobins, IV 436-38, Sitzung vom 8. X. 1792). M
) ROBESPIERRE, X 2 4 8 ( 1 2 . X I I . 1 7 9 3 ) . 39 ) CLOOTS [ A n m . 37], 58.
^ So Mounier in der Debatte der Nationalversammlung vom 3. IX. 1789: „Les représentants et les sénateurs devraient être Français ou naturali50
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volutionäres Pamphletlexikon den cosmopolite 1791 als überall gehaßten ,vaterlandslosen Gesellen'41), und wurden auch bereits Ende 1792 durchaus begründete Argumente politischer, geographischer und ethnischer Art gegen eine kosmopolitische' Annexionspolitik des revolutionären Frankreich vorgetragen42), so ist eine radikale Ablehnung des weltoffenen, Ausländern gegenüber aufgeschlossenen cosmopolite und eine Verfolgung der ,,agitateur[s] cosmopolite^]" 43 ) doch erst 1793 erkennbar. Je erbitterter der Krieg geführt wurde und je stärker die revolutionäre Ideologie von der Verschwörung des Auslandes' und der .Tyrannen' geprägt war, desto mehr erwies sich die Ausländerfeindlichkeit als einigendes, Identifikation mit einer .einzigartigen französischen Nation' stiftendes Bindeglied zwischen Jakobinern und Sansculotten, die auch innenpolitisch die Volksschichten gegen die modérés und die, etwa in Toulon, mit dem Ausland paktierenden fédéralistes mobilisierte. Wurden bereits die militärischen Niederlagen im Frühjahr 1793 in der öffentlichen Meinung den „Agents de l'étranger" zugeschrieben, so konnte z. B. auch der Abgeordnete M A Z U Y E R auf breite Resonanz hoffen, als er gegen den Artikel XXIV/3 der Verfassung von 1793 („Le Peuple français protège les étrangers, bannis de leur patrie pour la cause de la liberté") mit dem Hinweis polemisierte, dies sei ein „cosmopolitisme du jour", eine „philanthropie puérile"44). Schließlich besiegelte auch der Konventsbeschluß vom 15. September 1793, die „idées philosophiques" in der Kriegsführung fallenzulassen „[et] de suivre à la rigueur les lois de la guerre dans les pays conquis"45), die Abkehr von
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sés. Il faudrait être un zélé cosmopolite pour soutenir que les étrangers sont éligibles. Ou détruit les affections des hommes quand on veut trop les généraliser [...] Il faut aimer son pays pour le servir avec ardeur." (Moniteur No 51 [4. IX. 1789], 421). „Habitant de la terre. Ubi bene ibi Patria. Il y a dans ce moment-ci, une foule de vrais cosmopolites qui courent la pretentaine. Ils peuvent se vanter de trouver leur patrie par-tout; car par-tout on les siffle, par-tout on les hait." (Portefeuille du Bon-Homme, 1791, 33f.). Rév. Paris No 178(1.-8. XII. 1792), 488-93. Diefiév. Paris nahmen damit Argumente wieder auf, die Robespierre 1791/92 gegen den Krieg vorgebracht hatte. Ann. patriotiques, No 240 (29. VIII. 1793), 1103. MATHIEZ: Etrangers, S. 135f. Und Mazuyer fuhr in der Konventssitzung vom 11. VI. 1793 fort: „N'avilissons pas la dignité du nom français en le produigant au hasard, en l'accordant sans examen à cette foule d'aventuriers qui n'est que la fange et la boue des Nations." (AP, 66, S. 430f.) Moniteur No 261 (18. IX. 1793), 673. 51
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kosmopolitischen Befreiungsansprüchen und die Hinwendung zu unverblümter Annexionspolitik. Der Begriff des cosmopolite bezeichnete in den Jahren 1793/94 im Gebrauch der Mehrheit der Jakobiner und Sansculotten den der Revolution zumindest gleichgültig gegenüberstehenden Menschen, der sich durch wie immer geartete Beziehungen zum Ausland verdächtig machte. So wurde von einer Pariser Sektion die Ausstellung eines certificat de civisme für einen Mann namens Revel abgelehnt, weil man sich fragte, „si un homme qui se dit avoir été successivement à la suite de Cagliostro, de Rousseau, promenant son être de pays en pays, tantôt en Europe, tantôt aux Grandes-Indes, ne doit pas être regardé comme un cosmopolite, C'est à dire un homme qui, à proprement parler, n'a point de patrie, et ne peut s'attacher à aucun gouvernement"46). In gleicher Weise galt auch derjenige als suspekt und lief Gefahr, unter die Emigrantengesetze zu fallen, dem seit Beginn der Revolution Auslandsreisen nachgewiesen werden konnten. Ein Sturm der Entrüstung brach los, als die Heirat des Konventsabgeordneten Chabot mit einer jüdischen Bankierstochter aus der Habsburger Monarchie bekannt wurde; diese .Mésalliance' trug wesentlich dazu bei, daß Chabot als Agent des Auslandes angeklagt und hingerichtet wurde47). Diese besonders in den Grundschichten stark verwurzelte Xenophobie, die sich in den Tiraden Héberts gegen England oder gegen die „Autrichienne" während des Prozesses gegen Marie-Antoinette entlud und nicht wenig zum Erfolg des Père Duchesne beitrug, wurde allerdings kaum in der Ablehnung eines für die Sansculotten inhaltlich wenig faßbaren, abstrakten und bereits im Ancien Régime sozial sehr restringiert verwandten cosmopoli(ti)sme begrifflich gefaßt. 46
) Zitat nach R. COBB: Quelques aspects de la mentalité révolutionnaire (avril 1793 - thermidor an II), in Ders.: Terreur et Subsistances 1793 1795, Paris (1964), S. 3-54, hier S. 36. 47 ) Stellungnahmen zu diesem Aspekt der Affäre Chabot: „Celui qui, au mépris de l'opinion publique, se revêt ainsi d'une femme étrangère, soumet d'avance son patriotisme au pouvoir de ses charmes, ne peut espérer d'une souche impure que des rejetons métis indignes d'être inscrits avec les enfants de la Patrie, et se dégradé enfin en s'impregnant des mœurs des Barbares [...]". Projet d'adresse du Club électoral vom 14. X I . 1793. Zitat nach COBB [Anm. 46], S. 38, Anm. 61; siehe auch die ironische Bemerkung Robespierres über den „généreux cosmopolite" in seiner nicht gehaltenen Rede über die Factions (ROBESPIERRE, X 404, ca. März 1794); MATHIEZ: Etrangers, 142 u. 152-62.
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Häufiger erschien stattdessen der Vorwurf des Verrats an patrie und peuple, des Mangels an patriotisme, eines Paktierens mit der .Verschwörung des Auslandes' oder der Verletzung der Pflichten eines citoyen'*8). Gerade zum Prototyp des revolutionsfeindlichen ,Weltbürgers' wurde der Priester stigmatisiert, der durch seine gesellschaftliche Absonderung und den Zölibat ohnehin als .asozial' verdächtig, womöglich als eidverweigernder Geistlicher den universalistischen, die Volkssouveränität untergrabenden Anspruch der katholischen Kirche verkörperte. Während der Dechristianisierungswelle des Jahres II wurden sie als „charlatans cosmopolites" 49 ) verfolgt und zwangsweise verheiratet, „pour faire cesser un cosmopolisme qui les isolait de la société" 50 ).
VII. Politische Ablehnung und literarhistorische Aufwertung des ,Kosmopolitismus' (1795 -1830) Wurde die Abneigung gegen jede Art des ,Kosmopolitismus' in der französischen Öffentlichkeit nach dem 9. Thermidor auch nicht mehr so vehement artikuliert wie zur Zeit der Jakobinerdiktatur und versuchte in den Jahren 1796-98 die Bewegung der Theophilanthropes noch einmal mit einem rationalistischen Deismus an die Ideale weltweiter Humanität, wie sie die Aufklärung bestimmt hatten 51 , anzuknüpfen, so blieb angesichts der permanenten Kriege und eines sich in ganz Europa ausbreitenden Nationalismus und Chauvinismus der cosmopolite faktisch diskreditiert. „Celui qui est atteint de Cosmopolisme, est privé des plus doux sentimens qui appartiennent au cœur de l'homme", resümierte 1801 L. S. MERCIER52), brachte damit aber auch zum Ausdruck, daß cosmopoli(ti)sme im 18. Jh. kaum ein Be**) COBB [ A n m . 4 6 ] , 3 6 - 3 8 . 49
) Le Bas am 14. XII. 1793 aus Strasbourg an Robespierre im Wohlfahrtsausschuß (AULARD: Comité, 1 X 4 0 6 ) .
50
) B o a u s C a s t r e s a m 2 0 . I V . 1 7 9 4 a n d e n W o h l f a h r t s a u s s c h u ß (AULARD:
Comité, XII712); siehe auch ders. am 22. V. 1794 aus Albi an den Wohlfahrtsausschuß. (Ebd. XIII686). 51 52
) SCHLERETH, 8 8 f . ) MERCIER: Néologie, 1 1 3 1 .
Auf dem Manuskriptzettel notierte Mercier noch: „Cosmopolisme: masque dont on apperçoit les cordons." (Arsénal, M s . 15088 [3]).
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griff für eine konkrete, realisierbare politische Doktrin gewesen war, sondern eher individuelle Überzeugungen und Verhaltensmuster bezeichnete. Als Gradmesser für die Entpolitisierung kosmopolitischer Ideale kann die gleichzeitige Verbreitung des Begriffs cosmopolitisme littéraire angesehen werden, der 1802 erstmals von L. S. Mercier gebraucht wurde: Heureux qui connaît le cosmopolitisme littéraire! Il se jette dans les grandes compositions de Shakespeare et de Schiller; Racine lui donne du plaisir et Eschyle du ravissement. Venez, Muses étrangères, au front libre, à l'attitude aisée, à la marche fière et décidée53).
War der Gedanke des Weltbürgertums zu Beginn der Revolution ein - wenn auch utopischer und nur von wenigen geteilter - Perspektivbegriff gewesen, so verflachte er nunmehr in dieser literarhistorischen Bedeutung zu einem Fachterminus der romanischen Philologie. Im gleichen Maße wie die Nationalstaaten und nationalstaatliches Bewußtsein sich verfestigten reduzierte sich das weltbürgerliche Ideal auf die Rückbesinnung auf gemeinsame europäische Kulturtraditionen. Daß aber auch ein .literarischer Kosmopolitismus' durchaus den Gedanken des Weltbürgertums aus Aufklärung und Revolution neu beleben und fortentwickeln konnte, bewies nicht zuletzt jener Schriftsteller, den sowohl Franzosen wie Deutsche zu den Ihren zählen, der sich selbst als .Kosmopolit' bezeichnete und sich zwischen Juli- und 48er Revolution mit Saint-Simonisten und Kommunisten im Bemühen um die Überwindung nationalstaatlicher Konfrontation einig wußte: Ich werde [...] alles Mögliche tun, um den Franzosen das geistige Leben der Deutschen bekannt zu machen; dieses ist meine jetzige Lebensaufgabe, und ich habe vielleicht die pazifike Mission, die Völker einander näher zu brin53
54
) Mercier im Vorwort zu: Jeanne d'Arc, ou la Pucelle d'Orléans, tragédie en cinq actes. Auteurs, Frédéric Schiller, poète allemand. Traducteur, Charles-Frédéric Cramer. Editeur, L. S. Mercier, de l'Institut national, Paris, an X -1802. Zitat nach: HAZARD: „Cosmopolite", 363. - Der Begriff des Cosmopolitisme littéraire bezeichnete in der romanischen Philologie des 19. Jh. im Grunde jede, wie auch immer geartete Interdependenz europäischer Literatur, ja selbst die Beschäftigung einzelner Autoren mit anderen Nationalcharakteren. Siehe z.B. J. TEXTE: JeanJacques Rousseau et les origines du Cosmopolitisme littéraire (1895), Repr. Genève 1970.
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gen. Das aber fürchten die Aristokraten am meisten; mit der Zerstörung der nationalen Vorurteile, mit dem Vernichten der patriotischen Engsinnigkeit schwindet ihr bestes Hülfsmittel der Unterdrückung. Ich bin daher der inkarnierte Kosmopolitismus, ich weiß, daß dieses am Ende die allgemeine Gesinnung wird in Europa, und ich bin daher überzeugt, daß ich mehr Zukunft habe, als unsere deutschen Volkstümler, diese sterblichen Menschen, die nur der Vergangenheit angehören54).
Literatur P. HAZARD: „Cosmopolite", in: Mélanges d'histoire littéraire générale et comparée o f f . à Fernand Baldensperger, Paris 1930,1, S. 354-64. A . MATHIEZ: La Révolution et les étrangers. Cosmopolitisme et défense nationale, Paris 1918. T H . J . SCHLERETH: The Cosmopolitan Ideal in Enlightenment Thought. Its Form and Function in the Ideas of Franklin, Hume and Voltaire, 1694-1790, London 1977.
M
) Heinrich H E I N E im April 1833 in einem Brief an Friedrich Merckel (Sämtliche Schriften, ed. Klaus Briegleb, München/Wien 1976, VI 709f). 55
Démocratie, Démocrates HORST DIPPEL
Einleitung
1
I. Die Herausbildung des politischen Demokratiebegriffs bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts 2 II. Das Konzept der,direkten Demokratie' bei J.-J. Rousseau 8 III. , Demokratie' als Sammelbegriff für bürgerliches Emanzipationsstreben (ca. 1760-1788) 11 IV. Der Demokratiebegriff in den Anfangsjahren der Revolution: Das ungelöste Problem der „Démocratie représentée" 15 V. Das Ende der Kontroverse: Jakobinische Republik versus ,direkte Demokratie' 22 VI. Der, démocrate' in der Französischen Revolution: statt Integrationsfigur politisch-sozialer Außenseiter VII. Der Niedergang der ¡Démocratie'nach dem Thermidor VIII. Ausblick
26 33 38
Einleitung In seinen Memoiren für das Jahr 1667 schrieb L U D W I G XIV. zu den .Funktionen des Königs': „II en est sans doute de certaines, où tenant, pour ainsi dire, la place de Dieu, nous semblons être participants de sa connaissance, aussi bien que de son autorité" 1 ). 126 Jahre später hieß es in der Verfassung vom 24. Juni 1793: „Le gouvernement est institué pour garantir à l'homme la jouissance de ses droits naturels et imprescriptibles"2). Beide Texte unterscheiden sich nicht nur fundamental hinsichtlich ihrer Sprache, auch bezüglich ihres Inhalts ist kaum eine größere Diskrepanz denkbar: An die Stelle der göttlichen Investition von Herrschaft ist der Mensch getreten, statt von den Rechten der Herrschaftsausübung ist von ihren Pflichten die ') Zit. nach P. GOUBERT: L'Ancien Régime, Paris 1969-73, II 34. ) J. GODECHOT (ed.): Les Constitutions de la France depuis 1789, Paris 1970, 80.
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Démocratie, Démocrates
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Rede, an Stelle der Erhabenheit des Mächtigen wird von der Würde des Regierten gesprochen, der Monarch ist dem Volk gewichen. Dennoch ist in beiden Texten von dem gleichen Gegenstand die Rede: der Regierung Frankreichs. Und einige unter denen, die im Sommer 1793 aufgerufen waren, über die Annahme dieser Verfassung abzustimmen, waren noch unter der Regierung eben jenes Ludwig XIV. geboren. Innerhalb ihres Lebens hatte sich nicht nur die Einstellung zu und die Legitimation von staatlicher Macht grundlegend verändert, sondern ebenso das Verhältnis von Regierenden zu Regierten und die Vorstellungen von Funktion, Aufgaben und Zielen der Regierung. Ohne Begründung und Rechtfertigung, ohne Theorie und zielgerichtete Praxis wäre dieser revolutionäre Wandel nicht möglich gewesen. Einer der zentralen Begriffe in diesem Prozeß der Veränderung, des Übergangs von einer tradierten in die moderne Welt war der Begriff démocratie. Keinesfalls lückenlos, aber doch über seine wichtigsten Stationen und Inhalte soll versucht werden, Bedeutung und Wandel dieses Begriffes im Selbstverständnis der Zeit und der in ihr Handelnden herauszukristallisieren, um damit den Wandel selbst begreifbarer zu machen3). I. Die Herausbildung des politischen Demokratiebegriffes bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts Im ausgehenden 17. Jh. erschien dem offiziellen Frankreich démocratie als Fremdwort, ohne reale Bedeutung in der eigenen Gegenwart. Mehr als eine historische Reminiszenz im Kreise der Gebildeten kam dem Begriff offensichtlich nicht zu. Die Gründe dieser reservierten Einstellung gegenüber der .Demokratie' sind ebenso in den politischen Strukturen des zeitgenössischen Frankreich wie in den gängigen, mit diesem Begriff verbundenen Vorstellungen zu suchen. ,Demokratie' galt nicht als jene revolutionäre Umkehr der Prinzipien, wie sie in späteren Zeiten begriffen - und angestrebt - wurde, sondern als eine „forme de gouvernement"4) unter anderen, jedoch eine
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) Mein uneingeschränkter Dank gebührt der Redaktion, die mir den weitaus größten Teil des meist nur in Paris greifbaren Quellenmaterials zugänglich machte. Ein besonderer Dank gilt den Herren Etienne François, Rolf Reichardt und Rudolf Vierhaus für ihre kritische Lektüre des Manuskripts und die zahlreichen Verbesserungsvorschläge.
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) RICHELET ('1680), 1227.
Démocratie, Démocrates
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mit geradezu angeborenen Geburtsfehlern. Da das .Volk' - nicht als Gesamtheit der Staatsbürger, sondern (getreu dem ständisch-hierarchischen Staat) als die unteren Schichten gedacht - die .Demokratie' liebe und in ihr „toute l'autorité" 5 ) besitze, habe dies eine Regierungsform zur Folge, „où les charges se donnent au sort" 6 ). Aus der Sicht einer ständisch geordneten Gesellschaft bedeutete dies, daß nicht die Besten und Befähigsten mit der Durchführung öffentlicher Aufgaben betraut wurden, sondern jene, die die schwankende Gunst des ungebildeten Volkes zu gewinnen verstanden. Die dadurch bedingte Unbeständigkeit und Wankelmütigkeit galt als beständige Gefahr dieser Regierungsform, denn: „Les séditions & les troubles arrivent souvent dans les Démocraties" 7 ). Daraus ergab sich zwangsläufig: „Le pire de tous les estats est le démocratique" 8 ). Daher habe es historisch diese Regierungsform nur im antiken Athen und im republikanischen Rom gegeben9), wo sie jeweils ohne Bestand gewesen sei und sich als unpraktikabel erwiesen habe. Für das zeitgenössische Frankreich und Europa war sie mithin ohne Relevanz, woraus sich zwangsläufig ergab, daß „Le gouvernement des Républiques modernes tient plus de l'aristocratie, que du démocratique" 10 ). Dieses in allgemeinsprachigen Lexika festgehaltene und im Zeichen der Zensur praktisch offizielle Bild der ,Demokratie' im späten 17. Jh. ist in zweifacher Hinsicht bedeutsam, einmal in Hinblick auf jene in der älteren französischen Staatsliteratur und insbesondere bei BODIN angesprochenen Inhalte des Demokratiebegriffes, die in diesen Definitionen fehlen, und zum anderen durch schon deutlich auf Montesquieu vorausweisende Feststellungen. Bodin, der erste bedeutende moderne Theoretiker des Souveränitätsgedankens, hatte in der Analyse staatlicher Herrschaft für die prinzipielle Unterscheidung zwischen der Staatsform, d.h. der Frage nach dem Träger der Souveränität, und der Regierungsform als Herrschaftspraxis plädiert, weil nach seiner Überzeugung für die staatliche Ordnung nicht nur wesentlich war, ob ein Einzelner, eine Minderheit oder die Mehrheit bzw. die Gesamtheit des Volkes Träger der Souveränität war, sondern auch wie diese souveräne Gewalt in der Herrschaftspraxis 5 6
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) Art. „Démocratie", in: F u R E n E R E ( ' l 6 9 0 ) , ) RICHELET ( ' 1 6 8 0 ) , 1 2 2 7 .
I o.S.
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) Art. „Démocratie", in: FURETIERE( 1690), I o.S. ) Ebd. ®) Ebd.; Dict. Acad. (>1695), 1191. 10 ) Art. „Démocratie", in: FURETIERE ( ' 1 6 9 0 ) , I . o.S. 8
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Démocrates
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ausgeübt wurde. Wenn das Volk Träger der Souveränität war, mußte daraus nicht zwangsläufig eine demokratische Regierung folgen. Obwohl nach seiner Überzeugung angesichts der menschlichen Unzulänglichkeiten die Praxis der .Demokratie' (für ihn „im Kern die Gleichheit aller") als Staats- und Regierungsform schwierig war, kannte die Antike (Griechenland, Rom) wie die Moderne (Schweizer Kantone und einige Reichsstädte, darunter Straßburg) Beispiele dieser ,Demokratie'. Erstrebenswerter erschien ihm dagegen eine Verbindung der Monarchie als Staatsform mit einer „demokratischen Regierungsform", „was die stabilste Monarchie überhaupt ergibt"11). Wenn Bodin in dieser Vermengung von Verfassung und Verwaltung zum Zwecke der Ausweitung der Basis der Herrschaftsausübung auch zu einem eigentümlichen Demokratiebegriff gelangt, wie er ihn bei antiken wie modernen Schriftstellern vermißte, so eröffnete dieser dennoch einen Raum, der ein späteres Aufgreifen samt einer systematischeren Weiterentwicklung durchaus zugelassen hätte. Dennoch haben diese Gedanken in der Folge in Frankreich offensichtlich nur vereinzelt Beachtung gefunden, wobei jedoch ihre Anklänge in d ' A R G E N S O N S Kritik am absolutistischen Frankreich seiner Zeit bedeutsam sind. In seiner Konzeption einer „administration démocratique", gegenüber der die Herrschaft korrupter Minister und Günstlinge „le plus fâcheux de tous les pouvoirs intermédiaires" sei12), schimmern ebenso Bodinsche Auffassungen durch wie bei den an anderen Stellen ausgedrückten Vorstellungen einer Verbindung von Monarchie und ,Demokratie'13). Doch derartige, aus der politischen Opposition gegen Ludwig XIV. geborene und an Bodin erin") J. BODIN: Sechs Bücher über den Staat (1583), Buch I—III, ed. P. C. MAYER-TASCH, M ü n c h e n 1981, 3 9 2 - 4 0 0 , 6 2 6 - 6 2 7 . V g l . ü b e r h a u p t d a s
II. Buch. Vgl. dazu auch H. DENZER: Bodins Staatsformenlehre, in Ders. (ed.): Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin-Tagung in München,
M ü n c h e n 1973, b e s . 2 3 6 - 2 4 0 ; P. KING: The
Ideology
of Order. A Comparative Analysis ofJean Bodin and Thomas Hobbes, L o n d o n 1974, 2 7 - 3 3 , 1 2 6 - 1 5 7 ; G . TREFFER: Jean Bodin.
Zum
Versuch
einer juristisch-philosophischen Bewältigung des allgemeinen religiösen Bürgerkrieges in Frankreich, München 1977, bes. 95-145. 12 ) D'ARGENSON, IV 142 (1746/48). 13 ) Ebd. 108-109 (5. VIII. 1744), VI 181 (25. III. 1750). Zud'Argenson vgl. N. O. KEOHANE: Philosophy and the State in France. The Renaissance to the Enlightenment, Princeton 1980,383-391 ; René Louis Marquis d'ARGENSON, Politische Schriften (1737), ed. Herbert HÖMIG, München 1985, bes. 9-28.
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Démocrates
nernde Gedanken einer sozialen Öffnung des politischen Systems und einer Einbeziehung des Dritten Standes in die Verwaltung des Reiches sind bis zur Mitte des 18. Jh. in Frankreich außerhalb jener oppositionellen Kreise kaum öffentlich vorgebracht worden. So begnügte sich der Dictionnaire de Trévoux noch in seiner 3. Auflage von 1743 mit der wörtlichen Wiederholung der Definition von Furetière, lediglich ergänzt um dem Zusatz, die Regierung von Basel sei „une Démocratie"14). M O N T E S Q U I E U hat trotz seiner eingehenden Auseinandersetzung mit dem Demokratiebegriff im Esprit des lois (1748) wenig an diesem Verständnis geändert. Einerseits erblickte er nur einen eher graduellen Unterschied zwischen .Demokratie' und ,Aristokratie', die für ihn (wie schon für Furetière) beide Ausformungen des „gouvernement républicain" waren15). Andererseits war für ihn ,Demokratie' unmittelbar mit .Tugend', ,Gleichheit' und .Genügsamkeit' verknüpft. ,,L'amour de la démocratie est celui de l'égalité. L'amour de la démocratie est encore l'amour de la frugalité"16). Die .Demokratie' basiere auf dieser Gleichheit und Selbstgenügsamkeit ihrer Bewohner. „Toute inégalité dans la démocratie doit être tirée de la nature de la démocratie et du principe même de l'égalité"17). Eine so verstandene .Demokratie' deckte sich kaum mit den politischen Aspirationen eines ökonomisch und sozial aufstrebenden Bürgertums. Um diese Divergenz noch zu unterstreichen, trennte Montesquieu zusätzlich die ,Demokratie' scharf von dem populären Gedanken der Freiheit. Enfin, comme dans les démocraties le peuple paroît à peu près faire ce qu'il veut, on a mis la liberté dans ces sortes de gouvernements; et on a confondu le pouvoir du peuple avec la liberté du peuple18).
Dies sei ein verhängnisvoller Irrtum, der sowohl dem Charakter der Freiheit als auch dem der .Demokratie' widerspreche, die von Natur aus keineswegs ein freier Staat sei. „La liberté politique ne se trouve que dans les gouvernements modérés"19). 14
) Dict. Trévoux (31743), II1016. Œuvres complètes, ed. R. 239-244 (1748) (II, 1-2). 16 ) Ebd. 274 (V, 3). 17 ) Ebd. 279 (V, 5). 18 ) Ebd. 394 (XI, 2). 19 ) Ebd. 395 (XI, 4). 15
) MONTESQUIEU:
CAILLOIS,
Paris 1949-51, II
61
Démocratie, Démocrates
6
Damit hatte Montesquieu die .Demokratie' aus den politischen Zielvorstellungen der Aufklärung ausgeblendet und zugleich das Streben der Engländer nach ,Demokratie' im voraufgegangenen Jahrhundert für vergeblich und irrig erklärt20). Eine politische Öffnung des bestehenden Systems unter Einbeziehung des Demokratiebegriffs zur Ausweitung der aktiven politischen Verantwortung war damit bei Montesquieu anders als in den oppositionellen Kreisen um d'Argenson schon als Postulat unterblieben. Dieser hatte dagegen geglaubt, voraussehen zu können, daß England eines Tages vom Unterhaus regiert werde, dessen Mitglieder in jeder Provinz und jeder Stadt von der Mehrheit der des Lesens Kundigen gewählt würden: „Ce sera une véritable démocratie"21). Montesquieu hatte allem Anschein nach für jenen Teil von Adel und Bürgertum gesprochen, den er gerne als politisch-soziale Stütze der Monarchie gesehen hätte22). Doch daß andere um die Mitte des Jahrhunderts nicht bei diesen Vorstellungen eines „gouvernement modéré" stehen bleiben wollten, sondern nach unmittelbarer politischer Verantwortung strebten, offenbart der umfangreiche „Démocratie"-Artikel der Encyclopédie. Er stammt bezeichnenderweise von dem Montesquieu-Schüler JAUCOURT, der ihn mit der rein taktisch zu bewertenden Bemerkung schloß: „Voilà presque un extrait du livre de l'esprit des lois sur cette matière"23). Tatsächlich lieferte Jaucourt eine in entscheidenden Punkten von Montesquieu abweichende Interpretation, die zu einer ungleich positiveren Einschätzung der ,Demokratie' gelangte und damit - vermeintlich durch die unbestrittene Autorität sanktioniert - durchaus geeignet war, den politischen Reformbestrebungen im späten Ancien Régime Argumente zu liefern. Jaucourt folgte nicht der Montesquieuschen Unterscheidung zwischen ,Demokratie' und Freiheit - wie sie dann der nachrevolutionäre, stärker konservative Liberalismus des 19. Jh. erneut propagieren sollte - , sondern wertete die .Demokratie' als „ce gouEbd. 252 (III, 3). Vgl. zu Montesquieu u.a. T. L. PANGLE: Montesquieu's Philosophy of Liberalism. A Commentary on , The Spirit ofthe Laws', Chicago/London 1973, 107-160; W. KUHFUSS: Mäßigung und Politik. Studien zur politischen Sprache und Theorie Montesquieus, M ü n c h e n 1 9 7 5 , 7 0 - 9 0 , 1 0 9 - 1 1 8 , 1 3 1 - 1 6 7 ; L . ALTHUSSER:
La politique et l'histoire, Paris 5 1981, 65-97. 21
22 23
) D'ARGENSON, V I 1 4 1 ( 1 1 . II. 1 7 5 0 ) .
) Vgl. ALTHUSSER, Montesquieu [20], bes. 98-108.
) Ene.,
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I V 818 (1754).
Montesquieu.
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vernement admirable"24). Dabei verwies er zwar auf Beispiele des antiken Griechenlands und Roms, bemühte sich aber insgesamt um eine historisch abstraktere, prinzipiellere und damit zeitnähere Argumentation. So verwarf er keineswegs a priori eine demokratische Staatsform für große Staaten, hielt sie eher für „desavantageuse". Aber und dies konnte seinen Eindruck auf ein aufgeklärtes Publikum nicht verfehlen - , die .Demokratie' brachte fähige und verdiente Männer in Staatsämter. De plus: les démocraties élevent les esprits, parce qu'elles montrent le chemin des honneurs & de la gloire, plus ouvert à tous les citoyens, plus accessible & moins limité que sous le gouvernement de peu de personnes, & sous le gouvernement d'un seul, où mille obstacles empêchent de se produire [...] Ce sont ces heureuses prérogatives des démocraties qui forment les hommes, les grandes actions, & les vertus héroïques."
Mit diesen weit über Montesquieu hinausgehenden Äußerungen hatte Jaucourt unmißverständlich auf das emanzipatorische Potential der,Demokratie' hingewiesen. Wenn er anschließend bei der Darlegung der Grundprinzipien und der Tugenden in der,Demokratie' sowie der Gefahr ihrer Degeneration auf ihn zurückgriff25), ließ er dennoch insgesamt die ,Demokratie'-Begeisterung der folgenden Generation bereits als vorgezeichnet erscheinen. Mit diesen Gedanken von der Souveränität des Volkes, das sich versammelt und Gesetze gibt, war nicht nur der für die 2. Hälfte des 18. Jh. grundlegende Konflikt mit der Aristokratie vorgezeichnet26), die für sich „la supériorité du génie et des talents" in Anspruch nahm27), sondern ebenfalls die .Demokratie' als verfassungsrechtliche Form für den politisch-sozialen Aufstieg des Bürgertums angelegt. Damit waren die historischen Reminiszenzen des Demokratiebegriffes in den Hintergrund getreten, während seine konkreten politisch-sozialen Implikationen ungleich gewichtiger erschienen.
24
) Für dieses und folgendes den ganzen Art., ebd. 816-818. ) Vgl. E. W E I S : Geschichtsschreibung und Staatsauffassung in der französischen Enzyklopädie, Wiesbaden 1956,198-201. 26 ) Vgl. u. a. PRÉVOST, 1385 (1755) ; J. encyclopéd. 1756, V/3 (1. VIII. 1756), 59. 2Î
27
) CHICANEAU DE NEUVILLE ( 1 7 5 6 ) , 6 7 .
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8
II. Das Konzept der ,direkten Demokratie' bei J.-J. Rousseau Es sollte sich für die weitere Entwicklung als höchst folgenreich erweisen, daß Rousseau nicht an den Demokratiebegriff der Encyclopédie anknüpfte, sondern auf traditionellere Inhalte des Begriffes zurückgriff, die er im Rahmen seiner politischen Philosophie weiterentwickelte. Im bewußten Unterschied zu Montesquieu hat er dabei erneut den Zusammenhang von ,Demokratie' und Freiheit betont; „libre et démocratique" gehörten nach seiner Überzeugung zusammen28). Dabei waren für ihn seine Erfahrungen in Genf konstitutiv (erst nach dem Vorgehen Genfs gegen den Contrat social und den Emile hat er - verbittert - seine Meinung über die Genfer Republik entscheidender geändert, als es seiner einstigen Auffassung entsprochen hätte, auch demokratische Regierungen seien nicht frei von Fehlern und Ungerechtigkeiten29), wo - entsprechend seiner ursprünglichen Überzeugung - das Volk der Souverän und die Folge ein „gouvernement démocratique" sei30).
Œuvres (Pléiade) III 83 (1764), u.S. 909 (1765). Trotz des großen Umfangs der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Rousseau ist sein Demokratiebegriff bislang kaum hinreichend untersucht. Eine formale Auflistung des Gebrauchs von démocratie, démocratique und démocratiquement bei Rousseau gibt M . LAUNAY: Le Vocabulaire politique de Jean-Jacques Rousseau, Genf/Paris 1977,72-73. Die immer noch umfassendste, wenn auch in wichtigen Punkten abweichende Darstellung bringt I. FETSCHER: Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Frankfurt 31981. Einschlägig, doch unbefriedigend auch K. MARTIN, 192-219; und R. BREITLING: Der Demokratiebegriff bei Jean-Jacques Rousseau, in: Imago Linguae. Beiträge zu Sprache, Deutung und Ubersetzen. Festschrift zum 60. Geburtstag von Fritz Paepcke, ed. K.-H. BENDER u.a., München 1977, 103-108. Vgl. ferner u.a. R. D. MASTERS: The Political Philosophy of Rousseau, Princeton 1968, bes. 398-399; R. POLIN: La Politique de la solitude. Essai sur la Philosophie politique de Jean-Jacques Rousseau, Paris 1971, 190-194; B . BACZKO: Rousseau. Solitude et communauté, Paris/Den Haag 1974, bes. 339-380; R. FRALIN: Rousseau and Representation. A Study ofthe Development ofHis Concept of Political Institutions, New York 1978, bes. 89-144. Wie die nachfolgenden Ausführungen deutlich machen, stimme ich nicht mit der Interpretation von J. L. TALMON: The Origins of Totalitarian Democracy, London 1952, bes. 38-49, überein. ROUSSEAU: Œuvres (Pléiade), III 246 (1755).
M
) ROUSSEAU:
29
)
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Ausgehend von diesem zentralen Kriterium der Souveränität begründete Rousseau die traditionelle Dreiteilung der Staatsformen und definierte .Demokratie' als jene, in der das Volk oder zumindest seine Mehrheit herrsche31). Jedoch regiere der Souverän in der .Demokratie' nie direkt, vielmehr die zu „magistrats" bestellten „citoyens", wie überhaupt die Regierung ein „corps intermédiaire" zwischen Regierten und Souverän sei32). Auf diese Weise werde aber nur die Macht delegiert, während der für seine gesamte politische Philosophie zentrale Grundsatz blieb, daß die Souveränität unveräußerlich sei. La Souveraineté ne peut être représentée, par la même raison qu'elle ne peut être aliénée; elle consiste essenciellement dans la volonté générale, et la volonté ne se réprésente point: elle est la même, ou elle est autre; il n'y a point de milieu. Les députés du peuple ne sont donc ni ne peuvent être ses représ e n t a i , ils ne sont que ses commissaires; ils ne peuvent rien conclure définitivement33).
Aus diesem Zusammenhang von .Demokratie' und Freiheit folgte für Rousseau einerseits, daß England nicht die Verwirklichung der politischen Freiheit verkörperte34), ein Gedanke, der ebenso in der Revolution wiederkehren sollte wie die in diesem Zusammenhang zugleich ausgesprochene Ablehnung der modernen Repräsentationstheorie sowie andererseits die Beschränkung des Gedankens der .Demokratie' allein auf die Form der direkten .Demokratie'. Mit dieser Eingrenzung des Demokratiebegriffs knüpfte Rousseau mehr noch als an antike Vorbilder - er hatte ja einmal abgelehnt, das antike Athen als .Demokratie' zu bezeichnen35 - an zeitgenössische an. Insbesondere einige Schweizer Kantone schienen ihm, einer durchaus gängigen Auffassung entsprechend, demokratisch regiert zu sein. Die dabei von ihm angewandten Kriterien entsprachen verbreitetem Gedankengut: Demokratisch regierte Staaten mußten nicht nur klein und überschaubar sein, sondern auch einfach in ihren Sitten. Unter ihren Bewohnern mußte ein gewisses Maß an Gleichheit herrschen, was große Unterschiede von Besitz und Vermögen ^ Ebd. 112 (1754/55), 351 (1762). 31 ) Ebd. 403, auch 433-434, 442 (1762), 816 (1764). H ) Ebd. 433-434 (1762), 771, 808 (1764). M ) Ebd. 429-430 (1762). M ) Ebd. 430 (1762). 35 ) Ebd. 246 (1755).
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ausschloß, so daß eine merkliche Armut geradezu als eine Voraussetzung für eine .Demokratie' galt36). Die Schweiz sei daher, wie er in der Constitution pour la Corse präzisierte, nur dort .demokratisch', wo sie arm war, während die fruchtbareren, mithin wohlhabenderen Kantone aristokratisch' regiert würden37). Dem entsprach laut Rousseau, daß der Verwaltungsaufwand von allen Staaten im demokratisch regierten am minimalsten sei, das Volk also dort die geringsten steuerlichen Belastungen zu tragen habe38). Allein eine so konstituierte ,Demokratie' war für Rousseau unmittelbarer Ausdruck der „volonté générale": „Tel est l'avantage propre au Gouvernement Démocratique de pouvoir être établi dans le fait par un simple acte de la volonté générale"39). Wenn aber, und damit schließt sich der Kreis, nach Rousseaus Überzeugung die Gesetze Ausdruck der „volonté générale" sind, muß die nicht delegierbare „volonté générale" die Gesetze beschließen, d.h. es kann keine Repräsentation des Volkes in der Legislative geben40). Damit befand sich Rousseau eingestandenermaßen in einem unauflöslichen Dilemma: „Mettre la loi au-dessus de l'homme est un problème en politique, que je compare à celui de la quadrature du cercle en géométrie"41). Er hat daher in seinen Lettres écrites de la Montagne nicht von ungefähr beklagt, daß die „Constitution démocratique" bislang kaum untersucht worden sei, sei sie doch „certainement le Chef-d'œuvre de l'art politique"42). Aber auch er ist über die Aufzählung einiger Rechte als Teile der „Constitution démocratique" sowie der einen oder anderen Abgrenzung zu anderen Verfassungsformen nicht hinausgekommen43). Erst in seinem korsischen Verfassungsprojekt hat er ernsthaft nach Möglichkeiten gesucht, seine Vorstellungen der direkten ,Demokratie' in einem größeren staatlichen Rahmen zu verwirklichen, zumal ein „gouvernement purement démocratique" am günstigsten für die Landwirtschaft sei44). Die von ihm dabei avisierte Lösung verweist wiederum auf während der Revolution entwickelte Vorstellungen, nämlich das Land in M
) ) 38 ) 39 ) m ) 41 ) 42 ) 43 ) ") 37
66
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
186 (1754/55), 405, 407, 415 (1762), 907 (1765). 906 (1765). 415 (1762), 906, 947 (1765). 434, ähnlich 380 (1762). 430 (1762). 955 (1771/72). 837,838 (1764). 838, 844, 855, 872 (1764). 906, 907 (1765).
11
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kleine, überschaubare Verwaltungs- gleich Versammlungseinheiten einzuteilen als „le seul moyen possible d'établir la démocratie"45). Rousseau hat die Einzelheiten der Struktur eines Flächenstaates auf der Basis .direkter Demokratie' nicht entworfen, aber ohne Zweifel wäre dieser Staat für ihn freiheitlich und im Dienste des „intérêt général" durch die Gesetzeskraft der „volonté générale" regiert worden. Gegenüber dieser Feststellung verblassen nicht nur jene wenigen historischen Reminiszenzen über die Unbeständigkeit demokratischer Staaten46) oder die unter einem machtstaatlichen Gesichtspunkt gegebenen Hinweise, nach denen die Monarchie ein starker und die .Demokratie' ein schwacher Staat sei47). Auch die gern zitierten, im Contrat social eingestreuten Bemerkungen über den illusionären Charakter einer „véritable Démocratie", gipfelnd in dem Ausspruch, „S'il y avoit un peuple de Dieux, il se gouverneroit Démocratiquement. Un Gouvernement si parfait ne convient pas à des hommes"48), bedürfen der Relativierung. Schließlich hatte Rousseau der römischen Republik die Phase einer „véritable Démocratie" attestiert49) und damit ihren Realitätsgehalt ausdrücklich anerkannt. Dennoch blieben formal etliche Widersprüche bestehen, aus denen allerdings keine Ablehnung der .Demokratie' gefolgert werden kann. Wenn dagegen Rousseaus Demokratiebegriff den bürgerlichemanzipatorischen Charakter vermissen ließ, den Jaucourts Encyclopédie-Artikel auszeichnete, eröffnete sein Konzept zumal den späteren Anhängern von Formen .direkter Demokratie' die Möglichkeit, sich ausdrücklich darauf berufen zu können. Der Sozialkonflikt der Revolution konnte damit auch zum politischen Konflikt um unterschiedliche Inhalte von .Demokratie' werden. III. .Demokratie' als Sammelbegriff für bürgerliches Emanzipationsstreben (ca. 1760 -1788) Die Diskussion des Demokratiebegriffs in Frankreich von den 1760er Jahren bis zum Ausbruch der Revolution beschränkte sich praktisch auf eine Verarbeitung der Gedanken Montesquieus, der Encyclopi45
) Ebd. 908(1765). Vgl. ebd. 405, 421, 423 (1762), 915 (1765). 47 ) Vgl. ebd. 409,414 (1762) u.a. « ) Ebd. 406, vgl. auch 443 (1762). 49 ) Ebd. 422, vgl. auch 425-426,43(M31 (1762). 67
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die und Rousseaus. Ohne selbst originell zu sein, bewirkte sie jedoch eine spürbare Popularisierung des Demokratiebegriffs, ablesbar nicht zuletzt an der Einführung des Adverbs „démocratiquement"50). Mit der Popularisierung des Begriffs ging zugleich ein Verlust an Trennschärfe gegenüber dem vormaligen, weitgehend auf den gelehrten Diskurs beschränkten Gebrauch einher, zumal er in der politischen Alltagssprache in die Nähe anderer Termini gerückt wurde, von denen er ohne tiefergehende Analyse entweder polarisierend abgehoben oder mit denen er recht rasch in enge Verbindung gebracht, wenn nicht gleichgesetzt wurde. Das sich darin manifestierende Selbstverständnis der Anhänger eines so verstandenen Demokratiebegriffes konnte dann in der Revolution voll zum Tragen kommen. Entgegen Montesquieu verstärkte sich der u. a. von Rousseau herausgestellte Gegensatz zwischen .Demokratie' und .Aristokratie' weiter. So sprach die Publizistik von den „vrais sentiments de la Démocratie, opposés à ceux de l'Aristocratie"51). In mehrfacher Hinsicht schienen die Ereignisse der amerikanischen Revolution diesen Gegensatz bestätigt zu haben; man verstand unter den dort aufgetretenen, als Tories bezeichneten Revolutionsgegnern „presque tous ceux qui s'écartent de l'égalité démocratique"52). Die unterschiedlichen Auffassungen im amerikanischen Kongreß wurden ähnlich begründet: „Les uns, riches et aristocrates dans les Provinces du Midi, n'ont pas les mêmes idées que ceux des provinces du Nord qui ont une constitution plus démocratique"53). Zur Monarchie hingegen schien ein analoger Gegensatz nicht zu bestehen; erneut tauchte der Begriff einer „monarchie démocratique" als politisches Reformziel für Frankreich auf54). Unmittelbar vor Revolutionsausbruch gewannen diese Vorstellungen weiter Gestalt, um sich 1789 in einer Weise zu verdichten, die das Verfassungskonzept der Anfangsjahre der Revolution deutlich vorwegnahm. So war von dem Beweis die Rede, „que la démocratie est autant l'amie de la monarchie que l'aristocratie en est l'ennemie", ebenso wie von „L'autorité royale & 1; mocratie qui lui est subordonnée"55). In ei50
) Dict. Acad.
("1762, ED. 1777), I 326.
51
) BACH., 1 1 0 3 - 1 0 4 ( 8 . V I I . 1 7 6 2 ) . 52 ) VÉRI, I I 1 8 2 ( 9 . I I . 1 7 7 9 ) . 53
) Ebd.; vgl. auch Le Véritable Patriotisme (1788), 14-15.
54
) METTRA, X V I I I 3 7 ( 1 4 . I V . 1 7 8 5 ) ; v g l . ä h n l i c h BACH., X X X I V 1 3 7 5 ( 1 7 . IV. 1787).
55
) De la Féodalité et de l'Aristocratie française (1789), 34.
68
13
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nem derartigen Bündnis von Königtum und Tiers Etat, von seinen Befürwortern zur Überwindung der vorrevolutionären Krise beschworen, spielten jene traditionellen Identifikationen von ,Demokratie' mit Armut, Bedürfnislosigkeit und Gleichheit des Besitzes offensichtlich keine entscheidende Rolle mehr. Hier sprachen die gebildeten und gutsituierten Leser der Encyclopédie, für die .Demokratie' zu einem Schlüsselwort für ihren eigenen politisch-sozialen Aufstieg geworden war. Dieser letztlich revolutionäre Impuls des gewandelten Demokratiebegriffes im späten Ancien Régime verstärkte sich dank seiner zunehmendem Konvergenz mit dem Republikbegriff56), die ihren bedeutsamsten Niederschlag in dem 15seitigen .Démocratie'-Artikel in der Abteilung Economie politique der Encyclopédie méthodique fand. „L'amour de la république, dans une démocratie est celui de l'égalité"57). Diese Gleichheit dürfe jedoch jene von Solon weitsichtig vorgezeichnete Klassengesellschaft nicht gefährden58). Realistischer als eine reine,Demokratie' seien daher angesichts der Ungebildetheit des Volkes mit „institutions républicaines" ausgestattete „gouvernemens démocratiques" nach dem Vorbild der neuen Verfassungen in Amerika59), wo ebenfalls der Begriff .Republik' als Synonym für die Form der indirekten, repräsentativen .Demokratie' verwandt wurde. Nicht die einzelnen Bestimmungen dieser Verfassungen erwiesen sich dabei als entscheidend, sondern die mit ihnen prinzipiell aufgezeichnete Möglichkeit einer demokratischen Verfassung oberhalb der Ebene von Stadt- oder Kleinststaaten, ohne daß es einer ausgedehnten Zurückweisung der rousseauschen Einwände gegen die moderne Repräsentationstheorie bedurft hätte. Beide Konzepte, das der rousseauschen direkten und das der republikanisch-repräsentativen .Demokratie', konnten daher in der Folge in Frankreich nebeneinander bestehen. Trotz einiger Nachteile schienen die Vorteile der .republikanischrepräsentativen Demokratie' eindeutig zu überwiegen, entsprach sie doch mehr als jede andere Regierungsform der Natur und der natürlichen Freiheit und Gleichheit des Menschen; sie war - wie schon JAU56
) Vgl. u.a. B A C H . , II 149-150 ( 1 . I I . 1765); J. Paris No. 42 ( 1 1 . 169-170. 57 ) Eric, méthodique: Econ. polit. (1786), II 57. 58 ) Ebd. 55, 58-61. 59 ) Ebd. 66.
II.
1786),
69
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14
betont hatte - dem politisch-sozialen Aufstreben der Bourgeoisie konform:
COURT
La démocratie est de tous les états celui où l'on observe le plus de justice dans la distribution des emplois, & où l'on voit le moins de ces choix qui déshonorent les places & les administrateurs [...] C'est la constitution qui laisse au citoyen le plus de liberté, & qui est la plus favorable aux talens ).
Die »Demokratie' beflügele die Talente wie die Charaktere und die Sozialisation der Menschen, so daß die seit langem von den Aufklärern geforderte Reform des französischen Justizwesens und insbesondere der Strafgerichtsbarkeit sich geradezu von selbst einstellen werde. Gegenüber diesen Vorzügen fielen die Nachteile der .Demokratie' kaum ins Gewicht, zumal sie weit eher in der Natur des Menschen als in der der Staatsform begründet erschienen61). Anders als in Amerika um 1775 ging es in Frankreich am Vorabend der Revolution nicht um verschiedenartige programmatische Vorstellungen zukünftiger .demokratischer' Praxis, je nach politisch-sozialem Standort. Diese hatten in Frankreich untergeordnete Bedeutung, da in der Endphase des Ancien Régime der Demokratiebegriff mehr und mehr zum Vehikel des Strebens nach bürgerlicher Emanzipation geworden war, zum Sammelbegriff für die Forderungen nach Freiheit, Rechtsgleichheit, Chancengleichheit, sozialem Aufstieg und Justizreform. Damit war der Begriff schwerwiegend und folgenreich idealisiert und weitgehend zum Substitut konkreter politischer Zielvorstellungen geworden. Nicht gegen diese Idealisierung, sondern gegen die immer vernehmbarer werdenden Demokratieforderungen seitens der Bourgeoisie regte sich schon bald wachsender Widerstand seitens der privilegierten Schichten. .Demokratie', so hieß es von dieser Seite, sei nur ein Synonym für primitive Bedürfnisbefriedigung des Volkes. Es sei offenkundig, „que l'attention aux provisions de bouche occupe plus l'Etat Démocratique, que ce qui tend à l'accomplissement de sa gloire"62). Aber auch die Gefahr der Anarchie als Folge der Demokratie' wurde erneut beschworen, die Blindwütigkeit des ungebildeten Volkes im „Régime Démocratique", die mit der Weisheit und Mäßigung des Monarchen konfrontiert wurde, der „un juste milieu ^ Ebd. 66-67. Bezüglich einer sehr ähnlichen Feststellung Condorcets im Juli 1782 vgl. R. REICHARDT, 205.
61
) Enc. méthodique: Econ. polit., II 67-69.
62
70
) PETITYDE SAINT-VINCENT ( 1 7 7 0 ) , 1 2 4 0 .
15
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entre la Rigueur Despotique, & la Fougue Républicaine" zu halten wisse 63 ). Ein vom „Chaos der Leidenschaften, Ideen und verschiedenen Gefühle" beherrschtes Volk könne sich nicht in einer .Demokratie' selbst regieren 64 ). „La Démocratie n'est donc point une Société parfaite" 65 ). Dennoch verdichteten sich unmittelbar vor Revolutionsausbruch immer mehr die Befürchtungen der Privilegierten vor einer aufziehenden .Demokratie', und noch den sich politisch formierenden Tiers Etat glaubte man, vor Unbedachtsamkeit warnen zu müssen: „Que le Tiers est inconsidéré dans ses prétentions; que les premières demandes une fois accordées, une suite d'autres pourront se succéder, & nous approcher insensiblement de la démocratie" 66 ). In beschwörend-suggestiver Weise appellierte der Verfasser an den Dritten Stand: „Mais vous n'aspirez point à la démocratie; vous aimez le Gouvernement Monarchique" 67 ). Damit waren bei Ausbruch der Französischen Revolution die Positionen markiert, und es konnte das beginnen, was François F U R E T in einem sehr umstrittenen Aufsatz, auf Frankreich bezogen, als „la première expérience de la démocratie" bezeichnet hat 68 ).
IV. Der Demokratiebegriff in den Anfangsjahren der Revolution: Das ungelöste Problem der „démocratie représentée" Die Befürchtungen seitens der privilegierten Schichten über das um sich greifende demokratische Gedankengut wurden im Frühjahr 1789 immer vernehmbarer: L'esprit démocratique s'est montré jusques dans les ministres des autels. Les pasteurs secondaires ont semblé conspirer contre les pasteurs du premier ordre [...] Comme l'état, l'église a eu son tiers69). Selbst der liberale Condorcet hielt in dieser Zeit gewisse Warnungen vor der „constitution démocratique" angebracht, vgl. REICHARDT, 246 und 256. M ) Réflexions d'un citoyen adressées aux Notables (1787), 7. M ) Discours sur la Constitution Françoise (1788), 6. M ) Le Fanal du Tiers Etat (1789), S. 51. 67 ) Ebd. 53.