Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820: Heft 22 Opinion publique, Révolution, Contre-révolution 9783110725063, 9783110724950

In over 150 standalone articles, this work covers the basic vocabulary of the French Ancien Régime and the French Revolu

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Opinion publique
Révolution, révolutionnaire
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Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820: Heft 22 Opinion publique, Révolution, Contre-révolution
 9783110725063, 9783110724950

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Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 –1820

Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 –1820

Herausgegeben von Rolf Reichardt, Hans-Jürgen Lüsebrink und Jörn Leonhard

Heft 22

Opinion publique Christine Vogel Révolution, révolutionnaire Rolf Reichardt Contre-révolution Friedemann Pestel

De Gruyter Oldenbourg 2021

Das Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 –1820 erscheint als Band 10 der Reihe Ancien Régime, Aufklärung und Revolution (hrsg. von Rolf Reichardt und Hans-Ulrich Thamer).

ISBN 978-3-11-072495-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-072506-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-072516-2 ISSN 2190-295X Library of Congress Control Number: 2020949826 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Opinion publique / Christine Vogel . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Révolution, révolutionnaire / Rolf Reichardt . . . . . . . . . . .

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Contre-révolution / Friedemann Pestel . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Artikelliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Opinion publique CHRISTINE VOGEL I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Das breitere Begriffsfeld und der lexikalische Ausgangsbefund: l’opinion und le public . . . . . . . . . . . .

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III. Vom «appel au concile» zum «appel au public»: das jansenistische Widerstandsmodell als Präfiguration des politischen Schlüsselbegriffs der Aufklärung . . . . . .

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IV. Politisierung durch Historisierung: opinion (publique) im Diskurs der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V.

«Puissance invisible»? Opinion publique als kontroverser Schlüsselbegriff im vorrevolutionären Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Triumph des Populismus? Opinion publique im Sprachgebrauch der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Ausblick: Entpolitisierung des Schlüsselbegriffs der Aufklärung: opinion publique in der Historisierung von Ancien Régime und Revolution . . . . . . . . . . . . . . .

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https://doi.org/10.1515/9783110725063-001

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Opinion publique

I. Einleitung Die Semantik des Begriffs opinion publique ist im Untersuchungszeitraum durch Widersprüche, Unschärfen und Ambivalenzen gekennzeichnet; opinion publique wird in den Quellen mal als unfehlbar, mal als beständig dem Irrtum verhaftet beschrieben. Bei einigen Autoren erscheint die opinion publique als autonome Gesetzgeberin einer jeden Regierung, bei anderen muss sie selbst von der Obrigkeit reguliert werden oder ist Gegenstand pädagogischer Bemühungen einer Elite von gens de lettres. Mal muss sie durch Zensur vor Manipulation geschützt werden, um als authentischer Ausdruck des Volkswillens wirksam werden zu können, mal stellt sie selbst die effizienteste Zensorin abweichender oder schädlicher Ideen dar. Dabei finden sich solche widersprüchlichen Bedeutungszuschreibungen und Wortverwendungen nicht nur in unterschiedlichen historischen Kontexten, sondern sie ziehen sich durch den gesamten Untersuchungszeitraum, tauchen entweder gleichzeitig oder auch wiederholt zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf; jedenfalls lassen sie sich nicht in eine eindeutige chronologische Reihenfolge bringen. Hinzu kommt eine weitere Schwierigkeit: Opinion publique konkurriert in den Quellen mit einer Vielzahl analoger Wortverbindungen wie esprit public, conscience publique oder cri public, opinion générale, opinion nationale oder auch einfach l’opinion oder le public. 1 All diese Ausdrücke werden mal vollständig, mal auch nur teilweise synonym verwendet, tauchen ebenso häufig aber auch als Gegenbegriffe auf, wenn sie etwa in philosophisch-differenzierter Weise oder auch grob vereinfacht und in polemischer Absicht gegeneinander abgegrenzt werden. Schließlich stehen theoretisch reflektierte, normative oder deskriptive neben redensartlichen und geradezu floskelhaften Verwendungsweisen all dieser Wortkombinationen, und dies teils sogar bei denselben Autoren. Aus all diesen Gründen kann es mit Blick auf die Zeit zwischen 1680 und 1820 keine Geschichte eines auch nur annähernd linearen Bedeutungswandels von opinion publique geben. Stattdessen sollen im Folgenden Konjunkturen konkurrierender Bedeutungszuschrei1

Vgl. M. OZOUF (1987), 420.

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bungen für opinion publique und das zugehörige weitere Begriffsfeld im Kontext gesellschaftspolitischer Schlüssel- und Krisenereignisse des 18. Jahrhunderts nachgezeichnet werden. Dabei lässt sich grundsätzlich beobachten, dass das Begriffsfeld um opinion publique in den öffentlichen Debatten in Frankreich etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einen zunehmend größeren Stellenwert einnahm. Der Medienwandel, insbesondere der Durchbruch und die sprunghafte Ausweitung der periodischen Presse, die damit einhergehende Verdichtung gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse sowie die Krise des französischen Absolutismus wurden schon von der zeitgenössischen Publizistik im Zusammenhang reflektiert. Dabei nahmen die publizistischen Auseinandersetzungen um Öffentlichkeit und öffentliche Meinung im Laufe des 18. Jahrhunderts insgesamt zu; opinion publique kristallisierte sich dann etwa ab den 1770er Jahren aus dem skizzierten breiteren Begriffsfeld heraus und avancierte vor allem im Diskurs der Aufklärer (philosophes) für einige Zeit zu einem politischen Schlüsselbegriff, der bis weit in die Revolution hinein eine zentrale, allerdings niemals unangefochtene Position im politischen Meinungsstreit innehatte. 2 Es deutet somit einiges darauf hin, dass opinion publique mit seinem zugehörigen breiteren Begriffsfeld, ähnlich wie die Schlüsselbegriffe lumières oder philosophe, einen reflexiv-performativen Charakter hatten, d. h. sie wurden von den Zeitgenossen zur Selbstbeschreibung und als Symptom des Wandels der politischen Kultur im ausgehenden Ancien Régime diskutiert und fungierten damit zugleich als Motoren eben dieses Wandels. 3 Inwieweit diese Selbstwahrnehmung der aufgeklärten Öffentlichkeit mit der tatsächlichen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung im Frankreich des 18. Jahrhunderts korrelierte, wird

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Vgl. bereits HABERMAS (1996), 161–178; HÖLSCHER (1978), 448–450; sowie insbes. BAKER (1990), insbes. 167–198; BAKER (1992); OZOUF (1987); CHARTIER (1990), insbes. 32–52; REICHARDT (1973), insbes. 82–105 u. 292–310; GUILHAUMOU (1992); GUILHAUMOU (2005); SGARD (1988); BINOCHE (2013). Schon Habermas bezeichnet die öffentliche Meinung als Topos, in dem sich das «Selbstverständnis der Funktion bürgerlicher Öffentlichkeit» – also das kritische politische Räsonnement – kristallisierte, vgl. HABERMAS (1996), 161. Zu philosophe als Grundbegriff der Aufklärung vgl. H.-U. GUMBRECHT / R. REICHARDT (1985).

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spätestens seit der breiten Rezeption von Jürgen Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit in der historischen Forschung kontrovers diskutiert. 4 Weder Habermas’ Thesen zur Entstehung und gesellschaftspolitischen Funktion einer räsonierenden bürgerlichen Öffentlichkeit noch die daran anknüpfenden historiographischen Debatten können an dieser Stelle im Detail nachgezeichnet werden. 5 Mit Andreas Gestrich lässt sich resümieren, dass die Geschichtswissenschaft, und hier insbesondere die internationale Frühneuzeitforschung, inzwischen zwar beinahe jedes historische Argument von Habermas kritisch hinterfragt und korrigiert hat. 6 So ist zum Beispiel die Auffassung vom Bürgertum als Subjekt der politischen Öffentlichkeit inzwischen ebenso überholt wie die Vorstellung, Öffentlichkeit sei vor dem 18. Jahrhundert lediglich als passive Zuschauerin von Herrschaftsrepräsentation relevant gewesen; Konsens ist inzwischen vielmehr, dass Herrschaft und Öffentlichkeit in der gesamten Vormoderne in der Praxis wie auch konzeptionell aufeinander bezogen waren und es genau diesen Bezug zu historisieren gilt. 7 Auch wurde die normative Grundannahme, wonach politische Öffentlichkeit bzw. politisch relevante öffentliche Meinung eo ipso rational und diskursiv strukturiert sein müsse, seitens der historischen Forschung schon seit längerem hinterfragt, und alternative soziologische Modelle wie zum Beispiel der systemtheoretische Ansatz von Luhmann wurden erprobt. 8 Dennoch habe, so Gestrich, die historische Forschung bei aller Kritik im Detail insgesamt grundsätzlich an Habermas’ fortschrittsorientierter Meistererzählung festgehalten. 9

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Zur kritischen Rezeption der bereits 1962 erschienenen Studie in der Geschichtswissenschaft, v. a. seit Erscheinen der französischen (1978) und der englischen (1989) Übersetzungen, vgl. etwa: CALHOUN (1992); LA VOPA (1992); MAH (2000); CROSSLEY / MICHAELS (2004); MELTON (2001); GESTRICH (1994); sowie, aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive, LANDES (1988). Neuere Zusammenfassungen dieser Forschungsdebatte bei LEMAÎTRE (2013); LANDI (2012); GESTRICH (2006). GESTRICH (2006). Vgl. GUNN (1995); SWANN (2013), 41. Vgl. GESTRICH (2006), 428–429; CROSSLEY / MICHAELS (2004): RAYMOND (1999), 109–140; vgl. auch LANDI (2012), 26. GESTRICH (2006), 416; vgl. auch LANDI (2012), 24–27.

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Dies gilt nach meinem Eindruck in ganz besonderem Maße für die Begriffsgeschichte, die sich den emphatischen Begriff von öffentlicher Meinung, also das normative, idealtypische Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit als Ort des rationalen, egalitären und damit unter den sozio-politischen Bedingungen des Ancien Régime per se kritisch-oppositionellen Diskurses, so sehr zu eigen gemacht hat, dass ihr der Blick auf andere semantische Dimensionen des Begriffsfelds um opinion publique im 18. Jahrhundert lange Zeit verstellt war. 10 Zu einer Neubewertung der Begriffsgeschichte von opinion publique hat die historiographische Revision der HabermasThese bislang jedenfalls nur in ersten Ansätzen geführt. So hat Sandro Landi jüngst dafür plädiert, den normativen Öffentlichkeitsbegriff von Habermas durch eine stärker empirische Konzeption zu ersetzen, um so den Prozess der Hervorbringung kollektiver (politischer) Meinungen konsequenter als bisher historisieren zu können. Als theoretischen Gegenentwurf zu Habermas bringt Landi Elisabeth Noelle-Neumann ins Spiel, deren sozialpsychologischer Ansatz von der historischen Forschung bislang kaum rezipiert wurde. Mit dem Begriff der Schweigespirale vertritt NoelleNeumann in Bezug auf die öffentliche Meinung eine grundsätzlich andere Konzeption als Habermas: Öffentlichkeit versteht sie demnach vorrangig als «Bewußtseinszustand» des Menschen, der bei ihr nicht als das autonome räsonierende Subjekt der Aufklärung erscheint, sondern als Mängelwesen «in seiner Schwäche, seiner Abhängigkeit von der Urteilsinstanz seiner Umwelt». Die Mehrheit der Menschen sei vor allem geprägt von ihrer «Furcht vor Isolation, vor Mißachtung, vor Unbeliebtheit»; nicht das rationale Argument 10

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Wegweisend in der stark von Habermas geprägten begriffsgeschichtlichen Forschung zu opinion publique sind insbesondere die oben in Anm. 2 genannten Arbeiten von K. BAKER, M. OZOUF, R. CHARTIER; nuancierter bereits REICHARDT (1973). Grundsätzlich kritisch zu diesen Ansätzen äußert sich CHISICK (2002). Anders als Chisick kritisiere ich die Studien von Baker und Ozouf nicht im Hinblick auf das Problem der Verschränkung von Begriffs- und Sozialgeschichte und damit auf die Frage, ob die Begriffsgeschichte die sozialhistorisch problematischen Prämissen von Habermas allzu unkritisch übernommen habe, vgl. CHISICK (2002), 52–54. Mir geht es vielmehr darum, dass durch die Konzentration auf einige zentrale Protagonisten der Aufklärung und den radikalaufklärerischen Bedeutungsstrang andere Semantiken ausgeblendet werden. Hierzu näher u., Kap. V u. VI.

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bzw. der öffentliche Vernunftgebrauch, sondern die Isolationsfurcht der Menschen bestimmten demnach, welche Meinungen öffentlich geäußert werden können und worüber man lieber schweige. 11 Als öffentliche Meinung nicht im Sinne einer normativen Idee, sondern eines empirischen Befundes, erscheinen dann bei Noelle-Neumann «jene an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit affektiv besetzten Meinungen und Verhaltensweisen, die man im Bereich festliegender Auffassungen öffentlich zeigen muß, wenn man sich nicht isolieren will; im Bereich sich wandelnder Auffassungen oder in neu entstandenen Spannungszonen öffentlich äußern kann, ohne sich zu isolieren.» 12 Mit diesem Ansatz erklärt Noelle-Neumann dann etwa am Beispiel des Bastillesturms auch den Zusammenhang von öffentlicher Meinung und Massenbewegungen: Kritisches oder gar ablehnendes Verhalten könne in solchen Situation sogar zur «lebensgefährlichen Isolation» führen. 13 Ohne an dieser Stelle die komplexe und keineswegs abgeschlossene soziologische und politikwissenschaftliche Theoriedebatte um den Begriff öffentliche Meinung nachzuvollziehen, 14 mag für unsere Zwecke eine einfache und etwas schematische Gegenüberstellung ausreichen: Opinion publique lässt sich grundsätzlich sowohl (mit Habermas) rational-diskursiv als auch (mit Noelle-Neumann) irrational-affektiv denken, und beide Konzeptionen haben, wie Landi gezeigt hat, ihre Wurzeln in den frühneuzeitlichen Begriffsverwendungen, aus denen sowohl Habermas als auch Noelle-Neumann ihre Ansätze entwickeln. 15 Es ist für die hier verfolgte begriffsgeschichtliche Untersuchung nicht entscheidend, welcher theoretischen Konzeption von öffentlicher Meinung man eher zuneigen möchte: Wichtig ist vielmehr, opinion publique nicht von

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NOELLE-NEUMANN (1989), 89–90. Ebd., 158. Ebd. Diese müsste neben dem kommunikationstheoretischen Ansatz von Habermas und dem empirischen Ansatz von Noelle-Neumann mindestens auch den systemtheoretischen von Luhmann berücksichtigen, der aber für die Begriffsgeschichte von opinion publique m. E. weniger relevant ist, da von den historischen Bedeutungszuschreibungen der öffentlichen Meinung ja gerade abstrahiert werden soll; vgl. hierzu LUHMANN (2009), 126–129; LUHMANN (1992), 77–86. Vgl. LANDI (2012).

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vornherein auf die liberal-aufgeklärte Begriffsbedeutung zu verengen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Diskussionszusammenhang herausgebildet hat und der im Rahmen moderner Demokratietheorien eine fundamentale Funktion zugeschrieben wird. Neben den Quellenbelegen, die der opinion publique im Rahmen einer entsprechenden aufgeklärt-fortschrittsoptimistischen Sicht einen eher rationalen, universellen Charakter verleihen, sollten vielmehr auch jene aus der Begriffsgeschichte der opinion publique bislang weitgehend ausgeblendeten Bedeutungsstränge berücksichtigt werden, die auf der Basis eines skeptischeren Menschenbildes der opinion publique einen eher irrationalen, affektiven Charakter zuschreiben. 16 Die Begriffsgeschichte von opinion publique würde sich damit nicht in der Archäologie einer kritischen Publizität unter den Bedingungen der sozialstaatlichen Massendemokratien erschöpfen, wie sie von Habermas intendiert war, sondern auch gegenläufige Prozesse der populistischen Desintegration demokratischer Gemeinwesen berücksichtigen und die Verwendungsweisen des Begriffs in totalitären Denksystemen beleuchten. 17 Die Geschichte der konkurrierenden Bedeutungszuschreibungen, die opinion publique und das zugehörige weitere Begriffsfeld im Laufe des 18. Jahrhunderts in Frankreich im Kontext verschiedener politischer Schlüsselereignisse erfahren haben, bewegt sich im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Konzeptionen, ohne dass eine eindeutige historische Entwicklung von der einen zur anderen festzustellen wäre.

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Tatsächlich hat Habermas diese Bedeutungsstränge durchaus mit berücksichtigt, etwa in seiner Untersuchung von Lockes «law of opinion»; da diese jedoch auf einem «secret and tacit consent» statt auf öffentlicher Diskussion beruhe und sich zudem nicht auf die ‚Gesetze des Staates‘ richte, klammert Habermas diese Konzeption aus der Vorgeschichte des bürgerlich-aufgeklärten Konzepts der opinion publique aus, wie sie sich am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt habe; Lockes «law of opinion» sei insofern eher «nichtöffentliche Meinung», vgl. HABERMAS (1996), 164 u. 171; vgl. hierzu auch LANDI (2012), 8–10. Vgl. HABERMAS (1996), 357–359.

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II. Das breitere Begriffsfeld und der lexikalische Ausgangsbefund: l’opinion und le public Opinion publique taucht als feste Wortverbindung in einem allgemeinsprachlichen Wörterbuch erst vergleichsweise spät auf, nämlich 1798 in der 5. Auflage des Dictionnaire de l’Académie, und dann bezeichnender Weise auch nicht als eigenes Lemma, sondern lediglich als untergeordnete Nebenbedeutung zu opinion: «On dit, L’opinion publique, l’opinion générale, et simplement, L’opinion, pour signifier Ce que le public pense sur quelque chose. Il faut respecter l’opinion publique. Le pouvoir, l’empire, l’influence de l’opinion; et en ce sens, on dit proverbialement, L’opinion est la Reine du monde.» 18 Am Ende des Aufklärungsjahrhunderts wird opinion publique demnach keine klar abgegrenzte, spezifische Bedeutung beigemessen: Der Ausdruck erscheint nicht als Begriff im lexikalischen Sinne, sondern lediglich als Kollokation, die eine im Begriff opinion bereits vorhandene Bedeutungsdimension exemplifiziert – und das nicht einmal in exklusiver Weise, sondern als ein Synonym unter mehreren. 19 Die Umschreibung dieser Begriffsdimension rekurriert dabei nicht zufällig auf die zweite Komponente der Wortverbindung, le public, das in diesem Zusammenhang als denkendes Kollektivsubjekt («le public pense») in Erscheinung tritt. Tatsächlich decken die beiden Wortkomponenten der opinion publique – l’opinion und le public bzw. das Adjektiv public/-que – schon in den frühesten Wörterbucheinträgen im späten 17. Jahrhundert jeweils einzeln ein ausgesprochen breites semantisches Spektrum ab, das sich teilweise überschneidet und in dieser Schnittmenge dann die Bedeutung der späteren Wortverbindung opinion publique als – zunächst noch nicht weiter qualifiziertes – kollektives öffentliches Urteil umfasst. So findet sich bereits in der Erstausgabe des Akademiewörterbuchs von 1694 als Erklärung des

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Dict. Acad. (1798), II, 192 (Hervorhebungen im Original); vgl. auch OZOUF (1987), 419. Dies bleibt in allen folgenden Auflagen des Dictionnaire de l’Académie bis hin zur aktuellen weitgehend unverändert, vgl. https://www.dictionnaireacademie.fr/article/A9O0556 [zuletzt aufgerufen 17.07.2020].

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Adjektivs public nach der allgemeinen Begriffsdefinition («Commun, qui appartient à tout un peuple, qui concerne tout un peuple») als beispielhafte Begriffsverwendung unter anderem der Satz: «la voix publique est pour luy». 20 Damit ist schon hier implizit die Vorstellung einer kollektiven öffentlichen Meinungsbildung vorhanden, die sich freilich zunächst nur auf einzelne Personen richtet und deren Träger sozial nicht näher bestimmt werden. In den Wörterbuchdefinitionen des Substantivs le public tritt der «Topos von der richtenden Funktion des Publikums» 21 dann ganz explizit zutage: Furetière etwa bemüht die Metapher des Richters, der zwar unbestechlich («incorruptible»), souverän («souverain») und unerbittlich («inexorable») sei, zugleich aber als verrufen («décrié») gelte und genau wie Privatpersonen voreingenommen sei («se laisse prévenir comme les particuliers»). 22 Zugleich liefern die Wörterbücher des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts für le public eine ausgesprochen breite, wertneutrale und politisch wie sozial unspezifische Definition, nämlich «Le general des citoyens, ou des hommes; la société civile; tout le peuple en general; le gros de la multitude.»23 Weder lässt sich an dieser Stelle bereits eine schichtenspezifische Verengung auf das bürgerliche Lesepublikum erkennen, wie sie die begriffshistorische Forschung für das 18. Jahrhundert konstatiert hat, noch kann die Rede sein von einer enggeführten römisch-rechtlichen Konzeption, die das Volk bzw. das Publikum lediglich als passiven «Adressaten obrigkeitlicher Rechtsakte» begreift, wie es im staatsrechtlichen Denken des deutschen Sprachraums verbreitet war. 24

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Dict. Acad.(1694), II, 413 [= 341]. HÖLSCHER (1978), 435. FURETIÈRE (1701) [n. pag.]: «[…] Quelque décrié que soit le public, il n’y a pas de Juge plus incorruptible, & tôt ou tard il rend justice. BOI. […] Le public, qui est le Juge souverain, se laisse prévenir comme les particuliers. […] Le public est un Juge inexorable, qu’il faudroit menager plus qu’on ne fait. BELL.» FURETIÈRE (1701); wortgleich im Dict. de Trévoux (1721), IV, Sp. 893; vgl. auch RICHELET (1680), 229. HÖLSCHER (1978), 433; vgl. auch HABERMAS (1996), 79–80; speziell für die Entwicklung vom Theaterpublikum zur literarischen Öffentlichkeit und von dort zur politischen vgl. z. B. auch SGARD (1988) sowie VEYSMAN (2005).

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Die Tätigkeit des Urteilens sowie der Bezug auf Kollektivität und Öffentlichkeit tauchen ebenfalls in den Wörterbuchdefinitionen von opinion auf. So verzeichnen diese als Begriffsdefinition an zweiter Stelle, gleich nach der Bedeutung von opinion als Resultat der individuellen Verstandestätigkeit («sentiments particuliers, qu’on se forme soy-meme en raisonnant sur les choses») auch die Ergebnisse kollektiver Meinungsbildung («sentiment general ou de plusieurs personnes») und speziell auch das (kollektive) Urteil über eine Person oder eine Sache («le jugement que l’on porte d’une personne, ou d’une chose»). 25 Richtet sich die opinion auf Personen, dann gelten Wertschätzung («estime») oder Reputation («réputation») als Synonyme. Der gesellschaftliche Ort dieser kollektiven Urteilsbildung ist allerdings nicht eine sozial indeterminierte Staatsbürger- bzw. Untertanenschaft, wie sie im Begriff le public anklang, sondern der ungleich exklusivere monde («dans l’esprit du monde»), also eine gesellschaftliche Elite, die sowohl Teile des Adels als auch das gebildete Bürgertum umfasst und für die seit Mitte des 17. Jahrhunderts auch die Bezeichnung la cour et la ville geläufig war. 26 In diesem Bedeutungskontext zitieren die frühen Wörterbücher denn auch regelmäßig den Topos der Meinung als Königin der Welt («reine du monde»), der als verbreitete Redensart ebenfalls im eingangs zitierten Auszug aus der 5. Auflage des Dictionnaire de l’Académie française an prominenter Stelle auftaucht. Sprichwörtlich regierte also die opinion mindestens seit dem späten 17. Jahrhundert 27 die Welt, ohne dass deshalb bereits eine Konkurrenz zum herrschenden Monarchen oder gar eine absolutismuskritische Stoßrichtung impliziert gewesen wäre: Der Herrschaftsbereich der opinion als reine du monde war nämlich zunächst nicht im engeren Sinne politischer Natur. Im sozialen Kontext von la cour 25

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FURETIÈRE (1701); annähernd wortgleich im Dict. de Trévoux (1721), IV, Sp. 302–303. FURETIÈRE (1701); Ebd. annähernd wortgleich im Dict. de Trévoux (1721), IV, Sp. 302–303. Zu «monde» vgl. Dict. Acad. (1694), II, 81–82; zur literarischen Elite und dem Ausdruck «la cour et la ville», vgl. HÖLSCHER (1978), 434; sowie AUERBACH (1951), 12–50. Die entsprechende Passage findet sich bis einschl. zur 8. Auflage von 1935 und verschwindet erst in der derzeit noch nicht abgeschlossenen aktuellen 9. Auflage.

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et la ville richtete sich das Urteil der Öffentlichkeit vielmehr auf persönliche Reputation und Ehre herausgehobener Personen oder es handelte sich um Fragen des (literarischen, künstlerischen) Geschmacks. Schließlich lässt sich in den Wörterbuchdefinitionen von opinion von Beginn an zumindest in den Nebenbedeutungen auch eine leicht negative Konnotation ausmachen. So werden am Ende des Eintrags bei Furetière auch noch die «dogmes d’une Secte, ou d’un parti, ou des Philosophes en général» als Bedeutungsvarianten für opinion verzeichnet und als Beispiele für solche «(nouvelles) opinions» die im katholischen Frankreich als häretisch geltenden Glaubenssätze von Luther, Calvin und Jansenius benannt. 28 Gerade mit der Nennung von Jansenius ist zu dieser Zeit ein politischreligiöses Konfliktfeld angesprochen, auf das noch zurückzukommen sein wird. Seit der Ausgabe von 1721 ergänzt das Dictionnaire de Trévoux zusätzliche Umschreibungen des Begriffs opinion, die sich aus der antiken Philosophie speisen und opinion so stärker als zuvor mit Unsicherheit und Irrtum assoziieren: Statt wie bisher von «sentiment» spricht das Wörterbuch nun von une croyance probable; un jugement de l’esprit douteux & incertain. […] Si l’aquiescement de l’esprit à une vérité qu’on lui propôse est accompagné de doute, c’est ce qu’on nomme opinion. L’opinion est une connoissance douteuse qui n’est pas sans apparence, & sans fondement; mais qui n’a point de certitude. […] c’est un milieu entre le doute, & la science. […]. 29

Es ist diese Bedeutung von opinion als unsicheres Wissen, das im Gegensatz zur wissenschaftlich hergeleiteten und damit unzweifelhaften Wahrheit steht, die auch die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert übernimmt. Da der Begriff innerhalb der Systematik der Encyclopédie dem Bereich der Logik zugeordnet ist, zielt der Artikel vor allem auf eine klare Abgrenzung der wissenschaftlichen Erkenntnis von der bloßen Meinung, die stets mit Zweifeln behaftet sei und sich zum Wissen wie die Lampe zur Sonne verhalte. Vor allen Dingen aber befasst sich der Artikel mit der Abgrenzung von Glauben und Wissen. Dagegen tauchen der gesamte gesellschaftli-

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FURETIÈRE (1701), Dict. de Trévoux (1721), IV, Sp. 303 für «nouvelles opinions». Dict. de Trévoux (1721), IV, Sp. 302.

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che Komplex des kollektiven Meinungsurteils im Sinne von Reputation sowie die Metapher von der reine du monde an dieser Stelle in der Encyclopédie gar nicht auf. 30 Der Befund aus der Analyse der allgemeinsprachlichen Wörterbücher legt somit nahe, dass es sich bei der Wortkombination opinion publique streng genommen eigentlich um einen Pleonasmus handelt: Die Vorstellung eines kollektiven öffentlichen Urteils, das sich auf Menschen wie ‚Sachen‘ bezieht, konnte auch jeder Begriff allein für sich schon transportieren, und zwar über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg. Im Kontext der öffentlichen Debatten um die politischen Schlüsselereignisse des 18. Jahrhunderts änderten sich allerdings die Funktionszuschreibungen ebenso wie die Gegenstandsbereiche dieser kollektiven öffentlichen Urteilsfunktion: Der opinion publique wurde nun eine spezifische Rolle im politischen System der absoluten Monarchie zugeschrieben. Gestritten wurde dabei um das Verhältnis von opinion und Wahrheit, um das soziale Substrat des public sowie um Autonomie und politische Funktion der öffentlichen Meinung, wobei sich die unterschiedlichen Positionen dann eben auch in verschiedenen spezifischen Wortkombinationen von cri/voix/conscience/esprit oder eben opinion public/-que niederschlagen konnten. So ergab sich aus der Kombination opinion publique ganz offensichtlich spätestens in den 1770er Jahren ein semantischer Mehrwert, der genau diesen Ausdruck zumindest in Teilen der Öffentlichkeit zu einem politischen Schlüsselbegriff werden ließ. Die Voraussetzungen für die Politisierung des größeren Begriffsfelds wurden allerdings schon wesentlich früher geschaffen; sie nahm ihren Ausgang im Zusammenhang mit der kontroversen Religionspolitik der französischen Monarchie im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts und betraf zunächst nicht l’opinion, sondern le public.

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Encyclopédie, 11, 506–507.

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III. Vom «appel au concile» zum «appel au public»: das jansenistische Widerstandsmodell als Präfiguration des politischen Schlüsselbegriffs der Aufklärung Zu den ungelösten Problemen der französischen Monarchie am Beginn des 18. Jahrhunderts gehörte der Jansenismus. In seinen späten Regierungsjahren verschärfte Ludwig XIV. die Repressionen gegen diese von Rom als häretisch verurteilte religiöse Bewegung noch einmal deutlich und zwang deren führende Köpfe, darunter Pierre Nicole und Antoine Arnauld, ins Exil. 1709 ließ er das einstige religiöse Zentrum des Jansenismus, das Kloster Port-Royal des Champs, in dem zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige Nonnen lebten, räumen und ein Jahr später vollständig niederreißen. Zugleich drängte er den Papst zu einer letzten, deutlichen Verurteilung der jansenistischen Doktrin. Am 8. September 1713 verdammte Clemens XI. in der Bulle Unigenitus Dei Filius 101 Sätze aus einer populären Lehrschrift des jansenistischen Theologen Pasquier Quesnel als häretisch. Da sich unter den inkriminierten Sätzen auch Zitate der Kirchenväter und andere bis dahin als orthodox geltende Lehrmeinungen fanden, ging der nun einsetzende Widerstand gegen die Bulle weit über die im engeren Sinne jansenistischen Kreise hinaus. An die Spitze der Opposition stellten sich zunächst vier Bischöfe, die 1717 formal gegen die päpstliche Bulle an ein künftiges Generalkonzil appellierten. Unterstützung erfuhren sie von der theologischen Fakultät der Sorbonne, dem Pariser Erzbischof, mehreren Domkapiteln sowie rund 60 % der Gemeindepfarrer in der Diözese Paris, die unter ihren Predigern und Vikaren eifrig Unterschriften zur Unterstützung der widerständigen Prälaten sammelten und so die Bewegung der sogenannten ‘Appellanten’ auf eine breite soziale Basis stellten. 31 Nach französischem Recht musste die Bulle außerdem von den Parlamenten registriert werden, um in Frankreich Rechtsgültigkeit zu erlangen; 32 doch auch unter den Magistraten gab es deutliche Vorbehalte gegen das päpstliche Do-

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Vgl. MAIRE (1985), 42. Vgl. WAGNER (1988).

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kument, dessen Inhalt zumindest in Teilen als massiver Eingriff in die Gallikanischen Freiheiten empfunden wurde. Der Kampf gegen die Bulle Unigenitus vereinte somit jansenistische Theologen, gallikanische und konziliaristische Bischöfe sowie große Teile des niederen Klerus insbesondere in der Diözese Paris mit den auf die politischen Vorrechte der Parlamente und die Eingrenzung der kirchlichen Gerichtsbarkeit bedachten Pariser Magistraten und Advokaten; religiöse, rechtliche und politische Aspekte mischten sich in der Protestbewegung gegen die Bulle Unigenitus auf eine Weise, die sich mehr und mehr von ihrem religiösen Ursprung entfernte und um die Jahrhundertmitte schließlich zur größten Verfassungskrise der französischen Monarchie vor der Revolution führte. 33 Entscheidend für die Schlagkraft dieser gebündelten Opposition gegen die absolute Monarchie französischer Spielart war die Rolle, die die wichtigsten Protagonisten des Widerstands der Öffentlichkeit zuschrieben. In den Reihen der jansenistischen Theologen entwickelte sich nach 1713 zunächst eine ‘Ekklesiologie des Widerstands’ gegen die römische Hierarchie und den Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes. 34 Die Appellanten führten die Rechte der universellen Kirche – des corpus mysticum aller Gläubigen – gegen die päpstliche Autorität ins Feld und riefen die einfachen Gemeindemitglieder und den niederen Klerus zum Widerstand gegen die päpstliche Fehlentscheidung auf. Der jansenistische Theologe Vivien de la Borde schrieb den einfachen Laien in seinem 1714 erschienenen Traktat Du témoignage de la vérité die Funktion von Glaubenszeugen zu: Im cri publique, dem einstimmigen öffentlichen Aufschrei der Gläubigen, manifestiere sich die Wahrheit des Glaubens in Zeiten der Verfolgung. 35 Sein Mitstreiter, der Abbé Jean-Baptiste d’Etemare, präzisierte: «Dans les lieux où les évêques se taisent, les prêtres doivent élever leurs voix et lorsqu’il s’agit de vérités aussi essentielles que celles d’aujourd’hui le peuple même doit faire entendre la sienne.» 36 33 34 35 36

Zu den Details vgl. MAIRE (1998); VAN KLEY (1996); WAGNER (1988). Hierzu MAIRE (1998), 205–220. Vgl. VAN KLEY (1996), 94–95; vgl. auch MAIRE (1998), 206–209. J.-B. D’ETEMARE: Mémoire où l’on examine s’il est permis à ceux qui croient la Constitution Unigenitus erronée de la lire ou de la faire lire publiquement par soumission pour les supérieurs, s.l. 1714, 26, zitiert nach MAIRE (1998), 208.

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Diesen öffentlichen Aufschrei des Volks als der wahren universellen Kirche galt es demnach zu ermutigen, zu kanalisieren und, vor allem, zu dokumentieren. Ihre Widerstandsekklesiologie propagierten die Jansenisten deshalb nicht nur auf der Ebene der Gemeinden durch eine intensive Predigt- und Seelsorgetätigkeit, sondern vor allem auch in Tausenden Druckschriften, die sich zu einem großen Teil explizit an die einfachen Gläubigen richteten: «Au XVIIIe siècle, de 1713 à 1765 environ», schreibt Catherine Maire, «non seulement le jansénisme est une affaire de librairie, mais la librairie elle-même est une affaire janséniste.» 37 Auf rund 3.400 Einzeltitel wird die klandestine jansenistische Buchproduktion von 1713 bis zur Revolution geschätzt, wobei die Höhepunkte in den Jahren 1715 bis 1735 (Unigenitus-Krise im engeren Sinn, Konvulsionäre von St. Médard), 1755 bis 1765 (Streit um Sakramentsverweigerungen und Jesuitenverbote) sowie 1770–1775 (Maupeou-Krise) lagen. 38 Bemerkenswerter noch als die jansenistische Buch- und Pamphletproduktion ist jedoch, dass im Kontext der Unigenitus-Krise auch das erste explizit oppositionelle Periodikum in Frankreich entstand: Die jansenistische Untergrundzeitschrift Nouvelles ecclésiastiques, ou Mémoires pour servir à l’histoire de la Constitution Unigenitus erschien zwischen 1728 und 1803 mit beinahe ununterbrochener Regelmäßigkeit und nahezu in gleichbleibend hoher Auflage von jeweils mehreren Tausend Stück, die in Paris und in der Provinz durch ein ausgeklügeltes geheimes Distributionsnetzwerk vertrieben und zeitweise sogar im Ausland nachgedruckt wurden. Catherine Maire hat auf die Koinzidenz zwischen dem erstmaligen Erscheinen der Nouvelles ecclésiastiques und dem Scheitern der Appellanten vor den Institutionen von Staat und Kirche hingewiesen: 39 Tatsächlich hatte die 1717/1718 initiierte innerkirchliche Mobilisierungswelle zur Unterstützung der Appellanten nicht lange Bestand. Die meisten Mitglieder des hohen und niederen Klerus akzeptierten die Bulle Unigenitus unter dem vereinten Druck der kirchlichen und staatlichen Autoritäten spätestens in den späten

37 38 39

22

Vgl. MAIRE (1998), 137; vgl. auch MAIRE (1985), 38–39 sowie 47–49. MAIRE (1998), 138. Ebd., 223–228.

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1720er Jahren. 1727 wurde zwar tatsächlich ein Konzil einberufen, allerdings nur auf der Ebene Frankreichs, und es entschied nicht im Sinne der Appellanten: Das Provinzialkonzil von Embrun setzte einen der populären Initiatoren des Appells gegen die Bulle Unigenitus, den jansenistischen Bischof von Senez, Jean Soanen, ab; per lettre de cachet wurde Soanen außerdem ins Exil verbannt. 1730 ließ der neue Pariser Erzbischof Charles de Vintimille 300 jansenistische Geistliche in seiner Diözese suspendieren, darunter zahlreiche Gemeindepfarrer, und noch im selben Jahr erhob die Regierung unter Kardinal Fleury die Bulle Unigenitus gegen den Widerstand des Parlaments per lit de justice zum Staatsgesetz: Die Bewegung der Appellanten war damit institutionell gescheitert und ein Generalkonzil keine realistische Option mehr. 40 Derart in die Defensive gedrängt, entwickelten die Jansenisten ihre Ekklesiologie des Widerstands nun zu einer «ecclésiologie du ‘tribunal du public’» weiter. 41 Der harte Kern des parti janséniste intensivierte seine publizistischen Aktivitäten mit der Herausgabe der Nouvelles ecclésiastiques und übertrug dabei ganz explizit die Funktion einer Entscheidungsinstanz für die Rechtmäßigkeit der Position der Appellanten von den kirchlichen und staatlichen Tribunalen auf die allgemeine Öffentlichkeit, le public. Im Editorial der ersten Ausgabe von 1728 hieß es dementsprechend: On s’attend d’être accusés de mensonges, de malignités, de calomnies, etc., mais le public, à qui maintenant on défère la cause des appelants, après que tous les tribunaux leur sont fermés, jugera en notre faveur, parce que l’évidence des faits qui ne pourront être contredits que par le mensonge, le convaincra de notre sincérité. 42

Der Appell an die Öffentlichkeit war eine folgerichtige Konsequenz aus der jansenistischen Widerstandsekklesiologie, nach der die wahre Kirche durch die Gemeinschaft der Gläubigen gebildet wurde, die in Zeiten der Verfolgung durch den cri public ein Zeugnis des wahren Glaubens ablege. Die Diskursfigur des public als oberstem Gerichtshof und letzter Berufungsinstanz für die von Staat und Kirche verfolgten Rechtgläubigen verdichtete sich in den

40 41 42

Vgl. MAIRE (1985), 47–50. MAIRE (1998), 221. Nouvelles ecclésiastiques (1728), Editorial, zit. nach MAIRE (1998), 227.

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Nouvelles ecclésiastiques zum immer wiederkehrenden Topos: Anlässlich des dreijährigen Bestehens etwa feierten die Herausgeber in ihrem Begleitwort für das Jahr 1731, dass das Blatt trotz intensiver Bemühungen der Pariser Polizei nach wie vor regelmäßig erschien und sich einer ungebrochen hohen Nachfrage erfreue, was für sich bereits als Zeugnis des göttlichen Beistands gedeutet wurde: L’on sait combien [ce petit ouvrage] a eu d’obstacles à surmonter […]. Mais tant qu’il plaira au Tout-puissant de le protéger, qui pourra le détruire? Entrepris uniquement pour la défense de la vérité, en un tems où la vérité & ses Défenseurs ne trouvent d’accès qu’au tribunal du Public, son sort doit avoir quelque conformité avec celui de la vérité même […]. 43

Die von den Jansenisten zum einzig legitimen Tribunal erhobene Öffentlichkeit war dabei sozial ausgesprochen breit gefasst – tatsächlich richtete sich die Untergrundzeitung ganz im Sinne der jansenistischen Ekklesiologie und Pastoraltheologie an die Gemeinschaft aller Gläubigen, das corpus mysticum der Kirche und damit explizit primär an die einfachen Leute, «les simples», denen es nicht gleichgültig sein dürfe, was in der Kirche geschehe; die Nouvelles ecclésiastiques setzten sich deshalb zur Aufgabe, diese einfachen Gläubigen zu instruieren, ihnen die Wahrheit vor Augen zu führen und ihnen so bei der Urteilsfindung zu helfen: On peut dire cependant que les Nouvelles Ecclésiastiques sont particulierement pour les simples & pour les personnes qui ne peuvent donner à cette grande affaire toute leur attention. Il ne leur est pas plus permis qu’à d’autres d’être indifférens à ce qui se passe dans l’Eglise, & ils n’ont presque que ce moyen pour s’en instruire. […] Ce ne sont point seulement les sçavans, les hommes éclairés, les esprits intelligens & subtils qui doivent faire ce discernement des vrais & des faus Docteurs; c’est le commun du monde, & les esprits les plus simples, & même les plus grossiers […] Qu’ils jugent par là de la Bulle & de ses partisans; les Nouvelles Ecclésiastiques sont faites pour les aider dans ce jugement. Elles ne font autre chose qu’exposer aux yeux de tout le monde les fruits amers que la Constitution a produits, & qu’elle produit sans cesse. 44

Um das Publikum, verstanden als Gemeinschaft der Gläubigen, entsprechend zu instruieren, berichteten die Nouvelles ecclésiasti-

43

44

24

N. LE GROS: Discours sur les Nouvelles ecclésiastiques. Depuis leur origine jusqu’à présent, s.l. 1759, Second Discours 1731, 143. Ebd., [3–4].

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ques Woche für Woche im Detail über die Verfolgung der Rechtgläubigen, die Unterstützung ihres Kampfes durch jansenistische Magistrate und Advokaten und, vor allem, über die Reaktionen der Öffentlichkeit auf all diese Ereignisse: Die Redakteure der Nouvelles ecclésiastiques waren Meister darin, die von ihnen als Urteilsinstanz beschworene Öffentlichkeit der einfachen Leute in ihrem Blatt zu inszenieren und auf diese Weise als politische Akteurin überhaupt erst hervorzubringen. Immer wieder thematisierte die Zeitschrift die Reaktionen des public auf die affaires du temps, die Stimmungslage auf den Straßen und vor allem die große Nachfrage der Öffentlichkeit nach aktuellen politischen Informationen: So hieß es im Vorwort zum 24. Jahrgang der Zeitschrift von 1753 anlässlich der Publikation eines projansenistischen Parlamentsbeschlusses: A l’instant la Capitale retentit d’un cri universel d’allégresse. Les presses des Imprimeurs & l’avidité des Colporteurs suffisent à peine à l’empressement du Public. Le plus simple Artisan quitte son travail, pour acheter & pour lire le nouvel Arrêt, & toutes les bouches s’ouvrent pour applaudir à un Réglement si judicieux. 45

Wenn die Öffentlichkeit also in dieser jansenistischen Konzeption qua definitionem der Ort war, an dem sich durch den Willen Gottes die Wahrheit des Glaubens manifestierte, dann konnte sie zwar instruiert und kanalisiert werden, letztlich aber nicht irren. Wer dagegen das Licht der Öffentlichkeit scheute, erwies sich folglich allein dadurch schon als Feind des Glaubens. Dieser binären Logik entsprechend beschrieben die Nouvelles ecclésiastiques die Strategie der Gegner der Jansenisten, allen voran der Jesuiten, als ‘Werk der Finsternis’ und permanentes Täuschungsmanöver der Öffentlichkeit: So sei es den Jesuiten beispielsweise nur gelungen, die Mehrzahl der französischen Bischöfe zur Akzeptanz der Bulle Unigenitus zu bewegen und damit in ihre Verschwörung gegen den wahren Glauben hineinzuziehen («pour les engager à cette oeuvre de ténèbre»), indem sie ihnen versprochen hätten «que le public n’en sçaura rien.» 46 Publizität bzw. öffentliche Transparenz werden somit

45 46

Ebd., 360. Ebd., [10].

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schon hier als Argument im Kontext von Verschwörungstheorien instrumentalisiert. Die enorme Propagandamaschinerie, die von den Jansenisten um 1730 mit geheimen Druckereien und einem eigenen Finanzierungsund Distributionssystem installiert worden war, zeigte ihre Effizienz vor allem in den großen innenpolitischen Krisen der 1750er und 1760er Jahre, in denen sich Klerus, Regierung und die Parlamente erbitterte Kämpfe lieferten. Diese Konflikte entzündeten sich zunächst an der Affäre der Sakramentsverweigerungen, also der erneuten Verfolgung von Jansenisten durch die kirchliche Obrigkeit, doch sie zielten auf weitaus grundsätzlichere Fragen nach dem Verhältnis von kirchlicher und weltlicher Jurisdiktion und nach der konstitutionellen Funktion der Parlamente in der französischen Monarchie. Die Parlamente beanspruchten in diesem Verfassungskonflikt eine Rolle als Bollwerk gegen den kirchlichen und den ministeriellen Despotismus und zunehmend auch als Sprachrohr der Nation, und sie setzten diesen Anspruch nicht nur gegen die Kirche und das Episkopat, sondern notfalls auch gegen König und Regierung durch – am spektakulärsten wohl mit dem Verbot des Jesuitenordens in den Jahren 1760 bis 1764. 47 Dass es sich bei dem Verfassungskonflikt der Jahrhundertmitte zumindest in Teilen um eine Übertragung der jansenistischen Widerstandsekklesiologie vom kirchlichen auf den weltlichen Bereich handelte, war zumindest einem Zeitgenossen wie dem Marquis d’Argenson vollkommen klar, der im November 1753 in seinem Tagebuch notierte: «Dans l’opinion générale […] s’établit l’opinion que la nation est au-dessus des rois, comme l’église universelle au-dessus du Pape. Et de là prévoyez quels changements en peuvent arriver dans tous les gouvernements.» 48 Von der Kirchenverfassung zur Staatsverfassung und von der Gemeinschaft der Gläubigen zur Nation war es für die ebenso häufig juristisch wie theologisch geschulten jansenistischen Publizisten kein weiter Weg. Die Redakteure der Nouvelles ecclésiastiques inszenierten ihre Zeitschrift in all diesen Konflikten als Sprachrohr und zugleich als einzig verlässliche Erzieherin einer Öffentlichkeit, deren wesentli-

47 48

26

Hierzu VOGEL (2006), 199–238. D’ARGENSON, VIII, 153.

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che Attribute Wahrheit und Einstimmigkeit waren. Ihre Aufgabe bestand im niemals nachlassenden Aufrütteln und Mobilisieren dieser Öffentlichkeit, im appel au public, sowie in der Dokumentation des cri publique und der sensationsheischenden Enthüllung von Verschwörungen gegen die Öffentlichkeit. Der jansenistische appel au public erweist sich somit vor allem als eine populistische Strategie, die im Übrigen keineswegs auf die Nouvelles ecclésiastiques beschränkt blieb, sondern die gesamte jansenistische Buchproduktion und auch die Publikationsoffensive der Parlamente und Advokaten in den innenpolitischen Krisen der 1750er und 1760er Jahre prägte. Allerdings zeigt sich diese populistische Strategie wohl nirgends so deutlich und explizit wie im jansenistischen Untergrundperiodikum, das damit auf den Populismus der radikalen Revolution und das journalistische Selbstverständnis eines Marat, Hébert oder Babeuf vorausweist. Nicht nur die Langlebigkeit der Nouvelles ecclésiastiques kann dabei als Indiz für den Erfolg dieser populistischen Strategie gedeutet werden, sondern auch das Zeugnis verschiedener Zeitgenossen. Der spektakulärste Beleg für die soziale Breitenwirkung der jansenistisch-parlamentarischen Propaganda bleibt sicherlich das Attentat auf Ludwig XV. im Januar 1757 durch Robert-François Damiens, einen einfachen Domestiken, in dessen größtenteils durch Folter erpressten Geständnissen sich die wesentlichen Elemente des jansenistisch-parlamentarischen Widerstandsdiskurses finden lassen. 49 Wenn jedoch der Pariser Anwalt Barbier, der selbst keinerlei Sympathien für den parti janséniste hegte, im Juli 1735 einigermaßen lakonisch formulierte: «Tout le public est janséniste sans savoir pourquoi»; 50 dann belegt er damit nicht nur den Erfolg der jansenistischen Propaganda in der öffentlichen Meinung, sondern vor allem die Tatsache, dass die Öffentlichkeit – le public – von Zeitgenossen wie ihm selbst mittlerweile ganz selbstverständlich als politisch relevante Größe wahrgenommen wurde. Festzuhalten bleibt: Die Politisierung des Öffentlichkeitsbegriffs in Sinne einer Gegengewalt gegen die miteinander verflochtenen Autoritäten von Kirche und Staat begann in Frankreich schon in

49 50

Vgl. VAN KLEY (1980), 43; DERS. (1996), 172–175. BARBIER: Journal, Bd. III, 45, zit. nach MAIRE (1998), 232.

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den späten 1720er Jahren im Kontext der Unigenitus-Krise, die zu einer Mobilisierung der Öffentlichkeit in bis dahin beispielloser sozialer Breite und publizistischer Intensität geführt hatte. Die Konzeption der Öffentlichkeit war bei den Jansenisten aber gerade nicht die eines egalitären, räsonierenden Bürgertums: Das jansenistische tribunal du public, das aus der durch göttliche Gnade inspirierten Schar der Gläubigen besteht, räsonniert nicht. Als corpus mysticum bezeugt es die Wahrheit des Glaubens, und sein Urteilsspruch manifestiert sich durch den einhelligen cri public oder die voix publique, gleichsam als unmittelbarer Ausdruck göttlicher Gnade. In den Nouvelles ecclésiastiques ist deshalb konsequenter Weise zwar wohl von voix publique oder cri public die Rede, nicht jedoch von opinion publique: Die Wahrheit des parti janséniste ist eben nicht Gegenstand individueller menschlicher Verstandestätigkeit, sondern mystischer Offenbarung.

IV. Politisierung durch Historisierung: opinion (publique) im Diskurs der Aufklärung Bis in die 1760er Jahre hatte das von der jansenistischen Pariser Anwaltskammer unterstützte und von einer Minderheit jansenistischer Magistrate dominierte Parlament das Tribunal der Öffentlichkeit stets auf seiner Seite – zumindest insoweit, wie die Nouvelles ecclésiastiques eben dieses Tribunal wöchentlich neu heraufbeschworen und zugleich lautstark als dessen Verkörperung auftraten. Zudem verstärkten die Magistrate und Advokaten selbst die publizistische Offensive durch die massenhafte Drucklegung ihrer Beschlüsse und Rechtsgutachten, in denen sie ihre konstitutionelle Staatstheorie propagierten. 51 In dem Maße jedoch, wie sich die politische Publizistik quantitativ immer stärker ausweitete, sich sozial ausdifferenzierte, immer mehr publizistische Akteure mobilisierte und beispielsweise unter der Feder eines Voltaire nicht zuletzt auch die Parlamente kritisch ins Visier nahm, machten andere dem parti janséniste die Deutungshoheit über Funktion und Bedeutung der 51

28

Vgl. MAZA (1987), 73–90; WAGNER (1988); BELL (1994); BASTIEN (2006), 34–62.

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Öffentlichkeit streitig: Der appel au public, die rhetorische Inszenierung der Öffentlichkeit als politische Akteurin und Appellationsinstanz jenseits der kirchlichen und staatlichen Institutionen, blieb als Stilmittel nicht auf die jansenistische Presse beschränkt. Insbesondere die philosophes thematisierten nun ihrerseits den Zuwachs medial vermittelter öffentlicher Meinungsbildung und konkurrierten mit den Jansenisten und den Parlamenten um die Rollen als Sprachrohr und Erzieher der Öffentlichkeit, aber auch als unschuldige Opfer obrigkeitlicher Verfolgung. 52 Dies geschah verstärkt seit den 1750er Jahren unter dem Eindruck des gemeinsamen Vorgehens von kirchlicher Obrigkeit, jansenistischer Publizistik und Parlamenten gegen die als staatszersetzend und religionsfeindlich denunzierte philosophie: Die Zensurmaßnahmen der Parlamente, des Pariser Erzbischofs und selbst des Papstes gegen die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert sowie gegen einzelne Autoren wie d’Holbach und Voltaire provozierten nun ihrerseits intensive öffentliche Debatten, in denen Jansenisten und Parlamenten die während des Unigenitus-Streits der 1720er und -30er Jahre noch einigermaßen unangefochtene Meinungsführerschaft entglitt. 53 Die Autorität der Parlamente litt dabei zusätzlich unter der öffentlichkeitswirksamen Denunzierung von Justizskandalen, für die Voltaire mit der Calas-Affäre 1762 das Modell etabliert hatte. 54 Dass der Abwehrkampf von Kirche, Jansenisten und Parlamenten gegen die philosophes auch ein Kampf um die Meinungsführerschaft in der Öffentlichkeit war, dokumentierte Voltaire im Juli 1765 in einem Brief an d’Alembert: «On crie contre les philosophes. On a raison, car si l’opinion est la Reine du monde, les philosophes gouvernent cette reine. Vous ne sauriez combien leur empire s’étend.» 55 Es ist kein Zufall, dass Voltaire hier noch einmal den alten Topos von der opinion reine du monde bemühte, wenn er auch bereits den philosophes die Rolle derjenigen zuschrieb, die dieser Königin

52 53 54 55

Vgl. GUMBRECHT / REICHARDT (1985), 41/47. Vgl. CHARTIER (1990), 49–63. Vgl. MAZA (1993); GARRISSON (2004). VOLTAIRE an D’ALEMBERT, 8.7.1765, Best. 11937, Bd. 58, 253; ähnlich auch am 3.1.1766 an D’ARGENTAL, Best. 12214, Bd. 60, 4: «L’opinion gouverne les hommes; et les philosophes font petit à petit changer l’opinion universelle.»

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die Richtung vorgaben. Im Diskurs der Aufklärer lag der begriffliche Fokus nämlich zunächst weniger beim public des parti janséniste, sondern eher bei der opinion als kollektivem Moral- oder Geschmacksurteil. Diese war allerdings, gerade in Verbindung mit dem Topos der reine du monde, zunächst, wie bereits eingangs bemerkt, keine politisch subversive Kategorie. Im allgemeinen Sprachgebrauch, auch bei aufgeklärten Schriftstellern wie Mirabeau, Helvétius, d’Holbach, d’Alembert und anderen, wurde opinion vielmehr über den gesamten Untersuchungszeitraum primär als Quelle von Ansehen und Reputation und damit als Ausdruck der moralischen und gesellschaftlichen Werte eines Volkes verstanden, die sich nicht aufgrund rationaler Kriterien, sondern durch stillschweigende Übereinkunft, Tradition und unreflektierte Übernahme in der Erziehung herausbildeten. Von diesem Begriffsverständnis zeugte etwa John Lockes law of opinion or reputation, die er neben dem göttlichen und dem weltlichen Gesetz zu den drei handlungsleitenden Instanzen der Menschen zählte. 56 In diesem Sinne verwendete auch Rousseau 1758 noch die Wortkombination opinion publique in einem Brief an d’Alembert, in dem er auf die Frage antwortete, wodurch sich das Verhalten und die Sitten eines Volkes lenken und bestimmen lassen: «Je réponds que c’est par l’opinion publique. Si nos habitudes naissent de nos propres sentiments dans la retraite, elles naissent de l’opinion d’autrui dans la société. Quand on ne vit pas en soi mais dans les autres, ce sont leurs jugements qui règlent tout.» 57 Die opinion publique erscheint hier als Instanz gesellschaftlicher Moral, deren Urteil sich der einzelne unterwirft, insofern er ein soziales Wesen ist. Entsprechend beschreibt Rousseau auch im Contrat social die Funktion der opinion als die eines Gesetzes, das in den Herzen der Bürger verankert sei und nach und nach, unmerklich, die Gewohnheit an die Stelle der Autorität setze: «Je parle des mœurs, des coutumes, et surtout de l’opinion; partie inconnue à nos politiques, mais de laquelle dépend le succès de toutes les autres […].» 58 Die opinion (pub56

57 58

30

Zum allgemeinsprachlichen Verständnis von opinion vgl. BAKER (1990), 187; zu Lockes law of opinion vgl. HABERMAS (1996), 164–165; NOELLENEUMANN (1989), 96–102; LANDI (2012), 8–10. Zitiert nach: HENNIS (1957), 113. J. J. ROUSSEAU: Du contrat social, Kap. XII, Abs. 5.

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lique) ist insofern bei Rousseau deutlich unterschieden vom politischen Konzept der volonté générale, die ihren formalisierten Ausdruck im Gesetz findet, während erstere den informellen Bereich von Sitten und Moral betrifft. 59 In diesem konventionellen Begriffsverständnis der opinion als eines kollektiven Moral- oder Geschmacksurteils, wie es in der Leitmetapher der reine du monde tradiert wurde, war durchaus schon die Vorstellung angelegt, dass sich auf Dauer nicht gegen die herrschende opinion regieren lasse. Allerdings implizierte dies keineswegs per se schon eine kritische, anti-absolutistische Stoßrichtung. 60 So sah beispielsweise der Abbé de Saint-Pierre nach dem Tod Ludwigs XIV. in der opinion publique sogar eine mögliche Stütze für den Fortbestand des geschwächten Absolutismus, sofern es gelänge, das Ansehen der Monarchie in der Öffentlichkeit durch ein transparenteres Regierungshandeln wieder zu steigern. 61 Und selbst einer der hartnäckigsten Verteidiger des Ancien Régime, Jacob-Nicolas Moreau, schrieb noch am Vorabend der Revolution: «L’opinion générale des peuples est un torrent qui entraîne les rois mêmes qui lui résistent.» 62 Eine politische Zuspitzung erfuhr diese Vorstellung dann allerdings im Diskurs der Aufklärer, etwa wenn Raynal in seiner Histoire des deux Indes die opinion kurzerhand zur entscheidenden Machtgrundlage aller Regierungen erklärte, und zwar unabhängig von der Regierungsform: «N’oubliez pas que le levier de la puissance n’a d’autre appui que l’opinion; que la force de ceux qui gouvernent n’est réellement que la force de ceux qui se laissent gouverner.» 63 Raynal hatte sich damit offenkundig von jeglicher

59 60

61 62

63

Vgl. auch BAKER (1990), 187. In diesem Sinne begreift auch GUNN (1995) das Konzept, dessen Entwicklung er deshalb durch die gesamte Geistesgeschichte der Frühen Neuzeit hindurch nachvollziehen kann. Vgl. KAISER (1983), insbes. 621. J.-N. MOREAU, Principes de la Morale, de politique et de droit public puisés dans l’histoire de notre monarchie, ou Discours sur l’histoire de France […], 21 Bde., Paris 1777–1789, hier Bd. XVII, 375–376, zitiert bei: GEMBICKI (1979), 288. G. T. F. RAYNAL: Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux indes, Bd. 4, Genf 1780, 379, zitiert nach REICHARDT (1973), 85.

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Vorstellung einer sakralen Herrschaftslegitimation verabschiedet. Er steht hier darüber hinaus aber auch stellvertretend für eine neue und aus begriffsgeschichtlicher Sicht entscheidende Etappe im Politisierungsprozess der opinion (publique): Ab den 1770er Jahren häufen sich nämlich die Belege, die das Konzept in das fortschrittsorientierte und reflexive Geschichtsbild der Aufklärung einbetten. 64 So erläuterte Raynal, dass die opinion nicht nur mit den Sitten und Gewohnheiten der verschiedenen Völker variiere, sondern auch mit den «lumières»: Auf diese Weise erklärte er dann nicht allein die Unterschiedlichkeit der Regierungsformen auf der Welt durch die Verschiedenheit der opinions, sondern propagierte auch die normative Idee eines Fortschritts der opinion (publique), der zugleich einen politischen Fortschritt mit sich bringe: L’opinion publique, chez une nation qui pense & qui parle, est la regle du gouvernement: jamais il ne la doit heurter sans des raisons publiques, ni la contrarier sans l’avoir désabusée. C’est d’après cette opinion que le gouvernement doit modifier toutes ses formes. L’opinion, comme on le sait, varie avec les mœurs, les habitudes & les lumières. Ainsi tel prince pourra faire, sans trouver la moindre résistance, un acte d’autorité, que son sucesseur ne renouvelleroit pas, sans exciter l’indignation. D’où vient cette différence? Le premier n’aura pas choqué l’opinion qui n’étoit pas encore née; le second l’aura blessée ouvertement un siecle plus tard. […] Les gouvernemens doivent donc s’améliorer & se perfectionner comme les opinions. Mais quelle est la regle des opinions, chez les peuples éclairés; l’intérêt permanent de la société, le salut & l’utilité de la nation. 65

Für Raynal bestand kein Zweifel, dass die opinion (publique) nicht nur die Machtgrundlage einer jeden Regierung darstelle, sondern dass sie sich darüber hinaus im Laufe der Zeit immer weiter aufklären, sich also, in Raynals Worten, zunehmend am gesellschaftlichen Interesse, am Gemeinwohl und am nationalen Nutzen ausrichten würde, was schließlich insgesamt zu gesellschaftlichen und politischen Verbesserungen führen müsse. Durch die Einbettung in das aufgeklärte Fortschrittsnarrativ wurde die opinion (publique) also historisiert und dynamisiert: Als kollektives öffentliches Urteil war sie nicht mehr bloß Ausdruck unreflektierter Moralvorstellungen und stillschweigend tradierter 64

65

32

Vgl. insbes. BAKER (1990), 193; sowie zusammenfassend LEMAÎTRE (2013). RAYNAL, Histoire philosophique, Ausg. Amsterdam 1770, Bd. 6, 391–392.

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Sitten, wie noch bei Locke oder Rousseau, sondern treibende Kraft einer zielgerichteten historischen Entwicklung. Vor allem aber unterschied sich die opinion publique der Aufklärung damit eben auch grundlegend vom cri public der Jansenisten: Zwar bildete die Vorstellung einer Richter- und Kontrollfunktion der Öffentlichkeit gegenüber den verflochtenen Autoritäten von Thron und Altar weiterhin den Kern des Begriffs, doch das eschatologische Geschichtsverständnis, das die theologische Grundlage der jansenistischen Konzeption bildete, war bei den Aufklärern weggebrochen: Geschichte war für sie bereits zu einem «Reflexions- oder Aktionsbegriff» geronnen und bezeichnete einen säkularisierten historischen Prozess. 66 Die Öffentlichkeit, le public, übte ihr Richteramt somit nicht mehr im Namen einer transzendenten und unanfechtbaren göttlichen Wahrheit aus, sondern kraft der ganz und gar innerweltlichen menschlichen Vernunft. Der Wegfall einer transzendenten Legitimation bescherte der opinion publique freilich eine ganze Reihe neuer Probleme: Da ihr nun historischer Wandel und Veränderlichkeit quasi begrifflich eingeschrieben waren, stellte sich umso dringlicher die Frage nach der Verbindlichkeit und dem Wahrheitsgehalt ihrer Urteile; die im Begriff opinion angelegten Bedeutungsdimensionen von Zweifel und Unsicherheit implizierten die Möglichkeit von Manipulation und Irrtum, aus der keine Heilsgewissheit mehr den Weg weisen konnte. Auch die Frage des sozialen Referenten stellte sich recht eigentlich erst jetzt, da die Öffentlichkeit, le public, als Kollektivsingular nicht mehr das jansenistische Gottesvolk war, das durch den kollektiven Aufschrei der einfachen Seelen Zeugnis von der geoffenbarten Wahrheit ablegte.

66

Vgl. KOSELLECK (1983), 269.

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V. «Puissance invisible» ? Opinion publique als kontroverser Schlüsselbegriff im vorrevolutionären Frankreich Seit den 1770er Jahren kam es in Frankreich noch einmal zu einer deutlichen Verdichtung und Intensivierung der politischen Publizistik. Anlass war zunächst die Maupeou-Krise, der Versuch der Regierung, die alten Parlamente abzuschaffen und damit zugleich der von den Magistraten und dem parti janséniste weiterhin lautstark propagierten anti-absolutistischen Staatstheorie den Garaus zu machen. Dass dieser Versuch am Ende scheiterte, war nicht zuletzt der geschickten Selbstinszenierung der Magistrate als Sprachrohre der Öffentlichkeit im Rahmen einer publizistischen Offensive zu verdanken, in der weitgehend auf die bereits etablierten Strukturen und sogar das Personal der jansenistisch-parlamentarischen Opposition zurückgegriffen wurde. 68 Als sodann im Kontext der sich zuspitzenden Finanzkrise unter dem neuen König Ludwig XVI. und seinen wechselnden Finanzministern verschiedene Reformansätze erprobt und öffentlich diskutiert wurden, man nach Gründen für das Scheitern überkommener Verfahren und Institutionen suchte und nach alternativen politischen Legitimationsinstanzen Ausschau hielt, entfaltete, wie Keith Baker gezeigt hat, die überkommene Vorstellung vom Richteramt des Publikums in Verbindung mit dem aufgeklärten Fortschrittsnarrativ eine besondere Sprengkraft, die sich am Begriff der opinion publique entzündete. 69 Erst in dieser Situation entwickelte sich opinion publique zum politischen Schlüsselbegriff – einem Schlüsselbegriff freilich, der weiter hoch kontrovers blieb und zu keinem Zeitpunkt eine mehrheitsfähige, einschlägige Definition erfuhr. Einen zentralen Beitrag zur Popularisierung des neuen politischen Schlagworts leistete Jacques Necker, der nach seiner Entlassung als Finanzminister in seiner zugleich als Rechtfertigungsschrift konzipierten Abhandlung über die französische Finanzverwaltung den Regierenden empfahl, sich die opinion publique zur Richtschnur ihres Handelns zu nehmen. Da diese laut Necker in Frankreich 67 68 69

34

J. NECKER: De l’administration des finances de la France, Paris 1784, lxii. Vgl. hierzu BELL (1991); SINGHAM (1992); SWANN (1995). BAKER (1990), 168–186.

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bereits einen sehr fortgeschrittenen Grad der Aufklärung erreicht habe, könne selbst ein unfähiger Minister zu richtigen und nützlichen Entscheidungen gelangen, wenn er nur fleißig die öffentliche Meinung studiere und ihrem Urteil folge.70 Insofern stelle die opinion publique das wirkungsvollste Bollwerk gegen Machtmissbrauch und die wichtigste Stütze der Freiheit in einem monarchischen Regierungssystem dar. 71 Dabei schien sich die opinion publique bei Necker quasi ganz von selbst aufzuklären, sofern ihr durch Parteienbildung oder einen allzu dominanten Monarchen keine Hindernisse in den Weg gelegt wurden; sie blieb außerdem sozial unbestimmt und wirkte in geradezu mystischer Weise als «puissance invisible, qui sans trésors, sans garde & sans armée, donne des loix à la ville, à la Cour, & jusques dans le palais des Rois.»72 Aufgegriffen wurde diese ebenso optimistische wie politisch letztlich vage Konzeption in der Encyclopédie méthodique, die Passagen aus Neckers Abhandlung an verschiedenen Stellen mehr oder weniger wörtlich übernahm und dabei weiter konkretisierte.73 So definierte Jacques Peuchet im Vorwort zur Abteilung «Jurisprudence» opinion publique als eine Art Schwarmintelligenz («la somme de toutes les lumières sociales»), auf deren Basis eine Nation ihre Urteile fälle.74 Dabei unterscheide sich die opinion publique einerseits 70

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NECKER (1784), lxviii–lxix: «[…] l’administrateur capable de l’étudier [l’opinion publique], & avide de l’obtenir, pourroit, par ce seul sentiment, suppléer à la foiblesse de ses talents, & à l’incertitude de ses connoissances. En effet, les idées générales sur le bien de l’Etat, les notions sur tout ce qui est utile & raisonnable, ont suivi le progrès des lumières, & sont aujourd’hui fort répandues.» NECKER (1784), lxiv–lxv: «[C]’est l’ascendant de l’opinion publique, qui souvent, plus qu’aucune autre considération, oppose des obstacles en France aux abus de l’autorité. […] Que si jamais cette opinion étoit absolument dédaignée, que si jamais elle s’affoiblissoit d’elle-même, la liberté peutêtre perdroit son principal appui, & l’on auroit besoin plus que jamais, & des vertus du Souverain, & de la modération de ses ministres.» NECKER, lxii; vgl. ähnlich Artikel «Opinion publique», in: Encyclopédie méthodique, Finances, Bd. III, Paris 1787, 262. Etwa ebd., 262–264; sowie im von Jacques Peuchet verfassten Discours préliminaire in der Abteilung Jurisprudence, Bd. IX, Paris 1789, IX–X; vgl. auch BAKER (1990), 193–197. PEUCHET (1789), IX: «Ce mot désigne d’une manière générale la somme de toutes les lumières sociales, ou plutôt le résultat de ces lumières, considéré comme motif des jugemens que porte une nation sur les choses soumises à son tribunal.»

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vom Untertanengeist («esprit d’obéissance»), der in despotischen Staatswesen vorherrsche, und andererseits von den Volksmeinungen («opinions populaires»), die in Republiken die Entscheidungsfindung steuerten. In der Encyclopédie méthodique erscheint die opinion publique somit als eine Kontrollinstanz, die in monarchischen Regierungssystemen notwendig ist, damit sich die Nation vor dem Machtmissbrauch der Herrschenden schützen kann: «C’est l’arme qu’un peuple éclairé oppose en masse aux opérations précipitées d’un ministre ambitieux ou d’une administration égarée.»75 Die Wirkungsweise dieser Waffe blieb allerdings bei der Encyclopédie méthodique wie bei Necker auf nicht weiter definierte Art mit dem Fortschritt der Vernunft im Zeitalter der Aufklärung verbunden: Wie die Vernunft selbst war auch die opinion publique durch Einheitlichkeit, Stabilität, Universalität und Objektivität gekennzeichnet: Sie wurde, gemäß der Formulierung von Peuchet, «en masse» wirksam, indem sie dem Einzelnen, der durch Ehrgeiz oder andere Gründe fehlgeleitet werden konnte, die Unfehlbarkeit der Masse entgegensetzte; Spaltung, Parteienbildung und Meinungsstreit – Kennzeichen republikanischer Staatswesen – waren im Gegenbegriff der opinion populaire aufgehoben. Die opinion publique von Necker und der Encyclopédie méthodique propagierte damit, wie Keith Baker gezeigt hat, eine Politik ohne Leidenschaften, Faktionen, Konflikte und Angst: «a politics without politics».76 Da sie gleichwohl zentrale Merkmale absoluter Herrschaft von der Person des Monarchen auf die Öffentlichkeit übertrug und dieser als Verkörperung der Nation die Funktion einer Kontrollinstanz der Regierung zuschrieb, konnte die opinion publique als politischer Schlüsselbegriff im Kontext des französischen Absolutismus eine subversive Wirkung entfalten und, in Keith Bakers Worten, als «liminal concept between absolute authority and revolutionary will» den Übergang vom Ancien Régime zur Revolution markieren.77 Das politische Subversionspotenzial und der utopische Gehalt des neuen Kampfbegriffs traten noch wesentlich klarer unter der Feder von Louis-Sébastien Mercier hervor, der den historischen

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PEUCHET (1789), X. BAKER (1990), 196. BAKER (1990), 198.

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Durchbruch der opinion publique in seinem Tableau de Paris – mit entsprechendem sprachlichem Pathos – zum revolutionären Geschehen von globaler Bedeutung stilisierte, dabei die Idee eines unüberwindbaren Bollwerks gegen den Despotismus rhetorisch zur Drohkulisse gegen Tyrannen jeder Art aufrüstete und so eine bestmögliche Welt ganz ohne Tyrannei erträumte: Depuis trente ans seulement, il s’est fait une grande & importante révolution dans nos idées. L’opinion publique a aujourd’hui en Europe une force prépondérante, à laquelle on ne résiste pas: ainsi, en estimant le progrès des lumieres, & le changement qu’elles doivent enfanter, il est permis d’espérer qu’elles apporteront au monde le plus grand bien, & que les tyrans de toute espece frémiront devant ce cri universel qui retentit & se prolonge pour remplir & éveiller l’Europe. 78

Deutlicher als Necker und die Encyclopédie méthodique präzisierte Mercier dabei die soziale Rollenverteilung beim historischen Durchbruch der opinion publique: Für ihn waren es die (aufgeklärten) Schriftsteller («écrivains», «gens de lettres»), die für die Aufwertung der opinion publique verantwortlich zeichneten, indem sie gegen politische Missstände und falsche Ansichten aller Art zu Felde zogen. 79 Damit griff Mercier einen verbreiten Topos des reflexiven Aufklärungsdiskurses auf, der den Aufstieg der Öffentlichkeit zur universell zuständigen Urteilsinstanz auf die Ausweitung des Buchmarkts und den Durchbruch des Pressewesens zurückführte und dabei den Schriftstellern eine entscheidende pädagogische Rolle zuwies. 80 Die paradigmatische Formulierung dieses Topos hatte Malesherbes 1775 in einer vielzitierten Passage seiner Antrittsrede vor der Académie française geliefert: Il s’est élevé un tribunal indépendant de toutes les puissances et que toutes les puissances respectent, qui apprécie tous les talents, qui prononce sur tous les gens de mérite. Et dans un siècle éclairé, dans un siècle où chaque citoyen peut parler à la nation entière par la voie de l’impression, ceux qui ont le talent d’instruire les hommes et le don de les émouvoir, les gens de lettres en un mot

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L.-S. MERCIER: Tableau de Paris. Nouvelle édition originale, corrigée et augmentée, Bd. 4, Amsterdam 1782, 264. MERCIER (1782), Bd. 4, 264, 268; Bd. 8 (Amsterdam 1783), 111. So z. B. auch bei CONDORCET: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain, Paris 1795, 177–179, vgl. auch REICHARDT (1973), 87.

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sont au milieu du public dispersé ce qu’étaient les orateurs de Rome et d’Athènes au milieu du public assemblé. 81

Die Metapher des Tribunals der Öffentlichkeit erfreute sich also seit ihrer Popularisierung durch die Jansenisten in den 1730er Jahren ungebrochener Beliebtheit – allerdings war die darin implizierte Konzeption der Öffentlichkeit bei den Aufklärern sozial wesentlich elitärer: Von den einfachen Leuten, die bei den Jansenisten als Gottesvolk im Tribunal der Öffentlichkeit noch direkt das Urteil verkündet hatten, war hier nicht mehr die Rede; die «nation entière» musste zuerst durch eine Elite von Begabten und Gebildeten mittels des gedruckten Wortes instruiert werden. Obgleich in der politischen Publizistik nach 1770 weitgehend Einigkeit darüber herrschte, dass die opinion (publique) in Frankreich seit der Mitte des Jahrhunderts mit ihren Urteilssprüchen einen wesentlichen Einfluss auf die Regierungspolitik ausübte, folgten allerdings bei weitem nicht alle Autoren der radikalaufklärerischen Konzeption eines Necker, Peuchet oder auch Mercier, die in der opinion publique das Vehikel einer universellen und objektiven Vernunft auf ihrem Weg zur unangefochtenen Herrschaft sahen. Selbst unter den Protagonisten der Aufklärung blieb umstritten, wie weit ihr eigener Einfluss auf die opinion publique tatsächlich reichte, wer die eigentlichen Träger der öffentlichen Meinung waren und wo man im Prozess der Aufklärung wirklich stand. Eine differenziertere und bei allem Fortschrittsoptimismus in Bezug auf die opinion publique eher skeptische Position vertrat zum Beispiel Condorcet. Zwar stand auch für ihn außer Zweifel, dass der opinion publique eine maßgebliche politische Funktion im Regierungssystem der absoluten Monarchie zukomme, nämlich als «seule interprète du vœu des nations, lorsque la constitution n’a établi ni convocation générale du peuple, ni assemblée générale de ses représentants.» 82 Allerdings hinke die opinion publique stets der Meinung einer politischen Avantgarde von «gens éclairés» hinterher, die der öffentlichen Meinung die Richtung vorgaben, sie aber kei-

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Zitiert nach REICHARDT (1973), 86; ebenfalls zitiert bei CHARTIER (1990), 45; OZOUF (1987), 424. CONDORCET: Sur l’état des protestants, 1781, 521, zitiert bei REICHARDT (1973), 85 u. Anm. 403.

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neswegs kontrollierten. Von der opinion publique und der opinion des gens éclairés unterschied Condorcet außerdem auch noch die opinion populaire, die Meinung des Volks, «celle de la partie du peuple la plus stupide et la plus misérable». Politisch komme die Volksmeinung laut Condorcet allerdings nur dort zum Tragen, wo eine schwache Regierung auf die Zustimmung der «populace» angewiesen sei. 83 Anders als Necker oder Peuchet verstand Condorcet – zweifellos vor dem Erfahrungshintergrund des Mehlkriegs 1775 und des Scheiterns der von Turgot betriebenen Liberalisierung des Getreidehandels – die opinion publique also gerade nicht als unmittelbaren Ausdruck einer universellen, unfehlbaren und unteilbaren Vernunft, noch wirkte sie bei ihm allein durch ihre pure Masse; vielmehr unterschied sie sich einerseits von der Meinung des ungebildeten Volks und bedurfte andererseits auch der Führung durch eine aufgeklärte Elite, die ihr den Weg in die richtige Richtung wies – eine Einschätzung, an der Condorcet auch noch während der Revolution und unter dem Eindruck der Terreur festhielt. 84 Aufgeklärter Fortschrittsoptimismus konnte sich also durchaus mit einer pluralistischen und tendenziell sogar skeptischen Konzeption der opinion publique verbinden, und tatsächlich neigten die meisten politischen Beobachter im vorrevolutionären Frankreich eher zu Condorcets gemäßigter als zu Neckers radikalaufklärerischer Konzeption: 85 Die opinion publique erschien ihnen vor allem 83

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CONDORCET: Réflexion sur le commerce des grains (1776), zit. nach REICHARDT (1973), 295; zu Condorcets Konzept der opinion publique vgl. ebd., 82–105, 292–305. Vgl. CONDORCET: Esquisse, 226: «En effet, si dans les sciences morales et politiques, il existe à chaque instant une grande distance entre le point où les philosophes ont porté les lumières, et le terme moyen où sont parvenus les hommes qui cultivent leur esprit, et dont la doctrine commune forme cette espece de croyance généralement adoptée, qu’on nomme opinion; ceux qui dirigent les affaires publiques, qui influent immédiatement sur le sort du peuple, quel que soit le genre de leur constitution, sont bien loin de s’élever au niveau de cette opinion; ils la suivent, mais sans l’atteindre, bien loin de la devancer, et se trouvent constamment au-dessous d’elle, et de beaucoup d’années, et de beaucoup de vérités.» So etwa Helvétius, Meister, Pétion, Diderot, Letrosne, vgl. REICHARDT (1973), 297–302; HÖLSCHER (1978), 450. OZOUF (1987) und BAKER (1990) differenzieren m. E. nicht ausreichend zwischen den verschiedenen Positionen der Aufklärer bzw. unterstellen der Konzeption von Necker, Peuchet und Mercier ein zu hohes Gewicht.

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als wankelmütiges und wenig verlässliches Tribunal, das aus allen möglichen Richtungen zu beeinflussen war und sich von jedermann vereinnahmen lasse: «je sais que les grands, les prêtres, les femmes, les charlatans, ont réussi quelquefois à la fléchir en leur faveur», spottete etwa Melchior Grimm in seiner Correspondance littéraire: «Je ne sais si le tour des gens de lettres est venu dans ce siècle mais, jusqu’à présent, je vois peu d’exemples de leur succès dans ce genre.» 86 Dass sich in der Öffentlichkeit das vernünftige Argument am Ende stets durchsetze, schien mithin keineswegs ausgemacht. Viel eher als die Vernunft mochten niedere Instinkte, Einbildungskraft oder schlicht geistige Trägheit die Menschen in ihrer Meinungsbildung anleiten: «On le sait, l’opinion publique ne découle pas toujours d’une source très-pure», warnte 1788 der spätere Revolutionär Pétion de Villeneuve, der offenkundig kein allzu großes Vertrauen in die manipulierbare Meinung der Masse setzen mochte: Personne n’ignore par quels artifices on la prépare. Les gens en place ne négligent rien pour disposer les esprits à accueillir leurs dessins les plus funestes […]. La masse de la nation, qui, sans jugement personnel, croit aveuglement sur la foi d’autrui, répète à l’unisson ce qu’elle entend, ce qu’elle lit: et voilà dans un moment l’opinion publique formée. 87

Bei aller Skepsis war das neue Schlagwort am Vorabend der Revolution dennoch so geläufig in Presse und politischer Publizistik geworden, dass auch die Propagandisten eines monarchischen Absolutismus klassischer Prägung nicht umhin konnten es aufzugreifen. Eine naheliegende Strategie bestand dabei darin, die Vorstellung einer pluralistischen und veränderlichen opinion publique, die dem Einfluss der Philosophen, gens de lettres oder gar der Parlamente und Magistrate unterlag, ins Negative zu wenden und das fortschrittsoptimistische Selbstverständnis der Aufklärer in ihr verschwörungstheoretisches Gegenteil zu verkehren. Im Herbst 1788, unter dem Eindruck der finalen Auseinandersetzung zwischen Parlamenten und Regierung sowie des Beschlusses zur Einberufung der Nationalstände, erklärte Simon-Nicolas-Henri Linguet die opi-

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GRIMM, X, 468–469. [J. PETION DE VILLENEUVE:] Avis aux François sur le salut de la patrie, o. O. 1788, 40, zitiert bei REICHARDT (1973), 300–301, Anm. 43.

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nion publique kurzerhand zu einem «fantôme», das eine «faction vraiment redoutable», die sich gegen die Rechte der königlichen Majestät verschworen habe, wie ein Banner vor sich hertrage. Freilich konnte eine solche verschwörungstheoretische Deutung nur dann funktionieren, wenn man gleichzeitig an der Überzeugung festhielt, dass es sehr wohl so etwas wie eine eigentliche, wahre und einmütige Meinung des Volkes gebe, die durch die Verschwörer eben lediglich überlagert oder unterdrückt würde. Direkt an den König gewandt propagierte Linguet daher zugleich die Vorstellung, dass die wahrhaftige opinion publique die der wahren Bürger sei – erkennbar daran, dass sie sich loyal zum König verhalte: «Non, SIRE, la véritable opinion publique n’est contraire, ni à vous, ni à votre autorité. Les vrais citoyens gémissent des abus; ils en désirent la réforme; mais convaincus que vous la désirez comme eux, sans vous accuser du passé ils sont disposés à tout sacrifier pour vous aider à faire naître un avenir plus heureux.» 88 In der Idealvorstellung einer einmütigen öffentlichen Meinung, die von einer transzendenten universellen Autorität – sei es der göttlichen Offenbarung, der objektiven Vernunft oder der königlichen Majestät – bestimmt werde, trafen sich somit die Extreme der jansenistischen, der absolutistischen und der radikalaufklärerischen Konzeptionen von opinion publique. Dazwischen stand der gemäßigte Entwurf einer pluralistischen öffentlichen Meinung, an den sich, je nach Vertrauen in die Lernfähigkeit der Masse und den Fortschritt der Aufklärung, durchaus die Hoffnung auf politische Verbesserungen knüpfen konnte. Unter den gewandelten politischen und medialen Rahmenbedingungen nach 1789 entfaltete vor allem die universelle und einheitliche Konzeption der opinion publique eine besondere politische, nämlich totalitäre Dynamik.

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S.-N.-H. LINGUET: La France plus qu’anglaise, ou Comparaison entre la procédure entamé à Paris le 25 septembre 1788 contre les ministres du roi de France et le procès intenté à Londres en 1640, au comte de Strafford, principal ministre de Charles premier, roi d’Angleterre; avec des réflexions sur le danger imminent dont les entreprises de la robe menacent la nation, et les particuliers, Brüssel 1788, 13.

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VI. Triumph des Populismus? Opinion publique im Sprachgebrauch der Revolution Die Französische Revolution war auch eine Revolution der Medien, die bereits 1788 mit der Aufhebung der Zensur einsetzte und zu einer explosionsartigen Entfaltung von Presse und Pamphletistik führte. 89 Unter diesem Eindruck bestand in der Presse von 1789 deshalb über alle politischen Lager hinweg zunächst einmal Einhelligkeit darüber, dass die Revolution von der opinion publique hervorgebracht worden sei, so dass das Schlagwort in der frühen Revolutionsphase allein durch den massenhaften Pressediskurs einen enormen Popularisierungsschub erlebte. Dabei schrieben sich die patriotischen Journalisten ganz selbstverständlich die Rolle von Anführern und Interpreten der öffentlichen Meinung zu, die in den Jahrzehnten zuvor wahlweise von den philosophes, den Magistraten oder den Jansenisten beansprucht worden war. 90 Eine spezifische politische Programmatik war mit dieser eher floskelhaften Verwendung des Ausdrucks in den meisten Fällen freilich nicht verbunden. Als politisches Schlagwort entfaltete opinion publique im weiteren Verlauf der Revolution erst dort seine Wirkung, wo mit dem Prinzip der Volkssouveränität das Problem der demokratischen Repräsentation virulent wurde und von Anhängern der direkten Demokratie eine Vermittlungsinstanz zwischen dem Volk als Souverän und der Nationalversammlung als demokratischem Repräsentativorgan für notwendig erachtet wurde. Im Diskurs der radikalen Revolution bestand eine Lösung dieses Problems darin, dass man der opinion publique nun Eigenschaften der volonté générale von Rousseau beilegte, so dass die öffentliche Meinung gleichsam als Inkarnation eines einheitlich gedachten Volkswillens erschien, die den gewählten Volksvertretern als Kontrollinstanz gegenübertreten konnte. 91 «Quel est le guide que l’on doit suivre dans une Révolution?», fragte etwa ein revolutionärer Katechismus auf dem Höhe-

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Zusammenfassend REICHARDT (2010). Vgl. RÉTAT (1993), 43–50. Vgl. TORTAROLO (1990), 19; sowie MÜNCH (2011), Abs. 10.

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punkt der Terreur, um sogleich zu antworten: «C’est l’opinion publique qui est l’expression de la volonté du peuple.» 92 Angelegt war diese Möglichkeit bereits in der radialaufklärerischen Vorstellung einer Emergenz der universellen und objektiven Vernunft in der opinion publique, die von der revolutionären Publizistik nun wieder mobilisiert wurde. So finden sich beispielsweise bei Marat deutliche Anklänge an den bereits von Necker und Peuchet formulierten Gedanken, dass sich in der Masse der öffentlich geäußerten Einzelmeinungen am Ende Wahrheit und Vernunft unweigerlich durchsetzen – unter der Voraussetzung freilich, dass der freien Meinungsäußerung keine Grenzen durch Zensur gesetzt würden: «Que toutes les opinions aient donc le champ libre; peu-à-peu la vérité germera au milieu d’elles; puis s’élevant tout-à-coup comme une reine majestueuse, elle régnera seule avec l’empire irrésistible de la raison.» 93 Und auch den Topos von der opinion publique als Bollwerk gegen Tyrannei und Despotismus griff die radikale Revolutionspresse wieder auf, brachte ihn aber nun gegen die Deputierten der Nationalversammlung in Stellung. Als dort im August 1791 eine Debatte über die Pressefreiheit geführt wurde, in der es auch um den Schutz des Individuums vor Verleumdung ging, erklärte wiederum Marat: «La liberté des opinions est le rempart de la liberté politique. Il n’y a que les méchans, que les coupables, qui s’élèvent pour renverser cette barriere, ce mur d’airain opposé par le patriotisme aux brigues et aux fureurs du despotisme.» 94 Und die Revolutions de Paris erklärten im Kontext dieser Debatte die opinion publique zur eigentlichen Trägerin der Souveränität, deren Dekrete Vorrang vor jenen der Nationalversammlungen hätten. 95 Die alles entscheidende Frage blieb allerdings nach wie vor, wo genau die opinion publique als Inkarnation des Volkswillens und eigentliche Trägerin der Souveränität ihren unverfälschten Ausdruck fand, in welcher Form sie also ihre Kontrollfunktion gegen-

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Catéchisme révolutionnaire, an II, La32 317, 6. Wortgleich: Catéchisme, an III (BNF, Imprimés: 32 464, (16)). L’Ami du peuple N° 181 (4.8.1790), 4–5. L’Ami du peuple N° 527 (5.8.1791), 8. Révolutions de Paris N° 110 (20.8.1791), 273: «L’opinion publique est la souveraine du monde; ses décrets passent avant ceux des assemblées nationales, et durent davantage […].»

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über den Repräsentativorganen ganz konkret ausüben konnte. Darauf wurden von der radikalen Revolution im Wesentlichen drei Antworten gegeben: in der durch keinerlei Zensur beschränkten freien Presse, in den spontanen, instinktiven und unregulierten Äußerungen der revolutionären Masse und in den außerparlamentarischen Versammlungen des Volks. Besonders wirkungsvoll inszenierten sich radikale Journalisten als Sprachrohr und «porte-parole» der öffentlichen Meinung. 96 Ihre wesentliche Aufgabe sahen sie dabei darin, an der Seite des Souveräns ihre Stellung zu beziehen und von dieser Position aus die Arbeit der Volksvertreter zu kontrollieren. Das Schüren des gerechten Volkszorns wurde dadurch ebenso zur Pflicht wie die Denunzierung von Volksverrätern aller Art, besonders aber jener, die sich womöglich in der Assemblée nationale betätigten und so die Errungenschaften der Revolution gefährdeten: «Commencez-donc, perfides législateurs, par faire des loix justes et sages», ermahnte etwa der selbsternannte Volksfreund Marat die Deputierten im Januar 1791; «jusques-là, je ne cesserai de soulever l’opinion publique contre vos injustes décrets, de prêcher la révolte, de vous couvrir d’opprobre, et de vous exposer à la vengeance des peuples.»97 Und der radikale Priester Jacques Roux drohte den Feinden der Revolution schon einmal damit, sie am Galgen der öffentlichen Meinung («poteau de l’opinion publique») aufzuknüpfen.98 Gemäß dieser Logik, die Robespierre in der Debatte um die Pressefreiheit noch auf die Spitze trieb, war es gerade die Denunzierungspraxis der radikalen Journalisten, die dafür sorgte, dass Nationalversammlung und Regierung von unwürdigen und schädlichen Individuen gereinigt würden: Nur tugendhafte Menschen könnten es nämlich unter den wachsamen Augen der Öffentlichkeit überhaupt wagen, das Ruder der Regierung zu führen, denn da sich in der öffentlichen Meinung

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Vgl. hierzu GUILHAUMOU (1998). L’Ami du peuple N° 328 (2.1.1791), 3. «Je vais vous les [les ennemis de la patrie] faire connaître, et les attacher au poteau de l’opinion publique […].» (Scripta Roux, 124); «[…] lorsque l’indignation est à son comble, le sans-culotte se venge de l’aristocrate en l’attachant au poteau de l’opinion publique, en imprimant sur son front le cachet de l’infamie, en l’abandonnant à ses remords […], en le vouant enfin à l’exécration des siècles.» (Scripta Roux, 182).

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am Ende stets die Wahrheit Bahn breche, bräuchten sie Verleumdungen nicht zu fürchten. 99 Eine zweite Konzeption lokalisierte die öffentliche Meinung als Inkarnation des Volkswillens in der revolutionären Masse. Als Kontrollorgan der Nationalversammlung trat sie dann beispielsweise in den spontanen Reaktionen des Publikums auf den Zuschauerrängen in Erscheinung. Als «organe de l’opinion publique» sollte demnach das auf den Tribünen der Assemblée nationale massenhaft versammelte Volk den Volksvertretern jederzeit anzeigen, ob ihre Entscheidungen dem Volkswillen entsprächen, und so direkt als Korrektiv wirken: «Le peuple par sa présence sert de régulateur à ses représentans; il en reçoit d’abord le mouvement pour ensuite réagir sur eux & les ramener à l’ordre.» 100 Die öffentliche Meinung wird in dieser Vorstellung somit gerade nicht als Emergenz der universellen Vernunft aus der freien Konkurrenz der (publizierten) Einzelmeinungen konzipiert, sondern als spontane, direkte und emotionsgeladene Reaktion der Masse, die keiner weiteren Vermittlung bedarf – auch nicht durch einen als Sprachrohr agierenden Journalisten. Es gehört freilich zu den besonderen Innovationen der radikalen Revolutionspresse, dass sie ein journalistisches Verfahren hervorgebracht hat, um auch diese Konzeption einer sich spontan und unvermittelt artikulierenden öffentlichen Meinung medial zu inszenieren, und zwar indem sie in ihren Zeitungen fiktionale Figuren des einfachen Volks direkt zu Worte kommen ließ. Am erfolgreichsten war damit Hébert, dessen Père Duchesne in geradezu paradigmatischer Weise als Verkörperung des Volkswillens und der öffentlichen Meinung auftrat. Héberts Duchesne imitierte nicht nur geschickt die Sprache des ‘einfachen Volks’, sondern ersetzte auch die als elitär und verlogen qualifizierte rationale Argumentations-

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AULARD, Jacobins, II, 409–410: Rede von Robespierre am 11.5.1791: «Les hommes vertueux, dignes d’aimer leur patrie et la véritable gloire, […] savent bien que le tribunal de l’opinion publique n’est redoutable qu’aux méchants. […] car il est à remarquer qu’en général l’impuissance de la calomnie est en raison de la probité et de la vertu de celui qu’elle attaque, et que, plus un homme a le droit d’appeler à l’opinion, moins il a besoin d’invoquer la protection du juge […].» Révolutions de Paris N° 161 (11.8.1792), 260–261.

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weise durch eine vermeintlich volksnahe Art des Räsonnierens, ein «raisonnement populaire», das Ouzi Elyada zufolge wesentlich auf Emotionalität basierte und darauf ausgelegt war, direkte und spontane Reaktionen zu provozieren. 101 Insofern war es nur folgerichtig, dass der Père Duchesne gemäß dem toposhaft wiederholten Anfangssatz einer jeden neuen Ausgabe im Wesentlichen seinen Ärger oder seine Freude kundtat, Verräter entlarvte und so die Volksvertreter vor sich hertrieb – gleichsam als mediale Verlängerung der Zuschauerränge der Assemblée. Eine dritte Möglichkeit der opinion publique, sich als unverfälschter und einstimmiger Ausdruck des Volkswillens in Opposition zur Nationalversammlung zu manifestieren, bestand in den außerparlamentarischen Versammlungen – also den politischen Clubs, Volksgesellschaften oder Sektionen. In seinem grundsätzlichen Misstrauen gegen die repräsentative Demokratie unterstellte Marat im November 1791 der Regierung, dem Hof und der Nationalversammlung, dass sie seit dem Sturm auf die Bastille alles unternommen hätten, um Versammlungen des Volkes zu verhindern und damit die Meinungsbildung des Souveräns und die Manifestation des Volkswillens zu hintertreiben: La cour, les ministres et les ministériels de l’assemblée nationale ne redoutent rien tant que l’opinion publique. C’est pour l’empêcher de se manifester qu’ils ne cessent, depuis la prise de la Bastille, de s’opposer au rassemblement des citoyens, qu’ils ont détruit la permanence des districts; qu’ils se sont opposés à toute délibération prise par la commune avant qu’elle ait obtenu la permission de s’assembler […], qu’ils se sont efforcé[s] d’anéantir les sociétés patriotiques, et qu’ils ont enlevé aux citoyens le droit de manifester leur voeu collectivement sur les affaires de l’état, sur les dangers de la patrie, sur les malheurs communs. Ce dessein de condamner le souverain à ne jamais se rassembler, et l’opinion publique à ne jamais se manifester, perce dans toutes les conjonctures. 102

Diese Haltung entsprach auch dem Selbstverständnis der politischen Klubs der Revolution, die sich durchaus als Orte begriffen, an denen sich der Volkswille artikulierte. Im Fall der Jakobiner schlug sich dieses Selbstverständnis im Ideal einstimmiger Voten ebenso nieder wie in den periodischen Säuberungen des Klubs, mit denen die zur Norm erhobene Einheitlichkeit aufrechterhalten

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Vgl. ELYADA (1996), 45. L’Ami du peuple N° 608 (24.11.1791), 1–2.

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wurde. 103 Nach der Abspaltung der Feuillants 1791 erklärte sich der Jakobinerklub selbst zum Kontrollorgan der Assemblée und beanspruchte nun für sich die traditionsreiche Rolle des Tribunals der Öffentlichkeit, dem sich alle staatlichen Funktionsträger zu unterwerfen hätten und vor dem auch die Dekrete der Nationalversammlung zu prüfen waren. 104 Nach dem Sturz der Girondisten durchliefen die Volksgesellschaften in Paris und in den Departements eine Welle von Säuberungen, durch die sie zu den wichtigsten Instrumenten bei der Durchsetzung der jakobinischen Terrormaßnahmen wurden. Zugleich legitimierten die Jakobiner ihre Herrschaft, indem sie ihre enge Bindung an die Volksgesellschaften betonten und diese zugleich zur Geburts- und Reinigungsstätte der mit dem Volkswillen nunmehr vollständig identifizierten opinion publique stilisierten. 105 Im Februar 1794 ließ der Wohlfahrtsausschuss die sociétés populaires wissen, dass ihnen als «sentinelles vigilantes» die Funktion von Vorposten der opinion zukäme; 106 sie seien «les foyers où l’opinion se forge, s’agrandit et s’épure». 107 Gleichzeitig fürchteten die Jakobiner aber den Einfluss radikaler Kräfte wie der Hébertisten, Sansculotten oder Enragés auf die Volksgesellschaften. Per Dekret vom 14. Frimaire II (4.12.1793) über die Organisation der Revolutionsregierung wurden die Volksgesellschaften deshalb in ihrer Autonomie beschnitten, dem Konvent untergeordnet und dem Regierungsapparat der Terreur einverleibt; den Jakobinern war damit das Kunststück gelungen, die opinion publique zugleich aufzuwerten und als Kontrollorgan der Regierung auszuschalten: «Les Sociétés populaires doivent être les arsenaux de l’opinion publique, mais la Convention seule lui donne la direction qu’elle doit avoir, lui marque le but où elle doit aller.» 108 Die radikalen Stimmen der Revolution konnten die opinion publique also mit dem souveränen Volkswillen identifizieren, indem 103 104 105

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Vgl. GUENIFFEY / HALÉVI (1996), 771. Ebd., 782–785. Wohlfahrtsausschuss an die Sociétés populaires, 4.2.1794, AULARD, Comité, Bd. 10, 682. Ebd., 680. Wohlfahrtsausschuss an die Sociétés populaires, 4.2.1794, COCHIN, Actes Gouv. Rév., Bd. 2, 252. AULARD, Comité, Bd. 10, 348; vgl auch GUENIFFEY / HALÉVI (1996), 789.

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sie sie in Anknüpfung an jansenistische wie radikalaufklärerische Traditionen mit den Attributen absoluter Herrschaft, Einheitlichkeit und Unfehlbarkeit ausstatteten – «toujours droite et toute-puissante», wie Jacques Roux schrieb. 109 Insofern fand die populistische Strategie der Jansenisten ihre Fortsetzung bei jenen ultrarevolutionären Journalisten und Rednern, die sich wie Marat, Hébert oder Roux als «porte-parole» des Volkswillens in Stellung brachten und zugleich jeden Zweifel an der Einheitlichkeit der opinion publique als konterrevolutionär brandmarkten: «[…] il n’y a point d’opinion publique que celle de la masse du peuple», wie Marat bereits 1791 kategorisch feststellte. 110 Und genau wie bereits bei den Jansenisten mit ihrer antijesuitischen Verschwörungsrhetorik oder bei einem Verteidiger der absoluten Monarchie wie Linguet bestand auch hier der Erklärungsansatz für die faktisch eben doch vorhandene Vielstimmigkeit der Öffentlichkeit in der verschwörungstheoretischen Unterscheidung zwischen einer wahren, einheitlichen und eindeutigen öffentlichen Meinung und einer manipulierten «opinion FACTICE qui n’est pas l’opinion publique, mais le bourdonnement de quelques Ecrivains peut-être stipendiés», wie etwa Barnave im Juli 1791 in der Nationalversammlung warnte. 111 Politisch gemäßigtere Positionen knüpften dagegen eher an jene vorrevolutionären Vorstellungen an, die von einem Pluralismus der öffentlichen Meinung ausgingen und vor allem der opinion populaire eher skeptisch gegenüberstanden. Schon 1790 entstand im proto-girondistischen Milieu um die Eheleute Roland, Brissot, Bancal des Issarts und Lanthenas die Vorstellung, dass man die opinion publique beziehungsweise den esprit public erst noch im 109

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«Après avoir franchi irrévocablement l’intervalle immense de l’esclave à l’homme, vous [citoyens] ne souffrirez pas que vos mandataires portent la moindre atteinte à la légitimité de vos droits ; qu’ils s’écartent de l’opinion publique qui seule dicte des lois, et qui est toujours droite et toute-puissante […].» Scripta Roux, 81. L’Ami du peuple N° 367 (10.02.1791), 3. Journal de Paris N° 197 (16.7.1791), 789. Vgl. auch die entsprechenden Ausführungen eines anonymen «ami des patriotes» vom Januar 1791: «Il faut donc distinguer deux sortes d’opinions publiques: une imaginaire, inspirée, feinte, exagérée, & qui n’est pas celle de la vraie majorité; une plus froide, plus sage, mais plus solide, & qui est véritablement celle du grand nombre des hommes éclairés & bons juges.» L’Ami des patriotes, ou le défenseur de la révolution N° VI (1.1.1791), 152–153.

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Sinne der Revolution formen müsse, da er seit Jahrhunderten an die Fesseln von Religion und monarchischer Autorität gewöhnt sei. 112 Diese Idee wurde dann zunächst im Cercle social umgesetzt, dessen Protagonisten in guter aufklärerischer Tradition vom pädagogischen Nutzen der Lektüre überzeugt waren und deshalb mit ihrer eigenen Druckerei eine patriotische Publikationsoffensive starteten. Als Jean-Marie Roland nach der Regierungsübernahme der Girondisten im März 1792 Innenminister wurde, gründete er ein bureau d’esprit public als zunächst offiziöse, nach dem 10. August 1792 dann auch offizielle Abteilung seines Ministeriums mit einem Budget von 100.000 livres für die massenhafte Verbreitung von patriotischen Pamphleten und Presseerzeugnissen sowie die Förderung der (angeleiteten) öffentlichen Lektüre, letzteres vornehmlich durch die Entsendung «patriotischer Missionare» in die Departements. Geleitet wurde die Abteilung von Lanthenas und faktisch auch von Manon Roland. 113 Schon Ende 1792 brandmarkte allerdings Robespierre die Aktivitäten des bureau d’esprit public als schädliche Manipulation der opinion publique durch eine antirepublikanische «faction dominante». 114 In der Debatte um das Budget des bureau d’esprit public, die Robespierre noch am Tag der Hinrichtung Ludwigs XVI. im Konvent initiierte, konstatierte der Abgeordnete Amar denn auch lakonisch: «tous les comités de formation d’esprit public n’ont été que des comités de déformation». 115 Obgleich das bureau d’esprit public alsbald abgeschafft und dem Ehepaar Roland und seinen girondistischen Mitstreitern unter anderem der Vorwurf der Manipulation der öffentlichen Meinung zum Verhängnis wurde, nutzten die Jakobiner auch nach dem Sturz der Girondisten weiterhin ganz ähnliche Methoden, um die Öffent-

112 113 114

115

DORIGNY (1989), 204. Vgl. auch KUPIEC (1995). Vgl. DORIGNY (1989), 207–210. Robespierre, Rede vom 28.12.1792, in: Archives parlementaires, 1° série 1787–1799, LVI, Paris 1809, 20, zitiert bei TORTAROLO (1990), 21: «Je me fie à la volonté générale, surtout dans les moments où elle est éveillée par l’intérêt pressant du salut public ; je redoute l’intrigue […] quand l’opinion publique est travaillée par les libelles dont une faction dominante inonde la France entière, qui ne disent jamais un mot de République, qui n’éclairent jamais les esprits sur le procès de Louis le dernier.» KUPIEC (1995), 584.

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lichkeit ideologisch auf Linie zu bringen. 116 So finanzierte der Wohlfahrtsausschuss den Volksgesellschaften Zeitungsabonnements und versorgte auch die Armee mit Presseerzeugnissen, etwa dem Père Duchesne von Hébert. War es den Girondisten noch primär um die Instruktion und Formierung des esprit public gegangen, stand während der Terreur nunmehr die Beobachtung, Überwachung und Reinigung der öffentlichen Meinung im Vordergrund: D’abord, il est constant que les maux de l’intérieur ne proviennent, en grande partie, que de la conception de l’opinion publique, il est donc instant de la purger du venin dont l’ont abreuvé Rolland et ses protecteurs; il faut sans delai substituer à sa boutique d’opium un véritable bureau de formation d’esprit public, composé d’écrivains courageux et énergiques, qui ont défendu les droits du peuple avec autant du courage que de constance. […] L’égarement de l’opinion publique & les accaparemens sont les véritables causes des troubles intérieurs : les causes étant détruites, les effets seront anéantis […]. 117

Um schließlich auch die Überwachung des esprit public zu institutionalisieren, beschloss der Wohlfahrtsausschuss am 27. Germinal II (16.04.1794) per Dekret die Einrichtung eines Bureau de surveillance administrative et de police générale. In seiner Begründung für die Einrichtung eines solchen Überwachungsbüros behauptete Saint-Just, dass die Feinde der Revolution alles unternommen hätten, um den esprit public zu korrumpieren und ihn gegen den Konvent aufzubringen. Bei dieser Gelegenheit setzte Saint-Just dann auch zu einer Grundsatzkritik am Begriff esprit public an, der sich im revolutionären Sprachgebrauch gegenüber opinion publique weitgehend durchgesetzt hatte. Esprit public müsse demnach durch conscience publique ersetzt werden, da der Begriff esprit lediglich auf den Verstand der Menschen ziele, das Bewusstsein aber den Menschen in seiner Totalität erfasse: «Il faut ramener toutes les définitions à la conscience: l’esprit est un sophiste qui conduit les vertus à l’échafaud.» 118 116 117

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Vgl. ebd., 585. Discours prononcé par le citoyen Lacroix, à la section de l’Unité (28.7.1793), MARKOV / SOUBOUL, Doc. 22, 102, 104. Zitiert bei KUPIEC (1995), 585; vgl. auch dort das Zitat aus der Rede von Saint-Just vom 26. Germinal II: «Esprit n’est pas le mot, mais conscience. Il faut s’attacher à former une conscience publique: voilà la meilleure police. L’esprit public est dans les têtes; et comme chacun ne peut avoir une influence égale d’entendement et de lumières, l’esprit publique était une impulsion donnée.»

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Der Wandel des revolutionären Sprachgebrauchs von opinion publique über esprit public bis hin zur von Saint-Just propagierten conscience publique kann als symptomatisch für den Radikalisierungsprozess der Revolution auf ihrem Weg zur totalitären Terrorherrschaft der Jakobiner betrachtet werden – ein Radikalisierungsprozess, der auch angetrieben wurde von der normativen Vorstellung einer einheitlichen, reinen und wahren öffentlichen Meinung, die als Manifestation des eigentlichen Volkswillens galt und deshalb mit allen Mitteln vor Manipulationsversuchen und Spaltungen zu schützen war. Robespierre erklärte 1794 im Jakobinerklub, dass nur Intriganten und Feinde der Freiheit angesichts dessen von einem «despotisme d’opinion» sprechen könnten. 119 Zugleich zeigt der Blick auf den allgemeinen Sprachgebrauch aber auch, dass Systematisierungsversuche wie der von Saint-Just letztlich zum Scheitern verurteilt waren und sich im Prozess der Revolution keine der Wortkombinationen aus dem weiteren Begriffsfeld um opinion publique als programmatischer politischer Schlüsselbegriff durchsetzen konnte: Die öffentliche Meinung war und blieb ein politisch vager, unterdeterminierter Begriff, der selbst von den sprachsensiblen und hoch ideologisierten Jakobinern widersprüchlich verwendet wurde. Wenn die Volksvertreter in Mission in ihren Berichten an den Wohlfahrtsausschuss mit ihren Erfolgen prahlen wollten, dann konnten sie entweder behaupten, dass sie sich in ihrer Arbeit von der opinion publique führen ließen; oder dass die opinion publique ihren revolutionären Maßnahmen bereits folge – beides war offenkundig politisch unverdächtig, und opinion publique war hier eher eine wohlfeile politische Floskel als ein programmatisches Schlagwort. 120 119

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Sitzung des Jakobinerklubs am 7.2.1794: «Sentex. – Je demande qu’avant de rayer Brichet, la Société prenne sur sa conduite de plus amples informations. Je m’aperçois, au reste, que depuis quelque temps elle se laisse dominer par un despotisme d’opinion, tandis que les principes seuls doivent faire la règle de ses délibérations. Robespierre. – Je déclare que je regarde Sentex comme un intriguant. J’ai remarqué que tous les ennemis de la liberté ont parlé contre le despotisme d’opinion, parce qu’ils préfèrent le despotisme de la force.» AULARD, Jacobins, V, 646. Exemplarisch Michaud aus Châteaurouge an den Wohlfahrtsausschuss, 25.1.1794: «L’opinion publique sera mon guide, et je ne tarderai pas à la connaître dans la Société populaire de cette ville, qui est déjà venue m’inviter d’aller fraterniser avec elle.» (AULARD, Comité, Bd. 10, 447); Carrier

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VII. Ausblick: Entpolitisierung des Schlüsselbegriffs der Aufklärung: opinion publique in der Historisierung von Ancien Régime und Revolution Letztlich konnte die opinion publique während der Revolution von jedem politischen Lager verneinnahmt und als politisches ‘Totschlagargument’ ins Feld geführt werden: Schon 1789 behauptete eine royalistische Flugschrift, in Frankreich sei die öffentliche Meinung in Ketten gelegt, werde sich aber bald wieder erheben. 121 Von den Thermidorianern dann wurde die Herrschaft der Jakobiner als Unterdrückung der eigentlichen opinion publique beschrieben, das Direktorium dagegen als Regime der Freiheit. 122 Der Sozialrevolutionär Babeuf wiederum sah es genau umgekehrt und bemühte – wie schon der Propagandist des Absolutismus Linguet – den Topos der unterdrückten Volksmeinung, um seine Agitation gegen die Direktorialregierung im Namen der eigentlichen Meinung des Volks zu rechtfertigen: L’expérience de notre révolution nous a assez fait connoître que l’opinion du moment n’étoit jamais la bonne opinion, et cela, non pas que le peuple n’ait par ses propres moyens la faculté d’en concevoir une bonne, mais parce que son opinion propre ne lui est jamais laissée, et qu’il existe constament une tactique de la part de quelques uns de ceux qui gouvernent […] pour lui en substituer une factice, uniquement avantageuse à celui qui dirige et toujours préjudiciable au peuple. 123

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aus Nantes an den Wohlfahrtsausschuss, 21.11.1793: «L’espoir des patriotes n’a pas été trompé; il faut l’avouer avec franchise, l’opinion publique a suivi rapidement les mesures révolutionnaires.» (AULARD, Comité, Bd. 8, 600). «Je sais que l’opinion publique est enchaînée dans ma patrie: mais elle ne peut l’être long-tems.» Zitiert bei TORTAROLO (1990), 17. Zum Beispiel bei MERCIER: Le nouveau Paris, Paris 1798, Bd. II, 62– 63: «D’ailleurs en 93 l’opinion publique étoit paralisée; la tyrannie avoit disseminé dans tous les cantons ses nombreux émissaires; la terreur étouffoit la voix de l’homme vertueux; le crime seul pouvoit se faire entendre. Aujourd’hui les amis de la liberté peuvent lever majestueusement la tête. En éclairant leur concitoyen, ils n’ont plus à redouter les proscriptions ou la mort. La liberté d’opinions existe; elle existe même pour les menteurs audacieux, pour les scélérats qui nous abusent.» BABEUF: Journal de la liberté de la presse N° 7, 2–3.

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Der anfängliche Enthusiasmus, der die Revolution auch als Siegeszug der opinion publique gedeutet hatte, wich spätestens nach der Erfahrung der Terreur der Ernüchterung: Die Revolution konnte die politischen Hoffnungen, die die fortschrittsoptimistischen Aufklärer in die Macht der opinion publique gesetzt hatten, offenkundig nicht einlösen. 1795 bemerkte ein anonymer Beobachter, dass die vorrevolutionären Apologeten der opinion publique deren politische Funktion eben nur in Bezug auf Monarchien beschrieben hätten: Dort, wo einzelne durch ihren Rang, ihre Amtswürde oder ihre Talente in der Welt zu Ruhm kämen und damit eine herausgehobene Position bekleideten, könnten die Urteilssprüche der opinion publique eine politische Wirkung entfalten; in einer Republik dagegen setzten die Menschen mehr Vertrauen in ihr eigenes Urteilsvermögen und stünden jeder Art von Herrschaft («empire») – auch der Herrschaft der öffentlichen Meinung – skeptisch gegenüber: «L’opinion publique ne récompense que les actions rares; & chez un peuple de héros, elle n’auroit rien à donner […].» 124 Aus diesen Gründen könne die opinion publique in Republiken keine politische Rolle spielen; vor allem tauge sie nicht als Grundlage der Gesetzgebung. 125 In der historischen Rückschau wurde der Begriff opinion publique schon während der Revolution mit dem Siegeszug der Aufklärung und der Selbstapotheose der philosophes in Verbindung gebracht. Condorcet vertrat selbst noch in der Zeit, als er sich vor der Verfolgung der Jakobiner im Untergrund versteckt hielt, die fortschrittsoptimistische These, dass die Revolution sich dem positiven Einfluss der philosophes auf die öffentliche Meinung zu verdanken habe und sich zwangsläufig zu einem globalen Phänomen entwickeln werde: Ainsi, le tableau des progrès de la philosophie et de la propagation des lumières […] va nous conduire à l’époque où l’influence de ces progrès sur l’opinion, de l’opinion sur les nations ou sur leurs chefs, cessant tout-à-coup d’être lent et insensible, a produit dans la masse entière de quelques peuples, une révolution, gage certain de celle qui doit embrasser la généralité de l’espèce humaine. 126

124 125

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La Quotidienne ou le tableau de Paris N° 129 (27.6.1795), 1–2. Ebd.: «On ne peut donc compter sur l’empire de l’opinion publique, pour base d’une législation.» CONDORCET: Esquisse, 226.

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Spätestens nach dem 9. Thermidor münzten die Gegner der Republik dieses positive Selbstbild der Aufklärung dann allerdings in eine antiphilosophische Verschwörungstheorie um. «Je puis dire que j’ai vu naître ce qui s’appelle philosophie ou opinion publique», schrieb der ehemalige Hofpriester Bourlet de Vauxcelles 1797 mit Blick auf seine Jugend in der konservativen Zeitung Le Mémorial, und fuhr dann fort, die wachsende Popularität von Montesquieu, Buffon, Rousseau, «d’Alembert le sage» und «Diderot le charlatan» zu beschreiben, um dann in bester verschwörungstheoretischer Manier den Ausbruch der Revolution nicht allein den Philosophen, sondern speziell dem verhassten Diderot und seinem Einfluss auf die Meinung der Masse zuzuschreiben: Ce que nos niveleurs, nos dévastateurs, nommons-les par leur nom, nos scélérats, ont appelé l’opinion publique, n’étoit donc, il y a trente ans, que les paradoxes inconsidérés, les jeux d’esprit dangereux de cet homme [Diderot, C.V.] qui mouroit d’envie d’être philosophe, et que son imagination déréglée condamna à n’être qu’un sophiste ; mais ce sophiste entraîna bien du monde […]. Je riois de leur folie : hélas ! je ne prévoyois pas alors que les misérables élèves de leur saltimbanque instruiroient et enifreroient de leur doctrine tous les insensés des plus basses classes de la société, qui, en s’attroupant et accroissant chaque jour leur fureur, finiroient par tout renverser comme un torrent. 127

Ganz ähnlich las man auch in den 1815 publizierten Memoiren von Pierre Gaston de Lévis im Kapitel «De l’opinion publique en France à l’époque de la Révolution», Voltaire und Rousseau hätten mit ihren Angriffen auf Thron und Altar gemeinsam die Grundlagen der öffentlichen Ruhe zerstört: «A la suite des chefs de la nouvelle école, une foule d’écrivains travaillèrent à cette œuvre de destruction avec plus ou moins de talent, mais avec un tel succès, que les deux principaux objets de respect et de crainte, DIEU et le ROI, étoient, pour ainsi dire, détrônés dans l’opinion d’une multitude imprudente et égarée.» 128 Ob nun antirevolutionär und verschwörungstheoretisch zugespitzt wie hier, oder aber prorevolutionär und fortschrittsorientiert:

127

128

54

BOURLET DE VAUXCELLES: Le Mémorial N° 39 (27.7.1797), 2–3 u. N° 41 (29.7.1797), 2–3. P. GASTON DE LÉVIS: Souvenirs et portraits. 1780–1789. Nouvelle édition, augmentée d’articles supprimés par la censure de Buonaparte, Paris 1815, 314; vgl. auch LEMAÎTRE (2013), 15.

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Literatur

Die große Erzählung, wonach die Aufklärer, die philosophes, in den letzten Jahrzehnten des Ancien Régime die öffentliche Meinung bestimmt und damit die Revolution vorbereitet hätten, hat ihren Ursprung also bereits in der Revolution selbst und bestimmte die historischen Deutungen des epochalen Ereignisses von Tocqueville über Taine und Caro bis zu Mornet. Erst die konsequente Historisierung des Begriffs durch die in diesem Punkt von Habermas inspirierte revisionistische Revolutionshistoriographie des ausgehenden 20. Jahrhunderts ermöglichte ein Ausbrechen aus diesem Deutungsschema.129 Als politisch-sozialer Grundbegriff des 18. Jahrhunderts bleibt opinion publique gleichwohl aufs Engste mit der Selbstapotheose der Aufklärer und der Durchsetzung ihres fortschrittsoptimistischen Geschichtsbilds im vorrevolutionären Frankreich verbunden.

Literatur Erich AUERBACH: La cour et la ville, in: DERS.: Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bildung, Bern 1951, 12–50. Keith Michael BAKER: Defining the Public Sphere in EighteenthCentury France: Variations on a Theme by Habermas, in: Craig CALHOUN (ed.): Habermas and the Public Sphere, Cambridge, Mass. und London 1992, 181–211. DERS.: Inventing the French Revolution. Essays on French Political Culture in the Eighteenth Century, Cambridge u. a. 1990. Pascal BASTIEN: Les arrêts criminels et leurs enjeux sur l’opinion publique à Paris au XVIIIe siècle, in: RHMC 53 (2006), 34–62. David A. BELL: Lawyers into Demagogues: Chancellor Maupeou and the Transformation of Legal Practice in France 1771–1789, in: Past and Present 130 (1991), 107–141.

129

Vgl. LEMAÎTRE (2013) sowie die in Anm. 2 genannten Beiträge.

55

Literatur

50

DERS.: Lawyers and Citizens. The Making of a Political Elite in Old Regime France, Oxford 1994. Bertrand BINOCHE: Les historiens, les philosphes et l’opinion publique, in: DERS. / A. LEMAÎTRE (ed.): L’opinion publique dans l’Europe des Lumières. Stratégies et concepts, Paris 2013, 7–14. Craig CALHOUN (ed.): Habermas and the Public Sphere, Cambridge, Mass. und London 1992. Roger CHARTIER: Les origines culturelles de la Révolution française, Paris 1990. Harvey CHISICK: Public Opinion and Political Culture in France during the Second Half of the Eighteenth Century, in: The English Historical Review 117 (2002), 48–77. Nick CROSSLEY / John Michael ROBERTS (ed.): After Habermas: New Perspectives on the Public Sphere, Oxford 2004. Marcel DORIGNY: La propagande girondine et le livre en 1792: le bureau de l’esprit public, in: Dix-huitième siècle 21 (1989), 203– 215. Ouzi ELYADA: La représentation de l’opinion publique populaire dans la presse parisienne révolutionnaire, in: AHRF 303 (1996), 37–47. Jeanine GARRISSON: L’affaire Calas, Paris 2004. Dieter GEMBICKI: Histoire et politique à la fin de l’ancien régime. Jacob-Nicolas Moreau 1717–1803, Paris 1979. Andreas GESTRICH: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994. DERS.: The Public Sphere and the Habermas Debate, in: German History 24 (2006), 413–430.

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Literatur

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Reinhart KOSELLECK: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1983. Anne KUPIEC: La Gironde et le bureau d’esprit public: livre et Révolution, in: AHRF 4 (1995), 571–586. Anthony J. LA VOPA: Conceiving a Public: Ideas and Society in Eighteenth-Century Europe, in: JMH 64 (1992), 79–116. Joan B. LANDES: Women and the Public Sphere in the Age of Revolution, Ithaca 1988. Sandro LANDI: Au delà le d’espace public. Habermas, Locke et le consentement tacite, in: RHMC 59 (2012), 7–32. Alain J. LEMAÎTRE: Repères historiographiques, in Bertrand BINOCHE / DERS. (ed.): L’opinion publique dans l’Europe des Lumières. Stratégies et concepts, Paris 2013, 15–22. Niklas LUHMANN: Die Beobachtung der Beobachter im politischen System: zur Theorie der öffentlichen Meinung, in J. WILKE (ed.): Öffentliche Meinung: Theorie, Methoden, Befunde. Beiträge zu Ehren von Elisabeth Noelle-Neumann, Freiburg 1992, 77–86. DERS.: Die Realität der Massenmedien, 4. Auflage, Wiesbaden 2009. Harold MAH: Phantasies of the public sphere: rethinking the Habermas of historians, in: JMH 72 (2000), 151–175. Catherine MAIRE: De la cause de Dieu à la cause de la Nation. Le jansénisme au XVIIIe siècle, Paris 1998. DIES.: Les convulsionnaires de Saint-Médard. Miracles, convulsions et prophéties à Paris au XVIIIe siècle, Paris 1985. Sarah MAZA: Le tribunal de la nation: Les mémoires judiciaires et l’opinion publique à la fin de l’ancien régime, in: Annales ESC 42 (1987), 73–90.

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60

Révolution, révolutionnaire ROLF REICHARDT I.

Semantische Grundlagen von révolution(s) im Ancien Régime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

1. Die lexikalische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

2. Révolutions als historiographisches Modewort . . . . .

8

II. Aufwertung von révolution im Zeitalter der Aufklärung

10

1. Modell-Revolutionen: Historische Katalysatoren des Revolutionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10

a) «La Révolution d’Angleterre» . . . . . . . . . . . . . . . .

11

b) «La Révolution de l’Amérique» . . . . . . . . . . . . . .

14

2. Erwartungen einer révolution in Frankreich . . . . . . .

20

a) prognostische Zeitdiagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

b) Révolution als Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

III. Ausbildung des modernen Revolutionsbegriffs 1789–99

33

1. «la plus juste des révolutions» . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

2. «La révolution est une seconde création» . . . . . . . . .

38

3. «Tout ce que la Révolution française a produit de sage et de sublime est l’ouvrage du peuple […]» . . .

41

4. Révolution als politisch-geschichtlicher Prozess . . . .

46

a) «Il faut encore une révolution» . . . . . . . . . . . . . .

46

b) «La révolution est-elle consommée ou ne l’estelle pas?» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

c) «la révolution opère sur les hommes» . . . . . . . . .

55

https://doi.org/10.1515/9783110725063-002

Révolution, révolutionnaire

2

5. «tout alors étoit révolutionnaire» . . . . . . . . . . . . . . .

60

a) Le Gouvernement révolutionnaire . . . . . . . . . . . .

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b) «durant une révolution, il faut des hommes révolutionnaires» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Révolution als historischer Perspektivbegriff . . . . . . .

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IV. Erinnerung und Reaktualisierung der Revolution (1800– 1830) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. «La Révolution a parcouru toutes ses périodes» . . . .

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2. Révolution als Streitobjekt der politischen Lager . . .

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3. «la révolution n’est pas finie» . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Qu’est-ce qu’une Révolution ? Unter diesem anspruchsvollen Titel, der eine allgemeine Begriffsbestimmung anzukündigen scheint, richtete im Juli 1792 eine quasi anonyme Flugschrift den leidenschaftlichen Aufruf an die Pariser, sich endlich von der aktuellen révolution in Frankreich abzuwenden und zur guten alten Ordnung des Königreichs zurückzukehren. Anders als ihre Verfechter behaupteten, sei die révolution eine schuldhafte und verderbliche Krise, sie zerstöre die beste aller Verfassungen, sie diene nicht dem Volk, sondern dem Machtinteresse einer Clique von Verschwörern. Der notwendige Kampf gegen diese bedrohliche Krankheit sei freilich keine «contre-révolution», denn die sog. révolution sei in Wahrheit nichts anderes als eine «sédition populaire». Doch wie sehr sich der royalistische Pamphletist auch bemühte, die Bedeutung von révolution negativ festzulegen, so musste er doch feststellen, dass im Vorfeld der Revolution vom 10. August 1792 in der politischen Öffentlichkeit weithin ein positives Wortverständnis herrschte: «Le mot de révolution exprimant une idée aussi affreuse, comment est-on parvenu à le rendre si familier, pour ainsi dire si cher au peuple Français ?» 1 Er konnte dieses scheinbare Paradox umso weniger erklären, als er – offenbar irritiert – einerseits die neuen, aktuell gültigen Antonyme révolution und contrerévolution benutzte und die Französische Revolution als Paradigma von révolution verstand, dieselbe aber andererseits mit den alten Syntagmen crise, maladie und sédition populaire umschrieb. Seine etwas ratlose Frage enthielt implizit die Aufforderung nach einer begriffsgeschichtlichen Antwort.

I. Semantische Grundlagen von révolution(s) im Ancien Régime 1. Die lexikalische Tradition Dazu liegt es nahe, zunächst die Wörterbücher des Ancien Régime zu konsultieren, 2 insbesondere die allgemeinsprachigen Lexika von 1

2

A.D.B.A.D.D.L.N.D.C., Qu’est-ce qu’une Révolution ? Par l’auteur du Réveil aux Parisiens, [1792], 7 u. 3. Dazu auch KOSELLECK (1984), 715–716, sowie SAINT-GÉRAND, passim.

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Richelet, Furetière und der Académie française, in der Annahme, dass sich in ihren zahlreichen Neuauflagen der semantische Wandel des Begriffs im Laufe des 18. Jahrhunderts niedergeschlagen hat. Durchgängig unterschieden sie vor allem drei Facetten des Wortes révolution. Im Anschluss an die berühmte Schrift De revolutionibus orbium coelestium von Nikolaus Kopernikus (1543) verzeichnen sie primär eine astronomische Bedeutung: «mouvement des astres accompli, lorsqu’ils reviennent au même point du zodiaque». 3 Und da der Umlauf der Gestirne die Jahreszeiten bestimmt, bezeichnet révolution zugleich den Lauf der (geschichtlichen) Zeit. So spricht Richelets Wörterbuch in einem Zuge von «la révolution du soleil» und «la révolution des siécles». 4 Ebenso definiert das Akademiewörterbuch révolution an erster Stelle als «Le retour d’une Planete, d’un Astre au mesme point d’où ils estoient partis», um sogleich die Bedeutung «la révolution des siecles, des temps» anzuschließen. 5 Die Zeit kann sogar selbst zum Agens der Geschichte werden: «le tems fait d’estranges révolutions dans les affaires ; les choses de ce monde sont sujettes aux révolutions». 6 Diese in normierender Absicht formulierten Definitionen der genannten Lexika wurden im Zeitalter der Aufklärung ohne nennenswerte Änderungen fortgeschrieben, 7 im Fall des Dictionnaire de l’Académie bis zum Vorabend der Französischen Revolution. Das Gleiche gilt für den zweiten, engeren Bedeutungsbereich von révolution, in dem die Vorstellung der zyklischen Periodik der Gestirne und der Zeit abgeschwächt auf die menschliche Physis projiziert wird. «Révolution, se dit des humeurs dont le mouvement extraordinaire altere la santé du corps», heißt es bei Richelet 8 und fast gleichlautend im Wörterbuch der Académie : «On appelle, Révolution d’humeurs, Un mouvement extraordinaire dans les hu-

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FURETIÈRE (1690), III, s. v. révolution. RICHELET (1680), II 316. Dict. Acad. (1695), II 247. Ebd. Die letzte Neuauflage von Furetière erschien 1727, die von RICHELET 1759. RICHELET (1680), II 316; wiederholt von RICHELET (51728, éd. 1732), II 630.

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meurs qui altere la santé». 9 Als außerordentliche Aufwallung und Unausgewogenheit der Körpersäfte, welche die Gesundheit beeinträchtigen, ist diese révolution nicht mehr wie die Gestirne und die Zeit ausschließlich einer höheren Naturgesetzlichkeit unterworfen, sondern kann auch von menschlicher, von medizinischer Einwirkung beeinflusst werden – sowohl, was den Ausbruch der ‚Krankheit‘, als auch, was ihre Heilung betrifft. Den Menschenkörper mit dem ‚Staatskörper‘ zu vergleichen, war in der Metaphorik des Absolutismus eine geläufige Argumentationsfigur; und so verzeichnen die Lexika des ausgehenden 17. Jahrhunderts drittens im übertragenen Sinn eine historisch-politische Bedeutung des Wortes: «Révolution, se dit aussi des changements extraordinaires qui arrivent dans le monde. Il n’y a point d’Estats qui n’ayent été sujets à de grandes révolutions, à des décadences». 10 Mit diesem oft wiederholten Eintrag registrierten Furetière und seine Kollegen die Politisierung des Terminus seit dem Dreißigjährigen Krieg, unter dessen Eindruck ein adliger Autor wie Henri de Rohan die Störung der Staatsgeschäfte als «révolution des affaires» und die Herrscherwechsel als «révolution des Estats» bezeichnet hatte. 11 Einen gewissen Bedeutungswandel des politischen Revolutionsbegriffs im 18. Jahrhundert deuten die aufeinander folgenden Ausgaben des Akademiewörterbuchs an. Die ‚klassische‘ Ausgangsdefinition von 1695 betont das Außerordentliche, das Schicksalhafte und Ambivalente der Revolution: «Il [le mot révolution] signifie aussi fig. Vicissitude, grand changement dans la fortune, dans les choses du monde […;] le gain ou la perte d’une bataille cause de grandes révolutions dans un Estat.» 12 Die kursivierten Stellen dieses Eintrags werden in der Neuauflage von 1762 gestrichen bzw. so umformuliert, dass sich die einseitig negative und die politische Bedeutung von révolution verstärken: «[Elle] signifie aussi fig. un changement qui arrive dans les affaires publiques, dans les choses du monde […;] la perte d’une bataille cause de grandes révolutions 9 10 11

12

Dict. Acad (1695), II 247. FURETIÈRE (1690), III, s. v. révolution. H. de ROHAN: De l’interest des Princes et Estasts de la Chrestienté, Paris 1639, 39, 248 und 256; zit. BENDER (1977), 34–36. Dict. Acad. (1695), II 247; Kursivierungen vom Verf.

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dans un Etat.» 13 Als die Lexikographen der Académie dann um 1788 die Redaktion einer weiteren Ausgabe ihres Dictionnaire abschlossen (sie wurde erst 1798 gedruckt), konnten sie nicht umhin, einen aktualisierenden Absatz einzufügen: On dit, Les Révolutions Romaines, les Révolutions de Suède, les Révolutions d’Angleterre, pour les changemens mémorables et violens qui ont agité ces pays. Mais quand on dit simplement, La Révolution, en parlant de l’histoire de ces pays, on désigne la plus mémorable, celle qui a amené un autre ordre. Ainsi, en parlant de l’Angleterre, la Révolution désigne celle de 1688 ; en parlant de la Suède, celle de 1772. 14

Die genannten Anwendungen des Terminus révolution auf wichtige Ereignisse der neueren europäischen Geschichte registrieren zwar mit großer Verzögerung die wachsende Eigenständigkeit des politischen Revolutionsbegriffs sowie die Tendenz zu seiner Singularisierung, vermeiden aber jeden Bezug auf Frankreich und übergehen die programmatische Appellstruktur, die das Wort inzwischen erlangt hatte (siehe unten). Mit seiner Zurückhaltung gegenüber dem aktuellen Gebrauch des Revolutionsbegriffs in der zeitgenössischen politischen Debatte stand das Akademiewörterbuch nicht allein. Noch 1788 bezieht der Eintrag des Dictionnaire critique de la langue française von Féraud révolution primär auf den Kreislauf der Gestirne und der Zeit, erst danach vage auf «le changement des affaires», um abschließend zu bemerken, dass die Geschichte aus lauter «sanglantes révolutions» bestehe. 15 Selbst der einschlägige Artikel der Diderotschen Enyclopédie räumt zwar der politischen Bedeutung die erste Stelle ein («Révolution signifie en terme politique, un changement considérable arrivé dans le gouvernement d’un état») und verweist auf die Revolutionsgeschichten von Vertot (s. u.) sowie auf die Revolution von 1688 in Großbritannien, wiederholt aber ansonsten die alte Formel: «Il n’y a point d’états qui n’aient été sujets à plus ou moins de révolutions.» 16 Zudem ist der vom Chevalier de Jaucourt 17 verfasste politische Teil des Artikels zehnmal kürzer als die 13 14 15 16 17

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Dict. Acad. (41762, éd. 1777), II 28. Dict. Acad. (51798), II 499; Kursivierungen in der Quelle. FÉRAUD, III (1788), 477. Enyclopédie, XIV (1765), 237b. Jaucourt war in gewisser Weise das Faktotum der Encyclopédie, das allenthalben ‚Lücken‘ zu füllen hatte.

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anschließenden Ausführungen von Romilly zur (zyklischen) révolution in der Astronomie, den Naturwissenschaften und der Uhrmacherei. Indem die umfangreichen allgemeinsprachigen Lexika, zu denen während der Aufklärung kleinere Dictionnaires hinzukamen, insgesamt das semantische Feld von révolution konservierten, dokumentieren sie die Grund- und Ausgangslage des historisch-politischen Revolutionsbegriffs um 1690. Seine Bedeutung besteht hauptsächlich aus drei Facetten. –





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Als Erbe ihres astronomischen Ursprungs bewahrt die révolution d’Etat erstens einen Grundzug naturgesetzlicher Notwendigkeit, dem die Staaten und Völker ausgeliefert sind. Die spätere Vorstellung von der Eigenläufigkeit und Prozesshaftigkeit der Revolution ist also bereits angelegt. Zum Zweiten verweist révolution implizit auf die Rückläufigkeit, die zyklische Verlaufsstruktur oder einfach auf die stete Wiederkehr der so bezeichneten Ereignisse. Der Begriff ist somit einer zirkularen Konzeption der Geschichte verhaftet, einer letztlich immobilen Geschichte, in der das Geschehen sich in Abwandlungen beständig wiederholt. «Le monde», konstatierte der Publizist Louis-Antoine de Caraccioli um 1768, «n’est qu’une continuelle révolution, soit dans le physique, soit dans le moral, et c’est ce qui forme les anecdotes des différents siècles, les nouvelles du tems, et la substance des gazettes.»18 Als quasi natürlichem Phänomen im Sinne der révolution d’humeurs haftet der politischen Revolution drittens etwas Negatives an, wie schon die bevorzugte Verwendung des Begriffs im Plural anzeigt. Können Revolutionen auch gelegentlich eine Besserung herbeiführen, 19 so bedeuten sie doch zumeist nicht nur «trouble» und «désordre», 20 sondern auch «guerres continuelles, crimes, désastres», 21 zumal in Asien, wo sie oft von L.-A. de CARACCIOLI: Dictionnaire critique, pittoresque et sentencieux propre à faire connoître les usages du siècle, Lyon 1768, III 81. Dict. Trévoux (41740; éd. 1743), V 1045 : «C’est la condition humaine, d’être assujettie à des révolutions du bien au mal, & du mal au bien.» RICHELET (1686), II 316; wiederholt in RICHELET (51728, éd. 1732), II 630. LEFEBVRE DE BEAUVRAY: Dictionnaire social et patriotique, 1770, 474.

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despotischen Regimen verursacht werden. 22 Geradezu als Geisel der Menschheit erscheinen sie 1761 dem Polyhistor PonsAugustin Alletz: A quoi ont abouti toutes les différentes Révolutions que la terre entière a éprouvé depuis ce grand nombre de siècles, dont nous avons connoissance par le moyen de l’histoire ? A la destruction, à des millions d’hommes égorgés ; tout grand événement a été suivi et accompagné de quelque effusion de sang. 23

2. Révolutions als historiographisches Modewort Mit dem zuletzt zitierten Urteil rekurrierte Alletz auf einen traditionellen Wortgebrauch, der sich breitenwirksam und nachhaltig in einer eigenen literarischen Gattung ausprägte: in über 90 historischen Monographien, die neugierige Leser mit dem vielsagenden Titel-Wort révolutions anlockten. 24 Nach ihren Erscheinungsjahren und den Bänden ihres Hauptautors – des Abbé Vertot 25 – zu schließen, erfreuten sie sich im späten 17. und im frühen 18. Jahrhundert besonderer Beliebtheit. Von der Relation des révolutions arrivées à Siam (1691) des capitaine de Farges über die Histoire des révolutions de Perse von Jean-Antoine Du Cerceau (1742) bis hin zur Histoire des révolutions de l’Empire de Russie von Jacques La Combe (1760) berichteten sie vorzugweise über ‚orientalische Revolutionen‘, über Staatsveränderungen in fernen, despotisch regierten Ländern. Dabei fungierte révolutions als Sammelbegriff und meinte sowohl absonderliche und exotische Vorkommnisse als auch und vor allem sich wiederholende politische Wirren und Intrigen, Rebellionen und Bürgerkriege, Verschwörungen, Thronstürze und Usurpationen, die aber keinen strukturellen Wandel der politischen Ordnung herbeiführen. Eine Rezension von Philiberts Histoire des révolutions de la Haute-Allemagne vom 12. Jahrhundert

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CHICANEAU DE NEUVILLE: Dictionnaire philosophique, 1756, 72 f. P.-A. ALLETZ: Encyclopédie des pensées, 1761, 508 f. Näheres bei GOULEMOT (1975), 196–221; sowie BENDER (1977), 66–78 und 197–201. René-Aubert de VERTOT: Histoire des révolutions de Suède (1695); Histoire des révolutions du Portugal (1711); Histoire des Révolutions arrivées dans le Gouvernement de la République Romaine (1719). Vgl. dazu GOULEMOT (1975), 201–209.

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bis zu den Kriegen der Reformationszeit (1766) bestätigt dieses negative Wortverständnis: Quelles scènes d’horreur, quelles révolutions affreuses, quelles terribles catastrophes remplirent cette sanglante période ! Des Souverains proscrits par leurs sujets, des peuples abattus sous le sceptre des Rois qui s’érigoient en Tirans, le fanatisme, l’ignorance & l’inhumanité excitant, accroissant partout la violence des feux que la discorde avoit allumés. 26

Als der anonyme Rezensent dies schrieb, hatte die Konjunktur der Revolutionsgeschichten ihren Höhepunkt freilich überschritten, weil allmählich ein Wortgebrauch um sich griff, der révolution im Singular eine positivere, grundsätzlichere Bedeutung beilegte. So hatte bereits 1757 ein Kritiker zur Histoire de la révolution du royaume de Naples unter Masaniello bemerkt: «C’est parler improprement que d’appeler révolution une émeute populaire qui n’a pas changé la constitution de l’Etat.» 27 Zusammen genommen waren die Geschichten über ferne orientalische révolutions politisch nicht so harmlos, wie es schien. Konnte man sie doch als Warnung an die europäischen Herrscher verstehen, nicht ihrerseits zu Despoten auszuarten, wie Mirabeau in der Überschrift zum 7. Kapitel seiner Streitschrift gegen die lettres de cachet listig suggerierte: «Le gouvernement ne peut craindre en France que ses propres excès. Le despotisme a toujours produit les révolutions […]». 28 Parallel zu den Revolutionsgeschichten und durch sie angeregt war lange auch ein ambivalenter Gebrauch des Modeworts révolutions verbreitet. 29 Der Plural bezeichnet hier undramatische, häufig auftretende Veränderungen in Politik und Wissenschaft. Zum einen verwenden die täglichen Aufzeichnungen von Zeitzeugen wie des Anwalts Barbier und des Abbé Véri, Bürochef unter Turgot, den Ausdruck wiederholt für Ministerwechsel 30 und Neubesetzungen anderer hoher Posten wie den des Kanzlers. 31 Das ständige Perso26 27

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29 30 31

Journal encyclopédique, Jg. 1766, IV/1 (15.5.1766), 34. GRIMM, XV, 300 (15.3.1757); s. a. [Nicolas Baudet de JUILLY]: Histoire de la révolution du royaume de Naples dans les années 1647 & 1648, Paris 1757. H.-G. Riquetti de MIRABEAU: Des lettres de cachet et des prisons d’Etat, Hamburg 1782, 134. REICHARDT (1973), 316–319. BARBIER, II 137 (21.2.1737); VÉRI, II 184 (August 1774). BARBIER, III 227 (9.2.1751).

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nalkarussell war für die Zeitgenossen fester Bestandteil des turbulenten Lebens am Hof von Versailles: «Notre cour», schrieb 1780 ein geheimer Berichterstatter, «est toujours dans l’état de fermentation qui amène ordinairement des révolutions importantes.» 32 Zum anderen hob der Ausdruck wichtige, maßvolle Neuerungen im kulturellen Bereich hervor, wie eine jesuitische Zeitschrift formulierte: «les révolutions qui arrivent dans l’empire des Sciences n’en ébranleront jamais les fondements». 33 Ähnlich positiv gewendet, durchzieht das Modewort révolutions sogar Voltaires Essai sur les mœurs (1756), für den der Autor zunächst den Titel Essai sur les révolutions du monde et sur l’histoire de l’esprit humain vorgesehen hatte. 34 Dass Voltaire diese Absicht fallen ließ und bald darauf révolution im Singular als aufklärerischen Leitbegriff propagierte (s. u.), erscheint symptomatisch. Kam das Modewort révolutions doch im gleichen Maße außer Gebrauch, wie sich ab den 1760er Jahren allmählich ein neuer, dynamischer Revolutionsbegriff im Singular durchsetzte.

II. Aufwertung von révolution im Zeitalter der Aufklärung 1. Modell-Revolutionen: Historische Katalysatoren des Revolutionsbegriffs Wesentliche Impulse zur Entwicklung des modernen Konzepts der politischen Revolution gingen weniger von den historischen Schilderungen der endlosen révolutions in despotischen Reichen aus als vielmehr von der unmittelbaren Auseinandersetzung mit grundlegenden Regimewechseln der jeweiligen Gegenwart, denen man eine befreiende Wirkung zuschreiben konnte. 35

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Correspondance secrète, I 351 (29.12.1780). Journal de Trévoux, Jg. 1761, 610 (Mai 1761). MAILHOS (1968), 84–87. REICHARDT (1973), 316–346; LÜSEBRINK & REICHARDT, 48–55.

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a) «La Révolution d’Angleterre» Dies begann mit der Glorious Revolution von 1688 in Großbritannien, die eine breite innerfranzösische Debatte auslöste zwischen ihren monarchistischen Gegnern und ihren hugenottischen Befürwortern im niederländischen Refuge. 36 Erstere verdammten die Absetzung Jakobs II. und die Inthronisierung Wilhelms von Oranien durch das Parlament als Angriff auf die Prinzipien der absoluten Monarchie. Wie der Hofprediger Ludwigs XIV., Jacques-Bénigne Bossuet, die Revolution von 1688 als «renversement des loix du pays», ja als «subversion de l’Etat» geißelte, 37 so verurteilte sie der jesuitische Historiker Joseph Dorléans als «une suite de procedez contraires à toutes les regles établies dans les Royaumes hereditaires». 38 Mehr noch: In seiner oft nachgedruckten Histoire des Révolutions d’Angleterre propagierte Dorléans die These, dass die Revolution von 1688 eigentlich 1649 unter Cromwell begonnen habe. Sie bedeute den Sieg des Republikanismus über die Monarchie und etabliere in England die Volksherrschaft: la plus universelle et la plus étonnante Révolution qu’elle [l’Angleterre] eût encore vuë. Tout y changea de face, et à peine y reconnaissoit-on les vestiges de ce qu’elle avoit été depuis deux mille ans. La Royauté, aussi ancienne dans cette Isle que l’Isle même, fut détruite jusqu’au fondement. 39

Während die französischen ‚Monarchisten‘ so den negativ besetzten Plural révolutions benutzten, um die Glorious Revolution in die Geschichte der ‚Staatswirren‘ einzureihen, priesen ihre Gegner die unblutig verlaufene «Révolution d’Angleterre». Der nach Rotterdam ausgewanderte hugenottische Theologe und Publizist Pierre Jurieu begrüßte sie enthusiastisch als göttliche Fügung, als «grande

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GOULEMOT (1967), 426–430, 435–440; GOULEMOT (1975), 81–122; BENDER (1977), 107–1134; BAKER (1988), 41–54. J. B. BOSSUET: Cinquième avertissement aux protestans sur les lettres du ministre Jurieu, Paris 1690, zit. GOULEMOT (1967), 440. Joseph DORLÉANS: Histoire des Révolutions d’Angleterre depuis le commencement de la Monarchie jusqu’à présent, 3 Bde., Paris 1693, zit. nach Ausg. Paris 1729, Bd. III, livre XI, 205. Ebd., livre IX, 40. Dieselbe These vertrat der Richter VANEL: Abrégé nouveau de l’histoire générale d’Angleterre, d’Ecosse et d’Irlande …, avec les Révolutions qui y sont arrivées sous les derniers Règnes jusqu’à présent, Paris 1689.

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révolution […] qui fait l’étonnement de l’Europe», 40 als Sieg des Protestantismus über den ‚Papismus‘ 41 – womöglich ein Vorzeichen für die Rückkehr der Hugenotten, ja einer freiheitlichen «révolution» in Frankreich selbst. 42 Sein Glaubensbruder Pierre Bayle warnte zwar davor, dass die Verbreitung solcher Ansichten eine Rückkehr im Gegenteil unmöglich machen würde, 43 aber Jurieu blieb bei seinem wertbejahenden Gebrauch des Begriffs révolution, 44 darin unterstützt von Isaac de Larreys Schrift über die Rettung der protestantischen Religion durch «la grande révolution d’Angleterre et d’Ecosse», kurz «la fameuse révolution d’Angleterre». 45 Diese überwiegend religiöse Deutung verband sich mit betont politischen Bewertungen der Revolution von 1688. Für Hugenotten wie Jacques Abbadie 46 und Henri Desbordes bedeutete sie die «délivrance miraculeuse du Papisme» und zugleich die Verhinderung des von Jakob II. angestrebten «Gouvernement Despotique et Arbitraire», 47 weil sie die gesetzlichen Rechte, die «libertés des Anglois», wiederhergestellt und gerettet habe. 48 Dass das britische Parlament einen neuen Monarchen einsetzte, erschien sogar als Akt der Volkssouveränität: «c’est l’ordinaire des Peuples, de mettre sur le trône le Libérateur de la Patrie». 49 40

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P. JURIEU, Lettres Pastorales adressées aux Fidèles de France qui gémissent sous la Captivité de Babylone, Rotterdam 1687–1688, Brief IX, 70, zit. GOULEMOT (1967), 437. Dies galt insbesondere auch für England. Vgl. JURIEU, Lettres Pastorales, Brief IX, 202, 208 und 215 sowie Brief X, 237. P. BAYLE: Avis important aux Réfugiez sur leur prochain Retour en France, Amsterdam 1690, 2, 154, 357, 365, 370 (Verwendungen von révolution). P. JURIEU: Examen d’un Libelle contre la Religion, contre l’Etat et contre la Révolution d’Angleterre, intitulé Avis important aux Réfugiez, La Haye 1691, 8, 17, 38, 99, 111, 115, 120, 235, 237. I. de LARREY: Réponse à l’Avis aux Réfugiez, Rotterdam 1709, 3. Zur Omnipräsenz von révolution in dieser Schrift siehe GOULEMOT (1967), 429. J. ABBADIE: Défense de la Nation Britannique, ou les droits de Dieu, de la Nature et de la Société clairement établis au sujet de la Révolution Anglaise, La Haye 1693. Siehe auch Guillaume de LAMBERTY: Mémoires de la dernière Révolution d’Angleterre, La Haye 1702. H. DESBORDES: Histoire des révolutions d’Angleterre sous le règne des Jacques II jusqu’au couronnement de Guillaume III, Amsterdam 1689, nacheinander 429, 75, 318. Ebd., 293, sowie 439, 454 («loix», «libertez»). P.B.P.A.: Remarques politiques sur les révolutions d’Angleterre, avec les merveilles que Dieu a fait pour sa délivrance, Villefranche 1690, 80.

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Ob Befreiung oder Umsturz – in der Kontroverse um das Geschehen von 1688, der ersten breiten Diskussion einer konkreten zeitgenössischen révolution, gewann der Revolutionsbegriff gerade durch die gegensätzlichen Grundpositionen von Monarchisten und Hugenotten an Bedeutungsfülle und politischem Gewicht. Während sich das zyklische Element von révolution auf die Wiederherstellung der ‚legitimen Ordnung‘ reduzierte, evozierte der zunehmend gebrauchte Singular Gewaltlosigkeit und Rechtmäßigkeit. Zugleich erhielt der Begriff einen antidespotischen, wenn nicht antimonarchischen Akzent, sahen die Zeitgenossen in der Glorious Revolution doch nicht nur einen Sieg über den Absolutismus der Stuarts, sondern auch eine Niederlage des Sonnenkönigs, des Unterstützers geflohener Jakobiten. Es war der hugenottische Revolutionsbegriff, der im Frankreich der Aufklärung fortwirkte. Bereits die Aufzeichnungen des Herzogs Saint-Simon am Hof von Versailles sprachen selbstverständlich von «la révolution d’Angleterre». 50 Voltaires Lettres philosophiques betonten das Vorbildliche, aber auch das Einzigartige des englischen ‚Modells‘: «Ce que devient une révolution en Angleterre n’est qu’une sédition dans les autres Pays.» 51 Argenson modifizierte Voltaires Diktum insofern, als er in Frankreich eine Revolution nach britischem Muster für möglich hielt: Il nous souffle d’Angleterre un vent philosophique de gouvernement libre et anti-monarchique ; cela passe dans les esprits et l’on sait comment l’opinion gouverne le monde. Il peut se faire que ce gouvernement soit déjà arrangé dans les têtes pour l’exécuter à la première occasion ; et peut-être la révolution se passerait-elle avec moins de contestation qu’on ne pense. 52

Und anlässlich einer französischen Übersetzung der Two Treatises on Government von John Locke rühmte der ehemalige Außenminister Ludwigs XV. einmal mehr «la révolution de 1688, où cette nation [des Anglais] se défit d’un roi qui gouvernait contre les lois». 53 Einen Höhepunkt erreichte diese rechtfertigende Deutung bei dem Genfer Juristen Jean-Louis de Lolme, dessen vor 1789 50 51

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SAINT-SIMON: Mémoires, II 174 (1697). VOLTAIRE: Lettres philosophiques ou Lettres anglaises, ed. R. NAVES, Paris 1962, 36 (8. Brief, 1733). ARGENSON: Journal, VI 464 (3.9.1751). Ebd., VIII 333 (16.8.1754).

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siebenmal nachgedruckte Schrift über die britische Verfassung mit der Whig-Sicht der Glorious Revolution praktisch den englischen Revolutionsbegriff 54 nach Frankreich übertrug: Ce qui contribue surtout à rendre cet événement unique dans les Annales du genre humain, c’est la modération, je dirai même, la légalité, qui l’accompagnerent. Comme si déplacer du Trône un Roi qui vouloit s’élever au dessus des Loix, eut été une suite naturelle & prévue des principes du Gouvernement, toutes choses resterent en place ; la Nation s’assembla, en regle, pour élire ses Représentans ; le Trône fut déclaré vacant, & un nouvel ordre de Succession fut établi. 55

Angesichts so anhaltender Sympathie für die Musterrevolution von 1688 hatte die Correspondance secrète einigen Grund, die hoffnungsvollen Erwartungen einer «révolution» auch in Frankreich, die sich 1788 äußerten, auf englische Einflüsse zurückzuführen: «On ne peut se dissimuler que l’anglomanie a préparé depuis longtemps la révolution qui semble prête à s’opérer. Elle a fixé nos regards sur une constitution qui fait des hommes libres». 56

b) «La Révolution de l’Amérique» Auf das letzte Jahrzehnt zurückblickend konstatierte der Abbé Véri im Frühjahr 1774 eine auffällige Häufung ausländischer ‚Revolutionen‘: Nous avons vu, dans cet intervalle de temps quatre révolutions frappantes dans les pays étrangers. Une cinquième se prépare : celle des colonies anglaises d’Amérique. […] L’une des quatre fut celle de Russie. Le Tzar Pierre III […] révolta si fort sa nation que sa femme [Catherine II] fut mise sur le trône. […] La seconde fut celle de Pologne, où l’élection de Poniatowski […] a été la source de troubles domestiques qui ne sont pas encore finis. […] La troisième fut en Danemark […]. La révolution de Suède, en 1772, est la quatrième […]. La révolution de Suède fit passer, en 1772, sans effusion de sang, l’autorité politique des mains des Etats dans celles du Roi. 57

Die Beobachtungen des scharfsichtigen Abbé sind symptomatisch für eine zunehmende Anwendung des Revolutionsbegriffs im Sin-

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Vgl. u. a. SNOW (1962). J.-L. DE LOLME: Constitution de l’Angleterre (1771), nouv. éd. rev. et corr., Amsterdam 1774, 39. Corresp. secrète, II 243 (18.3.1788). VÉRI: Journal, I 79–82 (Frühjahr 1774).

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gular auf das politische Zeitgeschehen, wobei révolution das Außergewöhnliche des betr. Ereignisses hervorhebt – unabhängig von seiner positiven oder negativen Bewertung und politischen Richtung. Véri stand damit nicht allein, sondern zählte dieselben ‚Revolutionen‘ auf, die damals Aufsehen erregten und publizistischen Niederschlag fanden. Im allgemeinen handelte es sich um staatsstreichartige Ereignisse: ob nun Katharina ihren Gatten Peter III. 1762 zur Abdankung zwang, ob sie mit militärischer Gewalt die Wahl Poniatowskis zum König (1762) und die Teilung Polens betrieb 58 oder ob in Dänemark die Königswitwe Juliane Marie den einflussreichen Ratgeber ihres Stiefsohnes Christian VII., Johann Friedrich Struensee, 1772 verhaften und hinrichten ließ. 59 Einzig die Entmachtung der aristokratischen Stände in Schweden durch Gustav III. im August 1772 fand anfangs viel Beifall, weil sie Hoffnungen auf einen ‚aufgeklärten Absolutismus‘ weckte, die aber bald enttäuscht wurden. 60 Umso mehr begeisterte Véri sich für die fünfte von ihm erwähnte révolution, als er 1776 nähere Informationen über die Bürgerversammlungen in den britischen Kolonien erhielt: Quand mes pensées se fixent sur l’Amérique, j’ai du regret de ne pouvoir suivre tous les fils qui ont amené la révolution prochaine […]. On y plaide la cause de l’humanité et l’intérêt du grand nombre contre le très petit ; le procès y est suivi sans fureur et sans atrocité ; une marche de sagesse, de douceur et de fermeté est celle de la multitude ; fait inouï dans l’histoire ! 61

In der Tat wurde in Frankreich vor 1789 keine Revolution engagierter und breiter diskutiert als der Unabhängigkeitskampf der britischen Kolonien in Nordamerika, 62 zumeist verhandelt unter dem Namen la Révolution de l’Amérique. Sie war das erste historische 58

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JOUBERT: Histoire des Révolutions de Pologne, depuis la mort d’Auguste III jusqu’à l’année 1775, Warschau 1778. [Johann Friedrich EBERT]: Histoire de la dernière révolution arrivée en Danemark, Rotterdam 1772. MALESSI: Lettre … sur la Révolution arrivée en Suède le 19 août 1772, o. O. 1773; Jacques LESCÈNE DESMAISONS: Histoire de de la dernière révolution de Suède, Amsterdam 1782; Charles Francis SHÉRIDAN: Histoire de la dernière révolution de Suède …, traduit de l’anglois, London 1783; weitere Belege bei REICHARDT (1973), 327 f. VÉRI: Journal, II 20 (1.8.1776). DIPPEL (1976); DERS. (1976).

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Ereignis, das zeitnah ausdrücklich als Revolution bildlich dargestellt wurde. 63 Gespannt verfolgten die gedruckte Presse und die Geheimkorrespondenzen den Verlauf dieser «insurrection légitime», 64 dieser «heureuse révolution», 65 und vermerkten ihre zahlreichen Anhänger in Frankreich. 66 Es entstand eine eigene ‚Revolutionspublizistik‘, die neben dem Kriegsgeschehen besonders über die demokratischen Versammlungen und Beschlüsse der braves Américains berichtete. 67 Pierre-Ulrich Dubuisson zum Beispiel «suivit pas à pas la révolution dans sa marche», wie es im Vorwort heißt, und brachte als Anhang eine französische Übersetzung der Unabhängigkeitserklärung. 68 Seine Schrift konnte sogar mit kgl. Privileg bei Cellot & Jombert am Pont-Neuf erscheinen, weil das beim Zensor eingereichte Manuskript im Titel das Reizwort Révolution vermieden hatte. 69 Geradezu subversiv wurde die Révolution de l’Amérique von Guillaume-Thomas Raynal ausgedeutet. 70 In der dritten Auflage seiner in Genf verlegten Histoire des deux Indes (1780) widmete ihr der freigeistige Abbé den krönenden Band und veröffentlichte im folgenden Jahr denselben Text separat bei fünf weiteren ausländischen Verlagen. 71 Am Beispiel Amerikas wird révolution hier dreifach neu akzentuiert. Erstens markiert sie den Beginn einer Epoche der Freiheit: »Dès qu’on a pris les armes, dès que la première goutte de sang a coulé, le tems des discussions n’est plus. Un jour a fait

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REICHARDT (2017), 1674 f. Gazette de France vom 12. Mai 1775, zit. FAŸ (1925b), 36; s. a. ebd., 57 und 66. BACHAUMONT, II 237 (30.5.1778). Correspondance secrète, I 121–122 (22.12.1777): «Nos partisans très nombreux des Américains […] voudroient […] consommer à jamais la révolution si heureusement conduite par les braves Américains». FAŸ (1925a). [P.-U. DUBUISSON]: Abrégé de la révolution de l’Amérique angloise, depuis le commencement de l’année 1774 jusqu’au 1er janvier 1778, Paris 1778, 6 und 340–351. Abrégé des principaux Evénemens qui se sont passés dans l’Amérique Septentrionale, ebd., 353 das wortreiche Privilège du Roi. Siehe auch TORTAROLO (1995). G.-T. RAYNAL: Révolution de l’Amérique, London und Den Haag 1781; weitere franz. Ausgaben in Amsterdam, Dublin und London.

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naître une révolution. Un jour nous a transporté dans un siècle nouveau.« 72 Zweitens ist sie ein gerechter Kampf gegen die ‚Tyrannei‘ der britischen Regierung, ein «mouvement salutaire que l’oppression appellera révolte, bien qu’il ne soit que l’exercice légitime d’un droit inaliénable & naturel de l’homme qu’on opprime, & même de l’homme qu’on n’opprime pas.» 73 Der Vorwurf der ‚Rebellion‘ wird vehement zurückgewiesen: «Des rébelles! et pourquoi? parce qu’ils ne veulent pas être vos esclaves.» 74 Und indem sie die Freiheit zur Geltung bringt, ist sie drittens ein Beispiel für die Menschheit und zugleich – wie unterschwellig suggeriert wird – eine Warnung an die europäischen Herrscher: Leur cause [des Américains] est celle du genre-humain tout entier ; elle devient la nôtre. Nous nous vengeons de nos oppresseurs, en exhalant du-moins en liberté notre haine contre les oppresseurs étrangers. Au bruit des chaînes qui se brisent, il nous semble que les nôtres vont devenir plus légères ; & nous croyons quelques momens respirer un air plus pur, en apprenant que l’univers compte des tyrans de moins. D’ailleurs ces grandes révolutions de la liberté sont des leçons pour les despotes. Elles les avertissent de ne pas compter sur une trop longue patience des peuples & sur une éternelle impunité. 75

Die mitreißende Sprachgewalt solcher Passagen verdankte die Histoire des deux Indes u. a. der geheimen Mitarbeit Diderots. 76 Mit der breiten Rezeption von Raynals Kompilation in der Presse 77 sowie ihrer publikumswirksamen Vermarktung in Form von Auszügen und Kompendien ihrer philosophisch-politischen Sentenzen 78 fanden auch die Aussagen zur Révolution de l’Amérique große Verbreitung und einerseits weitgehende Zustimmung in aufklärerischen Kreisen. «Puisse la révolution qui vient de s’opérer au-delà des mers», bekräftigte etwa die Geheimkorrespondenz von Mettra, «instruire ceux qui gouvernent les hommes, sur le légitime usage de leur autorité !» 79 Andererseits denunzierte ein konservati72

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G.-T. RAYNAL: Histoire philosophique et politique des établissemens et du commerce des Européens dans les deux Indes, 10 Bde., Genf 1780, hier IX 289. Ebd., IX 252 f. Ebd., IX 256. Ebd., IX 374. DUCHET (1978), 122; LÜSEBRINK (1984). GUÉNOT (1991); DROIXHE (1991). LÜSEBRINK (1988). METTRA, XIII 116 (26.6.1782).

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ver Publizist wie Linguet die erfolgreichen Schriften Raynals als «panache de Révolte» und als «code d’anarchie et de bouleversement». 80 Alarmiert verurteilte das Obergericht in Paris die Histoire des deux Indes denn auch zur öffentlichen Verbrennung durch den Henker und den Autor zu einer Gefängnisstrafe, 81 der sich Raynal durch Flucht ins nahe Ausland zu entziehen wusste. Dass die Amerika-Debatte durch solche repressiven Maßnahmen nicht erstickt, sondern im Gegenteil angefacht wurde, belegen zwei Preisausschreiben der für aktuelle Zeitfragen sensiblen provinzialen Akademien. Die 1781 gestellte Preisfrage der Academie des Sciences, Belles Lettres et Arts de Lyon gab sich noch unverfänglich: «La découverte de l’Amérique a-t-elle été utile ou nuisible au genre humain?» Der von Raynal gestiftete Preis in Höhe von 1200 livres wurde nicht vergeben, weil keine der 44 Einsendungen den Vorstellungen der Akademie entsprach. 82 Doch die 1783 ausgeschriebene Preisfrage der Académie des Jeux Floraux de Toulouse lautete unverblümt: «Quelle est la grandeur et l’importance de la révolution de l’Amérique?» Die prämierte Einsendung des Chevalier Deslandes pries «la sagesse puissante» des Kongresses der Vereinigten Staaten und deren freiheitliche Verfassung: «Tout nous a paru grand, tout nous a paru important.» 83 Die nicht prämierte Antwort von Condorcet argumentierte politischer, indem sie das amerikanische Vorbild ausdrücklich auch und besonders auf Frankreich bezog: «j’examinais l’influence que l’indépendance de l’Amérique aurait sur l’humanité, sur l’Europe, sur la France en particulier». 84 Unter ‚Einfluss‘ verstand der philosophe und künftige Girondist hier eine eher moralische Fernwirkung der neuen amerikanischen

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Annales politiques, I 255 (15.6.1781). Arrêt de la Cour du Parlement, Qui condamne un Imprimé en dix volumes, in-8°, ayant pour titre : ‚Histoire philosophique et politique …‘, Extrait des Registres du Parlement, Paris 1781. LÜSEBRINK & MUSSARD (1994). DESLANDES: Discours sur la grandeur et l’importance de la Révolution qui vient de s’opérer dans l’Amérique Septentrionale, Frankfurt 1783, 155 f. Unter demselben Titel erschien 1784 in Toulouse die Einsendung von J.-B. Mailhe. CONDORCET: De l’influence de la révolution d’Amérique sur l’Europe, 1786, in DERS.: Œuvres, ed. A. CONDORCET O’CONNOR & DominiqueFrançois ARAGO, 12 Bde., Paris 1847–49, hier VIII 4.

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Errungenschaften: «le spectacle d’un grand peuple où les droits de l’homme sont respectés». Wenn diese Rechte allerdings unterdrückt werden, so Condorcet weiter, bleibt der Revolution als letztes Mittel nur die Gewalt: «Ainsi, l’humanité peut pardonner à la guerre d’Amérique, en songeant aux maux dont cette guerre l’a préservée.» Indes, so fügte er sogleich beruhigend hinzu: «La même révolution doit rendre les guerres plus rares en Europe.» 85 Den gleichen Standpunkt vertrat die im April 1787 veröffentlichte Schrift De l’Importance de la Révolution de l’Amérique pour le bonheur de la France, nur dass sie die Gewaltfrage ausklammerte. Sie stammte von Jacques-Pierre Brissot und Etienne Clavière, auch sie spätere Girondisten. Sie widmeten sich zwar hauptsächlich dem Aufbau französisch-amerikanischer Handelsbeziehungen, erwarteten aber, dass mit den amerikanischen Waren auch die Menschenrechte nach Frankreich kämen, wie sie in den Verfassungen von Pennsylvania und Massachusetts kodifiziert waren: On ne les prendra pas entiérement pour modele; mais le despotisme, soit nécessité, soit raison, respectera davantage les droits de l’homme si bien connus, si bien établis. Eclairés par cette révolution, les gouvernemens d’Europe seront forcés, de réformer insensiblement leurs abus […]. Cette révolution favorable au peuple, qui se prépare dans les cabinets de l’Europe, vas sans doute être accélérée par celle que subira de plus en plus son commerce, & que l’on doit à l’affranchissement de l’Amérique. […] Voilà les avantages que la France, que le monde, que l’humanité doit à la révolution d’Amérique […]. 86

Brissot, der 1787 die kurzlebige Société gallo-américaine gründete und im folgenden Jahr eine ausgedehnte Reise in die Vereinigten Staaten unternahm, dürfte sich nicht zuletzt an diese seine Worte erinnert haben, als er am 10. Juli 1791 im Pariser Jakobinerclub vollmundig erklärte : «La révolution américaine a enfanté la révolution française : celle-ci sera le foyer sacré d’où partira l’étincelle qui embrasera les nations dont les maîtres oseront l’approcher.» 87 Seine Behauptung erschien so plausibel, dass sie selbst vom Journal de Paris aufgegriffen wurde: «Il est évident que la révolution

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Ebd., VIII 13 und 25. E. CLAVIÈRE & J.-P. BRISSOT: De la France et des Etats-Unis, ou De l’Importance de la Révolution de l’Amérique pour le bonheur de la France …, London 1787, Introduction, XXXI–XXXIII. AULARD: Jacobins, II 622.

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de l’Amérique septentrionale a produit la révolution Française : c’est-là que nous avons puisé le goût et les principes.»88 Doch begriffsgeschichtlich ist trotz der zeitlichen Nähe der Amerikanischen zur Französischen Revolution nur ein mittelbarer (Kausal-)Zusammenhang zu belegen. In der Debatte über die nordamerikanische Unabhängigkeitsbewegung wurden besonders drei Komponenten des französischen Revolutionsbegriffs ausgeprägt. Als patriotische Freiheitsbewegung war die révolution zum einen legitim, weil sie sich gegen ‚Unterdrückung‘ und ‚Despotismus‘ richtete. Mit Blick auf Frankreich wurde ihre beim amerikanischen Vorbild anerkannte Gewalt aber verdrängt. Denn zweitens zielte révolution auf die friedliche Übertragung der amerikanischen Verfassungen nach Frankreich, auf Reformen im Geist der Menschenrechte durch den aufgeklärten Monarchen. Damit eröffnete révolution drittens eine hoffnungsvolle politische Zukunftsperspektive. Überwiegend handelt es sich also um einen verharmlosenden, einen ‚verschleiernden‘ Revolutionsbegriff, der seine politischen Implikationen halb verbirgt. Ihm fehlen noch die Eigendynamik und die politisch-soziale Radikalität der 1790er Jahre. Révolution in diesem Sinne meint noch mehr die grundlegende Veränderung im Ergebnis als den Veränderungsprozess selbst.

2. Erwartungen einer révolution in Frankreich Durch die Beobachtung ausländischer Revolutionen geschärft, wurde der Begriff révolution von französischen Schriftstellern und Publizisten und Politikern ab Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend auch auf Frankreich selbst angewandt, teils allgemein, um kulturelle Entwicklungen vorauszusagen bzw. krisenhafte Erscheinungen zu bezeichnen, teils konkret, um reformerische Maßnahmen und Projekte zu fordern und zu charakterisieren.

a) prognostische Zeitdiagnosen Eine ausgeprägt optimistische und zukunftsgerichtete Bedeutung erhielt der Begriff in der Formel von der révolution des esprits. 88

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Erwachsen aus dem Kampf der philosophes für die Veröffentlichung der Encyclopédie und Voltaires Triumph in der Calas-Affäre (1761–65), brachte sie die Zuversicht und die Selbstvergewisserung der Aufklärer zum Ausdruck und wurde in der ausgedehnten Korrespondenz des Alten von Ferney geradezu systematisch propagiert. Diese révolution habe in den 1750er Jahren begonnen: «Il s’est fait dans l’esprit humain une étrange révolution depuis quinze ans. […] Encore quelques années et le grand jour viendra après un si beau matin.» 89 Sie sei nicht nur unaufhaltsam («Il s’est fait une révolution dans l’esprit humain que rien ne peut arrêter» 90), sondern auch friedlich: «Il s’est fait dans les esprits une plus grande révolution qu’au seizième siècle. Celle de ce 16e siècle a été turbulente, la nôtre est tranquille.» 91 Und am 2. April 1764 sagte Voltaire seinem Briefpartner Chauvelin voraus, dass der endgültige Sieg der Aufklärung über die ‚Vorurteile‘ kurz bevorstehe: Tout ce que je vois jette les semences d’une révolution qui arrivera immanquablement, et dont je n’aurai pas le plaisir d’être témoin […] ; la lumière s’est tellement répandue de proche en proche, qu’on éclatera à la première occasion et alors ce sera un beau tapage ; les jeunes gens sont bien heureux, ils verront de belles choses. 92

Diese Äußerungen blieben nicht privat, sondern fanden über Kopien und gedruckte Auszüge Verbreitung und öffentliche Anerkennung in Schriften der Untergrundliteratur. «M. de Voltaire», weiß die Correspondance secrète von Bachaumont 1769 zu berichten, «qui s’attribue avec raison l’étonnante révolution arrivée depuis 30 ans dans les esprits en général & même dans les Conseils des Princes […], continue & renouvelle ses efforts pour maintenir & étendre cet heureux changement.» 93 Wenngleich die Formel von der révolution des esprits eigentlich den Fortschritt der Aufklärung postulierte, konnte sie rückblickend als Voraussage der Französi-

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Brief an Gaillard, 2.3.1769, in VOLTAIRE: Correspondance and related documents, ed. Theodore BESTERMAN (abgekürzt: BEST.), Bd. 71, 132 f. (Brief n° 14536). An einen Unbekannten, 10.2.1768, BEST., Bd. 68, 126 (Brief n° 13824). An einen ungenannten Deutschen, 17.6.1771, BEST., Bd. 121, 439 (Brief n° D 17249). BEST., Bd. 54, 231 (Brief n° D 11807). BACHAUMONT, IV 267 (1769).

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schen Revolution gedeutet werden. So zitierte ein Pamphlet-Wörterbuch Anfang 1790 den Brief an Chauvelin mit der Bemerkung: «Il y a plus de vingt-six ans que Voltaire écrivait cette prophétie, qu’on ne peut pas dire faite après coup.» 94 Die von Voltaire lancierte Devise wurde in der zeitgenössischen Publizistik aufgegriffen und präzisierend auf einzelne kulturelle Bereiche projiziert. So schrieb es die literarische Korrespondenz von Grimm der révolution des esprits zu, dass in Frankreich die religiösen préjugés schrittweise von den autoritätskritischen lumières verdrängt würden: «on ne peut se cacher que l’esprit public de cette nation a éprouvé depuis environ dix-huit ans une révolution très-avantageuse […]. Le goût de l’instruction et de la philosophie s’est répandu […].» 95 Dieselbe aufklärerische Bewegung – so das Journal de Paris – bewirke eine zunehmende Ernsthaftigkeit der Franzosen: «la révolution formée aujourd’hui par les Lettres, tend à introduire dans nos mœurs le goût de la simplicité, de la bonhommie et de toutes les vertus sociales.» 96 Als Konsequenz dieses «progrès des lumières» beobachtete Louis-Sébastien Mercier die wachsende Macht der öffentlichen Meinung: «Depuis trente ans seulement, il s’est fait une grande & importante révolution dans nos idées. L’opinion publique a aujourd’hui en Europe une force prépondérante, à laquelle on ne résiste pas». 97 Dass die révolution des esprits mehr war als ein Wunschtraum der philosophes, mussten selbst ihre Gegner, die alarmierten Hüter der alten Ordnung, widerstrebend eingestehen. Als der Avocat général am Großen Rat des Parlement de Paris, Antoine-Louis Séguier, am 18. August 1770 die Verbrennung von Holbachs Système de la Nature und sechs weiteren religionskritischen Schriften forderte, verband er dies mit einem Generalangriff auf die ‚Sekte‘ der Aufklärer, kam aber nicht umhin, den Revolutionsbegriff in ihrem Sinne zu gebrauchen: Les philosophes se sont élevés en précepteurs du genre humain. Liberté de penser, voilà leur cri, et ce cri s’est fait entendre d’une extrémité du monde à

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Extrait d’un dictionnaire inutile, A 500 lieues de l’Assemblée nationale, o. O. 1790, IV. GRIMM, VII 430 (1.10.1767). Journal de Paris, n° 128 (8.5.1777), 1. MERCIER: Tableau de Paris, IV (1783), 272.

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Révolution, révolutionnaire l’autre. D’une main, ils ont tenté d’ébranler le trône ; de l’autre, ils ont voulu renverser les autels. Leur objet était de faire prendre un autre cours aux esprits sur les institutions civiles et religieuses ; et la révolution s’est pour ainsi dire opérée. 98

Aufgrund der somit quasi amtlich attestierten révolution des esprits erwartete dann der abtrünnige Parlamentsrat und künftige Vorsitzende des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung, JeanBaptiste Target, im Herbst 1788 eine vernunftgeleitete Reformdebatte auf den bevorstehenden Generalständen, um unter Hinweis auf die Provinzialversammlungen, den Ansehensverlust des Parlement (s. u.) und die Ständeversammlung des Dauphiné hinzuzufügen: «Nous avons déjà quelques présages de cette heureuse révolution des sentiments et des idées». 99 *** Fungierte das Wort révolution in der Formel révolution des esprits als aufklärerischer Fortschrittsbegriff, oft verbunden mit wertbejahenden Adjektiven, so wurde es in anderen Zeitdiagnosen zum machtkritischen Krisenbegriff politisiert. 100 Markante frühe Beispiele bieten die Beobachtungen und Reflexionen, die der Marquis d’Argenson seinem Tagebuch anvertraute. Noch nie seien in Frankreich die Ministerien und die Außenpolitik so schlecht geführt worden wie jetzt, notierte er Ende Juli 1743 und fuhr fort: «La plume tombe des mains à tout ce qu’on voit arriver à notre France. […] La révolution est certaine dans cet Etat, il s’écroule par les fondements ; il n’y a plus qu’à se détacher de sa patrie et à se préparer à passer sous d’autres maîtres et sous quelque autre forme de gouvernement.» 101 Mochte solcher Pessimismus von seiner vorausgehenden Entlassung als Außenminister beeinflusst sein, so kritisierte 98

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Zit. ROCQUAIN: Le parti de philosophes (1762–1770), in: Séances et travaux de l’Académie des sciences morales et politiques (Institut de France), N.S. 14, 1880, 102–146, hier 144 f. Jean-Baptiste TARGET: Les Etats-Généraux convoqués par Louis XVI, o. O., Herbst 1788, 2. Diese Passage fiel der Correspondance littéraire auf: «L’auteur commence par rappeler tous les présages de l’heureuse révolution qui se prépare.» (GRIMM, XV 347, Nov. 1788). Siehe auch LÜSEBRINK & REICHARDT (1988), 56–61. ARGENSON, IV 83 (30.7.1743)

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Argenson im September 1751 eine absolutistische Staatsführung, die in allen Gruppen der korporativ verfassten Gesellschaft wachsenden Unmut errege, eine Empörung, die sich in Aufständen entladen und schließlich in eine ‚Totalrevolution‘ münden könne, mit dem Ergebnis, dass die königliche Allmacht von einer gewählten Volksvertretung eingehegt werde: Tous les ordres sont mécontents à la fois. Le militaire, congédié le moment d’après la guerre, est traité avec dureté et injustice, le clergé vilipendé et bafoué comme on sait, les parlements, les autres corps, les provinces, les pays d’Etats, le bas peuple accablé et rongé de misère, les financiers triomphant de tout et faisant revivre le règne des Juifs. Toutes ces matières sont combustibles, une émeute peut faire passer à la révolte, et la révolte à une totale révolution où l’on élirait de véritables tribuns du peuple, des comices, des communes, et où le roi et les ministres seraient privés de leur excessif pouvoir de nuire. 102

Ja, so fügte Argenson kurz darauf hinzu, die absolute Gewalt des französischen Monarchen, vergleichbar derjenigen asiatischer Despoten, provoziere geradezu eine «révolution», weil sie unter den letzten Bourbonen zu lauter Kriegen und zur Verelendung des Volkes geführt habe: […] la ligue générale contre nous peut avoir dessein de profiter des mauvaises dispositions de nos peuples très fatigués du gouvernement arbitraire qui les réduit à la misère, et, causant une révolution en France, y introduire le gouvernement par états généraux et provinciaux […] ; car le gouvernement despotique de France, tout semblable à celui de Turquie quant à l’absolu pouvoir, a rendu les derniers règnes très-entreprenants pour les guerres qui ont incommodé nos voisins et nous ont ruinés ici. Il est beaucoup question aujourd’hui, dans l’esprit des peuples, de cette prochaine révolution dans le gouvernement ; on ne parle que de cela, et, jusqu’aux bourgeois, tout en est imbu. 103

Die von Argenson erwartete révolution war weniger radikal, als es scheint. Mit einem Volksaufstand gegen die ‚despotische Willkürherrschaft‘ beginnend, würde sie nicht zu einer ‚Demokratie‘, sondern zu einer aufgeklärten Monarchie führen, in der Repräsentanten der Stände an der Verwaltung beteiligt sein würden. Diese 1751 notierten Vorstellungen hat der Marquis später in einer Reformschrift öffentlich gemacht, dabei aber den Begriff révolution vermieden. 104 102 103 104

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Ebd., VI 464 (3.9.1751). Ebd., VII 22 f. (21.11.1751). ARGENSON: Considérations sur le gouvernement ancien et présent de la France, Amsterdam 1765.

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Wie Argenson von der Politik zur Schriftstellerei gewechselt, erwog um die Jahrhundertmitte auch Gabriel Bonnot de Mably die Möglichkeit einer révolution in Frankreich. Ihr widmete er eine Folge fiktiver Dialoge mit einem britischen Gesprächspartner, die erst 1789 postum veröffentlicht wurden. Auch Mably hielt die Auswüchse des monarchischen Absolutismus für so ‚despotisch‘, dass nur die Etablierung kontrollierender Zwischengewalten die alten Freiheiten der Nation wiederherstellen konnte: Choisissez entre une révolution et l’eslavage ; il n’y a point de milieu. La réforme du pouvoir arbitraire ne sera point l’ouvrage de ces états particuliers qui subsistent encore dans quelques provinces, on a pris trop de soin de les dégrader. […] Une révolution, au contraire, ménagée par la voie que je vous ai indiquée, seroit d’autant plus avantageuse que l’amour de l’ordre et des lois, et non d’une liberté licencieuse, en seroit le principe. 105

Als Gewaltenteilung – so Mably weiter − sollte diese reformerische Revolution mit dem Widerstand der Parlamente gegen die Willkür der Exekutive beginnen und die Generalstände zu einer festen Einrichtung machen, setzte aber eine vorbereitende geistige Gärung voraus: Il faut que les plaintes circulent sourdement dans tous les ordres d’une nation ; il faut que les passions, tour-à-tour aigries et calmées, préparent pendant longtemps une révolution, pour qu’il arrive enfin un moment propre à l’exécution. 106

Als Mably 1765 auf das Thema zurückkam, schienen ihm das Ansehen der Parlamente so gesunken und die Dekadenz der Freiheitsgeistes so fortgeschritten, dass er seine Hoffnungen begrub: Quoi qu’il en soit, la fortune actuelle des grands, leur manière de penser et l’influence qu’elle a sur toute la nation, sont autant d’obstacles à une révolution ; et il faudroit un concours de circonstances d’autant plus extraordinaires pour changer l’esprit national, que les tiers-état n’est rien en France, parce que personne n’y veut être compris. 107

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G. B. de MABLY: Des droits et des devoirs du citoyen (1758), in: DERS., Œuvres, ed. Guillaume ARNOUX, Paris 1794–95 (Nachdr. Aalen 1977), hier Bd. XI/2, 438, 440. Ebd., 466. MABLY: Observations sur l’histoire de France (1765), in: DERS., Œuvres, III 313.

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Dieser Pessimismus beeinflusste auch die Rezeption von Mablys Revolutionsbegriff, so dass die Mémoires secrets ihm 1785 anlässlich seines Todes folgende Grabinschrift widmeten: «Il a découvert aux Peuples les causes des révolutions, annoncé celles dont ils sont menacés, indiqué les moyens de les prévenir.» 108 Dass révolutions hier – entgegen Mablys Verständnis – im Plural erscheint, verweist auf den zunehmend drohenden Unterton der Revolutionsprognosen des späten Ancien Régime. So prophezeite Rousseau im dritten Buch des Emile (1762) den Sturz der europäischen Monarchien, sobald der tugendhafte Mensch seine Rechte zurückerlange: «Nous approchons de l’état de crise et du siècle des révolutions.» 109 Der Abbé Labbat, Pfarrer von Saint-Eustache, wurde 1763 auf Anordnung des Châtelet-Gerichts verhaftet, weil er mit folgenden aufrührerischen Worten gegen das Verbot des Jesuitenordens in Frankreich gepredigt hatte: «Tôt ou tard la révolution éclatera dans un royaume où le sceptre et l’encensoir s’entrechoquent sans cesse. La crise est violente et la révolution ne peut être que très-prochaine.» 110 Beim sog. Mehlkrieg des Frühjahrs 1775 in der Île-de-France, dem schwersten Brotaufstand vor 1789, wussten die Mémoires secrets von geradezu sozialrevolutionären Äußerungen zu berichten: «On ne sait quel esprit de vertige s’est répandu sur ces malheureux ; mais on entend qui semblent désirer une révolution, qui parlent de guerre civile et n’attendent que par-là un changement de sort.» 111 Was hier noch als «vertige», als Schwindelanfall, abgetan wird, war zwei Jahre darauf für den politischen Publizisten SimonNicolas-Henri Linguet ein Grundproblem der Gegenwart. «Révolution singulière dont l’Europe est menacée» lautete die Überschrift des Artikels, mit dem er seine Monatszeitschrift Annales politiques eröffnete. Angesichts der Verelendung der Unterschichten in den

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BACHAUMONT, XXIX 88 (16.6.1785). J.-J. ROUSSEAU: Œuvres complètes, ed. Michel LAUNAY, 3 Bde., Paris 1971, hier III 138. BARBIER, IV 466 f. (26.7.1763); gleichlautend BACHAUMONT, I 260 (3.8.1763). BACHAUMONT, XXX 360 (15.8.1775).

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großen Monarchien wie Frankreich prophezeite er darin nicht weniger als eine soziale Revolution: Ainsi, de deux choses l’une: ou, contenue par l’appareil militaire […], la génération présente se fondra dans les larmes, sans laisser de successeurs pour recueillir son abominable héritage […], ou quelque Spartacus nouveau, enhardi par le désespoir, éclairé par la nécessité, appelant les camarades de son infortune à la véritable liberté […] obtiendra pour les uns un partage absolu des biens de la nature, et pour les autres la restitution de cette douce sécurité […]. L’une ou l’autre de ces calamités est inévitable […]. 112

Überblickt man die angeführten Prognosen, so zeichnet sich in ihrem Gebrauch des Revolutionsbegriffs eine dreifache Tendenz ab: von privaten Äußerungen zu öffentlichen Bekundungen, von einer reformerisch-monarchischen zu einer antimonarchischen Ausrichtung, von einer révolution, die von den Parlamenten und Ständeversammlungen getragen wird, hin zu einer révolution durch die Erhebung der verelendeten Unterschichten. Gemeinsam gingen die Prognosen von einer Kritik des Absolutismus aus. Waren sie auch keine unmittelbaren Voraussagen der Französischen Revolution, so brachten sie doch ein vorrevolutionäres Krisenbewusstsein prägnant auf den Begriff.

b) Révolution als Reform Die Aufklärung, die révolution des esprits, sei inzwischen so weit fortgeschritten, verkündete 1770 eine Flugschrift, dass es an der Zeit sei, sie in staatliche Maßnahmen umzusetzen: Maintenant, les voies sont aplanies, les esprits préparés, on est dans l’attente d’une révolution dans les loix, dans les mœurs, dans l’éducation publique […]. L’époque des révolutions est arrivée. Les peuples, à la fin convaincus de la nécessité de s’éclairer, gravitent vers la perfection. Après des siècles d’esclavage et d’horreurs, la raison révoltée contre les tyrans combat pour la défense de la dignité humaine. 113

Tatsächlich mehrten sich in den 1770er und 1780er Jahren die Forderungen und Projekte, die unter dem Leitbegriff révolution konkrete Reformen forderten und betrieben – von Plänen zur Schulreform und zur Einrichtung von Sozialkassen über eine neue Landwirt112 113

Annales politiques I/n°1, März 1777, 83–103. Le Cosmopolitisme, Amsterdam 1770, 50 und 55.

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schaftsertragsteuer und die Liberalisierung des Getreidehandels bis hin zur bürgerrechtlichen Gleichstellung der Protestanten. 114 Bei zwei vorrevolutionären Reformprojekten der Regierung wird dies besonders deutlich. Als der Kanzler Maupeou die Machtbestrebungen und die Obstruktionspolitik der Parlamente 115 zu brechen suchte, indem er Anfang 1771 die unbotmäßigen, durch Ämterkauf bestallten Oberrichter verbannte und durch einen königlichen Gerichtshof ersetzte, entbrannte zwischen Anhängern und Gegnern dieser Maßnahmen ein Wortkampf, in dem zwei Bedeutungen von révolution aufeinanderprallten. Die Wortführer und Parteigänger der Parlamente rekurrierten auf das negative Verständnis des Wortes und verdammten Maupeous Politik als «cette étrange révolution mal digérée, mal conçue et tyranniquement exécutée», 116 «la révolution dont nous sommes menacée», wie es im Protest des Parlaments zu Rennes vom 30. Oktober 1771 heißt. 117 Ihnen nahestehende Publizisten verfassten eine mehrbändige ‚Skandalchronik‘ dieser «Révolution actuelle», die auf «le bouleversement», den Umsturz der Monarchie, hinauslaufe. 118 Dagegen bestanden die Anhänger Maupeous auf der positiv-reformerischen Bedeutung des Begriffs. «Voilà une grande révolution faitte en peu de mois», lobte Voltaire in einem Brief an den duc de Richelieu. 119 Und als die Reform 1774 ohne Not abgebrochen wurde, zeigte Condorcet sich enttäuscht: «cette heureuse révolution se serait exécutée en peu d’années, sans exposer la tranquillité publique, sans qu’il en coûtât rien à la justice.» 120

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Nachweise bei REICHARDT (1973), 335–339. WAGNER (1988). So der ehemalige Parlamentspräsident Durcy de Maynières, zit. Jules FLAMMERMONT: Le chancelier Maupeou et les parlements, Paris 1883, XII. Zit. BICKART (1932), 136. [Pidansat de MAIROBERT & Barthélémy Moufle D’ANGERVILLE]: Journal historique de la révolution opérée dans la Constitution de la monarchie française, par M. de Maupeou, chancelier de France, 3 Bde., London 1775, hier II 293 und III 319. Eine Besprechung in Bachaumont, VII 317 (25. März 1775). Am 27.11.1871, BEST., Bd. 80, 97 (Brief n° 16429). CONDORCET: Réflexions sur l’esclavage (1781), in: DERS., Œuvres, VII 128.

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Die Auseinandersetzung flammte im März 1788 erneut auf, als Prinzipalminister Loménie de Brienne die Gerichtsreform Maupeous in abgewandelter Form wiederaufnahm. Erneut denunzierten die Parlamente diese «révolution de 1788» als Komplott des «despotisme ministériel contre l’ordre accoutumé», 121 doch anders als 1771 beherrschte nun die positive Seite des Revolutionsbegriffs die politische Meinungsbildung in der Öffentlichkeit. Eine offiziöse Streitschrift der Regierung entlarvte den Volksvertretungsanspruch der Parlamente als Maske ihrer aristokratischen Interessenpolitik, 122 patriotische Reformbroschüren schlossen sich an, 123 und unter dem Titel La Révolution de 1788 spottete ein populäres Chanson: Du monarque trompé la sagesse s’éclaire, Les sinistres fauteurs du pouvoir arbitraire Dans l’exil à leur tour sont chassés par nos cris, Et le peuple indigné les dévoue au mépris. 124

Einen noch stärkeren Impuls erhielt die reformerische Komponente von révolution in Verbindung mit den Bestrebungen zum Aufbau einer regionalen Selbstverwaltung durch gewählte Repräsentanten der drei Stände, wie Premierminister Necker sie 1779 probeweise für drei Provinzen einführte. Von dem weiteren Ausbau dieser Reform erhoffte sich Guillaume-François Le Trosne eine folgenreiche innenpolitische Regeneration Frankreichs: «Toutes ces opérations si importantes à la prospérité publique procureront sans doute la révolution la plus heureuse, et formeront l’époque la plus intéressante de notre histoire.» 125 Erkannte der Physiokrat doch in der Übertragung staatlicher Aufgaben an die Provinzen eine freiwillige Selbstbeschränkung des fürstlichen Absolutismus: 121

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[Pierre BAILLOT]: Réflexions d’un citoyen sur la révolution de 1788, 2e éd., London 1788, 2 und 6 f. Le despotisme des Parlemens ou Lettre d’un Anglais à un Français sur la Révolution opérée dans la Monarchie française, par l’enregistrement de la Déclaration du 23 septembre 1788, fait dans les divers Parlemens du Royaume, Londres [Paris], 1788. J. BERLIQUET: La nation à ses magistrats, sur la révolution du 8 mai 1788, Bordeaux 1788; Profession de foi d’un homme d’état sur la révolution de 1788, London 1788. RAUNIÉ, X 295. Guillaume-François LE TROSNE: L’administration provinciale et la réforme de l’impôt, Basel 1779, II/2, 97.

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Si l’autorité absolue est nécessaire pour vaincre la résistance, et opérer une grande révolution, telle que celle d’une réforme générale, elle n’inspire la confiance et ne rend durable le plan qu’elle a exécuté, qu’autant qu’elle s’enchaîne elle-même […]. 126

Mit der Ausdehnung der Provinzialversammlungen auf den größten Teil des Königreichs durch Brienne im Sommer 1787 steigerten sich die Erwartungen noch, 127 wie zwei künftige Abgeordnete der Generalstände bekundeten. Für den einen, den reformorientierten Grafen François-Henri de Virieu aus dem Dauphiné, markierte die Reform den Beginn einer Konstitutionalisierung des Königreichs: je la regarde comme une révolution complette dans le systême du Gouvernement, comme l’établissement d’une vraie Constitution dans ce Royaume, où, pour ainsi dire, il n’y en a jamais eu. […] C’est ainsi que, dans ce changement qui s’opère actuellement dans l’Administration du Royaume, je vois la Révolution la plus complette, et tout à la fois la plus heureuse de son Gouvernement et de sa fortune publique […]. 128

Der andere, der Textilkaufmann François-Louis Legrand de Boislandry, selber Mitglied der Assemblée provinciale von Saint-Germain-en-Laye und ihrer Commission intermédiaire, betonte den friedlichen Charakter und die Einvernehmlichkeit der Reform: «Cette révolution étonnante va s’opérer, non par la force des armes, la contrainte de la violence, mais par la conviction générale, sur le vœu unanime de tous les Ordres de l’Etat […].» 129 Im Anschluss an die genannten Reformversuche von Maupeou und Brienne richteten sich die Erwartungen einer wohltätigen révolution wie selbstverständlich auf die zum 1. Mai 1789 einberufenen Generalstände. Die Hoffnung, dass sie «l’époque d’une heureuse révolution» 130 würden, wiederholt sich in einer ganzen Reihe der im Vorfeld abgefassten Cahiers de doléances, welche die Wahlversammlungen ihren Abgeordneten nach Versailles mitgaben. So be126 127 128

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Ebd., II/9, 124 f. REICHARDT (1978). [F.-H. de VIRIEU]: Dialogue sur l’établissement et la formation des assemblées provinciales dans la Généralité de Grenoble, o. O. 1787, 3 und 150. F.-L. LEGRAND DE BOISLANDRY: Vues impartiales sur l’établissement des assemblées provinciales, London 1787, 12 f. Cahier des Klerus des Wahlkreises Beauvais, in: Archives parlementaires, 1re Série, II 295.

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schwört der Dritte Stand der Sénéchaussée Villefranche-en-Rouergue in seinem Cahier die «heureuse révolution qui se prépare», 131 für die Wählerversammlung der kleinen Gemeinde Montauban bei Rennes bestand «la révolution si désirée par vos peuples» u. a. in der Gewährung der Pressefreiheit und der Beachtung der Menschenrechte, 132 und der Dritte Stand des Wahlkreises Nancy forderte in seinem Beschwerdeheft: Sûreté, liberté, propriété, voilà l’objet de toutes les lois humaines et la source unique de toute puissance légitime, voilà ce que la nation veut et doit recouvrer. Puissent nos yeux être bientôt les témoins de cette révolution que le vœu public appelait si longtemps. 133

Mehr noch: Als Sammelbegriff für die Abschaffung der abus und für tiefgreifende politische Reformen war révolution nun weithin so positiv besetzt, dass selbst die monarchische Regierung sich das Wort zu eigen machte. Es bildet den krönenden Abschluss der Rede, mit der Siegelbewahrer Barentin am 12. Dezember 1788 die Notabelnversammlung schloss, um den Blick auf die erhoffte Wirkung der bevorstehenden Generalstände zu richten: Quelle époque en effet, plus mémorable pour le règne de S.M., que celle où la prospérité générale doit renaître dans les finances, la confiance publique s’assurer, l’impôt devenir plus égal et dès lors moins onéreux, l’industrie prendre un nouvel essor, le commerce une plus grande activité, la fortune de l’Etat se raffermir, la législation civile et criminelle se perfectionner, l’éducation de la jeunesse et les études recouvrir leur ancien lustre. Tel est, Messieurs, le tableau rapide de la révolution à laquelle nous touchons. 134

Allerdings hatte der Begriff deswegen seine entgegengesetzte – bedrohliche – Bedeutung nicht völlig verloren. Sie wurde vielmehr reaktiviert von einer sensationellen Flugschrift, in der die Prinzen von Geblüt gegen die Absicht der Regierung protestierten, auf den Generalständen die Zahl der Abgeordneten des Dritten Standes zu verdoppeln. 135 Die am 12. Dezember publizierte Broschüre der

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Archives parlementaires, VI 169. SÉE (1911), 301 f. Archives Parlementaires, 1re Série, VI 644. Archives parlementaires, 1re Série, I 487. Zur öffentlichen Resonanz der Rede vgl. u. a. das Journal encyclopédique vom Januar 1789, 365. Dies erfolgte dann durch Staatsratsbeschluss am 27. Dezember 1788.

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Prinzen liest sich wie eine Antwort auf Barentins Rede vom selben Tag und gipfelte in dem Satz: «Sire, une révolution se prépare dans les principes du gouvernement, elle est amenée par la fermentation des esprits.» 136 Die offiziöse Replik ließ nicht auf sich warten und stellte jeder Behauptung des Mémoire des Princes die Position der Regierung gegenüber: Oui, certes, une révolution importante se prépare ; mais gardons-nous de l’attribuer à la fermentation des esprits, car ce serait une grande ingratitude que de ne pas avouer qu’elle est due au plus juste des Rois. C’est lui qui a voulu que la Nation s’assemblât, qui a voulu qu’elle s’imposât elle-même, qui a voulu qu’elle délibérât sur ses premiers intérêts. 137

Und als wollte sie das reformerische Wortverständnis der Regierung festschreiben, fügte eine der zahlreichen anderen Erwiderungen auf das Mémoire des Princes am 22. Dezember hinzu: «Tant mieux ! N’est-ce pas cette révolution, ou plutôt cette régénération salutaire, qu’ont préparée, sollicitée, vivement appelée les vrais Patriotes de tous les Ordres et de tous les Etats ?» 138 Gleichwohl lauerten hinter dem öffentlich bekundeten Vertrauen der Regierung in den Erfolg der reformerischen révolution gelegentliche Zweifel, die etwa im Wechsel zum negativ besetzten Plural zum Ausdruck kommen konnten. So musste Necker, als er dem König in Staatsratssitzung vom 28. Dezember 1788 über die Vorbereitung der Generalstände berichtete, zugeben, dass die Verdoppelung des Dritten Standes ein Wagnis sei: si par des révolutions imprévues, l’édifice de votre Majesté venait à s’écrouler, si les générations suivantes ne voulaient pas du bonheur que votre Majesté leur aurait préparé, elle aurait fait encore un acte essentiel de sagesse en calmant […] cet esprit de dissension qui s’élève de toutes parts dans son royaume. 139

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[Antoine-Jean-Baptiste-Robert Auget de MONTYON, Redakteur]: Mémoire présenté au Roi par Monsieur comte d’Artois, M. le prince de Condé, M. le duc de Bourbon, M. le duc d’Enghien et M. le prince de Conti, abgedr. in: Archives parlementaires, 1re Série, I 487–89, hier 487. Examen du Mémoire des Princes présenté au Roi, [Paris 1788], 6. Die gleiche Gegenüberstellung der Streitpunkte in zwei Spalten wiederholt die anonyme Lettre sur le Mémoire des Princes, [Paris 1788]. [Gabriel BRIZARD]: Modestes observations sur le Mémoire des Princes, faites au nom de 23 millions de citoyens français, Paris 1788, 7. Archives parlementaires, 1re Série, I 498.

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Ist hier dem Minister beim Bemühen, Ludwig XVI. in seiner Entscheidung zu bestärken, eine unfreiwillige Prognose der Französischen Revolution unterlaufen? *** Höchstens mittelbar, denn obgleich das Wort révolution in der Aufklärungszeit deutlich an Bedeutungsfülle und politischer Relevanz gewann, fehlten ihm noch wesentliche Komponenten, die nach Reinhart Koselleck den modernen Revolutionsbegriff ausmachen. 140 Der alte, negativ konnotierte Plural des Wortes wurde weitgehend verdrängt von dem zunehmend wertbejahenden Singular révolution zur Bezeichnung politisch-kultureller Umbrüche. In Zusammenhang mit den ‚Modell-Revolutionen‘ in Großbritannien und Nordamerika wie auch mit den innenpolitischen ‚Revolutionsprognosen‘ entwickelte sich révolution zum legitimierenden Schlüsselbegriff für anti-despotische und anti-absolutistische Freiheitsbewegungen, wobei die Frage der Gewalt in Bezug auf Frankreich verdrängt wurde. Als reformerischer Leitbegriff postulierte révolution die Planbarkeit und Machbarkeit grundlegender politischer Umgestaltung. In den meisten dieser Anwendungsbereiche, besonders aber in Gestalt der aufklärerischen révolution des esprits wurde das Wort zum geschichtsphilosophischen Perspektivbegriff. Was Frankreich betrifft, erweist sich révolution bis Anfang 1789 als Erwartungsbegriff für bevorstehende Veränderungen. Wie omnipräsent der Begriff auch in der Publizistik war, nirgends bezeichnete er einen vollzogenen innenpolitischen Umbruch. Seine vielfältigen Komponenten waren noch nicht kompakt gebündelt. Von punktuellen Ansätzen abgesehen fehlten ihm noch wichtige Elemente wie die soziale Sprengkraft, die Selbstläufigkeit und der Anspruch auf Weltwirkung.

III. Ausbildung des modernen Revolutionsbegriffs 1789–99 Nous nous trouvons à une époque qui n’a pas, à la vérité, de semblable dans les fastes connus de l’humanité ; jusqu’ici, les révolutions n’ont été qu’un 140

KOSELLECK (1979), 76–86.

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changement de vices et d’abus, ce n’était qu’une simple permutation de tyrans […]. La révolution française n’a donc rien en commun avec ces extravagances ou ces cruautés politiques, improprement appelées des révolutions, puisque, à quelques modifications superficielles près, et qui ne changeroient en rien le sort du peuple, […] le gouvernement restoit foncièrement le même […]. Nous, au contraire, nous avons fait la révolution pour le peuple, c’est-à-dire pour l’universalité du citoyen français. Notre révolution, c’est la guerre des lumières contre les préjugés, de la vertu contre les crimes, de la sagesse contre les abus, de la raison contre le fanatisme […], c’est la guerre du genre humain contre les ennemis du genre humain. C’est sans doute dans l’histoire des peuples un modèle unique de philanthropie, de persévérance et de courage […]. 141

Sprachbewusst bündelt diese auf dem Höhepunkt der Jakobinerdiktatur formulierte Passage einer republikanischen Zeitung aus Lyon wesentliche Facetten des modernen Revolutionsbegriffs, wie sie sich ab 1789 im politischen Diskurs der Französischen Revolution herausbildeten. Erstens wird la révolution nun mehr denn je und mit neuartigem Pathos als fundamentaler, epochaler Umbruch von Verfassung und Gesellschaft verstanden, als positive, schöpferische Kraft, die sich diametral und endgültig von den orientalischen ‚Palastrevolutionen‘ unterscheidet. Wenn der Begriff gelegentlich noch in der Pluralform verwendet wird – etwa im Titel der Zeitung Révolutions de Paris von Prudhomme –, so umfasst er die einzelnen Phasen und Bewegungen der Revolution als Ganzes. 142 Zweitens ist la révolution nicht länger eine Sache von Interessengruppen oder aufklärerischen Reformern, sondern sie mutiert zur kämpferischen Revolution durch und für das ‚Volk‘. Damit erhebt sie drittens einen hohen moralischen, ja geradezu missionarischen Anspruch. Zwar kündigten sich, wie oben dargestellt, einige dieser Aspekte vereinzelt bereits vor 1789 an, besonders in Raynals Histoire des Deux Indes (s. o.), aber erst in den ‚Massenmedien‘ der Französischen Revolution dominierten sie die politische Öffentlichkeit, und zwar verbunden mit einer explosionsartigen Erweiterung und inhaltlichen Aufladung des Wortfeldes révolution.

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Journal républicain des deux départements de Rhône et Loire, n° 27 (4.4.1794), 3. RÉTAT (1986).

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1. «la plus juste des révolutions» 143 1789 wandelt sich révolution vom Erwartungs- zum Legitimationsbegriff, der den Erfolg gerechten Handelns konstatiert. Schlaglichtartig kommt dies zum Ausdruck in dem berühmten Wortwechsel des duc de La Rochefoucauld-Liancourt mit Ludwig XVI., den Liancourts Sohn eine Generation später verifizierte. 144 Als der Herzog am Abend des 14. Juli im Auftrag der Nationalversammlung die Nachricht vom Bastillesturm überbrachte, habe der König empört reagiert: «C’est une grande révolte ?» Worauf ihn Liancourt berichtigte: «Non, Sire, c’est une grande révolution!» Signalisierte der Begriff révolution hier schon für sich allein die Legitimität und überragende Bedeutung des siegreichen Volksaufstands, so wurde dieser Anspruch in zahllosen Reden, Flugschriften und Zeitungsartikeln detailliert begründet und verallgemeinernd betont. Nach Ansicht ihrer Protagonisten war die Revolution in Frankreich dreifach gerechtfertigt: durch die unerträglichen Mißstände (abus), die sie beseitigte, durch die erschwerenden Umstände der Gegenwart, die sie überwinden musste, und durch die politischen Ziele, die sie verfolgte. Rückblickend begründete Marat die ‚Notwendigkeit‘ der Revolution mit der schikanösen Staatsverwaltung des Ancien Régime und der Verderbtheit ihres Personals: «L’histoire n’offre aucun exemple d’une révolution semblable à celle qui vient de s’opérer parmi nous. Elle est la suite naturelle des excès de l’administration, des vices des administrateurs, de la corruption universelle des mœurs […].» 145 Héberts Zeitung Le Père Duchesne bediente sich der geläufigen Argumentationsfigur des despotisme ministériel, um die Revolution als Widerstand gegen zunehmende Unterdrückung zu erklären: 143

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10. Juni 1795: Der Abgeordnete Harmand aus Brest gratulierte dem Konvent zur Überwindung der Germinal-Unruhen «pour que le règne de la justice succède enfin au régime affreux des brigands et des assassins qui, depuis les premiers jours du mois de septembre, ont déshonoré la plus belle et la plus juste des révolutions.» Vgl. AULARD: Comité XXIV, 231. Rede von Gaëtan de la Rochefoucauld in der Deputiertenkammer am 23.4.1833; vgl. SCHULZE (1989), 782 f. Siehe auch PESTEL, Anm. 5, im vorliegenden Heft. Ami du peuple, n° 81 (29.12.1789), 7.

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S’il n’y avoit point eu de Brienne et de Calonne, il n’y auroit point eu de révolution ; ce sont ces bougres-là qui à force de nous opprimer nous ont fait sentir le prix de la liberté […]. Oui, plus d’efforts on fera pour nous asservir, plus nous serons libres. La révolution est achevée, parce qu’elle est faite dans l’opinion. Il n’est pas un Français qui n’aimait mieux mourir, que de revenir à l’ancien régime. 146

Hinzu kam die Verelendung der Unterschichten, wie Joseph-Julien Souhait, ein ehemaliger Abgeordneter des Konvents, 1795 erklärte: «La révolution fut l’insurrection du malheur contre les fureurs du despotisme, l’usurpation des grands, l’insolence de la richesse». 147 Und Mercier argumentierte noch in der Spätzeit des Directoire mit der akuten Gefahr des complot aristocratique, das die aufständische Volksmenge beim Bastillesturm mobilisiert hatte: «De toutes les révolutions, la nôtre fut la plus juste, la plus légitime, la plus impérieusement commandée par toutes les circonstances. Il fallait tuer la Cour de Versailles, pour qu’elle ne nous tuât point. La révolution s’est faite parce qu’elle devoit se faire, parce que la capitale étoit menacée par les satellites de la cour.» 148 Gegenwartsorientierte Rechtfertigungen der Revolution betonten dagegen ihre Ergebnisse wie die Abschaffung der Ständeprivilegien und der Feudalität sowie die Einführung freiheitlicher Verfassungsrechte: «Les privilèges, les droits odieux abolis, les corps usurpateurs supprimés, le despotisme, sous quelque forme qu’il existât, partout terrassé, la Liberté et l’Egalité déclarées être la base de la Constitution, telle fut la révolution française.» 149 Im gleichen Sinne, nur sprachlich gemäßigter, instruierte sogar Außenminister Montmorin die französischen Botschafter an den europäischen Höfen im Namen des Königs mit einem Rundschreiben, das am 23. April 1791 in der Nationalversammlung verlesen und im Ami du Peuple abgedruckt wurde:

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Père Duchesne, n° 65 (31.7.1791), 6. Auf Brienne und Calonne treffen Héberts Behauptungen nicht zu. J.-J. SOUHAIT: Opinion sur le droit de suffrage dans les assemblées primaires et électorales, Paris 1795, 12. MERCIER: Nouveau Paris, 1797, I 11. Adresse du peuple de Lyon à la République française (14.6.1793), in: G. Gigue (ed.): Registre du Secrétariat général des Sections de Lyon, Lyon 1907, 525.

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Révolution, révolutionnaire Ce que l’on appelle la révolution n’est que l’anéantissement d’une foule d’abus accumulés depuis des siècles, par l’erreur du peuple ou le pouvoir des ministres, qui n’a jamais été le pouvoir des rois. Ces abus n’étoient pas moins funestes à la nation qu’au monarque […]. Ils n’existent plus ; la nation souveraine n’a plus que des citoyens égaux en droits, plus de despote que la loi, plus d’organes que des fonctionnaires publics, et le roi est le premier de ces fonctionnaires. 150

Die Errungenschaften und Ziele der Revolution rechtfertigen auch die ihr eigene Gewalt. Als zum Beispiel im Oktober 1789, beim Marsch der Marktweiber nach Versailles, die Lynchjustiz an zwei Leibgardisten erste Zweifel an der Revolution weckte, rief Marat den Kritikern zu: «croyez-vous bonnement qu’une révolution comme celle-ci ait pu s’opérer sans quelques éclaboussures ou quelques gouttes de sang ?» 151 Gleichwohl nahm der Abbé Maury, der Gegenrevolutionär par excellence, die Bluttat am 1. Oktober 1790 zum Anlaß für einen grundsätzlichen Antrag in der Nationalversammlung: je demande qu’on me définisse enfin le mot Révolution. Je demande où elle doit s’arrêter? je demande s’il est dans le sens de la Révolution de souiller, par des crimes dignes des Cannibales, le palais de nos rois? […] Non, Messieurs, ce n’est pas de la Révolution, c’est d’une révolte qu’il s’agit […]. 152

Worauf Graf Mirabeau am folgenden Tag erwiderte, es handle sich lediglich um die unvermeidlichen «tempêtes d’une juste Révolu tion». 153 Und Camille Desmoulins empörte sich zusammen mit anderen Patrioten, dass Revolutionskritiker wie Maury beim alten Châtelet-Gericht ein Strafverfahren gegen die ‚Hintermänner‘ der journées d’octobre anstrengten: «Que prétend le Châtelet ? veut-il faire le procès à la révolution ?» 154 Die ihrem Wesen nach gerechte Revolution anzuklagen erschien in der Tat so widersinnig, dass der Prozess im Sande verlief. 155 Ungleich größere Zweifel an der Legitimität der revolutionären Gewalt weckten die unter dem Eindruck einer preußischen Inva150

151 152 153 154 155

Archives parlementaires, 1re Série, Bd. 25, 313; Ami du Peuple, n° 443 (29.4.1791), 2. Ami du Peuple, n° 71 (19.12.1789), 5. Archives parlementaires, 1re Série, Bd. 19, 406. MIRABEAU: Discours, ed. François FURET, Paris 1973, 278. Révolutions de France et de Brabant, n° 22 (24.4.1790), 415. GRUSDAT (2007).

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sion verübten ‚spontanen‘ Pariser Gefängnismassaker durch plebejische Aktivisten Anfang September 1792. Selbst republikanische Zeitungen wie die Chronique de Paris waren entsetzt und ratlos: «Nous tirons le rideau sur les événements, dont il serait trop difficile en ce moment d’apprécier le nombre et de calculer les suites.» 156 Doch der radikale Courrier von Gorsas verwies rechtfertigend auf die akute Bedrohungslage: Justice nécessaire, nous le répétons. Quelques personnes qui calculent froidement les révolutions prétendent que le glaive de la loi seul devait frapper […]. Oui, sans doute, si nous n’étions pas en guerre. 157

In einer Rede, die er am 4. November 1792 im Jakobinerclub hielt und die anschließend im Druck verbreitet wurde, plädierte dann Claude Basire dafür, die Septembermassaker als Randerscheinung der insgesamt wohltätigen Revolution zu betrachten: «Une révolution est toujours une chose hideuse dans ses détails ; c’est dans son ensemble et dans ses conséquences pour la régénération de l’Empire que l’homme d’Etat doit surtout l’envisager.» Bedauernd musste der Vizepräsident des Comité de surveillance im Konvent allerdings einräumen : «Ainsi cette révolution est devenue une mine féconde de calomnies contre les hommes de génie qui en ont tracé le plan, et contre le peuple qui a eu l’énergie de l’opérer.» 158 Während der Terreur mussten solche öffentlichen Bedenken verstummen. Auf dem Weg vom ‚Despotismus‘ zur Tugendrepublik war auch die radikalste Form revolutionärer Gewalt gerechtfertigt, wie es Robespierre in seiner Konventsrede vom 7. Mai 1794 lapidar formulierte: «La révolution […] n’est que le passage du règne du crime à celui de la justice.» 159

2. «La révolution est une seconde création» Indem die legitime Revolution die alten Mißstände hinwegfegt und eine neue gerechte Ordnung errichtet, bewirkt und markiert sie eine 156 157 158 159

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Chronique de Paris vom 4.9.1792, zit. CARON (1935), 127. Le Courrier des 83 départements vom 5.9.1792, zit. ebd., 130. AULARD: Jacobins, IV 453. Sur les rapports religieuses … avec les principes républicains …, ROBESPIERRE: Œuvres, X 447.

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Zeitenwende. Révolution wird zum geschichtlichen Zäsurbegriff. Die zeitgenössische Wahrnehmung des plötzlichen Wandels aller Lebensbereiche, die sich in ihm artikuliert, hat 1789 eine anonyme Flugschrift im Tonfall der Genesis visionär als naturnotwendigen Schöpfungsvorgang beschworen: L’époque d’une nouvelle révolution marche sur les ailes du temps […]. La terre s’entrouvre ; des régions entières disparaissent ; la mer prend leur place : l’univers semble toucher à la dissolution. Bien au contraire, un autre monde est sorti des eaux […]. Cette variation tient à la nature. Elle se fait sentir au moral, au physique, en politique, dans l’ensemble et dans les détails. 160

Zugleich besteht die Zäsurwirkung der Revolution in einer neuen Ausrichtung der politischen Grundpositionen, wie die Zeitung der Sansculottenbewegung in Marseille 1793 mit dem gleichen biblischen Duktus bemerkte. Im Nationalkonvent habe sie zur unversöhnlichen Feindschaft zwischen den ‚lauen‘ Abgeordneten des marais und den ‚Radikalrevolutionären‘ der montagne geführt: La révolution est une seconde création, qui a mis chacun à sa place : les âmes fières et élevées qui peuvent soutenir les rayons du soleil et l’air vif se placèrent à la montagne ; les âmes basses, rampantes, fangeuses, se précipitèrent dans les roseaux et dans les marais ; les âmes faibles, pusillanimes, broutèrent et ruminèrent dans la plaine comme le bétail […]. 161

Konkreter wurde die Revolution als politisch-soziale Zäsur wahrgenommen, wenngleich viele ältere Strukturen erhalten blieben. 162 «Ce n’est que depuis la Révolution», erklärte Marat anlässlich der Föderationsfeiern von 1790, «que les François ont cessé d’être soumis aux ordres d’un maître superbe, qui disposoit arbitrairement de leur liberté, de leur fortune, de leur vie, de leur honneur […]. Ce n’est que depuis la révolution, que les François ont cessé d’être esclaves. Ce n’est que depuis la révolution que les mots de liberté, de droits de l’homme et du citoyen, de souveraineté du peuple, de monarque soumis, se font entendre.» 163 ‚Sozialistische‘ Schärfe gewann diese Zäsurideologie mit der Einrichtung der Revolutionsregierung (s. u.) im Herbst 1793. So gab die von ihr nach Lyon

160 161 162 163

Le Peintre politique, ou tarif des opérations actuelles, o. O. 1789, 7. Journal républicain de Marseille, Suppl. n° 5 (Okt. 1793), 17 f. REICHARDT & SCHMITT (1980). Ami du Peuple, n° 172 (25.7.1790), 3.

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entsandte Sonderkommission die Devise aus, dass die Unterdrückung der Armen durch die Reichen nun ein für allemal ein Ende habe: «Dans ce renversement universel des principes, dans cette dégradation de l’humanité, dans cette humiliation de la vertu, il falloit un changement, une révolution totale ; car on ne peut point tergiverser avec les principes.» 164 Eine weitere Zäsurwirkung bestand in der Aufspaltung der geschichtlichen Zeit vor und nach der Revolution von 1789. Sie konstituierte die neuen Gegenbegriffe ancien régime und nouveau régime. 165 Marat widmete ihnen einen eigenen Zeitungsartikel. 166 Der Publizist Chantreau verfasste ein ganzes Wörterbuch, indem er die Bedeutungen der politischen Termini vor und seit der Revolution jeweils miteinander konfrontierte: «L’ancien régime, c’est l’ancienne administration, celle qui avoit lieu avant la révolution ; & le nouveau régime, celle qui a été adoptée depuis cette époque ; celle dont les vrais patriotes attendent leur bonheur […].» 167 Als Synonym der Zeitenwende erforderte la révolution darüber hinaus eine neue Zeitrechnung, so dass patriotische Schriftsteller und Journalisten ihre Veröffentlichungen ab Juli 1789 spontan nach ‚Jahren der Freiheit‘ datierten, 168 bis der Revolutionskalender vom 24. November 1793 offiziell die Datierung nach ‚Jahren der Republik‘ einführte.169 Die jakobinische Regierung feierte die Abschaffung des Gregorianischen Kalenders, dieses ‚Werkzeugs geistiger Unterdrückung‘, als einzigartige Konsequenz der Französischen Revolution: Chaque jour, depuis cinq ans d’une révolution dont les fastes du monde n’offrent point d’exemple, elle [la nation française] s’épure de tout ce qui la souille ou l’entrave dans sa marche […]. Le temps ouvre un nouveau livre à l’histoire […]. Tous les peuples qui ont occupé l’histoire ont choisi dans leurs propres annales l’événement le plus saillant, pour y rapprocher tous les autres, comme

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Instruktion vom 16.11.1793 an die Verwaltungen des Departements Rhône et Loire, in: MARKOV & SOBOUL: Sansculotten, n° 52, 222. VENTURINO (1988). MARAT: Parallèle de l’ancien et du nouveau régime, in: Ami du Peuple, n° 554 (15.9.1791), 1–8. CHANTREAU: Dictionnaire national et anecdotique, 1790, 134 (Art. «Régime»). RÉTAT (1990). REICHARDT (2002).

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Révolution, révolutionnaire à une époque fixe. […] Les Romains [dataient] de la fondation de Rome ; les Français datent de la fondation de la liberté et de l’égalité. […] C’est après quatre ans d’efforts que la Révolution est arrivée à sa maturité en nous conduisant à la république […]. 170

3. «Tout ce que la Révolution française a produit de sage et de sublime est l’ouvrage du peuple […]» 171 In der Logomachie der Französischen Revolution hatten politische Katechismen die massendidaktische Aufgabe, die Bedeutungen der umkämpften Schlagwörter im Dialog von Frage (Question, Demande) und Antwort (Réponse) kompakt zu erklären und im Sinne der jeweiligen Partei zu definieren. Vergleicht man zum Beispiel, wie ein reaktionärer und ein radikaler Katechismus den Begriff révolution umschreiben, könnte der Gegensatz kaum größer sein: Catéchisme des Aristocrates, [Paris 1791], 11.

Catéchisme révolutionnaire, Paris 1793/94, 3.

Q. Qu’est-ce que la Révolution ? R. C’est l’insurrection de ceux qui n’ont rien, contre ceux qui ont quelque chose, et la rébellion des Sujets contre le Roi. Q. Qu’est-ce qui a causé cette Révolution ? R. La jalousie et l’envie de quelques particuliers, l’ambition et la vengeance de quelques grands, et l’amour de la nouveauté en ont été les véritables causes ; l’injustice et les abus, le spécieux prétexte. Q. Comment est-on parvenu à faire cette Révolution ? R. En ameutant les petits contre les grands, et en avilissant la Religion et l’autorité royale.

D. Qu’est-ce qu’une Révolution ? R. C’est l’insurrection du Peuple contre les tyrans, c’est un passage violent d’un état d’esclavage à un état de liberté. D. Les Révolutions conduisent-elles toujours à la liberté ? R. Oui, lorsque, comme la Révolution française, elles ont principe l’Egalité, et pour moyen la vertu.

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Instruction sur l’ère de la République (24.11.1793), in: Arch. parl., Bd. 80, 7. ROBESPIERRE, Rapport vom 5.12.1793, in DERS.: Œuvres, X 230.

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Während für den Catéchisme des Aristocrates nicht Ungerechtigkeit und Mißstände, sondern Neid, Rach- und Neuerungssucht ehrgeiziger Einzelpersonen die Revolution verursacht haben, verweist der Catéchisme révolutionnaire kurz und bündig auf den im Ancien Régime herrschenden ‚Despotismus‘ («tyrans, esclavage»). Während die Revolution einerseits der Rebellion gegen den Monarchen und der Profanierung der Religion bezichtigt wird, ist sie andererseits der Freiheit, der Gleichheit und der Tugend verpflichtet. In einem Punkt aber stimmen die beiden Katechismen überein: in der Schlüsselrolle, die sie den Aufständischen, den Trägern der Revolution, zuweisen – nur dass diese wiederum konträr bezeichnet werden. Aus reaktionärer Sicht als ‚Habenichtse‘, ‚Untertanen‘ und ‚kleine Leute‘ abqualifiziert, werden sie aus jakobinischer Sicht als «Peuple» gewürdigt. Anders als in der Aufklärungszeit wurde révolution seit 1789 in der Tat ganz wesentlich über ihren ‚Volkscharakter‘ definiert. Damit gewann der Begriff eine soziale Dimension hinzu, die seinen Autoritätsanspruch ‚demokratisch‘ legitimierte. Zwischen révolution und peuple entwickelte sich eine doppelte Affinität. Zum einen betonten die auteurs patriotiques immer wieder, dass die Revolution ein Verdienst des einfachen Volkes, der Besitzlosen sei. «C’est aux classes indigentes qu’est dû la révolution», stellte Marat im Ami du Peuple fest, 172 und erinnerte an den Bastillesturm: Si la France est libre un jour, elle devra ce bonheur aux braves citoyens qui ont rompu ses fers, aux infortunés qui ont bravé les périls & la mort pour lever l’étendart de l’insurrection, aux indigens qui les premiers ont pris les armes, qui ont brûlé les barrières, qui ont versé leur sang devant les murs de la Bastille. 173

Das Bündnis von ‚Volk‘ und Nationalversammlung, das sich daraus praktisch ergeben hatte, wurde von Danton zum Erfolgsprinzip der Revolution insgesamt erhoben. Als girondistische Abgeordnete im Frühjahr 1793 auf Distanz zur sich radikalisierenden Sansculottenbewegung gingen, mahnte er den Konvent: «La Révolution ne peut marcher, ne peut être consolidée qu’avec le peuple. Ce peuple est l’instrument, c’est à vous de vous en servir.» Konsequent beantragte er daher die Ausrüstung des Volkes mit Piken, 172 173

N° 428 (13.4.1791), 3. Ami du Peuple, n° 172 (25.7.1790), 3 f.

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der symbolträchtigen Waffe des freien Bürgers: «Je demande que, dans toute la République, chaque citoyen ait une pique aux frais de la nation.» 174 Als Träger der Revolution – so ihre Protagonisten – war das ‚Volk‘ zum neuen Souverän aufgestiegen. Der Absicht des Verfassungsausschusses, das Wahlrecht auf die Besitzbürger zu begrenzen, trat Robespierre daher 1791 vehement entgegen, indem er den Abgeordneten in der Nationalversammlung zurief: Ah! cessez, cessez de profaner ce nom touchant et sacré du peuple [… ;] le peuple est le seul appui de la liberté. Eh ! qui pourrait donc supporter l’idée de le voir dépouiller de ses droits, par la révolution même qui est due à son courage […]. Est-ce aux riches, est-ce aux grands que vous devez cette glorieuse insurrection qui a sauvé la France et vous ? 175

Noch einfühlsamer pries Souhait das patriotische Engagement der kleinen Leute für die Revolution, als die Thermidorianer sich 1795 anschickten, das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht der jakobinischen Verfassung abzuschaffen: qui peut douter que la révolution n’ait été faite par le peuple ? […] Le 14 juillet et le 10 août sont dus principalement à la classe indigente des citoyens […]. Cette sensibilité aux peines de son semblable, si naturelle à l’infortuné ; […] l’enthousiasme de la liberté & de l’égalité, […] tout entraînait le pauvre au renversement du despotisme ; & ses efforts ont été d’autant plus terribles, que n’ayant rien à perdre & tout à espérer, nulle considération ne pouvoit arrêter son impétuosité : n’auroit-il donc aujourd’hui répandu tant de sang, livré tant de combats, souffert tant d’épreuves & de privations, que pour tomber dans l’esclavage, & se voir enlever ses droits par ceux mêmes, dont il a assuré la puissance & la liberté ? 176

Zum anderen implizierte der Revolutionsbegriff den Anspruch, das lange verachtete Volk nicht nur in seine Rechte einzusetzen, sondern auch seine Lebensumstände zu verbessern. «C’est pour le peuple», beteuerte Jean-Louis Carra in der Zeitung von Louis-Sébastien Mercier, «c’est-à-dire pour la partie de l’empire françois la plus nombreuse et la moins aisée que s’est opéré le miracle de la

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Konventsrede vom 27.3.1793, Archives parlementaires, 1re Série, Bd. 60, 603 f. Rede vom April 1791, in ROBESPIERRE: Œuvres, VII 164 und 166. Joseph-Julien SOUHAIT: Opinion sur le droit de suffrage dans les assemblées primaires et électorales, Paris 1795, 10.

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révolution, c’est au bonheur de la multitude, hier si dédaignée, que l’Assemblée nationale a consacré toutes ses veilles […].» 177 Bis zur Erreichung dieses Zieles riefen die Révolutions de Paris die Sansculotten, die Inkarnation des peuple, zur Einigkeit und zum Durchhalten auf: Union, persévérance aussi, braves sans-culottes; car c’est par vous, c’est pour vous principalement que la révolution se fait ; c’est vous qui en recueillez les premiers fruits, […]. C’est sur vous que reposent les grandes bases de la société civile. Vous n’êtes plus ce peuple vil qu’on plioit, qu’on façonnoit sous le joug du pouvoir arbitraire ; mais ne cessez de reconnoître le frein de la raison, ne cesser de sanctifier la révolution par vos vertus, comme vous l’avez fondée, & comme vous la soutenez par votre courage audace. 178

Und 1793 gab eine jakobinische Regierungskommission an die Wahlbeamten des Departements Rhône et Loire sogar die Losung aus, dass die Glaubwürdigkeit der Revolution ganz auf ihrer engen Verbindung mit dem Volk beruhe: «La Révolution est faite pour le Peuple ; c’est le bonheur du peuple qui en est le but ; c’est l’amour du Peuple qui est la pierre de touche de l’esprit révolutionnaire.» 179 Die einfachen citoyens, die Tagelöhner, Krämer, scheinen solche Bekenntnisse zur ‚Volksrevolution‘ teils kritisch aufgenommen zu haben. Jedenfalls wurde von der Tribüne des Pariser Jakobinerclubs am 30. März 1791 eine Adresse verlesen, in der die Mitglieder einer Société des Indigents die Verwirklichung der Verheißungen einklagten: «chez un grand peuple qui passe rapidement de l’eslavage à la liberté, la révolution se fait difficilement et avec lenteur dans la classe des Indigents. […] les Français sont libres, et il est encore en France des millions d’hommes qui demandent : A quoi sert d’être libres ?» 180 Bestätigend beklagte der Ami du Peuple wiederholt, dass die Revolution hinsichtlich ihrer Versprechen an das Volk gescheitert sei: Ainsi la révolution n’a été faite et soutenue que par les dernières classes de la société, par les ouvriers, les artisans, les détailleurs, les agriculteurs, par la

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Annales patriotiques, n° 105 (19.2.1791), 1065. Anonym: Beaux mouvemens révolutionnaires depuis le 4 août jusqu’au 26 octobre, in: Révolutions de Paris, n° 212 (29.10.1793), 82–95, hier 94 f. Instruktion vom 16.11.1793, in: MARKOV & SOBOUL: Sanculotten, n° 52, 220. AULARD: Jacobins, II 226.

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Révolution, révolutionnaire plèbe, par ces infortunés que la richesse impudente appelle la canaille, et que l’insolence romaine appelait des prolétaires. Mais ce qu’on n’aurait jamais imaginé, c’est qu’elle s’est faite uniquement en faveur des petits propriétaires fonciers, des gens de loi, des suppôts de la chicane. 181

Aufgrund solcher Enttäuschungen propagierte dann Gracchus Babeuf, wie er sich programmatisch nannte, das proto-sozialistische Credo, dass die wahre Revolution, «celle de la Masse», die tatsächliche Machtergreifung des verarmten Volkes, 182 erst noch bevorstünde: «Qu’est-ce qu’une révolution politique en général ? Qu’estce, en particulier, que la révolution française ? Une guerre déclarée entre les patriciens et les plébéiens, entre les riches et les pauvres.» 183 Die Gegenposition vertrat Lacretelle der Jüngere. 1797, im selben Jahr, als Babeuf und die Getreuen seiner Conspiration pour l’Egalité verurteilt und hingerichtet wurden, diagnostizierte der konservative Journalist das nachlassende politische Selbstbewusstsein des Volkes und seine Abwendung von der Revolution. Und auf einen berühmten Ausspruch von Vergniaud (s. u.) sowie die Niederschlagung des Sansculotten-Aufstands vom Frühjahr 1795 anspielend fügte er hinzu, dass die Revolution ihre militante Gefolgschaft – den ‚Pöbel‘ – verschlungen habe: Pour la multitude, la révolution n’est qu’un songe funeste, dont il ne reste d’autres traces que la fatigue et l’incertitude […]. Le peuple […] n’est point passionné pour l’état actuel de la révolution […]. Au milieu de cette révolution, il a contracté je ne sais quel orgueil […]. La révolution, qui a fait sortir tout à coup je ne sais quel populace errante et sans lois, que l’ancien régime entassait dans les hôpitaux, dans les dépôts de mendicité, a dévoré cette même populace, instrument aveugle de tous les crimes ; elle a disparu au milieu des fléaux qu’elle faisait naître […]. 184

Von den Anhängern der Revolution als demokratische Errungenschaft gefeiert, wurde die politische Mobilisierung des ‚Volkes‘ von ihren Gegnern als Zerstörung der traditionellen ‚Ordnung‘ kriminalisiert. 181

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MARAT: Le plan de la révolution absolument manqué par le peuple, in: Ami du Peuple, n° 667 (7.7.1792), 1–8, hier 5. Tribun du peuple, n° 36 (Dez.1795), 116. Ebd., n° 34 (6.11.1795), 90. Jean-Charles-Dominique LACRETELLE: Où faut-il s’arrêter ? Paris 1797, 12 und 14.

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4. Révolution als politisch-geschichtlicher Prozess a) «Il faut encore une révolution» 185 «Quelles sont les époques les plus glorieuses de notre révolution ?» Auf diese Frage einer Fibel für Sansculotten sollte der Schüler antworten : «Le 14 juillet 1789, le 10 août 1792, et le 31 mai, premier et 2 juin 1793». 186 Bis hinein in den Unterricht der neuen republikanischen Primarschulen des Jahres II versprachlichte sich die neue Zeiterfahrung, dass die Revolution ein fortschreitender Prozess war, vorangetrieben von einer Folge revolutionärer Kampftage (journées révolutionnaires) und emanzipatorischer Verfassungsgesetze. So hob Marat drei Wegmarken hervor – den Fall der Bastille, die Abschaffung der Feudalität und der Adelstitel –, drei Daten, die den Gang der Französischen Revolution in ihrem ersten Jahr kennzeichneten: Trois époques à jamais célèbres dans les fastes de l’histoire, ont marqué les périodes de cette merveilleuse révolution. Le 14 juillet avoit vu tomber le despotisme sous les remparts abattus de la tyrannie. Le 4 août vit saper les réjugés honteux de vingt siècles d’erreur, briser les liens avilissans de l’empire féodal, et poser les premières bases de l’égalité civile. Le 19 juin voit proscrire jusqu’aux vestiges de l’asservissement, extirper jusqu’au germe de l’inégalité politique. 187

Doch dabei blieb es bekanntlich nicht. Der missglückte Fluchtversuch der Königsfamilie und ihre beschämende Rückführung in die Hauptstadt gaben im Juni 1791 den Anstoß zu patriotischen Forderungen nach einer Fortsetzung der Revolution. «Citoyens !» meldeten sich die Révolutions de Paris zu Wort, «c’est une seconde révolution qu’il nous faut ; nous ne pouvons nous en passer : la première est déjà oubliée, et nous n’avons encore eu jusqu’ici qu’un avant goût de la liberté […]. Ce n’est plus un clergé et une noblesse qu’il faut contenir et abattre ; c’est sur Louis XVI et ses ministres que nous devons porter notre œil réformateur.» 188 Die 185

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Ungenannter Redner im Pariser Jakobinerklub am 25.3.1793, in: AULARD: Jacobins, V 101 f. Alphabet des sans-culottes, Paris 1793/94, 9. Ami du Peuple, n° 42 (23.6.1790), 3 f. Révolutions de Paris, n° 102 (25.6.1791), 540. Bald darauf radikalisierte das Blatt diesen seinen Standpunkt: siehe das folgende Kapitel.

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zunehmenden Spannungen zwischen der Nationalversammlung und der königlichen Regierung weckten denn auch ‚revolutionäre‘ Vorahnungen, 189 die sich im Tuileriensturm vom 10. August 1792 und mit der folgenden Amtsenthebung Ludwigs XVI. erfüllten: «Une seconde revolution aussi miraculeuse que celle qui a vu prendre la Bastille […]», wie Mme Jullien ihrem Mann schrieb. 190 Offiziell als «la révolution du 10 août» anerkannt, 191 gab diese ‚zweite Revolution‘ im Herbst 1792 den Anstoß zur Zeitung des frisch gewählten Nationalkonvents 192 und inspirierte Joseph-François-Nicolas Dusaulchoy, seinen Volkskalender mit dem Kapitel «La Révolution de 89 et la Révolution de 92» zu eröffnen. Nachdem, heißt es dort, ‚1789‘ nur ein erster Entwurf, «une ébauche de révolution», gewesen sei, verdiene «la Révolution de 92» zwar diesen Namen, weil sie den König gestürzt habe, jedoch die letzte Konsequenz daraus habe sie noch nicht gezogen: Mais, ô peuple ! si tu veux, celle de 92 sera pleine, entière, éternelle. Après tant de siècles d’un despotisme invétéré, il fallait trancher dans le vif pour que la liberté s’élançât robuste, saine et sans contrainte ; on s’étoit bien gardé de le faire en 89 […], C’étoit la royauté qu’il fallait abattre ! […]. Peuple, l’ouvrage est fait aux trois quarts, j’espère que la Convention nationale l’achèvera. 193

Auf den laufenden Königsprozess anspielend, suggerierte Dusaulchoy somit, dass die völlige Abschaffung der französischen Monarchie auch die Verurteilung und Hinrichtung Ludwigs XVI. verlange. Und als hätten sie diesen verkappten Aufruf vernommen, wollten Revolutionsaktivisten in den Temple zur internierten Königsfamilie vordringen und das Urteil des Konvents vorwegnehmen. «Plusieurs circonstances», so ein gut informiertes Nachrichtenblatt, «décèlent le projet des agitateurs, qui veulent faire une 189

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So meldete die Correspondance secrète, II 627 (2.1.1792): «La crainte d’une troisième révolution a déjà fait partir de Paris beaucoup de citoyens depuis huit jours.» Brief vom 10.8.1792; vgl. Rosalie Ducrollay JULLIEN: Journal d’une bourgeoise pendant la Révolution, 1791–1793, publié par son petit-fils, Paris 1881, 220. Vgl. etwa das Sitzungsprotokoll des Wohlfahrtsausschusses vom 22.9.1792 (AULARD: Comité, I 59 f.). La Révolution de 92, ou Journal de la Convention nationale, n° 1 (28.9.1792). J.-F.-N. DUSAULCHOY: Almanach du peuple pour l’année 1792, Paris 1792, 7–12.

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insurrection et assassiner les prisonniers du Temple pour amener une troisième révolution.» 194 Die eine ‚Revolution‘ bringt die nächste hervor. Révolution erweist sich als Bewegungsbegriff mit Eigendynamik und der Tendenz zur Radikalisierung. Dies bestätigt der Wörterkrieg, den Hebertisten und Montagnards gemeinsam gegen die Girondisten und ihre Sprecher führten. «Une nouvelle révolution se mironne», kündigte Hébert bereits zu Beginn des Jahres an; «l’année 1793 sera la dernière des rolandiers et des brissotiers.» 195 Am 25. März 1793 bestieg ein ungenannter Redner die Tribüne des Pariser Jakobinerclubs, um zu einer vernichtenden révolution gegen die Girondisten aufzurufen: Il existe dans la République deux partis distincts, le parti des sans-culottes et le parti des riches, des sybarites. Nous ne jouissons jamais de la tranquillité, tant que ce dernier parti subsistera. Tous nos efforts doivent donc tendre à détruire le parti des riches égoïstes. Il faut encore une révolution, mais que ce soit la dernière, parce que les révolutions usent la machine politique. Pour que cette révolution soit salutaire, il ne faut pas qu’elle soit partielle ; il faut que tous les traîtres soient exterminés ; il faut qu’il ne reste plus qu’un parti, celui des sans-culottes. Pour amener et préparer cette utile et indispensable révolution, il faut réchauffer le patriotisme et éclairer les départements. 196

Die so wortreich geforderte révolution wurde am 31. Mai und am 2. Juni 1793 als Massenaufmarsch der bewaffneten Sansculotten vor dem Konvent inszeniert, gefolgt von der Verhaftung (und späteren Guillotinierung) neunundzwanzig führender Girondisten. «La Grande Joie du Père Duchesne au sujet de la grande révolution qui vient de foutre à bas l’infâme clique des Brissotins et des Girondins» titelte Héberts Zeitung und feierte einmal mehr den opferbereiten Elan des Volkes: «Le peuple de Paris, qui a tout sacrifié pour la révolution, qui veille pour vous comme vous veillerez pour lui, vient de se lever une troisième fois pour foutre la chasse aux intrigans qui vouloient rétablir la royauté.» 197 Sich auf «la mémorable révolution du 31 mai» zu berufen, gehörte fortan zu den stehenden Wendungen der in die Departements entsandten Konventsabgeord-

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Correspondance secrète, II 632 (30.11.1792). Père Duchesne, n° 205 (Anfang Januar 1793), 2. AULARD: Jacobins, V 101 f. Père Duchesne, n° 242 (Anfang Juni 1793), 1 und 6.

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neten;198 sei es, dass Fouché am 30. Juni 1793 aus Troyes von angefachter Revolutionsbegeisterung berichtete, 199 sei es, dass PierreArnaud Dartigoeyte am 2. Oktober aus Tarbes die erfolgreiche Rekrutierung von Freiwilligen vermeldete: «le peuple a senti que la révolution du 31 mai est la révolution proprement dite : partout il démontre la plus forte énergie […].» 200 Zusammenfassend blickte Prudhommes Zeitung Ende Oktober 1793 auf eine Folge ‚schöner revolutionärer Bewegungen‘ («Beaux mouvemens révolutionnaires») zurück, wobei sie offenbar die Errichtung des gouvernement révolutionnaire (s. u.) einbezog, ohne diesen Vorgang aber révolution zu nennen: Les mouvements populaires des 14 juillet et 5 octobre 1789, étoient sublimes sans doute & présageaient de grands événemens. Mais étoient-ils véritablement révolutionnaires ? Non ! à proprement parler, la révolution française n’a commencé qu’au 10 août 1793 ; et ce n’est que depuis cette époque à jamais mémorable, suivie de plusieurs autres qui la surpassent, que le peuple français a déployé toute la force dont est susceptible une nation éclairée & généreuse […]. 201

Hatten in Frankreich die von Mal zu Mal radikaleren révolutions damit einen Höhepunkt erreicht, so wurden anschließend die markanten Ereignisse der rückläufigen Revolutionsphase ebenfalls als révolutions bezeichnet. Das gilt insbesondere für «la Révolution du 9 thermidor», 202 auch «la révolution thermidorienne» genannt. 203 Ihr nicht nur in Paris, sondern auch gegen die radikalen Jakobiner in der Provinz Geltung zu verschaffen, fiel manchen Représentants en mission schwer, wie Jacques-Christophe-Luc Mariette am 15. Dezember 1794 aus Marseille an den Wohlfahrtsausschuss schrieb: «La belle révolution du 9 thermidor n’a pas encore fait

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Paganel aus Villefranche am 23.2.1794 an den Wohlfahrtsausschuss, in: AULARD: Comité, XI 358. «La révolution du 31 mai a réchauffé tous les cœurs et ranimé toutes les espérances.» Siehe AULARD: Comité, V 136. AULARD: Comité, Suppl. 2, 161. Anonyme: «Beaux mouvemens révolutionnaires depuis le 4 août jusqu’au 26 octobre, in: Révolutions de Paris, n° 212 (29.10.1793), 82–95, hier 8. Sitzungsprotokoll des Wohlfahrtsauschusses vom 22.4.1795, in: AULARD: Comité, XXII 339. Tribun du peuple n° 34 (8.11.1796), 3.

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sentir ici toute son influence ; les brigands ont conservé une sorte d’empire sur les esprits […].» 204 Und am 20. November 1794 informierte Joseph-Mathurin Musset den Konvent über den Widerstand der Robespierristen im Departement Puy-de-Dôme: Par des adresses liberticides, ces scélérats avaient empêché l’heureuse révolution du 9 thermidor de déchirer le crêpe qui couvrait ce département. Ce n’est que trois mois après cette glorieuse époque que les rayons de la justice, qui triomphe dans toute la France, ont dissipé la terreur et l’effroi et rendu aux patriotes leur énergie. 205

Aus der Perspektive von 1795 vertrat der Geschichtsschreiber François Pagès dann die Ansicht, dass die Französische Revolutionen aus nicht weniger als elf révolutions bestehe, wobei er verfassungspolitische Ereignisse mitrechnete, die Pariser Volksaufstände vom April und Mai 1795 aber unterschlug: Le lecteur se rappellera les nombreuses révolutions qui ont eu lieu dans notre révolution : elles forment autant d’époques principales. Nous avons eu celle du 14 juillet, celle des 5 et 6 octobre, celle de l’acceptation de la constitution de 1791, celle du 10 août, celle de la proclamation de la république ou l’abolition de la royauté, celle du supplice du roi, celle du 31 mai, époque du décemvirat, celle de la constitution de 1793, celle du gouvernement révolutionnaire qui lui succéda immédiatement, celle du 9 thermidor, celle de la constitution de 1795, et celle des décrets des 5 et 13 fructidor. 206

Hätte François-Xavier Pagès seine Histoire secrète de la Révolution française später abgeschlossen, hätte er sicherlich auch die vier Staatsstreiche der Direktorialzeit hinzugezählt, 207 insbesondere die Machtergreifung von Napoleon Bonaparte als Erstem Konsul am 9. November 1799 – laut Schreiben des Polizeiministers eine abschließende révolution nicht des Volkes, sondern ‚von oben‘: «La révolution du 18 brumaire, citoyens, ne ressemble à aucune de

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AULARD: Comité, XVIII 747. Ähnlich ein Bericht vom 23.1.1795 aus Metz in (AULARD: Comité, XIX 648). Ebd., XVIII 267. F.-X. PAGÈS: Histoire secrète de la Révolution françoise, 2 Bde., Paris 1797, hier II 508 f. Ganz ähnlich ebd., I 265. Coups d’Etat vom 18. Fructidor an V (4.9.1797), vom 22. Floréal an VI (11.5.1798), vom 30. Prairial an VII (18.6.1799) und vom 18./19. Brumaire an VIII (9.10.1799).

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celles qui l’ont précédée. Elle n’aura point de réaction, c’est la révolution du gouvernement.» 208

b) «La révolution est-elle consommée ou ne l’est-elle pas?» 209 «Quel doit être le dernier terme d’une révolution ?» fragte ein jakobinischer Katechismus des Jahres II und gab auch gleich die Antwort : «Une révolution ne doit avoir d’autre terme que l’anéantissement des tyrans et la destruction de tous les vices qui sont la source de la tyrannie.» 210 In der Tat verschränkte sich der innenpolitische Diskurs über den Fortgang der Französischen Revolution aufs engste mit der Debatte über die Frage, ob sie ihr Ziel erreicht habe oder nicht, ob sie zu beenden sei oder weitergehe. Die Debatte trug wesentlich dazu bei, das dynamische Element des Bewegungsbegriffs révolution auszuformulieren. Bereits kurz nach dem Bastillesturm, als in Paris Fouquet und Berthier von der aufgewühlten Volksmenge gelyncht wurden, äußerte Brissots Zeitung Le Patriote français erste Bedenken gegen die anhaltende revolutionäre Gewalt: «L’enthousiasme est un moyen très puissant et très utile pour opérer une grande révolution ; mais il devient très dangereux, lorsqu’elle est faite. Il faut du calme, du sang-froid pour établir une Constitution solide et des Lois sages.» 211 Noch offener versicherte der Courrier de l’Europe, dass keine weiteren Volksaufstände nötig seien: «La révolution est faite, pourquoi chercher encore à enflammer la multitude […].» 212 Und der Spectateur à l’Assemblée Nationale rief dazu auf, auch den aufständischen «peuple» in der Provinz zu beruhigen: Il est essentiel, il est urgent que tous les hommes bien intentionnés professent dans toutes les provinces une doctrine patriotique uniforme ; qu’ils ne cessent de répéter au peuple que la révolution est certaine, qu’elle est faite, qu’aucun pouvoir ne peut la détruire et que le calme seul suffit pour la consolider. 213

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Schreiben an die Opéra-Comique de la rue Favart, zitiert im Journal des républicains vom 16.11.1799 (AULARD: Consulat, I 8). Annales patriotiques, n° 84 (25.5.1793), 389. Catéchisme révolutionnaire, 1793/94, 6. Patriote français, n° 7 (4.8.1789), zit. Claude LABROSSE & Pierre RÉTAT: Naissance du journal révolutionnaire 1789, Lyon 1989, 284. Courrier de l’Europe, n° 24 (22.9.1789), 196. Spectateur à l’Assemblée Nationale, n° 1 (1.9.1789), zit. LABROSSE & RÉTAT, 284.

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Indem diese politisch gemäßigte Presse darauf insistierte, dass die Revolution ‚fertig‘ und im Ergebnis gesichert sei, bezeugte sie eher das Gegenteil. In den radikalen Révolutions de Paris warnte der Redakteur Elysée Loustalot denn auch davor, aus der Emigration namhafter Adelsfamilien falsche Schlüsse zu ziehen: «voilà sans doute d’assez puissans motifs pour croire que la révolution est opérée, que la contre-révolution est impossible. Funeste erreur !» Denn, so Loustalot weiter, die im Land verbliebenen aristocrates stellten nach wie vor eine große Gefahr dar. 214 Zwei Jahre später weckte die Aussicht auf die Verabschiedung der Verfassung und die folgenden Wahlen zur Nationalversammlung bei gemäßigten Journalisten neue Hoffnungen auf die abschließende ‚Vollendung‘ der Revolution. «Les patriotes regardent la Révolution comme entièrement consommée, s’ils parviennent à avoir la seconde législature en activité […]», ließ sich etwa die Correspondance secrète vernehmen. 215 Doch die Révolutions de Paris, vom Fluchtversuch Ludwigs XVI. alarmiert, sagten voraus, dass die Revolution andauern werde, bis die Konkurrenz zwischen der königlichen Souveränität und der Souveränität der nation, wie sie in der Verfassung angelegt war, beseitigt sein würde: La révolution n’est pas faite, tant que nous permettons au roi d’avoir une cour. […] Si Louis XVI accepte, la révolution est faite pour lui, et le plus heureusement du monde. Mais pour nous […] la révolution n’est pas assurée. La secousse a été trop brusque et trop forte, pour qu’il n’y ait pas longtemps encore des oscillations fréquentes ; d’ailleurs, depuis deux ans et demi que la révolution dure, nous n’avons pas su en profiter assez pour nous dispenser de la faire durer plus longtemps. […] La révolution n’est pas faite, tant que nous nous obstinerons à confondre la majesté du peuple avec celle du roi. […] D’après cela, qu’on vienne nous dire que la révolution est close en même temps que l’assemblée constituante. Non, non ; la révolution n’est pas faite ; elle ne peut ni ne doit l’être […;] un peuple qui se propose sérieusement de demeurer libre […] doit rester dans un état voisin de l’insurrection. 216

Als diese Voraussage sich über die ‚Zweite Revolution des Zehnten August‘ hinaus erfüllte, gaben die Septembermassaker neuen Anlass, das Ende der Revolution zu fordern. So rief der Abgeordnete 214 215 216

Révolutions de Paris, n° 19 (22.11.1789), 2. Correspondance secrète (19.8.1791) II 543. Anonym: La constitution une fois acceptée par le roi, la révolution est-elle faite ? in: Révolutions de Paris, n° 113 (10.9.1791), 440–444.

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Armand-Gaston Camus im Konvent zur Öffnung der irregulären Gefängnisse auf: «Les moments de la révolution sont passés, et les mesures extraordinaires qui pouvaient alors être salutaires, sont aujourd’hui illégales et dangereuses.» 217 Und im Frühjahr 1793, als die Agitation der Sansculotten gegen die Girondisten vom Präsidenten der Pariser Jacobins, Pierre-Antoine Antonelle, unterstützt wurde, warfen Merciers Annales patriotiques et littéraires ihm die paradoxe Absicht vor, die Revolution ‚revolutionär‘ beenden zu wollen: «vous demandez des mesures révolutionnaires pour finir la révolution […].» Dies laufe auf einen Teufelskreis hinaus – «à nous emprisonner en quelque sorte dans la révolution dont nous avons franchis toutes les aspérités.» Dem setzte der anonyme Autor des Artikels die Überzeugung entgegen: je crois fermement, que la révolution est faite [… ;] cette opinion généralement accréditée calmeroit les craintes exagérées des amis zélés de la révolution, qui, par une erreur toute semblable à celle de ses ennemis, supposent à chaque instant la possibilité d’une contre-révolution, sonnent l’alarme à toutes les minutes, et tiennent le peuple dans un état continuel d’agitation […]. 218

Solche Meinungen erwiesen sich im selben Maße als Illusion, wie die Protagonisten der Revolution die Radikalisierung derselben mit der Terreur auf die Spitze trieben. Dies begründete Robespierre namens des Comité de salut public am 5. Februar 1794 im Konvent als notwendige Maßnahme, um trotz innerer und äußerer Gefährdungen der Republik das Ziel der Revolution zu erreichen. «Il est temps», hob er an, «de marquer nettement le but de la révolution, et le terme où nous voulons arriver», und entwarf das Ideal einer friedlichen ‚Demokratie‘, die dem Volk ein Leben in Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit garantiere. «Mais», fuhr er fort, «pour fonder et pour consolider parmi nous la démocratie, pour arriver au règne paisible des lois constitutionnelles, il faut terminer la guerre de la liberté contre la tyrannie, et traverser heureusement les orages de la révolution : tel est le but du système révolutionnai-

217

218

Sitzung vom 8.10.1792, in: Archives parlementaires, 1re Série, Bd. 52, 392. Annales patriotiques, n° 140 (10.5.1793), 645; Leserbrief, möglicherweise fingiert. Siehe auch ebd., n° 84 (25.5.1793), 389.

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re que vous avez régularisé.» 219 Das verklausulierte Wort von der ‚Beendigung des Krieges‘, die künstliche Unterscheidung der ‚Stürme der Revolution‘ und des ‚revolutionären Systems‘ konnten nicht über Robespierres eigentliche Botschaft hinwegtäuschen: auch in ihrer extremen Form muss die Revolution weitergehen. Konnten gegenteilige Forderungen nach ihrer Beendigung sich unter den Bedingungen der Terreur kaum öffentlich äußern, so artikulierten sie sich nach dem 9. Thermidor umso mehr. Pünktlich zur Schließung der Tribunal révolutionnaire Ende Mai 1795 gratulierte der Schriftsteller La Harpe dem Konvent zu seiner gemäßigten Politik: Quand on commence la révolution, il faut oublier tout ce qu’on sait, renverser tous les principes, exagérer tous les abus, soulever tous les mécontens, c’est ce que fit l’assemblée constituante. – Quand on veut la finir, il faut chasser tous les mécontens, glisser sur tous les abus, se rattacher aux principes de justice & de morale, & se rappeler tout ce qu’on a voulu oublier. C’est ce que fait aujourd’hui la convention. 220

Damit war die Polarisierung zwischen Gegnern und Anhängern der Revolution indes nicht aufgehoben, wie ein anonymer Leserbrief in der konservativen Zeitung La Quotidienne bemerkte: «il n’est plus que deux opinions parmi les Français, celle de ceux qui veulent mettre un terme à la révolution et celle de ceux qui voudroient la recommencer […].» 221 Einerseits zum Beispiel pries der in die Normandie entsandte Konventskommissar Georges-Frédéric Dentzel die befriedende Wirkung der Direktorialverfassung vom August 1795 in geradezu hymnischen Tönen: Tous les départements que j’ai parcourus […] ont accepté la Constitution et le décret du 5 fructidor à l’unanimité. La majesté nationale n’eut jamais un accord plus parfait, une attitude plus imposante. La voilà enfin, cette arche sainte de la félicité publique, déposée dans le sanctuaire auguste de la toute-puissance nationale. La Révolution est consommée. 222

Andererseits beschuldigte Babeuf die Thermidorianer, mit ihrem ‚reaktionären‘ Revolutionsbegriff die Volksbewegung vorzeitig zu unterdrücken: 219

220 221 222

ROBESPIERRE: Sur les principes de morale politique … de la République, in: DERS.: Œuvres, X 351 und 352 f. La Quotidienne, n° 101 (31.5.1795), 1–2. La Quotidienne, n° 185 (1.9.1795), 2. Bericht aus Coutances vom 10.9.1795, in AULARD: Comité, XXVII 30 f.

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Révolution, révolutionnaire Les hauts et puissans du jour entendent singulièrement le mot révolution, quand ils prétendent que la révolution, chez nous, est faite. Qu’ils disent donc plutôt la contre-révolution ! La révolution, encore une fois, est le bonheur de tous, c’est ce que nous n’avons pas : la révolution n’est donc point faite ! La contrerévolution, est le malheur du grand nombre, c’est ce que nous avons : c’est donc la contre-révolution qui est faite ? ( ! ) 223

Doch die in der Direktorialzeit vorherrschende Meinung dürfte Mercier in seinem viel beachteten Nouveau Paris getroffen haben: Aujourd’hui que la révolution est faite, aujourd’hui que tous ces hommes énergiques et cruels qui ont servi la révolution, ou plutôt dont la révolution s’est servie pour se développer, aujourd’hui que tous ces hommes féroces ont été usés par la révolution elle-même […], c’est aux modérés à consolider un ouvrage qui ne doit plus être exposé aux agitations révolutionnaires, et qui doit être enfin ramené aux motifs purs qui l’avoient fait entreprendre. 224

Die politische Öffentlichkeit war somit gut vorbereitet, als der Abgeordnete Jean Bérenger am 10. November 1799 im Rat der 500 den Staatsstreich von Napoleon Bonaparte mit den Worten kommentierte: «La journée du 19 brumaire terminera la révolution.» 225 Zwar gab es noch Skeptiker wie den Abgeordneten Jean Debry, der in einem Leserbrief seine Unsicherheit bekannte: «Il faut à tout prix […] nous préserver d’une révolution nouvelle ou d’une continuation de la révolution.» 226 Aber am 15. Dezember 1799 ließen die drei Konsuln eine Proklamation plakatieren, welche eine neue Verfassung ankündigte und mit der lapidaren Erklärung schloss: «Citoyens, la révolution est fixée aux principes qui l’ont commencée. Elle est finie.» 227

c) «la révolution opère sur les hommes» Un des grands inconvéniens des révolutions politiques, c’est que l’action empêche la réflexion. On est poussé par les événemens ; la nécessité de s’occuper du jour ne permet pas de revenir sur le passé, de songer au lendemain ; on ne dispose d’une révolution comme d’une entreprise vulgaire ; elle déroute tous les calculs de la prévoyance humaine. Vainement embrasse-t-on en idée l’objet,

223 224 225 226 227

Tribun du Peuple, n° 36 (10.12.1795), 116. MERCIER: Nouveau Paris, 1797, V 119. Zitiert nach GIESSELMANN (1977), 332. Ami des lois vom 9.12.99, zit. ebd., 341. BUCHEZ & ROUX, Bd. 38, 301. Vgl. dazu LENTZ (2003), bes. 24 f.

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les moyens et le but ; tout cela se trouve dérangé dans l’exécution : c’est vaguer sur une mer orageuse au milieu des écueils et des tempêtes ; vous voulez suivre cette route, faire telle manœuvre, vous êtes forcé d’agir en sens contraire : les élémens les plus discordans entrent comme parties intégrantes dans cette position pénible. Les vertus, les crimes, les passions, la raison, les lumières, l’ignorance, la force, la foiblesse, l’habilité, l’impéritie, se mettent pour ainsi dire en concurrence d’action et d’influence. Il en résulte des luttes, des tiraillemens qui, chaque jour, produisent de nouveaux phénomènes, et l’on arrive quand il plaît à dieu au but où l’on s’étoit proposé d’arriver. […] Chaque individu ne compte que pour un dans la révolution, et cependant chaque individu veut se l’approprier toute entière, en devenir le seul arbitre. L’un veut qu’elle s’arrête, l’autre qu’elle rétrograde, l’autre qu’elle aille en avant ; celui-ci veut la faire marcher à pas de tortue ; elle ne va jamais assez vite au gré de celui-là. Ceux-ci se battent pour la direction de la manœuvre, ceux-là voudroient ne prendre aucune part active, n’être que simples passagers dans le vaisseau révolutionnaire ; enfin, d’autres provoquent le naufrage, sans songer qu’ils en seront les victimes. Le philosophe, qui a combiné la révolution, qui l’a considérée d’une manière abstraite, n’a point apperçu ces mouvemens contradictoires, ce charivari, ce vacarme épouvantable. Il est humilié, confondu ; il croit d’être trompé dans ses méditations. Point du tout, il a opéré sur des idées, et la révolution opère sur des hommes […]. 228

Mit diesen Beobachtungen und Reflexionen, die ganz offenbar auf der unmittelbaren Wahrnehmung des politischen Geschehens in Frankreich beruhen, umschreibt ein ‚Leserbrief‘ in der weit verbreiteten Zeitung von Mercier und Carra im November 1793 ein gegenüber 1789 erweitertes und differenziertes Bedeutungsspektrum von révolution. ‚Die Revolution‘ weckt nicht nur die unterschiedlichsten Erwartungen und Leidenschaften, die heftigsten Konflikte unter den Akteuren, sie lässt sich auch und vor allem weder genau planen und steuern, sondern nimmt einen unvorhersehbaren, ebenso wechselvollen wie stürmischen Verlauf. Praktisch zieht der anonyme Autor damit die semantische Quintessenz sowohl aus der anhaltenden Folge revolutionärer Bewegungen innerhalb der Französischen Revolution wie auch aus der letztlich fruchtlosen Debatte um ihre Fortsetzung oder Beendigung: révolution – so die auf den Begriff gebrachte Erfahrung – ist eine übermenschliche Kraft, ein unaufhaltsamer, eigengesetzlicher, selbstläufiger Prozess. Zahlreiche zeitgenössische Äußerungen bestätigen, dass dieses neue Verständnis vom eigendynamischen Prozesscharakter nunmehr 228

Annales patriotiques et littéraires, n° 380 (17.11.1793), 94.

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wesentlich zum Revolutionsbegriff dazugehört. So bekannte Marat Anfang 1793: «je regarde la révolution française comme un miracle continuel, et j’ai peine à me défendre de l’idée qu’un dieu tutélaire a veillé pour le salut des amis de la liberté […].» 229 Der liberale Schriftsteller Pagès vertrat die gleiche Ansicht: Notre révolution s’est faite sans aucun chef qui l’ait préparée ni dirigée ; la force seule des circonstances l’a opérée. Ce qu’il y a de plus étonnant, et qui feroit presque croire que quelque chose de surnaturel a influé sur cette grande révolution, c’est que tous les événemens, tous les complots, toutes les trahisons, enfin, tout ce qui devoit le plus la renverser, ou du moins entraver sa marche, ont concouru, au contraire, à l’accélérer et à l’affermir. 230

Selbst der erzreaktionäre Joseph de Maistre konnte in seinen oft aufgelegten Considérations sur la France (Frühjahr 1797) einen bewundernden Unterton nicht ganz unterdrücken: Ce qu’il y a de plus frappant dans la révolution française, c’est cette force entraînante qui courbe tous les obstacles. Son tourbillon emporte comme une paille légère tout ce que la force humaine a su lui opposer : personne n’a contrarié sa marche impunément. […] On a remarqué avec grande raison que la révolution française mène les hommes plus que les hommes la mènent. […] Les scélérats même qui paroissent conduire la révolution, n’y entrent que comme de simples instrumens […]. 231

Hinzu kam (wie oben von Pagès vermerkt) der neue und verbreitete Eindruck von der Beschleunigung des Revolutionsprozesses. Als Camille Desmoulins seine journalistische Tätigkeit im Dezember 1793 wiederaufnahm, begründete er diesen Schritt damit, dass der rasende Lauf der Revolution von einem schnellen Medium kommentiert werden müsse: «Il faut écrire, il faut quitter le crayon lent de l’histoire de la révolution, que je traçais au coin du feu, pour reprendre la plume rapide et haletante du journaliste, et suivre, à

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MARAT: Réflexions sur la révolution, & sur les causes qui l’ont maintenue, in: Journal de la République Française, n° 108 (27.1.1793), 3–8, hier 3. François PAGÈS: Histoire secrète de la Révolution françoise, 2 Bde., Paris 1797, II 355 f. J. de MAISTRE: Considérations sur la France, ed. Jean TULARD, Paris 1980, 33. Differenzierter zu de Maistres (Gegen)Revolutionsbegriff PESTEL, Kap. IV/1 im vorliegenden Heft. Zum größeren Zusammenhang SCHLÜTER (1990).

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bride abattue, le torrent révolutionnaire.» 232 Veränderungen, die früher ein Jahrhundert gebraucht hätten, vollzögen sich in der Revolution binnen weniger Tage, bemerkte 1795 die Gazette française anlässlich des niedergeschlagenen Germinalaufstands: «Le calme de Paris aujourd’hui est aussi étonnant que le tumulte d’avanthier était extraordinaire. Un des phénomènes de notre révolution, c’est que le lendemain est toujours à un siècle de la veille.» 233 Und 1826, im Vorwort zur Neuausgabe seines Essai sur les révolutions, erinnerte sich Chateaubriand, dass er vergeblich versucht hatte, die Französische Revolution in die révolutions alten Stils einzuordnen: «Je commençai à écrire l’Essai en 1794, et il parut en 1797. Souvent il fallait effacer la nuit le tableau que j’avais esquissé le jour : les événements couraient plus vite que ma plume ; il survenait une révolution qui mettait toutes mes comparaisons à défaut […].» 234 Außerdem drängten sich den Zeitgenossen Naturmetaphern auf, um die neue Erfahrung der unwiderstehlichen Eigendynamik der Revolution bildsprachlich zu erfassen. Zum einen assoziierte man sie mit einem Gewittersturm. So rief Collot d’Herbois im Pariser Jakobinerclub unter allgemeinem Beifall aus: «On veut modérer le mouvement révolutionnaire. Eh ! dirige-t-on une tempête ? Eh bien ! la Révolution est une. On ne peut, on ne doit point en arrêter les élans.» 235 Wenn man, so Pagès ergänzend, dem ‚Revolutionsgewitter‘ seinen Lauf lasse, habe es reinigende Wirkung: Il faut donc croire, que la révolution, en dépit des anarchistes, ressemblera à ces coups de tonnerre violens et multipliés, qui, après avoir été beaucoup trop long-tems prolongés […], finissent par épurer l’atmosphère, et par ramener des jours sereins. 236

Zum anderen verglich man sie mit einem reißenden Wildbach («torrent de la révolution» 237) oder einer Fahrt des Staatsschiffs auf 232

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C. DESMOULINS: Le Vieux Cordelier, ed. Pierre PACHET, Paris 1987, n° 1 (5.12.1793), 45. Gazette française vom 3.4.1795, zit. AULARD: Réaction thermidorienne, I 637. F.-R. de CHATEAUBRIAND: Essai sur les révolutions, ed. Maurice REGARD, Paris 1978, 15. Rede vom 23.12.1793, in AULARD: Jacobins, V 574. PAGÈS [229], II 524; ebd. II 8 und 78: «orage(s) révolutionnaire(s)». So Robespierre in seiner letzten Konventsrede am 26.7.1794, in: Œuvres, X 567. Siehe auch PAGÈS [229], II 331.

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stürmischer See, das Ballast abwerfen muss, um nicht unterzugehen: «Un mouvement révolutionnaire ressemble au commandement d’un vaisseau pendant la tempête. Tout le monde doit partager les fatigues de la manœuvre & se sentir tout disposé à jetter à la mer la moitié de sa cargaison pour sauver le bâtiment.»238 Ja, der Courrier de l’Europe vom 12. September 1799 verglich die Revolution mit einer gewaltigen Welle, auf deren Kamm sogar die politischen Gruppen mühsam balancierten und eine nach der anderen abstürzten: Une révolution ingouvernable […] châtie bientôt ceux qui prétendent la gouverner. Terroristes, thermidoriens, vendémiairistes, tout s’est trompé, comme se tromperont jusqu’au dénouement des factions successives réduites à placer leur point d’appui sur les dos des vagues mugissantes. 239

Noch übermächtiger manifestierte sich die der Revolution zugeschriebene Naturgewalt in der Metapher des Vulkanausbruchs. 240 Einerseits diente sie den Revolutionären zum Ansporn ihrer Anhängerschaft, wenn zum Beispiel Robespierre im Königsprozeß für eine möglichst scharfe Verurteilung von Louis Capet plädierte: «Les mouvements majestueux d’un grand peuple, les sublimes élans de la vertu se présentent souvent à nos yeux timides comme les éruptions d’un volcan.» 241 Oder wenn Pierre-Gaspard Chaumette, der radikale Vorsteher der Commune, die Abgeordneten der Bergpartei im September 1793 aufrief, noch aktiver alle gegenrevolutionären Kräfte auszumerzen: «Montagne sainte, devenez un volcan dont les laves brûlantes détruisent à jamais l’espoir du méchant et calcinent les cœurs où se trouve encore l’idée de la royauté.» 242 Andererseits eignete sich die Vulkanmetapher bestens, um die Revolution als zerstörerische Katastrophe anzuprangern. 243 Was schließlich die grausame, blutrünstige Seite des sich radikalisierenden Revolutionsprozesses betrifft, so fand sie ihren verstö238 239 240 241

242 243

Révolutions de Paris, n° 213 (4.11.1793), 134 f. Siehe auch PAGÈS, II 277. Zit. AULARD: Réaction thermidorienne, V 727. MILLER (2011), 146–163. Konventsrede vom 3. Dez. 1792, in: Archives parlementaires, 1re Série, Bd. 54, Paris 1898, 75. Konventsrede vom 5. September 1793, in: ebd., Bd. 73, 410. Anonym: Tableau allégorique de la France horriblement dévastée par les fureurs de l’impiété & de la rébellion, Aquatinta, ca. 1797; vgl. Monika WAGNER: Vulkan, in: LRI, III, 2009–2018, hier 2009.

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rendsten Ausdruck im Vergleich mit der mythologischen Figur des Titanen Kronos-Saturn, der seine Kinder frisst. Pierre-Victurnien Vergniaud, ein führender Redner der Girondins, brachte die Metapher auf, als er am 13. März 1793 auf die unverhüllten Drohungen Robespierres und der Bergpartei antwortete: «Alors, citoyens, il est permis de craindre que la Révolution, comme Saturne, dévorant successivement tous ses enfants, n’engendrât enfin le despotisme avec les calamités qui l’accompagnent.» 244 Zutreffend sagte Vergniaud damit die Guillotinierung nicht nur führender Girondisten, sondern auch der Hebertisten und anderer radikaler Wortführer der Sansculotten voraus, so dass die Revolutionsgeschichte von Pagès 1797 bestätigen konnte: «La révolution a dévoré presque tous ses enfans, ou pour parler plus juste, presque tous ses athlètes.» 245

5. «tout alors étoit révolutionnaire» Le coupeur de tête sortit des comités révolutionnaires, des tribunaux révolutionnaires, des clubs révolutionnaires […], des armées révolutionnaires : tout alors étoit révolutionnaire. L’on imprima une logique révolutionnaire. Quelle éclipse de l’esprit humain ! Où sont les principes d’une logique révolutionnaire ? Comme ce langage a régné, nous devons en faire mention ici. 246

Merciers Notiz von 1797 verweist auf die sprachlichen Ableitungen von révolution und auf den inflationären Gebrauch des Adjektivs révolutionnaire, insbesondere in den Jahren 1793/94. In der Tat zeigen die zahlreichen neuen Wortbildungen mit révolution und ihre massenhafte Verwendung, dass der Revolutionsbegriff im politischen Diskurs nun die beherrschende zentrale Stelle einnahm. Die Fülle der Wortschöpfungen mit révolution ist kaum zu überblicken: 247 von der Anforderung, «au niveau de la Révolution» zu

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Archives parlementaires, 1re Série, Bd. 60, 162; Gazette de France ou le Moniteur Universel Nr. 75 (16.3.1793), XV 702. Am 31.10.1793 hat Vergniaud seinen Ausspruch fast wörtlich wiederholt. – Siehe auch Mallet DU PAN: Considérations sur la nature de la Révolution de France, London 1793, 63: «A l’exemple de Saturne, révolution dévore ses enfans.» PAGÈS [229], II 327 f. MERCIER: Nouveau Paris, 1797, III 57. Siehe auch C. F. REINHARD: Le Néologiste français, 1796, 291–297; BRUNOT (1967), 617–622.

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sein, 248 und dem Ausdruck «lèse-révolution», der ein neuartiges Verbrechen der ‚Majestätsbeleidigung‘ hypostasierte, 249 über «révolutionnisme» als ‚scheinheiliges Revolutionsgehabe‘, das Babeuf an Robespierre und Barère kritisierte, 250 bis hin zur satirischen Sprachnotiz der Affiches et Annonces vom 18. Dezember 1799, dass schon dem bloßem Wort révolution die in seinem Namen verübten Verbrechen eingeschrieben seien – «vol, viol, voleur, voler, violer, tuer.» 251 Welche Wirkmächtigkeit die von révolution abgeleiteten Schlagworte vor allem während der Jakobinerdiktatur entfalteten und welche Debatte über ihren Gebrauch sie auslösten, lässt sich besonders in den Praxisbereichen der Regierung und der Tätigkeit der représentants en mission in den Departements verfolgen.

a) Le Gouvernement révolutionnaire Als Legitimationsbegriff rechtfertigte révolution spätestens seit Raynals Histoire des deux Indes die Anwendung von Gewalt zur Befreiung vom despotisme. Dass dieser Anspruch insbesondere auf das Adjektiv révolutionnaire übertragen wurde und schrittweise eigene Institutionen schuf, zeichnete sich seit dem Frühjahr 1793, gleichzeitig mit der Radikalisierung der Sansculottenbewegung, immer deutlicher ab. So erhielten die im März zur Kontrolle der ‚Ausländer‘ gegründeten Comités de surveillance im September unter dem Namen Comités révolutionnaires erweiterte Überwachungsaufgaben; und die überall im Lande spontan gebildeten bewaffneten Trupps zur Requirierung von Lebensmitteln wurden am 5. September mit dem Dekret zur Pariser Armée révolutionnaire

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249 250 251

So Collot d’Herbois am 23.12.1793 im Pariser Jakobinerclub (AULARD: Jacobins, V 574). − Am 20.10.1792 berichtete ein Kommissar dem Konvent aus Bayonne: «On est au niveau de la Révolution et l’esprit public fait chaque jour de nouveaux progrès.» (AULARD: Comité, I 171). Schreiben Couthons vom 1.2.1794, zit. LUCAS (1973), 372. Journal de la liberté de presse, n° 11 (19.9.1794), 4. AULARD: Consulat, I 12. – Verhaltensregeln, wie ein Politiker am besten durch eine Revolution kommt, empfahl François-Emmanuel TOULONGEON: Manuel révolutionnaire, ou pensées morales sur l’état politique des peuples en révolution, Paris 1796, 137.

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legalisiert. 252 Selbst Protagonisten der Französischen Revolution begannen, vor Wortmissbrauch zu warnen. Anlässlich der Errichtung des Tribunal révolutionnaire, des Sondergerichts zur beschleunigten Aburteilung der contre-révolutionnaires, meldete sich am 21. April 1793 Brissots Patriote français zu Wort. Unter dem Titel «Sur le mot Révolutionnaire» plädierte er dafür, die Anwendung des Adjektivs zu begrenzen; denn: «C’est un des mots dont on a le plus abusé, surtout depuis le 10 août, mot qui a entraîné et qui peut encore entraîner les plus grandes calamités.» Der Zeitungsartikel erläuterte dies, indem er auf die drohende Agitation von Sansculotten und Jakobinern gegen die Girondisten anspielte: «Vous leur entendez dire éternellement : nous sommes en révolution, il faut des lois, des mesures, des hommes révolutionnaires.» Darauf antwortete der Artikelschreiber – vermutlich Brissot selber – mit einer Definition von révolution, aus der er eine doppelte These ableitete. Zum einen verfüge das ‚Volk‘ nur so lange über die unbegrenzte ‚revolutionäre Gewalt‘, bis die Verfassung der Republik gesichert sei (was im Frühjahr 1793 der Fall zu sein schien 253): J’entends par révolution un changement de système politique, occasionné par le soulèvement des membres d’une société, qui veulent et renverser un gouvernement tyrannique, et le remplacer par un régime libre. […] Lorsque le gouvernement tyrannique est renversé, et en attendant que le nouveau régime soit établi, les pouvoirs populaires qui existent, sont des pouvoirs révolutionnaires ; ils sont illimités, parce qu’au milieu des dangers, il en faut de semblables, pour préserver la liberté de sa ruine. Ces pouvoirs cessent du moment où la constitution est reçue, où les autorités constituées sont établies. Jean-Marie GireyDupré, Discours, Le Patriote Français, no 1347 du 21 avril 1793.

Damit verband Brissot zum anderen die Unterscheidung von insurrection und révolution in einem Zwei-Phasen-Modell der Revolution. Zur Eroberung der Macht sei der Volksaufstand mit

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Sie bestand aus 6000 Mann und 1200 Kanonieren und wurde am 4.12.1794 als anarchische Erscheinung aufgelöst. Vgl. Richard COBB: Les armées révolutionnaires, instruments de la Terreur dans les départements, 2 Bde., Paris & La Haye 1961–63. Unter Führung des Girondisten Condorcet war die neue republikanische Verfassung damals bereits weitgehend ausgearbeitet; nach Eliminierung der Girondisten aus dem Konvent wurde sie mit wenigen Änderungen am 24.6.1793 als ‚Jakobinische Verfassung‘ verkündet.

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unbeschränkter Gewaltausübung unabdingbar, aber während der anschließenden Ausarbeitung der Verfassung seien fortgesetzte aufständische Bewegungen ein Störfaktor, wenn nicht ein Verbrechen: L’insurrection est l’acte qui commence et assure le succès de la révolution. L’insurrection est le moyen, la révolution ou le changement est le but. L’insurrection cesse du moment où le tyran est à bas ; la révolution ne cesse qu’au moment où la constitution nouvelle est achevée. Toute insurrection est une absurdité, est un crime, lorsqu’il n’y a plus de tyrannie, lorsque la liberté est assurée. […] Les hommes qui, aux jacobins, prêchaient le 9 et le 10 mars 254 qu’il fallait prendre des mesures révolutionnaires, entendaient par ce mot qu’il fallait une insurrection. […] En un mot la révolution est achevée quant à la destruction du tyran, et pour cela seul il falloit de la force. Elle n’est pas achevée quant à l’établissement d’une constitution et de l’ordre ; mais pour cela il ne faut que de la raison, du calme, et point de mesures violentes. Etre révolutionnaire maintenant, c’est donc vouloir et accélérer l’achèvement et l’établissement de la constitution. S’opposer à cet achèvement, ne prêcher que des mesures violentes, que la perpétuité de l’anarchie, c’est être contre-révolutionnaire. 255

Indem der Wortführer der Girondisten hier scharfsichtig das aggressive und legitimatorische Potential des Wortes révolutionnaire benannte und zugleich die latente Konkurrenz zwischen insurrection, révolution und constitution zur Sprache brachte, wies er voraus auf die am 10. Oktober 1793 vom Konvent institutionalisierte ‚Revolutionsregierung‘. «Le gouvernement provisoire de la France est révolutionnaire jusqu’à la paix» dekretierte Artikel 1. «Les lois révolutionnaires doivent être exécutées rapidement», präzisierte Artikel 4. 256 Damit folgte die Mehrheit der Abgeordneten einem Antrag, den Antoine-Louis de Saint-Just als Sprecher des Wohlfahrtsausschusses mit dem akuten nationalen Notstand begründet hatte. Angesichts der existentiellen Bedrohung der Republik durch innere und äußere Feinde könne die neue Verfassung vorerst nicht in Kraft treten: «Dans les circonstances où se trouve la République, la constitution ne peut être établie […].» Nötig sei vielmehr die Zentralisierung der Exekutive im Comité de salut public: 254

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Kontroverse am 9. und 10.3.1793 im Konvent bei Gründung des Tribunal révolutionnaire. Le Patriote français, n° 1347 (21.4.1793), 445 f. Kursivierungen in der Quelle. Archives parlementaires, 1re Série, Bd. 76, 312. Die eigentliche Organisation des gouvernement révolutionnaire wurde durch Dekret vom 4.11.1793 festgelegt.

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Il est impossible que les lois révolutionnaires soient exécutées, si le gouvernement lui-même n’est constitué révolutionnairement. […] Il faut préciser les devoirs, y placer partout le glaive à côté de l’abus […]. Le même esprit d’activité doit se répandre dans toutes les parties militaires ; l’administration doit seconder la discipline. 257

Welche Grundsätze dahinterstanden, führte Robespierre in seinem Rapport Sur les principes du gouvernement révolutionnaire am 25. Dezember 1793 vor dem Nationalkonvent in einer dichten Folge kurzer, apodiktischer Sätze aus. Gleich dreimal stellte er die Begriffe gouvernement révolutionnaire und constitution gegenüber, um zu erklären, dass die durch ein Referendum besiegelte Verfassung im ‚Kriegszustand‘ nicht gelten könne. Das Adjektiv révolutionnaire verlieh der Notstandsregierung, ihren Gesetzen und Verordnungen Rechtmäßigkeit. Dass dies die Herrschaft der Terreur bedeutete, verschwieg Robespierre nicht, relativierte es aber mit der Berufung auf «le salut du peuple» und mit den positiven Wendungen, dass die Revolutionsregierung eine «activité extraordinaire» entfalten müsse und mehr ‚Beinfreiheit‘ brauche als eine gewöhnliche Regierung («plus libre dans ses mouvements»): La théorie du gouvernement révolutionnaire est aussi neuve que la révolution qui l’a amené. […] Le but du gouvernement constitutionnel est de conserver la République : celui du gouvernement révolutionnaire est de la fonder. La révolution est la guerre de la liberté contre ses ennemis : la constitution est le régime de la liberté victorieuse et paisible. Le gouvernement a besoin d’une activité extraordinaire, précisément parce qu’il est en guerre. […] Le gouvernement constitutionnel s’occupe principalement de la liberté civile ; et le gouvernement révolutionnaire, de la liberté publique. […] Le gouvernement révolutionnaire doit aux bons citoyens toute la protection nationale ; il ne doit aux ennemis du peuple que la mort. […] Si le gouvernement révolutionnaire doit être plus actif dans sa marche, et plus libre dans ses mouvements, que le gouvernement ordinaire, en est-il moins juste et moins légitime ? Non. Il est appuyé sur la plus sainte de toutes les lois, le salut du peuple ; sur le plus irréfragable de tous les titres, la nécessité. […] Il n’a rien de commun avec l’anarchie, ni avec le désordre ; son but au contraire est de les réprimer pour amener et pour affermir le règne des lois.

257

A.-L. de SAINT-JUST: Œuvres complètes, ed. Anne KUPIEC & Miguel ABENSOUR, Paris 2004, 637–640.

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Révolution, révolutionnaire Il doit voguer entre deux écueils, la faiblesse et la témérité, le modérantisme et l’excès […]. 258

Mehr als révolution kann gouvernement révolutionnaire somit als der Leitbegriff der Jakobinerdiktatur gelten, dem ein Kranz komplementärer Begriffe zugeordnet wurde – von liberté und égalité über peuple und citoyens bis hin zu république und patrie. Zum Ausdruck kam dies in wiederholten Lobreden auf die ‚Revolutionsregierung‘. Gegenüber wachsender Kritik an ihrem blutigen Regiment erneuerte Bertrand Barère noch eine Woche vor dem Sturz Robespierres sein wortgewaltiges Bekenntnis zu dieser «la plus terrible et la plus bienfaisante institution»: Le gouvernement révolutionnaire était indispensable et a sauvé la patrie ; il a préservé l’intérieur des troubles, et l’armée des trahisons. Il a délivré le sol de la république de toutes les factions, et des fonctions publiques de tous les intrigants ; il paralyse les indulgents et les amis de la paix, il fait disparaître les ennemis de l’égalité et les conspirateurs ; il active tous les travaux et assure l’approvisionnement des défenseurs de la patrie ; il affermit la république française et assure la liberté du genre humain. […] Le peuple français seul a conquis sa liberté lui-même et pour lui-même, et c’est à compter du jour où le gouvernement révolutionnaire a été organisé, qu’il a fixé sa destinée. 259

Als ‚Ordnungsmacht‘, die den radikalen Flügel der Sansculotten um die Hebertisten ausmerzt, erscheint die Revolutionsregierung in einer Presse-Ankündigung: Les Représentans du Peuple en organisant le gouvernement révolutionnaire, ont prouvé à l’univers que l’on peut mettre de l’ordre dans une révolution populaire ; que l’on peut régler l’impétuosité de son mouvement sans l’arrêter, et accélérer ses progrès, sans craindre les chaos trop violents : organisation unique dans l’histoire, dont l’effet a frappé de terreur les ennemis du dedans et du dehors […]. 260

Ein Ausschussbericht der Société populaire von Besançon ging noch weiter, indem er annahm, das provisorische gouvernement révolutionnaire werde in eine feste Regierungsform – genannt régime révolutionnaire – übergehen. Der Rapport wurde am 17. Mai 258

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ROBESPIERRE: Sur les principes du gouvernement révolutionnaire, in: Œuvres, X 274 f. Rapport im Namen des Comité de salut public, 20.7.1794, in: Archives parlementaires, 1re Série, Bd. 93, 369. Le Conservateur ou Journal historique, Prospectus (März 1794), 1.

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1794, auf dem Höhepunkt der Terreur, im Konvent vorgetragen, unter Beifall ins Protokoll aufgenommen und belegt exemplarisch die Verbreitung der Revolutionssprache in den Departements. Sein Autor, der Lehrer Trême-Coriandre Briot, berief sich ausdrücklich auf die zitierte Rede Robespierres und imitierte ihre syntaktische Struktur: La révolution brise les fers du peuple et anéantit tout ce qui cause ses malheurs ; le régime révolutionnaire organise le travail et doit établir sa prospérité : la révolution enfante les vengeances nécessaires ; le régime révolutionnaire établit les justes châtimens ; la révolution met les passions en effervescence et fait naître les mouvemens populaires ; le régime révolutionnaire les dirige ; la révolution élève le peuple à sa hauteur ; le régime révolutionnaire l’y soutient et l’y affermit ; la révolution renverse les trônes ; le régime révolutionnaire jette à leur place les fondements de la République. Le régime révolutionnaire n’est donc autre chose que la révolution réduite en principes mis en pratique pour fonder la liberté et établir la prospérité du peuple. […] Ô heureux effets de la révolution ! ô gloire immortelle du nom français ! Une seule nation a effacé en quatre ans les exploits des nations anciennes […]. 261

Die miteinander korrespondierenden Begriffe révolution und régime révolutionnaire bezeichnen hier gleichsam die beiden letzten Stufen der politischen Emanzipation. Während ‚die Revolution‘ als dynamische Kraft das aufständische Volk zum Sieg über die despotes couronnés führt, garantiert ‚das Revolutionsregime‘ Stabilität, Gerechtigkeit und Wohlfahrt in einer Republik. Der 9. Thermidor ließ solche idealisierende Wort-Akrobatik verstummen. Stattdessen entspann sich im dezimierten Nationalkonvent ein heftiger Disput über die Fragen, ob die ‚Revolutionsregierung‘ aufgelöst werden solle und was der Ausdruck überhaupt bedeute. Forderten die radikalen Jakobiner um Barère, angesichts der andauernden Bedrohungslage müsse die ‚Revolutionsregierung‘ fortbestehen, in neuer Besetzung solle sie aber die «liberté civile» garantieren, 262 so erwiderten ihre Gegner, dass die im Namen des gouvernement révolutionnaire ausgeübte Willkür enden

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Archives parlementaires, 1re Série, Bd. 92, 304–306. − Der Rapport beantwortete die folgende Frage der Société populaire von Besançon: «Quels sont les moyens à prendre pour affermir dans ces contrées le régime révolutionnaire, établir le règne de la raison et fonder l’empire de la vertu ?» Konventsrede von Barère am 29.7.1794, in: Archives parlementaires, 1re Série, Bd. 93, 634–638.

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müsse. Jean-Lambert Tallien, einer der Drahtzieher des 9. Thermidor, kritisierte die begriffliche Unschärfe der Debatte: L’on convient généralement qu’il faut un gouvernement révolutionnaire, on convient en même temps qu’on veut la liberté, qu’on veut la justice ; mais on n’est pas d’accord sur la question de savoir ce qui est révolutionnaire sans être tyrannique, et terrible sans être injuste ; tout consiste donc à déterminer nettement ce qu’on entend par gouvernement révolutionnaire.[…] Entend-on, par gouvernement révolutionnaire, un gouvernement propre à achever la révolution, ou bien agissant à la manière de la révolution ? Ces deux sens sont forts différents.

Ersteres – so Tallien weiter – bedeute Kriegszustand und Schreckensherrschaft, Letzteres Friede und Herrschaft der Gesetze. 263 Was die aktuell ‚richtige‘ Bedeutung sei, ließ er offen. Die Annales patriotiques et littéraires, die bevorzugte Zeitung der provinzialen Volksgesellschaften, führten die Debatte weiter, indem sie den Namen gouvernement révolutionnaire als in sich widersprüchliche, irreführende Wortverbindung kritisierten und forderten, qu’on donnât du moins une définition précise de ce qu’on doit entendre par gouvernement révolutionnaire : on ne peut pas s’en rapporter à l’expression même ; car dans son sens naturel elle implique contradiction. Le mot gouvernement suppose la stabilité de l’ordre et des loix ; le mot révolutionnaire suppose au contraire l’absence de loix, l’irrégularité, l’instabilité. Comment associer deux idées qui s’excluent ? Il est à croire que leur association a été l’effet d’un profond machiavélisme. […] Osoit-on élever la voix et dire : pourquoi puniton pour des délits antérieurs à la loi ? On vous répond : c’est que nous sommes en révolution. Pourquoi incarcère-t-on arbitrairement ? c’est que nous sommes en révolution. […] Pourquoi n’est-il plus permis d’émettre son opinion ? c’est que nous sommes en révolution. […] Nous ne présumons pas qu’en continuant le gouvernement révolutionnaire, on veuille continuer cette excuse […] : il importe donc essentiellement de définir la nature de ce gouvernement, afin qu’on sache si l’on doit s’en rapporter aux loix ou à la jurisprudence révolutionnaire. […] Mettons de la justesse et de la netteté dans nos idées […]. C’est avec des mots qu’on trompe et qu’on fanatise les peuples […]. 264

Doch auch die Annales patriotiques vermieden eine Definition; bestand die Suggestionskraft der Wortverbindung doch gerade in der Dehnbarkeit und Mehrdeutigkeit des grundsätzlich positiv konnotierten Revolutionsbegriffs, der offiziell keine prinzipiellen Zweifel 263 264

Moniteur, n° 343 (30.8.1794), 612–615 ; Kursivierung in der Quelle. Annales patriotiques et littéraires, n° 592 (16.8.1794), 2587.

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zuließ. Das Gouvernement révolutionnaire amtierte denn auch weiter, bis im Oktober 1795 die Direktorialverfassung in Kraft trat. 265

b) «durant une révolution, il faut des hommes révolutionnaires» 266 Anfang November 1793, knapp vier Wochen nach Errichtung der Revolutionsregierung, beschwor ein flammender ‚Leitartikel‘ der Révolutions de Paris von Prudhomme einen neuen «esprit public révolutionnaire», der die Patrioten im politischen Kampf ansporne, seitdem die terreur ‚auf der Tagesordnung‘ 267 stehe: «La terreur est à l’ordre du jour ; on s’y est mis trop tard ; on auroit dû s’y mettre le lendemain même du supplice de Louis Capet […].» 268 Als der radikalen Revolution verpflichtete Einstellung und öffentliche Meinung müsse dieser ‚Geist‘ auch die noch zu zahlreichen «hommes pusillanimes», die kleinmütigen Bürger, erfassen, notfalls mit Gewalt: eh bien ! que la terreur soit à l’ordre du jour ! que l’esprit révolutionnaire souffle sur toute la surface de la république, & en fasse disparoître la partie de l’opposition ! […] Il ne faut pas qu’il y ait en France deux manières de voir & de sentir ; il ne peut y avoir qu’un seul esprit public, & il faut que cet esprit public soit révolutionnaire. Le culte de la liberté doit être la seule religion dominante ; elle doit exclure toutes les autres. […] L’esprit public, devenu révolutionnaire, sauvera la chose publique […]. L’esprit révolutionnaire a gagné tous les rangs de citoyens, il avive tous les états […]. 269

Die Verdächtigungen, Inhaftierungen und Hinrichtungen, die der absolute Geltungsanspruch der Revolutionsdoktrin unvermeidlich mit sich brachte, verglich der anonyme Autor des Artikels rechtfertigend mit einem reinigenden Gewitter sowie der Trennung der Spreu vom Weizen: L’esprit révolutionnaire a fait dresser de longues listes de proscription ; & dans ce mouvement rapide, il s’est trouvé quelques victimes innocentes. Le soupçon

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Das Tribunal révolutionnaire war bereits am 31. Mai 1795 aufgelöst worden. Der représentant en mission Dartygoeyte am 30.9.1793 aus Tarbes an den Wohlfahrtsausschuss, in AULARD: Comité, Suppl. 2, 157. Dazu VAN DEN HEUVEL (1985), 107 f. Anonym: De l’esprit public révolutionnaire, in: Révolutions de Paris, n° 213 (4.11.1793), 129–137, hier 129. Ebd., 130–132.

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Révolution, révolutionnaire se promène sur presque toutes les têtes, & il en a frappé un grand nombre. C’est ainsi que la grêle, qui épure l’atmosphère, brise, par-tout où elle tombe, le bon grain comme la paille stérile ou le végétal venimeux. Mais ces méprises étoient inévitables […]. 270

Abschließend appellierte der Autor an die Einsatzbereitschaft der kleinbürgerlichen Revolutionsaktivisten und den Gerechtigkeitssinn der Regierung: «Voyez quelle énergie le génie révolutionnaire donne aux braves sans-culottes ! […] Il semble que l’esprit révolutionnaire qui anime ceux qui sont à la tête des affaires de la république leur ait fait sentir qu’il faut qu’ils soient souverainement justes […]. L’esprit révolutionnaire […] fera de la nation française un peuple de héros.» 271 Der angeführte Zeitungsartikel umreißt das Wortfeld und den politischen Zusammenhang, in dem der Anspruch und die Maßnahmen des gouvernement révolutionnaire sich in zahlreichen Ableitungen von révolution(naire) konkretisierten. In ihnen verschärfte sich Révolution zum aktivistischen Pflichtbegriff. Erstens. In Gestalt des ‚Revolutionärs‘ – le révolutionnaire – verselbständigte sich der Begriff zum handelnden politischen Subjekt, zum Parteigänger der Revolution im Gegensatz zum contrerévolutionnaire, wie die Correspondance secrète im Sommer 1792 vermerkte: «Ainsi on peut dire qu’il n’y a plus que deux partis : les contre-révolutionnaires et les révolutionnaires ou Jacobins.» 272 Im Zuge der politischen Radikalisierung avancierte das Wort zur stolzen Selbstbezeichnung der représentants en mission. «Citoyens nos collègues», schrieb zum Beispiel Alex Ysabeau an den Konvent, «nous sommes montagnards et révolutionnaires, nous ne composerons jamais avec les scélérats […].» 273 Außer einem republikanischen Credo musste der ‚Revolutionär‘ besondere Tatkraft zeigen und beweisen, «d’être non seulement républicain, mais révolutionnaire.» 274 Nach Ansicht von Saint-Just führte er einerseits einen Kampf auf Leben und Tod: «Ceux qui font des révolu-

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Ebd., 133. Ebd., 135–137. Corresp. secrète, II 616 (17.8.1792). Am 14.9.1793 aus La Réole, in AULARD: Comité, Suppl. 2, 104. Journal républicain … Rhône et Loire, n° 12 (2.2.1794), 76.

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tions à moitié n’ont fait que se creuser un tombeau.»275 Andererseits entwarf der Getreue Robespierres ein Idealporträt des ‚Revolutionärs‘, in dem Prinzipientreue und unerbittliche Härte einen merwürdigen Kontrast bilden mit bürgerlicher Ehrbarkeit und fast sentimentalischen Zügen: Un homme révolutionnaire est inflexible, mais il est sensé, il est frugal, il est simple sans afficher le luxe de la fausse modestie […]. Comme son but est de voir triompher la révolution, il ne la censure jamais […]. Un homme révolutionnaire est plein d’honneur ; il est policé sans fadeur, mais par franchise […]. L’homme révolutionnaire est intraitable aux méchants, mais il est sensible […]. J.-J. Rousseau était révolutionnaire, et n’était pas insolent sans doute : j’en conclus qu’un homme révolutionnaire est un héros de bon sens et de probité. 276

Zweitens. Die dem ‚Revolutionär‘ abverlangte Tatkraft versprachlichte sich in dem neu gebildeten Verb révolutionner, das ebenso den Erfolg patriotischer Propaganda umschreiben konnte wie die ‚Reinigung‘ der öffentlichen Verwaltung und der sociétés populaires von ‚konterrevolutionären‘ Mitgliedern. 277 «Les défenseurs de la patrie sont tous révolutionnaires, et ils connaissent les moyens de révolutionner […]», versicherten Augustin Robespierre und Christophe Saliceti, als sie dem Wohlfahrtsausschuss im April 1794 von neuen Rekrutierungen für Italienarmee berichteten. 278 Der Wortgebrauch beschränkte sich nicht auf solche Erfolgsmeldungen, sondern bestätigte sich auch im Eingeständnis des Konvent-Kommissars Jacques-Léonard Laplanche, in der konservativen Bretagne das vergebliche ‚Revolutionieren‘ aufgeben zu wollen: Je trahirais votre confiance, si je vous dissimulais que, pour le présent, je ne me sens pas en état de révolutionner les départements difficiles du Finistère et des Côtes-du-Nord. Livrez donc, je vous prie, à des mains moins fatiguées le soin de répandre cette électricité et cette impulsion révolutionnaire que nécessitent ces deux départements presque anglisés. 279

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Rapport sur les personnes incarcérées vom 26.2.1794 im Konvent am, in: SAINT-JUST: Œuvres [256], 667. Rapport sur la police générale vom 15.4.1794 im Konvent, ebd., 747–748. Vgl. die Kommissar-Berichte bei AULARD: Comité, XV 533 (30.7.1794); sowie AULARD: Réaction, II 418 (22.11.1795) und III 162 (5.2.1796). Schreiben vom 18.4.1794 aus Orméa, in AULARD: Comité, XII 676. Meldung vom 15.1.1794 aus Angers an den Wohlfahrtsausschuss, in: AULARD: Comité, X 266; siehe dazu auch ein Schreiben von Carrier, ebd., 521.

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Mit den Siegen der französischen Armeen am Rhein und in den Österreichischen Niederlanden sowie dem Konventsdekret vom 19. November 1792, das den ‚unterdrückten Völkern‘ die brüderliche Hilfe der Republik versprach, wurde das ‚Revolutionieren‘ sogar zeitweise zum außenpolitischen Programm. So erteilte das Conseil exécutif provisoire des Nationalkonvents der Verwaltungskommission, die General Dumouriez in den besetzten belgischen Provinzen eingerichtet hatte, Anfang 1793 genaue Instruktionen, welche bereits das Vorgehen des gouvernement révolutionnaire vorwegnahmen: quoique l’art d’organiser les sociétés soit encore dans son enfance, l’art d’organiser les révolutions est du moins plus avancé. Grâces en soient rendues à cette vaste expérience que nous venons de faire à nos périls et au profit du genre humain ! […] Toute révolution veut une puissance provisoire qui ordonne ses mouvements désorganisateurs, qui fasse en quelque sorte démolir avec méthode toutes les partis de l’ancienne constitution sociale, qui, remplaçant momentanément les autorités renversées, empêche que la hideuse anarchie ne s’empare du temps qui doit s’écouler entre la destruction et la reconstruction politique. Tel doit être le pouvoir révolutionnaire. 280

Drittens. Um ihre Tatkraft zu beweisen und ihre ‚Linientreue‘ zu betonen, gebrauchten die représentants en mission in den Rapports, die sie aus den Departements an den Konvent und seinen Wohlfahrtsausschuss richteten, alle erdenklichen Ausdrücke und Wortbildungen mit révolution. Die Verwaltung von ‚verdächtigen‘ Wahlbeamten zu säubern, hieß beispielsweise «remettre toute chose en équilibre révolutionnaire». 281 «Passer au creuset révolutionnaire» umschrieb die Überprüfung der Mitglieder eines Clubs oder einer Wählervereinigung auf ihre politische Zuverlässigkeit. 282 Als «mesures révolutionnaires et terribles» rühmte Joseph-Marie Lequinio die blutige Verfolgung der Adligen und der brigands im Departement Charente-Inférieure, 283 während Laplanche mit dem Adverb révolutionnairement seinen engagierten Kampf gegen bretonische 280

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Schreiben vom 8.1.1793, in: AULARD: Comité, I 418. Kursivierung in der Quelle. Bericht von Marc-Antoine Baudot, Guillaume Chaudron und Roussau (11.10.1793), in: AULARD: Comité, VII 372. Bericht von Bacon über Section Lombards in Paris (1.3.1794), in: CARON: Terreur, V 2. Bericht vom 26.12.1793, in: AULARD: Comité, Suppl. 2, 342.

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Reaktionäre herausstrich: «j’ai partout taxé moi-même révolutionnairement les riches et les aristocrates […].» 284 Von neuen, republikanischen Schulen und jakobischen ‚Missionaren‘ erhofften sich manche Kommissare «la révolution des préjugés religieux». 285 «La révolution religieuse ne rétrograde pas» versicherte Dartigoeyte im Januar 1794 aus dem Midi; «les Sociétés populaires en imposent aux malveillants et aux prêtres, qui commencent à reconnaître l’inutilité de leurs manœuvres. Le peuple avance chaque jour vers la raison et la morale publique.» 286 Er räumte freilich ein, dass die damit verbundene Kampagne zur Entweihung der Priester zu radikal gewesen sei: «La révolution sacerdotale a été poussée un peu trop loin par de faux patriotes et par des hommes irréfléchis.» 287 Viertens. Besonders bedeutsam war das Schlagwort ultra-révolutionnaire. Von der ‚Revolutionsregierung‘ lanciert, diente es dem Zweck, den sich verselbständigenden Aktivismus der hommes révolutionnaires, wie er sich im vorangehenden Zitat andeutet, zu begrenzen und zu kontrollieren. Eine Sprachnotiz des royalistischen Journalisten Jean-Pierre Gallais erklärte den Neologismus folgendermaßen: Ultra-révolutionnaire, qui outre, qui excède, qui surpasse tout ce que la révolution a permis en forfaits soit en vertus, & la marge étoit grande. Nous devons ce mot à Danton, qui voulant opposer une expression pictoresque à celle de contre-révolutionnaire que Robespierre avoit tant prodiguée, ne trouve rien de plus fort & de plus gigantesque que celle de ultra-révolutionnaire. 288

Tatsächlich rief Danton die Pariser Jacobins in der Clubsitzung vom 3. Dezember 1793 auf, diejenigen Mitglieder in ihren Reihen auszuschließen, welche die sozialrevolutionären Forderungen und Gewaltdrohungen des radikalen Flügels der Sansculotterie unterstützten: «je demande que l’on se dédie de ceux qui veulent porter 284

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Bericht vom 4.10.1793 aus Bourges (Dept. Cher), in: AULARD: Comité, VII 222. So Pierre Roux-Fazillac am 9.12.1793 aus Périgueux (Dept. Dordogne), in: AULARD: Comité, IX 292. Bericht vom 12.1.1794 aus Auch (Dept. Gers), in: AULARD: Comité, X, 211. Dartigoeyte am 13.12.1793 aus Auch, ebd., IX 385. Siehe auch den Bericht vom 9.11.1793, ebenfalls aus Auch, ebd., VIII 313 f. J.-P. GALLAIS: Mots nouveaux, dont la révolution a enrichi la langue française, in: La Quotidienne, n° 83 (12.5.1795), 4.

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le peuple au-delà des bornes de la révolution, et qui proposent des mesures ultra-révolutionnaires.» 289 Robespierre griff die Wortschöpfung am gleichen Ort auf, nicht ohne ihr den ebenfalls negativen Begriff des ‚lauen Revolutionärs‘ gegenüberzustellen: «Ceux qui sont d’un génie ardent et d’un caractère exagéré, proposent des mesures ultra-révolutionnaires, ceux qui sont d’un esprit plus doux et plus modéré proposent des moyens citra-révolutionnaires.» 290 Offen blieb dabei, welche Äußerungen und Handlungen den ‚UltraRevolutionär‘ vom ‚Revolutionär‘ unterschieden. Schnell machte das neue Schlagwort die Runde, wobei der ‚konterrevolutionäre‘ Charakter der ultra-révolutionnaires betont wurde. Bereits am 6. Januar 1794 instruierte der jakobinische Abgeordnete Jacques Brival die Volksgesellschaft von Limoges: «Que la parole soit toujours interdite aux ultra-révolutionnaires, car, comme les extrêmes se touchent, ils sont eux-mêmes des contre-révolutionnaires.»291 Und Louis-Stanislas Fréron, der als Konvents-Kommissar in Marseille ein besonders grausames Regiment führte, denunzierte wenig später die anarchistes im lokalen Jakobinerklub; er nannte sie «des ultra-révolutionnaires, qu’on pourrait appeller à plus juste titre des contre-révolutionnaires.»292 Diese Gleichsetzung, in der sich lineares und zyklisches Revolutionsverständnis noch einmal anzunähern scheinen, ließ es aus revolutionärer Sicht legitim erscheinen, selbst authentische Revolutionäre politisch auszuschalten – eine Möglichkeit, von der die représentants en mission reichlich Gebrauch machten, indem sie die Verwaltungen der Departements von missliebigen ultra-révolutionnaires säuberten 293 oder gewaltsam ihre überbordende «énergie ultra-révolutionnaire» ‚zügelten‘. 294 Zugleich kam das Schlagwort den Protagonisten der Jakobinerdiktatur gelegen, um die mit ihnen konkurrierende Sansculottenbewe-

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AULARD: Jacobins, V 542. Redebeitrag in der Sitzung vom 8.1.1794, in: ROBESPIERRE: Œuvres, X 313. Zit. FRAY-FOURNIER (1903), 250. Journal républicain de Marseille, n° 56 (27.1.1794), 469. Vgl. etwa den Bericht, den Charles Delacroix am 25.8.1794 aus Mézières (Dept. Ardenne) an das Comité de salut public richtete, in: AULARD: Comité, XVI 344. – Weitere Berichte ebd., Suppl. II 413 (20.1.1794); X 384 (22.1.1794); X 718 (5.2.1794); Suppl. II 434 (2.6.1794). Bericht von François-René-Auguste Mallarmé am 7.2.1794 aus Bar-surOrnain (Dépt. Meuse et Moselle), in: AULARD: Comité, X 760.

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gung zu diskreditieren 295 und schließlich zu unterdrücken. Auf Robespierre anspielend berichtete der Spitzel Grivel im Februar 1794 von Klagen des Klubs der Cordeliers über ‚machtgierige Politiker‘ «[qui] ont inventé et répètent pompeusement dans de grands discours le mot d’ultra-révolutionnaire, pour détruire les amis du peuple qui surveillent leurs complots […]». 296 *** Im Maße wie die von der Jakobinerdiktatur angetriebene Hochkonjunktur des wertbejahenden Revolutions-Verbalismus nach dem 9. Thermidor verebbte, dominierten ihre Kritiker den öffentlichen Diskurs. Hatten im Sommer 1794 Tallien und die Annales patriotiques den Begriff des gouvernement révolutionnaire nur vorsichtig in Frage gestellt (s. o.), so prangerte 1797 der Royalist Antoine Rivarol den blutigen «règne de la terreur» offen an: «Cette effroyable crise s’est appellée gouvernement révolutionnaire : expression indéfinissable, monstrueuse alliance de mots, préparée par la philosophie du siècle ! […] Le signal est donné ; plus d’autorités constituées ; tout est comité ou tribunal révolutionnaire […].» 297 In der Tat verkehrte sich das jakobinische Leitwort révolutionnaire unter dem Directoire tendenziell zum Schimpfwort. Der von den Thermidorianern majorisierte Nationalkonvent gab selbst den Anstoß, indem er révolutionnaire als Beiwort staatlicher Institutionen mit Dekret vom 12. Juni 1795 abschaffte. 298 In der Tagespresse ebenso wie in den Polizeiberichten wurde les révolutionnaires nun zur gängigen Bezeichnung für die misstrauisch beobachteten ehemaligen Jakobiner und andere Gegner der innenpolitischen Reaktion. 299 Ihre «talents anarchiques et révolutionnaires» waren Gesprächsstoff der Pariser Kneipen und Cafés. 300 295 296 297

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Vgl. Héberts Beschwerde im Père Duchesne, n° 333 (15.1.1794), 6. 15.2.1794, Rapport von Grivel in: CARON: Terreur, IV 125 f. Antoine RIVAROL: De la Philosophie moderne, [Paris 1797], 68 f. Kursivierungen in der Quelle. AULARD (1909), 526. AULARD: Réaction, II 32 (23.6.1795), II 224 (6.9.1795), III 308 (9.7.1796), IV 147 (31.5.1797), IV 172 (14.6.1797), IV 253 (28.7.1797), IV 383 (8.10.1797), V 681 (13.8.1799). Polzeibericht vom 19.6.1796, in: AULARD: Réaction, III 259. Siehe auch ebd., IV 131 (Bericht vom 23.5.1797).

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Anlässlich der Aufdeckung und Niederschlagung der babouvistischen Verschwörung am 9./10. September 1796 zeigte sich die Polizei beunruhigt: En général, voici le coup d’œil qu’offre Paris. On frémit en pensant à la quantité de révolutionnaires qui sont dans Paris. On tremble d’être un jour la victime des vengeances de ces hommes qui n’ont ni l’habitude du travail ni ressources […]. 301

Und noch im Juni 1799 nährten der antiroyalistische Staatsstreich des 30. Prairial und die Eröffnung des jakobinischen Club du Manège Gerüchte über die Rückkehr der ‚Revolutionäre‘ und der Schreckensherrschaft: «On disait hier, 3 messidor, dans les cafés et lieux publics, que tous les employés des administrations seraient changés, qu’il fallait des révolutionnaires pour établir la Terreur […].»302 Revolutionskritische Karikaturen 303 und die Textpublizistik der Direktorialzeit verliehen dem révolutionnaire noch ausdrücklicher eine gewalttägige, abschreckende Gestalt. Sprach Mercier im Nouveau Paris von den «révolutionnaires effrénés» beziehungsweise den «exaspérés révolutionnaires», 304 so verglich sie die Zeitung Messager du soir mit den ‚Schlächtern‘ der Septembermorde: «l’assassinat est l’arme des septembriseurs et des révolutionnaires forcenés […].» 305 Ja der Schriftsteller Jean-François La Harpe, anfangs ein Anhänger der Revolution, widmete dem Fanatisme dans la langue révolutionnaire ein umfangreiches Pamphlet, das 1797 allein in Frankreich sieben Auflagen erlebte. Darin verdammte er die Jakobiner pauschal als «bandits révolutionnaires», 306 die ihre Untaten nach Belieben mit dem Adjektiv révolutionnaire gerechtfertigt 307 und mit Schlagworten gemordet hätten: «vous avez toujours proscrit en masse, par des dénominations révolutionnaires, qui étaient des arrêts de mort […].» 308 Die vielleicht lapidarste 301 302 303 304 305 306

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Polizeibericht vom 11.9.1796, in: AULARD: Réaction, III 447. Polizeibericht vom 21.6.1799, ebd., V 585. R. REICHARDT: Revolutionär, in: LRI, III 1705–1708. MERCIER: Nouveau Paris, 1797, 117 f. Messager du soir vom 20.3.1795, zit. AULARD: Réaction, I 587. F.-C. LA HARPE: Du fanatisme dans la langue révolutionnaire …, 1797, 37, 56, 63, 71, 78, 88, 118. Kursivierungen in der Quelle. Ebd., 14: «les qualifications révolutionnaires ont toujours suffi pour faire tout le mal qu’on voulait.» Ebd., 13.

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Bloßstellung des Revolutions-Verbalismus lieferte das Wörterbuch von Snetlage mit der Erklärung des Partizips révolutionnarisé: es bedeute «[être] traité révolutionnairement, ou incarcéré, dépouillé, puis guillotiné.» 309

6. Révolution als historischer Perspektivbegriff Dès que les arts et le commerce parviennent à pénétrer dans le peuple et créent un nouveau moyen de richesse au secours de la classe laborieuse, il se prépare une révolution dans les lois politiques ; une nouvelle distribution de la richesse prépare une nouvelle distribution du pouvoir. […] C’est cette progression, commune à tous les gouvernements européens, qui a préparé en France une révolution démocratique et l’a fait éclater à la fin du XVIIIe siècle. 310

So lautet der Ansatz einer sozio-ökonomischen Revolutionstheorie, die Antoine Barnave im Herbst 1792 im Gefängnis entwarf. Fünfzig Jahre vor Karl Marx leitete hier der einflussreiche Redner der ersten Revolutionsjahre den langfristigen Wandel der politischen Herrschaftsformen von der Art und Verteilung der ‚Produktionsmittel‘ ab. Wie die aristokratische Staatsform auf dem gewaltsam angeeigneten Grundbesitz von Adel und Klerus beruhe, so basiere die Demokratie auf der «propriété industrielle et mobilière», die sich breite Schichten der Bevölkerung durch Arbeit und Gewerbefleiß erworben hätten. Das Absterben der Feudalität und die wachsende Bedeutung des beweglichen Eigentums hätten eine befreiende politische Wirkung: «la grande révolution que l’influence du progrès des arts a opéré dans les institutions européennes». 311 Wenn Barnaves ‚Politische Ökonomie der Revolution‘ in ihrer Zeit auch alleinstand, kann sie doch zugleich als bezeichnendes Beispiel gelten für die geschichtlichen Reflexionen, welche die Französische Revolution bei einer Reihe ihrer Protagonisten auslöste. Diese Überlegungen hatten hauptsächlich zwei Perspektiven. Einerseits knüpften sie rückblickend an das Konzept der révolution des esprits an (s. o.), indem sie die Französische Revolution –

309 310

311

SNETLAGE: Néologiste, 1796, 296. A. BARNAVE: Introduction à la Révolution française (1792), ed. Fernand RUDE, Paris 1960, 9 und 14. Ebd., 13 f.; siehe auch 21 und 37.

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gemäß der feierlichen Pantheonisierung Voltaires (11.7.1791) – als Folge und Erfüllung der Aufklärung verstanden. «La révolution eut pour cause le progrès des lumières, pour occasion la chûte des finances», konstatierte kurz und bündig der Historiker Adrien Lezay-Marnésia. 312 «C’est aux lumières de la philosophie», erklärte Marat, «que nous devons la révolution, c’est aux lumières des écrivains patriotes que nous devons son triomphe.» 313 Sie sei erwachsen aus der Verbreitung aufklärerischer Ideen und der Politisierung der Öffentlichkeit, fügte eine anonyme Flugschrift hinzu: «cette révolution n’est que le résultat d’une opinion dès long-tems conçue, lentement communiquée, et propagée avec explosion dans toutes les têtes […].» 314 Zumal die im Druck vervielfältigten Traktate und Pamphlete spielten dabei eine führende Rolle, wie der Schriftsteller Louis-Charles de Lavicomterie betonte: «Cette révolution qui n’a point modèle, servira d’exemple à beaucoup d’autres. Elle a été surtout préparée par la découverte de l’imprimerie.» 315 Geradezu enthusiastisch und mit einem gewissen Nationalstolz diagnostizierte selbst der Abbé Gaspard-André Jauffret eine einzigartige Verbindung von geistigem und politischem Fortschritt: Telle est la nature de la révolution dont nous sommes les témoins, que dans les fastes du monde elle ne doit point avoir d’exemple ni avant, ni après elle. Elle arrive à la fin du dix-huitième siècle, au moment où les hommes ont atteint au sommet des connoissances, où la raison est parvenue à sa maturité ; elle est secondée par tous les efforts réunis de la première nation de l’univers et de son Roi. Quelle époque ! quel instant décisif dans l’histoire des peuples […] ! 316

Robespierre, mehr auf praktische politische Wirkung bedacht, verband die Berufung auf die Aufklärung mit dem Appell, die Erfüllung ihres Vermächtnisses zu vollenden. Auf die berühmten Eingangssätze von Rousseaus Contrat social anspielend rief er den Abgeordneten des Nationalkonvents am 10. Mai 1793 zu: L’homme est né pour le bonheur et pour la liberté, et partout il est esclave et malheureux ! […] Le temps est arrivé de le rappeler à ses véritables destinées ;

312

313 314 315 316

A. LEZAY-MARNÉSIA: Des causes de la Révolution et de ses résultats, Paris 1797, 5. Ami du Peuple, n° 274 (8.11.1790), 3 f. Essai sur l’opinion, 1790, 3. L.-C. de LAVICOMTERIE: Du Peuple et des Rois, Sept. 1790, 26. G.-A. JAUFFRET: De la Religion à l’Assemblée nationale, Paris 1790, 2.

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les progrès de la raison humaine ont préparé cette grande révolution, et c’est à vous qu’est spécialement imposé le devoir de l’accélérer. 317

Der philosophe Condorcet betrachtete das Thema distanzierter. Er kompensierte seine Gefängnishaft als Girondist mit einer Geschichte vom ‚Fortschritt des menschlichen Geistes‘, der sich seit Descartes beschleunigt und über die Aufklärung der öffentlichen Meinung zur Revolution geführt habe: l’époque où l’influence de ces progrès sur l’opinion, de l’opinion sur les nations ou sur leurs chefs, cessant tout à coup d’être lente et insensible, a produit dans la masse entière de quelques peuples, une révolution, qui en présage une pour la généralité de l’espèce humaine. 318

In all diesen Äußerungen erweist sich révolution als Zielbegriff, als Schlüsselwort und Krönung einer Fortschrittsgeschichte, ja einer säkularisierten Heilsgeschichte. Die politisch diametral engegengesetzte Position markierte dann die ab 1797 wiederholt nachgedruckte Verschwörungstheorie des Abbé Augustin Barruel. Auch für den ehemaligen Jesuiten war die Französische Revolution vorbestimmt, nur dass sie sich nicht aus geschichtlicher Notwendigkeit ereignete, sondern von den Freimaurern und ihren Ziehsöhnen – den Jakobinern – insgeheim geplant und angezettelt worden sei mit dem Ziel, dereinst die Weltherrschaft zu erringen: Dans cette Révolution Françoise, tout jusqu’à ses forfaits les plus épouvantables, tout a été prévu, médité, combiné, résolu, statué : tout a été l’effet de la plus grande scélératesse, puisque tout a été préparé, amené par des hommes qui avaient seuls le fil des conspirations longtemps ourdies dans des sociétés secrètes et qui ont su choisir et hâter les moments propices aux complots. […] La Révolution Françoise a été ce qu’elle devait être dans l’esprit de la secte. Tout le mal qu’elle a fait, elle devait le faire ; tous les forfaits et toutes ses atrocités ne sont qu’une suite nécessaire de ses principes et de ses systèmes. Je dirai plus encore : bien loin de préparer dans le lointain un avenir heureux, la Révolution Françoise n’est encore qu’un essai des forces de la secte ; ses conspirations s’étendent sur l’univers entier. 319

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318

319

ROBESPIERRE: Sur le gouvernement représentatif, 10. Mai 1793, in: DERS.: Œuvres, IX 495. CONDORCET: Esquisse d’un Tableau historique des progrès de l’esprit humain (1793), ed. Monique & François HINCKER, Paris 1966, 206. A. BARRUEL: Mémoires pour servir à l’histoire du Jacobinisme (1797/98), ed. Christian LAGRAVE, 2 Bde., Ciré-en-Montreuil 1973, I 42 f. Siehe auch ebd. II 245.

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Wie die Ruchlosigkeit der Verschwörer so denunzierte Barruel auch die Greuel ihrer Revolution mit einem extremen, hasserfüllten Verbalismus: Quelques fleuves de sang qu’il en coûte à la France, pour arriver à cette période des complots contre la Royauté, la secte et ses agents le voient couler partout avec les transports et la brutalité des Cannibales. La guillotine est permanente à Paris ; elle se promène dans les provinces, à la recherche des Royalistes comme à celle des Prêtres. Elle ne suffit plus à leurs bourreaux ; le langage des pères n’a pas même laissé aux enfants assez de mots, pour exprimer la multitude des victimes qui tombent à la fois dans la boucherie des fusillades, ou qui sont englouties par les noyades. 320

Andererseits stärkten die zeitgenössischen Reflexionen über die Französische Revolution die Zukunftsperspektive des Revolutionsbegriffs; denn über ihre Selbstläufigkeit und Prozesshaftigkeit hinaus (s. o.) wurde die Revolution in Frankreich zur Wegbereiterin einer «révolution générale en Europe» 321 verklärt. So sagte der Schriftsteller und spätere Konvents-Abgeordnete Louis-Charles de Lavicomterie im September 1790 voraus: La révolution de la France ébranlera l’Europe entière, se fera sentir jusqu’au pole. Il n’est plus possible de faire rétrograder les Peuples. Le grand mobile de cette révolution étonnante ont été les lumières, la philosophie. Son flambeau, qu’on ne peut plus éteindre, embrasera les palais, les tours, les donjons, les repaires des tyrans. Elle entraîne les nations après elle, par dessus les abîmes creusés par trente siècles d’ignorance. 322

Mehr noch: «Ce qui se passe en Europe annonce une révolution universelle dans les idées, les mœurs, la politique et les gouvernemens.» 323 Wie der Journalist Carra der Französischen Revolution mit diesen Worten 1791 eine geradezu missionarische Rolle zuschrieb, so war gleichzeitig auch der Verleger und Sprachpolitiker Urbain Domergue von ihrer Weltwirkung überzeugt: «La révolution qui régénère la France, & qui doit un jour régénérer le globe entier, a imprimé un nouveau mouvement à tous les esprits.» 324 Und der Wahlfranzose Anacharsis Cloots kleidete die gleiche

320 321 322 323 324

Ebd., II 465. Vgl. dazu RIQUET (1989). So Carra am 17.6.1793 im Jakobinerklub, in: AULARD: Jacobins, III 118. L.-C. de LAVICOMTERIE [314], 19 f. Annales patriotiques, n° 617 (11.6.1791), 1532. Journal de la langue française, 2e série, vol. I 428 (19.3.1791).

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Überzeugung in die Form einer programmatischen Proklamation: «Hommes de tous les climats, une vérité-mère doit vous être continuellement présente à l’esprit, c’est que la révolution de France est le commencement de la révolution du monde». 325 Dass diesem Begriff der ‚Weltrevolution‘ latent eine quasi religiöse Heilserwartung innewohnte, verdeutlicht die Symbolik von Licht und Finsternis in der visionären Konventsrede, mit der Robespierres am 7. Mai 1794 den Kult des Höchsten Wesens begründete: Tout a changé dans l’ordre physique ; tout doit changer dans l’ordre moral et politique. La moitié de la révolution du monde est déjà faite ; l’autre moitié doit s’accomplir. La raison de l’homme ressemble encore au globe qu’il habite ; la moitié en est plongée dans les ténèbres, quand l’autre est éclairée. 326

Zur konkreten Utopie der Verwirklichung der Gleichheit in einer «République des égaux» 327 mutierte die Revolutionshoffnung im babouvistischen Gleichheitsmanifest: «La révolution française n’est que l’avant-courieure d’une autre révolution bien plus grande, bien plus solennelle, et qui sera la dernière.»

IV. Erinnerung und Reaktualisierung der Revolution (1800–1830) Mit der Tabuisierung der Französischen Revolution und ihrer Verdrängung unter dem Empire und der Restauration 328 verlor der Revolutionsbegriff damals seine vorherige Dominanz im öffentlichen politischen Diskurs. Seine in den Vorjahren entwickelte Bedeutungsvielfalt blieb zwar latent erhalten, wurde aber nur selten ausformuliert. Wie die Französische Revolution im frühen 19. Jahrhundert, insbesondere von reaktionärer Seite, als Ganzes, als

325

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A. CLOOTS: La République universelle ou Adresse aux Tyrannicides, Paris, 1792, 59. Kursivierung in der Quelle. ROBESPIERRE: Sur les rapports des idées religieuses et morales avec les principes républicains, in: DERS.: Œuvres, X 444. MARÉCHAL (1957). Vgl. den souveränen Überblick von FUREIX (2013). Siehe auch RIALS (1987).

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‚Block‘ betrachtet wurde, 329 so verwendete man den Ausdruck la révolution überwiegend global – zumeist bezogen auf die ‚Große Revolution‘ in Frankreich, nicht ohne ihr öfters eine allgemeine Vorbildfuktion zuzuschreiben

1. «La Révolution a parcouru toutes ses périodes» 330 La seule effigie de la République (pour parler allégoriquement), ou la statue de plâtre bronzé qu’on appelait la Liberté, a quitté la place qu’elle occupait, et cette place qu’on nommait de la Révolution prend dès ce moment le titre de place de la Concorde, ce qui ne prouve pas que la Révolution ne fût pas nécessaire, mais seulement qu’elle est finie. 331

Die zitierte Meldung der regierungsnahen Gazette de France vom 28. Juni 1800 bezeugt den Geltungsanspruch und die Bedeutsamkeit des Revolutionsbegriffs bis hin zur materiellen Kultur und zur Symbolpolitik. Wer – wie der Erste Konsul Napoleon Bonaparte – die Französische Revolution abschließen wollte, der musste nicht nur die Place de la Révolution, wie die ehemalige Place Louis XV im August 1792 umbenannt worden war, abschaffen, sondern auf demselben Platz auch die sitzende Statue der Liberté von Lemot beseitigen, die im August 1793 auf dem Sockel des im Vorjahr gestürzten Reiterstandbilds Ludwigs XV. errichtet worden war. Bezeichnend für die ambivalente Semantik von révolution an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sind außerdem die von der Gazette de France gewählten Formulierungen, welche die Französischen Revolution zwar für beendet erklären, zugleich aber ihre Berechtigung einräumen. In gleicher Weise changierte der Diskurs über das ‚Ende der Revolution‘, wie er sich in offiziellen Bekundungen unter dem Empire und der bourbonischen Restauration äußerste, zwischen Tabuisierung und anhaltender Faszination der Revolution, zwischen ihrer Verdammung und der partiellen Bewahrung ihrer Errungenschaften. Dabei nahmen die Äußerungen zur Beendigung der Revolution

329 330 331

Dies gilt nicht für Napoleon. Gazette de France, 4.12.1804, zit. AULARD: Empire, I 428. Gazette de France, 28.6.1800, zit. AULARD: Consulat, I 460.

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eine neue Perspektive ein. Hatten sie sich in den Jahren 1789 bis 1794 gegen die Radikalisierung eines gegenwärtigen Prozesses gerichtet (s. o. Kap. III/4c), so galten sie nun einem vergangenen Ereignis; sie wechselten von der tagesaktuellen Diskussion in den Erinnerungsmodus. Gerade aufgrund seiner gezielten Ambivalenz – so kann man sagen – hat Bonapartes Versprechen vom Ende der Revolution wesentlich dazu beigetragen, seinen Aufstieg vom Ersten Konsul zum Kaiser zu ebnen. Am 10. November 1799, dem Folgetag seines Staatsstreichs, hatte er vor dem Conseil d’Etat noch vollmundig erklärt: «Nous avons fini le Roman de la Révolution : il faut en commencer l’histoire, ne voir que ce qu’il y a de réel et de possible dans l’application des principes, et non ce qu’il y a de spéculatif et d’hypothétique.» 332 Doch mit Rücksicht auf verbreitete republikanische Überzeugungen umschrieb seine bekannte Proklamation einen Monat später dasselbe Versprechen mehrdeutiger (s. o. Anm. 227). Und um den Bruch des Konsulats mit der Revolution zu verschleiern, lancierte er gleichzeitig den programmatischen Begriff der idées libérales, die das ‚geläuterte‘ Erbe der Revolution in die nachrevolutionäre Ordnung überführen würden. Die Zeitung L’Ami des Lois brachte dieses Versprechen auf eine ebenso suggestive wie vage Formel: «Bonaparte, par les idées libérales entend tout ce qui peut embellir la République, la faire aimer ; tout ce qui tend à moraliser la Révolution ; à en réparer les fautes et les erreurs […].» 333 Der so umschriebene politische Anspruch beinhaltete nichts anderes als «die Aufhebung der Revolution durch die Sicherung ihrer Ergebnisse.» 334 Zur verbindlichen Sprachregelung wurde die verbale Berufung auf die Revolution und ihr Ende in den Stellungnahmen zum Antrag der Einführung des Erbkaisertums, welche die Mitglieder des Tribunats im Frühjahr 1804 einer nach dem anderen vortrugen. Dabei wiederholten sie nicht nur den Kernsatz der Proklamation vom Dezember 1799 («la révolution est fixée aux principes qui

332

333 334

NAPOLÉON IER: Pensées et politiques sociales, ed. Alain DANSETTE, Paris 1969, 23. L’Ami des Lois, 6.12.1799, zit. AULARD: Consulat, I 42. LEONHARD (2001), 135.

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l’ont commencée» 335), sondern deuteten ihn auch variantenreich aus, indem sie sich enthusiastisch für das Kaisertum als ‚Vollendung‘ der Revolution aussprachen: «nous consolidons à jamais les intérêts de la Révolution sans en altérer les principes» beteuerte etwa der Tribun Marie-Henri Carrion de Nisas. 336 Sein Kollege Honoré-Marie-Nicolas Duveyrier ging sogar so weit, die Erhebung Bonapartes zum Kaisertum als Erfüllung der eigentlichen Bestimmung der Revolution anzupreisen: Un chef héréditaire, des institutions garantes de la liberté publique et de l’égalité civile, des lois universelles, voilà le vœu du peuple français en 1789 […]. Nous demandons aujourd’hui le pacte solennel demandé et promis en 1789. Et c’est ainsi que la révolution doit rentrer dans sa carrière, terminer sa cause, remplir son objet. 337

Im selben Duktus konnte die Gazette de France denn auch am Tag der Kaiserkrönung triumphieren: La Révolution commençait à l’époque de la première fédération : elle se termine dans la circonstance actuelle. L’avenir ne présentait alors que des inquiétudes : aujourd’hui le calme renaît ; on peut compter sur une tranquillité parfaite. La Révolution a parcouru toutes ses périodes ; l’atmosphère politique est purgée des vapeurs qui forment des nuages et préparent la tempête. 338

Noch während der Hundert Tage wurde der aus Elba zurückgekehrte Kaiser von einem Leserbrief an das napoleonfreundliche Journal Le Nain Jaune als Bezwinger der Revolution – das siebenköpfige apokalyptische Tier – gefeiert. Indem der Autor dabei auf die Offenbarung des Johannes (Kap.13) rekurrierte, verlieh er der Rolle Napoleons den Nimbus heilgeschichtlicher Vorbestimmung: La révolution, l’élévation de Bonaparte, son gouvernement, l’émigration, la restauration, la chute et le retour momentané du Corse, enfin sa ruine entière, et la punition terrible de Paris ; tout cela est dans l’Apocalypse. Quand la

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So François Jaubert am 30.4.1804 und Jean Albisson am 1.5.1804; vgl. Thierry LENTZ (ed.): La proclamation du Premier Empire. Recueil des pièces et actes relatifs à l’établissement du gouvernement impérial héréditaire, imprimé par ordre du Sénat conservateur, Paris 2001, 30, 34 und 146. 30.4.1804, ebd.,129. Ähnlich Joseph-Jérôme Siméon am 30.4.1804, ebd., 50. 2.5.1804, ebd., 62. AULARD: Empire, I 428.

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moitié de ces événemens se sont passés sous nos yeux, comment ne pas croire au reste ? Cette bête à sept têtes, à dix cornes, qui blasphème contre Dieu et les saints, qui leur fait la guerre, est adorée par des hommes, les réduit en esclavage, et devient captive à son tour, que peut-elle autre chose que cette monstrueuse révolution française avec ses chefs factieux ; cette révolution, reçue avec enthousiasme, signalée par l’impiété et les persécutions, qui tourmente le roi et ses partisans, les emprisonne, les chasse ou les met à mort et qui est enfin, grâce à Dieu, enchaînée par Bonaparte, représenté par la seconde bête qui remplace l’autre, en exerce la puissance, la fait respecter par les nations, fait des prodiges et séduit les habitans de la terre ? 339

Nach dem Sturz Kaiser Napoleons trat auch das bourbonische Regime der Restauration mit dem Anspruch an, die Revolution zu beenden. «Enfin plus de révolution, plus de partis, plus de factions», verkündete das Journal de Paris zum feierlichen Einzug Ludwigs XVIII. in seine Hauptstadt am 3. Mai 1814. «Tous les orages sont dissipés ; la paix si long-temps bannie de la France, la concorde si souvent proclamée et toujours exilée, viennent rétablir leur séjour parmi nous et ramener ces temps de bonheur, de confiance et de sécurité dont nous avons joui tant d’années sous le règne chéri des Bourbons.» 340 Allerdings lehnte Ludwig XVIII. es grundsätzlich ab, sich wie Bonaparte durch Bezugnahme auf die Französische Revolution zu legitimieren. Sein unter dem Leitspruch Union et oubli propagierter politischer Pakt bestand vielmehr darin, die Revolution zu vergessen und bruchlos an die bourbonische Tradition des Ancien Régime anzuknüpfen. In der von ihm oktroyierten Charte constitutionnelle (4.6.1814) kommt der Begriff révolution daher nicht vor, sondern wird in der Präambel mit den Worten ‚unglückselige Verirrungen‘ umschrieben: En cherchant ainsi à renouer la chaîne des temps, que de funestes écarts avaient interrompue, nous avons effacé de notre souvenir, comme nous voudrions qu’on pût les effacer de l’histoire, tous les maux qui ont affligé la patrie depuis notre absence. 341

Völliges Vergessen war freilich schon allein deswegen eine Illusion, weil die Charte wichtige Errungenschaften der Französischen 339

340 341

DEVIEUX-CASTEL (ex-officier de la milice): Lettre à M. de Clabaudière, rentier et royaliste, à Paris, in: Le Nain Jaune, n° 368 (20.5.1815), 197– 202, hier 198 f. Journal de Paris, 5.5.1814. GODECHOT (1970), 218.

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Revolution bestätigte und weil Ludwig XVIII. mit seinen Anordnungen zur öffentlichen Sühne des ‚Königmords‘ von 1793 selbst an der Revolutionserinnerung mitwirkte. Daraus ergab sich, wie Chateaubriand erkannte, die paradoxe Lage, dass die Regierung das Ende der Revolution verkündete, während die Administration – gemäß der Charte – entgegengesetzt handelte nach dem Grundsatz: «Il faut gouverner la France dans le sens des intérêts révolutionnaires». Dieses Dilemma weckte in dem Botschafter und pair de France große Befürchtungen: «Et moi je soutiens que le système des intérêts révolutionnaires nous a précipités, et nous précipitera encore dans un abîme d’où nous ne sortirons plus.» 342 ‚Abgrund‘ (abîme) meint hier beides – das vom Fortwirken der Revolution verursachte politische Chaos und die Polarisierung zwischen Befürwortern und Gegnern der Revolution. Tatsächlich konnte auch Ludwig XVIII. die anhaltende Brisanz der Revolution und des Revolutionsbegriffs nicht völlig verdrängen. Da die liberale Text- und Bildpublizistik – ermutigt von den in der Charte garantierten Freiheiten und von den Stimmengewinnen der constitutionnels im Herbst 1816 – anhaltende Regimekritik übte, ermahnte er die Abgeordneten in der Thronrede zur Parlamentseröffnung im Dezember 1818, die antirevolutionäre Zielsetzung der Charte zu beachten: «Vous n’oublierez pas, Messieurs, que cette Charte, en délivrant la France du despotisme, a mis un terme aux révolutions.» 343 Und Chateaubriands Wort vom ‚Abgrund‘ aufgreifend pochte er in der Thronrede vom 29. November 1819 auf seine antirevolutionäre Mission: «La Providence m’a imposé le devoir de fermer l’abîme des révolutions, de léguer à mes successeurs, à ma patrie, des institutions libres, fortes et durables.» 344 Wie sehr Teile der politischen Elite dennoch unterschwellig an einem positiven Verständnis von révolution festhielten, zeigte sich 342

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344

François-René de CHATEAUBRIAND: De la Monarchie selon la Charte (Sept. 1816), in: DERS.: Ecrits politiques (1814–1816), ed. Colin SMETHURST, Genf 2002, 462 f. Archives parlementaires, 2e Série, Bd. 22, 503. Zur zeitgenössischen Streit um die Auslegung der Charte vgl. PRUTSCH (2006); sowie bes. RAUSCH (2018). Archives parlementaires, 2e Série, Bd. 25, 709. Siehe auch FREDERKING (2009).

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bei öffentlichen Reaktionen auf reaktionäre Gesetzesinitiativen der Regierung wie – nach der Ermordung des Herzogs von Berry (14.2.1820) – die Einschränkung des Wahlrechts und die Einführung der Vorzensur für Zeitungen. Unterstaatssekretär Portalis rechtfertigte dies in der Chambre des députés am 22. März 1820 als notwendige Einschränkungen, um die Restauration gegen eine Rückkehr der Revolution zu schützen: Voyez le sol ébranlé par tants de secousses, noirci de toutes parts de la foule des révolutions. Depuis l’ancien régime, une démocratie royale, un gouvernement révolutionnaire, deux ou trois Constitutions républicaines s’y sont succédés ; une dictature militaire les a suivis, jusqu’à ce qu’enfin la Restauration l’ait rendu à la liberté et à son Roi. 345

Doch der Wortführer der Liberalen, Benjamin Constant, verurteilte jene Gesetze als Angriff auf die von der Charte zugesicherten (revolutionären) Freiheiten: «Je crois que l’abîme de la contre-révolution s’ouvre devant nous. J’entends, Messieurs, par contre-révolution un système qui attaquera graduellement tous les droits, toutes les garanties que la nation voulut en 1789, et qu’elle avait obtenues en 1814.» 346 Noch mehr wurde Rückbesinnung auf die Errungenschaften der Revolution – insbesondere die Abschaffung der Privilegien und die Nationalgüterverkäufe – von dem milliardenschweren Gesetz zur Entschädigung der Emigranten (20.4.1825) provoziert. 347 Der liberale Abgeordnete Jacques-Charles Dupont des Departements Eure kritisierte dies in der Kammersitzung vom 25. Februar 1825 als regelrechten Prozess gegen die Revolution: «Quel est donc un projet de loi qui remet en question tout le passé ? Vous voulez faire le procès à la révolution ? vous voulez donc mettre en jugement la nation qui l’a voulue, et condamner 30 millions d’hommes à faire amende honorable à l’émigration ?» 348 Und für den Abgeordneten Augustin Devaux aus dem Departement Cher verstieß das Gesetz sogar gegen die Revolution als elementare Naturkraft des Fortschritts:

345 346 347 348

Archives parlementaires, 2e Série, Bd. 26, 596. 7.3.1820, ebd., Bd. 26, 378. FRANKE-POSTBERG (1999). Zit. SCHULZE (1993), 24.

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Révolution, révolutionnaire Cette loi remet en question le principe de tous les effets de la Révolution […] ; elle n’accepte point la Révolution comme un grand événement irrémédiable ; elle la décompose pour y puiser des distinctions d’infortune et de matières à privilèges. Cependant la Révolution n’est ni l’œuvre d’un parti, ni la faute de quelques-uns, ni l’imprudence du plus grand nombre : c’est le plus grand, le plus compliqué et le plus involontaire des événements de toute l’histoire. […] Sa source est dans le mouvement général des esprits, aussi irrésistible pour le monde moral que le mouvement des corps célestes pour le monde physique. 349

2. Révolution als Streitobjekt der politischen Lager Soweit der Revolutionsbegriff unter den Bedingungen der Restauration offen zur Sprache kam, wurde er je nach politischer Couleur extrem gegensätzlich verstanden und eingesetzt, sofern nicht erzkonservative Schriftsteller wie Bonald forderten, das «sauvage idiome» der Französischen Revolution ganz aus der französischen Sprache zu tilgen. 350 Da die Anhänger einer jakobinischen Revolution sich im politischen Untergrund verbargen, standen sich vor allem zwei feindliche Lager gegenüber. Die gegenrevolutionäre, ultraroyalistische Position 351 wird exemplarisch vertreten von der Zeitung Le Drapeau blanc. Ihr Redakteur Alphonse Martainville, während der Französischen Revolution bekannt für seine populären Vaudevilles, inszenierte das Blatt als Bollwerk gegen die ansteckenden Irrlehren der «professeurs de révolution», deren Gefahr von der Regierung sträflich unterschätzt werde: «Lorsque de toutes parts s’élèvent des tréteaux où les charlatans révolutionnaires débitent leurs drogues funestes, pourra-t-on trouver inutile ou superflu le soin d’ouvrir une nouvelle tribune à la raison, à la bonne foi, au courage, qui veulent, en signalant le danger, indiquer à la fois le mal et le remède ?» 352 Das von Martainville verschriebene ‚Antidot‘ bestand darin, die positiven Bedeutungselemente des Revolutionsbegriffs in ihr Gegenteil zu verkehren. So hätten Voltaires Zukunftsprognosen (s. o. Kap. II, 3a) und die Schriften der Aufklärer die Autorität der alten 349 350 351

352

Archives parlementaires, 2e Série, Bd. 43, 301. GOLDZINK & GENGEMBRE (1989). Weitere Hinweise geben OECHSLIN (1959); GENGEMBRE (1989); DAUPHIN (1992). Le Drapeau blanc, Bd. I, Prospectus (Januar 1819), 3–4.

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Obrigkeit ausgehöhlt und so die jakobinische Schreckensherrschaft erst möglich gemacht: Ces beaux jours sont effectivement arrivés ; la philosophie a renversé le trône et l’autel ; […] la hache révolutionnaire n’a rien respecté ; le quart de la population française a péri dans l’exil, dans les batailles ou sur l’échafaud […]. Voilà les beaux jours qu’avait annoncés Voltaire à son cher Condorcet. […] Tels ont été les fruits et les progrès des lumières du siècle qu’on veut encore nous donner aujourd’hui pour guide. 353

Was die Revolution wirklich kennzeichne, seien nicht ihre angeblichen Grundsätze der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, sondern Prinzipienlosigkeit, Zerstörungswut und eine Spirale willkürlicher Gewalt bis hin zur Selbstvernichtung: L’esprit révolutionnaire est de sa nature vacillant dans ses projets, inconstant dans son vouloir, inconséquent dans ses œuvres ; et tout Gouvernement où se trouvent ces trois caractères distinctifs, est et sera toujours, quoi qu’il en dise, l’enfant, le soutien et le propagateur de la révolution. De là vient qu’à force de s’agiter, de changer, de réformer, de détruire, nos réformateurs ont fini par se détruire eux-mêmes. […] La France a donc parcouru le cercle, on peut dire vicieux, des plus grandes folies, des plus grands attentats, des plus grands désordres, pour revenir au point qu’elle avait quitté ; avec cette différence, néanmoins, qu’elle se trouve maintenant encombrée des ruines, des injustices, des intérêts des hommes et des doctrines révolutionnaires […]. 354

Der revolutionäre Wahn, Staat und Gesellschaft entsprechend den Erkenntnissen der Aufklärung ungeprüft nach abstrakten Prinzipien zu konstruieren, befördere nicht den Fortschritt, sondern verstoße gegen die geschichtliche Erfahrung und führe zu allgemeinem Elend: Ce sont les préjugés révolutionnaires, admis sur la foi d’autrui, sans examen et sans délibération, maintenus contre toutes les leçons de l’expérience. Car on ne peut nommer autrement des systèmes de philosophie, des abstractions politiques, dont l’application causa la ruine et les malheurs de la France. Cette perfectibilité d’hypothèse, au milieu d’une détérioration générale ; enfin ce prétendu progrès des lumières au milieu de l’oubli et du mépris de toutes les saines doctrines, ne sont-ce pas là des préjugés bien dangereux ? 355

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Ebd., Liefg. 6 (1.4.1819), 236. Ebd., 237. Siehe auch Anonymus: Du génie révolutionnaire, in: Le Drapeau blanc, I, Liefg. 10 (1.6.1819), 425–430. Monogr. D.: Des préjugés, des abus, et des ridicules révolutionnaires, in: Le Drapeau blanc, I, Liefg. 9 (Mai 1819), 377–388, hier 377–378,

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Und derselbe revolutionäre Ungeist sei – leicht abgeschwächt – unter dem Empire wieder aufgelebt: L’esprit révolutionnaire, comprimé sous le gouvernement impérial, réparaît dans toute son effervescence. La souveraineté du peuple, l’insurrection, considérée comme le plus saint des devoirs, le mépris ou l’indifférence pour la religion, la haine des anciennes distinctions, restent encore, malgré tous les démentis de l’expérience, les préjugés élémentaires de la révolution. 356

Die liberale Gegenposition kam weniger in expliziten Stellungnahmen zur Revolution als vielmehr mittelbar in der Verteidigung der Pressefreiheit und der Charte zum Ausdruck. Gelegentliche Äußerungen belegen gleichwohl einen fast selbstverständlich positiven Begriff von révolution. Dies gilt für einzelne gemäßigte Parlamentarier der 1790er Jahre wie den ehemaligen Girondisten JacquesCharles Bailleul, der in seiner Schrift De l’esprit de la Révolution (1814) die auf den Grundrechten basierende «puissance morale dans la révolution» hervorhob. 357 Allgemeiner gilt es auch für die bekannten liberalen Zeitschriften Le Mercure, La Minerve mit ihrem Spiritus rector Benjamin de Constant sowie für das Journal Le Globe. 358 Als der Priester und Philosoph Lamennais den Mitarbeitern des Globe vorwarf, sie seien «les défenseurs les plus conséquents des doctrines de la révolution française», 359 entgegnete der Chefredakteur Paul-François Dubois selbstbewusst: Oui, nous sommes fiers de cet héritage ; et nous le défendons avec l’impartialité pour guide et la bonne foi envers nos ennemis, comme nos pères ont su le conquérir dans des jours de colère au prix de tant de larmes et tant de sang. 360

Hinzu kam das damals noch liberale Journal des Débats, dessen Feuilleton wiederholt anerkennende Beiträge über die von der Aufklärung übernommenen Freiheitsprinzipien der Französischen Revolution veröffentlichte. 361 356

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Ebd., 378. In der Tat wurden besonders die Hundert Tage als Wiederkehr der Revolution wahrgenommen. Vgl. das ultraroyalistische Pamphlet von GAVAND: La faction civile dévoilée …, Genf 1816. J.-C. BAILLEUL: De l’esprit de la Révolution et de ses résultats nécessaires, Paris 1814, Teil I. HARPAZ (1968); GOBLOT (1995). Félicité Robert de LAMENNAIS: De la religion, considérée dans ses rapports avec l’ordre politique et civil, Paris 1826, 217 f. Le Globe, IV 53 (5.8.1826), Vorwort. JAKOBY (1988), 194–204.

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Parallel zu diesen Verwendungen von révolution und révolutionnaire(s) in einem eher allgemeinen Sinn variierten andere Veröffentlichungen der Restaurationszeit den in den 1790er Jahren entwickelten Begriff der eigengesetzlichen Revolution (Kap. III, 4c). So verstand das von Louis Cauchois-Lemaire geleitete satirische Journal Le Nain Jaune, das u. a. für die sozialen Errungenschaften der Revolution eintrat, 362 die Französische Revolution als Glied eines langfristigen Fortschritts zur politischen Freiheit – gekennzeichnet durch «la persévérance avec laquelle la nation française a marché pendant vingt-cinq ans vers un même but, au travers les orages de la révolution. C’est ainsi qu’elle s’est approchée à pas de géant de cette liberté qu’elle désirait.» 363 Pierre-Louis Roederer, seit 1789 in wechselnden Wahlämtern politisch aktiv, sah einen Zusammenhang der Revolution mit dem unaufhaltsamen Aufschwung der Wirtschaft und der Aufklärung im 18. Jahrhundert: «La Révolution fut le produit indestructible de l’accroissement de la civilisation, qui résultait lui-même de de l’accroissement simultané des richesses et des lumières.» 364 Mme de Staël entwarf ein geistesgeschichtliches Entwicklungsmodell vom Feudalismus über die spätmittelalterliche Städtefreiheit hin zur politischen Repräsentation ihrer Gegenwart, in dem die Glorious Revolution und die Französische Revolution den entscheidenden Impuls für eine gerechtere Gesellschaftsordnung gegeben hätten: Le même mouvement dans les esprits a produit la révolution d’Angleterre et celle de France en 1789. L’une et l’autre appartiennent à la troisième époque de la marche de l’ordre social, à l’établissement du gouvernement représentatif, vers lequel l’esprit humain s’avance de toutes parts. 365

Und Bailleul ging noch weiter, indem er die Revolution zur folgerichtigen Quintessenz des vernunftgeleiteten politischen Denkens 362

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Le Nain Jaune, n° 376 (30.6.1815), 387: «La masse immense des Français veut conserver les conquêtes de la révolution ; toute noblesse et tout appareil de superstition la révolte, elle voit tout ce qui tient à l’ancien régime avec effroi […].» Anonym: «Réflexions sur quelques opinions du jour. Troisième Lettre», in: Le Nain Jaune, n° 362 (20.4.1815), 59–66, hier 60. P.-L. ROEDERER: L’Esprit de la Révolution de 1789, Paris 1831, 13. Roederer verfasste diese Schrift im Herbst 1815, ließ sie aber erst 1831 drucken. Germaine de STAËL: Considérations sur la Révolution française (1818), ed. Jacques GODECHOT, Paris 1983, 69.

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erklärte: «La révolution est l’acte le plus logique qui ait jamais été présenté à la méditation des hommes, car elle est le résumé de ce qu’a produit la raison humaine dans les cours des siècles.» 366 Der Schriftsteller Charles-Augustin Sainte-Beuve wertete dann die Julirevolution als Beweis dafür, dass die Freiheitsprinzipien von 1789 sich trotz aller Hindernisse und Umwege in einem 40jährigen geschichtlichen Prozess zielstrebig durchgesetzt hätten: Cette Révolution, contrariée dans son développement le plus simple et le plus direct en apparence, contrariée par la Terreur, par l’Europe en armes, par un dictateur de génie, par une dynastie restaurée, a, toutefois et sans interruption aucune, poursuivie sa voie et son œuvre, sous la Terreur, dans les camps, sous la dictature, sous la Restauration. À chaque de ces contradictions nouvelles, elle a gagné d’un côté ce qu’on lui interdisait de l’autre ; elle a perdu, chaque fois, quelque chimère, quelque fiction dont elle ne s’était pas assez gardée dans le premier enivrement ; et aujourd’hui que tous les obstacles sont enfin levés, elle remet en commun tous les progrès si lents, tous ces résultats conquis un à un durant quarante années : il n’y a que les chimères qu’elle a laissées en chemin. 367

3. «la révolution n’est pas finie» 368 Zugleich mit der Eigengesetzlichkeit der Revolution gewann auch die ihr zugeschriebene unbegrenzte Zukunftsdynamik unter der Restauration erneut an Aktualität, wie eine Reihe politischer Vorhersagen belegt. Selbst Napoleon, der für sich in Anspruch nahm, die Französische Revolution beendet zu haben, erklärte seinem Justizminister Graf Louis-Matthieu Molé im Jahre 1814, kurz vor der Abfahrt nach Elba, dass die revolutionären Grundprinzipien verstärkt weiterwirken würden: «Après moi la Révolution ou plutôt les idées qui l’ont faite, reprendront leur œuvre avec une nouvelle force. Ce sera comme un livre dont on reprend la lecture à la page où on l’avait laissée.» 369 Und bereits um 1800 hatte der Ultraroya-

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J.-C. BAILLEUL: Situation de la situation de la France sous les rapports politiques, religieux, administratifs, etc., Paris 1819, 430–431. Le Globe vom 24.8.1830, zit. DEINET (2001), 87. – Dabei vermied es SainteBeuve, sich auf die Jahre 1792 und 1793 zu beziehen. De Maistre an den comte de Vallaise am 28.5.1816; vgl. Joseph de MAISTRE: Œuvres complètes, Bd. XIII, Lyon 1887, 284 f. NAPOLÉON Ier: Vues politiques, ed. Alain DANSETTE, Paris 1939, 380.

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list Louis-Gabriel de Bonald eine revolutionäre Krise prognostiziert, welche die Gesellschaft reinigen und stärken werde: Nous touchons à une grande époque du monde social. La révolution religieuse et politique à la fois, comme l’ont été toutes les révolutions, est une suite des lois générales de la conservation des sociétés, et comme une crise terrible et salutaire par laquelle la nature rejette du corps social les principes vicieux que la foiblesse de l’autorité y avoit laissé introduire, et lui rend sa santé et sa vigueur première. 370

In beiden Aussagen beginnt sich der Revolutionsbegriff vom ‚Modell‘ der Französischen Revolution zu lösen und bezeichnet primär eine fundamentale geschichtliche Kraft, die unaufhaltsam und mehr oder weniger unabhängig von den politischen Akteuren wirkt. Die gleiche semantische Tendenz lässt sich in weiteren – vor allem konservativen – Zeitdiagnosen verfolgen. Ein Artikel des Drapeau blanc mit der Überschrift «Sur la marche de la révolution» warnte im Frühjahr 1819 vor einem bevorstehenden neuen Ausbruch des ‚revolutionären Vulkans‘, der sich mit alarmierenden Vorzeichen wie der Auflösung der Chambre introuvable (5.9.1816), dem wachsenden Einfluss der Liberalen in der Kammer und der Ermordung Kotzebues (13.3.1819) ankündige. Verleitet durch eine trügerische Ruhe, gingen die meisten Leute allzu sorglos ihren Vergnügungen nach: tous ceux-là dorment paisiblement sur le volcan qui les menace, eux et toute l’Europe, d’une prochaine et terrible éruption. Cependant, au milieu du calme dont nous paraissons jouir, les événemens se pressent, se succèdent, la crise approche, et de nouveaux événemens qu’elle prépare vont à la fois épouvanter les peuples et faire frémir les rois. L’hydre de la révolution, terrassé un moment en 1815, a repris, depuis le 5 septembre 1816, plus de force et d’activité qu’il n’en eut jamais. […] le monstre est aujourd’hui tellement grandi, tellement sûr de son triomphe, qu’il en est déjà aux empoisonnemens et aux assassinats. Déjà il essaye, sur les différens points de l’Europe, des coups hardis et décisifs qui accélèrent le moment de la victoire, comme ceux qu’il vient de porter en France vont hâter la chute du trône légitime. 371

Als die Ermordung des Herzog von Berry im Februar 1820 zu einem reaktionären politischen Umschwung führte, erkannte de 370

371

L.-G.-A. de BONALD: Essai analytique sur les lois naturelles de l’ordre social, Paris 1800, 29. Gezeichnet T. D.: Sur la marche de la révolution, Le Drapeau blanc, II, 17. Liefg. 10 (April/Mai 1819), 203–208, hier 203 f.

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Maistre darin ein bloßes Zwischenspiel, nach dem das ‚revolutionäre Prinzip‘ seinen antiroyalistischen Einfluss fortsetzen werde: Les royalistes triomphent en France; ils ont raison sans doute; mais le principe révolutionnaire, frappé momentanément, n’acceptera pas sa défaite. Il réagira vivement contre la monarchie. Et la famille royale sera encore une fois chassée de France. […] Ne croyez pas que je sois prophète […], je suis tout simplement un homme qui tire les conséquences naturelles des faits qu’il voit. 372

Aus der Erfüllung dieser Prophezeiung in der Julirevolution leitete dann Chateaubriand seinerseits die Voraussage einer künftigen, noch allgemeineren Revolution ab, welche die Gesellschaft transformieren und die Bevölkerung – je nach dem Grad der Volksbildung – entweder in einem freiheitlichen Staatswesen oder unter einer Despotie egalisieren werde, schließlich aber auf eine Republik hinauslaufe: Nous marchons à une révolution générale ; si la transformation qui s’opère suit sa pente et ne rencontre aucun obstacle, si la raison populaire continue son développement progressif, si l’éducation morale des classes intermédiaires ne souffre point d’interruption, les nations se nivelleront dans une égale liberté ; si cette transformation est arrêtée, les nations se nivelleront dans un égal despotisme. Ce despotisme durera peu à cause de l’âge avancé des lumières, mais il sera rude, et une longue dissolution sociale le suivra. Il ne peut résulter des journées de Juillet, à une époque plus ou moins reculée, que des républiques permanentes ou des gouvernements militaires passagers, que remplacerait le chaos. 373

Wird révolution hier von Chateaubriand zu einem mittel- bis langfristigen politischen Strukturwandel entschärft, dem sein grundsätzlicher Charakter freilich größte Bedeutung verleiht, so betonte – pünktlich zum Jahrestag des niedergeschlagenen republikanischen Pariser Aufstands von 1832 – eine Revolutionsprognose des oppositionellen Journals La Caricature mittels der Vulkan-Metapher die quasi naturgesetzliche Explosivität und Gewaltsamkeit der Revolution. Unter dem Titel Troisième éruption du Volcan de 1789 imaginiert die bildliche Darstellung von Auguste Desperret eine weite vulkanische Landschaft, führt aber nur zwei Vulkanausbrüche vor

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De Maistre 1820 an Charles de Lavau, zit. CLAUDE (2005), 88. CHATEAUBRIAND: De la Restauration et de la Monarchie élective (14.3.1831), in: DERS.: Grands écrits politiques, ed. Jean-Paul CLÉMENT, Paris 1993, II 569.

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Augen: im Vordergrund die erkalteten Trümmerreste des Ausbruchs von 1789 und im Mittelgrund den gerade Barrikadensteine speienden Krater der Julirevolution, während die im Hintergrund aufragenden Vulkankegel äußerlich ruhig scheinen. 374 Diese visionäre Bilderzählung hat der Herausgeber des Journals, Charles Philipon, durch einen suggestiven Begleittext ausgedeutet: Il y a longtemps qu’on nous l’a dit : NOUS SOMMES SUR UN VOLCAN […]. Or, ce volcan, dans le cratère duquel fermentent incessamment injustices, violences, oppressions, tyrannies de toute sorte, mêlées aux haines populaires ; ce volcan, sur les vastes flancs duquel l’Europe bout tout entière ; ce volcan éclata pour la première fois en 89. Ce fut une éruption terrible, qui secoua fortement le monde […]. C’est en vain que, depuis, d’insensés architectes ont voulu plusieurs fois rassembler ces débris épars, ces monuments d’un autre siècle ; chaque fois, le volcan a grondé, le volcan a fait trembler le sol, et leurs informes ébauches ont croulé. Ce fut en 1830 qu’eut lieu sa seconde éruption, qui fit pleuvoir sur la monarchie d’alors une grêle de pavés. Et maintenant, à quand la troisième ? Où, comment, pourquoi ? Sera-ce encore en France ? Sera-ce telle autre part ? Sera-ce dans cent ans ? […] Mais ce qu’il y a certain, c’est que celle-là aura lieu. On n’en saurait douter, quand on sent de toutes parts le terrain s’échauffer et trembler sous vos pas ; quand mille petits cratères s’allument incessamment, ici, là, partout, en Belgique, en Pologne, en Italie, en Espagne, en Portugal, en Allemagne, en Piémont, et même à Monaco ! – Au surplus, celle-là n’aura rien d’effrayant, s’il faut en croire et nos pressentiments et l’assurance positive que nous en donne l’auteur de cette belle esquisse, en nous montrant cette Europe nouvelle, qui sort, si brillante et paisible, des lâves mêmes du volcan. 375

Zweifach wird somit ein langfristig fortschreitender Revolutionsprozess evoziert, der von Frankreich ausgehend nach und nach große Teile Europas erfasst. Der im Ancien Régime aufgestaute Hass des Volkes gegen Unterdrückung und Ausbeutung, gegen willkürliche Gewaltherrschaft und Ungerechtigkeit bildete das Magma des ersten Vulkanausbruchs von 1789. Da die alten Mißstände unter dem Empire und der Restauration teilweise fortbestanden, folgte im Juli 1830 der zweite Ausbruch des Revolutionsvulkans. Der dritte liegt in der Zukunft, kündigt sich aber bereits in mehreren Ländern an durch Erdstöße und Rauch, der aus kleinen Nebenkratern aufsteigt.

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Auguste DESPERRET: Troisième éruption du Volcan den 1789, kolorierte Kreidelithographie, 19 × 27 cm, in: La Caricature (Journal) n° 135 (6.6.1833), Taf. 279. Vgl. dazu REICHARDT (2015), 46–49. La Caricature (Journal) n° 135 (6.6.1833), Sp. 1075.

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Literatur

Seine Lava ist indes nicht zu fürchten, denn sie bereitet einen fruchtbaren Boden für blühende republikanische Staatswesen. Unterirdisch stehen die Magma-Kammern dieses revolutionären Vulkanismus europaweit in Verbindung, sie können überall und jederzeit neue Ausbrüche hervorrufen. Diese modellartige Metaphorik erklärt nicht nur die Ursachen, die Brisanz und ‚Notwendigkeit‘, die periodische Wiederkehr und die Ausbreitung der Revolution, sie kann zugleich als Voraussage der europäischen Revolution von 1848 gelten und enthält bereits das Konzept der Révolution permanente, wie es um die Jahrhundertmitte von Pierre-Joseph Proudhon und Karl Marx entwickelt wurde. 376

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160

101

Literatur

DERS.: WortBilder in der politischen Kultur der Französischen Revolution, in: Saeculum 65/1 (2015), 23–51. DERS.: Zeit-Revolution und Revolutionserinnerung in Frankreich 1789–1805, in Hans-Joachim BIEBER et al. (ed.): Zeit im Wandel der Zeiten, Kassel 2002, S. 149–190. DERS. & Eberhard SCHMITT: Die Französische Revolution – historischer Umbruch oder Kontinuität? In: Zeitschrift für historische Forschung 7 (1980), 257–320. Pierre RÉTAT: Forme et discours d’un journal révolutionnaire : Les Révolutions de Paris en 1789, in Claude LABROSSSE et al. (ed.): L’instrument périodique. La fonction de la presse au XVIIIe siècle, Lyon 1986, 139–178. DERS.: Représentations du temps révolutionnaire d’après les journaux de 1789, in Centre méridional d’histoire sociale des mentalités et des cultures (ed.): L’espace et le temps reconstruits : La Révolution française une révolution des mentalités et des cultures ? Aix-enProvence 1990, 121–129. Stéphane RIALS: Révolution et contre-révolution au XIXe siècle, Paris 1987. Michel RIQUET: Augustin Barruel, un jésuite face aux jacobins francs-maçons, Paris 1989. Eugen ROSENSTOCK: Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, in Abhandlungen der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur, Geisteswissenschaftliche Reihe, 5. Heft: Festgabe der Rechts- u. Wirtschaftswiss. Fakultät zu Breslau für Paul Herborn zum 70. Geburtstag, Breslau 1931, 83–124. Jacques-Philippe SAINT-GÉRAND: Révolution(s) à l’épreuve des lexicographes et des documents, in Christian CROISILLE & Jean EHRARD (ed.): La légende de la Révolution, Grenoble 1988, 235–254. Gisela SCHLÜTER: Wider die Revolution als Prinzip und Ereignis. Zu Joseph de Maistres Considérations sur la France, in Gudrun

161

Literatur

102

GERSMANN & Hubertus KOHLE (ed.): Frankreich 1800, Stuttgart 1990, 122–133. Winfried SCHULZE: «Non, Sire, c’est une révolution !» – Zur Geschichte eines berühmten Zitats, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 40, 1989, 772–788. DERS.: «Vous voulez donc faire le procès à la Révolution ?» Über den Umgang mit der Revolution in der Debatte um die Entschädigung der Emigranten 1825, in Gudrun GERSMANN & Hubertus KOHLE (ed.): Frankreich 1815–1830: Trauma oder Utopie? Die Gesellschaft der Restauration und das Erbe der Revolution, Stuttgart 1993, 15–27. Henri SÉE (ed.): Cahiers de doléances de la sénéchaussée de Rennes pour les Etats Généraux de 1789, III, Rennes 1911. Vernon F. SNOW: The Concept of Revolution in seventeenth-century Enland, in: Historical Journal V/2, 1962, 167–190. Edoardo TORTAROLO: La Révolution américaine dans l’Histoire des deux Indes : la narration comme dialogue ?, in Hans-Jürgen LÜSEBRINK & Anthony STRUGNELL (ed.): L’Histoire des deux Indes : réecriture et polygraphie, Oxford 1995, 205–221. Gerd VAN DEN HEUVEL: Terreur, Terroriste, Terrorisme, in: HPSG, Heft 3, München 1985, 89–132. Diego VENTURINO: La naissance de l’«Ancien Régime», in Colin LUCAS (ed.): The Political Culture of the French Revolution, Oxford etc. 1988, 11–40. Michael WAGNER: Parlements, in: HPSG, Heft 10, München 1988, 55–106.

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1

FRIEDEMANN PESTEL Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Genese des Begriffs im revolutionären Frankreich der 1790er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4

1. Semantische Unschärfe in den Verfassungsdebatten bis 1791 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Feindbild und Kampfbegriff im revolutionären Bürgerkrieg 1791/92‒1794 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Einhegungsversuche nach Thermidor und unter dem Direktorium 1794‒1799 . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Contre-révolution zwischen Referenz- und Exklusionsbegriff in der französischen Emigration in den 1790er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Der Minimalkonsens der contre-révolution: réforme des abus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Gegen die contre-révolution complète: konstitutionelle Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Une révolution contre la Révolution: konterrevolutionärer Bellizismus . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

1

Mein Dank gilt Rolf Reichardt für die großzügige Bereitstellung von Quellenmaterial zur Ergänzung des Quellenkorpus für diesen Aufsatz, Fabian Rausch für ergänzendes Quellenmaterial zur Restaurationszeit sowie Anna Karla für ihre bereichernde Lektüre. Dieser Aufsatz nimmt einige Überlegungen aus F. PESTEL: On Counterrevolution: Semantic Investigations of a Counterconcept during the French Revolution, in: Contributions to the History of Concepts (2017), 50–75 auf.

https://doi.org/10.1515/9783110725063-003

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4. Le contraire de la Révolution: politische Szenarien in den späten 1790er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Koloniale Umkehrungen: Die Haitianische Revolution als contre-révolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Die zweite Fermentationsphase im postrevolutionären Frankreich um 1820 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Rückkehr und Verengung des Begriffs mit der Restauration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Contre-révolution als liberal-oppositioneller Kampfbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Contre-révolution als royalistische Festschreibung der Restauration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V.

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Einleitung Der folgende Beitrag analysiert die semantischen Verwendungsweisen eines zentralen Gegenbegriffs zum Schlüsselkonzept der Revolution in Frankreich im Zeitraum von 1789 bis 1830. Obwohl sich contre-révolution als Analysekategorie für das politische Denken und Handeln von Revolutionsgegnern, insbesondere Monarchieanhängern und Emigranten, in der Revolutionshistoriografie nachhaltig etabliert hat, blieb eine systematische Untersuchung des zeitgenössischen Bedeutungsgehalts dieses Neologismus der Französischen Revolution bislang weitgehend aus. 2 Das beharrliche Desinteresse am zeitgenössischen Begriffsgebrauch erweist sich jedoch umso problematischer, als seine Übertragung in die historische Analyse häufig einem unhinterfragten Begriffsrealismus folgt. 3 Wenn Konterrevolution bzw. konterrevolutionäre Akteursgruppen in der Folge häufig mit einem reaktionären politischen Programm bis hin zur pauschalen Wiederherstellung des Ancien Régime gleichgesetzt werden, widersprechen solche Zuschreibungen der zeitgenössischen Begriffssemantik oft explizit. Die Flexibilität des Konterrevolutionsbegriffs nach 1789 wird im Folgenden anhand eines breiten Spektrums an Positionen, Akteuren und Medien deutlich. Royalistische Gebrauchsmuster finden ebenso Berücksichtigung wie jakobinische Aufladungen; zudem gilt ein besonderes Augenmerk den intermediären Positionen von konstitutionellen Monarchisten oder Anhängern der direktorialen Ordnung nach dem Sturz der Jakobiner. Die Quellenauswahl berücksichtigt politisch-historische Abhandlungen und Zeitschriften

2

3

Erste Ansätze bei M. MIDDELL: Konterrevolution während der Französischen Revolution 1789 bis 1795 − zeitgenössischer Begriff und aktuelle Forschung, in: M. KOSSOK / E. KROSS (ed.): 1789 − Weltwirkung einer großen Revolution, Berlin 1989, 97–114; und differenzierter bei M. MIDDELL: Die Geburt der Konterrevolution in Frankreich 1788−1792, Leipzig 2005. Zuletzt unternahm J.-C. MARTIN (ed.): Dictionnaire de la contre-révolution. XVIIIe−XXe siècle, Paris 2011 eine programmatische Inventarisierung, ohne die Begriffsentstehung und seinen historischen Bedeutungsgehalt auch nur anzuschneiden. Bei R. KOSELLECK: Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg, in: O. BRUNNER / W. CONZE / R. KOSELLECK (ed.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, 653–788, finden sich nur einzelne Beobachtungen zum Konterrevolutionsbegriff.

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ebenso wie die revolutionäre Tagespresse und Pamphletistik. Gerade in der französischen Emigration fanden wirkmächtige Debatten über den Konterrevolutionsbegriff jedoch auch außerhalb der Öffentlichkeiten des Lesepublikums in Konsultationen mit Politikern und Diplomaten der gegen das revolutionäre Frankreich Krieg führenden Koalitionsmächte statt. Dort, wo konterrevolutionäre Strategien Geheimhaltung erforderten, erweisen sich diplomatische Korrespondenzen und Denkschriften als aufschlussreiche Quellen. Weiterhin greift der Beitrag räumlich über das revolutionäre Frankreich hinaus. Er bezieht die transnationale Diaspora der Emigration ebenso mit ein wie die mit den revolutionären Entwicklungen in der Metropole eng verflochtenen Aufstände in den karibischen Kolonien, insbesondere Saint-Domingue als Schauplatz der Haitianischen Revolution. Chronologisch stehen zwei Fermentationsphasen des Begriffs im Mittelpunkt, zum einen die Begriffsentstehung und semantische Auffächerung in den 1790er Jahren, zum anderen nach seiner weitgehenden Abwesenheit während des napoleonischen Empire die Reaktualisierung des Begriffs im politischen Vokabular der Restaurationszeit. Gerade die Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und (Ultra-) Royalisten verfestigten bis zur Julirevolution die semantischen Konturen von contrerévolution.

I. Genese des Begriffs im revolutionären Frankreich der 1790er Jahre 1. Semantische Unschärfe in den Verfassungsdebatten bis 1791 Contre-révolution ist als Begriff bereits morphologisch unmittelbar auf den Revolutionsbegriff bezogen. Im Unterschied zu letzterem, der bei allen Bedeutungsverschiebungen über eine auf antike Verwendungsweisen zurückgehende Tradition verfügt, handelt es sich bei contre-révolution um einen Neologismus. Bevor er sich etablieren konnte, bedurfte es zunächst einer weitreichenden Verständigung über den revolutionären Gehalt der politischen Umwälzungen des Frühjahrs und Sommers 1789. Ließ sich die Einberufung der Generalstände und die aus ihnen hervorgehende Assemblée consti-

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tuante für einen Teil der Mitglieder noch in Kontinuität zu Frankreichs ancienne constitution oder in Bezug auf politische Theoretiker wie Montesquieu oder das englische Verfassungsmodell seit der Glorious Revolution begründen, 4 so markierte das Eingreifen der Pariser Volksmassen in den revolutionären Prozess einen Einschnitt. Nach dem Bastille-Sturm gab exemplarisch der Duc de Liancourt mit seiner Äußerung gegenüber Ludwig XVI. am Abend des 14. Juli 1789 den Interpretationsrahmen vor: «Non, Sire, c’est une grande révolution.» 5 Die zunehmende semantische Verengung des Revolutionsbegriffs hin zu einem Kollektivsingular bildete die Grundlage für die Entstehung und rasche Verbreitung seines Widerparts zur Jahreswende 1789/90. So wie das Eintreten einer Revolution in der politisch-finanziellen Krise des Ancien Régime der 1780er Jahre verschiedentlich prognostiziert worden war, hatte sich bei den Zeitgenossen bereits vor dem Sommer 1789 die Vorstellung eines antagonistischen Prozesses herausgebildet. So warnte Calonne nach seinem Scheitern als Contrôleur général des finances aus seinem Exil heraus Ludwig XVI. im Frühjahr 1789 vor einem gekoppelten Auftreten von révolution und révolution contraire, falls dieser sich einer Reform der Adelsprivilegien verweigerte: Plus on supposera de résistance possible de la part de la Nation enivrée de ses prétentions chimériques, & excitée peut-être par les Chefs-de-Parti que le changement de Constitution auroit fait naître, plus les suites en deviendroient funestes. Il faudroit alors traverser des flots de sang, pour revenir à l’ordre ancien. L’idée seule fait frémir. & ce n’est pas une vaine terreur; car il est écrit dans les Annales du monde, qu’une révolution suivie d’une révolution contraire, est le plus grand des maux qu’une Nation puisse éprouver. 6

Als sich die révolution contraire am Jahresende 1789 zur contrerévolution verdichtete, hatte die Revolution ihren definitiven Gegenbegriff gefunden. Für 1790 sind dann als Adjektivbildungen 4

5

6

E. TILLET: La constitution anglaise, un modèle politique et institutionnel dans la France des Lumières, Aix-en-Provence 2001. Siehe A. REY: «Révolution», histoire d’un mot, Paris 1989, 109 sowie den Beitrag von Rolf Reichardt in diesem Heft. C. A. de CALONNE: Lettre adressée au Roi, London 1789, 54. Dieser Verweis folgt MIDDELL: Die Geburt [2], 32. Zu Calonnes politischem Reformprogramm B. KLESMANN: Die Notabelnversammlung in Versailles 1787. Rahmenbedingungen und Gestaltungsoptionen eines nationalen Reformprojekts, Ostfildern 2019, 229–256.

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contre-révolutionnaire und anti-révolutionnaire – respektive beim Comte de Mirabeau und bei Madame Roland – belegt; 1794 die Verbalform contrerévolutionner sowie im Folgejahr bei Gracchus Babeuf dérevolutionner. 7 Eine Programmatik sucht man bei den ersten Belegen für contrerévolution im Winter 1789 und Frühjahr 1790 vergebens. Eine seiner ersten Erwähnungen erfuhr der Begriff in einer Geheimkorrespondenz aus dem Umfeld des Hofes. Der mutmaßliche Autor Dubucq unterstellte den aristocrates, die Annahme eines Finanzplans zu verschleppen, um dadurch die «projets clandestins d’une contrerévolution» 8 zu befördern. Im Januar 1790 meldete der halbamtliche Moniteur, 20.000 Adlige planten sich zu versammeln, «pour opérer une contre-révolution». 9 Im April 1790 galt das Interesse von Dubucqs Korrespondenz aristokratischen Zusammenkünften in den Tuilerien, um einen «chef de contre-révolution» zu wählen oder «une contre-révolution» zu starten, sollte sich die Nationalversammlung über Religionsfragen zerstreiten. 10 So eklektisch diese Belege anmuten, so weisen sie für die weitere Begriffsprägung entscheidende Gemeinsamkeiten auf: Contre-révolution bezog sich als Fremdbezeichnung auf die Oppositionsgruppierungen in der Assemblée constituante, die seit der Übersiedlung mitsamt der Königsfamilie aus Versailles nach Paris und den Abstimmungsniederlagen über ein Zweikammersystem sowie ein absolutes Veto für den König auf dem côté droit der Parlamentsränge Platz genommen hatten.11 Die Beiträge unterstellten der gegenüber der Verfassung ablehnend bis skeptisch eingestellten Opposition eine 7 8 9

10 11

A. REY: «Révolution», histoire d’un mot, Paris 1989. Corresp. secrète, II 409 (16.12.1789). Moniteur (15.1.1790), zit. nach T. RANFT: Der Einfluß der französischen Revolution auf den Wortschatz der französischen Sprache, Gießen 1908, 112; A. ABDELFETTAH: Die Rezeption der Französischen Revolution durch den deutschen öffentlichen Sprachgebrauch, Heidelberg 1989, 235. Es handelt sich hierbei jedoch nicht, wie in beiden Werken angegeben, um den Erstbeleg. Corresp. secrète, II 436 f. (3.4.1790). Siehe dazu V. HUNECKE: Die Niederlage der Gemäßigten. Die Debatte über die französische Verfassung im Jahr 1789, in: Francia (2002), 75−128; J. de SAINT-VICTOR: La première contre-révolution française, Paris 2010; DERS.: La chute des aristocrates, 1787−1792. La naissance de la droite, Paris 1992.

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außerparlamentarische – und das bedeutete verdachtsmäßig verschwörerische – Nähe zum Königshaus und zur Armee, um den Verfassungsgebungsprozess zu stören.12 Trotz dieser ideologischen Tendenz beinhaltete contre-révolution jedoch weder eine Aussage über ein politisches Programm noch über ein konkretes politisches Ziel. Sie konstituierte sich zunächst ex negativo zum Revolutionsbegriff und beschrieb einen gegen die aktuelle Gesetzgebungstätigkeit der Nationalversammlung gerichteten Prozess. Von Beginn an bezog sich contre-révolution auf révolution im modernen Sinne, 13 also nicht mehr als zyklische Rückkehr zum Ausgangspunkt im Sinne einer ré-volution, sondern als irreversible Umwälzung. Beinhaltete contre-ré-volution morphologisch eine doppelte Negation, so bedeutete diese aufgrund der progressiven Dynamik des Revolutionsbegriffs keine automatische Rückkehr zum Status quo ante, also eine Wiederherstellung des Ancien Régime. 14 Ausnahmen wie die anonyme Aufforderung an das französische Volk, zum «ancien & excellent gouvernement» 15 zurückzukehren, bestätigen diese Regel. Dieser Befund ist nicht überraschend, da die revolutionären Prozesse selbst erst die Figur des Ancien Régime – oder im Sprachgebrauch seiner Anhänger positiv als ancienne constitution gewendet – hervorbrachten, ohne sie allerdings mit konkreten ordnungspolitischen Inhalten zu füllen. 16 Welchen zeitlich-konstitutionellen 12

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Siehe auch Corresp. secrète, II 487 f. (3.12.1790); Ami du Peuple, Nr. 296 (30.11.1790). KOSELLECK: Revolution [3]. Dieser Befund widerspricht teilweise Jean Starobinskis auf Joseph de Maistre zurückgehende Schlussfolgerung, dass die in contre-ré-volution enthaltene doppelte Negation einer Rückkehr zum «ursprünglichen» Zustand entspricht; J. STAROBINSKI: Aktion und Reaktion. Leben und Abenteuer eines Begriffspaars, Frankfurt am Main 2003, 316. Anon.: Qu’est-ce qu’une révolution?, o. O. 1792, 7; siehe auch J. M. LEQUINIO: École des laboureurs, ouvrage dans lequel on explique aux citoyens des campagnes ce que c’est que la Révolution françoise et la manière dont ils doivent se comporter pour en tirer tout l’avantage possible, ou Lettre familière aux laboureurs de Bretagne, Vannes 1790, 62. F. FURET: Ancien Régime, in: F. FURET / M. OZOUF (ed.): Dictionnaire critique de la Révolution Française, Paris 1992, IV 25−43; D. VENTURINO: La naissance de l’«Ancien Régime», in: C. LUCAS (ed.): The French Revolution and the Creation of Modern Political Culture, Bd. 2, Oxford 1988, 11–40.

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Bezugspunkt die ancienne constitution haben sollte, ob 1788 (als Stichjahr vor 1789), 1787 (Notabelnversammlung), 1776 (Rückberufung der Parlements), 1774 (Regierungsantritt Ludwigs XVI.), 1715 (Ende des persönlichen Regiments des Königs) oder gar 1614 (letzte Einberufung der Generalstände), wurde in den folgenden Jahren gerade unter Anhängern der vorrevolutionären Monarchie zum Gegenstand heftiger Kontroversen, hing davon doch ab, ob den Generalständen, der Notabelnversammlung oder den Parlements verfassungsmäßiger Charakter zugesprochen werde sollte. 17 Mithin erfuhr die 1789 untergegangene ancienne constitution überhaupt erst nach 1789 ihre über die Fundamentalgesetze der Monarchie hinausgehende «Konstitutionalisierung». 18 Diese Aporie spiegelte auch die erste Lexikalisierung von contre-révolution in Chantreaus Dictionnaire national et anecdotique von 1790 wider. Definiert wurde hier lediglich eine obsolete Regierungspraxis, jedoch keine Verfassungsordnung oder gar ein politischer Zielpunkt: «Contre-révolution désigne le coup de main qui remettroit le despotisme ministériel sur ses pieds et feroit passer les aristocrates du fond de cale sur le tillac». 19 Die begriffliche Flexibilität erweiterte sich durch die häufige Verknüpfung mit dem unbestimmten Artikel. Une contre-révolution markierte um 1790 folglich alles, was sich dem selbsterklärten Fortschritt der Revolution entgegenstellte, 20 wurde jedoch mit dem angenommenen fortdauernden Voranschreiten der Revolution zwangsläufig immer unspezifischer und semantisch breiter. Dass jenseits der Feindbilder der aristocrates, von Teilen des Klerus und der Königsfamilie, die bezeichnenderweise als erste Opfer ihrer eigenen contre-révolution genannt wurden, ein spezifischer Akteursbezug fehlte, war nicht zuletzt das Ergebnis ihrer Assoziation mit irrationalen, gerüchteweisen Verschwörungen im Nachgang der Grande Peur. Sie brächte etwa die Bauern dazu, ihre ehemaligen

17 18

19 20

Siehe auch M. Wagner, Parlements, in: HPSG 10, 1988, 55–106. F. PESTEL: Monarchiens et monarchie en exil: conjonctures de la monarchie dans l’émigration française, 1792‒1799, in: AHRF 382 (2015), 3−29, hier 11. CHANTREAU, 53. Rév. Paris, Nr. 388 (6.4.1790), 14.

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Feudalherren aus Angst vor einer contre-révolution aufzuhängen, bliebe aber stets von einem «Schleier» bedeckt. 21 Revolutionskritische Zeitgenossen beobachteten außerdem einen Widerspruch zwischen als Konterrevolution qualifizierten politischen Akten und ihrer schmalen Personalbasis. Der monarchien Jean Joseph Mounier, der als einer der Verfechter des im Herbst 1789 abgelehnten Zweikammersystems nach dem Zwangsumzug der Königsfamilie nach Paris die Nationalversammlung verlassen hatte, konnte im berüchtigten Versailler Bankett der 600 Offiziere des flandrischen Regiments, das den Zug der Pariser Volksmassen am 5. Oktober ausgelöst hatte, schon rein zahlenmäßig keine contrerévolution entdecken.22 Solange contre-révolution eine Zuschreibung von Revolutionsanhängern gegenüber Revolutionsgegnern blieb und letztere sie nicht zu ihrer eigenen politischen Programmatik ausbauten, sensibilisierte der Begriff für Bedrohungen. An ihren Erfolg glaubte indes kaum jemand, würde sie doch Bankrott, Ruin, Besitzverlust und nicht zuletzt Gefahren für Leib und Leben ihrer vermeintlichen Akteure nach sich ziehen. 23 Eine gelingende contre-révolution erschien dem Moniteur im Januar 1790 unrealistisch angesichts des laufenden Verfassungsgebungsprozesses und damit der legalen Organisation der Staatsgewalt. 24 Dass selbst Anhänger der «droits de la vérité» 25 von Religion, Sitten und der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, die sich leicht in Richtung ancienne constitution interpretieren ließen, das Etikett contre-révolutionnaire kaum affirmativ übernahmen, erklärt sich daraus, dass eine solche programmatische Besetzung des Begriffs zwar das Potenzial der Deutungshoheit in sich barg, zugleich aber eine Anerkennung der politischen Gestaltungskraft der Revolution bedeutet hätte. Der Abbé

21

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23 24 25

Rév. Paris, Nr. 388 (6.4.1790), 19 f.; Corresp. secrète, II 465 (7.8.1790); Ami du Peuple, Nr. 372 (15.2.1791). J. J. MOUNIER: Appel au Tribunal de l’opinion publique du rapport de M. Chabroud et du décret rendu par l’Assemblée nationale le 2 octobre 1790, Genf 1790, 92. Zu seiner politischen Rolle F. PESTEL: Kosmopoliten wider Willen. Die monarchiens als Revolutionsemigranten, Berlin/Boston 2015. Corresp. secrète, II 489 (10.12.1790); ebd., 553 f. (15.10.1791). Moniteur (15.1.1790). Anon.: La décadence de l’empire françois, fruit de la philosophie moderne adoptée par nos législateurs, o. O. 1790, 34.

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de Montesquiou erklärte daher im Mai 1790 in der Nationalversammlung angesichts von Unruhen in Montauban: Je n’entends pas ce que veulent dire ces mots: révolution, contre-révolution. La constitution ne pourra être attaquée si elle est bonne; si elle est mauvaise, c’est-à-dire ne plaisait pas à la nation, rien n’empêcherait qu’elle ne fût détruite. 26

Nicolas Bergasse, ein weiterer monarchien, der die Assemblée constituante im Oktober 1789 verlassen hatte, berief sich gegenüber seinen commettants als einer von wenigen auf eine contrerévolution, um seiner Ablehnung des Einkammersystems Ausdruck zu verleihen, behielt aber explizit den unbestimmten Artikel bei und grenzte sich zugleich vom Ancien Régime ab: Je veux une contre-révolution! Et qu’est-ce qu’une contre-révolution? Entendons dire par-là que je veux une autre constitution, une constitution appuyée sur des bases plus solides, moins défavorables à la liberté, moins aristocratique surtout que celle qui nous est donnée? Eh! bien, oui! je veux une contrerévolution, car je veux essentiellement la liberté, et par tout où je ne l’apperçois pas, je désire qu’elle se montre. Mais cherche-t-on à faire croire que je souhaite que l’ancien ordre de choses reparoisse? 27

Der Bergasse politisch nahestehende Jacques Mallet du Pan ging über ein affirmatives Bekenntnis zur contre-révolution sogar noch hinaus. Indem er die Verbindung von König und Verfassung zum scheinbar neutralen Bestimmungsmaßstab nahm, konnte er dem côté gauche der Nationalversammlung sowie den hinter ihm stehenden politischen Klubs, die die Stellung des Königs weiter beschneiden wollten, konsequenterweise vorwerfen, sie seien «animé[s] d’un esprit de contre-révolution». 28 Diese semantische Ausdehnung nach links blieb jedoch eine Ausnahme. 26 27

28

Mercure de France, Nr. 21 (22.4.1790), 350. N. BERGASSE: Lettre de M. Bergasse, député de la sénéchaussée de Lyon, à ses commettans, au sujet de sa protestation contre les assignats-monnoie, accompagnée d’un tableau comparatif du système de Law avec le système de la caisse d’escompte et des assignats-monnoie, et suivie de Quelques réflexions sur un article du «Patriote françois», rédigé par M. Brissot de Warville, Paris 1790, 36; vgl. dazu É. LAMY: Un défenseur des principes traditionnels sous la Révolution, Nicolas Bergasse, avocat au Parlement de Paris, député du Tiers état de la sénéchaussée de Lyon aux États généraux (1750–1832), Paris 1910. Mercure de France, Nr. 32 (8.7.1790), 85; zit. nach J. BOUDON: La voie royale selon Mallet du Pan, in: Revue française d’histoire des idées politi-

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Erklärte Anhänger der im Entstehen befindlichen Verfassung verwiesen ihrerseits darauf, dass eine contre-révolution nur mit Beteiligung des Königs denkbar und eben dadurch letztlich nicht machbar sei. Indem sie – so eine Adresse aus Nîmes – in der Verfassung das Ziel der Revolution sahen, bildete die contre-révolution das falsche und letztlich überflüssige Mittel, die Revolution zu beenden: Ce n’est point […] l’absurde projet d’opérer une contre-Révolution; c’est le désir de consommer la Révolution, […] de consolider la Constitution, d’ôter tout prétexte d’y porter atteinte, de hâter le moment où la France reconnoissante pourra jouir des bienfaits de l’Assemblée Nationale. 29

Angesichts unscharfer politischer Zielsetzungen konsolidierte sich der Prozesscharakter des Begriffs, wodurch dieser seine mobilisierende Wirkung aufseiten von Revolutionsgegnern zunehmend entfalten konnte: In der lagerübergreifenden Vorstellung der Zeitgenossen geschah contre-révolution nicht einfach, sie musste gemacht werden: Opérer une contre-révolution wurde 1790/91 zu einem sich verfestigenden Syntagma der politischen Sprache. In diesem Zusammenhang trat auch der bestimmte Artikel zunehmend in Erscheinung, wenn der Begriff gleichzeitig durch adjektivische Bestimmungen oder Appositionen spezifiziert wurde. Im Vordergrund standen dabei erneut weniger konkrete politische Ziele als Abstufungen, so in der Unterscheidung von contre-révolution complète 30 und contre-révolution partielle, 31 oder der sich ausdifferenzierenden Mittel einer contre-révolution, die allmählich über den parlamentarischen Prozess der Verfassungsgebung ausgriffen und angesichts der wachsenden Emigration und der preußisch-österreichischen Bündniskonsultationen die außenpolitische Dimension der Revolution berührten. Die contre-révolution politique 32 oder

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ques (2008), 3–41, hier 14 f. Zu Mallet du Pan PESTEL: Kosmopoliten [22]. Journal politique de Bruxelles (22.5.1790), 294. Auszug aus einem Brief Jacques Mallet du Pans, Brüssel (10.8.1793), The British Library, London (BL), Add. Mss. 59055, fol. 69’; Le Démocrate ou l’ami des lois, Nr. 7, 1. Jean Louis Soulavie an Marie Jean Hérault de Séchelles, Genf (29.1.1794), AN AF III 81, Doss. 334. Ami du Peuple, Nr. 573 (13.10.1791).

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constitutionnelle 33 repräsentierte somit nur noch einen Typus neben der contre-révolution armée 34 oder dem heraufbeschworenen Szenario eines Bürgerkriegs. Diese gleichzeitige funktionale Differenzierung und politischgesellschaftliche Radikalisierung illustriert eine Kontroverse, die sich 1791 der Abgeordnete François Dominique Reynaud de Montlosier vom côté droit mit dem Offizier Pierre Marie de Grave, einem erklärten Anhänger der Verfassung von 1791, lieferte. Montlosier veröffentlichte 1791 bei seinem Ausscheiden aus der Nationalversammlung ein Werk über die notwendige Revision der soeben verabschiedeten Verfassung mit dem Titel De la nécessité d’une contre-révolution en France. 35 Bei seinen Lesern konnte er die Bewegungskomponente des Begriffs voraussetzen, musste jedoch die Zielrichtung im Untertitel präzisieren: Pour rétablir les Finances, la Religion, les Mœurs, la Monarchie et la Liberté. Allerdings wollte Montlosier damit auf keine Wiederherstellung der ancienne constitution, sondern auf ein aristokratisches Zweikammersystem hinaus, was sich dem konstitutionellen Offizier Grave jedoch aus dem Titel nicht erschloss, da er den Begriff der contre-révolution nicht temporalisierte. Zudem vermisste er im Titel die Handlungsebene der contre-révolution und verlangte eine entsprechende Präzisierung: On voyoit, avant la révolution, l’état des finances désespéré, les mœurs pures comme à Rome, la liberté protégée par les lettres-de-cachet & de jussion. Ce n’est certainement pas là, Monsieur, ce que vous proposez de rétablir, je vous conseillerois donc de changer le titre de votre ouvrage, & il me paroîtroit

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Joseph Hyacinthe François de Paule de Vaudreuil an Emmanuel Louis Henri de Launay, Comte d’Antraigues, o. O. (16.6.1792), in: J. H. de VAUDREUIL: Correspondance intime du Comte de Vaudreuil et du Comte d’Artois, ed. Léonce Pingaud, Paris 1889, II 94. Journal général de France, Nr. 281 (8.10.1790), 1183; Mercure de France (7.8.1790), zit. nach BOUDON: La voie [28], 14 f. F. DE MONTLOSIER: De la nécessité d’une contre-révolution en France, pour rétablir les Finances, la Religion, les Mœurs, la Monarchie et la Liberté, Paris 1791; zu ihm PESTEL: Kosmopoliten [22] sowie M.-F. PIGUET: «Contre-révolution», «guerre civile», «lutte entre deux classes»: Montlosier 1755–1838 penseur du conflit politique moderne 2009, http:// asterion.revues.org/document1485.html (13.5.2020).

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Contre-révolution beaucoup plus convenable de dire: nécessité d’une contre-révolution par la guerre civile. 36

Montlosier ließ ein zweites Pamphlet folgen mit dem Titel: Des moyens d’opérer la contre-révolution. 37 Die Wahl des bestimmten Artikels war angesichts des Untertitels des Vorgängerwerks nicht mehr begründungsbedürftig; dafür stand nun der Prozesscharakter im Mittelpunkt. Montlosier entwarf hier eine frühe Theorie des revolutionären Bürgerkriegs: Opérer la contre-révolution bildete für ihn die gewaltsame Antwort auf die Gewalthaftigkeit der Revolution. Angesichts von Plünderungen und Proskriptionen durch Jakobiner und Republikaner müsse sich jeder Franzose im «duel d’une partie de la nation contre l’autre»38 positionieren. Die Kontroverse zwischen Montlosier und Grave erweist sich daher als symptomatisch für eine semantische Verschiebung des Konterrevolutionsbegriffs. Mit ihrer Verabschiedung trat 1791/92 die Verfassung deutlich in den Hintergrund gegenüber einer wachsenden bellizistischen Aufladung der contre-révolution als revolutionärer Bürgerkrieg.

2. Feindbild und Kampfbegriff im revolutionären Bürgerkrieg 1791/92‒1794 Die Assoziation von contre-révolution und guerre civile findet sich bereits seit den frühesten Begriffsverwendungen Ende 1789. Dabei galt der agonale Charakter einer contre-révolution zugleich als ihre Ausschlussbedingung. Das Risiko einer Niederlage würden selbst kalkulierende Revolutionsgegner, so die an sie herangetragene Erwartung, nicht auf sich nehmen: «Oui, citoyens, la contre-révolution est impossible sans une guerre civile, & la guerre civile, qui a du moins pour nous une chance avantageuse, celle de la victoire ne présente à nos adversaires que des pertes certaines». 39 36

37 38 39

P. M. de GRAVE: Lettre à M. de M[ontlosier]… sur son ouvrage intitulé: De la nécessité d’une contre-révolution en France, pour rétablir les Finances, la Religion, les Mœurs, la Monarchie et la Liberté, Paris 1791, 22. F. DE MONTLOSIER: Des Moyens d’opérer la contre-révolution, Paris 1791. Ebd., 15. Rév. Paris, Nr. 19 (14.11.1789 bis 21.11.1789); siehe auch P. V. MALOUET: La Voix du Sage, o. O. 1790, 9.

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Diese Einschätzung änderte sich mit der wachsenden Emigration, darunter viele Adlige und Offiziere, und insbesondere mit der Rekrutierung militärischer Emigrantenverbände an Rhein und Mosel durch die beiden jüngeren Brüder Ludwigs XVI. sowie den Prince de Condé. 40 Mit dem Feindbild der Émigrés, das deren inneren politischen Differenzen kaum Rechnung trug, verbanden sich die äußere und die innere Bedrohung Frankreichs durch eine contre-révolution. Aristocrates oder ehemalige Parlamentsräte, die Geld beiseiteschafften, um angeblich ausländische Truppen zu bezahlen, oder im Ausland geheime «congrès de principes contrerévolutionnaires» 41 abhielten, galten als ebenso suspekt wie die Princes, die sich mit ihrer Emigration 1789 bzw. 1791 offen gegen den konstitutionellen Kurs Ludwigs XVI. stellten: «Un de leurs grands défauts est d’agir comme s’ils étoient en révolution et comme s’ils n’avoient pas une Constitution.» 42 Gegenüber dem Ordnungsanspruch der Verfassung von 1791 samt ihrer Organe schien die konterrevolutionäre fermentation durchaus revolutionäre Formen anzunehmen, da ihr Erwartungshorizont ein anderer als die prekäre konstitutionelle Monarchie in Frankreich war. 43 Für Marat wurde die contre-révolution an Frankreichs Grenzen, die für ihn im Verdacht stand, über das ominöse comité autrichien mit dem Hof in Verbindung zu stehen, zur révolte bzw. zur rébellion gegen die Revolution. 44 Ein im Ami du Peuple erschienenes Tableau des contre-révolutionnaires unterschied kurz vor Kriegsausbruch im April 1792 zwischen den Emigranten um den zeitweilig in Koblenz in Gunst stehenden Calonne und die Princes, die Frankeich erobern und alle patriotes massakrieren wollten, sowie den Marquis de Breteuil in Verbindung mit nichtemigrierten Feuillants bzw. constituti-

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Dazu C. HENKE: Coblentz: Symbol für die Gegenrevolution. Die französische Emigration nach Koblenz und Kurtrier 1789–1792 und die politische Diskussion des revolutionären Frankreichs 1791–1794, Stuttgart 2000. Ami du Peuple, Nr. 470 (26.5.1791), 2 sowie Rév. Paris, Nr. 388 (6.4.1790). Corresp. secrète, II 565 (9.12.1791). Ebd., 552 (7.10.1791). Ami du Peuple, Nr. 466 (22.5.1791); Ami du Peuple, Nr. 463 (19.5.1791). Zum comité autrichien siehe M. HOCHEDLINGER: «La Cause de tous les maux de la France». Die «Austrophobie» im revolutionären Frankreich und der Sturz des Königtums 1789–1792, in: Francia 24 (1997), 73–120.

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onnels, deren Ziel die Restauration des Adels und der Parlements sowie ein legislatives Zweikammersystem seien. 45 Als sich 1791/92 eine militärische Intervention Preußens, Österreichs sowie in ihrem Gefolge der Emigranten stärker abzeichnete, beschrieb die Kategorie der contre-révolution das Umschlagen des Kabinettskriegs in einen revolutionären Bürgerkrieg, noch bevor die Revolutionsarmee im Herbst 1792 über Frankreichs Grenzen vorstieß. 46 Dabei bezog sich der Begriff wiederum in erster Linie auf den Einmarsch in Frankreich, nicht jedoch auf politische Ziele oder Programmatiken. 47 In dem Maße, wie 1792 die contre-révolution durch den Kriegsausbruch vom hypothetischen zum realen Szenario wurde, wuchs die ihr eingeschriebene Erfolgswahrscheinlichkeit. Ihre Akteure multiplizierten sich und wurden zugleich, so unspezifisch sie bereits zuvor gewesen waren, immer unschärfer. Neben dem Zusammenwirken innerer und äußerer Revolutionsfeinde, einschließlich des Königs, standen nun auch revolutionäre Akteure und Praktiken wie die «permanence des comités, des sections et des assemblées primaires» 48 im Verdacht, Instrumente des Hofes, der Emigranten oder der Koalition zur Herbeiführung der contre-révolution zu sein. Dabei schwand zugleich das Vertrauen in die revolutionäre Haltung der Volksmassen: «[F]aire opérer la contre-révolution par le peuple même» 49 wurde zum kaum beherrschbaren Risiko und zu einer schweren Hypothek für das politische Vertrauen der kriegführenden Revolution in ihre Trägerschichten, als sie sich im Sommer 1792 als Republik konstituierte. Die Phase vom Sommer 1792 bis zum Sommer 1794 brachte mit der starken Verdichtung der Ereignisse eine immer schärfer wahrgenommene Bedrohungslage. Gerade die als externalisierter Bürgerkrieg geführte Auseinandersetzung gegen die antifranzösische Koalition nach außen samt den um sich greifenden innerfran-

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Ami du Peuple, Nr. 629 (14.4.1792). Zum revolutionären Bellizismus siehe J. LEONHARD: Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914, München 2008, 131–167. Courrier des 83 départemens (10.9.1791). Corresp. secrète, II 579 (6.2.1792); für Ludwig XVI. AULARD: Jacobins, IV 39 (24.6.1792); Corresp. secrète, II 608 (13.7.1792). Ebd., 579 (6.2.1792).

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zösischen Erhebungen im Westen und Süden erweiterten einerseits bereits vorher zu beobachtende Gebrauchsmuster von contre-révolution. Andererseits lassen sich zunehmend asymmetrische semantische Verschiebungen beobachten: Dem Problem einer erneuten Erweiterung der Gruppen von Revolutionsfeinden in ungeahnter Dimension und damit einer als massiv wahrgenommenen Verschärfung der Bedrohungslage begegneten die revolutionären Akteure vor allem nach der Einsetzung des Wohlfahrtsausschusses und der Ausrufung der Terreur mit dem Versuch, über die Kategorie der contre-révolution Komplexitätsreduktion zu betreiben und scharfe Trennlinien zu ziehen: Die «ci-devant nobles, robinocrates, royalistes» wurden allesamt unter «aristocrates contre-révolutionnaires» 50 subsummiert – eine Binnendifferenzierung hätte 1793/94 selbst den Verdacht einer konterrevolutionären Position aufkommen lassen. Für Lyon forderte der Wohlfahrtausschuss unter dem doppelten Eindruck der föderalistischen Erhebung in der Stadt und der außenpolitischen Gefahrenlage, insbesondere durch die britischen Operationen an der Mittelmeerküste und über die neutrale Schweiz, alle «contre-révolutionnaires intérieurs» 51 zu «Emigranten» zu erklären und mit denselben Strafen von Besitzverlust über die Aberkennung aller zivilen Rechte bis hin zur Todesstrafe zu bedrohen wie die äußeren Revolutionsfeinde. Lösten sich in diesen Kategorisierungen mithilfe von contre-révolution die Grenzen von innen und außen weitgehend auf, folgten sie im Gegenzug einer zunehmend manichäischen Unterscheidung von Revolutionären und Revolutionsfeinden ohne Binnendifferenzierungen. Davon waren einerseits die «ci-devant modérés» betroffen, die zuerst mit den patriotes «une Révolution quelconque» gewollt hätten, jetzt jedoch aufseiten der aristocrates «la contre-révolution» anstrebten. 52 Andererseits genügten nun auch Kriterien wie Reichtum, um von den

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AULARD: Comité, VIII 116 (29.9.1793). Représentants en mission aus dem Departement Alpes, Antoine-François Gauthier, Edmond Dubois Crancé und Antoine-Louis Albitte, an den Wohlfahrtsausschuss, Grenoble (8.7.1793), in: AULARD: Comité, Suppl. I 423. Zu den Emigrantengesetzen M. RAGON: La législation sur les émigrés 1789–1825, Paris 1904. Kommissare im Lot und in der Dordogne an Bertrand Barère, Moissac (26.3.1793), in: AULARD: Comité, II 533.

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représentants en mission des Konvents pauschal als konterrevolutionär klassifiziert zu werden. 53 Im Extremfall reichte wie im Elsass für diesen Verdacht die Verwendung einer anderen Sprache als des Französischen. 54 Indem Revolutionsfeinden zunehmend ihre politische Daseinsberechtigung abgesprochen wurde, ließ sich im Extremfall die Unübersichtlichkeit der bisherigen Lager und Strömungen auf ein einziges reduzieren, nämlich das eigene: Ainsi on peut dire qu’il n’y a plus que deux partis: les contre-révolutionnaires et les révolutionnaires ou Jacobins. Il n’y a plus même qu’un parti, parce que les premiers n’oseront plus se montrer. 55

Morphologisch ermöglichte dieses manichäische Deutungsmuster eine zunehmende Verwendung des bestimmten Artikels: Der Kollektivsingular la contre-révolution erweist sich im Grunde als eine jakobinische Konstruktion nach dem Sturz der Monarchie sowie häufiger noch aus der Phase der Terreur. Dieser spezifischen Kontextgebundenheit des Begriffs haben weite Teile der Revolutionshistoriografie, die ihn anachronistisch für den gesamten Revolutionszeitraum und teils noch darüber hinaus verwendet haben, bislang kaum Rechnung getragen. Doch selbst im Falle des Kollektivsingulars von 1793/94 sind zwei grundlegende Differenzierungen notwendig. Erstens blieb contre-révolution ein Bewegungsbegriff, ein Prozess, der angesichts der aufgelösten Grenze zwischen inneren und äußeren Feinden sowie einer beschleunigten Wahrnehmung der Bedrohungslage der Republik stärker auf das Tagesgeschehen und folglich die Revolutionsbekämpfung konzentriert war als auf Programmatiken. Zudem nahm nach 1792 der Differenzierungsgrad ab: Aus republikanischer Sicht interessierten die vorherigen Debatten zwischen Monarchieanhängern verschiedener Couleur wenig. Auch das Schreckensbild des Ancien Régime spielte keine politische Rolle gegenüber der unmittelbaren Gefahr eines von einer äußeren Intervention begleiteten monarchischen Umsturzes zugunsten Ludwigs XVII.

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Journal républicain, Nr. 40 (30.3.1794), 275. Représentant en mission Nicolas Joseph Hentz an den Wohlfahrtsausschuss, Landau (7.6.1794), in: AULARD: Comité, XIV 211. Corresp. secrète, II 616 (17.8.1792).

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Contre-révolution fungierte fortan als Mobilisierungsbegriff, als eine Art umgekehrte levée en masse. Indem sie das Gewaltszenario einer Königsdiktatur mit inquisitionsähnlichen Verfolgungen, Zwangsabgaben und militärischen Einquartierungen evozierte, fürchtete die republikanische Seite zugleich die Gefahr einer neuen Bartholomäusnacht, bei der diesmal die Revolutionäre die Opfer sein könnten. 56 Zweitens gelang es selbst den Zeitgenossen nicht immer, die Feindbildkonstruktion der contre-révolution von den konkreten Akteuren zu abstrahieren. Das manichäische Reduktionsmuster stieß an Grenzen, wenn der Schritt von der politischen Selbstvergewisserung, auf der richtigen Seite zu stehen, zur konkreten Bekämpfung von Revolutionsfeinden vollzogen werden sollte. Schließlich wuchs das konterrevolutionäre Lager im Laufe der Terreur kontinuierlich an und erweiterte sich um immer mehr Gruppen, die zuvor aufseiten der Revolution geführt worden waren: Ab 1793 existierte somit auch eine contre-révolution girondine. 57 Kurz darauf ergab sich erneut eine paradoxe Konstellation: Bereits 1790 hatte Mallet du Pan, indem er den Standpunkt der révolution an die Verfassung koppelte, versucht, Verfassungsgegner auf der Linken als Konterrevolutionäre zu bezeichnen. Ab Ende 1793 führten die Auseinandersetzungen zwischen Robespierristen, Dantonisten und Hébertisten zu ähnlichen Auseinandersetzungen im jakobinischen Lager, die in den Vorwurf der «contre-révolution en bonnet rouge» 58 mündeten. Das darin enthaltene Misstrauen gegenüber der politischen Zuverlässigkeit der sans-culottes verwies auf eine immer unklarere Unterscheidbarkeit von Strategien und Mitteln: «[J]’ai cherché le contre-révolutionnaire dans la classe des cidevant nobles et des riches, et j’ai cru qu’il n’y en avoit point

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Rév. Paris, Nr. 195 (30.3.1793 bis 6.4.1793). Représentant aus dem Lot an den Wohlfahrtsausschuss, Montauban (6.12.1793), in: AULARD: Comité, IX 226. AULARD: Jacobins, V 569 (21.12.1793); Joseph de Bon, Représentant en mission im Nord-Pas-de-Calais, an den Wohlfahrtsausschuss, Béthune (23.12.1793), in AULARD: Comité, IX 605; Memorandum Mallet du Pans an Thomas Bruce, Earl of Elgin, Brüssel (8.3.1794): J. MALLET DU PAN: Mémoires et correspondances de Mallet du Pan pour servir à l’histoire de la Révolution française, ed. P. A. Sayous, Paris 1851, II 63.

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parmi la classe des laboureurs et des ouvriers». 59 Explizite mesures révolutionnaires 60 konnten unterschiedlichen und daher auch konterrevolutionären Zielen dienen, unabhängig davon, welchem politischen Lager oder welcher sozialen Schicht sie entstammten. Während des Machtkampfes zwischen Hébertisten und Robespierristen Anfang 1794 wurden letztlich die ultra-révolutionnaires zu contrerévolutionnaires. 61 In der Folge markierte der Höhepunkt der Terreur die Phase des weitesten Bezugsrahmens von contre-révolution, aber auch ihrer größten semantischen Unschärfe bis hin zur Austauschbarkeit mit dem Revolutionsbegriff. Damit entwickelte sich die contre-révolution im Bereich der politischen Sprache zur unmittelbaren Gefahr für die Revolution. Der Journalist Michel Edme Petit verortete dort ihre eigentliche wirklichkeitsprägende Kraft: Citoyens, il faut nous attacher à parler partout un même langage, et à nettoyer la langue française de toutes les expressions contre-révolutionnairement révolutionnaires par lesquelles il semble qu’on veuille nous immoraliser pour nous dominer plus aisément. Il faut donner aux mots que nous employons une signification précise et un sens tellement à la portée de tous les citoyens, qu’il ne soit plus possible de les tromper avec des mots. 62

Als Robespierre und seine Anhänger im Sommer 1794 selbst als Vertreter eines système contre-révolutionnaire 63 bezeichnet wurden, hatte die semantische Verfügbarkeit des Begriffs ihren Höhepunkt überschritten und konnte dadurch wieder an Profil gewinnen.

3. Einhegungsversuche nach Thermidor und unter dem Direktorium 1794‒1799 Die Übergangsphase vom Sturz Robespierres und der Entmachtung des Wohlfahrtsausschusses bis zum Inkrafttreten der Direktorialver59 60

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Journal républicain, Nr. 40 (30.3.1794). Représentant en mission Florent Guiot an den Wohlfahrtsausschuss, Dünkirchen (2.7.1794), in: AULARD: Comité, XIV 664. Journal républicain de Marseille, Nr. 56 (27.1.1794). Entendons-nous, ouvrage périodique, Nr. 1 (Frühjahr 1794), 7, zit. nach: R. REICHARDT: Einleitung, in: HPSG 1/2, 1985, 39–148, hier 45. Guiot, Représentant à l’Armée du Nord, an den Wohlfahrtsausschuss, Boulogne-sur-Mer (20.8.1794), in: AULARD: Comité, XVI 237; Wohlfahrtsaus-

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fassung 1795 stand im Zeichen des Versuchs, den stark geweiteten und vor allem zunehmend unkontrollierten Gebrauch von contrerévolution wieder einzuhegen. In den ersten Monaten nach Thermidor richteten sich entsprechende Initiativen weniger nach rechts in Richtung deklarierter oder imaginierter Monarchieanhänger, sondern nach links in Richtung der Jakobiner und revolutionären Volksmassen. Vertreter des gesäuberten Nationalkonvents beanspruchten für sich, aus der Radikalisierungslogik der als «partisans de la contre-révolution» 64 klassifizierten Hébertisten und Robespierristen auszubrechen. Politische Biografien wie die des Pariser «exvicaire» Chassaud, der erst Feuillant, dann Fayettiste, Brissotin, Hébertiste und schließlich robespierreot, somit «définitivement contre-révolutionnaire décidé» 65 gewesen sei, galten als suspekt. Contre-révolution war für die weiter in den Departements aktiven Repräsentanten des Konvents gleichbedeutend mit Tyrannei, allerdings nicht mehr monarchischer oder gar absolutistischer Natur, sondern in Bezug auf die vermeintlich überwundene Terreur. 66 Angesichts dieser weitgehenden Fixierung auf die Gefahr einer jakobinischen contre-révolution musste Boissy d’Anglas, einer jener Parlamentarier, die zwischen den Generalständen und dem napoleonischen Sénat conservateur in praktisch allen legislativen Organen saßen, 67 im Nationalkonvent noch einmal an jene contrerévolutionnaires erinnern, die vor allem in der Emigration weiter den Plan verfolgten, pas seulement […] de ramener la révolution aux premières années de son histoire, mais de nous reporter aux temps les plus affreux de la plus exécrable tyrannie royale; ce ne serait pas seulement à la royauté que la France serait reconduite, mais à toute l’horreur de l’ancien régime. 68

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chuss an François-René-Auguste Mallarmé, Représentant in der HauteGaronne und im Gers, Paris (1.9.1794), ebd., 457. Pierre-Laurent Monestier, Représentant in den Landes, den Hautes und Basses Pyrénées, an den Wohlfahrtsausschuss, Tarbes (17.11.1794), in: AULARD: Comité, XVIII 205 f. Messager du soir (28.8.1794), in: AULARD: Réaction, I 65 f. Jean Mailhe, Représentant en mission in der Yonne und der Côte-d’Or, an den Nationalkonvent, Sens (27.5.1795), in: AULARD: Comité, XXIII 616. Zu diesen Karrierekontinuitäten W. GIESSELMANN: Die brumairianische Elite. Kontinuität und Wandel der französischen Führungsschicht zwischen Ancien Régime und Julimonarchie, Stuttgart 1977. Moniteur, Nr. 173 (13.3.1795).

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Dass er das Szenario jedoch in erster Linie strategisch zur Bewusstseinsschärfung bemühte, statt ihm einen realen Gehalt zuzuschreiben, bestätigt auch hier den Vorrang des politischen Prozesses der Revolutionsbekämpfung vor den konkreten Zielen. Umgekehrt hielten überlebende Vertreter eines radikalen Jakobinismus wie Collot d’Herbois und Billaud-Varenne den Thermidorianern im Konvent vor, selbst la contre-révolution zu sein. 69 Für radikale Außenseiter wie den sozialrevolutionären «Volkstribun» Babeuf hielt die Begriffsverwirrung an. Als Betroffener der während der Terreur beschlossenen Einschränkung der Pressefreiheit machte er daran die Frage fest, ob es sich bei den seit fünf Jahren laufenden Umwälzungen noch um Revolution oder nicht vielmehr Konterrevolution handelte, in die sie seit der Terreur umgeschlagen sei, 70 zumal die früheren Revolutionäre jetzt offiziell «anarchistes, fâcheux, désorganisateurs» hießen: «Mais c’est par une de ces contradictions toutes semblables à celle qui leur fait appeler révolution la contre-révolution.» 71 Charakteristisch für die umgekehrten semantischen Verknüpfungen nach Thermidor war, dass dieselben politisch-performativen Akte, insbesondere die revolutionären journées, vollkommen unterschiedlich beurteilt werden konnten. Auf dieses Paradox hatten die Annales patriotiques bereits 1793 hingewiesen: Erhoben sich die Volksmassen auf Aufforderung der autorités établies, die die Revolution für close erklärt hatten, so war dies eine legitime politische Handlungsform. Erhob sich das Volk dagegen spontan, handelte es konterrevolutionär. 72 In dem Maße, wie spätestens mit dem Vendémiaire-Aufstand die postthermidorianische Ordnung auch von royalistischer Seite infrage gestellt wurde, kamen die älteren attributiven Bestimmungen von contre-révolution wieder zum Tragen. Die während der Terreur insignifikante Differenzierung einer «contre-révolution royaliste ou aristocratique» 73 erhielt wieder eine semantische Relevanz.

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Messager du soir (21.11.1794), in: AULARD: Réaction, I 264. Journal de la liberté de la presse, Nr. 2 (5.9.1794). La Tribune du Peuple, Nr. 36 (11.12.1795). Ann. patriotiques, Nr. 84 (25.3.1793). À bas les brigands, Nr. 17 (16.11.1794).

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Nach der Inkraftsetzung der Verfassung des Jahres III und der Übernahme der Exekutivgewalt durch das Direktorium setzte sich der Einhegungsprozess fort. Für Babeuf, der wenig später den Aufstand probte, bedeutete die Institutionalisierung einer révolution faite seitens der «puissans du jour» einmal mehr ihr Gegenteil: Qu’ils disent donc plutôt la contre-révolution! La révolution, encore une fois, est le bonheur de tous, c’est ce que nous n’avions pas […] La contre-révolution, est le malheur du grand nombre, c’est ce que nous avons, c’est donc la contrerévolution qui est faite. 74

Wie vergleichsweise erfolgreich die neuen Verfassungsinstitutionen den Begriff jedoch wieder in Bezug zur existierenden konstitutionellen Ordnung setzen konnten, zeigt die Aufnahme von contrerévolution in das französische Wörterbuch des Göttinger Universitätsdozenten Leonhard Wilhelm Snetlage: Ce terme nouveau par sa composition signifie en France le renversement violent non seulement de la première Constitution, qui rendit la France Monarchie constitutionnelle, mais aussi de la dernière, qui rendit son Gouvernement républicain et populaire. 75

Noch zugespitzter findet sich diese Kopplung des Begriffs an das staatliche Gewaltmonopol in der deutschen Definition der Verbalform: Contre-révolutionner bedeutete für Snetlage ganz konkret «der neuen Constitution entgegenarbeiten», 76 auch hier wieder als Prozess, nicht als dessen Ziel. Hinsichtlich der Erfolgswahrscheinlichkeit eines solchen Prozesses gab sich Snetlage ebenfalls ganz auf der Linie des Direktoriums: «Dès que Robespierre et les Jacobins ont disparu sur le grand Theatre révolutionnaire, les souffles contre-révolutionnaires ont disparu». 77 Spielte der Begriff in der zweiten Hälfte der 1790er Jahre bei abnehmender Frequenz tatsächlich keine prominente Rolle mehr im Zusammenhang mit einem jakobinischen Umsturz, erfuhr er eine umso deutlichere Konjunktur aufseiten der Monarchisten. In dem Maße, wie die entsprechenden Projekte und Debatten das revolutionäre Frankreich eng mit der Emigration verzahnten, werden sie im An74 75 76 77

La Tribune du Peuple, Nr. 36 (10.12.1795). SNETLAGE (1795), 49 f. Ebd., 50 f. Ebd., 49 f.

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schluss behandelt. An dieser Stelle ist noch auf die offiziellen lexikografischen Weihen hinzuweisen, die der Konterrevolutionsbegriff als einer von 418 Neologismen in der 1798 erschienenen, aber schon vor der Revolution redaktionell weitgehend abgeschlossenen fünften Auflage des Wörterbuchs der Académie française erhielt. Die großen Intervalle zwischen den Auflagen – die letzte lag 36 Jahre zurück – hatten zur Folge, dass das Wörterbuch nur bedingt auf lexikalischsemantische Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit, geschweige denn tagesaktuelle Tendenzen, reagieren konnte. Angesichts dessen, dass das Lemma révolution 1798 auf die Ereignisse seit 1789 überhaupt keinen Bezug nahm, sondern als jüngsten Beleg die antiaristokratische Revolution Gustavs III. in Schweden anführte, 78 fand der neologistische Gegenbegriff zwar keine anachronistische Verwendung, blieb aber abstrakt. Das Akademie-Wörterbuch definierte contre-révolution als «Seconde révolution en sens contraire de la première, et rétablissement des choses dans leur état précédent» und contre-révolutionnaire als «Ennemi de la Révolution, qui travaille à la renverser, etc.» 79 Damit sanktionierte die Akademie einerseits das zentrale semantische Charakteristikum des Begriffs, seinen Prozesscharakter, verwies jedoch ebenso auf dessen Zielpunkt, den Status quo ante. Entscheidend und konsequent in der Begriffsverwendung der 1790er Jahre ist dabei jedoch, dass dieser nicht auf das Ancien Régime festgelegt wurde, sondern relational blieb. Wo 1798 die contre-révolution enden sollte, hing davon ab, wo der état précédent begann; aus Sicht des Direktoriums war dies die Verfassung des Jahres III.

II. Contre-révolution zwischen Referenz- und Exklusionsbegriff in der französischen Emigration in den 1790er Jahren Angesichts des weitgehenden Desinteresses der Revolutionsforschung an einer differenzierten Analyse politischer Positionen und Möglichkeitshorizonte von Revolutionsgegnern blieb die Begriffs78 79

I. ALBARET: Les mots de la Révolution, Paris 1987, 44. Ebd., 22.

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verwendung von contre-révolution in der französischen Emigration bislang großenteils ausgeblendet. 80 Dabei waren es die Emigranten, die den Begriff nicht als Feindbild, sondern zur Diskussion ihrer Handlungsoptionen prominent verwendeten und auch positiv besetzten. Zugleich grenzten sie sich über unterschiedliche Aufladungen von konkurrierenden Aneignungsversuchen ihrer Exilgenossen ab. Mithilfe der von Montlosier getroffenen Unterscheidung zwischen einer France du dehors der Emigranten und einer France du dedans des revolutionären Frankreichs lässt sich für den Kommunikationsraum der Emigration herausstellen, dass dieser sowohl in einem antagonistischen als auch komplementären Verhältnis zur revolutionären patrie stand. 81 Diese Ambivalenz trifft zunächst für Emigrationsmotive und -bewegungen sowie für personelle und kommunikative Verflechtungen zu. Zahlreiche Emigranten hatten zu den Protagonisten der frühen Revolutionsphasen gezählt, sich an den ersten Kontroversen um contre-révolution beteiligt und waren keineswegs bereits 1789, sondern oft erst 1791/92 emigriert. 82 Darüber hinaus blieb die France du dedans der eigentliche Orientierungsrahmen der Emigranten. In dem Maße, wie das Exil über die 1790er Jahre ein Provisorium mit lediglich allmählichen Verschiebungen der Erwartungshorizonte einer baldigen Rückkehr nach Frankreich blieb, erwies sich contre-révolution als eine handlungsleitende Kategorie, konnte sie doch nur in der France du dedans stattfinden. Entsprechend hing ihr Gelingen von zahlreichen Risikofaktoren ab, die die Emigranten nur bedingt kontrollieren konnten bzw. die Anlass zu heftigen Kontroversen über die Möglichkeiten d’opérer la contre-révolution boten. Entsprechend bekannten sich Emigrantengruppen unterschiedlicher politischer Couleur zwar zur Kategorie der contre-révolution, übernahmen jedoch nicht den Ausdruck contre80

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Symptomatisch dafür MARTIN (ed.): Dictionnaire [3], das einem begriffsrealistischen Verständnis von contre-révolution verhaftet bleibt. F. DE MONTLOSIER: Souvenirs d’un émigré (1791–1798), ed. Comte de Larouzière-Montloier und E. d’Hauterive, Paris 1951, 146. Siehe K. RANCE: L’historiographie de l’émigration, in: P. BOURDIN (ed.), Les noblesses françaises dans l’Europe de la Révolution, Rennes/Clermont-Ferrand 2010, 355–268; PESTEL: Kosmopoliten [22]; DERS.: Französische Revolutionsemigration nach 1789. Europäische Geschichte Online (2017), http://www.ieg-ego.eu/pestelf-2017-de (13.5.2020).

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révolutionnaires als Selbstbezeichnung, der sie revolutionären wie internen Stigmatisierungen ausgesetzt hätte. Die politischen Entwicklungen in der France du dedans zusammen mit dem europäisch-atlantischen Verlauf der Revolutionskriege bestimmten dabei die Dynamiken der Debatte.

1. Der Minimalkonsens der contre-révolution: réforme des abus War bereits auffällig, dass in den revolutionären Debatten die explizite Wiederherstellung des Ancien Régime keine konstitutive semantische Rolle spielte, sondern gelegentlich gezielt strategisch eingesetzt wurde, so gilt dieser Befund für die Emigration nicht minder. Diese Unschärfe des Zielhorizonts von contre-révolution schließt die Anhänger der ancienne constitution, im Exil häufig royalistes genannt, explizit mit ein. Sie ist nicht zuletzt Ausdruck von Emigration als Marginalisierungserfahrung: Zwar fanden sich unter den royalistes, ähnlich wie zuvor auf dem côté droit der Assemblée constituante, Anhänger einer Monarchie absolutistischer oder stärker vorabsolutistischer, provinzialständischer Prägung, die sich über Inhalte der von ihnen reklamierten ancienne constitution immer wieder erst verständigen mussten. 83 Doch lief eine Auseinandersetzung über diese Fragen in der Emigration stets Gefahr, den ohnehin geschwächten und in Bezug auf die Koalitionsmächte stark schwankenden politischen Einfluss vollends zu unterminieren. Konkurrierende Emigrantengruppen, darunter auch konstitutionelle Monarchieanhänger, versuchten daher immer wieder, ihre internen Kontroversen zugunsten von situativen Allianzen zu vertagen, um nicht durch die Auseinandersetzung über den Zielhorizont die Handlungsspielräume von contre-révolution nachhaltig zu beschneiden. Dies galt umso mehr, als die Öffentlichkeit der Emigration die politischen Entscheidungsträger und Lesepublika der Koalitionsmächte mit einschloss. 84 83

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Für die politischen Strömungen innerhalb der Emigration PESTEL: Kosmopoliten [22], 153–209. S. BURROWS: French Exile Journalism and European Politics 1792–1814, Woodbridge 2000; F. PESTEL: Emigration als Kommunikationsereignis. Die europäisch-amerikanische Rezeption der monarchiens während der

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Gerade für royalistes bestand die provisorische Lösung dieses Dilemmas in der Einhegung des Sprechens über gewünschte oder notwendige politische Veränderungen mittels der Minimalformel moins les abus. Den Ton der Debatte gab 1791 Calonne vor, der damit seinen Einfluss bei den Princes in Koblenz konsolidieren wollte und folglich ein Interesse daran hatte, die Brüder Ludwigs XVI. als anerkanntes politisches Zentrum der Emigration zu etablieren: [Q]ue faut-il faire ? – Une contre-révolution ? Oui, si par ce mot on entend les efforts réunis des bons citoyens pour ramener l’ordre en France, pour en bannir l’anarchie, pour faire cesser l’usurpation tyrannique d’une poignée de démagogues […], pour rendre au roi l’autorité qui appartient à tout monarque, et qui est nécessaire en tout état policé; enfin pour faire rentrer la nation dans ses droits […]. Non, si l’effet de la contre-révolution devoit être de faire revivre les anciens abus, de dépouiller la nation de ses droits légitimes, et de la priver de la juste mesure de liberté dont elle doit jouir, des avantages que sa majesté elle-même lui avoit assurés, et du bienfait précieux d’une bonne et solide constitution. Dans ce dernier sens j’abhorre tous projets anti-révolutionnaires; et je proteste qu’il n’y a ni dans mes sentimens, ni dans mes propositions, rien qui tende à frustrer la nation de ce qu’elle a droit d’espérer des intentions du roi et de l’exécution des cahiers. 85

Gerade der Verweis auf die cahiers de doléances von 1788/89 erwies sich als taktisch geschickte Leerformel, da diese insbesondere dem enttäuschten alteingesessenen Provinzadel Anknüpfungspunkte bot, auch wenn dessen Vertreter aus ihren unmittelbaren politischen und materiellen Interessen heraus teils deutlich radikalere Positionen bezogen als der Hofmann Calonne: Je crois connaître l’opinion la plus généralement répandue parmi nous. On désire le retour illimité du vrai gouvernement français avec la réforme des abus de l’ancien régime d’administration, telle à peu près que la demandaient les cahiers. 86

Die abus-Formel wurde umso bedeutender, als sich mit der Absetzung und Hinrichtung Ludwigs XVI. die Gelingensbedingung der

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Französischen Revolution, in: Archiv für Kulturgeschichte (2014), 299– 340. C. A. de CALONNE: De l’état de la France, présent et à venir, London 1791, 442. Quelques réflexions, sur le dernier ouvrage de M. Mallet du Pan, ayant pour titre, Considérations sur la Nature de la Révolution de France & sur les Causes qui en prolongent la durée, o. O. 1793, 12 f.

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contre-révolution von einer ‒ gewünschten oder befürchteten – contre-révolution constitutionnelle 87 zu einer restauration verschoben hatte. Nach dem Kriegseintritt Österreichs und Preußens 1792, und spätestens mit der Kriegserklärung der Französischen Republik an Großbritannien 1793, kam es aufseiten der Emigranten darauf an, bei den Koalitionsmächten den Eindruck zu zerstreuen, gegen die Republik allein für eine Wiederherstellung des Ancien Régime zu Felde zu ziehen: Ce n’est point par ce qu’on appelle très improprement une contre-révolution, mais par la restauration du gouvernement légal de la France, que les puissances étrangères obtiendront les résultats qu’elles peuvent désirer, savoir: indemnités pour le passé, sûretés pour l’avenir, anéantissement de la doctrine qui menace tous les gouvernements, garantie générale pour la tranquillité intérieure et extérieure des États, le retour de l’ordre en France au retour de ce qu’on transaction sur plusieurs objets de litige ou de jalousie. 88

Die Rückkehr des Dauphins als Ludwig XVII. bzw. nach dessen Tod des Comte de Provence als Ludwig XVIII. auf den Thron bedeutete jedoch noch nicht, dass sie automatisch als «une salutaire contrerevolution» 89 stattfand.

2. Gegen die contre-révolution complète: konstitutionelle Positionen Die Minimalformel moins les abus erwies sich für die Selbstvergewisserungen des royalistischen Lagers der Emigration als funktional. Sie fand jedoch ihre Grenzen bei denjenigen Emigrantengruppen, die die ancienne constitution explizit ablehnten bzw. ihre Bereinigung oder Verbesserung als unzureichend ansahen und stattdessen auf einem geschriebenen Verfassungstext mit klar definierten Verfassungsinstitutionen und einem System der Gewaltenteilung be87

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89

Calonne an Valentin de Esterhazy, o. O. (9.6.1792); The National Archives Kew (TNA), F. O. 95/632, Nr. 36; Vaudreuil an Antraigues, o. O., (16.6.1792), in: VAUDREUIL: Correspondance intime [33], II, 94. Anonymes Memorandum, Juni 1793, in: F. DESCOSTES: La Révolution française vue de l’étranger 1789–1799. Mallet du Pan à Berne et à Londres, d’après une correspondance inédite, Tours 1897, 246 f. Cabinet du Roi an François Henri d’Harcourt, Riegel (2.5.1796), Archives des affaires étrangères La Courneuve (AAE), MD France 609, fol. 13’.

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standen. Die constitutionnels als Befürworter der Verfassung von 1791 am linken Rand des monarchischen Spektrums der Emigration hielten sich aus der Debatte um contre-révolution weitgehend heraus. Zu gering waren die politischen Schnittmengen mit den royalistes, als dass sie nicht statt auf eine äußere Intervention, eher auf die antijakobinischen Kräfte in Frankreich selbst setzten. Talleyrand formulierte gegenüber Germaine de Staël diese Position pragmatisch: J’en suis absolument à vos idées sur notre situation actuelle. Plusieurs années à ne pas faire autre chose que vivre. S’il y avait une contre-révolution dans notre sens, s’en mêler; s’il y en a quelqu’autre, attendre. Je les ai toutes dans le cœur, mais il n’y a qu’une dans laquelle nous puissions être actifs. 90

Entsprechend niedriger lag die Schwelle für die constitutionnels, sich nach 1795 mit dem Direktorium zu arrangieren und schneller nach Frankreich zurückzukehren als die meisten ihrer royalistischen Exilgenossen. Erhebliche Bedeutung in der semantischen Besetzung des Konterrevolutionsbegriffs gewannen die monarchiens, also jene Vertreter einer Zweikammermonarchie vom Sommer 1789, die nun in der Emigration an der Monarchie unvermindert festhielten. Allerdings erblickten sie in der ancienne constitution das Fanal des Scheiterns der contre-révolution, nicht nur hinsichtlich ihrer eigenen politischen Ziele, sondern vor allem mit Blick darauf, dass die Restauration der Monarchie im republikanischen Frankreich stattfinden musste. In den Einhegungsbemühungen von royalistes und Exilmonarchie um die réforme des abus sahen sie folglich selbstreferenzielle Spiegelfechtereien, die in ihren Nuancen den politischen Kräfteverhältnissen in der republikanischen France du dedans keine Rechnung trugen. Im Gegenzug handelten sie sich vonseiten der royalistes Kritik ein, den Begriff monopolisieren zu wollen, «que la contre-révolution soit pour eux seuls», 91 um die politischen Belohnungen im Erfolgsfalle ebenfalls für sich zu beanspruchen. 90

91

Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord an Germaine de Staël, High Wycombe (8.11.1793), in: DERS: Lettres de M. de Talleyrand à Madame de Staël, ed. J.V.A. de Broglie, in: Revue d’histoire diplomatique 1890, 79– 94, hier 90. C. J. HUET DE FROBERVILLE [?]: Réplique à la réponse de M. le comte de Lally-Tollendal, o. O. 1793, 109; ebenso E. ANTRAIGUES: Mémoire sur la

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Zum wachsenden Einfluss der monarchiens in der Emigration trug bei, dass sie sich nach dem Sturz der Monarchie erfolgreich als Revolutionsanalysten in der britischen, österreichischen und Schweizer Frankreichdiplomatie etablierten, auch vom Exilhof immer wieder konsultiert wurden und mit ihren aufeinander abgestimmten Memoranden, Korrespondenzen und politischen Broschüren die ancienne constitution immer stärker aus dem politischen Möglichkeitshorizont verbannten. 92 Diese Strategie fand u. a. Widerhall bei Calonne, der seiner privilegierten Stellung bei den Princes mittlerweile wieder verlustig gegangen war und, zurück im Londoner Exil, auch mit den monarchiens Fühlung aufnahm: Si, par une imprudence dont les bons Français ne peuvent que gémir […], on a plus consulté ses desirs que ses moyens, en attachant strictement l’appelle l’ANCIENNE CONSTITUTION sans aucun changement, ce qui, dans l’idée factice du plus grand nombre des François, signifie le retour des anciens abus, nous ne prétendons pas que les Anglois soient tenus de se battre éternellement pour vaincre une répugnance nationale. 93

Für Mallet du Pan, der als ehemaliger Redakteur des Mercure de France Möglichkeiten und Grenzen des Konterrevolutionsbegriffs am weitesten analysierte, war es das zentrale Anliegen, immer wieder dessen Prozesscharakter herauszustellen und bei der Wahl der politischen Mittel flexibel zu bleiben. Vor seiner Emigration hatte er als oppositioneller Journalist die fehlende Konkretheit eines «mot à l’aide duquel chacun peut battre la campagne, & divaguer mille ans avant de rencontrer un fait, ou une idée juste» 94 noch beklagt. In der Emigration und nach dem Sturz der Monarchie warnte er seinen Verbindungsmann am Exilhof vor einer vorzeitigen Festlegung auf die Ziele der contre-révolution, die eigenen miteingeschlossen: La contre-révolution peut se faire de plusieurs manières différentes: le Gouvernement futur sera donc le resultat nécessaire et forcé de celle qui aura prévalu.

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94

Régence de Louis-Stanislas-Xavier, Fils de France, oncle du Roi & régent de France, Paris 1793, 56. PESTEL: Kosmopoliten [22]. C. A. de CALONNE: Tableau de l’Europe, en Novembre 1795, London 1795, 81 f. Journal historique et politique (18.2.1792).

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Déclarer à l’avance qu’on veut l’ancien regime ou rien, les deux Chambres, les trois ordres ou rien, la monarchie pure ou la monarchie mixte, tout cela est à mes yeux, de la part des absens un véritable enfantillage d’amour propre. 95

Mallet du Pans monarchiens-Kollege Montlosier bemühte die antike Mythologie, um klarzustellen, dass die Temporalität der contrerévolution angesichts der revolutionären Dynamiken keine retrospektive sein könne: «Lorsqu’Orphée alla chercher Eurydice aux enfers, les Dieux lui prescrivoient de ne point regarder en arriere, c’est l’emblême d’une contrerévolution.» 96 Innerhalb dieses flexiblen Schemas hielten sich die monarchiens die konkrete Wahl der Mittel offen und kamen nach dem Scheitern der Herbstfeldzuges 1792 und dem Vorrücken der Revolutionstruppen 1793/94 ihren royalistischen Konkurrenten entgegen, indem sie die Mobilisierung der Alliierten in den Vordergrund rückten. Das politische Grundverständnis blieb jedoch davon geprägt, die contre-révolution stets denjenigen Trägergruppen anzupassen, «qui y travailleroient utilement». 97 Denn das größte Risiko einer contrerévolution opérée war, dass sie auch scheitern konnte, mit dem Ergebnis einer Stärkung der Revolution: «On ne s’occupe, on ne s’agite, on ne dispute que sur ce qu’il faudra faire après la ContreRévolution. Eh! commençons par la faire, et travaillons à la faciliter.» 98 Ludwig XVIII. musste seinerseits, gerade in den späteren 1790er Jahren, Sorge tragen, dass sich angesichts alternativer monarchischer Optionen, wie aus dem Hause Orléans oder gar ein ausländischer Kandidat, die contre-révolution nicht «sans moi»99 vollzog. Die Erfahrung des Ersten Koalitionskrieges zeigte jedoch auch,

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97 98 99

Mallet du Pan an C.E.G. de La Croix de Castries, Brüssel (6.10.1793), Bibliothèque de Genève (BGE), Ms. suppl. 866. Note Montlosiers an F. C. de Mercy-Argenteau (16.4.1794), Österreichisches Staatsarchiv Wien (ÖStA), Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA), Frankreich Varia 50. Mallet du Pan an John Trevor, o. O. (12.8.1794), TNA F. O. 67/15. Mallet du Pan an Castries, Brüssel (8.7.1793), BGE Ms. suppl. 866. Lettres et instructions de Louis XVIII au comte de Saint-Priest, Paris 1845, 89; zu seinen Positionen in den 1790er Jahren P. MANSEL: From Exile to the Throne: The Europeanization of Louis XVIII, in: P. MANSEL / T. RIOTTE (ed.): Monarchy and Exile. The Politics of Legitimacy from Marie de Médicis to Wilhelm II, Basingstoke 2011, 181–213; PESTEL: Monarchiens [18].

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dass, selbst wenn in Frankreich die patrie en danger eine Verschärfung der Terreur rechtfertigte, auf emigrantischer Seite noch nicht alle Optionen für die contre-révolution erschöpft waren. 100 Seine zuvor in Memoranden für die Alliierten entwickelten systematischen Überlegungen zur contre-révolution ließ Mallet du Pan 1793 in seine Considérations sur la nature de la révolution de France einfließen. 101 Sie avancierten zu einer der in Europa und Nordamerika meistgelesenen Emigrationsschriften, wurden vielfach übersetzt und lösten eine ganze Reihe von Repliken aus. In den Considérations forderte Mallet du Pan eine entschlossene militärische Antwort der europäischen Monarchien auf den ideologisierten Massenkrieg der Revolution – eine Antwort, die sich gegen die Revolutionäre, nicht aber gegen Frankreich als solches richte. Zugleich stellte er gegenüber seinen über ganz Europa verstreuten Exilgenossen nunmehr öffentlich heraus, dass das Ziel dieser Offensive nicht in einer Wiederherstellung des Status quo ante 1789 bestehen könne. Eine zentrale Rolle spielte dabei der didaktische Einsatz des Konterrevolutionsbegriffs, den Mallet du Pan taktisch aus der Perspektive der France du dedans definierte: mot qui impliquant le rétablissement absolu de tout ce qui a été changé ou aboli, devait être proscrit au moins par la prudence, et qui, devenu le signal du fanatisme, a donné plus de bras à la République que la cocarde tricolore […] le retour illimité de l’ancien régime, perpétuellement réclamé pour le malheur de ceux qui le réclament sans modifications. 102

Die didaktische Absicht ging durchaus auf: Mallet du Pan provozierte Repliken seiner royalistischen Widersacher, die zumindest

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Siehe im folgenden Abschnitt. E. PELZER: Jacques Mallet du Pan ‒ Betrachtungen über die Natur der Französischen Revolution, in: DERS. (ed.): Revolution und Klio. Die Hauptwerke zur Französischen Revolution, Göttingen 2004, 17–36; PESTEL: Emigration [84]; R. REICHARDT: Die Revolution – «ein magischer Spiegel». Historisch-politische Begriffsbildung in deutsch-französischen Übersetzungen, in: H.-J. LÜSEBRINK / R. REICHARDT, zus. mit Annette KEILHAUER & René NOHR (ed.): Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich-Deutschland 1770 bis 1815, Leipzig 1997, 883–999, hier 959– 967. J. MALLET DU PAN: Considérations sur la nature de la révolution de France, et sur les Causes qui en prolongent la durée, London/Brüssel 1793, 50 f.

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den Minimalkompromiss moins les abus erneuerten und ihn zum Ausgangspunkt eventueller weiterer Zugeständnisse werden ließen. So verteidigte sich der Chevalier de Guer insbesondere gegen den durchsichtigen Vorwurf, die royalistes contre-révolutionnaires wollten die verhasste Zwangssteuer auf Salz wieder einführen: Non, Monsieur: quoique vous en disiez, personne en France ne croit que le mot Contre-révolution implique le rétablissement de la Gabelle […]. Le mot Contre-révolution, comme […] le savent […] tous les Français, exprime des idées fort différentes de celles que vous supposez. Toutes les fois que nous le prononçons, nous disons aux Révoltés et aux Spoliateurs: Rendez au Roi sa couronne et ses prérogatives; rendez-nous nos droits et nos propriétés; et conservez les vôtres. Dites maintenant, si cette expression peut irriter quiconque n’est pas un Régicide ou un frippon? et convenez que ce n’est pas le mot Contre-révolution, mais le rétablissement de l’ordre public, dont l’idée effraye les scélerats, intéressés au maintien de l’Anarchie. 103

Wie diese in der Emigration weit ausgreifende Kontroverse allen Beteiligten und dem frankophonen Lesepublikum vor Augen führte, bestand zwischen royalistes, monarchiens und Exilmonarchie weiterhin Uneinigkeit, welchen Weg Frankreich nach dem Sieg über die Revolution einschlagen sollte. Als Ergebnis des Schlagabtauschs kristallisierte sich aber auch heraus, dass diese lähmende Frage aus dem Begriff möglichst ausgeklammert bleiben sollte.

3. Une révolution contre la Révolution: konterrevolutionärer Bellizismus Die manichäische Ausweitung und zugleich semantische Verwässerung des Konterrevolutionsbegriffs in der France du dedans während der Terreur hatte heftige Reaktionen in der Emigration zufolge. Während seit der Proklamation der Republik und massiv unter der Herrschaft des Wohlfahrtsausschusses potenziell alle politischen, sozialen oder regionalen Gruppen zu contre-révolutionnaires erklärt werden konnten, avancierte contre-révolution in der Emigration 1792/93 zum positiv besetzten und semantisch konturierten Kampfbegriff: Sie wurde in der Formulierung Montlosiers 103

J. H. de GUER: Réponse à l’ouvrage de Mr. Mallet du Pan, intitulé: Considérations sur la nature de la Révolution en France, London/Lüttich 1794, 47–49.

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zur «révolution contre la révolution», der Prozess der Revolutionsbekämpfung zu einer eigenen Form von Terreur. 104 Erste Überlegungen zu contre-révolution als Gewalttaktik, um den Fortgang der Revolution aufzuhalten, finden sich bereits in den letzten Monaten der Monarchie. Sowohl in Paris im Umfeld der Königsfamilie als auch aus der Emigration heraus wurden in dieser Phase Projekte für eine befristete Königsdiktatur, ähnlich wie die Diktatur in der römischen Republik im Falle eines drohenden Bürgerkriegs oder der Gefahr einer äußeren Invasion ausgerufen werden konnte, diskutiert. 105 Damit sollten alle oppositionellen Strömungen, sofern sie sich zur contre-révolution bekannten, vereint werden, ungeachtet ihrer früheren Differenzen. Für konstitutionelle Monarchisten wie die monarchiens bedeutete diese Option einen schwierigen Kompromiss. Doch bewerteten sie angesichts der grundsätzlichen Bedrohung der Monarchie die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung höher als konstitutionelle Freiheiten, wohingegen die royalistes in der Diktatur eine Brücke zur ancienne constitution sehen konnten. Da der ursprünglich angestrebte Verfassungsrevisionsprozess im Frühjahr und Sommer 1792 angesichts des Drucks der politischen Klubs und der Volksmassen auf die Königsfamilie kaum mehr Erfolgsaussichten besaß, wurde die Kriegserklärung vom April 1792 zum Vehikel der Rettung der Monarchie sowie zur Eliminierung der revolutionären und fallweise auch der eigenen emigrantischen Konkurrenten. Die Emigration übernahm dabei den revolutionären Bellizismus einer «bonne guerre civile», 106 bei der sich die Grenzen zwischen innerem und äußerem Feind auflösten. Im Conseil des Princes in Koblenz setzte man auf die Terreur des armes, wenn die Alliierten einmal Paris besetzt hätten. 107 Man ging davon aus, 104

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Memorandum Montlosiers, Brüssel (22.11.1793), ÖStA HHStA Frankreich Varia 50, 40. J. J. MOUNIER: Recherches sur les Causes qui ont empêché les François de devenir libres, et sur les moyens qui leur restent pour acquérir la liberté, Genf 1792, II 236; A. F. FERRAND: Réponse au Post-Scriptum d’une Lettre de M. le Comte de Lally-Tollendal à M. Burke, Paris 1791, 34 f. Siehe im Folgenden auch PESTEL: Kosmopoliten [22], 139–147. Journal de M. Suleau, Nr. 10, 17. Zusammenfassung einer Diskussion im Conseil des Princes von J.A.M. de Croÿ, Duc d’Havré an Harcourt (vor der Hinrichtung Ludwigs XVI.), BL Add. Mss. 38352, fol. 358.

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in ein Machtvakuum vorzustoßen, das die Revolutionäre bei ihrer Flucht hinterlassen würden, und plante politische Vergeltungsmaßnahmen, die explizit Massengewalt beinhalten sollten. Da das Modell der Königsdiktatur jedoch nach dem Tuileriensturm vollends zur Hypothese wurde und der erste Vorstoß der Koalition nach Frankreich mit einem Rückschlag, gerade auch der beteiligten Emigrantentruppen, endete, richteten sich die weiteren Diskussionen auf die Koordination von contre-révolution und Krieg: «La contre Revolution, et la guerre, doivent […] marcher de front, celle ci comme instrument, celle là comme point de direction». 108 Die bellizistische Radikalisierung von contre-révolution fand bis zum Sturz der Jakobiner in der Emigration lagerübergreifenden Konsens. Der Erzroyalist Abbé Talbert, dem sogar der Wiederaufbau der Bastille vorschwebte, sah im Bürgerkrieg gegen die Revolution einen rechtsfreien Raum, in dem alle Mittel gerechtfertigt waren: Cette guerre ne ressemble plus aux guerres ordinaires déjà si odieuses, mais du moins toujours soumis à quelques loix qui en diminuent l’horreur […] & suivies d’une paix qui lui [l’humanité, FP] permet l’espoir de réparer ses pertes. Ici point de quartier, point de relache; c’est un animal dévastateur. 109

Auch der Comte de Montgaillard, der verschiedenen Seiten diente und sich während der Terreur phasenweise in Paris aufhielt, ließ an der Tragweite des Konflikts keinen Zweifel: «Le salut de la France est inséparable du salut de l’Europe, il est la véritable contrerévolution. Car, elle n’est elle-même que la conservation de l’ordre social; & c’est elle qui rend la plus terrible, mais la plus juste de toutes les guerres.» 110 Vor diesem Hintergrund einer Radikalisierung der Konterrevolutionsdebatte auch in der Emigration erlauben die engen Kontakte

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[Montlosier]: Vues sommaires sur la direction des forces & la combinaison des moyens à employer contre la France revolutionnaire, Brüssel (Juni 1794), TNA F. O. 26/25. F.-X. TALBERT: Dangers qui menacent l’Europe. Principales causes du peu de succès de la dernière campagne; fautes à éviter et moyens à prendre pour rendre celle-ci décisive en faveur des véritables amis de l’ordre et de la paix, Leiden 1794, 6. J. DE MONTGAILLARD: Nécessité de la guerre et dangers de la paix, Den Haag/London 1794, 31.

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der monarchiens zu den Koalitionsmächten detaillierte Einblicke in die Umsetzung der contre-révolution als in der Formulierung Montlosiers révolution contre la révolution: [L]es moyens de contrerévolution, sont essentiellement des moyens révolutionnaires; il est évident que les élémens et les formes monarchiques, si propres à conserver une monarchie qui subsiste, sont totalement deplacés pour la retablir. 111

Zugrunde lag diesem «combat à mort» ein Ressourcenmodell, das davon ausging, dass ein Sieg über die Revolutionsarmeen nur dann möglich sei, wenn die Koalition zusammen mit den Emigranten einerseits mehr Soldaten, Waffen und Geld als die Revolution einzusetzen in der Lage war und andererseits die Verluste des Feindes so weit vorantrieb, dass die Revolution in sich zusammenbrechen würde. Ersteres Postulat sollte in die konterrevolutionäre Massenmobilisierung einer «croisade générale de l’humanité entière» 112 münden, die eine levée en masse und die Aufstellung von Freiwilligenverbänden ebenso vorsah wie eine gezielte Ideologisierung der europäischen Bevölkerungen im Sinne eines gegenrevolutionären Fanatismus unter dem Schlagwort der fraternité und eine Vermehrung von Bürgerkriegsherden in Frankreich nach dem Vorbild der Vendée. Gesteuert werden sollten die Aktionen von einem «comité du salut public» bestehend aus bevollmächtigten Vertretern der Koalitionsmächte und Emigranten. Die Aushöhlung der Revolution durch die Übersteigerung ihrer terroristischen Mittel als konterrevolutionäre «terreur salutaire» 113 beinhaltete zudem konkrete Szenarien von Massengewalt: Massacrer partout les Jacobins; […] faire perir par le glaive de la loi les acheteurs des biens des émigrés, ce qui porteroit un coup mortel aux assignats;

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Memorandum Montlosiers, Brüssel (22.11.1793), ÖStA HHStA Frankreich Varia 50, 40; dazu auch F. PESTEL: Französische Emigranten als Revolutionskritiker: Kontinuität und Diskontinuität von Denk- und Handlungsräumen im politischen Exil (1789–1814), in: K. H. BACKHAUS / D. ROTHISIGKEIT (ed.): Praktiken der Kritik, Frankfurt 2016, 299–323, hier 312– 314. Memorandum Montlosiers, Brüssel (22.11.1793), ÖStA HHStA Frankreich Varia 50, 37. Ebd., 44.

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opposer la terreur à la terreur, les echaffauds aux echaffauds; defier la convention de la surpasser dans ses fureurs. 114

Nur wenn der Krieg konterrevolutionär und damit mit revolutionären Mitteln geführt würde, bestand Montlosier zufolge Aussicht auf Erfolg und auf Frieden. Im Laufe der Diskussionen mit den Alliierten, angesichts ihrer begrenzten finanziellen und militärischen Mittel, der Skepsis gegenüber den Emigranten, die zwar als Lageanalysten unverzichtbar waren, jedoch alles andere als geschlossen auftraten, sowie der Erfolge der Revolutionsarmeen zeichnete sich auch ab, dass eine Eroberung Frankreichs durch ausländische Armeen ohne eine massive Stärkung innerfranzösischer Republikfeinde ebenso wenig erfolgversprechend war. Während nachhaltige militärische Erfolge also ausblieben, sprach der Sturz der Jakobiner für eine Intensivierung der innerfranzösischen Strategien. Entsprechend verschob sich auf emigrantischer Seite der Bedeutungsgehalt von contre-révolution.

4. Le contraire de la Révolution: politische Szenarien in den späten 1790er Jahren Gemessen am Missverhältnis von konterrevolutionärer Operationsplanung und militärischer Umsetzung erwies sich die bellizistische contre-révolution als Fehlschlag. Politisch waren die Emigranten 1794 klar in die Defensive geraten, und auch die Thermidor-Bilanz fiel zwiespältig aus, da die Terreur in Frankreich erkennbar ohne die emigrantischen Überbietungsstrategien zum Erliegen gekommen war. Es wäre naheliegend und dennoch zu einseitig, den Emigranten in der Abkehr von ihrer bellizistischen Strategie Mitte der 1790er Jahre Opportunismus und Inkonsistenz ihrer Positionen zu attestieren. Dazu ist einerseits zu berücksichtigen, dass bis 1794 ein maßgebliches Movens des konterrevolutionären Bellizismus die eigene Rückkehr nach Frankreich gewesen war. Unter dem Direktorium boten sich dazu Optionen jenseits einer militärischen Invasion. Andererseits folgte auf die bellizistische Entgrenzung eine

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Memorandum Montlosiers, Brüssel (4.3.1794), TNA F. O. 26/24.

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Phase kritischer Selbstreflexion, die den bisherigen cercle vicieux der contre-révolution zu durchbrechen half. 115 Für die Mitte der 1790er Jahre lassen sich im emigrantischen Sprechen über contre-révolution drei Interpretamente bestimmen: Zunächst wurde den Emigranten stärker als zuvor bewusst, dass es auch in Frankreich politische Kräfte gab, die auf eine contrerévolution im streng prozessualen Sinn, und nun auch wieder in stärkerer Kopplung mit dem unbestimmten Artikel, hinarbeiteten, und dies mit größerem Erfolg als sie selbst. Während die Thermidorianer die contre-révolution sowohl aufseiten der Jakobiner als auch der Monarchisten verorteten, waren sie aus Sicht der Emigranten selbst Konterrevolutionäre: «[I]ls veulent une contre-révolution à leur manière et non à la nôtre. Ils ne veulent ni du Régent ni des émigrés comme arbitres de leur sort». 116 Zum zweiten zogen insbesondere konstitutionelle Monarchieanhänger aus der zeitweiligen Aufgabe ihrer spezifischen Positionen während der bellizistischen Phase die Konsequenz, stärker eine verzeitlichte Sicht auf die Revolution und damit auch auf die Konterrevolution zu vertreten, die Machbarkeit einer contre-révolution opérée wieder stärker an ihre programmatischen Möglichkeiten zu koppeln und die ancienne constitution explizit auszuschließen: «La révolution a été une chose bien terrible. Une contre-révolution abandonnée à l’exagération et à la violence, en deviendroit la contre-partie», 117 rechtfertigte Montlosier 1796 sein Abrücken von Gewaltszenarien. Stattdessen unterschied er zwischen einer France révolutionnaire, die es weiter zu bekämpfen gelte, und einer France révolutionnée, die die Revolution beenden wolle. 118 Dass die Exilmonarchie in dieser Zeit ihre Position ebenfalls flexibilisierte und statt von réforme des abus von einer notwendigen perfection der ancienne constitution zu

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F. DE MONTLOSIER: Des effets de la violence et de la modération dans les affaires de France. A M. Malouet, London 1796, 32. Für das Folgende auch PESTEL: Kosmopoliten [22], 147–149. Mallet du Pan an C. Saladin-Egerton, Bern (2.8.1794), in: J. MALLET DU PAN: Lettres de Mallet-du Pan à Saladin-Egerton 1794–1800, in: B. BOUVIER / E. FAVE / C. SEITZ (ed.): Pages d’histoire. Festschrift Pierre Vaucher, Genf 1895, 341. MONTLOSIER: Des effets de la violence et de la modération [115], 12. F. DE MONTLOSIER: Vues sommaires sur les moyens de paix pour la France, pour l’Europe, pour les émigrés, London 1796, 36.

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sprechen begann, schien einer solchen verzeitlichen Beobachtung recht zu geben. 119 Drittens bot eine France du dedans, die bereit war, die Revolution hinter sich zu lassen, neue politische Interventionsmöglichkeiten. Mit Blick auf die jährlich stattfindenden Wahlen zu den beiden Kammern des corps législatif setzten die Emigranten – monarchiens wie Teile der royalistes und die Exilmonarchie – auf eine Mobilisierung der als überwältigende Mehrheit imaginierten innerfranzösischen Monarchisten, die sich «dans une espece de Contrerevolution tacite et passive»120 befänden. Im Vorfeld der Wahlen im Frühjahr 1797 intensivierten sich die Propagandaaktivitäten aus der Emigration heraus mit der Hoffnung, durch eine royalistische Mehrheit im corps législatif die Wiederherstellung der Monarchie gleichsam auf legislativem Weg zu erreichen: Ludwig XVIII. begnadigte in Blankenburg im Harz einen Großteil der régicides, Trophime Gérard de Lally-Tollendal versuchte in London mit einer Défense des émigrés eine Lockerung der Emigrantengesetze zu erreichen, und der sardische Diplomat Joseph de Maistre verfasste in der Schweiz eine royalistische Wahlkampfschrift, da er in den Organen der Direktorialverfassung die Instrumente zur Restauration der Monarchie erblickte. 121 Diese Schrift erschien allerdings erst verspätet, wurde zu keinem Verkaufserfolg und fand infolge des Fructidor-Staatsstreiches vorerst nur wenig Verbreitung. 122 Breit rezipiert wurden seine Considérations sur la France daher erst nach 1814 und gingen im Folgenden in den Kanon konterrevolutionären Denkens ein, insbesondere mit Blick auf den programmatischen Satz: «[L]e rétablissement de la Monarchie, qu’on appelle contre-révolution, ne sera point une révolution contraire, mais le contraire de la Révolution.» 123

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PESTEL: Monarchiens [18], 19. Mallet du Pan an Trevor, Bern (27.9.1796); TNA F. O. 67/23, fol. 22. J.-L. DARCEL: Introduction, in: J. DE MAISTRE: Considérations sur la France, ed. J.-L. Darcel, Genf 1980, 17–56, hier 43–45; PESTEL: Monarchiens [18], 19. J. TULARD: Un classique de la Contre-Révolution: les «Considérations sur la France» de Joseph de Maistre, in: R. DUFRAISSE (ed.): Revolution und Gegenrevolution 1789–1830. Zur geistigen Auseinandersetzung in Frankreich und Deutschland, München 1991, 99–103, hier 101. J. DE MAISTRE: Œuvres, ed. P. Glaudes, Paris 2007, 276; dazu F. PESTEL: Französische Emigranten [84], 314–316.

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Aus ihrem Entstehungskontext heraus stellt sich Maistres Position, die vor allem auch die eines Diplomaten und politischen Publizisten war, 124 jedoch weit differenzierter dar als die eines theokratischen Apologeten des Ancien Régime. 125 So wird oft übersehen, dass Maistre mit seinen Considérations zunächst auf Benjamin Constants Vorwurf an die Emigration reagierte, über eine contrerévolution (mit unbestimmtem Artikel) eine erneute und aus der Sicht der direktorialen Ordnung negativ konnotierte Revolution herbeiführen zu wollen: Ceux qui veulent renverser la République sont étrangement la dupe des mots. Ils ont vu qu’une révolution était une chose terrible et funeste, et ils en conclurent que ce qu’ils appellent une contre-révolution serait un événement heureux. Ils ne sentent pas que cette contre-révolution ne serait elle-même qu’une nouvelle révolution. 126

Aus der zentristischen Logik des Direktoriums heraus, das eine contre-révolution auf jakobinischer wie royalistischer Seite gleichermaßen ablehnte, liefen für Constant die emigrantischen Restaurationsbestrebungen Gefahr, in Frankreich zu einer neuen Terreur zu führen. Die bellizistischen Debatten um contre-révolution als terreur salutaire der Jahre 1793/94 fanden hier einen Nachhall. Auffallend ist, dass sich sowohl Constant als auch Maistres Replik über das Ziel einer contre-révolution nicht konkret äußerten, Maistre übrigens auch nach 1814 nicht. 127 Vielmehr schloss seine Formel eines contraire de la révolution auf der Ebene der Mittel das Instrument konterrevolutionären Terrors definitiv aus und setzte ihr die historische Kontinuität der Monarchie als Legitimation einer Restauration entgegen, die zugleich Ausdruck göttlichen Willens sei. Die Vorsehung hatte sich für Maistre bereits zuvor am 9. Thermidor dahingehend geäußert, «qu’[…] elle ne veut pas […]

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J.-P. CLÉMENT: Joseph de Maistre et Bonald à propos de la Contre-révolution, in: P. BARTHELET (ed.): Joseph de Maistre, Lausanne 2005, 337–344, hier 338. So zuletzt noch G. GENGEMBRE: Maistre, Joseph Marie, comte de, in: MARTIN (ed.): Dictionnaire [3] 356–359. B. CONSTANT DE REBECQUE: De la force du gouvernement actuel de la France et de la nécessité de s’y installer, ed. P. Raynaud, Paris 2009, 38. CLÉMENT: Joseph de Maistre [124], 338.

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laisser le sceptre aux mains des monstres qui le tiennent». 128 Damit basiert auch Maistres theokratisches Schema auf der Vorstellung einer Abfolge revolutionärer Regime, die letztlich im älteren Sinne des Revolutionsbegriffs zyklisch wieder zur Monarchie zurückführen sollten, wie sie für die Exilmonarchie oder die monarchiens die englische Geschichte des 17. Jahrhunderts bereithielt. Bezeichnenderweise folgt Maistres Definition der contre-révolution in den Considérations auf eine Referenz zu David Humes Darstellung der englischen Restauration von 1660, die im Verzicht auf Rache und Blutvergießen als Vorbild des contraire de la Révolution und als Gegenargument zu Constant fungierte. 129 Sprachlich sah sich Maistre, ähnlich wie Constant, stark beeinträchtigt, mit Hilfe des zuvor entgrenzten Konterrevolutionsbegriffs diesen grundlegenden Unterschied zum bellizistischen Gebrauchsmuster noch markieren zu können: Les mots engendrent presque toutes les erreurs. On s’est accoutumé à donner le nom de contre-révolution au mouvement politique quelconque qui doit tuer la Révolution; et parce que ce mouvement sera contraire à l’autre, on en conclut qu’il sera du même genre: il faudrait conclure tout le contraire. 130

Wie auch die jüngere Forschung betont, ging es Maistre nicht um eine Idealisierung der Vergangenheit, sondern um eine Aussage über die Gegenwart, auch wenn diese unverzeitlicht blieb. 131 Gerade in seinen früheren ökonomischen Schriften war Maistre als politischer Pragmatiker hervorgetreten und hatte liberale ökonomische Positionen vertreten, 132 die sich mit der «chimère de l’ancien régi-

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Maistre an A. L. Vignet des Étoles, Lausanne (26.8.1794), in: Revue d’études maistriennes (1986/1987), 101. Zur Hume-Rezeption bei französischen Revolutionskritikern siehe auch R. GRIFFITHS: Cross-Channel Entanglements 1689–1789, in: A. FORREST / M. MIDDELL (ed.): The Routledge Companion to the French Revolution in World History, London/New York 2016, 137–158, hier 144. MAISTRE: Œuvres [123], 258. E. B. COURTOIS: Rapport fait au nom de la Commission chargée de l’examen des papiers trouvés chez Robespierre et ses complices, Paris 1794, 383. C. CAMCASTLE: The More Moderate Side of Joseph de Maistre. Views on Political Liberty and Political Economy, Montréal/Kingston/London/Ithaca 2005.

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me» 133 nicht vertrugen, wohl aber mit Vorstellungen von intermediären Körperschaften wie den Parlements oder einem korporativen statt individuellen Freiheitsverständnis. Solche auch vom Gesichtspunkt der Machbarkeit einer contre-révolution geleiteten Erwägungen finden sich deutlich in der politischen Korrespondenz Joseph de Maistres mit der sardischen Regierung: Dans ma manière de penser, le projet de mettre le lac de Genève en bouteilles est beaucoup moins fou que celui de rétablir les choses précisément sur le même pied où elles étaient avant la révolution. Je puis me tromper, mais c’est en bonne compagnie. J’ai tort avec Arthur Young […] et même avec le roi d’Angleterre, qui reconnaît publiquement, dans sa déclaration, que les puissances n’ont pas de droit d’empêcher la nation française de modifier son gouvernement. 134

In dieser Auffassung stimmte Maistre mit Mallet du Pan überein, mit dem er phasenweise in der Schweiz in engem Austausch stand und aus dessen Considérations von 1793 er nicht zuletzt den Titel seiner eigenen Schrift übernahm, zu welcher Mallet du Pan wiederum ein Vorwort beisteuerte, das allerdings nicht Maistres Gefallen fand. 135 Vergleicht man Maistres Beitrag zur Debatte um die Restauration der Monarchie in einer Phase des Erstarkens royalistischer Kräfte in Frankreich mit anderen zeitgenössischen Interventionen, so besaß sein Plädoyer für ein contraire de la Révolution deutliche Anknüpfungspunkte zu den postbellizistischen Positionen der Exilmonarchie und der monarchiens, aber auch zu republikanischen Apologeten wie Benjamin Constant, die sich allesamt von der früheren Vorstellung einer Revolutionsimitation distanzierten. Vor allem bedeutete Maistres Vorstellung der contre-révolution keine modifikationslose Rückkehr zur ancienne constitution.

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Maistre an Vignet des Étoles, Lausanne (4.9.1793), in: J. de MAISTRE: Œuvres complètes, Bd. 9, Correspondance I: 20 février 178–630 décembre 1805, Lyon 1884, 50. Maistre an Vignet des Étoles, Lausanne (9.12.1793), ebd., 58. Zu Toulon M. WAGNER: England und die französische Gegenrevolution 1789–1802, München 1994, 114–123; J. MORI: The British Government and the Bourbon Restoration. The Occupation of Toulon 1793, in: The Historical Journal (1997), 699–719. DARCEL: Introduction [121], 19 und 61 f.

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Nach dem royalistischen Wahlsieg im Frühjahr 1797 und dem darauffolgenden Staatsstreich der republikanischen Direktoren im Herbst verschoben sich die Akzente der Debatte allerdings noch einmal, verstärkt durch die Erfolge sowohl der Revolutionsarmeen in Italien und der Schweiz als auch der Verbündeten im 2. Koalitionskrieg. 136 Montlosier griff daher Ende der 1790er Jahre seine Kreuzzugsvorstellungen von 1793/94 noch einmal auf und formulierte sie als guerre sociale, als deren Träger nun die «peuples de tous les pays» 137 anstelle von Monarchen und Regierungen auftreten sollten und in der sich die Grenzen zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten definitiv auflösen sollten. Als Reaktion auf die gescheiterte Restauration der Monarchie auf legislativem innerfranzösischen Wege hielt er Reden und Schreiben als konterrevolutionäre Instrumente nicht mehr für geeignet angesichts eines immer weiter kontaminierten politischen Vokabulars. Doch galt auch in dieser zweiten bellizistischen Phase hinsichtlich der Programmatik der contre-révolution: «Modération dans toutes les vues, impétuosité dans tous les mouvemens». 138 Fragen nach Regierungsform und Sozialstruktur blieben wieder ausgeklammert, politische Dichotomien verblassten, wenn die Prinzipien der contre-révolution «démocratiques pour aller à l’aristocratie, républicains pour fonder la monarchie» 139 sein sollten. Knüpfte die Diskussion um den Konterrevolutionsbegriff zwischen Herbst 1797 und 1799 an die Debatten von 1793/94 an, so erhielten nach den Frühjahrswahlen 1799 noch einmal Hoffnungen Auftrieb, die unvermeidliche Rückkehr zur Monarchie könnte ähnlich wie 1797 von innen heraus erfolgen. 140 Erwies sich die Lageanalyse der Emigration, was die Krise des zweiten Direktoriums betraf, als durchaus stichhaltig, so wurde sie von ihrer Lösung durch Napoléon Bonapartes Staatsstreich vollkommen überrascht, ebenso davon, dass dieser nicht bereit war, als Steigbügelhalter für Ludwig XVIII. zu fungieren. 141 In der Konsequenz deklarierte 136 137 138 139 140

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Dazu PESTEL: Kosmopoliten [22], 149–151. Courier de Londres, Bd. 45, Nr. 19 (5.3.1799), 151. Courier de Londres, Bd. 45, Nr. 27 (2.4.1799), 214. Ebd. Siehe Mercure britannique ou notices historiques et critiques sur les affaires du tems, Nr. 26 (10.10.1799), 99. J.-P. BERTAUD: Les royalistes et Napoléon 1799–1815, Paris 2009, 51–69.

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Bonaparte den Regimewechsel vom November 1799 auch nicht als contre-révolution, sondern als Abschluss der Revolution. «Citoyens, la révolution est fixée aux principes qui l’ont commencée; elle est finie!» 142 Damit distanzierte er sich nicht nur von der Emigration, nach deren Vorstellung die contre-révolution das Ende der Revolution herbeiführen werde, sondern löste sich zugleich vom Ziel einer Wiederherstellung der bourbonischen Monarchie.

III. Koloniale Umkehrungen: Die Haitianische Revolution als contre-révolution Im Jahre 1793, als aufseiten der Jakobiner das Bedrohungsgefühl durch eine contre-révolution seinem Höhepunkt zusteuerte, entwickelte sich die Gleichsetzung von contre-révolution mit dem Zustand der Sklaverei zu einem frequenten Topos. Die Révolutions de Paris warnten manichäisch vor den Optionen eines «paradis des hommes libres» oder dem «enfer des esclaves». 143 In den von einer britischen Invasion und royalistischen Aufständen bedrohten südlichen Departements sahen die Repräsentanten des Wohlfahrtsausschusses ebenfalls die Einwohner auf dem Weg in die Sklaverei. 144 Im aufständischen Lyon unterstellte die Commission temporaire den contre-révolutionnaires, sie wollten «la France à l’esclavage»145 führen. Diese Belege werfen unmittelbar die von Susan Buck-Morss formulierte Frage auf, ob europäische Zeitgenossen der Aufklärung, wenn sie metaphorisch über Sklaverei sprachen, «blind» für die Existenz kolonialer Sklaverei waren oder ob sie «wussten», dass sich in enger Verflechtung mit den Entwicklungen in Frankreich in der karibischen Kolonie Saint-Domingue mit der Haitianischen Revolution die größte und – vom Ergebnis der postkolonialen Staatsgründung her betrachtet – einzige erfolgreiche Sklavenrevolte

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Proclamation des Consuls de la République (15.12.1799), in: BUCHEZ / ROUX, XXXVII 301. Rév. Paris, Nr. 195 (30.3.1793 bis 6.4.1793). Représentants à l’armée des Pyrénées orientales an den Wohlfahrtsausschuss, Toulouse (7.9.1793), in: AULARD: Comité, VI 343. Instruction aux autorités constituées des Départements de Rhône et de Loire, Lyon 1793, 16.

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der Weltgeschichte ereignete. 146 Für das Argument der Blindheit spricht, dass die Aufstände an der kolonialen Peripherie im Namen der égalité aus französischer Sicht affirmativ oder ablehnend als contre-révolution klassifiziert wurden. Diese scheinbar paradoxe Umkehrung lässt sich auf unterschiedliche Deutungsmuster der Haitianischen Revolution zurückführen, die zum Teil die Kolonialbevölkerung mit einschlossen. Auslöser für die Interpretation als contre-révolution war, dass sich die Sklaven anfänglich auf Ludwig XVI. als Garanten ihrer Freiheitsrechte beriefen und sich selbst als gens du roi bezeichneten. 147 Die Nationalversammlung hatte zwar 1791 die politische Emanzipation der freien gens de couleur beschlossen; diese Entscheidung war in der Kolonie indes nicht umgesetzt worden. Die Fortführung der Sklaverei war sowieso von französischer Seite nicht infrage gestellt worden. Umso mehr setzte die unfreie Kolonialbevölkerung auf den König. Ihr früher Anführer Jorge Biassou erklärte gegenüber dem Gouverneur des spanischen Ostteils der Insel: «I am the Chief of the Counter-Revolution». 148 Auch der in der Kolonie lebende Anwalt Gros, zeitweilig Gefangener der Aufständischen, sah in der Sklavenrevolte «a Counter-Revolution». 149 Im Falle Toussaint Louvertures beförderten die von ihm aufrecht erhaltenen Verbindungen zu seinem vormaligen Besitzer, der ihn 1776 aus der Sklaverei in die Freiheit entlassen hatte, das Gerücht, er habe die Sklavenerhebung im royalistischen Auftrag organisiert. 150

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S. BUCK-MORSS: Hegel, Haiti, and Universal History, Pittsburgh 2009. L. DUBOIS: Avengers of the New World. The Story of the Haitian Revolution, Cambridge (Mass.) 2004, 106; siehe außerdem O. GLIECH: Saint-Domingue und die Französische Revolution. Das Ende der weißen Herrschaft in einer karibischen Plantagenwirtschaft, Köln/Weimar/Wien 2011; J. D. POPKIN: A Concise History of the Haitian Revolution, Malden (Mass.) 2012. Englische Übersetzung, zit. nach: J. G. LANDERS: Atlantic Creoles in the Age of Revolutions, Cambridge (Mass.)/London 2010, 55. A Historick Recital of the Different Occurrences in the Camps of GrandReviere, Dondon, Sainte-Suzanne and others from the 26th of October, 1791 to the 24th of December, of the Same Year, Baltimore 1792, zit. nach: J. G. LANDERS: Atlantic Creoles in the Age of Revolutions, Cambridge (Mass.)/London 2010, 62. POPKIN: A Concise History [147], 43.

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Welche konkreten Vorstellungen die Aufständischen von der politischen Rolle Ludwigs XVI. hatten, bleibt unscharf. Möglicherweise haben koloniale wie metropolitane Reformdebatten der 1780er Jahre hier einen Widerhall gefunden. Eine wesentliche Bedeutung kam aber dem Erfahrungsraum afrikanischer Monarchien zu. So präsentierte sich der Anführer Macaya gegenüber dem vom Nationalkonvent entsandten Zivilkommissar Étienne Polverel als Untertan dreier Monarchen: des französischen Königs durch seinen Vater, einen französischen Sklaven, des spanischen Königs durch seine Mutter, eine spanische Sklavin, sowie des kongolesischen Königs. 151 Die royalistischen Selbstbezeichnungen der Aufständischen nahmen revolutionäre Akteure zum Anlass, hinter den Erhebungen eine von Frankreich aus gesteuerte royalistische Verschwörung zu vermuten, mit der die Koloniallobby ihren Besitzstand zu sichern versuchte. 152 Eigene Handlungsmotive, insbesondere die Sklaverei als solche, wurden den Sklaven indes abgesprochen. Folglich führte Jacques Pierre Brissot, immerhin Gründungsmitglied der Société des Amis des Noirs, die contre-révolution in den Kolonien unmittelbar auf die contre-révolution in Koblenz zurück bzw. identifizierte Saint-Domingue als konterrevolutionären Aktionsraum des notorisch verdächtigen Hofes in den Tuilerien mitsamt dem Ministerium. 153 Noch einmal veränderten sich die Akteurs- und damit Deutungskonstellationen, als sich 1793 die in London lebenden Exilpflanzer samt ihren de facto verlorenen Besitzungen der britischen Regierung unterstellten und diese von Jamaika aus eine Militärexpedition veranlasste, die sich gegen die Aufständischen und die republikanischen Truppen in Saint-Domingue gleichermaßen richten sollte. 154

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J. K. THORNTON: «I am the Subject of the King of Congo». African Political Ideology and the Haitian Revolution, in: Journal of World History 2 (1993), 181–214. A. WHITE: Encountering Revolution. Haiti and the Making of the Early Republic, Baltimore 2010, 90. Le Patriote français, 12. Dezember 1791, zit. nach: P. V. Malouet: Mémoires de Malouet, Bd. 1, Paris 1868, 125, Anm. 1. Dazu PESTEL: Kosmopoliten [22], 255; s. a. D. GEGGUS: Slavery, War and Revolution. The British Occupation of Saint Domingue, 1793–1798, Oxford 1982; M. WAGNER: England [134], 230–250.

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Für den Erfolgsfall stellte sich die Frage nach dem weiteren Status der Siedler: Ein Wechsel unter britische Souveränität, die Restitution der Kolonie an Frankreich nach dem Friedensschluss oder die Unabhängigkeit der Kolonie nach amerikanischem Vorbild waren die grundsätzlichen Optionen. Damit hatte sich für die französische Außenpolitik gegenüber 1776 die transatlantische Konstellation umgekehrt. Nun waren es französische Siedler, die nach dem Vorbild der USA ihre Unabhängigkeit erlangen wollten, unterstützt vom revanchesüchtigen Großbritannien. Dieser Plan galt aufgrund der älteren atlantischen Deutungsschichten als grande révolution und contre-révolution zugleich und schien sich darüber hinaus in britische Interessen einzufügen: «Pitt veut renverser la nouvelle constitution américaine, révolutioner les Indes occidentales et contrerévolutionner la France.» 155 Als sich sowohl die Unabhängigkeitsoption als auch eine britische Annexion als undurchführbar erwiesen, vermutete das französische Außenministerium eine weitere destruktive Lösung, nämlich Saint-Domingues «organisation en Chouannerie» nach westfranzösischem Vorbild unter Beteiligung kolonialer und europäischer Akteure: Voici les moyens de la mettre à exécution et les résultats: faire passer à St Domingue le plus d’émigrés possible; former le plus possible des régimens nègres; enfin donner, s’il le faut, la liberté à tous les nègres. On transporterait à St. Domingue un prince de Bourbon. 156

Damit wurde Saint-Domingue als Teil der bellizistischen Konterrevolutionspläne zur Vendée coloniale stilisiert und in ein Deutungsschema einbezogen, das alle revolutionsfeindlichen Bewegungen auf französischem Territorium, in der Metropole wie in den Kolonien, auf die Aufstände in Westfrankreich bezog. 157 Auch in der 155

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Les deux hémispheres. Abregé de diplomatie anglaise, Mai 1796, AAE C. P. Angleterre, vol. 586, fol. 143; s. a. auch Situation politique de la République française à l’égard des puissances étrangères (5.9.1793), AAE M. D. France, vol. 651, fol. 33’. Extrait d’un mémoire sur l’Angleterre, London (22.8.1796), M. D. Angleterre, vol. 53, fol. 191’ sowie ein Schreiben aus London (27.8.1796), AAE C. P. Angleterre, vol. 589, fol. 375’. V. SOTTOCASA: Une «seconde Vendée»? Les processus contre-révolutionnaires dans le Midi languedocien, in: Y. M. BERCÉ (ed.): Les autres Vendées, La Roche-sur-Yon 2013, 31–60, hier 31; J.-P. POUSSOU: Conclusion:

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Emigration spielte die Schaffung einer Vendée artificielle überall dort, wo es gelang, eine entsprechende Zahl an Aufständischen zu rekrutieren, als konterrevolutionärer Konfliktherd eine Rolle. 158 Wie Malick W. Ghachem gezeigt hat, beruhte im Falle SaintDomingues das Deutungsmuster der Vendée coloniale für die französische Seite auf Analogieschlüssen zwischen Kolonie und Metropole auf mehreren Ebenen: Plantagenbesitzende grands blancs entsprachen Adligen mit Feudalprivilegien, aufständische Sklaven royalistischen Bauern, besitzlose petits blancs den sans-culottes. 159 Als Verstärkungsfaktor wirkte, dass mit Nantes eines der Zentren des französischen Sklavenhandels mitten im royalistischen Aufstandsgebiet lag. Darüber hinaus bedienten sich sowohl in Frankreich verbliebene Plantagenbesitzer als auch die revolutionäre Außen- und Kolonialpolitik der Analogie, um in der atlantischen Doppellogik von Revolution und Konterrevolution die Gefährdung der Republik durch Großbritannien sowohl auf dem metropolitanen als auch dem kolonialen Kriegsschauplatz herauszustellen. Dabei konnte die VendéeKritik der Pflanzer jedoch auch die republikanischen Kommissare treffen, als diese, um die Kontrolle in Saint-Domingue zurückzugewinnen, 1793 eigenmächtig die Abschaffung der Sklaverei verkündeten und der Nationalkonvent diese Notmaßnahme 1794 sanktionierte. 160 Denn mit den Zugeständnissen an die Aufständischen hätten sie die «véritable Vendée» 161 in Saint-Domingue letztlich nur gestärkt. Wie dieses Beispiel zeigt, sprach die semantische Verknüpfung der beiden contre-révolutions den aufständischen Sklaven einmal mehr eigene Handlungsmacht ab. Schließlich gewann die Integration der Haitianischen Revolution in den externalisierten Bürgerkrieg Einfluss auf die französischen

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Les autres «Vendées», jalons pour une thématique des «Vendées», ebd., 293–324. Memorandum Montlosier (4.3.1794), TNA F. O. 26/24. M. GHACHEM: «The Colonial Vendée», in: D. GEGGUS / N. FIERING (ed.): The World of the Haitian Revolution, Bloomington 2009, 156–176 auch für das Folgende. J. POPKIN: You Are All Free. The Haitian Revolution and the Abolition of Slavery, Cambridge 2010. DERAGGIS: Adresse au peuple français, libre et souverain, Paris 1793, 14, zit. nach: GHACHEM: «The Colonial Vendée» [159], 160.

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Pazifizierungsversuche. Mit dem General Gabriel de Hédouville entsandte das Direktorium 1798 einen Vendée-Veteran in die Karibik, um die Situation zu beruhigen und die Position Toussaint Louvertures zu schwächen. 162 Als dem Sklavereibefürworter Hédouville dieses Vorhaben nicht gelang und er daraufhin wieder in der Vendée eingesetzt wurde, unternahm Charles Victor Emmanuel Leclerc 1802 einen letzten Unterwerfungsversuch Saint-Domingues mithilfe einer Militärexpedition, die eklatant fehlschlug. Mochte Leclercs Schwager Napoléon Bonaparte am 18. Brumaire auch für sich reklamieren, die Revolution in Frankreich auf ihre Ausgangsprinzipien zurückgeführt zu haben; mit seinem Versuch der Wiederherstellung des Ancien Régime colonial in Saint-Domingue durch die Wiedereinführung der Sklaverei hatte für den britischen Abolitionisten James Stephen auch er den Weg der Konterrevolution eingeschlagen. 163 Es war jedoch nicht die Konterrevolution der metropolitanen Akteure, ob Pflanzer oder Revolutionsarmee, die sich in Saint-Domingue durchsetzte, sondern diejenige der farbigen Aufständischen, die 1804 zur Unabhängigkeit Haitis führte.

IV. Die zweite Fermentationsphase im postrevolutionären Frankreich um 1820 1. Rückkehr und Verengung des Begriffs mit der Restauration Für den Zeitraum zwischen Napoléon Bonapartes Staatsstreich und dem Sturz des Empire war der Konterrevolutionsbegriff im französischen politischen Diskurs faktisch abwesend. Der bisherige Forschungsstand lässt noch keine umfassenden Rückschlüsse auf die Ursachen und auf eventuelle Residuen des Begriffs zu. Die wenigen bekannten Belege deuten jedoch darauf hin, dass die napoleonische Pazifizierungsstrategie, das Konsulat und später das Empire als Vollendung der Revolution zu inszenieren, semantisch aufging

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Ebd., 160. J. STEPHEN: The Opportunities or, Reasons for an Immediate Alliance with St. Domingo, London 1804, 36.

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zulasten des Gegenbegriffs. 164 Angesichts dieses postrevolutionären Selbstverständnisses der Regime nach 1799 wäre eine hohe Frequenz von contre-révolution vor 1814 von Regimeseite her eine Aporie gewesen. In diesem Sinne attestierte Montlosier 1808 dem Kaiser: «La révolution, qu’on a diversement attaquée, [a] triomphé de toutes tentatives contre-révolutionnaires». 165 Wenn Germaine de Staël im Rückblick der frühen Restaurationszeit in ihren Considérations sur la Révolution française das Kapitel zur Proklamation des Empire mit «Bonaparte empereur. La contre-révolution faite par lui» 166 überschrieb, so verschob sie zwar den Akzent von Bonaparte als Vollender zu Napoleon als Überwinder der Revolution. Charakteristisch für die Erfahrung des Empire waren jedoch die fehlende Bewegungsdynamik von contre-révolution und einmal mehr die Abwesenheit einer Referenz zur vorrevolutionären Monarchie. Zudem ließ die repressive Zensurpraxis insbesondere royalistisch-bourbonischen Sympathisanten, darunter ein Großteil der nach 1800 in der überwältigenden Mehrheit zurückgekehrten Emigranten, die sich am ehesten gegenüber einem revolutionären Empire als Konterrevolutionäre hätten verstehen können, keine öffentliche Plattform für oppositionellen Journalismus und Publizistik. 167 So war es der royalistische Londoner Exiljournalist Jean Gabriel Peltier, der im Frühjahr 1813 unter dem Eindruck des Rückzugs der Grande Armée aus Russland und der sich anschließenden militärischen Niederlagen Napoleons antizipierten Sturz mit dem definitiven Revolutionsende gleichsetzte und als contre164

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Erste Ansätze dazu auch bei N. PETITEAU: La Contre-Révolution endiguée? Projets et réalisations sociales impériales, in: J.-C. MARTIN (ed.): La ContreRévolution en Europe XVIIIe–XIXe siècles. Réalités politiques et sociales, résonances culturelles et idéologiques, Rennes 2001, 183–192, wenngleich ohne semantische Analyse. Montlosier an Napoleon, Paris (29.3.1808), BnF, Paris, Nouv. Acq. 91, zit. nach A. VITALE: Uno storico del primo ottocento. Il conte di Montlosier, Diss. Rom 1958, 282. G. DE STAËL-HOLSTEIN: Considérations sur la Révolution française, ed. J. Godechot, Paris 1983, 395. Zu den royalistischen Kräften während des Empire G. MINART: Les opposants à Napoléon. L’élimination des royalistes et des républicains (1800– 1815), Toulouse 2003; BERTAUD: Les royalistes [141], die sich jedoch nicht für die politische Sprache interessieren.

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révolution interpretierte. Diese schrieb er jedoch noch Napoleon selbst zu, statt sie mit der zu diesem Zeitpunkt noch kaum absehbaren bourbonischen Restauration zu verknüpfen: C’est donc non seulement ses conquêtes qu’il doit rendre, c’est non seulement à ses projets gigantesques qu’il doit renoncer, mais il doit changer tous les principes et toutes les bases sur lesquelles reposent son gouvernement et sa prétendue dynastie; enfin c’est une contre-révolution complète qu’il doit faire dans son propre ouvrage. 168

Nach dieser weitgehenden Schweigeperiode trat die contre-révolution mit der Rückkehr Ludwigs XVIII. 1814 auf den französischen Thron trotz der offiziellen Devise des oubli umso markanter wieder hervor. Gleichwohl hatte die Frequenz des Begriffs während der 1790er Jahre deutliche Spuren hinterlassen, die sich einerseits in einer von den Zeitgenossen in den ersten Jahren der Restauration deutlich artikulierten Verwirrung über das politische Vokabular manifestierten, andererseits in einer gegenüber den Revolutionsjahren bemerkenswerten semantischen Verengung des Konterrevolutionsbegriffs. Joseph Fiévée verwies 1816 in seinem Rückblick auf die abgelaufene Sitzungsperiode der Chambre des députés darauf, dass die politische Sprache noch keineswegs wieder fixiert sei, vielmehr Beliebigkeit vorherrsche: «[L]es mots ont autant d’acceptions que l’esprit de parti peut leur trouver de significations différentes». 169 In diese Kritik stimmte auch Montlosier mit ein, der nach 1814 wie bereits in den 1790er Jahren als ein polemischer Kommentator des politischen Zeitgeschehens wieder auf den Plan trat. Besonders erstaunte ihn, dass dieselben Begriffe für gegenteilige Einschätzungen von politischen Situationen oder Personen Verwendung fanden, also sowohl Ludwig XVIII. als auch Napoleon als despote bezeichnet werden konnten bzw. im Sprachgebrauch der sens figuré nur allzu häufig einen sens réel annahm. 170 Dazu gehörte für ihn auch ein inflationärer Gebrauch der contre-révolution, die wie 168 169

170

L’Ambigu, Bd. 41, Nr. 362 (20.4.1813), 176. J. Fiévée: Histoire de la session de 1815, Paris 1816, 2, zit. nach: J. LEONHARD: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001, 127. F. DE MONTLOSIER: De la monarchie française depuis la seconde restauration jusqu’à la fin de la session de 1816, Paris 1818, 19.

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andere Begriffe als «formule au hasard» 171 herhalten müsse mangels der Bereitschaft zum sorgfältigen Abwägen der politischen Wortwahl. Entgegen dem unspezifischen Gebrauch und den Akteurserweiterungen während der 1790er Jahre war die Rückkehr der contrerévolution in den politischen Diskurs nach 1814 von einer starken Polarisierung und geringeren semantischen Reichweite geprägt. Diese Tendenz zeigten bereits die Beurteilungen der Rückkehr der Bourbonen: Auf der einen Seite deutete Joseph de Maistre die Restauration keinesfalls als contre-révolution, sondern lediglich als weitere Fortsetzung des nunmehr zur révolution royale gewordenen unbeendbaren Umwälzungsprozesses. 172 Auf der anderen Seite ließ der Abbé Dominique Dufour de Pradt, selbst ehemaliger Emigrant, napoleonischer Würdenträger und schließlich Parteigänger der liberalen Opposition, keinen Zweifel am rückwärtsgerichteten Charakter der Restauration, indem er alle politischen Zugeständnisse Ludwigs XVIII., teils noch während der Emigration, ignorierte: Arrive 1814, et la contre-révolution avec lui. Coblentz entend régenter Paris; la révolution et la contre-révolution se trouvent en présence, et la France se trouve placée comme le vieillard de la fable entre deux âges et deux maîtresses. La révolution veut conserver; la contre-révolution veut reconquérir. Deux compétitions se montrent et se disputent la France. 173

Die Gleichsetzung der contre-révolution mit den Emigranten oder sogar dem Ancien Régime, die in den 1790er Jahren immer verfügbar war, sich jedoch nie gegenüber der Prozesssemantik durchsetzen konnte, wurde mit Beginn der Restaurationszeit zu einem Signum des Begriffs. Angesichts ihrer früheren semantischen Flexibilität ist es umso bemerkenswerter, dass contre-révolution in dem Moment eine dominierende reaktionäre Dynamik erhielt, als die ancienne constitution in nahezu allen politischen Bereichen – wenn auch zunächst mit der großen Ausnahme der Kolonialpoli-

171

172

173

F. DE MONTLOSIER: De la Monarchie française au 1er Janvier 1821, Paris 1821, 410. Maistre an A. C. Filiberto Vallesa, St. Petersburg (6./18.7.1814), in: J. de MAISTRE: Correspondance diplomatique, 1811–1817, Bd. 1, Paris 1860, 379. D. DE PRADT: Petit catéchisme à l’usage des Français, sur les affaires de leur pays, Paris 1820, 19 f.

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tik – vonseiten der Monarchie und der politischen Eliten definitiv ausgeschlossen wurde. 174 Dies war auch der liberalen Opposition vollkommen klar, die den Begriff maßgeblich für ihre Interessen besetzen konnte. Zwar kam die Forderung nach der ancienne constitution nach 1814 in ultraroyalistischen Kreisen vereinzelt wieder zum Tragen, doch verfestigte sie sich in der Kopplung an den Konterrevolutionsbegriff zu einem Kampfbegriff der Gegenseite, dessen sich Vertreter des centre gauche und der liberalen Linken in der Auseinandersetzung mit den Ultraroyalisten bedienten. Indem die linke Opposition ihren politischen Gegnern pauschal reaktionäre Absichten unterstellte, diese anschließend teilweise relativierte und sich auf die unverrückbaren Errungenschaften der Charte constitutionnelle berief, begründete sie durch die permanent heraufbeschworene Diskrepanz zwischen der eigenen verfassungsmäßigen Legitimität und den vermeintlich illegitimen Positionen der politischen Gegner die eigene Existenz, auch auf die Gefahr hin, das politische System dadurch insgesamt zu destabilisieren. 175 Entsprechend warfen die Polemiken um die contre-révolution nicht die Frage der praktischen Machbarkeit einer Wiederherstellung des Ancien Régime auf; in dieser fehlenden rückwärtsgerichteten Temporalität bestand durchaus eine Kontinuität zu den 1790er Jahren. Stattdessen folgten sie einer präsentistischen Logik: In der Debatte um die contre-révolution trugen die Vertreter verschiedener Lager in der Restaurationszeit ihre Kontroverse um die revolutionären Veränderungen aus. Aus liberal-oppositioneller Sicht bedeutete dies nicht nur die inhaltliche Bewahrung der politischsozialen revolutionären Errungenschaften seit 1789, sondern auch ihr rhetorisch affirmatives Bekenntnis. Ultraroyalistischen Selbsteinschätzungen entsprach dieses wirkmächtige dichotomische Verständnis von contre-révolution dagegen kaum.

174

175

Vgl. E. de WARESQUIEL: L’histoire à rebrousse-poil. Les élites, la Restauration, la Révolution, Paris 2005; DERS.: C’est la Révolution qui continue! La Restauration 1814–1830, Paris 2015; zur Kolonialpolitik F. PESTEL: The Impossible Ancien Régime colonial: Postcolonial Haiti and the Perils of the French Restoration, in: Journal of Modern European History 15 (2017), 261‒279. Dazu auch F. RAUSCH: Konstitution und Revolution. Eine Kulturgeschichte der Verfassung in Frankreich 1814‒1851, Berlin 2019.

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2. Contre-révolution als liberal-oppositioneller Kampfbegriff Die Kontroversen um die zunehmende liberal-oppositionelle Besetzung von contre-révolution bündelten sich in der Krise der Restaurationsmonarchie nach 1820, als die Ermordung des Duc de Berry, Neffe Ludwigs XVIII. und potentieller Thronfolger, im Februar 1820 der vorherigen Öffnung der Regierung unter Élie Decazes nach links ein Ende setzte und zu einer Reorientierung des Ministeriums zunächst in Richtung des centre droit, dann der ultra-royalistes führte. Nach dem Attentat auf das jüngste männliche Mitglied des Königshauses, der Entlassung des Kabinetts Decazes und der Wiederberufung des Duc de Richelieu begann auf liberal-oppositioneller Seite eine auf den Konterrevolutionsbegriff ausgerichtete Kampagne, die der eigenen Schwächung mit der Delegitimierung des erstarkenden politischen Gegners begegnete. Federführend trat dabei einerseits mit seiner Kampfschrift Du ministère actuel François Guizot auf den Plan, auf der anderen Seite der Abbé de Pradt als Autor eines Petit catéchisme à l’usage des Français. Beide konnten insofern auf die seit 1814 wieder einsetzende Polemik über die contre-révolution aufbauen, als sie permanent auf die Topoi des Ancien Régime «dans sa pureté et intégrité»,176 von Coblentz und anderer Exklusionsbegriffe zurückgriffen, die im Gegensatz zu ihren politischen Gegnern für sie eine konturierte Bedeutung besaßen: «de véritables noms propres qui posent nettement les questions, et désignent, à ne s’y point tromper, les élémens dont elles se composent». 177 In dieser Hinsicht bedeutete contre-révolution ganz schematisch «le retour plus ou moins prompt, plus ou moins direct, plus ou moins absolu, à l’état de choses qui existait avant 1789, soit dans l’organisation des pouvoirs politiques, soit dans la constitution de la société elle-même.»178 Wenn es um konkrete Inhalte ging, wurde der Vorwurf der contre-révolution allerdings rasch zur Aporie. Guizot fragte rhetorisch: «Que veut la contre-révolution? […] Nul le sait, et la contre-révolution elle-même pas plus que nous. Son besoin, son travail aujourd’hui, c’est de détruire.»179 Pradt konzedierte 176 177 178 179

PRADT: Petit catéchisme [173], 115. F. GUIZOT: Du Gouvernement actuel, Paris 1821, XXI. Ebd., XXVIII. Ebd., 169 f.

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seinerseits, dass die königliche Regierung die contre-révolution niemals «ouvertement et intégralement»180 gewollt habe, um dadurch den politischen Gegner von der Monarchie abzulösen. Worum es in der Neuorientierungsphase 1820/21 ging, war der Angriff auf jegliche tendance in Richtung Ultra-Royalisten. Decazes’ Versuch, die Interessen der France nouvelle mit der Monarchie unter der Devise «royaliser la nation et nationaliser la royauté» 181 in Einklang zu bringen, erwies sich nun als «mélange incompatible […] de la révolution et de la contre-révolution».182 Entsprechend war in der liberalen Interpretation das Decazes-Ministerium auch nicht durch den revolutionären Attentäter Louvel, sondern durch die contre-révolution zu Fall gebracht worden.183 Wie Guizots Verweis auf ihren destruktiven Charakter belegt, blieb sie ein ex negativoBegriff. Sie bildete die Antithese zu den revolutionären Errungenschaften, gegenüber denen die ebenso unscharfe wie polemische Chiffre 1789 die vom Abbé de Pradt gezogene «Demarkationslinie» bildete: combattre les forces que la révolution a créées, et de ranimer celles qu’elle a combattues. C’est là ce que nous appelons la contre-révolution, la tendance à la contre-révolution; et nous ignorons si, après avoir obtenu, vous ne demanderiez pas davantage. 184

Ob es dabei um ein konkretes politisches Zugeständnis des Ministeriums an die Ultraroyalisten ging, Richelieus späterer Ultra-Nachfolger Joseph de Villèle überhaupt an die Machbarkeit der contrerévolution glaubte oder das Ancien Régime zur Gänze wiederauferstand, war im Grunde genommen egal. 185 Denn das Paradox der hypertrophen Beschwörung der contre-révolution bestand in ihrer letztlichen Nichtmachbarkeit, an der eine auf die Ultraroyalisten gestützte Regierung letztlich selbst scheitern würde. 180 181 182 183 184

185

PRADT: Petit catéchisme [173], 115. B. YVERT: La Restauration. Les idées et les hommes, Paris 2013, 55‒94. PRADT: Petit catéchisme [173], 115. GUIZOT: Du Gouvernement actuel [177], 7. PRADT: Petit catéchisme [173], 139; siehe J. LEONHARD: «1789 fait la ligne de démarcation» – Von den napoleonischen «idées libérales» zum ideologischen Richtungsbegriff «libéralisme» in Frankreich bis 1850, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 11 (1999), 67‒105. F. GUIZOT: Des moyens de gouvernement dans l’état actuel de la France, ed. Claude Lefort, Paris 2009, 74.

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So wie die Opposition das Regierungslager auf die contre-révolution reduzierte, wurde sie selbst zunehmend zur Zielscheibe eines Manichäismus, der eine positive Bezugnahme auf die Revolution als gleichermaßen illegitim ansah. Diese Zuspitzung evozierte auch bei oppositionellen Abgeordneten, die nicht dem sich etablierenden parti libéral im engeren Sinne angehörten, ein eindeutig negatives Konterrevolutionsverständnis. So berief sich unter dem Ministerium Villèle Charles Ganilh nicht mehr auf die Revolution, sondern auf die Charte als Schutzschild gegen die contre-révolution, in der er die eigentliche Feindin der Restauration erblickte: Voudrait-on, sous prétexte d’une contre-révolution, refaire la Charte? […] Ce serait bien alors une contre-révolution et une puissante contre-révolution, puisqu’elle s’étendrait jusque sur le pouvoir de nos anciens monarques. […] La Charte n’a fait ni révolution ni contre-révolution. 186

Als eigentliche Bewahrerin der Restauration konnte die Opposition damit überparteiliche Prinzipien für sich reklamieren und sich zur konstitutionellen Hüterin gegenüber den Ultraroyalisten aufschwingen, die mittels der contre-révolution Frankreich die Instabilität der Revolution zurückbringen würden: [L]a restauration n’est ni la contre-révolution ni la révolution, c’est un ordre social nouveau dont l’auguste auteur de la Charte est le fondateur, et dans lequel il se trouve un heureux mélange des institutions et des principes anciens, et des institutions et des principes modernes. 187

Wenn die Ultraroyalisten nicht nur als Feinde der revolutionären Errungenschaften, sondern explizit auch als Verfassungs- und letztlich Monarchiegegner in einer bestehenden konstitutionellen Ordnung stigmatisiert wurden, dann bedeutete contre-révolution in der Konsequenz einmal mehr die Wiederherstellung des Ancien Régime: Dans son acceptation ordinaire, le mot contre-révolution exprime l’idée du retour à l’état social qui existait avant la révolution. Sous ce rapport, la contre-

186

187

C. GANILH: De la contre-révolution en France, Paris/Rouen 1823, 59‒61. Ganilhs Position ist dafür, dass er in der Chambre des députés im centre droit saß, bemerkenswert radikal. Sie demonstriert, wie mit der fortdauernden Ultra-Regierung Brückenschläge innerhalb der Opposition mit den Liberalen möglich waren. J. M. DUVERGIER DE HAURANNE: De l’Ordre légal en France et des abus d’autorité, Paris 1826‒1828, I 21.

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révolution en France déferait ce que la révolution a fait, rétablirait ce qu’elle a détruit, et remplacerait la France sous le régime de l’ancienne monarchie. 188

So sehr diese Hypothese auch vom oppositionellen Standpunkt her jeglicher Machbarkeit entbehrte und daher selbst den Konterrevolutionären eine contre-révolution pleine 189 eigentlich nicht unterstellt werden konnte, umso größer war ihr diskursiver Mehrwert für die Opposition. Für die Opposition kam es dabei maßgeblich auf den König an. Konnte man Ludwig XVIII., vor allem auch im Rückblick, zugutehalten, vor 1820 nicht im konterrevolutionären Sinne regiert zu haben, 190 bildete das zweite Richelieu- und erst recht das VillèleMinisterium unter demselben Monarchen einen Selbstwiderspruch. Seinem Nachfolger Karl X. fehlten jegliche positiven Referenzpunkte, die ihm seitens der Opposition größeres Vertrauen eingebracht hätten. In engem Zusammenhang mit der Rolle des Monarchen kam im Laufe der 1820er Jahre eine zentrale Debatte der 1790er Jahre wieder zum Tragen: die Vergleichsbestimmung der Restauration mit der als zyklisch interpretierten Geschichte des Englischen Bürgerkrieges. Das Warten oder Hinarbeiten auf ein französisches 1660 war konstitutiv für den politischen Erwartungshorizont der Emigration gewesen bzw. hatte der Ersten Republik, auch unter dem Eindruck des fortdauernden Krieges gegen Großbritannien, als Feindbild gedient. 191 Bonapartes Brumaire-Staatsstreich hatte 1799, als sich das Restaurations-Szenario fast zur Gewissheit verdichtet hatte, die Emigranten ebenso kalt überrascht wie nachhaltig desillusioniert. In den 1820er Jahren nahm 1660 dagegen im oppositionellen Diskurs eine immer stärkere Negativkonnotation an. Statt der gelungenen Restauration rückte ihr nachmaliges Scheitern in der Glorious

188 189 190

191

GANILH: De la contre-révolution [186], 158. Ebd. C. BARBAROUX: Introduction, in: J. A. LARDIER (ed.): Histoire biographique de la Chambre des Pairs, depuis la Restauration jusqu’à l’époque actuelle, Paris 1829, V–LIII, hier XXXIII f. Siehe auch P. SERNA: 1799, le retour du refoulé ou l’histoire de la Révolution Anglaise à l’ordre du jour de la crise du Directoire, in: P. BOURDIN (ed.): La Révolution 1789‒1871. Écriture d’une histoire immédiate, Clermont-Ferrand 2008, 213‒240.

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Revolution 1688/89 samt anschließendem Dynastiewechsel als neuer Erwartungshorizont in den Vordergrund. Die historische Übertragung der englischen Entwicklungen des späten 17. Jahrhunderts auf das postrevolutionäre Frankreich, die als contre-révolution anglaise zugleich einen retrospektiven Begriffstransfer beinhaltete, bildet daher einen Indikator für die Loyalität der französischen Opposition zur Restaurationsmonarchie.192 Für Ganilh war die englische contre-révolution 1823 noch positiv besetzt, da sie sich auf die Zustimmung aller gesellschaftlichen Gruppen stützen konnte. Für die englische Geschichte des 17. Jahrhunderts kamen Restauration und contre-révolution dadurch noch begrifflich zur imaginierten (da anachronistischen) Deckung. Für Frankreich bedeuteten die Wiederherstellung der Monarchie und contre-révolution jedoch zwei verschiedene Prozesse. Zum ersteren bekannte sich die Opposition im Namen der Charte, der letztere bildete eine polemische Hypothese, die den politischen Gegner begrifflich ins Abseits stellen sollte. 193 Vier Jahre später lag für Armand de Carrel, einen Vertreter der Jeune France, die historische Lektion des England-Vergleichs nicht mehr in der gelungenen Restauration, sondern im letztlichen Scheitern der contre-révolution anglaise in der Glorious Revolution: «Ainsi la contre-révolution apprit au peuple anglais que ses libertés étaient incompatibles avec la royauté non consentie, et que pour conserver la royauté avec avantage il fallait la régénérer, c’est-à-dire la séparer du principe de la légitimité.» 194

Die Schlussfolgerung für Frankreich musste daher lauten, dass es nicht der Opposition an Legitimität fehlte, sondern dem König und seinen Anhängern. Wenn damit der Sturz von Regierung und Dynastie im Grunde als französische Glorious Revolution die verfassungsmäßige Ordnung bewahrte, so war unter der Regierung Karls X. die angeblich nach dem Ancien Régime strebende contre192

193 194

A. CARREL: Histoire de la Contre-Révolution en Angleterre, sous Charles II et Jacques II, Paris 1827. GANILH: De la contre-révolution [186], 152 f. CARREL: Histoire de la Contre-Révolution en Angleterre, 4. Zur Jeune France A. B. SPITZER: The French Generation of 1820, Princeton 1987; J.-J. GOBLOT: La jeune France libérale. «Le Globe» et son groupe littéraire, 1824‒1830, Paris 1995.

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révolution die «révolution contre la Révolution». 195 Damit kam der oppositionell-liberale Konterrevolutionsbegriff der späten 1820er Jahre mit dem bellizistischen Gebrauchsmuster der Emigration 1793/94 zur Deckung. Die Konsequenzen waren jedoch entgegengesetzt und rechtfertigten 1830 in letzter Konsequenz die Revolution als Mittel gegen die zur Revolution gewordene contre-révolution. Für die Liberalen scheiterte die Restaurationsmonarchie daher nicht zuletzt in ihrem inkonsistenten revolutionären Sprachgebrauch.

3. Contre-révolution als royalistische Festschreibung der Restauration Die Polarisierung des politischen Spektrums nach 1820 führte insbesondere zu einer Spaltung und zunehmenden Auflösung des ministeriellen Zentrums. 196 Dieses hatte vor 1820 maßgeblich die Ministerien Richelieu I, Dessolles und Decazes getragen. Dabei erfolgte unter den letzten beiden eine zunehmende Gewichtsverlagerung in Richtung des centre gauche und damit der doctrinaires, deren politischer Einfluss wiederum als Signal zugunsten liberaler Kräfte galt. Das zweite Richelieu-Ministerium nach dem Attentat von 1820 grenzte sich von Decazes’ Strategie ab, stützte sich zunächst aber wieder auf einen im centre droit beheimateten royalisme constitutionnel. Keineswegs verfolgte Richelieu einen ultraroyalistischen Kurs. 197 Vielmehr war es der zunehmende Druck seitens der zunächst nur als Minderheit an der Regierung beteiligten royalistischen Rechten, der Ende 1821 zum Rückzug Richelieus und zur Konstituierung des Villèle-Ministeriums führte. Für die nicht-ultraroyalistische Rechte im Sinne eines royalisme constitutionnel markierte 1820 daher zunächst eine Kurskorrektur,

195

196

197

Victor de Broglie 1826 in der Chambre des Pairs, zit. nach G. BERTIER DE SAUVIGNY: La Restauration, Paris 1963, 385. E. DE WARESQUIEL / B. YVERT: Histoire de la Restauration, 1814‒1830. Naissance de la France moderne, Paris 1996, 325; PESTEL: Kosmopoliten [22], 463‒471. E. DE WARESQUIEL: Le Duc de Richelieu: un sentimental en politique, Paris 1990.

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die aber eine größere politische Offenheit suggerierte, als es retrospektive Deutungen einer ultraroyalistischen Wende nahelegen. Kennzeichnend für diese politische Neuausrichtung war der Bruch des centre droit mit dem centre gauche. Insbesondere Guizots Kritik am neuen Ministerium und seine Parteinahme für die Liberalen galten dort als inkommensurabel. Guizots Satz «Le Roi adopta la Révolution» 198 verstanden nicht nur Ultraroyalisten als Kampfansage, sondern auch Anhänger des centre droit, die sich wie Montlosier nun bereitwillig ins Lager der contre-révolution schlugen als «adversaires de tous ceux qui pensent à la révolution». 199 In den Notstands- und Repressionsmaßnahmen nach dem Attentat gegen den Duc de Berry, Neffe König Ludwig XVIII. und potentieller Thronnachfolger, der in der Nacht vom 13. auf den 14.2.1820 bei dem Anschlag getötet wurde, sahen konstitutionelle Royalisten dementsprechend kein Fanal des Ancien Régime, sondern eine Konsolidierung von Charte und Thron und damit eine heureuse contre-révolution. 200 1820 bot für sie die Chance, den Interessenausgleich der France ancienne mit der France nouvelle zu erneuern. Dieses konstitutionelle Verständnis von contre-révolution geriet durch die liberale Polemik unter Druck und trug zur politischen Erosion der zentristischen Kräfte unter Villèle bei. Dieser Prozess lässt sich exemplarisch bei Montlosier nachvollziehen, der seine publizistischen Beiträge der frühen 1820er Jahre maßgeblich in Replik auf Guizot verfasste. Während der vorherigen Öffnung des Ministeriums nach links hatte er contre-révolution noch mit der France ancienne bzw. der Rückkehr des Ancien Régime gleichgesetzt, zugleich aber den ministeriellen Kurs zwischen une demi-révolution und une demi-contre-révolution als schlimmste Option kritisiert. 201 Diese richtungsmäßige Flexibilität des Begriffs ging nach 1820 verloren. In Abgrenzung vom parti

198

199 200

201

F. GUIZOT: Du Gouvernement de la France depuis la Restauration et du ministère actuel, Paris 1820, 1. MONTLOSIER: De la monarchie française (1824), 182. P.L.B.: De la restauration, considérée comme le terme et non le triomphe de la révolution, et de l’abus des doctrines politiques; en réponse à l’ouvrage de M. F. Guizot, intitulé: «Du gouvernement de la France depuis de restauration, et du ministère actuel», Paris 1820, 78. MONTLOSIER: De la monarchie française (1818), 354 und 134.

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libéral bildete für Montlosier die Restauration fortan die contrerévolution toute entière. 202 Sie hatte für ihn bereits unter Napoleon begonnen, mit Ludwig XVIII. ihre Fortsetzung gefunden und musste nun konsolidiert werden, um die Restauration gegen ihre liberalen Feinde zu verteidigen. Anknüpfend an seine Position in den 1790er Jahren konnte sich contre-révolution auf der politischen Handlungsebene nur als Prozess, als «série d’événements», 203 vollziehen und daher inhaltlich keine Rückkehr zum Ancien Régime bedeuten. Wollten die Liberalen, indem sie die Demarkationslinie 1789 zogen, mit dem Feindbild der contre-révolution zugleich ihre Unmöglichkeit herausstellen, so leitete Montlosier aus den Maßnahmen des neuen Ministeriums bei definitivem Ausschluss des Ancien Régime gerade ihre Machbarkeit ab. Gleichwohl fiel auch Montlosier eine positive Identifikation mit der contre-révolution schwer, solange der parti libéral ihre rückwärtsgerichtete Bewegungsdynamik forcierte. Somit kam er nicht umhin, sich immer wieder vom liberalen Verständnis zu distanzieren: Accuser le parti royaliste de désir de contre-révolution […] serait juste si on n’entendait par là que le désir d’abattre les maximes et les doctrines de la révolution; mais on entend par contre-révolution le renversement de la Charte et de tout système de liberté. 204

Ein alternativer positiver Bezug zur Revolution war zur Bestimmung einer monarchisch-konstitutionellen Position ebenso ausgeschlossen. Insofern musste sich Montlosier mit einer anderen politischen Genealogie auf der anderen Seite der Demarkationslinie 1789 positionieren. Die Verfassungsordnung der Charte leitete er aus den Generalständen ab, denen er nicht angehört hatte, und nicht mehr aus der Assemblée constituante, deren Mitglied er gewesen war: [L]’objet de la contre-révolution est de revenir, non pas […] aux lettres de cachet, au pouvoir absolu, aux corvées, aux privilèges; mais seulement à ce qui a été dans la convocation des États-Généraux, le vœu général de la France, savoir: un gouvernement représentatif, une assemblée délibérante pour accorder

202 203 204

DERS.: De la monarchie française au 1er mars 1822, Paris 1822, 109. Ebd., 105. Ebd., 168 f.

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Contre-révolution les impôts et concourir à la formation des lois, l’abolition des privilèges pécuniaires de la noblesse, la conservation de ses privilèges d’honneur, l’admissibilité de tous les citoyens aux places sans autre distinction que les préférences nécessaires pour le mérite, ainsi que pour la capacité. Voilà, avec l’existence d’un corps de noblesse héréditaire, accompagnement nécessaire d’une monarchie, où veut arriver et où arrivera, malgré tout ce qu’on pourra faire, la contrerévolution pleine que je viens de spécifier. 205

Der rhetorische Aufwand, den Montlosier für eine konsistente Definition des Begriffs betreiben musste, ist symptomatisch für dessen mittlerweile einseitige, linke Bewegungsdynamik. Das ältere Verständnis als Prozessbegriff, das gerade er in den 1790er Jahren entschieden verfochten hatte, wurde zur Aporie, wenn die Revolutionsbekämpfung letztlich auf die Sicherung des status quo abzielte. Damit war den Revolutionsgegnern in der Restauration zwar eine Verzeitlichung der contre-révolution gelungen, nur hatte als Relationsbegriff ihre Mobilisierungskraft gegenüber den Liberalen abgenommen. Dagegen blieben die Liberalen auf das Ancien Régime fixiert und konnten damit die Monarchie gegen die Revolution ausspielen. Entsprechend schlugen die royalistes constitutionnels aus der zunächst offenen Situation 1820/21 keinen nachhaltigen politischen Gewinn. Da für Montlosier die linken Kräfte gleich welcher Abstufung kontinuierlich ihre politische Verantwortungslosigkeit demonstrierten, zog er letztlich das ultraroyalistische Ministerium Villèle einem erneuten Linksruck vor.206 Ein stabiles Fundament besaß seiner Überzeugung nach die Monarchie nur auf royalistischer Seite, nicht zuletzt, weil sich dadurch auch eine Chance bot, die Ultras im Sinne seines relationalen Verständnisses von contre-révolution an die Charte zu binden. Auch die Ultraroyalisten taten sich schwer mit den dichotomen liberalen Zuschreibungen, die alle politischen Strömungen rechts des ehemaligen centre gauche als konterrevolutionär einstuften. Für die ultras conservateurs 207 besaß der Konterrevolutionsbegriff keine signifikante Bedeutung, da er politisch zu stark mit der Revolution imprägniert war. Für sie bot die Charte ein zumindest theore-

205 206 207

Ebd., 109 f. Ebd., 1 f. und 230 f.; PESTEL: Kosmopoliten [22], 468. Für das Folgende de WARESQUIEL / YVERT: Histoire [196], 168‒170.

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tisch breites Möglichkeitsspektrum einer Stärkung der königlichen Prärogative oder ständischer Partizipationsinstanzen im Sinne der ancienne constitution, sodass auch Karl X. und das Ministerium Polignac ihr politisches Vorgehen gegen die liberale Mehrheit in der Chambre des députés 1829/30 nicht als positiv konnotierte contre-révolution zu inszenieren brauchten. Dagegen bekannten sich die ultras du mouvement – die Übergänge konnten fließend sein – klarer zur Charte. Gleichwohl schlug ihnen ein permanentes Misstrauen entgegen, die Verfassung nur als Deckmantel für eine konterrevolutionäre Politik, im schlimmsten Fall bis zum Ancien Régime, zu missbrauchen. 208 Dabei spielte es für die liberale Opposition keine Rolle, dass auch die Ultraroyalisten in sozialer Hinsicht durchaus Revolutionsgewinner gewesen waren. Gerade die Biografie ihrer Gallionsfigur Chateaubriand macht deutlich, dass die noblesse ancienne von der großzügigen Elitenintegration der Restauration insofern profitiert hatte, als sie nun in der Chambre des Pairs Positionen einnahm, die für Provinzadlige ohne die Revolution unerreichbar gewesen wären. 209 Die ultras du mouvement reklamierten zwar die contre-révolution für sich, zogen die Demarkationslinie aber nicht 1789, sondern 1814. Während liberal-oppositionelle Kräfte die Ministerien Richelieu und anschließend Villèle als contre-révolution brandmarkten, argumentierten deren Anhänger, dass diese keineswegs mehr stattfinden könne, da sie bereits mit der Restauration vollzogen worden sei. Nur selten schlugen Ultraroyalisten dabei allerdings so triumphalistische Töne an wie der Défenseur des colonies: Que veulent-ils donc dire avec leur contre-révolution? N’est-elle pas faite? Le Roi n’est-il pas sur son trône qu’avait renversé, puis usurpé la révolution? La constitution civile du clergé n’est-elle pas détruite? La noblesse n’est-elle pas reconnue? Tous les trônes de l’Europe ne sont-ils pas purgés de la race de Napoléon? L’échaffaud révolutionnaire n’est-il pas brisé? Fusille-t-on encore à Vincennes et dans la plaine de Grenelle? Mais, dira-t-on, la dîme n’existe plus. Que dites-vous là? elle est doublée: le cinquième qu’on paie pour l’impôt territorial, fait justement deux dîmes ou deux dixièmes. Les droits féodaux ne sont pas ressuscités. C’est vrai; mais qui est-ce qui en souffre? Ce sont positivement

208 209

GUIZOT: Des moyens [185], 95. Vgl. J.-C. BERCHET: Chateaubriand, Paris 2012; WARESQUIEL / YVERT: Histoire [196].

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Contre-révolution ceux qui ont l’air de craindre la contre-révolution, et à qui la révolution a donné presque tous les fiefs. 210

Doch selbst hier fand die Genugtuung über eine Revision revolutionärer Veränderungen ihre Grenze an den von der Charte sanktionierten revolutionären Eigentumsverschiebungen. Daher begriffen die Ultras es als Errungenschaft, dass contre-révolution für sie meistenteils nicht die liberalen Bedrohungsszenarien von absoluter Gewalt oder der Feudalrechte evozierte, sondern sich – bei allerdings breiter Auslegung – auf die Charte bezog. So kommentierte Marie Barthélemy de Castelbajac 1820 anlässlich der Debatte um die Verschärfung der Pressegesetze: Le contraire de la révolution étoit le rétablissement de la royauté légitime, et le contraire de la révolution étant la contre-révolution, la contre-révolution a eu lieu le jour où le Roi est remonté sur le trône, où, pour premier acte de son pouvoir, il a octroyé une Charte que personne n’avoit le droit, ni de demander, ni de refuser. La Charte a donc fait la contre-révolution. 211

Dieses ultraroyalistische Bekenntnis zur Charte als contre-révolution richtete sich ebenfalls gegen Guizots Schlachtruf «Le Roi adopta la Révolution» und markierte die Gegenposition zum liberalen Versuch, die Charte als angeblich einmütige Billigung der Prinzipien und Ergebnisse der Revolution zu instrumentalisieren.212 Darin bestand ein Berührungspunkt mit sich nach rechts orientierenden royalistes constitutionnels aus dem centre droit um Montlosier. Durch die Festlegung der contre-révolution auf das Stichjahr 1814 wurde für die Ultraroyalisten aus dem früheren Bewegungsbegriff ein Programmbegriff, aus dem sich zwei diskursive Pointen ableiten ließen: Zum einen bestand das Ziel der contre-révolution gerade nicht im Ancien Régime. Zum anderen implizierte die konterrevolutionäre Vereinnahmung der Charte, dass die revolutionsaffirmative Interpretation der Liberalen keine adoption der Revolution darstellte, sondern «une révolution nouvelle, puisque celle de 1789 a été détruite en 1814 et en 1815, autant qu’elle pouvait l’être». 213 Gleichwohl taugte die contre-révolution kaum mehr zum

210 211 212 213

Le défenseur des colonies, Nr. 10 (1820), 361. Le Conservateur (1820), VI 615. Ebd. Le défenseur des colonies, Nr. 12 (1820), 417.

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«mot de ralliement», 214 da sich der Verweis, «que le côté droit veut la contre-révolution», an der Grenze zur Tautologie bewegte: «[L]a contre-révolution ne soit plus une chose qu’on puisse vouloir, puisqu’elle est faite». 215 Eine Reaktion auf dieses Dilemma, die sich in der Restaurationszeit jedoch als Alternativbegriff zur contre-révolution nicht durchsetzte, stellte die von Chateaubriand bereits 1818 geprägte Kategorie conservateur dar, die er in der gleichnamigen, wenngleich kurzlebigen Zeitschrift programmatisch gegen die idées libérales in Stellung brachte, 216 So resümierte er das Programm des Conservateur: «Nous voulons la Charte; le Conservateur soutiendra la religion, le Roi, la liberté, la Charte et les honnêtes gens.» 217 Wenn Chateaubriands konstitutionelles Bekenntnis zumindest zeitweilig eine Öffnung der Ultras in das zerfallende Zentrum hinein implizierten konnte, so fand diese Annäherung, die zwischen royalistes constitutionnels und ultras du mouvement in der Verwendungsweise von contre-révolution zu beobachten ist, politisch in den 1820er Jahren nicht dauerhaft statt. Dazu trug bei, dass Chateaubriand und seine Anhänger nach 1824 immer stärker ins politische Abseits gerieten und innerhalb des royalistischen Lagers eine eigene contre-opposition de droite bildeten. 218 Montlosier versuchte aus seiner wachsenden Skepsis gegenüber dem politischen Kurs Karls X. heraus seinerseits noch einmal, mithilfe des Konterrevolutionsbegriffs eine konstitutionelle Position zwischen den polarisierten Lagern zu formulieren, als das Ministerium Polignac ab 1829 auf eine Stärkung der königlichen Autorität zulasten der Verfassungsorgane hinarbeitete. In Abgrenzung von den Liberalen galt für ihn weiterhin, dass alle konstitutionellen Errungenschaften der Restaurationsmonarchie gegen und nicht durch die Revolution erreicht worden seien. Doch zeigte er ebenso denjenigen Ultraroyalisten, die in Frankreich im Frühjahr 1830 noch – oder

214 215 216

217 218

Ebd., 418. Ebd., 417. R. VIERHAUS: Konservativ, Konservatismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, 531‒565, hier 538; LEONHARD: Liberalismus [169], 171. Le Conservateur (1818), I 7. BERCHET: Chateaubriand [209], 707‒754.

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wieder – von Feudalrechten und pouvoir absolu zu träumen schienen, anhand der Grenzen des politisch als contre-révolution Sagbaren die Machbarkeitsgrenzen auf: «Ce ne serait pas une contre-révolution que ces hommes trameraient, ce serait une véritable révolution, car la contre-révolution n’est plus à faire: elle a été faite par la Charte, par le retour de la dynastie légitime.»219 Das weiße Bourbonenbanner auf den Tuilerien zeigte einmal mehr, «qu’il n’y a plus de révolution à craindre, et plus de contre-révolution à faire».220 Dass im Juli 1830 auf den ministeriellen Versuch der Konterrevolution prompt die Revolution folgte, war für Montlosier nur konsequent, zeigt aber auch, dass auf semantischer Ebene ein konservativer, auf 1814 bezogener Konterrevolutionsbegriff, wie ihn royalistes constitutionnels und ein Teil der Ultraroyalisten vertraten, die von den Liberalen vorangetriebene Erosionsdynamik nicht einhegte.

V. Fazit Contre-révolution etablierte sich Ende 1789 als Neologismus im politischen Vokabular der Französischen Revolution und gehörte seitdem auch zum Sprachhandeln nachfolgender Revolutionen, das noch genauer zu untersuchen wäre. Für Frankreich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ließen sich mit den 1790er und 1820er Jahren zwei Schlüsselphasen identifizieren, in denen sich der Begriff im politischen Sprechen durchsetzte. Die Gebrauchsmuster weisen dabei durchaus überraschende Charakteristika auf: Der Begriff der contre-révolution kennzeichnete sich seit seiner Entstehung durch einen inhärenten Pluralismus, der sich zunächst im dominierenden Gebrauch mit dem unbestimmten Artikel und sowie in attributiven Differenzierungen niederschlug und sich im Laufe der 1790er Jahre auf nahezu alle politischen Akteursgruppen in Frankreich und den kriegführenden europäischen Mächten ausweiten ließ. Die Präsenz des Begriffs in der Haitianischen Revolution,

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F. DE MONTLOSIER: De la crise présente et de celle qui se prépare, Paris 1830, 24. Ebd., 26.

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gerade aufseiten der aufständischen Sklaven, verweist zudem auf seine globalen Horizonte bereits kurz nach seiner Entstehung. Dabei überwog seine Funktion als Abwehrbegriff zur Stigmatisierung und Delegitimierung des politischen Gegners. Seltener diente contre-révolution den Sprechern in den 1790er Jahren als positiver Identifikationsbegriff. Am ehesten war dies in der Emigration der Fall; doch bekannten sich die Emigranten unterschiedlicher politischer Ausrichtung eher zum Prozess der contre-révolution, als dass sie sich selbst affirmativ als contre-révolutionnaires bezeichneten. Obwohl contre-révolution morphologisch eine Gegenbewegung zur Revolution bezeichnete, blieb das Verhältnis überwiegend ein relationales. Entsprechend folgte die Zuschreibung einer politischen Position oder Akteursgruppe als konterrevolutionär zwar den politischen Dynamiken der Revolution, blieb aber flexibel und damit in der Gesamtperspektive auf das politische Spektrum durchaus inkonsequent. Diese Beobachtung bestätigt sich grundsätzlich für die zweite Schlüsselphase der semantischen Profilierung in der Restaurationszeit. Im Zuge der wachsenden Polarisierung zwischen liberal-oppositionellen und royalistischen bis ultraroyalistischen Positionen spielten die Zeitschichten des Revolutionsjahrzehnts zwar kaum eine Rolle, doch ließ sich contre-révolution mit unterschiedlichen zeitlichen Referenzpunkten, 1789 wie 1814, verknüpfen. Auch wenn sich ihre Verfügbarkeit im Vergleich zu den 1790er Jahren reduzierte, schloss contre-révolution – ob als Positiv- oder Negativbegriff – das Ancien Régime aus dem politischen Möglichkeitshorizont letztendlich aus zugunsten kontroverser Interpretationen der Charte constitutionnelle. Diese Flexibilität, vor allem aber die Prozesshaftigkeit des Begriffs hat die Revolutionsgeschichtsschreibung bislang weitgehend ausgeblendet. Vielmehr tradiert und isoliert sie bis in die jüngste Zeit hinein semantische Muster, die einerseits aus dem jakobinisch-republikanischen Begriffsgebrauch der 1790er Jahre stammen, andererseits auf contre-révolution als liberal-oppositionellen Exklusionsbegriff der 1820er Jahre zurückgehen. Gegenüber dieser verengten Perspektive bleibt als zentraler Befund der semantischen Analyse festzuhalten, dass der Bezug auf den Status quo ante in Form des Ancien Régime bzw. in stärker positiver Konnotation der ancienne constitution zwar möglich war, aber nicht die Hauptbedeutung darstellte. Contre-révolution bezog sich in ers-

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ter Linie auf den Prozess der Revolutionsbekämpfung, weniger auf seinen Endpunkt. Für die Zeitgenossen implizierte sie lagerübergreifend einen Primat der Mittel vor den Zielen – ob als Selbstoder als Fremdbezeichnung. Damit ergeben sich für den Gebrauch des Begriffs als historiografische Analysekategorie zwei Konsequenzen: Einerseits existierte im untersuchten Zeitraum von 1789 bis 1830 keine allgemein akzeptierte überparteiliche Gebrauchsweise von contre-révolution in Bezug auf politische Programme, Ordnungsvorstellungen, Verfassungsprinzipien oder Institutionen. Jede historiografische Zuschreibung eines Akteurs bzw. einer Akteursgruppe als konterrevolutionär ebenso wie jede Definition eines konterrevolutionären Ideenkanons transportiert folglich einen historischen Sehepunkt, der zumeist nicht explizit gemacht wird und oft in explizitem Widerspruch zum zeitgenössischen Begriffsverständnis der als konterrevolutionär klassifizierten Akteure steht. Hier werden Revolutionshistoriker/innen zu Akteuren der Begriffsgeschichte – allerdings oft, ohne sich diese Intervention hinreichend bewusst zu machen. 221 Das von Reinhart Koselleck eingeforderte «Vetorecht der Quellen» 222 gilt für die historiografische Präsenz des Kollektivsingulars la contre-révolution in besonderer Weise. Andererseits entzieht sich der Konterrevolutionsbegriff im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert einer klaren Dichotomie von Erfolg und Scheitern. Für die Zeitgenossen bildeten révolution und contre-révolution durchlässige Antagonismen, die sich synchron wie diachron auf dasselbe politische Phänomen beziehen konnten. In den 1790er Jahren führte die politische Radikalisierung der Revolution zu einer rapiden Vermehrung potenzieller Konterrevolutionäre, deren Exklusion oder Eliminierung im Sinne einer selffulfilling prophecy das Bedrohungspotenzial weiter steigerte. Doch ebenso beinhaltete contre-révolution für Revolutionsgegner in Ab-

221 222

Vgl. M. PERNAU: Transnationale Geschichte, Stuttgart 2011, 143. R. KOSELLECK: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: DERS. / W. J. MOMMSEN / J. RÜSEN (ed.): Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, München 1977, 14‒46, hier 45 f.; zur Einordnung S. JORDAN: Vetorecht der Quellen, Version 1.0 (2010), http://docupedia.de/zg/Vetorecht_ der_Quellen (13.5.2020).

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hängigkeit von ihren jeweiligen politischen Orientierungen ein Spektrum an politischen Möglichkeiten, das jede Erfahrung von Misserfolg oder Scheitern, gerade in Bezug auf eine Restauration der Monarchie, zur Voraussetzung und Gelingensbedingung der nächsten contre-révolution machte. In der Restaurationszeit ließ sich dagegen mithilfe der Charte constitutionnelle der revolutionäre Erfahrungsraum jeweils in sich kohärent als Revolution oder Konterrevolution deuten. Paradoxerweise ergab sich in der Verschränkung dieser beiden Deutungsmuster das Konfliktpotenzial aus der lagerübergreifend verneinten Machbarkeit der contre-révolution in der Gegenwart. Während die linke Opposition, indem sie dem politischen Gegner in den 1820er Jahren die contre-révolution permanent als Absicht unterstellte, sie aufgrund ihrer politischen Kosten de facto auszuschließen versuchte, hatte sie für große Teile der royalistischen Rechten mit der Restauration der Monarchie de facto stattgefunden. Indem die (Ultra-) Royalisten damit die progressive Bewegungsdynamik von contrerévolution aufgaben, die bei aller Unterschiedlichkeit sowohl Montlosier als auch Maistre in den 1790er Jahren problemlos für sich hatten beanspruchen können, ging für sie eine positive Identifikation verloren. Mit der Julirevolution, aber eben erst dann, verschob sich daher die diskursive Verfügbarkeit der contre-révolution zugunsten der Revolutionäre. Eine historiografische Verengung dieser längerfristigen und keineswegs linearen Prozesse auf Dichotomien von Erfolg und Scheitern, von Fortschritt und Rückschritt oder eben von Revolution und Konterrevolution als Kollektivsingulare läuft dagegen Gefahr, einer teleologischen Revolutionsgeschichte Vorschub zu leisten. Das hieße zugleich, das politische Denken und Handeln der Zeitgenossen anachronistisch zu beurteilen.

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Artikelliste Numerische Zusätze bezeichnen den Ort des Erscheinen des jeweiligen Artikels (z. B. 3/36 = Heft 3, Seite 36 ff.) Abus Administration, Bureaucratie Agiotage, Agioteur 12/7 Amérique -Angleterre Anarchie, Anarchiste Analyse, Experience 6/7 Ancien Regime – Nouveau Régime Antiquité Aristocratie, Aristocrate Art, Arts et Sciences Artisan, Artiste Athéisme, Athée Autorité, Pouvoir, Puissance Avocat Barbarie, Civilisation Vandalisme 8/7 Bastille 9/7 Bien commun, Esprit public Bon Sauvage Bonheur, Félicité publique Bourgeois, Bourgeoisie Canaille, Populace Capitaliste, Banquier, Financier 5/27 Caste, Classe Censure, Liberté de la presse Charité, Bienfaisance

Citoyen – Sujet, Civisme 9/75 Civilité 4/7 Clergé Club, Cercle, Sociabilité Commune(s)Complot, Saint-Barthélemy Concorde, Division, Fraternité, Union, Unité Condition, Etat, Naissance, Qualité, Rang Conservateur Constitution, Constitutionnel 12/31 Contre-révolution 22/163 Convention Conversation, Démagogue, Orateur Corps, Etats, Ordres Corruption, Décadence 14/7 Cosmopolitisme, Cosmopolite 6/41 Cour, Courtisan Crime Crise Critique 5/7 Curé, Prêtre Débauche, Libertinage, Libertin 13/7 Déisme Démocratic, Démocrates, Démocratique 6/57 Despotisme, Tyrannie Dévotion, Dévots Doctrine, Principes Domestique, Valet 13/47

231 https://doi.org/10.1515/9783110725063-004

Artikelliste

Droit 12/65 Droite – Gauche Economie politique 8/51 Egalité, Egalitaire Elite, Les meilleurs Emeute, Emotion, Désordres, Troubles Enthousiasme Esclavage, Noirs Etat, Chose publique Etre suprême Faction, parti (Girondins, Jacobins, usw.) Famille, Maison Fanatisme, Fanatique 4/51 Féodalité, Féodal 10/7 Femme 16/7 Fermier, Gabelle, Maltôtier, Traitant Fermentation Financier, Banquier, Capitaliste 5/27 France, Français Gens de lettres, Auteur Gouvernement Guerre civile Guillotine, Supplice Histoire Honnête komme, Honnêteté, Honnêtes gens 7/7 Honneur, Mérite Humanité 19/9 Idéologie, Idéologues Idiomes, Dialectes, Language

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Individu, Individualisme Industrie Instruction, Education Insurrection, Révolte, Sédition Intérêt public Jansénisme, Jésuitisme Justice Laboureur, Paysan 19/53 Libéral, Libéralité Liberté 16/85 Liberté – Egalité – Fraternité Libertinage 13/7 Libre pensée, libre penseur Loi, Législateur Lumières-Ténèbres Luxe 19/89 Magistrat, Magistrature Majorité – Minorité Manufacture, Fabrique Marchand, Commerçant Négociant Matérialisme, Matérialiste 5/61 Modération, Modéré, Modératisme 16/123 Moderne, Anciens et Modernes Mœurs 16/159 Monopoleur, Accaparement Morale Moyen-âge Nation 7/75 Nature, Naturel Noblesse, Nobles Notables Office, Officiers, Venalité Opinion publique 22/7

Artikelliste

Ordre, Désordre 14/61 Ouvrier, Prolétaire Parlements 10/55 Patrie, Patriotisme, Patriote Pauvres, Pauvreté Petits-maîtres, Muscadins Incroyables, merveilleuses 16/207 Peuple, Sans-culottes Philosophe, Philosophie 3/7 Police Politique 21/9 Privé – Public Privilège, Privilégiés Progrès 14/101 Propriétaire 13/7 Propriéte 13/7 Province Public, Publicité Raison, Vérité Réaction, Réactionnaire Réforme 19/115 Religion Rente, Rentier Représentation politique République, Républicain, Républicanisme 21/95

Révolution, Révolutionnaire 22/ 61 Riches – Pauvres, Patriciens – Plébéiens Robe, Robin Royauté Sens, Sensibilité, Sentiment Siècle 16/235 Société, Social, Art social Souverain, Souveraineté Subsistances 19/141 Superstition Systeme Terreur, Terrorisme, Terroriste 3/89 Tiers Etat Tolérance, Tolérantisme Travail, Travailleur Tribun, Orateur Utilité Utopie, Utopiste 11/9 Valet 13/47 Vertu Ville Volonté générale

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