Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820: Heft 7 Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens. Nation 9783486824667, 9783486536713


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German Pages 111 [112] Year 1986

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Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens
Nation
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Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820: Heft 7 Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens. Nation
 9783486824667, 9783486536713

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Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820

Herausgegeben von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt in Verbindung mit Gerd van den Heuvel und Anette Höfer Heft 7 Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens Anette Höfer, Rolf Reichardt Nation Elisabeth Fehrenbach

R. Oldenbourg Verlag München 1986

Das Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffein Frankreich 1680—1820 erscheint als Band 10 der Reihe Ancien Régime, Aufklärung und Revolution (hrsg. von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt).

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich : 1680-1820 / hrsg. von Rolf Reichardt u. Eberhard Schmitt in Verbindung mit Gerd van den Heuvel u. Anette Höfer. München : Oldenbourg (Ancien régime, Aufklärung und Revolution ; Bd. 10) NE: Reichardt, Rolf [Hrsg.]; GT H. 7. Honnête homme, honnêteté, honnêtes gens / Anette Höfer ; Rolf Reichardt. Nation / Elisabeth Fehrenbach - 1986. ISBN 3-486-53671-0 NE: Höfer, Anette [Mitverf.] © 1986 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf deshalb der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Hofmann-Druck KG Augsburg Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-53671-0

Inhalt Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens / Anette Höfer, RolfReichardt 7 Nation / Elisabeth Fehrenbach 75 Artikelliste

108

5

Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens ANETTE HÖFER, ROLF REICHARDT Einleitung I. Die Kultivierung (etwa 1540-1640)

2 des

,courtisan'

zum

,honnête

homme'

II. Die Ästhetisierung des ,honnête 'homme' in der mondänen Gesellschaft (etwa 1640-1680) 1. Salons, Preziose, Jansenisten 2. Höhepunkt des klassischen ,honnêteté'-Ideals um 1670/80 III. Der ,honnête homme' zwischen aristokratischer und frühbürgerlicher Gesellschaft (etwa 1680-1740) 1. Ethisierung, Geltungserweiterung und Kritik des ,honnêteté'-Ideals im ausgehenden 17. Jahrhundert 2. Bestrebungen zur Verchristlichung des ,honnête homme' (1689-1736) 3. Ambivalenz des .honnête homme' im frühen 18. Jahrhundert a) Der tugendhafte .honnête homme' als allgemeines Erziehungsideal - b) Die .honnêtes gens' als Aristokraten, Geldleute, Kavaliere und schlechte Christen - c) Das Ausbleiben der Synthese IV. Sozialkritisch-ethische Polarisierungstendenzen im Zeichen der Außlärung (etwa 1740-1788) 1. Vom fragwürdigen .honnête homme' zum Feindbild der ,honnêtes gens' 2. Ethisierung des .honnête homme' zum Staatsbürger V. Politisierung und Aufspaltung des Wortfeldes in der Französischen Revolution (1789-1799) 1. Der ,honnête homme' als einfacher, patriotischer Staatsbürger a) Ludwig XVI. - ein revolutionärer .honnête homme'? b) Semantische Demokratisierung - c) Kleinbürgerliches Erziehungsideal-d) Politisch-moralische Legitimationsfunktionen - e) Banalisierung 2. Niedergang der .honnêtes gens' a) Positive Bewertung im revolutionären Sinne bis 1793 b) Negativierung zur revolutionären Feindbezeichnung c) Verengung zum konservativen Parteibegriff ab Herbst 1794 VI. Ausblick: Banalisierung und Geltungsverlust im frühen 19. Jahrhundert

3

9 13

18 22 24

32 37

43

51

63 7

Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens

2

Einleitung Im Spannungsfeld von höfischer Gesellschaft, aristokratisch-großbürgerlicher Salonkultur, katholischer Reform und sich entwikkelnder aufklärerisch-politischer Öffentlichkeit kommt dem Begriff honnête homme eine beziehungsreiche Schlüsselrolle zu, weil er nicht im selben Maße wie die sinnverwandten Bezeichnungen courtisan oder gentilhomme auf eine bestimmte soziale Gruppe oder Schicht festgelegt war, sondern ein Persönlichkeitsideal mit universalem Anspruch bildete. Aus den Polaritäten und Wandlungen seiner Semantik läßt sich ablesen, wie Oberschichten und Gebildete im alten Frankreich Tendenzen des Übergangs von der ständischen zu einer funktionalen Gesellschaftsstruktur psychisch-mental bewältigten, wie sich zugleich ihre handlungsleitenden Maßstäbe vom vorbildlichen Gesellschaftsmenschen und seinem Verhalten änderten. Daher geht die folgende Darstellung nicht näher ein auf den im Ancien Régime unverändert anhaltenden alltäglichen Sprachgebrauch in Urbaren, Steuerrollen, Tagebüchern und Journalen, die unter honnête homme üblicherweise den ehrbaren Kaufmann, den unbescholtenen Bürger, also durchweg Nichtadelige1) verstanden, sondern konzentriert sich auf jene „Übergangssemantik" 2 ), die sich während etwa 160 Jahren von der unproblematischen Alltagsbedeutung des Begriffs verselbständigte und den honnête homme zum bewunderten, später zunehmend umstrittenen gesellschaftlichen Idealtypus erhob. Durch seine besondere Bedeutungsfülle und so*) G. DURAND: Vin, vigne et vignerons en Lyonnais et Beaujolais, Lyon 1979, 391; J.-P.GUTTON: La sociabilité villageoise dans l'ancienne France, Paris 1979,58.-Einige weitere Belege: „Monsieur Barada, perruquier, est mort et a esté anterré cejourdhui [...] C'estoit un très honnest homme." (M.REVEILLAUD: Journal, ed. C . DANGIBEAUD, in: Archives historiques de la Saintonge et de l'Aunis 45. 1914, 119 zum 1.1.1730.) METTRA, II 62 (20. VII. 1775) nennt einen Bauern einen „fort honnête homme"; s.a. ebd. X 124 (14. VIII. 1780); sowie einen Leserbrief im J. de Paris N° 74 (14. III. 1788), 326. In Eingaben kleiner Leute an die Polizei wie in der staatlichen Verwaltungskorrespondenz zwischen 1728 und 1768 stehthonnête für Unbescholtenheit und einwandfreien Lebenswandel im Gegensatz zu libertinage (vgl. die Quellendokumentation von A . F A R G E / M . F O U CAULT: Le désordre des familles, Paris 1982, S. 12, 58, 66, 91, 97f., 114, 177, 182, 1 8 7 - 8 9 , 235, 271, 297, 313, 334f., 341). 2

8

)

LUHMANN, b e s . 8 3 ; GALLE, p a s s i m .

Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens

3

ziale Resonanz besaß dabei der honnête homme im Zentrum eines Wortfeldes die führende Rolle und zog die älteren Wortbildungen honnête und honnêteté in seinen Bann. Da die konstitutiven Phasen dieser Bedeutungsentwicklung vor 1680 liegen, muß im folgenden das frühere 17. Jh. wenigstens zusammenfassend mit berücksichtigt werden.

I. Die Kultivierung des ,courtisan' zum ,honnête homme' (etwa 1540-1640) Im honnête homme des 17. Jh., den die Historiker oft, aber meist zu sehr als einheitlichen und statischen Typus dargestellt haben 3 ), flössen neben anderen kulturellen Strömungen zwei ältere Traditionen zusammen. Die eine war die Moralistik im Sinn von freigeistiger, psychologisch-didaktischer Menschenbeschreibung, von Lehre und Kunst unpedantischer Wesens- und Geistesbildung, gelassen-natürlicher Selbstverwirklichung und gesellschaftlichem Disputierspiel, wie sie vor allem der Humanist M. de Montaigne in seinen vielrezipierten Essais (1580-95) entwickelt hatte; sie beeinflußte die honnêteté-Konzeption besonders seit den 1640er Jahren 4 ). Den anderen Traditionsstrang bildet die sog. Hofpräzeptistik: eine lange Reihe von Traktaten über den idealen Hofmann und das richtige Verhalten bei Hofe, wozu der Mantuaner Graf B.Castiglione mit seinem Libro del Cortegiano (1528) das meistbeachtete Modell geliefert hatte; sogleich fünfmal ins Französische übertragen, wurde seine Schrift 1537-92 in mindestens 21 gedruckten Ausgaben in 3

) Eine differenziertere Skizze neuerdings bei ROTH: Höfische Gesinnung; zur sonstigen Forschung REICHARDT: Wandlungen. 4 ) Essays, Bücher 1 / 2 5 - 2 6 , I I I / 1 8 . Dazu H.FRIEDRICH: Montaigne, 2. Aufl., Bern/München 1967, 88, 234, 306; J . - P . B O O N : L'idéal de „l'honneste homme" est-il compatible avec la théorie évolutive des „Essais" de Montaigne? in: PMLA83. 1968, 2 9 8 - 3 0 4 ; STANTON, 2 1 - 2 5 . - Z u r Rezeption vgl. MAGENDIE, 3 8 6 - 9 3 ; A . M . B O A S E : The Fortunes of Montaigne. A History of the „Essays" in France, 1580-1669, London 1935, bes. 3 0 7 - 7 5 ; ROTH: Gesellschaft, 1 4 2 - 4 5 u. 208. - Allgemeiner C.STROSETZKI: Moralistik und gesellschaftliche Norm, in: Französische Literatur in Einzeldarstellungen,I,ed. P . BROCKMEIER/H. H . WETZEL, Stuttgart 1 9 8 1 , 1 7 7 - 2 2 3 ; J. STACKELBERG: Französische Moralistik im europäischen Kontext, Darmstadt 1982, 1 - 8 .

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Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens

4

Frankreich verbreitet und fand zahlreiche französische Nachahmungen, aber auch ab 1560 zunehmende, teils antiitalienische Kritik 5 ). In beiden Traditionen spielte freilich die h onnêteté - Konzeption zunächst und bis ins beginnende 17. Jh. kaum eine Rolle, obwohl der gelehrte Humanist R. Estienne den honnête homme bereits 1538/49 als neuen Ausdruck in seinen Wörterbüchern erstmals verzeichnet und als Synthese von Bildung, Höflichkeit, hoher sozialer Stellung und Bescheidenheit definiert hatte 6 ). Während Montaigne bei der Bezeichnung von Höflichkeit zwischen courtoisie und honnêteté schwankte (Essais, III/47) und die in sich ruhende wie auch gesellschaftlich umgängliche Persönlichkeit nur vereinzelt honnête homme nannte (ebd., 1/26, II/12, III/9-10), benutzten die Hofmann-Traktate diesen Begriff einstweilen nicht, sondern sprachen durchgehend vom courtisan ; und als ein gewisser Philibert de Vienne dem dort auf die Kunst des Verbergens und auf äußerlichen Konformismus eingeschworenen .Höfling' einen moralisch höherwertigen Idealtyp entgegensetzte, nannte er ihn Le philosophe de Court (Lyon 15 47 7 ).

s

) Allgemein C. UHLIG: Moral und Politik in der europäischen Hoferziehung, in: Literatur als Kritik des Lebens. Festschrift für L. Borinski, Heidelberg 1975, 2 7 - 5 1 ; sowie den Artikel „Cour, Courtisan" im vorliegenden Handbuch. - Zur Bedeutung des Cortegiano vgl. MAGENDIE, 3 0 5 - 3 4 ; La Corte e il,Cortegiano',

e d . C.OSSOLA,

vol. I—II, Roma 1980 ; Castiglione. The Ideal and the Real in Renaissance Culture, ed. R. W. HANNING/D. ROSAND, London 1983. - Zur Rezeption P. TOLDO: Le Courtisan dans la littérature française et ses rapports avec l'oeuvre de Castiglione, in: AnS Bd. 104. 1900, S.75-121,

313-330,

s o w i e Bd. 105.

1900, S . 6 0 - 8 5 ;

R.KLEC-

ZEWSKI: Die französischen Übersetzungen des , Cortegiano' von B. Castiglione, Heidelberg 1966; P. M. SMITH: The Anti-Courtier Trend in Sixteenth-Century France, Genève 1966; C. Rosso: L'Honnête homme dans la tradition italienne et française, in : Actes de New Orleans, 6

e d . F.L.LAWRENCE, P a r i s / S e a t t l e / T ü b i n g e n 1 9 8 2 ,

105-23.

) „[...] celui qui a une certaine culture d'esprit, un certain rang et point de prétention" (Dictionarium latinogallicum, 1538); ,,honneste homme et courtois- bellus homo, urbanus, civilis" (Dictionnaire François latin, 1549). Vgl. FEW, IV462f.; KRINGS, 139. 7 ) SMITH [5], 1 3 8 - 4 9 ; C. A. MAYER: L'honnête homme of Molière and Philibert de Vienne's „Philosophe de Court", in: MLR 46. 1951, 196—217; ders.: Lucien de Samosate et la Renaissance française, Genève 1984, S. 199-216.

10

5

Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens

Dagegen scheint die honnêteté während der zweiten Hälfte des 16.Jhs. besonders in den christlichen dvi/ifé-Schriften neben der ,Tugend' und der ,Ehre' zu einem Leitbegriff, zum Maß geistiger Bildung und gesellschaftlicher Umgangsformen aufgestiegen zu sein ( C . de CALVIAC: La civile honnestetépour les enfants..., Paris 15598) und verdrängte dann in den Schriften des François de Sales, nicht zuletzt in dessen einflußreicher Introduction à la vie dévote (1609-19), als Inbegriff des sowohl frommen und sittsamen wie auch geschliffenen und gebildeten gesellschaftlichen Umgangs die mondänerepolitesse 9 ). Auch in der Briefliteratur und den Schäferromanen des frühen 17. Jhs. drang die honnêteté vor; so bezeichnete H. d'Urfé die Höflichkeit im ersten Teil seiner Astrée (1607) noch überwiegend mit courtoisie oder civilité, gebrauchte aber im vierten Teil des Romans ( 1627) deutlich häufiger das Wort honnêteté in der erweiterten Bedeutung ,vollkommene Lebensart' 10 ). Dennoch ging der eigentliche Anstoß zur Bildung des honnêteAomme-Begriffs von der Hofkultur aus, wie der Vergleich zwischen einem typischen Hofmann-Brevier und dem ersten ausdrücklichen honnêteté-Traktat zeigt. Der Traicté de la Cour ou Instructions des Courtisans ( 1616), den der amtsadelige Diplomat und Staatsrat Eustache Du REFUGE ein Jahr vor seinem Tode veröffentlichte und der bis 1660 elfmal nachgedruckt wurde, ist noch weitgehend der Hofpräzeptistik der Spätrenaissance verhaftet. Seine Beschreibung des courtisan beschränkt sich auf praktische Verhaltensregeln und Ausführungen über die Zweckmäßigkeit geschmeidiger Umgangsformen (civilité, affabilité, douceur, conversation, humilité, dissimulation), der Beherrschung der Leidenschaften, der Beachtung der sozialen Hierarchie, des geschickten Eingehens auf den Fürsten und seine Launen (flatterie), wobei die Wahrung der ,Ehre' obenan steht und auch das Duell zulässig ist, die Erlangung der königlichen Gunst aber das Hauptziel bleibt: „le but commun auquel les Courti-

8

)

MAGENDIE, 1 5 9 - 6 4 ; KRINGS, 1 8 6 - 8 8 ; s . a . d e n A r t i k e l „ C i v i l i t é "

im vorliegenden Handbuch. 9

) FRANÇOIS DE SALES: Oeuvre,

e d . B . MACKEY/P. NAVATEL, III, P a r i s

1893, S. 182, 223,226. Weitere Belege bei H. LEMAIRE: Lexique des Oeuvres complètes de François de Sales, Paris 1973; s.a. R.BADY: François de Sales, maître d'honnêteté, in: XVIIe siècle 78. 1968, 10

)

3-19. KRINGS, 2 2 5 F . , 2 3 3 - 4 3 .

11

Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens

6

sans visent, est de gagner la faveur du Prince. En ce point gist toute leur science [..-]" 11 ). Hatte Du Refuge ausschließlich vom courtisan gesprochen, so erhob sechzehn Jahre später der vom Schuhmachersohn über Richter-, Sekretärsämter und die Gunst Richelieus in die Pariser Hofgesellschaft aufgestiegene Nicolas FARET in seinem Traktat schon im Titel den honnête homme zum neuen Leitbild, ließ dagegen den ,Hofmann' allenfalls noch als „Sage Courtisan" gelten, vermied sonst aber diesen mit dem Odium von Heuchelei und Oberflächlichkeit belasteten Begriff („ces subtils et raffinez Courtisans" 12 ). Denn trotz zahlreicher Anleihen bei Montaigne, Du Refuge und ganz besonders Castiglione 13 ) prägte Faret wenigstens in dreifacher Hinsicht ein neues soziales Konzept. In seinem honnête homme sind erstens früher positiv gewertete Verhaltenstechniken des Hofmanns, wenn sie überhaupt noch auftauchen, zu Lastern (vices) umgepolt 14 ); im Gegenzug avanciert die (bei Du Refuge fehlende) vertu zu einem der häufigsten Komplementärbegriffe: gewiß eine auf Gefallen, auf die Gewinnung gesellschaftlichen Ansehens bedachte ,Tugend', die aber mit christlichen Moralvorstellungen vereinbar sein soll (ebd. S. 23, 32, 59, 64). Zweitens wandelt sich der auf die Person des Fürsten und auf heroische Einzeltaten fixierte courtisan zu einem honnête homme, der viel stärker in das Kollektiv der Hofgesellschaft und deren Interaktionsregeln eingebunden ist („une grande Cour comme la nostre", ebd. S. 59), der beim Prestigewettbewerb das Duell durch die beherrschte und geistreiche „conversation des Egaux" ersetzt (ebd. S. 14 und 88) und dessen größtes Glück darin besteht, frei mit der Elite der honnêtes gens zu verkehren: lorsqu'il se trouvera parmy d'honnestes gens, [...] il pourra en toute liberté laisser agir son inclination naturelle [...] O quel plaisir ressent un esprit bien fait d'en rencontrer d'autres qui l'ont de mesme trempe que luy! (Ebd. S.72f.) " ) Zitiert nach der Ausgabe: Amsterdam 1660, S. 179. Vgl. dazu MA12

GENDIE, 3 5 1 - 5 4 . ) FARET: L'Honneste homme, ou l'Art de plaire à la Court ( 1 6 3 0 ) , ed. M . MAGENDIE 1 9 2 5 , S. 37 und 5 8 die einzigen Belege zum courtisan.

Zur Bedeutung Farets im größeren Zusammenhang MAGENDIE,

13

3 5 5 - 6 9 ; SCHEFFERS, 3 7 - 5 6 .

) FARET [12], Magendies Einleitung S.X-XLIX und seine Anmerkungen zum Text. 14 ) Ebd. S. 47 („flatteur"), 33 („hypocrisie"), 72 („dissimulation").

12

7

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gens

Drittens wird die früher alleinige Voraussetzung adeliger Geburt ergänzt durch die gesteigerte Forderung nach nicht fachspezifischer, umfassender Bildung (ebd. S. 12 und öfter), sodaß die aristokratische Exklusivität der Hofgesellschaft zwar nicht gebrochen, aber doch in Einzelfällen auch Bürgerlichen zugänglich erscheint: Il faut dire hautement, que nostre Cour a cet avantage par dessus toutes celles qui sont au monde, qu'un Honeste-homme, quand mesme il seroit né assez bassement pour n'oser s'approcher des Grands qu'avec des soumissions d'esclave, si est-ce que si une fois il leur peut faire connoistre ce qu'il vaut, il les verra à l'envy les uns et les autres, prendre plaisir à l'eslever jusques à leur familière communication.15)

Als Gegentyp zum schlechten ,Höfling' entwickelt, verkörpert der honnête homme also die dreifache Tendenz von Ethisierung, Verhofung und geistiger Kultivierung (und damit potenzieller Verbürgerlichung) und zeigt so, wie mit dem damaligen Ubergang von der Renaissance-Monarchie zum Absolutismus in den Oberschichten ein Wandel des Menschenideals einherging, das der von der Krone in ihrer politischen Macht beschränkten Aristokratie eine neue Funktion und Selbstrechtfertigung anbot. Nicht mehr Waffendienst und Kampf um Regierungsmacht, sondern kulturelle Leistung und durch die Hofetikette bis hin zu Mienenspiel und Gestik geregelter friedlicher Rangwettstreit begannen bereits unter Richelieu dem Adel als seine eigentliche Aufgabe zugewiesen zu werden16). Daß dies einem sozialen Bedürfnis entsprach, zeigt der Erfolg von Farets Traktat, der bis 1681 sechzehn Auflagen erlebte und sogleich als Modell diente für Schriften über die Honneste femme (J. D u Bosc, 1 6 3 2 - 34), die Honneste fille, den Honneste mariage, den Honneste garçon (alles von F. de GRENAILLE, 1639-42) und die 16a Honneste maîtresse (L. COUVAY, 1654 ). Damit war eine neue 15

) Ebd. S. 64f. Zugleich freilich wird dem honnête homme empfohlen: „ne rendre pas sa conversation et son amitié à toutes sortes de personnes", „jamais se mesler parmy la canaille" (ebd. S. 67). 16 ) Hauptsächlich für die Zeit Ludwigs XIV. beschreibt das N.ELIAS: Die höfische Gesellschaft, Neuwied/Berlin 1969. 16a ) Siehe auch P. BARDIN: Le Lycée, où en plusieurs promenades il est traité des connoissances, des actions et des plaisirs d'un honneste homme, vol. I—II, Paris 1632-34. Zu Bardin und seinem Umfeld vgl. HOMEN, I 2 0 5 - 2 4 3 ; LATHUILLIERE, 5 7 9 - 8 1 .

MAGENDIE,

335-38

und

370-83;

13

Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens

8

,Gattung' von Erziehungsschriften im Zeichen der honnêteté begründet, die in den beiden letzten Jahrzehnten des 17.Jhs. ihre größte Dichte und Verbreitung erreichen sollte, im ersten Drittel des 18. Jhs. einen erneuten Aufschwung erlebte und nach 1750 allmählich verebbte: Die langfristige .Konjunktur' französischsprachiger honnêteté-Traktate 1630-1816: gedruckte Erstausgaben und Neuauflagen pro Jahrzehnt16b)