Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820: Heft 13 Débauche, Libertinage. Domestique, Valet. Propriété, Propriétaire 9783486827866, 9783486559132


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Débauche, Libertinage
Domestique, Valet
Propriété, Propriétaire
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Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820: Heft 13 Débauche, Libertinage. Domestique, Valet. Propriété, Propriétaire
 9783486827866, 9783486559132

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Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 - 1820

Herausgegeben von Rolf Reichardt und Hans-Jürgen Lüsebrink Heft 13 Débauche, Libertinage Michel Delon Domestique, Valet Claude Petitfrère Propriété, Propriétaire Elisabeth Botsch

R. Oldenbourg Verlag München 1992

Das Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 - 1820 erscheint als Band 10 der Reihe Ancien Régime, Aufklärung und Revolution (hrsg. von Rolf Reichardt und Hans-Ulrich Thamer).

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich : 1680 - 1820 / hrsg. von Rolf Reichhardt und Hans-Jürgen Lüsebrink. München : Oldenbourg. (Ancien régime, Aufklärung und Revolution ; Bd. 10) NE: Reichardt, Rolf [Hrsg.]; GT

H. 13. Débauche, libertinage [u. a.] / Michel Delon. - 1992 ISBN 3-486-55913-3 NE: Delon, Michel

© 1992 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Hofmann-Druck KG Augsburg Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-55913-3

Inhalt Débauche, Libertinage / Michel Delon

7

Domestique, Valet / Claude Petitfrère

47

Propriété, Propriétaire / Elisabeth Botsch

73

Artikelliste

97

5

Débauche, Libertinage, Libertin* MICHEL DELON

Einleitung

3

I.

1680 - 1715:,Libertinage' zwischen Ehrenhaftigkeit und Häresie 4 1. Die Ambivalenz der Wörterbücher 4 2. Vom Ausschluß zur Beanspruchung, die Herkunft des Wortes a) religiöse Polemiken, b) gelehrte ,Libertinage' und Doktrin von den zwei Wahrheiten, c) Privilegien der Aristokratie . 6 3. Semantische Verschiebung (Bayle) 10

II.

1715 -1750: „Roués", „petits-maîtres" und Philosophen .. 11 1. Die Libertinage und das Mondäne: a) das Beispiel des Regenten und Ludwigs XV; b) .débauche' des Volkes und Reaktion der Aristokratie; c) hohe und niedere Prostitution 11 2. ,Libertinage' .Philosophie' und literarische Produktion . . . 15

III. 1750 - 1789: ,Libertinage' und Aufklärung: Die Kritik der Aristokratie und der Klerus 17 1. Natürliche oder künstliche Libertinage, die Angst vor Geschlechtskrankheiten 17 2. .Libertinage'und ästhetische Modelle (Diderot) 19 3. Die Grenzen des Aufklärungsmoralismus: a) Nachgiebigkeit gegenüber der aristokratischen ,Libertinage'; b) Neugier und .Débauche' des Volkes 22 IV. 1789 - 1794: Die Revolution als moralische Regeneration . . 1. Die im Namen der Tugend gegen den Hof gerichteten Pamphlete 2. Die Liberalisierung der Sitten im Namen der Freiheit . . . . 3. Literarische Zeugnisse

26 26 28 30

V. 1794 - 1820: Die Libertinage des 18. Jahrhunderts als ideologischer Mythos 31 1. Politische und ideologische Polemik 31 2. Die Memoiren über das 18. Jahrhundert 34 3. Nationale Bedeutungsschichten 35 7

Débauche,

Libertinage

2

Schlußfolgerung

37

Literatur

38

* Aus dem Französischen übersetzt von Annette Keilhauer

8

3

Débauche,

Libertinage

Einleitung Die Untersuchung der Idee der Libertinage geht weder in einer Geschichte der sexuellen Verhaltens noch in der Geschichte ihrer literarischen Darstellung auf. Sie blieb lange Zeit außerhalb des Feldes wissenschaftlicher Forschung, da sie der „petite histoire" und mehr oder weniger skandalösen Anekdoten anzugehören schien. Eine ganze Serie von Chroniken, angesiedelt auf halbem Wege zwischen Geschichtsschreibung und Fiktion, hat so in der Öffentlichkeit des 19. und 20. Jahrhunderts Neuigkeiten über die Liebesbeziehungen des Regenten und Ludwigs des XV., über die Halbwelt der Oper und über den Lebenswandel der Komödiantinnen verbreitet . . . Ernsthafte Forschungen wurden durch diese Art Neugier von Seiten der Öffentlichkeit eher behindert als gefördert. 1 Im Laufe des 20. Jahrhunderts sind die libertinistischen Romane jedoch von den hinteren in die vorderen Regale gerückt, und man begann, Crébillon oder Laclos nach den gleichen Gesichtspunkten zu lesen wie die großen zeitgenössischen Texte, während gleichzeitig die Sexualität einer der neuen Gegenstände der historischen Forschung wurde 2 . Wenn man heute beginnt, Parallelen zu ziehen zwischen der Rekurrenz literarischer Szenen und der gelebten Realität der Praktiken, so stellt sich die Frage nach den politischen und sozialen Funktionen der Idee der Libertinage. Die Verbindung zwischen Libertinage und débauche entspricht einer semantischen Form des klassischen Zeitalters, die die beiden Begriffe auf eine Regelwidrigkeit zurückführt, die meistens negativen Charakter hat und somit verdammt wird. Aber sie ist nicht konstant und hängt davon ab, wo man die Libertinage im Verhältnis zu verschiedenen Antagonismen ansiedelt: religiöse Orthodoxie / Häresie, Freiheit des Geistes / Freiheit der Sitten, Aristokratie / Bürgertum, Revolution / Konterrevolution, Modernität / „Ancien Régime" . . . Der Begriff der Libertinage taucht meistens in einem polemischen Kontext auf, der alles verschmilzt, was die geltende religiöse, soziale und politische Norm zurückweist. Von 1680 bis 1820 vollzieht sich eine langsame Verschiebung von der dominierenden religiösen Norm hin zu einer sozialen und politischen. Die sich in dieser Zeit herausbildende Philosophie der Aufklärung, die sich aus der libertinistischen Tradition entwickelt hat, löst sich von ihr und wendet die Kritik, die die christlichen Theologen an ihr geübt hatten, gegen die Aristokratie und den Klerus. Die Revolution, die einerseits die Liberalisierung der Sitten und der Moral bewirkt, aber andererseits das Modell des bürgerlichen Lebens verbreitet, befindet 9

Débauche,

Libertinage

4

sich in widersprüchlicher Weise in Kontinuität und Diskontinuität mit der libertinistischen Tradition. Von der Reformation bis zur Revolution bezichtigen sich die Gegner regelmäßig gegenseitig der Sittenlosigkeit (débauche) und der Libertinage.

I. 1 6 8 0 - 1715:,Libertinage' zwischen Ehrenhaftigkeit und Häresie 1. Die Ambivalenz der Wörterbücher Die Begriffe aus dem Wortfeld débauche und libertin sind gekennzeichnet durch eine anfängliche Ambiguität. In der Phase der sprachlichen Vereinheitlichung des 17. Jahrhunderts schwanken sie zwischen den beiden Registern des Erlaubten und des Unerlaubten. R I C H E L E T unterscheidet die „honnête débauche": „Récréation gaie et libre qu'on prend, riant, chantant et faisant bonne chere avec ses amis" - von der „débauche malhonnête", die durch Libertinage, Unordnung und lockere Sitten definiert wird. Sein Artikel „Débauche" dreht die Reihenfolge der Bedeutungen um. Die erste Bedeutung ist negativ: sie bezeichnet das, was sich in den Ausschweifungen selbst findet; dann kommt die Präzisierung: „Ce mot accompagné d'uné épithète favorable signifie qui aime les plaisirs honnêtes, qui aime une vie libre." Die Ambivalenz findet sich bei der Libertinage wieder, die zunächst moralisch verdammt wird. Der Libertin ist ein gottloser, in der Débauche lebender Mensch; die Libertinage ist eine Ausschweifung und eine 1

2

10

Siehe z u m Beispiel H. FLEISCHMANN: Le Cénacle libertin de Mademoiselle Raucourt (1912), Les demoiselles d'amour du Palais-Royal (1911), Les filles publiques sous la Terreur, s. d.; J. GRAND-CARTERET: Galanteries du XVIIIe siècle. Vers-proses-images, s. d.; A. RESCHAL: Vénus damnées. La galanterie parisienne au XVIHe siècle, s. d. Siehe vor allem J. L. FLANDRIN: Famille, parenté, sexualité dans l'ancienne société, Paris 1976; ders.; Le sexe et l'Occident. Evolution des attitudes et des comportements, Paris 1981 ; von M . FOUCAULT: Histoire de la sexualité. I: La volonté de savoir, Paris 1976 (die B ände II und III gehören nicht d e m gleichen Projekt an) und zwei T h e m e n h e f t e von Zeitschriften: Représentations d e la vie sexuelle, in: D H S , 1 2 , 1 9 8 0 ; und: Unauthorized Sexual B e h a v i o u r d u r i n g the E n l i g h t e n m e n t , in: Eighteenth Century Life, ed. by R. M . MACCUBBIN, IX, m a y 1985. Dieses H e f t von Eighteenth Centuiy Life erschien auch als B a n d "Tis Nature's Fault". Unauthorized Sexuality during the Enlightenment, C a m b r i d g e 1987.

5

Débauche,

Libertinage

Unordnung. Aber der eine wie der andere Ausdruck können, wie Richelet präzisiert, „lachend" gesagt werden. Sie zeigen also eine Tendenz auf, „seiner natürlichen Neigung zu folgen, ohne von der Ehrenhaftigkeit abzuweichen." 23 Während des gesamten 18. Jahrhunderts findet man eine Folgeerscheinung dieses doppelten Registers. Das Dictionnaire de Trévoux verwendet Débauche oft im positiven Sinne für eine „kleine Lustbarkeit unter ehrenhaften Männern, für ein Essen, einen Spaziergang oder eine Zerstreuung", und „mitunter sagt das Wort Libertin nichts Abscheuliches aus und bezeichnet lediglich eine dem Zwang entgegenstehende Person, die einer Neigung folgt, ohne aber von den Regeln der Ehrenhaftigkeit und der Tugend abzuweichen." Die erste Ausgabe des Dictionnaire de Trévoux zitiert dann Bouhours, nach dessen Meinung eine ehrenhafte Frau durchaus „libertine" genannt werden kann; aber die späteren Ausgaben folgen der Polemik zwischen Bouhours und Ménage, welcher diese Möglichkeit bestreitet. Die Debatte zeigt zur Genüge, daß das Gleichgewicht zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem nicht genau ausgewogen ist. Später im Jahrhundert erklärt Condillac noch, daß débauche „übertragen im guten Sinne verwendet wird und nur anzeigt, daß man sich einem Genuß hingibt, den man nicht gewohnt ist." Er unterscheidet di e Libertins, „die Launen gehorchen, welche nichts Tadelnswertes an sich haben", von denen, die von den Regeln der Ehrenhaftigkeit abweichen. 3 Auch wenn das Ideal des honnête homme, das im Frankreich der Klassik vorherrscht, durchaus gewisse Ausschweifungen toleriert, dominiert die religiöse und moralische Verdammung. Die Positivierung des Begriffs ist relativ selten und im allgemeinen mit Komik verknüpft. Sie nimmt zunehmend ab. Denn die Libertinage stellt die Gewißheiten des Glaubens in Frage und erhält einen Rest von Freiheit, die für die moderne Gesellschaft nicht akzeptabel ist. F U R E T I È R E definiert den Libertin als denjenigen, der es ablehnt, sich an das Gesetz zu halten. Seine Beispiele gehen vom Harmlosen (dem Schulschwänzer) bis zum Schlimmsten (dem Mönch, der ohne Erlaubnis das Kloster verläßt). Dieses letzte Beispiel deutet schon die zweite Bedeutung an: „Libertin wird auch im Bezug auf die Religion verwendet für diejenigen, die nicht 2A

3

(1680), I 2, 10 f und 424. Die zwei Artikel von CONDILLAC werden um ein „Cependant" ausgesprochen, das den Übergang zwischen der positiven und der negativen Bedeutung der Begriffe herstellt. (Dictionnaire des synonymes, 174 und 356). RICHELET

11

Débauche,

Libertinage

6

genügend Ehrfurcht vor deren Mysterien und nicht genügend Folgsamkeit für deren Befehle haben". Die Wörterbücher der Akademie und von Trévoux bezeichnen die Libertinage auch als Übermaß an Freiheit, als Ausschweifung in den Dingen, die die Religion betreffen. Trévoux erinnert dann an die Bedeutung von abgeschüttelter Sklaverei, die durch die lateinische Etymologie des französischen Wortes bestimmt ist, und an den historischen Sinn, der zurückführt auf die Sekte der Libertins im 16. Jahrhundert. Diese Etymologie und diese historische Bedeutung bilden die Grundlage des Begriffs Libertin und erklären seine ideologischen Besetzungen.

2. Vom Ausschluß zur Beanspruchung, die Herkunft des Wortes a) religiöse Polemiken Der erste Gebrauch des französischen Wortes findet sich 1477 in einer Übersetzung des Neuen Testaments und rührt vom lateinischen Sinn her. Der Libertin verbindet hier die Idee der Freiheit mit der des sozialen Abstiegs. Der Begriff verbreitet sich während des 16. Jahrhunderts im Zuge einer Polemik zwischen Calvin und einer Sekte, die aus Flandern gekommen war und die in Frankreich und dann in Genf Anhänger gefunden hatte. 4 Calvin entrüstet sich gegen ihre Absicht, Gott überall in der Natur zu sehen und die bestehenden Religionen auf rein politische Erfindungen zu beschränken (Contre la secte phantastique et furieuse des libertins qui se nomment spirituels, 1545). Die katholischen Apologeten übertragen diese Offensive, und der Begriff Libertin bezeichnet dann alle religiösen und moralischen Verhaltensweisen, die von der Rechtgläubigkeit abweichen. 5 Die polemische Strategie besteht darin, abstrakte Prinzipien und Verhaltensweisen, Libertinage und Atheismus zu vermischen. Calvin 4

5

12

G . SCHNEIDER: Der Libertin. Zur Geistes- und Sozialgeschichte des Bürgertums im XVI. und XVII. Jhd., Stuttgart 1970; s. a. L. G O D A R D DE DONVILLE: Le Libertin des origines à 1665, Paris 1989. J. C . MARGOLIN bemerkt, daß die Libertinage immer von außen her definiert wird, daß sie eine Heterodoxie und Marginalität bezeichnet und daß gegen Ende des 16. Jahrhunderts zu den traditionellen moralischen und religiösen Kriterien politische hinzukommen (Libertin, libertinisme, „libertinage" au XVIe siècle", in: Aspects du libertinisme..., Paris 1 9 7 4 , 1 - 3 3 . Siehe auch S. MASTELLONE: Gallicans et libertins, in: ebd. 2 2 9 - 3 4 .

Débauche,

7

Libertinage

betrachtet die natürliche Moral' der Libertins als eine Zersetzung der Sitten, welche die Schranken für die schlimmste sexuelle Zügellosigkeit öffnen. Ihre .natürliche Religion' sei eine Verneinung Gottes. Solche Vereinfachungen werden während des gesamten 17. Jahrhunderts systematisch wiederholt. Die Idee der Libertinage entspricht also noch nicht einem präzisen philosophischen oder theologischen Inhalt. Nach der Formulierung von René Pintard deckt sie: ,,1'éventail entier des opinions, tendances ou comportements qui s'écartent des croyances enseignées par le magistère ecclésiastique et acceptées par le commun des fidèles".6 Im selben Sinn erklärt J.-P. Seguin: „l'étiquette sert à englober tout ce que l'on renie polémiquement". 7 Auch Molières Komödie Tartuffe zeigt diese zeittypische Verwendung des Begriffs, den Orgon unablässig sowohl als Anschuldigung gegen seinen zukünftigen Schwiegersohn verwendet: Je le soupçonne encor d'être un peu libertin: Je ne remarque point qu'il hante les églises. (V. 524 - 525)

als auch gegen seinen Schwager: Mon frère, ce discours sent le libertinage: Vous en êtes un peu dans votre âme entiché; (V. 3 1 4 - 3 1 5 )

Dieser erwidert: C'est être libertin que d'avoir de bons yeux, Et qui n'adore pas de vaines simagrées N'a ni respect ni foi pour les choses sacrées (V. 320 - 322)

Er lehnt die Bezeichnung Libertin ab (V. 1621) und tritt für einen genauen Mittelweg zwischen Libertinage und einer prahlerischen und übermäßigen Frömmigkeit ein. Die erste Ausgabe des Trévoux-Wörterbuches verwendet zwei dieser Zitate aus dem Tartuffe, die die Verleger aus den späteren Ausgaben herausgenommen haben.

6

7

R. PINTARD: „Les problèmes de l'histoire du libertinage, notes et réflexions", in: Dix-septième siècle 32, 1980. J . P . SEGUIN: „Le mot libertin dans le Dictionnaire de l'Académie ou comment une société manipule son lexique", in: Le Français moderne 4 9 , 1 9 8 1 , 1 3 9 — 205.

13

Débauche,

8

Libertinage

b) Gelehrte .Libertinage' und die Doktrin von den zwei Wahrheiten. Derselbe Ausdruck benennt einerseits das, was man später als die wissenschaftliche Libertinage8 bezeichnet hat, die sich in intellektuellen Haltungen von Stubengelehrten wie La Mothe LeVayer oder Gassendi ausdrückt, und andererseits die Libertinage der Sitten, die in den gehobenen Schichten der Gesellschaft und insbesondere in der Umgebung von Gaston d'Orléans spürbar war. Die gelehrten wie die weltlichen Libertins zeichnen sich durch ihren Widerstand gegen das Vulgäre aus und zeigen die Notwendigkeit einer doppelten Wahrheit auf, einer esoterischen Wahrheit für die Eingeweihten und einer exotischeren für das Volk. Eine von dem Italiener Cremonini entliehene Sentenz resümiert diese Einstellung: Jntus ut libet,foris ut moris est" (im Inneren, wie es dir gefällt, im Äußeren wie es Sitte ist). Luisa Sigea, die Heldin der sehr freizügigen Dialogues, die Nicolas Chorier um 1759 anonym veröffentlicht, entwickelt dasselbe Prinzip: En public, vis pour tout le monde; en secret et en ton particulier, vis pour toi, couvre ta vie du voile de la décence. Celui qui décore ses méfaits d'une apparaence de probité est beaucoup plus utile à la chose publique que celui dont les bonnes actions se cachent sous l'ombre de la turpitude. Revêts-toi d'honnêteté, mais de celle dont tu puisses te dépouiller facilement dès qu'il en sera besoin. 9

c) Privilegien der Aristokratie Man findet hier die Idee der Aufspaltung wieder, die dem Begriff ideologisch anhaftet. Die ursprüngliche Ehrlosigkeit des Befreiten allerdings wird zum Anspruch einer Elite, die sich eine zusätzliche Freiheit zugesteht. Die Libertinage wird also zum Privileg des Aristokraten, der sich den Regeln der Gemeinschaft entzieht, und des Schriftstellers, der sich literarischen Konventionen nicht unterwirft (wie Théophile, D'Assoucy, Cyrano de Bergerac oderSorel): Ein doppelter Kampf gegen die Normierung der Sitten und der Sprache, die vorangetrieben wird durch die staatliche Zentralisierungspolitik des 17. Jahrhunderts und unter anderem im ästhetischen Bereich in der französischen Klassik ihren Niederschlag gefunden hat. Dieser Kampf impliziert den Ge8

9

14

R . P I N T A R D : Le Libertinage érudit dans la première moitié du siècle, Paris 1943. Texte zitiert von C. R E I C H L E R : L'Age libertin, Paris 1987, 22.

dix-septième

9

Débauche,

Libertinage

brauch eines volkstümlichen Vokabulars und volkstümlicher Themen, was jedoch eine deutliche Verachtung des Volkes keineswegs ausschließt. Wenn der Skeptizismus und der Rationalismus in der Rückschau an eine bürgerliche Weltsicht angenähert werden können, so muß man allerdings einräumen, daß die betroffenen Schichten dem Großbürgertum und den Aristokraten angehören. Der Dichter Théophile, der durch seinen Deismus, seine sprachlichen Ausschweifungen und seine Homosexualität die Libertinage verkörpert, entkommt nur aufgrund des Schutzes einflußreicher Kreise dem Schaffott, auf dem 1619 Vanini und noch 1662 Claude Le Petit endeten. Der freizügige Gedanke geht meistens Hand in Hand mit einem streng elitären Denken und Verhalten. Die religiöse Rechtgläubigkeit unternimmt eine Verschmelzung aller Positionen, die sich mehr oder weniger weit von ihr entfernen, um die kleinste Abweichung in die Nähe der schlimmsten Verwegenheit (des Atheismus) zu rücken und dann ausgehend vom Verhalten auf verdächtige Ideen zu schließen. Diese Haltung ist beim Père Garasse zu sehen, der in einer vom Trévoux-Wôrterbuch zitierten Stelle seiner Doctrine curieuse des beaux esprits de ce temps, ou prétendus tels diejenigen aufzählt, denen er den Krieg ansagt: „les athées, les huguenots, les catholiques gallicans, les libres penseurs ou libertins, les voluptueux ou nouveaux épicuriens.

Die Libertinage berührt den Geist und den Lebenswandel: J'appelle libertins nos ivrognets, moucherons de taverne, esprits insensibles à la piété, qui n'ont d'autre dieu que leur ventre, qui sont enrôlés en cette maudite confrérie qui s'appelle la confrérie des Bouteilles. 10

Der von Horaz stammende Ausdruck „Epicuri de grege porcorum" hat sich so verbreitet, daß man ihn bis im Munde von Molières Sganarelle findet, als dieser seinen Herrn, die Inkarnation eines Libertins, beschreibt: un enragé, qui ne croit ni ciel ni Enfer ni loup-garou, qui passe cette vie en véritable bête brute, en pourceau d'Epicure, en vrai Sardanapale."

10 11

Paris 1623. MOLIERE: Dom Juan, 1.1. Die Observations des Sieur de Richemont von 1665 klagen Molière an, im Dom Juan „école de libertinage" zu halten.

15

Débauche, Libertinage

10

3. Semantische Verschiebung (Bayle) Ende des 17. Jahrhunderts bemüht sich Bayle zu zeigen, daß die Meinungen, die von den Menschen vertreten werden, nicht ihr Verhalten bestimmen. So wie es vorkommt, daß fromme Christen einen schlechten Lebenswandel führen, können Atheisten tugendhaft handeln. Er klagt die Intoleranz des Père Garasse an. Dieser habe, so Bayle, weniger dazu beigetragen, diese Menschen [die Libertins] zu bekehren, als vielmehr dazu, sie unempfindlich zu machen. Der Artikel unternimmt eine Gleichsetzung von Libertins und Débauchés; aber Bayle lehnt es ab, Libertinage und,Atheismus' anzugleichen. Die „grand libertinage" von Dex Barreaux, dem Gefährten Théophiles, besteht nicht in der Verleugnung Gottes, sondern darin, „weder an den Kultus, noch an die Dogmen der römischen Religion zu glauben".12 Nach Bayle haben Libertinage und débauche gemeinsam, Diskretion und Esoterik notwendig zu machen. Irgendein italienischer Dichter sei „si débauché" gewesen, daß er sich sogar über die notwendigsten Vorsichtsmaßregeln derer hinwegsetzte, „die die schlimmste Verachtung vermeiden wollen".13 Bayle zeigt also einen Raum der Freiheit auf, der der Libertinage die Möglichkeit eröffnen wird, sich in die Aufklärungsphilosophie umzuwandeln. Von daher kann man die lexikalischen Äquivalente verstehen, die von den Wörterbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts aufgestellt werden.14 Libertin erscheint zusammen mit: 1.,Atheist',,Gottloser',,Freidenker'; 2. .wollüstig' débauche, crapuleux; 3. .Vagabund', ,Bandit'. Man bemerkt hier die doppelte Besetzung des Begriffs, der sowohl als intellektuelle Haltung wie auch als Verhaltensweise beschrieben und auf die beiden extremen Punkte der sozialen Rangordnung bezogen wird: der reiche Wollüstige und der arme Vagabund. Die erste Serie weist auf eine intellektuelle Subversion, die zweite auf eine moralische, und die dritte stellt die gesellschaftliche Struktur selbst in Frage. Das Trévoux-Wôrterbuch und die Encyclopédie stellen den Libertin zwischen den Wollüstigen und den débauché. Im Falle einer Unterscheidung der Ausdrücke betrifft die crapule den Wein, während die débauche sich auf das sexuelle Vergnügen bezieht, zumindest, wenn es sich nicht um Abstu12

11 14

BAYLE: Dictionnaire historique et critique, Art. „Garasse" und „Des Barreaux". Ibid., Art. „Molsa". S i e h e d i e S y n o n y m w ö r t e r b ü c h e r v o n GIRARD ( 1 7 3 6 ) , CONDILLAC ( 1 7 5 8

1 7 6 7 ) und MORIN ( 1 8 0 2 ) w i e auch das Wörterbuch.

16

-

11

Débauche, Libertinage

fungen ein und derselben Steigerung handelt: die débauche schließt nur die Mäßigung aus, während die crapule auch die Wahl der Objekte ausschließen würde. Die drei Begriffe Libertin, vagabond und bandit beinhalten auch eine Verstärkung im Bezug auf die Abweichung von der sozialen Norm.

II. 1750 - 1750: „Roués, „petits-maîtres" und Philosophen 1. Die Libertinage und das Mondäne: a) das Beispiel des Regenten und Ludwigs XV. Während die letzten Regierungsjahre Ludwigs XIV. von einer wachsenden Strenge des Hoflebens und der Unterdrückung jeglicher intellektueller Freiheit gekennzeichnet waren, brachte die Régence eine plötzliche Lockerung der Sitten mit sich. Sie erschien wie eine Einleitung in das neue Jahrhundert, für das sie tonangebend sein sollte. Die Libertinage wurde im Verhalten und in den Zeugnissen sichtbar, die Zeitungen, Chroniken und literarische Werke von ihr geben. Ihre Darstellung entwickelt sich also zwischen Anprangerung und Billigung. Eine Feststellung Marivaux' scheint sich aufzudrängen: il n'y avait plus d'amants, ce n'était plus que libertins qui tâchaient de faire des libertines. On disait bien encore à une femme: je vous aime, mais c'était une manière polie de lui dire: je vous désire.15

Und Gaillard de la Bataille schrieb in bewußter Übertreibung: La galanterie et la débauche n'ont jamais été poussées si loin [ . . . ] qu'il est comme impossible de passer aujourd' hui pour honnête homme sans être débauché. 16

15

16

MARIVAUX: Le Spectateur français (12 mai 1723) in: Journaux et oeuvres diverses, ed. DELOFFRE und GILOT, Paris 1969, S. 206. F. GAILLARD DE LA BATAILLE: Histoire

de

Frétillon

( 1 7 3 9 ) , zitiert

J. RUSTIN: Le Vice à la mode. Etude sur le roman français du XVllle

von

siècle

( 1 7 3 1 - 1 8 7 1 ) , Paris 1 9 7 9 , 86.

17

Débauche,

Libertinage

12

Eine solche Entwicklung hat eine Verschiebung des Vokabulars zufolge, und die Libertinage drängt sich in den Liebesdiskurs. So wird die galanterie zum Euphemismus für die débauche. In dem Artikel „Galanterie" stellt die Encyclopédie die höflichen Gebräuche der Liebe dem Laster des Herzens und der Libertinage gegenüber, „der man einen ehrenhaften Namen gegeben hat. Sie kommentiert diese zweite Bedeutung: „En général, les peuples ne manquent guere de masquer les vices communs par des dénominations honnêtes." 17 „Faire l'amour" bedeutet nicht mehr nur, den Hof zu machen, sondern auch, den sexuellen Akt zu vollziehen. Das semantische Feld der Libertinage erweitert sich jetzt also, es reicht vom mondänen Spiel bis zur Ablehnung jeder gemeinsamen Regel, von der einfachen Freizügigkeit des Verhaltens bis zum Gefallen an der Gewalt und an mit Lust ausgeübten Mißhandlungen, von der sexuellen Praxis bis zur abstrakten Theorie. Neologen versuchten, in diese Vieldeutigkeit und die daraus folgende Verwirrung eine neue Definition einzubringen. Marivaux unterscheidet „libertinages d'idées et de sentiments", Prévost spricht auch von der „Libertinage d'esprit" - einem Ausdruck, den auch Laclos aufgreift, Crébillon zieht „libertinage d'imagination" vor. 18 Aber die Unterscheidungen lösen die Zweideutigkeiten nicht auf. Libertinage d'idées kann nur eine Ablehnung von zu strengen Normen im Sinne der libertinage honnête sein („Je me sens aujourd'hui d'un libertinage d'idées qui ne peut s'accomoder d'un sujet fixe", sagt Marivaux 19 ; aber sie bezeichnet auch eine Aufwertung der Verführung und ein ,System' der débauche.20) Die libertinage zeichnet sich im 18. Jahrhundert durch beständige Überschneidung verschiedener Bedeutungsschichten aus: Mondänität und soziale Ausschließung, Sinnlichkeit und Intellektualität.

17

18

Enc., VII (1757) S. 428. Diese Ableitung der Vokabel beobachtet Marivaux auch weiter oben und später im Artikel „Galanterie" des Tableau de Paris, 1782, I I , 1 4 6 von M E R C I E R gemachten Zitats. M A R I V A U X : La Dispute, scène 1 , und Journaux et oeuvres diverses, 1 2 3 und 1 3 2 ; P R É V O S T : Manuel lexique, zitiert in Manon Lescaut, ed. D E L O F F R E / P I C A R D , Paris 1 9 6 5 , 3 2 8 ; L A C L O S : Le Liaisons dangereuses, lettre 1 4 1 , kommentiert von L . V E R S I N I : Laclos et la tradition, Paris 1 9 6 8 , 4 3 , 3 5 9 und 466.

19 20

18

Le Spectateur français (10 avril 1722), 132. Siehe L . V E R S I N I : Laclos et la tradition und J. R U S T I N : Le vice à la mode [16].

Débauche,

13

b) débauché'

Libertinage

des Volkes und Reaktion der Aristokratie

Die Verhaltensweisen des Regenten sowie Ludwig XV., die zunächst von den Aristokraten imitiert wurden, bevor sie sich weiter verbreiteten, führten eine neue Serie von Äquivalenten in die Sprache ein: Roué / Débauché / Libertin / Petit-maître. Saint-Simon weist darauf hin, wieviel Zeit der Regent „en famille et en amusements, ou en débauche" verlor. Seine „compagnons de débauche" wurden „des roués" genannt, das heißt, sie hatten ,die Marter des Rades' verdient. 21 Der Ausdruck betont die soziale Deklassierung von Aristokraten, die mit Prostituierten und Dieben verkehren und deren Vulgarität und Gewalt übernehmen. Die Literatur der Zeit zeigt die Verbindungen, die sich zwischen den Eliten und den Unterschichten bilden. Der soziale Aufstieg einiger Prostituierten erzeugt die gleiche Faszination wie der plötzliche Wohlstand, der aufgrund der Wirtschaftsreform Laws entstand, während in Wirklichkeit die meisten dieser Prostitutierten Opfer staatlicher Repression sind und einige, wie zum Beispiel die Figur Manon Lescauts zeigt, sogar als Deportierte in Amerika enden. In den unteren Bevölkerungsschichten scheint der Begriff débauche allgemeingültig zu sein. Der Diskurs des Volkes, soweit er etwa in an den König oder den Lieutenant de police gerichteten Bittschriften um die Inhaftierung eines abgefallenen Familienmitgliedes faßbar ist22, stellt die folgende semantische Reihe auf: débauche / dérangement / désordre / dérèglement / mauvaise conduite / mauvaise vie / libertinage. Diese Begriffe vereinigen die verschiedenen Möglichkeiten von Trunksucht über Faulheit, Blasphemie, Gewalt und Brutalität, Ehebruch und sexuelles Fehlverhalten, Abwesenheit und Verirrung bis zum Wahnsinn. Die superlative Funktion wird durch das Adjektiv outré gewährleistet (débauche outrée). Am Gegenpol dieser Vulgarität wird der Libertin auch zum petitmaître, dem Erben der Molièreschen petits marquis und der Schöngei-

21

22

S A I N T - S I M O N : Mémoires, éd. de BOISLISLE. Paris, 1 9 1 8 , X X I X , 3 8 4 . A. FARGE und M . FOUCAULT: Le désordre des familles. Lettres de cachet des Archives de la Bastille, Paris 1982. Diese Analyse, die sich auf den Bereich von Paris beschränkt, kann durch die Untersuchung der Situation in der Provinz vervollständigt werden. Vgl. C. QUETEL: „De par le Roy". Essai sur les lettres de cachet, Toulouse 1981, S. 123 - 169. C. Quétel zeigt, daß die Grenzen zwischen libertin, débauché, furieux und fous fließend sind.

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Débauche,

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ster der Preziosität. Der Ausdruck verbreitet sich ab 1730.23 Der petitmaître übertreibt die Höflichkeit, die der roué zu vergessen scheint. Der erste ist ein „grand seigneur méchant homme", während der zweite sich in Seichtheit und Oberflächlichkeit verliert. Durch ihre Intention, „la bonne compagnie", „l'extrêmement bonne compagnie" zu umgreifen, weist die Libertinage der petits-maîtres auf eine Stärkung der Privilegien des Adels.24 Man kann hierin den Ausdruck einer „réaction aristocratique", einer erneuten sozialen Abschottung des Adels, sehen.25 c) hohe und niedere Prostitution Die Bandbreite des sozialen Bereichs, in dem sich die Idee der Libertinage ausbreitet, erscheint auch für die Geschichte der Prostitution interessant. In Paris hat ein Mädchen, das sich auf der Straße oder im Haus prostituiert und das in Polizeiprotokollen débauchée oder libertine genannt wird, nur wenig zu tun mit der gerissenen Kurtisane, deren Funktion zunächst die der Geselligkeit ist. Die Erstere ist den Drohungen der Schergen des Polizeichefs ausgesetzt, sie gilt als „coupable par définition" und ist somit immer der Willkür der Polizei preisgegeben.26 Letztere ist hingegen vor Willkür relativ geschützt: die Kurtisane hat einen eigenen Haushalt und führt den Lebenswandel, den der Stand ihres Liebhabers verlangt. Mehrere Wörterbücher unterstreichen die Sonderstellung der Kurtisane im Vergleich zur einfachen Prostitutierten. Nach Richelet bezeichnet der sprachlich mißgedeutete Begriff „alle etwas achtbaren Frauen, die ein schlechtes Leben führen"; und das Dictionnai23

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Siehe PH. LAROCHE: Petits-maîtres. Evolution de la notion de libertinage dans le roman français du XVIIe siècle. Québec 1979; MARIVAUX: Le Petit-maître corrigé, ed. DELOFFRE, Genève/Lille 1955; L. Sozzi: Petit-maître et Giovin singore: affinita fra due registri satirici, in: Saggi e richerche di letterature francese 12, 1973, 151 - 2 3 0 . F. BRUNOT, HLF, VI S. 1093: Charles Gaudet veröffentlichte 1746 die Bibliothèque des Petits-maîtres ou mémoires pour servir à l'histoire du bon ton et de /' extrêmement bonne compagnie. M. H. HUET: „Roman libertin et réaction aristocratique", in: Dix-huitième siècle, 6, 1974, 129 - 142. M. H. HUET führt diese Reaktion auf den Streit zwischen Romanisten und Germanisten zurück. Einige Geheimbünde stellen eine Aristokratie der Ausschweifung dar. Vgl.: J.-L. QUOY-BODIN: „Autour de deux sociétés secrètes libertines sous Louis XV", in: Revue Historique, juillet-sept. 1986, 5 7 - 8 4 ; ders.: „Le plaisir et l'instant du libertinage initiatique au XVille siècle", in: L'Infini, 21, printemps 1988, 106 - 126. E. M. BENABOU: La prostitution et la police des moeurs au XVllIe siècle, 33.

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re de Trévoux définiert Libertine wie folgt: „des femmes livrées à la débauche publique, mais qui sont un peu considérables et qui mettent un air de décence dans un métier qui n'en est guère susceptible". Allerdings werden in allen gesellschaftlichen Klassen Liebeshändel von der Polizei überwacht. Sie kann diskret überwachen, aber interveniert offen, um Exzesse zu verhindern (Vergewaltigung von minderjährigen Jungfrauen und Kinderhandel, Mißhandlungen, Beschuldigung eines Angehörigen des Hochadels. ..) und beständigen Druck auf die an die Delinquenz gebundenen Bevölkerungsschichten auszuüben. Sie unterhält regelrechte ,Kundenkarteien': insbesondere der Klerus und die sozialen Eliten werden systematisch in ihrem Umgang und ihren „manies"27 überwacht.

2.,Libertinage',,Philosophie' und literarische Produktion Parallel zur Veränderung der Verhaltensweisen und ihrer Darstellung treibt das philosophische Denken der Aufklärung die Kühnheit der Libertinage érudit weiter. Die Verbreitung des englischen Sensualismus führt dazu, daß man den Menschen als eine Einheit betrachtet und die Wichtigkeit seiner sexuellen Aktivität hervorhebt. Daraus ergibt sich die Rehabilitierung der Gefühle und die Anerkennung eines Rechtes auf Vergnügen, was meist von débauche unterschieden wird. In seinem Traktat über den Maschinenmenschen setzt der Arzt und Philosoph La Mettrie die Moral in Abhängigkeit vom Physischen und rechtfertigt es, daß jeder sich gemäß seinen Gelüsten befriedige: Si non contents d'exceller dans le grand art de la volupté, la crapule et la débauche n'ont rien de trop fort pour toi, si l'ordure et l'infamie sont ton partage, vautre-toi comme font les porcs, et tu seras heureux à leur manière.28

Durch seine Radikalität wurde La Mettrie von der Intelligentsia der Zeit abgelehnt, aber auch wenn sich kein Philosoph des 18. Jahrhunderts offen zu ihm bekennt, so ist sein Einfluß doch groß gewesen. Der pornographische Roman Thérèse Philosophe, der dem wie La Mettrie nach Berlin geflüchteten Marquis d'Argens zugeschrieben wird und 1748 heimlich verbreitet wurde, zieht nun in positiver Weise die bis 27

Ibid., 3 8 4 - 4 0 0 .

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Zitiert in: R. MAUZI: L'idée du bonheur auXVHIe siècle, Paris 1960, 251.

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dahin polemische Verbindungslinie zwischen intellektuellem Nonkonformismus und sexueller Befreiung; er unternimmt somit eine Homogenisierung des Begriffs Libertinage. In gleicher Weise werden auch in Zensurschriften und in der öffentlichen Meinung Abhandlungen der neuen Philosophie und heimlich verbreitete pornographische Romane einander angenähert. Die vom Abbé Prévost geschaffene Figur des Des Grieux verkörpert das Bild der Libertinage, wie es die Verfechter der religiösen Orthodoxie beschreiben. Durch die Liebe zu Manon verläßt der junge Mann seinen Platz in der Gesellschaft bis hin zur Aufgabe seines Glaubens. Die Rechtfertigung seines Verhaltens scheint für seinen tugendhaften Freund Tiberge „une idée des plus libertines et des plus monstrueuses" zu sein; wieder zu sich gekommen, erklärt Des Grieux, er sei nicht einer „de ces libertins outrés qui font gloire d'ajouter l'irréligion à la dépravation des moeurs". Diese Verderbtheit bedroht jedoch ständig die religiöse und soziale Ordnung. Der Vater prophezeit seinem Sohn, daß seine „libertinage" und seine „friponneries" ihn auf den Grève-Platz, den Ort öffentlicher Hinrichtungen, bringen werden. Diese Drohung wird am Ende des Briefes durch das Bild des roué plastisch gemacht. 29 In seiner Kritik dieses Romans spricht Desfontaines auch von „une vie libertine et vagabonde". 30 Innerhalb der religiösen Tradition entsteht noch 1747 eine apologetische Abhandlung mit dem Titel Le libertinage combattu par le témoignage des auteurs profanes, die Häretiker, Deisten und Atheisten als Libertins bezeichnet: „De tout temps, il y a eu des libertins dans l'Eglise", aber: „il semble que ce mal n'a jamais tant prévalu qu'aujourd'hui." 3 ' Auch wenn heute einige Literaturwissenschaftler den Begriff des Libertinage in der Literaturgeschichtsschreibung auf das System der Verführung beschränken wollen, wie es von den Personen Crébillons verkörpert wird, so hat doch der Begriff im 18. Jahrhundert nicht diese genaue Bedeutung. Er weist vielmehr auf eine Vielzahl literarischer Genres, angefangen bei der Tradition des Deisten im Märchen mit Versform und der epikureischen Richtung in der Lyrik bis hin zu Possen und anderen Aufführungen, die im privaten Kreis vor keiner Nacktheit zurückschrecken. Er entspricht mal einer zotigen, mal einer verschleierten Sprache. Zwischen Roheit und Anspielung zeigt die

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Manon Lescaut, éd. DELOFFRE/PICARD, 91, 190 und 161. Le Pour et le Contre, X X X , zitiert von DELOFFRE/PICARD, CLXIV. Charleville 1747, Dom Rémi Desmonts zugeschrieben.

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Fiktion des Romans die „bonne compagnie" (Crébillon, Duclos, La Morlière), den Klerus (Le Portier des Chartreux, La Tourière des Carmélites, Les Nonnes galantes, Les Lauriers ecclésiastiques), das gemeine Volk, die Abenteurer und Prostituierten (Caylus, Fougeret de Monbron, Godard d'Aueour) oder auch eine orientalische oder märchenhafte Welt (Crébillon, Voisenon). Die Beschwörung der „bonne compagnie" bleibt meistens zweideutig, während die des Klerus oft nur ein Vorwand für eine starke antiklerikale Satire ist. Die unteren und die Randschichten werden von großen Adeligen wie Cylus beschrieben, der einen VolksExotismus entwickelt und das Volk mit einer phantasmatischen Männlichkeit ausstattet, während der mondäne Libertin des Unvermögens überführt wird. Die Orient-Thematik, die von Mille et une nuits inspiriert wird, erlaubt es, Parallelen zwischen politischem und sexuellem Despotismus zu ziehen. 32 Von den Lettres persanes Montesquieus bis zu den Bijoux indiscrets Diderots fungiert die Libertinage als eine Form der politischen Satire. Die meisten dieser Texte besitzen eine moralisierende Intention, wurden aber nicht immer so gelesen.

III. 1 7 5 0 - 1789: .Libertinage' und Aufklärung: die Kritik der Aristokraten und des Klerus 1. Natürliche oder künstliche Libertinage, die Angst vor Geschlechtskrankheiten Im Zuge der Ausbreitung der Aufklärungsphilosophie wird der Begriff der Libertinage in den Bereich des Verhaltens verlegt und einer nicht nur antiklerikalen, sondern auch antireligiösen, antiaristokratischen und sogar antimonarchistischen Kritik aufgeladen. Die Enzyklopädisten entsagten der Esoterik ihrer Vorgänger und proklamieren ihren Glauben an eine Verbreitung des Wissens. Da sie Vertrauen in die,Natur' haben, akzeptieren sie ein sexuelles Vergnügen, das von religiösen Verboten befreit ist; aber da sie um den sozialen Nutzen besorgt sind, stellen sie neue Normen der Gesundheit und der Fortpflanzung auf. Im Namen der Natur wird ein wahrer Kreuzzug gegen die Selbstbefriedigung und die

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Le Pour et le Contre, X X X , zitiert von DELOFFRE/PICARD, C L X I V . Charleville 1747, Dom Rémi Desmonts zugeschrieben.

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é d . DELOFFRE/PICARD, 9 1 , 1 9 0 u n d 1 6 1 .

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Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten geführt. 33 Im Diskurs der Aufklärung wird die Angst vor Verdammung durch die Angst vor Krankheit und physischem Verfall ersetzt. Während das Schauspiel der Ausschweifung am Hofe Ludwigs XV. sich zu der allgemeinen Auffassung der Verderbtheit des Adels festsetzt, verlagert sich die Anklage der Libertinage von den Atheisten auf Mönche oder korrupte Adelige. Von nun an wird die Tugend nicht mehr durch Jungfräulichkeit oder Zölibat verkörpert, sondern durch die Vaterschaft. Die sich der religiösen Tradition entgegenstellende neue Philosophie vollendet die von ihr eingeleitete semantische Entwicklung: die Libertinage wird von ihrem historischen Ursprung getrennt und in einem moralischen und sexuellen Sinn abgegrenzt. Die gefährliche Erinnerung an die Häresie des 16. Jahrhunderts verblaßt in dem Maße, wie sich neue Umwälzungen vorbereiten. Der Glaube der Aufklärung an die ,Natur' überträgt die religiösen Phantasmen von .göttlicher Strafe' auf die Geschlechtskrankheiten: sie erscheinen als Strafe libertinistischer Exzesse. In der zweiten Hälfte des 18. Jhs. entwickeln sich regelrechte kollektive Ängste, genährt von den schrecklichen Zuständen, unter denen die Geschlechtskranken im Hôpital de Bicêtre eingepfercht waren. Ärzte und Moralprediger stoßen einen Alarmschrei aus: die Syphilis führt ihrer Meinung nach zur Entvölkerung des Landes. Der Arzt Mittié veranschlagt die Zahl der Neuinfizierten in Armee und Marine auf jährlich zwanzigtausend, Turmeau de La Morandière prophezeit die Entartung der Rasse: Le Français n' a plus ce bon tempérament qui lui était autrefois si naturel [. . .] depuis un demi-siècle la nation ne jouit pas de toute sa vigueur [. . .] Il semble que la nature chez nous tend à sa fin. 34 32

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Siehe: A . GROSRICHARD: Structure du sérail. La fiction du despotisme asiatique dans l'Occident classique, Paris 1979. Siehe T . TARCZYLO und J. M. GOULEMOT: „Prêtons la main à la nature", in: D H S 12, 1980, 7 9 - 112; D R . TISSOT: L'Onanisme (1760), éd. TARCZYLO, Paris 1980 und D R . BIENVILLE: La Nymphomanie ( 1771 ), éd. GOULEMOT, Paris 1980; TARCZYLO: Sexe et liberté au siècle des Lumières, Paris 1983; J. STENGERS UND A. V A N N E C K : Histoire d'une grande peur: La masturbation, Bruxelles 1984. J. Stengers und A. Van Neck kritisieren in polemischer Weise die vorausgehenden Arbeiten und ganz allgemein jede soziale Erklärung der Hysterie gegen die Masturbation im 18. und 19. Jahrhundert. B E N A B O U , Prostitution, 4 1 7 - 4 1 8 . Noch allgemeiner über die Angst der Syphilis: B E N A B O U , 4 0 7 - 4 2 9 und C. QUÉTEL: Le Mal de Naples. Histoire de la Syphilis. Paris 1986.

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Die Ansteckung bliebe nicht mehr auf den Bereich der débauche begrenzt, sondern sie würde die lebendigen Kräfte des Staates, die „classes laborieuses" (Turmeau de La Morandière) erreichen und selbst die Kinder bedrohen. Die Encyclopédie begrenzt die Libertinage auf die reinen Sinnenfreuden: „sie respektiert die Sitten nicht, schafft es aber auch nicht, sich über sie hinwegzusetzen". Sie wird entschuldigt, wenn sie durch Alter und Temperament bedingt ist, aber verdammt, wenn sie aus einer überzeugten Geisteshaltung erwächst („tient à l'esprit"). Es handelt sich dann um die gezwungene, künstliche und widernatürliche débauche. Der Artikel „Jouissance" ist eine Hymne auf die sexuelle Lust, die in die Fortpflanzung mündet; aber die Artikel „Courtisane" und „Incontinence" warnen vor Exzessen. Die Kurtisane verhält sich zur Prostituierten wie die Libertinage zur débauche. „Femme livrée à la débauche publique", versteht sie es dennoch, „der Libertinage die Anziehung zu geben, die der Prostituierten fast immer fehlt" 35 . Dieser Artikel, der von d'Alembert geschrieben wurde, kritisiert die Auffassung Buffons, wonach in der Liebe nur das Physische positiven Wert habe. Buffons Histoire naturelle setzt die Natur mit der Welt der Tiere gleich, die von den menschlichen Leidenschaften pervertiert würde: L'homme en voulant inventer des plaisirs, n'a fait que gâter la Nature, en voulant se forcer sur le sentiment, il ne fait qu'abuser de son être, et creuser dans son coeur un vide que rien ensuite n'est capable de remplir.36

Die Lehre hatte ein Protestgeschrei zur Folge, das sich gegen Buffons Annäherung von Naturgesetz und sozialem Gesetz richtete.

2.,Libertinage' und ästhetische Modelle (Diderot) Die Unterscheidung zwischen der natürlichen, durch Heirat und soziale Nützlichkeit kanalisierten Libertinage und der unheilvollen Libertinage, die unter dem Zeichen reiner Verausgabung steht, überträgt sich in " 36

Enc., IX S. 476, VII, 889 und IV, 402. Histoire naturelle des animaux, in: B U F F O N , ed. P I V E T E A U , Paris 1954, S. 341. Über die Verbreitung des Begriffs im 18. Jahrhundert siehe J. S T A R O B I N S K I : Jean-Jacques Rousseau et Buffon, in: La Transparence et l'obstacle, Paris 1971; R . M A U Z I : L'idée du bonheur [28]; 4 6 8 - 4 6 9 ; S A D E : Les Crimes de l'amour, ed. M. D E L O N , Paris 1987,419.

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literarische und ästhetische Begriffe. Dem Roman nach dem Modell Crébillons stellt sich Rousseaus Roman La Nouvelle Héloïse, der eine Apologie der ehelichen Liebe enthält, entgegen; auf die Gewalt der in der Tragödie in Szene gesetzten Leidenschaften und der Frivolität von Verhältnissen, wie sie in der Komödie gezeigt werden, antwortet das bürgerliche Drama mit seinem Loblied auf ein arbeitsames und einfaches Leben. Mit Watteaus galanten Festen und Bouchers erotischen Nacktszenen kontrastiert die heroische oder sentimentale Malerei etwa eines Greuze oder David, die die häuslichen Tugenden oder die Aufopferung für die Nation preist. Die Libertinage verkörpert nunmehr die Unstetigkeit des Gewissens und der Zeit, das Drehen im Augenblick und den Schwindel der Gefühle. Der Moralismus behauptet sich gegen sie als eine Art wiedergefundene Regelmäßigkeit: als soziale Ordnung in den menschlichen Beziehungen; als zeitliche Ordnung zwischen den Augenblicken der menschlichen Existenz und als historische Ordnung in der Abfolge der Generationen37. Die Thronbesteigung Ludwigs XVI. und die von ihr geweckten Reformhoffnungen spiegeln diese Ablehnung des alten libertinistischen Stils wider, der durch die Régence eingeleitet worden war. Während dieser Zeit bilden sich schon die neoklassischen Themen und Formen, die die Französische Revolution beherrschen werden. Allerdings ist diese Feststellung einer moralisierenden Reaktion auf die Libertinage in mehrfacher Hinsicht zu nuancieren. Zunächst einmal bemerkt man einige Rückgriffe auf Aussageformen und -Situationen, die der gelehrten Libertinage und der Voraufklärung angehörten. Zu Beginn des Neveu de Rameau setzt sich Denis Diderot selbst als Moralphilosoph in Szene, der von der durch den Moralismus gebremsten Freiheit in Versuchung geführt wird. Als Hintergrund wählt er den Palais Royal, das Zentrum der Pariser Prostitution, und suggeriert eine Parallele zwischen Gedankenfreiheit und Sittenfreiheit: J'abandonne mon esprit à tout son libertinage. Je le laisse maître de suivre la première idée sage ou folle qui se présente comme on voit, dans l'allée de Foy, nos jeunes dissolus marcher sur les pas d'une courtisane à l'air éventé, au visage riant, à l'oeil vif, au nez retroussé, quitter celle-ci pour une autre, les attaquant toutes et ne s'attachant à aucune. Mes pensées ce sont mes catins. 37

Siehe J. S T A R O B I N S K I : L'Invention de la liberté, Genève 1964. Die Arbeit von Morality and social class in Eighteenth-century French Literature and Painting (Toronto 1974) erfüllt nur teilweise die Erwartung, die ihr Titel weckt. W . ROBERTS:

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Jean Fabre bemerkt hierzu, daß der Autor „sur le mot en train de s'encanailler" spielt38. Obwohl der Begriff im Akademie Wörterbuch von 1798 dem der débauche39 entspricht, gibt ihm der Philosoph durch den Trick des Vergleichs seine einstige Bedeutung zurück. Die Kraft der sexuellen Begierde erscheint ihm als Modell der in der Natur tätigen Energien. Ohne Zweifel ist sein Theaterschaffen eine Verteidigung und Illustration des bürgerlichen Dramas, welches sich gegen den aristokratischen Libertinage stellt; Diderots Besprechungen der Gemäldeausstellungen im Louvre prangern eine Malerei an, die nur Verbrauchsgut für eine finanzielle und höfische Elite ist: Toujours petits tableaux, petites idées, compositions frivoles, propres au boudoir d'une petite-maîtresse, à la petite maison d'un petit-maître, faites pour de petits abbés, de petits robins, de gros financiers ou autres personnages sans moeurs et d'un petit goût.40 Diderot geht sogar so weit, eine moralische und bilderstürmerische Reaktion ins Auge zu fassen: Artistes, si vous êtes jaloux de la durée de vos ouvrages, je vous conseille de vous en tenir aux sujets honnêtes. Tout ce qui prêche aux hommes la dépravation est fait pour être détruit, et d'autant plus sûrement détruit que l'ouvrage sera plus parfait. Il ne subsiste presque plus aucune de ces infâmes et belles estampes que le Carrache a composées d'après l'impur Arétin.41 Für den Philosophen handelt es sich jedoch nicht darum, der Kunst Nacktheiten und erotische Szenen zu verbieten, sondern darum, eine Kunst anzupreisen, die die nationale und historische Kontinuität wür38

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Le Neveu de Rameau, éd. J. FABRE, 3 und 273. F. Venturi stellt die Formulierung des Neveu neben einen von Desfontaines um 1745 über den Stil Diderots gemachten Kommentar „Er scheint mir für die Wollust des Geistes ebensoviel Leidenschaft zu haben wie die Asiaten für die Wollust des Körpers." (zitiert nach J. FABRE, 113). Die Unterscheidung zwischen Libertinage und débauche in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts scheint nicht leicht zu sein. „Débauche, licence, libertinage sont souvent presque interchangeables dans l'usage courant" bemerkt L. Versini, der dann einen Text des Prince de Ligne zitiert, demzufolge die Libertinage eine Systematisierung der débauche sei. Salon de 1767, in DIDEROT: Oeuvres complètes, VII, Paris 1970, 225. Ebd. 226. Über den Zusammenhang zwischen Libertinage und Ästhetik siehe R . DEMORIS: „Esthétique et libertinage: Amour de l'art et Art d'aimer", in: Eros philosophe, S. 149 - 171. Über die Problematik der Nacktheit, siehe M. DELON: Utopie du nu et poétique de la gaze au siècle des Lumières, in Lendemains 51 (1988), 53 - 60.

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digt. So kann er gleichzeitig die Libertinage als soziale Verhaltensweise verdammen und einen Roman wie Les Bijoux indiscrets verfassen, der die libertinistisch-orientalische Thematik zum Zwecke einer philosophischen und politischen Kritik benützt. Ein ganzer esoterischer Teil des Werkes, vom Rêve d'Alembert bis zum Supplément au voyage de Bougainville, zeugt von der damaligen Situation des Schriftstellers, der seine gewagten Gedanken nur Manuskripten anvertraute, die in einem engen Kreis von Freunden zirkulierten. Die radikalste moralische Analyse findet sich in den Texten Diderots, die erst nach seinem Tode, also während der Revolution oder im 19. Jahrhundert, veröffentlicht wurden. Bezugnehmend auf die damalige Unterscheidung zwischen innerem Fühlen und öffentlicher Norm enttabuisiert der Rêve die nicht orthodoxen und nicht zur Fortpflanzung benötigten Sexualpraktiken und verteidigt das Recht jedes Einzelnen auf den Genuß. Der Supplément dagegen vertritt nicht mehr den Standpunkt des Individuums, sondern den der sozialen Gemeinschaft und zieht lediglich Sexualpraktiken in Betracht, die der Fortpflanzung dienen, während er andere sexuelle Verhaltensweisen als débauche verurteilt. Der Lustgewinn des Einzelnen ist also den wichtigeren Interessen der Gruppe untergeordnet.42

3. Die Grenzen des Aufklärungsmoralismus a) Nachgiebigkeit gegenüber der aristokratischen ,Libertinage' Die ambivalenten Auffassungen des Bürgertums von der Libertinage verbieten es auch, die Aufklärung schematisch mit dem Moralismus gleichzusetzen. So sehr die soziale Undurchlässigkeit im Frankreich des Ancien Régime eine Anprangerung der libertinistisehen Aristokratie provoziert, so sehr zeigt sich das Bürgertum aber auch weiterhin fasziniert vom Ansehen des Adels und vom aristokratischen Leben. Im Theater Beaumarchais' ist die Kritik an der Feudalherrschaft, die durch das „droit du seigneur" symbolisiert wird, nicht frei von Nachsicht gegenüber der Libertinage. Das Final-Vaudeville des Mariage du Figaro versöhnt die gefährliche Libertinage des Adeligen mit der natürlichen und spontanen Libertinage des jungen Chérubin und der Forderung nach

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Siehe G. BENREKASSA: L'Article „Jouissance" et l'idéologie érotique de Diderot, in: DHS 12, 1980, 9 - 34.

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ehelichen Gefühlen. Der Graf Almaviva steht in doppelter Weise im Gegensatz zum „petit libertin" Chérubin43. Auch die Helden der Liaisons dangereuses sind Träger von entgleisten Werten. Die Rezeption dieses Romans von Laclos macht die Ambivalenz der gesamten Darstellung der libertinistischen Aristokratie deutlich. Wenn auch die Literaturgeschichtsschreibung ein ganzes Bündel von Argumenten für eine moralische Intention des Autors findet, so wurde der Text damals doch nicht als eine Anprangerung Valmonts, der als „libertin", „faux et dangereux", „malhonnête et criminel" und „cruel et méchant" bezeichnet wird, und der Marquise de Merteuil, die ihn noch an Niederträchtigkeit übertrifft, gelesen44. Unter ihren Charakterzügen intellektualisiert sich der Roué der Régence, der in diesem Roman durch den Neologismus „rouerie" beschrieben wird45. Während viele fiktionale Texte der Zeit die Rückkehr zur Tugend preisen (Le Libertin devenu vertueux von Louis Domairon, 1 I I I , oder La Femme vertueuse ou le débauché converti par amour, Anonym, 1787), scheitern in den Liaisons dangereuses sowohl die durch religiöse Vorurteile gehemmte Empfindsamkeit als auch die durch aristokratische Vorurteile gehemmte Rationalität46. b) Neugier auf,Débauche' des Volkes Das Interesse an den unteren Schichten ist trügerisch. Die Romanciers benützen das Pittoreske, die Gazetten- und Pamphletschreiber beleuchten die zwischen Elite und Unterwelt Hin- und Herpendelnden, die Reformer machen sich Gedanken über die Prostitution. Während der Staat mit seinem Bestreben, das Privatleben zu durchdringen, eine immer strengere Kontrolle über die Prostitution und ihre

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Le mariage de Figaro 1,9. Im Vorwort präsentiert Beaumarchais den Comte Almaviva als „un jeune seigneur, prodigue, assez galant, mais un peu libertin à peu près comme les autres seigneurs de ce temps-là" und präzisiert, daß er ihm „aucun des vices du peuple" verliehen hat. (Théâtre, ed. J. P. de BEAUMARCHAIS, Paris 1980, S. 150. Les Liaisons dangereuses, lettre IX. B R U N O T , V I , 1095 - 1096. Laclos scheint anzuzeigen, daß die Begriffe roués und rouerie historisch festgelegt sind und beginnen, aus der Mode zu kommen. Rouerie ist aber im Gegenteil ein Neologismus der Zeit. Siehe LACLOS: Oeuvres complètes, éd. L. VERSINI, Paris 1979, S. 13 und 1 1 7 2 1173. Siehe M. D E L O N : Les Liaisons Dangereuses de Laclos, Paris 1986.

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Kunden ausübt47, ist die öffentliche Meinung begierig auf anrüchige Details, um sich an ihnen zu ergötzen und sich über sie zu empören. Der Tableau de Paris von Louis-Sébastien Mercier räumt der Welt der Prostitution breiten Raum ein und stellt deren innere, hierarchische Struktur auf: „La corruption dans le dernier ordre des citoyens, ainsi que dans le premier, n'a presque plus de progrès à faire." 48 Aber während die Laster die gleichen sind, ist die Unterdrückung selektierend: „Le libertin est enfermé ou exilé, et ne passe point par la main du bourreau." Der Libertin ist ein Privilegierter, der der Brandmarkung durch die Öffentlichkeit entkommt; er hat es verdient, gerädert zu werden, wird aber nie gerädert49. Während die Oper den Rahmen für die aristokratischen débauches bietet50, verderben die Straßenbühnen das Volk, „das dazu verdammt ist, nichts mehr als den Ausdruck von Libertinage und Dummheit anzuhören"51; und sie verwandeln sich in „lieux de prostitution précoce"52. Wenn Mercier sich mit diesen Fragen beschäftigt, benützt er oft das Mittel der Auslassung. Eines seiner Kapitel betitelt er „Sans titre", um „les vices sur lesquels la censure doit se taire" zu zeigen53. An anderer Stelle verweist er auf den Paysan parvenu oder den Pornographe von Rétif, um seine Untersuchung nicht vertiefen zu müssen: Je n'ai pu passer sous silence ce qui est pour ainsi dire de notoriété publique. J'ai dit ce qui se voit, ce qui frappe tous les regards, le reste peut se deviner; ma main ne soulèvera pas le rideau.54 47

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M . FOUCAULT: La Volonté de savoir, Paris 1 9 7 6 und insbesondere über die Prostitution die Beiträge von F. A L E I L UND E . M . B E N A B O U auf dem Kolloquium: Aimer en France. 1760 -1860 (Clermont-Ferrand 1 9 8 0 ) ; und E . M . B E N A B O U : La Prostitution. MERCIER: Tableau, I I ( 1 7 8 2 ) , 1 1 4 (Kap. „Filles publiques"). Ebd. I (1781), 85 (Kap. „Lieutenant de police"). Das Leben der Schauspielerin ist eines der Modelle des libertinistischen Berichts: Histoire de Mlle Cronel, dite Frétillon, actrice de la comédie de Rouen (1740); Histoire de Mlle Brion, dite comtesse de Launay (1754); Confession de Mlle Sappho, in: l'Espion anglais 1785 (1789). MERCIER: Tableau III (1782), 40 (Kap."Spectacles des boulevards"). Ebd. II, (1781), 192 (Kap. „Tréteaux des boulevards"). Ebd. III, (1782), 130. Ebd. VII, (1783), 14 (Kap. „Matrones"). Die Lettres de Julie à Eulalie (1784), wiederaufgelegt unter dem Titel Correspondance d'Eulalie (1785), die die Prostitution der Hauptstadt thematisieren, haben den Untertitel: „Tableau du libertinage de Paris", so als ob sie vorgeben würden, die Umfrage Merciers zu vervollständigen, und sie benützen einen Titel, der in Mode war.

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Während das Werk Merciers charakteristisch für das Verschweigen und die Vorsichtigkeit des Diskurses ist, der die Idee der Libertinage umgibt, zeigt das Werk Rétifs die Anstrengung, Libertinage und Moralismus auszusöhnen. Nach seinen ersten Veröffentlichungen berichtigt er den von Nougaret geschaffenen „progrès du libertinage" in einen „progrès de la vertu"55. Er sieht die Libertinage als Folge der Verstädterung und des Verschwindens des Patriarchats an und schlägt eine Reform der Prostitution vor, die der Fortpflanzung dienen und sozial nützlich werden soll. In diesem Zusammenhang schafft er den Neologismus pornographe.56 Es werden neue Bilder der Prostitution verbreitet: die junge Frau, die ihren Körper beherrscht, ein freies Leben führt und, nach dem Modell Fanny Hills, zu Reichtum kommt57; oder die Figur des jungen unglücklichen Mädchens, nach dem Modell der Lauretta Pisana aus der Nouvelle Héloïse, das trotz débauche ein reines Herz behält.58 In den letzten Jahrzehnten des Ancien Régime wird die Libertinage zwar vom bürgerlichen Moralismus verurteilt, aber ihre Akteure bleiben Objekte philosophischer Neugier und sozialer Faszination, während ihre Opfer zugleich moralisch aufgewertet werden.

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NOUGARET: Lucette

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(1765-1766);

RÉTIF:

Lucile ou les progrès de la vertu ( 1769). Dazu D. RIEGER: Rétif de la Bretonne und P. J. B. Nougaret: Die Geschichte ihrer Beziehungen oder fünf Etappen eines literarischen Themas, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift; 1 9 6 7 , s. a. NOUGARET, L u c e t t e " , p r é f a c e d e M . DELON, in: L'Enfer 56

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de

la

Bibliothèque nationale, 4, Paris 1986, 257 - 271. RÉTIF: Le Pornographe ( 1769). Dazu D. A. COWARD: Rétif and the reform of prostitution", in: SVEC 176.1979,349 - 383 und ders., Eighteenth-Century attitudes to prostitution, in: SVEC 189, 1980, 3 6 3 - 3 9 9 ; BENABOU, 4 8 2 499. R. MORTIER: „Libertinage littéraire et tensions sociales dans la littérature de l'Ancien Régime. De la picara à la fille de joie", in: Revue de littérature comparée, 1972, 3 5 - 4 5 . K. SASSE:D/> Entdeckung der „ courtisane vertueuse " in der französischen Literatur des XVIII. Jhdts: Rétif de la Bretonne und seine Vorgänger, Hamburg 1967.

31

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IV. 1789 - 1820: Die Revolution als moralische Regeneration 1. Die im Namen der Tugend gegen den Hof gerichteten Pamphlete Daß die Oberschicht zutiefst verdorben sei, ist ein gängiges Thema der publizistischen Agitation im Vorfeld der Revolution. Die geheime Manuskriptpresse von Bachaumonts und Pindansat de Mairoberts Mémoires secrets über die Correspondance secrète von Méttra bis zum Gazetier cuirassé von Théveneau de Morande verbreiten die neuesten skandalösen Anekdoten über den Hof der königlichen Familie. Pornographische Pamphlete scheuen vor keiner Zote zurück. Nach 1789 werden sie immer offener verkauft. Sie befassen sich vor allem mit MarieAntoinette, mit der Duchesse de Polignac und den Brüdern des Königs. Hector Fleischmann hat die zu Dutzenden veröffentlichten Pamphlete verzeichnet, die die Machtlosigkeit von Ludwig XVI. lächerlich machen und die Perversionen Marie-Antoinettes, der „Etrangère", dem öffentlichen Spott ausliefern. 59 Politik vermischt sich mit Libertinage, und Marie-Antoinette wird mit einer anderen Ausländerin, nämlich Katharina Médici, der Verantwortlichen der Bartholomäusnacht, verglichen. Der Angriff wird nach und nach auf die gesamte monarchische Vergangenheit und die Gesamtheit der Privilegierten ausgeweitet. Les Crimes des reines de France (1791) spüren die Missetaten der Vergangenheit wieder auf. Die systematische Denunzierung der Nutznießer der Feudalherrschaft wird unter anderem von Dulaure in der Collection de la liste des ci-devant ducs, marquis, comtes, barons etc. unternommen; ihr folgt die Vie privée des ecclésiastiques, prélats et autres fonctionnaires publics qui n' ont pas prêté leur serment sur la Constitution civile du clergé. Dulaure läßt hier alle Skandale Revue passieren, die den Adel und die hohe Geistlichkeit bloßgestellt haben, und unterstreicht die Straflosigkeit, die die Schuldigen genossen haben. Er greift Sade an:

59

32

H. FLEISCHMANN: Les Pamphlets libertins contre Marie-Antoinette, Paris 1908; ders.: Marie-Antoinette libertine, Paris 1911. C. THOMAS: L'Héroine du crime: Marie-Antoinette dans les pamphlets, in J. C. BONNET éd: La Carmagnole des muses. L'Homme de lettres et l'artiste dans la Révolution, Paris 1988, 245 - 260; dies.: La Reine scélérate. Marie-Antoinette dans les pamphlets. Paris 1989.

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Parmi les hommes qui ont reproduit dans ce siècle-ci les crimes de la noblesse, les horreurs de la féodalité, on doit citer le comte de Charollais, assassin de gaieté de coeur, le comte d'Hornes, assassin pour voler, le ci-devant duc de Fronsac, aujourd'hui de Richelieu, incendiaire et violateur, scélérat et cruel jusque dans ses plaisirs [ . . . ] A tous ces scélérats à château, à voitures, à talon rouge, à cordon rouge ou bleu, il faut joindre le marquis de Sade dont les forfaits abominables surpassent peut-être tous les forfaits des nobles de son temps.60 Nach diesem Modell entwickelt sich das neue Genre der ,Vie privée'. 1783 war in London eine Vie privée de Louis XV erschienen, ihr folgte eine Vie privée ou apologie de Très-sérénissime Prince Mgr. le duc de Chartres, die Théveneau de Morande zugeschrieben wurde. Die Radikalisierung während der Revolution ermutigt zur Veröffentlichung der Vie privée, libertine et scandaleuse de Marie-Antoinette d'Autriche und der Vie privée, libertine et scandaleuse de feu Honoré-Gabriel Riquetti ci-devant comte de Mirabeau. Die Vie privée et publique de ci-derrière marquis de Vilette stigmatisiert dessen Homosexualität. Laclos berichtet von der Vie privée du maréchal de Richelieu, der seiner Ansicht nach im Nachhinein seinen eigenen Roman rechtfertigt: on y reconnaîtra enfin que la révolution n'était pas moins nécessaire pour le rétablissement des moeurs, que pour celui de la liberté.61 Diese Denunzierung wird in den Überlegungen zur Gesetzgebung weitergeführt. In dem Plan de législation criminelle (1780) entrüstet sich Marat über die unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen, von Adeligen und Bürgerlichen. Man soll die Schuldigen, die „libertins crapuleux", bestrafen und ihren Opfern zu Hilfe eilen. Ainsi, en proscrivant le libertinage, une foule de crimes disparaîtront de la société; car une foule de crimes naissent du libertinage.62 In Les Chaînes de l'esclavage (1772) kommt Marat auf die politische Dimension der Frage zurück. Den Libertinage sieht er eng verknüpft mit dem Despotismus: En tout pays les débauchés, les femmes entretenues, les valets, les chevaliers d'industrie, les faiseurs de projets, les joueurs les escrocs, les espions, les chenapans sont pour le prince ( . . . ) ils sont toujours prêts à devenir les suppôts du despotisme.63 60 61 62

63

Collection des cidevant ducs, n° XXI und XXXII. LACLOS: Oeuvres complètes, ed. L . VERSINI, Paris 1979, 642. M A R A T : Plan de législation criminelle (1780-1790), Paris 1974,129u. 134. Les Chaînes de l'esclavage (engl. 1774, franz. 1792), Paris 1972, 85 - 86. 33

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So überrascht es auch nicht, die Anklage der Libertinage regelmäßig im Ami du Peuple auftauchen zu sehen. Gemäßigte und Schein-Revolutionäre förderten den „Verfall der Sitten", der ihnen die Möglichkeit geben werde, den Despotismus wieder zu errichten 64 . Die Denunzierung Dumouriez ' endet mit einer Notiz, die den „goût pour le libertinage", dieses ,Sardanapal' betrifft 65 . Solche Ausbrüche der Empörung spiegeln sich in allen revolutionären Zeitungen der Zeit wider. Die Erneuerung des Landes, verkörpert in Robespierre, dem Unbestechlichen, verlangt das Verschwinden der Libertinage-, Saint-Just bekräftigt seine Hoffnung: Dans vingt ans je verrai sans doute avec bien de la joie, ce peuple, qui recouvre aujourd'hui sa liberté, recouvrer peu-à-peu ses moeurs. 66

2. Die Liberalisierung der Sitten im Namen der Freiheit Parallel zu diesem Traum von tugendhafter Transparenz institutionalisiert die Französische Revolution die Trennung von Kirche und Staat und die Laizisierung der Moral. Die Einführung der Scheidung, die Straffreiheit der Sodomie und die Priesterheirat provozieren Auseinandersetzungen, in denen sich die Gegner gegenseitig der Libertinage beschuldigen. Während die Vie privée sich zum pamphletären Genre entwickelt, wird der Begriff des .Privatlebens' von Gesetzestexten definiert. Der Artikel „Libertinage" in der Encyclopédie méthodique entzieht „libertinage individuel", „libertinage domestique" und sogar die Prostitution der öffentlichen Kontrolle, soweit sie nicht die öffentliche Ordnung stören67. Das Recht der Frauen, zu demonstrieren und sich in Vereinen zu organisieren, ruft auch viele Bezugnahmen auf die Gefahr der Libertinage hervor. Die Überlegungen der Gesetzgebung greifen die Fragen der Prostitution und der Zensur auf. Das Ancien Régime war charakterisiert durch die enge Überwachung der Prostitution und der Druckproduktion. Das Frankreich der Revolution versteht sich als von solchen Fesseln befreit. Die Polizei hört auf, Prostituierte zu

64 65 66

Ami du peuple, n° 349 (23 janvier 1791) siehe auch n° 650 (10. Mai 1792). Journal de la république française, n° 24 (18 octobre 1792). SAINT-JUST: Esprit de la Révolution (1791), in: Théorie politique, Paris 1976, S: 7 9 .

67

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Enc. méthodique: Jurisprudence,

X. Police des Municipalités.

(1791), 385.

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belästigen, deren Gewerbe als Unternehmen anerkannt zu werden beginnt. Ab 1790 werden Listen und Adressen von Prostituierten veröffentlicht. Die erste von ihnen, der Tarif des filles du Palais-Royal lieux circonvoisins et autres quartiers de Paris avec leurs noms et demeures, war sicherlich für die Tausenden von Provinzlern gedacht, die zum Föderationsfest nach Paris strömten. So vermehrten sich Bordell-Führer von Paris, in denen die Angabe von Preis und Adresse durch Urteile über die Qualitäten und Spezialitäten der Mädchen vervollständigt wurden68. Eine solche dem Liebeshandel gestattete Werbung schockierte diejenigen, die die Wiedereinführung einer Unterdrückung und Zensur verlangten. Ein an die Zeitung La Bouche de fer gerichteter Brief ruft die Gemeinde Paris dazu auf, in aller Strenge gegen die pornographische Produktion, die homosexuelle Prostitution und den Kindeshandel vorzugehen: es überrascht, daß la municipalité de Paris, qui fait enlever les boues et les ordures, ne fasse pas brûler les caricatures dégoûtantes, les brochures obscènes dont quelques boutiques et les quais sont couverts. Il ne suffit pas que le tombereau des immondices nettoie une ville; ces caricatures sont bien autrement révoltantes que des rues mal balayées [ . . . ] Paris compte en ce moment un grand nombre de sérails pour ce genre de libertinage et de luxure (le goût des Gitons). On y voit, dit-on, des enfants de cinq ans déjà. Quelle vie perverse cela annonce! On recommande ces lieux infâmes à la vigilance des sections. 69

Das Dit-on ist bezeichnend für den Charakter des Murrens und des sozialen Phantasmas, der diesen Ängsten einer moralischen Vergiftung der Gesellschaft innewohnt. Die Antwort der Zeitung macht die Anstrengung der Revolution deutlich, die Sitten zu liberalisieren und von Schuldgefühlen wegzuführen: Des lois coercitives autoriseraient à gêner la liberté: il vaut mieux tolérer quelques abus que nous exposer à reprendre les fers. Une bonne éducation perfectionnera la race future, et le respect pour les moeurs, manifesté par des éloges publics ou par des décorations, accordés aux hommes vertueux, produira plus d'effet que les châtiments. Les bûchers de l'inquisition n'ont pas détruit cette dépravation dont l'auteur se plaint.

68

BENABOU, 5 0 4 -

69

Bouche de fem" 4 6 (22. IV. 1791), 2 1 8 - 219. MIRABEAU: Le Libertin de qualité ( 1 7 8 3 ) .

70

505.

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3. Literarische Zeugnisse Die literarischen Texte spiegeln diese politischen und sozialen Bedeutungsschichten des Begriffs Libertinage wider. Am Vorabend der Revolution illustrieren die pornographischen Romane von Mirabeau, wie eine bestimmte Schicht des Adels entartet und ihre Würde verliert; sein „libertin de qualité" erweist sich als vulgärer Gigolo70. Während der eher konventionell zu nennende Louvet seine libertinistische Vie de Faublas mit einer Rückkehr zur Ordnung und einer Bestrafung des unerlaubten Vergnügens enden läßt, versteift sich der emigrierte Nerciat auf die Libertinage und hält der Revolution ein dem Vergnügen gegenüber aufgeschlossenes Freimaurertum und eine sexuelle Utopie entgegen, die die Privilegien der Aristokratie wiederherstellt71. Sade, der einerseits ein Libertin des Ancien Régime und andererseits Mitglied der Sektion „Piques" war, verfaßt ein zweischneidiges Werk: auf Justine ou les malheurs de la vertu, was ohne Autorennamen erschien, antwortet Oxtiern ou les malheurs du libertinage, welches vom Autor signiert ist. Seine esoterische Seite schafft ein Epos der Débauche, in der der sexuelle Despotismus sich im einen Fall auf die Rückkehr der Feudalherrschaft, im anderen auf wilden Liberalismus stützt.72 Als Feind Sades macht Rétif in den Nuits de Paris das doppelte Phantasma der aristokratischen Ausschweifung und der Volks-Ausschweifung deutlich. Das Ancien Régime wird durch den „Parc-aux-Cerfs"symbolisiert, in dem Mädchen aus dem Volk den „écarts du plus affreux libertinage" ausgeliefert werden; aber die September-Massaker erscheinen wie eine Orgie, in der sich Libertins unter die Mörder mischen73. Die Anti-Juristine konkurriert mit Justine, und es scheint, als ob Rétif gegen den aristokratischen .Sadismus' eine volksnahe oder bürgerliche Pornographie propagieren wollte.

71

Une année de la vie du chevalier de Faublas( 1787); Six semaines de la vie de Faublas ( 1788); und La Fin des amours de Faublas ( 1790). Dazu M. DELON: Rupture et transition dans le roman libertin à la fin de l'Ancien Régime: Louvetet Nerciat, in: Signes du roman, signes de la transition, Paris 1986,

72

Siehe M. DELON, Sade thermidorien, in: Sade, écrire la crise-Pans 1983,99 118 und ders., Einleitung der Oeuvres von Sade in der Bibliothèque de la

105-117.

73

Pléiade, Paris, 1990, Bd. I, IX - LVIII. RÉTIF: Les Nuits de Paris,

1978, 360 und 270.

36

VII und VIII, in: Les Nuits révolutionnaires,

Paris

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V. 1794 -1820: Die Libertinage des 18. Jahrhunderts als ideologischer Mythos 1. Politische und ideologische Polemik Nach der Jakobinerherrschaft im Zeichen von Tugend und Gleichheit erscheinen das Regime der Thermidorianer und das Directoire als eine Rückkehr zu Verderbtheit und Libertinage. Den armen und tugendhaften Sansculotten tritt als Nachfolger der petit-maître, der muscadin entgegen. Die Montagnards des Directoire beklagen sich über das heimliche Einverständnis zwischen Thermidorianern, Financiers, Kurtisanen und Royalisten. Die neuen Machthaber reagieren auf diese Attacke, indem sie die Anklage der débauche umdrehen. Die Vie criminelle et politique de J.-P. Marat wendet die Argumentation, die als Anklage gegen die Angehörigen des königlichen Hofes gegolten hatte, gegen den „Ami du peuple". Marat wird zum perfekten Epikureer und Apostel der Libertinage, „se vouant totalement à l'attrait du plaisir"; seine Hautkrankheit, so wird behauptet, sei ist eigentlich eine Geschlechtskrankheit74. Die Thermidorianer wurden so dargestellt, daß sie am Rednerpult von Sitten und Tugenden sprachen „en sortant des bras des plus viles prostituées"; Marat wird als Priester dargestellt, der von „les Charmes et les douceurs de la vertu, en sortant des plus infâmes orgies"75 predigt. In dieselbe Richtung gehen die Zeugenaussagen über die Terreur, die die Rolle der ,Strickweiber der Guillotine' und der übrigen zum Schaupublikum der Guillotine zählenden Frauen hervorheben. Die Prairial-Aufstände der Montagnards-Fraktion seien, so der Verfasser, von einer Gruppe von Frauen hervorgerufen worden, die „nicht weniger schamlos als blutrünstig und durch ein Leben der débauche für das Verbrechen vorbestimmt waren."76 Die politische Polemik lebt in den letzten Jahren des 18. und den ersten des 19. Jahrhunderts wieder auf und folgt weitgehend dem früheren theologischen Diskurs. In intellektueller und gefühlsmäßiger Weise beschreibt die Libertinage den Widerstandsgeist gegen die überzeitlichen Werte von Religion und Monarchie, so lautet zumindest die

74 75

76

Vie criminelle ( 1795 ?), 11 und 31. Mallet du Pan, zitiert nach F. G E N D R O N : La Jeunesse dorée. Episodes de la Révolution française, Québec 1979, 57 und Vie criminelle, 1 6 - 1 7 . G . Duval, zitiert in F. G E N D R O N , S . 2 4 0 .

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von den Theoretikern der Gegenrevolution immer wiederholte Idee. Bonald unterstreicht die Korrelation aller Arten von Subversion: Le libertinage d'esprit porte atteinte aux principes fondamentaux d'une religion sociale; bientôt le libertinage des sens bannit une galanterie décente qu'on peut appeler le culte extérieur des moeurs honnêtes; un délire républicain ne tardera pas à attaquer la constitution politique de la société.77

Während sich schon das Thema einer Kontinuität von Reform zu Revolution entwickelte, erinnert der Abbé Barruel daran, daß die Infragestellung der Institution der Kirche schon auf die Sekten des 16. Jahrhunderts zurückgeht: De Luther et de Calvin il s'était formé un nombre prodigieux de sectes, qui attaquaient chacune quelque partie des anciens dogmes du Christianisme. Il s'éleva enfin des hommes qui les attaquant toutes, ne voulurent rien croire. On les appela d'abord libertins; c'était le seul nom qu'ils méritassent.78

Die Libertins werden zu .Philosophen' und dann zu .Jakobinern', aber die Häresie bleibt die gleiche. Die Régence wird zu einer Etappe dieser teuflischen Verkettung; der Duc d'Orléans erscheint als „lui-même un monstrueux libertin". Diese Analyse wird nicht nur von den Verteidigern des Throns und des Altars vorgenommen. Ein dem Geist der Aufklärung treugebliebener Philosoph wie Delisle de Sales vermutet bei den Extremisten der Revolution einen Plan, um „Frankreich zunächst seine guten Sitten und dann seinen Gott zu rauben". Er erinnert an die über das Privatleben des Königs und der Königin verbreiteten Libelles als „débordement d'écrits, où, par principes, on affichait le libertinage le plus effrené". 7 9 Angesichts dieses Trommelfeuers von Angriffen sehen sich die Atheisten gezwungen, die defensive Haltung der gelehrten Libertins des 17. Jahrhunderts und der Denker der Voraufklärung einzunehmen. Sylvain Maréchal schreibt in einem Artikel über Libertinage innerhalb seines Dictionnaire des athées: Ne pouvant coudre tout-à-fait la bouche aux athées, on a pris le parti de jeter de la boue sur leur manteau. Calomnions leurs moeurs, a-t-on dit, cela nous 77

78

79

38

Théorie du pouvoir politique et religieux ( 1796), choix de C . C A P I T A N , Paris 1966, 1 1 0 - 1 1 1 . Mémoires pour servir à /' histoire du jacobinisme ( 1797), rééd. Vouillé 1974, 1,51. Mémoires en faveur de Dieu, Paris, an X-1802, 53 - 54.

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dispensera de répondre à leurs questions embarassantes, à leurs doutes sages [. . .] Et cette petite manoeuvre sacerdotale a réussi. 80

Die Ideologen selbst, bei denen die materialistischen Tendenzen überwiegen, sind sehr vorsichtig in der Definition einer laizistischen Moral. Destutt de Tracy trennt von den Éléments d'idéologie die später erschienenen Seiten unter dem Titel „De l'Amour" 81 . Dieser Titel entspricht genau dem eines 1806 erschienenen, von Senancour verfaßten Essays, der die Libertinage aus einer ideologischen Perspektive heraus verurteilt. Die Ablehnung des Klerikalismus und des Spiritualismus geht also Hand in Hand mit einer deutlichen Sorge um die soziale Ordnung und die bürgerliche Moral. Diese Sorge steht in Zusammenhang mit Überlegungen zur Einrichtung der nachrevolutionären Gesellschaft. Seit der Aufklärung war eine enge Verbindung zwischen ,Faulheit', Libertinage und ,Junggesellentum' auf der einen und zwischen ,Heirat',,Arbeit' und »Fruchtbarkeit' auf der anderen Seite geknüpft worden. Der Faule, der Libertin und der Junggeselle haben gemein, daß sie sozial unnütz oder sogar gefährlich sind, da der Reichtum eines Landes eine zahlenmäßig große und aktive Bevölkerung voraussetzt. „Die Bevölkerungsabnahme steht immer in Relation mit der Libertinage der Sitten", behauptet der Abbé Joubert. Diese Behauptung wird unter dem Konsulat wieder aufgenommen 82 . Die Angst vor der Entvölkerung äußert sich teilweise in einer Anklage des Luxus, der aristokratischen Genußsucht, welche die Fortpflanzung umgeht, teils in die Kritik an der Faulheit des Volkes, der „débauche crapuleuse du peuple"83. Die elegante wie die gemeine Prostitution erscheinen als eine Erschöpfung der lebendigen Kräfte des Volkes und als ein Bevölkerungsverlust. 80 81 82

83

Dictionnaire des athées anciens et modernes, Paris, an VIII-1800. Siehe: De L'Amour, éd. G. CHINARD, Paris 1926. Abbé P . JAUBERT: Des Causes de la dépopulation et des moyens d'y remédier, Londres 1767, iij-iv. PONCET DE LA G R A V E : Considérations sur le célibat, relativement à la politique, à la population et aux bonnes moeurs, Paris AN IX-1801; ders.: Défense des considérations sur le célibat, Paris, an X-1802. Die Gesamtheit dieser Polemiken wird in den Sammelbänden der beiden Kongresse analysiert: L'Enfant et la famille dans la Révolution, Paris 1989 und La Famille, la loi, l'Etat. Débats révolutionnaires, problèmes d'aujourd'hui, Paris 1989, s. a. F. RONSIN: Le Contrat sentimental. Débats sur le mariage, l'amour, le divorce, de l'Ancien Régime à la Restauration, Paris 1990. PONCET DE LA G R A V E :

Considérations

[82], 24.

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2. Die Memoiren über das 18. Jahrhundert Das Konkordat des Jahres 1802 leitet eine moralische Restauration ein, die von der Rückkehr der Bourbonen noch verstärkt wird. Der Rückgewinnung von Gläubigen von Seiten des Katholizismus entspricht ein doppeltes Zerrbild: das der korrumptierten Gesellschaft des Ancien Régime und das der Gewalttätigkeit des Volkes. Das zugleich negative und nostalgische Bild von der guten alten Zeit wird in Memoiren verbreitet, die eine mehr oder weniger phantasmatische Vergangenheit darstellen. Auf die gefälschten Memoiren des Duc de Richelieu folgen die des Barons de Besenval, die von La Gorce (an XIII - 1805), die des Duc de Lauzun (1822) und die Mémoires pour servir à l'histoire des moeurs à la fin du XVIIIe siècle von Tilly (1828). Diese Memoiren zeichnen das Bild einer Libertinage der Vergangenheit, die den literarischen Modellen mehr verdankt als den gelebten Realitäten. Die so zu einem Mythos stilisierte Libertinage erscheint als ein Auslöser der Revolution. „Die libertinistischen Bücher kommentieren und erklären die Revolution", wird Baudelaire feststellen84. Gleichzeitig mit dem Bild einer Aristokratie, die aufhört, sich zu betäuben, bevor sie ihren Kopf auf dem Schaffott verliert, setzt sich die Idee durch, daß die unteren Klassen der Sittenlosigkeit und somit der Libertinage ausgeliefert sind. Während Besitz und Familie das ehrenhafte Bürgertum auszeichnen, erscheint das gemeine Volk durch eine dauernde Instabilität charakterisiert, die nach sozialer Kontrolle verlangt: Le libertinage et l'impudicité ne peuvent [ . . . ] être étrangers à cette classe; ils y marchent la tête levée, se faisant gloire de leur turpitude.85

Der Begriff der classes dangereuses86 beinhaltet die Idee einer Gefahr moralischer Verseuchung. Das Bürgertum muß seine Kinder vor jedem Kontakt mit der Unmoral der Vororte schützen und sich vor dem schlechten Beispiel hüten, das die Bediensteten in die Familie bringen könnten. Das Ideal des goldenen Mittelweges drückt sich in der gleich84

85

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BAUDELAIRE: „Notes sur les Liaisons dangereuses": in: Oeuvres complètes, Paris 1961,641. Dieses Thema wird von P. N A G Y besprochen in: Libertinage et révolution, Paris 1975. Rapport du commissaire du département de la Seine au ministère de Police (8 février 1800) zitiert von A U L A R D , Consulat, I 110. Siehe L . CHEVALIER: Classes laborieuses et classes dangereuses à Paris pendant la première moitié du XIX siècle Erstaufl. 1958, Neuaufl. Paris 1978.

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zeitigen Ablehnung der aristokratischen und der aus dem gemeinen Volk kommenden Verderbtheit aus. Während des gesamten 19. Jahrhunderts entwickelt die Revolutionshistorie diese doppelte phantasmatische Erklärung der Gewalttaten der Revolution durch die Libertinage der Privilegierten einerseits und durch die Unmoral des Volkes andererseits. 3. Nationale Bedeutungsschichten Diese ideologischen und sozialen Bedeutungsschichten werden durch nationale Bedeutungsbesetzungen weiter ausdifferenziert. Im 18. Jahrhundert ist die Identifikation des Franzosen mit dem petit-maître durchgängig und wird von einem Autor wie Charles de Villers systematisiert: nachdem dieser nach Deutschland emigriert ist, ersetzt er mehr und mehr den politischen Gegensatz zwischen Revolution und Konterrevolution durch einen nationalen Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland. Er bewertet Justine 1797 als ein Symptom des Verlustes der moralischen Werte: Il était sans doute réservé à notre siècle de le produire, et il ne pouvait être conçu qu'au milieu des barbaries et des sanglantes convulsions qui ont déchiré la France. C'est un des fruits les plus odieux de la crise révolutionnaire; c'est un des arguments les plus forts contre la liberté illimitée de la presse.87

Aber 1806 widmet Villiers einen Essay der Manière essentiellement différente dont les poètes français et allemands traitent l'amour, die Deutschen würden eher dazu tendieren, die Liebe zu idealisieren, während die Franzosen sie eher auf die Sinne reduzierten. Daraus erkläre sich, daß es in Frankreich eine Menge anstößiger Autoren gäbe, aber keine großen Dichter der erhabenen Liebe, die Klopstock und Schiller entsprächen. Mme de Staël erhält, ohne ihn ebenso stark zu betonen, diesen Kontrast zwischen dem tugendhaften Deutschland' und dem ,libertinistischen Frankreich" aufrecht. Nachdem sie die Memoiren von Besenval und Choderlos de Laclos zitiert hat, dessen Roman „erschauern läßt durch die Unmoral, die er verrät", hebt sie folgendes hervor:

87

Spectateur du Nord, IV 407 - 414. Siehe M. DELON: Clivages idéologiques et antagonismes nationaux à l'époque de la Révolution et de l'Empire: le cas de Charles de Villers, in: Feindbild und Faszination. Vermittlerfiguren und Wahrnehmungsprozesse in den deutsch-französischen Kulturbeziehungen (1789 - 1983), éd. H.-J. Lüsebrink u. J. Riesz, Frankfurt/Main 1984,25 - 38.

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L'amour est une passion beaucoup plus sérieuse en Allemagne qu'en France. La poésie, les beaux-arts, la philosophie même, et la religion ont fait de ce sentiment un culte terrestre qui répand un noble charme sur la vie. Il n'y a point eu dans ce pays, comme en France, des écrits licencieux qui circulaient dans toutes les classes et détruisaient le sentiment chez les gens du monde, et la moralité chez les gens du peuple. 88

Der Zuwachs an Memoiren über das 18. Jahrhundert, vor allem jene von Casanova, scheint Villers und Mme de Staël recht zu geben. Im Jahre 1790 unternimmt dieser venezianische Abenteurer, der Bibliothekar des Comte de Waldstein auf dem Schloß von Dux von Böhmen geworden ist, die Abfassung seiner Histoire de ma vie. Bei ihm überlagert sich die schmerzhafte Erfahrung des Alterns mit dem Erlebnis der Revolution. Der eigentliche Plebejer Casanova, der sich selbst die adelige Identität des Chevalier de Seingalt gegeben hat, preist seine Jugend, deren Freiheit der Endzeit des Ancien Régime entspricht. Er verfaßt seine Memoiren in Französisch, das er als Sprache der Libertinage und des Kosmopolitismus postuliert. Seine Aufenthalte in Paris entsprechen den intensivsten Momenten seines Lebens, und Ludwig XV., der verführende und verführerische König, wird den Prinzen Europas und allen Libertins als Vorbild vorgehalten. 89 1789 zerbricht diese Welt der Courtisanerie und der Galanterie. Von 1822 bis 1833 werden erneut deutsche und französische Versionen der Histoire de ma vie unter dem Titel Mémoires de Casanova veröffentlicht. Durch sie wird in ganz Europa die Idee der Libertinage mit dem französischen 18. Jahrhundert verknüpft. Die Libertinage ist so definitiv zu einem Mythos geworden, durch den sich einerseits das französische Bürgertum von der Unmoral der Aristokratie und des Volkes und andererseits die europäischen Nationen vom ehemaligen französischen Vorbild absetzen. So hat der Begriff Libertinage seine einstige polemische Funktion zurückerhalten, die gefärbt ist von der Faszination

88 89

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De l'Allemagne (1810), I, IV, Paris 1968,1, 7 2 - 7 3 . C . T H O M A S : Casanova. Un voyage libertin, Paris 1985: über das Französische als Sprache der Libertinage, 77 - 97, über Ludwig XV., 129 - 146; Casanova, in: Europe,rf 697, Mai 1987,3 - 143; über die Verbindung zwischen soa. das Themenheft über Casanova und Ludwig XV. durch eine gemeinsame Maitresse, J. C A P L A N : Vicarious Jouissances: or reading Casanova, in: MLN, sept. 1985, 803 - 814; über das Phantasma der königlichen Sexualität, J. P. G U I C C I A R D I : Between the licit and the illicit, the sexuality of the King, in: Unauthorized Sexual Behaviour during the Enlightenment, 88 - 97.

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einerseits für ein Ancien Régime, das definitiv wieder herbeigesehnt wird, und andererseits für eine Vergangenheit, die unwiderrufbar revolutionär überwunden erscheint.

Schlußfolgerungen Folgt man der Hypothese Foucaults, daß das Aufklärungszeitalter das Wissensobjekt der Sexualität, das erst einige Jahrzehnte später seinen Namen erhalten sollte, konstituierte, so versteht man, daß die Begriffe débauche und libertinage, die lange Zeit als Nichtachtung der Norm im weiteren Sinne definiert wurden, immer weiter in den Bereich der sexuellen Praktiken selbst gerückt wurden. War die libertinage im 16. Jahrhundert als häretisch qualifiziert und dann im 17. Jahrhundert von Aristokraten und Freidenkern beansprucht worden, so bezeichnet sie im 18. Jahrhundert mehr und mehr das, was der Mensch der Aufklärung ablehnt: die Verschwendungssucht der Aristokratie, die Unnützlichkeit des Klerus und die Gewalttätigkeit des Volkes. Die Revolution wird auch im Namen dieser Ablehnung von Libertinage und débauche durchgeführt. Das nachrevolutionäre Bürgertum übernimmt die Erbschaft der Aufklärung, weist davon aber all das zurück, was die Moral nuancieren würde. Während die Aristokratie manchmal von einer nostalgischen Träumerei über das Ancien Régime profitiert, wird das Volk zur Hauptbedrohung der Ansteckung durch die Unmoral. Der Künstler der Mitte des 19. Jhs. erhält den Anspruch auf Gedankenfreiheit und Lebensfreiheit aufrecht, er erschafft wieder eine mythische Aristokratie des Genies gegen den Philister, den Familienvater oder den Bankier. Schriftsteller wie die Gebrüder Goncourt oder Arsène Houssaye rehabilitieren die libertinistischen Autoren des 18. Jahrhunderts ebenso wie die Kunst des Rokoko. Der Ästhet, der Dilettant und der Dandy, die die Künstlichkeit ihrer Phantasien betonen, erheben das Lustprinzip zur Lebensregel, beziehen jedoch gleichzeitig eine gewisse Distanz zum Libertin. Der dekadente Ästhetizismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts identifiziert sich mit der Aristokratie des 18. Jahrhunderts, die am Ausgang des Ancien Régime lebte. Schließlich bleibtnoch die Funktion der sexuellen Forderungen der sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts zu erwähnen und reziprok dazu die Rolle der Sittenskandale in den politischen Kämpfen.

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Libertinage

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39

Débauche,

Libertinage

Bürgertums im XVI. und XVII. Jhd., Stuttgart 1970. J. P. SEGUIN': Le mot libertin dans le Dictionnaire de l'Académie, ou comment une société manipule son lexique, in: Le Français moderne 4 9 , 1 9 8 1 , 1 9 3 - 2 0 5 .

C. THOMAS: La Reine scélérate. Marie-Antoinette dans les pamphlets, Paris 1989. L. VERSINKLÖC/ÜS et la tradition. Essai sur les sources et la technique des Liaisons dangereuses, Paris 1968. P. WALD-LASOWSKI: Libertines, Paris 1980. -: L'Ardeur et la galanterie, Paris 1986.

45

Domestique / Valet* CLAUDE PETITFRERE

Einleitung I.

2

Die Klassik: Die in die Familie integrierte Dienerschaft 3 1. Eine weitgefaßte Bedeutung des Begriffs ,domestique' 2. Die niedere Dienerschaft: eine Bedrohung für die Familie . 5 3. Herren und Diener: gegenseitige Verpflichtungen 6

II. Die Aufklärung: Eine zunehmende Distanz in den Beziehungen zwischen ,Herr' und ,Diener' 1. Eine sich verengende Begriffsbedeutung 2. Von der Bedrohung der Familie zu einer Gefahr für die Gesellschaft 3. Der Rückzug der ,bourgeoisen' Familie auf ihren ehelichen Kern

8 8 10 12

III. Die Revolutionszeit: Ausgrenzung oder Befreiung? 14 1. Als Stellvertreter seines Herrn: Dem .domestique' werden die Bürgerrechte vorenthalten 14 2. Als Mann aus dem Volke: Dem ,domestique' wird die Fürsorge der Montagnards zuteil 17 IV. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Drill und Ausschluß aus dem Kreis der Familie 19 1. Die Ängste der Herren überschlagen sich 20 2. Eine Verschärfung der Zwänge 21 3. Der Traum vom Automaten-Menschen 22 Literatur

25

* Aus dem Französischen übersetzt von Matthias Beermann.

47

Domestique,

Valet

2

Einleitung Die Worte domestique und valet erscheinen uns heutzutage recht veraltet, verwendet werden sie kaum noch, es sei denn, in einem figurativen und abwertenden Sinne. Die Dienerschaft als solche ist aus unserem Leben praktisch verschwunden. Dagegen gehörte sie im alten Frankreich zum vertrauten Bild in den Straßen und auf den Feldern. Eine in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts durchgeführte Volkszählung erlaubt es, den Anteil der Dienstboten an der Bevölkerung der Provinz Maine auf 10 bis 12 Prozent zu veranschlagen. 1 Dabei handelt es sich aber im wesentlichen u m landwirtschaftliche Arbeitskräfte, die eher im Betrieb ihres Herrn Verwendung finden, als daß sie seiner Person selbst zu Diensten sind. Es sind die Dienstboten in solch einem persönlichen Dienstverhältnis, die uns hier interessieren werden. Diese finden sich vor allem in den Städten, w o es sie zur Zeit der Aufklärung in großer Zahl gibt; zwischen einem Zwanzigstel und einem Zehntel der Bevölkerung machen sie, abhängig von den unterschiedlichen Gegebenheiten, dort aus. 2 Der zweifache Niedergang des Begriffs und der Funktion ist ganz offensichtlich an die technische Entwicklung gebunden: Die Haushaltsgeräte haben die Dienstboten aus unseren Wohnungen verdrängt. Man kann sich jedoch fragen, ob dieses Phänomen nicht auch mit den tiefgreifenden Veränderungen zusammenhängt, die Frankreich zur Zeit der Aufklärung und der Revolution bewegt haben: Der langsame Übergang von einer patriarchalischen Welt, die noch bestimmt war von gegenseitigen Treueverhältnissen, einer Welt, in der die Familie nach außen hin weit geöffnet war, zu einer individualistischen Gesellschaft, die durch die Bedeutung des Geldes innerhalb der menschlichen Bezie1

2

48

Archives départementales d'Indre-et-Loire, C 336: „Tableau de la généralité de Tours depuis 1762 jusques et compris 1766". Die Dienstboten haben 1791 in Lyon einen Bevölkerungsanteil von etwa 4 %, in Toulouse sind es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwischen 7 und 8 % und in Grenoble 1725 nahezu 10 % (J.-P. GUITÓN: Domestiques et serviteurs, 8). Sie stellen im Jahr 1790 7,7 % der Bevölkerung von Saumur (Archives municipales de Saumur FI 36 (1; recensement), in Tours sind es 1773 8,6 % (Archives municipales de Tours; registre de la capitation) und in Angers 9 % im Jahr 1769 (Archives municipales d'Angers; recensement). In Paris soll es 1764 nahezu 40.000 Dienstboten gegeben haben (das entspricht fast 7 % einer auf600.000 Einwohner geschätzten Bevölkerung. Vgl. ROCHE: Peuple de Paris, 27).

Domestique, Valet

3

hungen und durch den Rückzug der Familie auf ihren Kern, die Ehe, gekennzeichnet ist.

I. Die Klassik: Die in die Familie integrierte Dienerschaft 1. Eine weitgefaßte Bedeutung des Begriffs,domestique' Zur Zeit Ludwigs XIV. hat domestique eine noch sehr weitgefaßte, der lateinischen Etymologie nahe Bedeutung (Domestici: „les membres d'une famille, tous ceux qui sont attachés à une maison"3). Tatsächlich bezeichnet Richelet mit diesem Begriff „la femme, les enfans, les serviteurs et les servantes".4 Eine ähnliche Definition findet sich im Dictionnaire universel von Furetière. ,J)omestique: Qui est d'une maison sous un même chef de famille. En ce sens il se prend pour femme, enfans, hostes, parens et valets".5 Jedoch wird ab dieser Zeit der Begriff auch in einer engeren Bedeutung verwendet. Furetière präzisiert: „Domestique se prend quelquefois seulement pour les Officiers, valets à gages d'un Maistre"6. Er bezeichnet also Männer und Frauen, die eine Dienstleistung gegen Entlohnung erbringen. Es ist jedoch deutlich, daß sich die Bedeutung des Begriffs domestique nicht auf jene von valet reduzieren läßt, daß sie diese zwar einschließt, sie dabei aber bei weitem überschreitet. Die erste Auflage des Dictionnaire de l'Académie definiert im übrigen den valet als einen „domestique qui sert dans les bas emplois"7. In einem großen Haus zählt man zu den domestiques in der Tat alle möglichen Arten von Dienern, die nach einer strengen Hierarchie eingeteilt sind. Furetière veranschaulicht den Begriff, den er mit dem folgenden Beispiel erklärt: „Ce Seigneur a trente domestiques, Intendans, Secrétaires, Pages, Laquais, etc."8 Der Abbé Claude Fleury richtet in seinem Buch, das die Devoirs des maîtres et des domestiques behandelt, sein Augenmerk ebenso auf den Hausgeistlichen oder den Verwalter wie auf die Lakaien,

3

F . GAFFIOT:

Art. „Domestique", in: Dictionnaire illustré latin-français, Paris

1934. Bd. I (1680), Art. „Domestique". (1690), I 251 Art. „Domestique".

4

RICHELET,

5

FURETIERE

6

Ebd. Dict. Acad., Bd. I (1694), Art. „Valet". FURETIERE ( 1690), Art. „Domestique".

7 8

49

Domestique,

Valet

4

Kutscher oder Stallknechte. 9 Hält man sich nun an die am engsten gefaßte Bedeutung des Begriffs, die Frauen und Kinder ausschließt, so setzt sich die Dienerschaft eines reichen Mannes genau genommen aus den beiden Personengruppen zusammen, die Furetiere unterscheidet: Den officiers und den valets ä gages. Letztere sind wenig angesehen und verrichten in erster Linie materielle Arbeiten (wie z. B. die Kutscher oder die Parkettreiniger), aber einige von ihnen (so die Lakaien) haben kaum anderes zu tun, als durch ihr Vorhandensein, ihre Anzahl und den Glanz ihrer Livree vom Rang des Hauses ihres Herrn zu künden. Was die officiers betrifft, so stehen diese an der Spitze der Dienstbotenhierarchie. Streng genommen findet diese Bezeichnung Anwendung auf die „domestiques qui ont soin de la table, comme Maistre d'Hostel, Cuisinier, Sommelier" 10 . In der Praxis aber wird sie ausgedehnt auf alle ranghöheren Dienstboten, insbesondere auf jene, die für einen kompletten Aufgabenbereich im Hause zuständig sind, z. B. für die Versorgung der Tafel oder für die Stallungen. Audiger zählt zu ihnen den Verwalter, den Hausgeistlichen, den Sekretär, den Stallmeister und den Maitre d'hotel, alles Personen, die sogenannte „appointements" und keinen Lohn erhalten, wie dies bei den anderen Dienstboten der Fall ist, und die, zumindestens in den reichsten Familien, auch selbst einen Diener zur Verfügung haben können." Es ist das Vorbild des königlichen Hofes, an dem sich der Aufbau der Dienerschaft der grands seigneurs orientiert. Seinem Beispiel folgend, können ihr auch Edelleute aus der Verwandtschaft oder aus der Klientel des Familienoberhauptes angehören. So der ecuyer, der alle Livreeträger befehligt, der gentilhomme, ein Edelmann, der den Platz des Favoriten an der Seite des Herrn einnimmt, oder seine Entsprechung bei einer Dame, die demoiselle de compagnie, schließlich die Pagen, die mit dem Ziel des „apprendre ä vivre" 12 dem Herrn zugeordnet sind. Der Eintritt in die Dienerschaft eines adligen Herrn bietet jungen Edelleuten aus wenig begüterter Familie eine Art gesellschaftlicher Lehrzeit oder sogar den Beginn der Karriere, wenn sie das Glück haben, „gentilhomme" oder „ecuyer" zu werden.

9

1

Les devoirs des maîtres et des domestiques, Paris 1688. Art. „Officier". A U D I G E R : La maison réglée et /' art de diriger la maison d'un Grand Seigneur et autres (...), Paris 1692. Ebd. 2 8 . CL. FLEURY:

10

'

12

50

FURETIERE ( 1 6 9 0 ) ,

5

Domestique,

Valet

2. Die niedere Dienerschaft: Eine Bedrohung für die Familie Es versteht sich, daß unter solchen Umständen das Wort domestique mit keinerlei abwertendem Unterton behaftet ist. Bei valet liegt der Fall schon ganz anders (jedenfalls, wenn das Wort ohne Ergänzung verwendet wird, denn die valets de chambre und andere valets de garderobe sind im Besitz eines Adelsbriefs; diese Bezeichnungen stehen für hohe Würdenträger in den königlichen und fürstlichen Häusern). Valet suggeriert Unterwürfigkeit, Servilität und zieht Verachtung nach sich. „On dit âme de valet, pour dire âme basse" 13 . Furetière zitiert folgende Wendung: „un homme fait le bon valet", was bedeutet: „il est flatteur et complaisant, pour se faire préférer aux autres". Derselbe abwertende Unterton findet sich beim Verb valeter. „Faire le valet, faire servilement la cour à quelqu 'un, croyant en tirer quelque avantage". Die Verachtung, mit der der valet bedacht wird, spiegelt sich im Wort valetaille: „Nom collectif et terme odieux, qui signifie une trouppe de valets". 14 In den Augen der Eliten ist das Bild dieser niederen Dienerschaft negativ geprägt durch die Vielzahl der Laster, derer man die valets verdächtigt. Verkörpert der niedere Bedienstete doch den Armen, dem das Haus des Reichen ausgeliefert ist. Womit sich auch die Vielzahl der Ängste erklärt: Angst vor dem Verrat von Familiengeheimnissen; die Befürchtung, die Familienehre könne auf diese Weise in den Schmutz gezogen werden; Angst vor lebensgefährlichen Unfällen, verursacht vom betrunkenen Kutscher oder der unachtsamen Amme; Angst vor einer Sexualität, die man in die Nähe des Animalischen rückt und sich daher als völlig zügellos vorstellt. Abbé Fleury schaudert beim Hinweis auf das Leben, das sie führen, „ces grands laquais, et ces valets de chambre si parés dont Paris est plein [ . . ,]"15 und Bénigne Lordelot schreibt klipp und klar, daß die Diener aus ihrer Zeit in Stellung nichts mitnähmen als „[.. .] un corps usé de débauches et une âme souillée de toutes sortes d'iniquitez" 16 . Es ist jedoch die Angst vor Diebstahl, die stärker ist als alles andere. Der anonyme Verfasser der Devoirs généraux des domestiques zögert nicht zu sagen, daß jene, die das Gut ihres Herrn entwenden „sont dignes de tous les châtiments; puisqu'abusant de la 13

Dict. Acad., Bd. I (1694), Art. „Valet".

14

FURETIERE ( 1 6 9 0 ) , Art. „ V a l e t " . C f . FLEURY, [9], 74.

15

16

Les devoirs de la vie domestique, par un père de famille, (anonyme, attribué à B. Lordelot), Paris 1706,124. 51

Domestique,

Valet

6

confiance que l'on a en eux, ils trahissent la bonne foi et la justice [ . . .]"17. Tatsächlich wird der Dienstbotendiebstahl bis zum Ende des Ancien Régime unter Todesstrafe stehen.

3. Herren und Diener: Gegenseitige Verpflichtungen Die Stellung des domestique - im engeren Sinne - zeichnet sich durch drei Eigenschaften aus: Dem Wohnen unter dem Dach seines Herrn, der Unterordnung und der Entlohnung geleisteter Dienste. Was das Wohnen im Hause des Herrn angeht, so gibt es in bestimmten Fällen Ausnahmen, so z. B. bei den Dienern sehr hohen Ranges. Die Unterordnung allerdings stellt eine Regel ohne Ausnahme dar. Sie verlangt Respekt und Gehorsam gegenüber dem Herrn. Dessen Autorität gründet in göttlichem Recht (das Familienoberhaupt ist der „lieutenant de Dieu" in seinem Hause), und das bedeutet für den domestique verpflichtend: „obéir exactement [ . . . ] et souffrir patiemment et sans répliqué (les) réprimandes, lors même qu'il ne croit pas les mériter" 18 . Die Rechte des Herrn finden ihre Grenzen einzig im Gesetz Gottes; Ungehorsam ist zulässig, ja sogar unerläßlich, sollten erteilte Anweisungen diesem widersprechen. 19 Die Entlohnung besteht nicht allein in Verköstigung, meistens auch in Unterkunft, ja sogar in Bekleidung. Sie soll entweder jährliche Lohnzahlungen beinhalten, die in Geld oder in Naturalien, meistens aber in gemischter Form geleistet werden (mehr oder minder regelmäßig übrigens), oder sie geschieht durch episodische „récompenses", die in manchen Fällen erst beim Tod des Herrn testamentarisch zuerkannt werden. Die Stellung des domestique ist jedoch nicht mit derjenigen eines gewöhnlichen Arbeitnehmers gleichzusetzen. Der Herr hat mit der Bezahlung des Lohns noch keinesfalls alle seine Verpflichtungen erfüllt, genauso wenig wie der domestique, wenn er die Arbeit getan hat, die man von ihm verlangt. Das Eingehen eines Dienstbotenvertrages, fast immer handelt es sich dabei um eine mündliche Vereinbarung, bedeutet für den Diener künftige Zugehörigkeit zu einer Familie. Daraus 17

18

19

52

Devoirs généraux des domestiques de l'un et l'autre sexe (...), Paris 1713, 44. C f . FLEURY[9], 119.

Devoirs généraux [17], 40.

Domestique, Valet

7

ergibt sich eine Reihe von gegenseitigen Verpflichtungen. Als Adoptivvater seiner Dienstboten erwartet der Herr von diesen nicht nur Arbeit und Gehorsam, sondern darüber hinaus auch Zuneigung und Ergebenheit. Im Gegenzug schuldet er ihnen Gesundheit an Leib und Seele. Die Sorge um das Seelenheil steht in einer christlichen Gesellschaft natürlich oben an. Sie bedeutet für den Herrn Verpflichtungen auf religiösem und sittlichem Gebiet. „II faut toujours [ . . . ] faire instruire soigneusement (les domestiques) des devoirs de la religion, et autant à fond que leur capacité le permet [...]", schreibt Abbé Fleury, der hinzufügend betont, daß das Wachen über den sittlichen Lebenswandel der Dienstboten der „principal soin" des Herrn zu sein habe.20 Das Familienoberhaupt hat auch zahlreiche materielle Verpflichtungen. Es muß das verlangte Arbeitsmaß den Kräften seiner Diener anpassen, sie im Krankheitsfall behandeln lassen und für einen friedvollen Lebensabend derer sorgen, die in seinem Dienst alt und grau geworden sind. Dem jugendlichen Nachwuchs, der nicht im Hause bleiben will, muß er die Zukunft sichern, indem er die Mädchen verheiratet und die Jungen ein Handwerk erlernen läßt. Die Verantwortlichkeit des Herrn endet selbst dann nicht, wenn der Dienstbote seine Stellung aufgibt. Er gehört weiterhin zur Klientel seines einstigen Herrn: Rien n'est plus honorable à un homme riche que de se voir environné d'un grand nombre d'anciens domestiques, qui ne sont plus attachés à lui que par reconnaissance, et qui le regardent comme leur bienfaiteur, leur patron et leur père21.

Natürlich stehen hier Theorie und Praxis oftmals im Widerspruch, aber das eine wie das andere entspringt derselben patriarchalischen oder paternalistischen Vorstellung. Die Beziehungen zwischen Herr und Diener gestalten sich im täglichen Leben sehr eng, was eine große Vertrautheit zur Folge hat. Physische Kontakte sind häufig, ergeben sich selbstverständlich aus dienstlichen Gründen (bei der Toilette z. B.), aber auch aufgrund der Gewohnheit von körperlichen Züchtigungen und aufgrund der Freiheiten, die sich der Herr gegenüber seiner Dienerin häufig herausnimmt. Verstärkt wird diese Intimität noch durch das enge Zusammenleben, das durch die Beschaffenheit der Unterkünfte erzwungen wird. Diese bestehen aus großen, mehreren Zwecken dienen-

20

C f . FLEURY [ 9 ] , 2 7 -

21

Ebd. 72.

28.

53

Domestique,

Valet

8

den Räumen, in denen sich Herren und Diener den ganzen Tag, wie auch die Nacht über, aneinanderdrängen.

II. Die Aufklärung: Eine zunehmende Distanz in den Beziehungen zwischen Herr und Diener 1. Eine sich verengende Begriffsbedeutung Noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts behält der Begriff domestique die weitgefaßte Bedeutung bei, die er schon zur Zeit des Sonnenkönigs gehabt hatte. Die Auflage des Dictionnaire de Trévoux von 1743 übernimmt die Definition der Auflage von 1704 und bestätigt, daß die Bedeutung von domestique „plus étendu que celui du mot serviteur" ist: Serviteur ne signifie que ceux qui servent à gages, comme les valets, les laquais, les portiers, etc. Famulus. Domestique comprend tous ceux qui agissent sous un homme, qui composent sa maison, qui demeurent chez lui, ou qui sont censés y demeurer, comme Intendans, Secrétaires, Commis, Gens d'affaires: quelquefois domestique dit encore plus, et s'étend jusqu'à la femme et aux enfans.

Es wird hinzugefügt, daß mit domestique auch die „höchsten Seigneurs, die dem König oder den Prinzen als Officiers dienen" 22 bezeichnet werden. Indes, wir befinden uns an einem Wendepunkt in der Entwicklung des Begriffs. Die Encyclopédie übernimmt 1755 die Definition des Dictionnaire de Trévoux ohne große Änderung, präzisiert aber in den Passagen über die Jurisprudenz wie folgt: Domestique. Ce terme pris dans un sens étendu, signifie tous ceux qui demeurent chez quelqu'un et en même maison; ainsi, dans ce sens tous les Officiers du Roi et des Princes qu'on appelle Commensaux, et ceux des Evêques, sont en quelque façon domestique. Mais on n'entend ordinairement par le terme de domestique que des serviteurs.23

Die geläufige Verwendung des Begriffs hat also vom Ende des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts eine Einschränkung erfahren. Furetière schrieb noch: „Domestique se prend quelquefois seulement pour les

22 23

54

Dict. Trévoux, Bd. I (1704) und Bd. III (1743); Art. „Domestique". Encyclopédie, V (1755), 29: Art. „Domestique" von Edme Mallet.

9

Domestique, Valet

Officiers, valets à gages d'un Maistre". Die Encyclopédie bekräftigt genau dies als die nunmehr übliche Bedeutung. Die Akzentuierung der Bedeutung des bezahlten Dieners findet sich übrigens auch im Dictionnaire von Aubert de La Chesnaye-des-Bois wieder: „Parce mot (domestique) on entend communément valet et servante; mais il se dit aussi des plus grands seigneurs, qui sont officiers chez les rois ou chez les princes".24 Während domestique sich zunehmend auf den Bedeutungsumfang von valet reduziert, sinkt letzterer in der Wertschätzung immer weiter ab. Rousseau spricht von der „canaille des valets", von der man Emile tunlichst fernhalten müsse.25 Durch den Mund des Paysan perverti findet Rétif de La Bretonne zu sehr harten Worten: le valet, ravalé au-dessous de la qualité d'homme, mis sur la même ligne que les chevaux et les chiens de son maître, endure le mépris, quelquefois les coups, toujours l'impertinence, et applaudissant lui-même à sa dégradation, voue son existence au faste et aux commodités d'un autre, dans l'espoir de survivre à son tyran, et d'avoir part à ses tardifs et mal assurés bienfaits. 26

Caraccioli zufolge ist das Wort gegen Ende der Regentschaft Ludwigs XV. derart durch Verachtung geprägt gewesen, daß es nur noch einige wenige Landpfarrer und Dorfbewohner gegeben habe, die sich erlaubt hätten, damit ihre Dienstboten zu bezeichnen.27 Domestique ersetzt in der Folge mehr und mehr valet, wird dabei aber nun seinerseits mit all den Makeln in Verbindung gebracht, die die gesellschaftliche Elite an der Knechtschaft findet. Man kann sogar sagen, daß die Furcht vor dem domestique eine neue Dimension erlangt. Es sind nicht länger nur Verstöße gegen die Ordnung innerhalb der Familie und gegen deren Sicherheit, sondern nunmehr ein Umsturz der gesamten Gesellschaft, den man befürchtet.

24

AUBERT DE LA CHESNAY-DES-BOIS ( 1 7 6 7 ) , I 7 4 8 .

25

J.-J. ROUSSEAU: Émile (1762), in: Oeuvres complètes, Paris 1969, II 326. N. RÉTIF DE LA BRETONNE: Le paysan perverti (1775), éd. Paris 1978,1340 341.

26

27

CARACCIOLI ( 1 7 6 8 ) , III 2 6 9 .

55

Domestique, Valet

10

2. Von der Bedrohung der Familie zu einer Gefahr für die Gesellschaft Die besseren Kreise fürchten die allmähliche Durchsetzung der höheren gesellschaftlichen Schichten durch Dienstboten, die sich ungebührlich auf Kosten ihres Herrn bereichert haben. Zwar ist das Motiv des emporgekommenen Lakaien nicht neu, es findet sich bereits bei La Bruyère.28 Aber im 18. Jahrhundert, mit dem Anstieg der sozialen Mobilität und der zunehmenden Bedeutung, die der Faktor Geld als Kriterium von Rang und Ansehen gegenüber der familiären Abstammung gewinnt, steigern sich die Befürchtungen. Dafür finden sich Zeugnisse bei Saint-Simon, Lesage und auch bei Montesquieu: Le corps des laquais est plus respectable en France qu'ailleurs: c'est un séminaire de grands seigneurs. Il remplit le vide des autres états. Ceux qui le composent prennent la place des grands, malheureux, des magistrats ruinés, des gentilhommes tués dans les fureurs de la guerre; et quand ils ne peuvent pas suppléer par eux-mêmes, ils relèvent toutes les grandes maisons par le moyen de leur filles, qui sont comme une espèce de fumier qui engraisse les terres montageuses et arides.29

Zu dieser Angst vor einer vertikalen Migration, vor dem gesellschaftlichen Aufstieg der kleinen Leute, kommt die Furcht vor einer horizontalen Bewegung, die die ländlichen Gegenden zum Vorteil der Städte und die Felder und Werkstätten zugunsten des Dienstes in den adligen Häusern leerfegt. Der Abbé Fleury hatte schon zur Zeit der Klassik diese Pervertierung der zum Müßiggang bestimmten Arbeitskraft angeprangert, doch die Kritik im Namen eines ad absurdum geführten Nutzprinzips und einer benachteiligten Ökonomie mehren sich vor allem zur Blütezeit des Physiokratismus: La désertion des campagnes par cette foule de gens, qui viennent dans les villes pour y être des domestiques superflus, ou des ouvriers employés au luxe, est la principale cause de la destruction d'un état agricole, puisqu'elle diminue la véritable source de ses revenus, et qu'elle lui présente plus d'objets de dépenses. 30 28 29

30

56

Les Caractères (1696), ed. Paris 1950, 118. Mémoires, Paris 1953; L E S A G E : Turcaret (1709) und Histoire de GilBlas de Santillane, 1715 - 1736; M O N T E S Q U I E U : Les Lettres Persanes (1721), Lettre XCVIII. D. D E S S E R T hat den Mythos vom „laquais parvenu" widerlegt: „Le ,laquais-financier' au grand siècle: Mythe ou réalité?", in: XVIIe siècle 31, 1979,21 - 3 6 . Oeuvres complettes de M. de Chamousset, Paris 1783, II47. L A BRUYERE:

SAINT-SIMON:

Domestique,

11

Valet

Zum ökonomischen Argument kommt fortan noch das demographische hinzu. Wenn man in einem Vorzimmer eine Gruppe von domestiques erblicke, so schreibt L.-S. Mercier, müsse man folgendes bedenken, „il faut songer qu'il s'est formé un vide dans la province, et que cette population florissante forme de vastes déserts dans le reste de la monarchie"31

Der Überfluß an Bediensteten als wesentlicher Faktor des Ungleichgewichts zwischen Hauptstadt und Provinz sei auch eine der Ursachen der Entvölkerung des Königreichs; eine Vorstellung, die, dafür daß es sich hierbei um eine falsche Annahme handelt, ebenfalls recht verbreitet ist. Der Arzt Tissot bietet eine vermeintlich wissenschaftliche Erklärung: premièrement, n'étant pas, à l'ordinaire, occupés suffisamment, ils [les domestiques] prennent le goût de la vie oisive, ils deviennent incapables de reprendre le labeur de la campagne pour lequel ils étaient nés; étant privés de cette ressource, ils ne se marient pas ou se marient tard; il naît moins de citoyens. L'oisiveté les affoiblit par elle-même, et les conduit à la débauche, qui les affoiblit encore davantage; ils n'auront jamais que peu d'enfans mal sains, qui ne seront point en état de fournir des bras aux terres.32

Hier kommt das Schreckgespenst einer Verseuchung der gesamten Nation mit Geschlechtskrankheiten durch den Dienstbotenstand zum Vorschein. Noch deutlicher zeigt sich diese Vorstellung bei Moheau: Der „célibat exigé des domestiques [. . . ] crée dans cet Etat un nombre de libertins infectés de maladies impures, qu'ils communiquent et qui associent d'autres individus à leur stérilité". 33 An Leib und Seele gleichermaßen verloren, drohen die domestiques, die Gesellschaft insgesamt ins Verderben zu stürzen. Und zwar zunächst in den großen Städten: „Cette armée de domestiques inutiles, et faits uniquement pour la parade, est bien la masse de corruption la plus dangereuse qui pût entrer dans une ville

31 32 33

34

L.-S. M E R C I E R : Le Tableau de Paris(m\ - 1788), éd. Paris 1979,160. Dr. S. T I S S O T : Avis au peuple sur sa santé, Lausanne 1761, 9. M O H E A U : Recherches et considérations sur la population de la France, Paris 1778, II 106. L . - S . MERCIER [ 3 2 ] ,

160.

57

Domestique, Valet

12

où les débordements sans nombre qui en naissent, et qui ne vont qu'en s'accroissant, menaçent d'apporter tôt ou tard quelque désastre presque inévitable".34

Aber auch das flache Land ist seinerseits von der Ansteckung bedroht. Wenn die französischen Bauern „weniger gesund" sind als die „Wilden", so liegt der Grund dafür, folgt man der Ansicht von Tissot, im folgenden Umstand: „plusieurs ont été domestiques, d'autres soldats: ils ont affoibli leur santé dans ces deux états, et porté dans leur village un peu des usages de la ville."35

3. Der Rückzug der ,bourgeoisen' Familie auf ihren ehelichen Kern Das Wachsen der Ängste in den Führungsschichten steht im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Wandlungen, die die Welt der Herren selbst betrifft. Der neureiche Bourgeois, ob er nun auch in den Adelsstand erhoben ist oder nicht, ahmt den Lebensstil des alten Adels nach, indem er die Zahl seiner der Repräsentation dienenden domestiques vervielfacht. Daher rührt der Eindruck einer Überflutung der großen Städte mit unnützen Lakaien. Vor allem aber ist der Bourgeois, verglichen mit einem Adligen aus altem Geschlecht, der oftmals seine domestiques auf den eigenen Ländereien und unter den Angehörigen seiner natürlichen Klientel anwirbt, weniger vertraut mit diesen Menschen aus dem Volke, denen gegenüber er folglich ein lebhaftes Mißtrauen hegt. Er kann sich von ihnen nicht aufgrund seiner Abstammung abheben und so führt er sie am Gängelband. Louis-Sébastien Mercier spürte im vorrevolutionären Paris die Distanz in den Beziehungen zwischen Herren und Dienern. Zu Zeiten „unserer Großmütter", so schreibt er, „gehörten die Dienstboten zur Familie"; Und weiter: „on les traitait moins poliment, mais avec plus d'affection; ils le voyaient et devenaient sensibles et reconnaissants. Les maîtres étaient mieux servis et pouvaient compter sur une fidélité bien rare aujourd'hui. On les empêchait à la fois d'être infortunés et vicieux; et pour l'obéissance on leur accordait en échange bienveillance et protection. Aujourd'hui, les domestiques passent de maisons en maisons, indifférents à 35

Dr. S. TISSOT: Essai sur les maladies des gens du monde, Lausanne, 1770, 10-11.

58

13

Domestique, Valet quels maîtres ils appartiennent, rencontrant celui qu'ils ont quitté sans la moindre émotion. Ils ne se rassemblent que pour révéler les secrets qu'ils ont pu découvrir; ils sont espions; et, comme on les paie bien, qu'on les habille bien, qu'on les nourrit bien, mais qu'on les méprise, ils le sentent et sont devenus nos plus grands ennemis.36

Sicherlich muß man in diesem Zusammenhang den Mythos vom verlorenen Paradies in Betracht ziehen, den jede Generation auf ihre Weise pflegt. Die alten Verhaltensweisen gingen verloren, insbesondere in der Provinz und in den adligen Kreisen. Wenigstens aber zeugen bis zum Ende des Ancien Régime die Testamente von einem bei den Herren fortbestehenden Bewußtsein einer Schuld gegenüber ihren „gens", welches sich häufig im Vermächtnis von Geld, Kleidern oder sonstigen Haushaltsgegenständen niederschlägt. Ebenso deutlich ist, daß die Ausbreitung der neuen, aus der Bourgeoisie stammenden Denkweisen dazu führt, den domestique aus dem Kreis der Familie auszuschließen. Philippe Ariès hat den sich über die Jahrhunderte der Neuzeit hinziehenden Prozeß der allmählichen Abkapselung des familiären Kerns „Ehe" aufgezeigt.37 Die neue Bedeutung der Intimität veranlaßt den Herrn und seine Gattin dazu, eine eigene Privatsphäre abzugrenzen, in die die domestiques nur auf Anweisung und ausschließlich zum Zwecke der Verrichtung dienstlicher Pflichten einzudringen haben. Diese kurzen Momente ausgenommen, werden sie in die ihnen zugedachten Räume abgeschoben: Die Küche, die Dienstbotenkammer, das Vorzimmer. Während der Nacht verbannt man sie dann in das Zwischengeschoß der Pariser Hotels oder in die Schlafsäle in den Seitenflügeln der Provinzschlösser. Diese physische Trennung ist Anzeichen für einen Wandel, den das Verständnis des Vertragsverhältnisses, das Herren wie Diener bindet, bei den Eliten durchmacht. Es zeigt sich die Tendenz, jene noch auf das Vorbild einer Vater-Sohn-Beziehung zurückgehende Bindung von Mann zu Mann samt den aus ihnen folgenden gegenseitigen Verpflichtungen durch ein bloßes Lohnarbeitsverhältnis zu ersetzen, bei dem die Zwänge nur noch auf Seiten des domestique zu finden sind, während die Pflichten des Herrn sich lediglich auf die Lohnzahlungen beschränken. Zu Beginn der Revolution beklagt Louise Robert diese neuen Entwicklungen und ermutigt dazu, zu den alten Verhaltensweisen zurückzukehren: 36

37

MERCIER [ 3 1 ] , 1 6 3 .

Ph. ARIES:

L'enfant

et la vie familiale

sous l'Ancien Régime,

Paris 1960. 59

Domestique,

Valet

14

[ . . . ] jugeons si le maître et le domestique ne sont pas liés par une parfaite égalité de protection mutuelle. Nous lui donnons l'argent qu'il lui faut pour vivre, il nous donne ses soins, ses fatigues et ses veilles; sain ou malade, il nous sert à toute heure; nous lui accordons protection, il nous défend dans l'occasion [ . . . ] . Et souvent, trop souvent, nous regardons simplement sa fidélité dans tous ces points, comme un devoir, sans daigner nous souvenir que c'est en nous comme en lui une vertu que de remplir ponctuellement ses devoirs, et nous le louons légèrement de nous être fidèle, sans nous rappeller que nous ne lui sommes pas. [ . . . ] renonçons à croire que l'or soit le prix, 1 ' unique prix de tout. Goûtons le plaisir de faire avec lui un plus noble échange de vrais services. 38

III. Die Revolutionszeit: Ausgrenzung oder Befreiung? 1. Als Stellvertreter seines Herrn: Dem,domestique' werden die Bürgerrechte vorenthalten Während des Jahrzehnts der Revolution zeichnet sich die Einschränkung des Begriffs domestique auf die Bedeutung des bezahlten, mit manuellen Tätigkeiten betrauten Dieners noch klarer ab. Erhellend ist in diesem Zusammenhang die Debatte, die am 27. Oktober 1789 in der Verfassungsgebenden Versammlung geführt wurde. Gegenstand der Beratungen waren damals die zu erfüllenden Bedingungen, um in den Genuß der aktiven Staatsbürgerschaft zu gelangen. Es ging darum, die Dienstboten von dieser auszuschließen, wobei man zwischen zwei Formulierungen schwankte: „n'être pas dans une condition servile" oder „n'être pas dans un état de domesticité". Der Deputierte Pétion ergreift das Wort. „Par domestiques", so führt er aus, „on entend les commensaux, tels que les instituteurs, secrétaires, bibliothécaires etc., et par serviteur celui qui vaque à des oeuvres serviles." Damit hält er sich an ein althergebrachtes und zugleich auch noch äußerst elitäres Verständnis von der Dienerschaft, bezieht er doch in seine Überlegungen die niederen Bediensteten gar nicht mit ein. Aber die Mehrheit der Assemblée folgt ihm dabei nicht. Die endgültige Fassung des Wahlgesetzes, die am 22. Dezember 1789 verabschiedet wurde, sah dann unter den Zugangsvoraussetzungen zur aktiven Staatsbürgerschaft auch folgende Regelung vor: „n'être point dans l'état de domesticité, c'est-à-dire de servi38

39

60

in: Révolutions de l'Europe et Mercure National réunis, Nr. (22. Febr. 1791), 94 - 105. Moniteur, N° 78 (26. - 28. Okt. 1789), II 94. L . ROBERT,

14

15

Domestique, Valet

teur à gages".39 Damit ist nun jene Bedeutung von domestique offiziell verankert worden, die diesen in die unteren Ränge der Dienerschaft verbannt. In der Folge definiert der Dictionnaire de la Constitution et du gouvernement français den „domestique" bzw. „serviteur à gages" folgendermaßen: „tout homme qui est aux gages d'un autre, qui le sert, non de son esprit ou de ses talens, mais de sa personne". Dabei wird daran erinnert, welche Personen die Nationalversammlung ausdrücklich nicht als solche betrachtet: „les intendans ou régisseurs, les ci-devant feuillistes (sic), les secrétaires, commis etc. attachés à un particulier".40 Es stimmt zwar, die höhere Dienerschaft gibt es zu dieser Zeit noch, aber nicht mehr lange. Ihre Tage sind gezählt, genau wie jene der alten Gesellschaftsordnung insgesamt. Am 9. Juni 1791 entsteht unter den Mitgliedern der Constituante eine neuerliche Debatte über die Unvereinbarkeit verschiedener gesellschaftlicher Stellungen mit dem Amt des Deputierten. Pétion schlägt vor, die „personnes de la domesticité du roi" davon auszuschließen, also jene Gruppe, die von Amts wegen die Maison du Roi bildet. Hier bestätigt sich, daß das Bild des domestique im Denken des Abgeordneten von Chartres eher durch die Vorstellung eines gegenseitigen Treueverhältnisses von Mann zu Mann geprägt ist, als daß er diesen über dessen niedere Stellung in der Dienstbotenhierarchie zu definieren sucht. Dieses Mal billigt die Assemblée seinen Vorschlag. So wird die Verfassung dann jene Personen von der Vertretung der Nation ausschließen, die, „sous quelque dénomination que ce soit, sont attachés à des emplois de la maison militaire et civile du roi".41 Auf diese Weise wurde bereits seit den ersten Jahren der Revolution der niederen Dienerschaft das Wahlrecht verwehrt sowie die höhere Dienerschaft von der Wählbarkeit ausgeschlossen.42 Die Patriotes rechtfertigen diesen Ausschluß mit dem Fehlen einer freien Urteilsfähigkeit bei einem Dienstboten. Der Deputierte d'André formuliert diese Auffassung am 9. Juni 1791 unmißverständlich: „Tout homme qui est dans la dépendance absolue d'un autre n'est pas libre dans l'expression de sa volonté".43 Abbé Sieyès hatte diesen Gedanken bereits ein Jahr zuvor formuliert, als er in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Verfassungs-

40

GAUTIER ( 1 7 9 1 ) , A r t . „ D o m e s t i q u e " .

41

Moniteur N° 161 (10. Juni 1791), VIII622 - 26. Die domestiques waren übrigens - entgegen dem Wunsch der Notabelnversammlung - auch von den Vorversammlungen für die Wahlen zu den Generalständen ausgeschlossen worden. Moniteur, wie Anm. 4, S. 622.

42

43

61

Domestique,

Valet

16

gebenden Versammlung eine Abordnung der Pariser Dienerschaft empfing, die gekommen war, um ihrem Bedauern über die Aussetzung ihrer politischen Rechte Ausdruck zu verleihen: Si l'Assemblée a cru devoir prononcer cette suspension ce n'est pas que ce corps, essentiellement composé d'amis de l'égalité, ait pu avoir l'intention de la méconnaître, cette égalité, à votre égard. Mais elle a dû penser que votre sensibilité même, ou cette affection si estimable qui vous attache aux personnes à qui vous engagez vos services, pourrait exercer une influence souvent trop puissante sur vos opinions: ne voyez donc dans les décrets de l'Assemblée, qu'une sage précaution [ . . J 44

Eine offensichtlich politisch motivierte Vorsichtsmaßnahme. Verleihe man den Dienstboten die Bürgerrechte, so war die Befürchtung, erhöhe man dadurch den Einfluß von deren Herren, die ja bekanntermaßen zu großen Teilen in einer oppositionellen Haltung zum neuen Regime standen. Die Patriotes sehen im Diener gleichermaßen den Stellvertreter dessen, der ihn beschäftigt. Es ist die Angst vor einer „aristokratischen Verschwörung", die sie dazu bewegt, ihm nicht nur das Wahlrecht vorzuenthalten, sondern ihn auch von der Nationalgarde und den Freiwilligenbataillonen der Jahre 1791 und 1792 auszuschließen, zu denen nur Aktivbürger zugelassen wurden. Die demokratische Wende des 10. August verändert diese Haltung nicht: Als die Gesetzgebende Versammlung die Vorversammlungen zur Wahl des Konvents einberuft, wird den domestiques „attachés au service habituel des personnes" der Zugang zu diesen verwehrt. 45 Indem sie den in der Landwirtschaft beschäftigten domestiques genauso wie den Handwerksgesellen und den Krämergehilfen das Wahlrecht zuerkennt, zeigt die Assemblée ganz deutlich, daß die Ausgrenzung der in privaten Diensten stehenden Dienstboten politisch motiviert ist. Nach der Meldung von der Erhebung in der Vendée herrscht im Konvent nach wie vor diese geistige Haltung, die dann auch dem Proskriptionsgesetz vom 19. März 1793 zugrundeliegt. Dieses verurteilte in den aufständischen Departements nicht nur „les prêtres, les cidevant nobles, les ci-devant seigneurs", sondern auch „les agents et domestiques de toutes ces personnes" ohne weiteren Richterspruch zum Tode. 46 44 45 46

62

Debatte vom 12. Juni 1790, in: AP, XVI 201. Dekrete vom 27. August - 2. September 1792, in: D U V E R G I E R , IV 433. C L . PETITFRERE: La Vendée et les Vendéens, Paris 1 9 8 1 , 3 3 .

17

Domestique,

Valet

2. Als Mann aus dem Volke: Dem,domestique' wird die Fürsorge der Montagnards zuteil Die Verfügungen der Revolutionsversammlungen bezüglich der Dienerschaft sind allerdings nicht immer negativer Natur gewesen. Ist doch der domestique, nach der mittlerweile geläufigen Bedeutung des Wortes also jener bezahlte, manuell arbeitende Bedienstete, ein Wesen mit zwei Gesichtern. Während er aufgrund seiner Stellung zu den verdächtigen Kreisen der Aristokratie gehört, ist er zumeist gleichzeitig von Geburt her ein Mann aus dem Volke. In dieser Eigenschaft wird er dann vom demokratischen Elan profitieren, der sich im Sommer 1792 abzeichnet und sich während der Diktatur der Montagnards verfestigt. So erhält er das Wahlrecht, das die Verfassung von 1793 allen Männern ab dem vollendeten 21. Lebensjahr zugesteht. Zugegeben, diese Vergünstigung sollte von nur kurzer Dauer sein. Bereits die Verfassung des Jahres III präzisiert: l'exercice des droits de citoyen est suspendu [ . . . ] par l'état de domestique à gages, attaché au service de la personne ou du ménage. 47

Doch hatte die Bergpartei noch viel weitergehen wollen. Sollte nicht gar mit dem Artikel 18 der Déclaration

des Droits

des Jahres I die

Dienstbarkeit überhaupt abgeschafft werden? Tout homme peut engager ses services, son temps; mais il ne peut se vendre, ni être vendu; sa personne n'est pas une propriété aliénable. La loi ne reconnaît point de domesticité; il ne peut exister qu'un engagement de soins et de reconnaissance, entre l'homme qui travaille et celui qui l'emploie. 48

Gewiß, es war nicht in der Absicht des Gesetzes, die Beschäftigung als Dienstbote an sich abzuschaffen. Was es abschaffen will, ist ein Zustand; es ächtet das Prinzip der zeitlich unbegrenzten persönlichen Bindung aufgrund von deren Nähe zur Sklaverei. Tatsächlich haben die Jakobiner ein schlechtes Gewissen gegenüber einer Gruppe, die nachweislich ihre Wurzeln im einfachen Volk hat und die gleichwohl verachtet und verdächtigt wird. Es ist bezeichnend, daß sie versuchen, 47

48

J. GODECHOT (Hg.): Les constitutions de la France depuis 1789, Paris 1970, 105. Bis 1848 sollte es dauern, bevor die männlichen Dienstboten das Wahlrecht wiedererlangten. Ebd. 81.

63

Domestique, Valet

18

diese Gruppe verschwinden zu lassen - und das bis in den Wortschatz hinein. In der Sprache der Sansculotten wird das Wort domestique durch verschiedene Ausdrücke wie „officieux", „familier", „homme de peine" usw. ersetzt.49 Die Gräfin von Cheverny holte sich vom Magistrat der Stadt Blois eine gehörige Abfuhr, als sie dort für ihren im Gefängnis sitzenden Gatten die Erlaubnis erbat, er möge seinen valet bei sich behalten dürfen. „Elle s'était avisée de dire un domestique, mais un Enragé [es ist der Graf, der sich hier äußert] avait bien vite su lui répondre qu'un citoyen français n'était point un domestique, mais un aide".50 Diese Überlegung macht die negative Konnotation deutlich, mit der das Wort domestique fortan behaftet ist: ein Substantiv, das in einer Welt, die Freiheit und Gleichheit proklamiert, keinen Platz mehr hat. Es tendiert dazu, an der Seite von valet einen Platz im Abgrund der unwürdigen Worte einzunehmen, jener Worte, die aus der langue républicaine getilgt werden müssen, genauso wie man einen Hektor oder einen Lahire von den Spielkarten verbannt hat, um sie durch allegorische Darstellungen der Gleichheit zu ersetzen. Was den Begriff valet betrifft, so wird dieser kaum noch verwendet. In der fünften Auflage des Dictionnaire de l'Académie (1798) ist zu lesen: „Les défauts attachés aux valets ont rendu ce nom fâcheux à donner. On lui substitue celui de Domestique."51 Genau genommen ist diese Bezeichnung sogar eine Beleidigung geworden, mit der man den politischen Gegner belegt. In solcher Verwendung häuft sich ihr Auftreten in Wort und Schrift der Jakobiner. So warnt beispielsweise Robespierre in seiner berühmten Ansprache vor dem Jakobinerclub vom 18. Dezember 1791 vor der Gefahr, die die Generäle im Kriegsfalle darstellen würden, entweder, weil sie selbst nach der Diktatur strebten, oder, weil sie als „premiers valets" des Königs einzig danach trachteten, diesen wieder an die Macht zu bringen.52 Marat schätzte diese Form der Verunglimpfung ganz besonders. So brandmarkt der Ami du Peuple vom 22. Februar 1791 die „courtisans et autres bas valets de la Cour", die „vor dem Nachtstuhl Ludwigs des XVI. auf die Knie fallen". 55 49

50

51 52

53

64

Abbé H . GREGOIRE: De la domesticité chez les peuples anciens et modernes, Paris 1814, 187. J . N. D U F O R T , comte de Cheverny: Mémoires sur les règnes de Louis XV et Louis XVI et sur la Révolution, Paris 1886, II 213. Dict. Acad. ( 5 1798), I I 7 1 4 (Art. „Valet"). J . GODECHOT: La pensée révolutionnaire en France et en Europe, 17807799, Paris 1964, 181. Ami du Peuple,NT. 379 (22. Febr. 1791), 7.

19

Domestique, Valet

IV. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Drill und Ausschluß aus dem Kreis der Familie Zu Beginn unserer Epoche, am Anfang des 19. Jahrhunderts, wird valet also praktisch nicht mehr verwendet, um damit einen Bediensteten zu bezeichnen, es sei denn, das Wort wird von einer nominalen Ergänzung begleitet. Denn Bezeichnungen wie „valet de ferme", „valet de charrue" oder „valet de chambre" werden immer noch und zwar ohne jeden pejorativen Beiklang gebraucht. Wenn Madame de Genlis im Le La Bruyère des domestiques, in dem eine Reihe von Dienstboten porträtiert wird, Ernest auftreten läßt, einen „valet de chambre", ein Geck und Spieler genau wie sein Herr, so stellt sie an gleicher Stelle seinen Kollegen, ,,1'honnête Ledoux", im günstigsten Licht dar, „einer jener Diener vom alten Schlage, die man heutzutage kaum noch zu Gesicht bekommt". Ferner schätzt die Gräfin ganz besonders die valets à pied, „die hinten auf die Wagen der Prinzen von Geblüt steigen [...;] alles in allem kann man dieser gehobenen Klasse von Dienstboten nur Lob spenden [.. .]54 Zu den Dienern, deren Name nicht als Schande gilt, gehört auch der „maître-valet" auf dem Lande. So kann es geschehen, daß Aglaé Adanson ihren Gärtner solchermaßen betitelt, wogegen die beiden Männer, mit deren Aufsicht dieser betraut ist, „ouvriers" und nicht „valets" genannt werden, obwohl sie doch im Haus ihrer Herrin untergebracht sind; ein neuerliches Zeugnis für den Verruf, in dem dieses Wort steht, solange es ohne Ergänzung verwendet wird.55 Von nun an wird man „les domestiques" sagen, um die Gesamtheit der bezahlten und vornehmlich mit materiellen Aufgaben betrauten Bediensteten zu bezeichnen. Unter Hinweis auf die großen Häuser der Hauptstadt nennt Madame Pariset gesondert den Koch und den Kutscher und wählt zur umfassenden Bezeichnung der gesamten Dienerschaft die Formulierung „les domestiques". 56 Domestique wird also nur noch in der eingeschränkten Bedeutung des Wortes gebraucht. Auf diese Weise verstehen es auch Bailleul in seinem Werk über die Erziehung des

54

55 56

Comtesse de G E N L I S : Le La Bruyère des domestiques, Paris 1828,1 14 f. und 132. A. A D A N D S O N : La maison de campagne, Paris 1822, Bd. I. Mme PARISET: Manuel de la maîtresse de maison, ou lettres sur l'économie domestique, Paris 1821, 95.

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Domestique, Valet

20

Dienstpersonals, Moyens de former un bon domestique,51 und Abbé Grégoire in seinem Buch De la domesticité chez les peuples anciens et modernes58. Mit diesem Wort die Vertrauten an der Seite der Reichen oder Grands zu bezeichnen, davon kann nun keine Rede mehr sein. Dafür, daß der Begriff domestique das Wort valet schließlich aus dem geläufigen Sprachgebrauch verdrängt hat, muß er nun dessen negatives Erbe antreten. Seine pejorative Konnotation wird sich in den beiden folgenden Jahrhunderten ohne Unterlaß verstärken, bis zu einem Punkt, an dem er im 20. Jahrhundert dann völlig aus dem Vokabular verschwindet, um dem farblosen employé de maison Platz zu machen.

1. Die Ängste der Herren überschlagen sich Das Buch Grégoires ist symptomatisch für den Mißkredit, mit dem sich der Gedanke an den domestique bei den ehrbaren Bürgern zu Beginn des 19. Jahrhunderts verbindet. Der Abbé widmet der „dépravation de la domesticité" ein ganzes Kapitel und schreibt ohne Zögern, daß in Frankreich „die guten (Dienstboten) die Ausnahme darstellen" und daß man gegenüber einer kleinen Zahl tapferer Taten mustergültiger Diener „eine ganze Menge abstoßender Handlungen nennen könnte", die von diabolischen domestiques begangen worden seien. Der besorgte Abbé ist von einem Verfall der Moral der Dienstboten überzeugt. Als dessen Ursache hat er die sozialen und mentalen Umwälzungen im Gefolge der Aufklärung ausgemacht: Die steigende Zahl der Neureichen, Herren eines neuen Schlages, die bar jeglicher religiöser Grundsätze seien; das Aufkommen einer Genußsucht, welche junge Leute dazu treibe, nach Geld und Vergnügen zu streben. „Autrefois, ils servoient pour vivre, à présent c'est pour s'enrichir". 59 Zwei Dinge sind es vor allem, die die Furcht der Eliten vor ihren domestiques auf die Spitze treibt: die Angst vor Diebstahl und vor Indiskretionen. Das Vordringen des Individualismus, die Betonung des Eigentums im bürgerlichen Denken, verbunden mit der Abschaffung der Todesstrafe für Dienstbotendiebstahl durch die Constituante mögen als Erklärung für diese Entwicklung dienen. Die Gräfin von Genlis beklagt 57

Moyens de former un bon domestique, Paris 1812, (J.-CH.-BAILLEUL gilt als Verfasser).

58

GREGOIRE: Domesticité

59

Ebd. 1 4 2 - 1 7 1 .

66

[49].

21

Domestique,

Valet

sich über die „erschreckende Anzahl" der Diebstähle. 60 Und bei Abbé Grégoire wird die Angst vor Diebstahl gar zur Besessenheit. „Que de familles ruinées entièrement par les domestiques", so versichert er. Er geht sogar so weit, sich eine Art Bürgerkrieg auszumalen, den die Diener gegen ihre Herren führten, wobei sie sich nicht mit Diebereien begnügten, sondern „das Mobiliar beschädigen und zerstören, denn es ist ja der Herr, der für alles aufkommen muß". 6 ' Was die „Spionage" betrifft, die die domestiques betrieben, indem sie „an den Türen lauschen, ihre Herren belauern und anschließend ihre Entdeckungen publik machen oder verkaufen", so ist diese für Madame de Genlis der „Gipfel der Infamie". Es handele sich dabei um „véritables délits et souvent plus coupables et plus importans que des vols pécuniaires". 62 Bailleul überbietet sie dabei noch: „ [ . . . ] la révélation, par un domestique, de ce qui se passe dans la maison de son maître, n'est pas seulement une faute grave, c'est un crime"." Um der Gefahr zu begegnen, greifen die Eliten in der Folgezeit auf zwei Maßnahmen zurück, deren innerer Widerspruch nur allzu offensichtlich erscheint: Eine Verschärfung der Kontrolle und eine Distanzierung im Verhältnis zwischen Herr und Diener.

2. Eine Verschärfung der Zwänge Die zunehmende Gängelung der domestiques erfolgt durch einen ihnen auferlegten Drill. Die Ideallösung besteht für Bailleul darin, seinen zukünftigen Diener noch im Kindesalter anzuwerben und ihm die einfachen Grundsätze der absoluten Unterordnung einzutrichtern. Revolution hin und her, nach wie vor gründet das ehemalige Konventsmitglied aus den Reihen der Gironde die Pflicht zum Gehorsam auf göttliches Recht, jener bequemen Grundlage der Autorität: Toutes les idées d'un enfant destiné à être domestique doivent être fixées sur quatre points: Dieu, /' Empereur, ses père et mère, ses maîtres. Voilà pour lui le monde entier. Dieu, maître du monde, et son créateur; l'Empereur, représentant visible de Dieu sur la terre, dans sa puissance et dans sa volonté de maintenir le bon ordre et la justice parmi les hommes; ses père et mère, 60 61 62 63

La Bruyère, 12. Domesticité [49], 141 - 142. G E N L I S : La Bruyère, 1118-119. [BAILLEUL]: Moyens [57], 135. GENLIS:

GREGOIRE:

67

Domestique,

22

Valet

organes par lesquelles la volonté de Dieu lui a donné la vie; ses maîtres, par qui Dieu lui donne chaque jour le moyen d'exister.64 Die minutiöse Kontrolle der Arbeit und der Moral der Dienstboten setzt die Beherrschung einer zeitlichen Organisation voraus, die in den Erziehungshandbüchern gepredigt wird. Die Herren sollen demnach sich wiederholende Arbeitszyklen schaffen, den Tag strukturieren, indem sie bestimmte Zeitabschnitte für genau bestimmte Aufgaben einteilen. Madame Pariset fordert eine „règle invariable dans la distribution des heures du lever, du coucher, des repas et des occupations". 65 Der überraschend durchgeführte Inspektionsgang durch die Kammern der Dienstboten oder an deren Arbeitsplätzen ist eine weitere Neuerung des 19. Jahrhunderts. Aglaé Adanson ermahnt die Herrin, jeden Morgen ihre Runden im Wirtschaftshof zu machen, wobei sie darauf achten solle, die Besichtigungszeiten zu variieren, damit der domestique immer auf der Hut sein müsse. Das Zimmer der Herrin solle dieser im übrigen als ständige Beobachtungswarte dienen. Sie werden es daher entsprechend wählen, nämlich mit „vue sur la cour et sur le jardin à toute heure sans sortir; chose indispensable à une maîtresse de maison qui doit avoir l'oeil à tout".66 Damit finden nun jene Grundwerte der Disziplin und der völligen Transparenz auf den Dienstbotenstand Anwendung, die das 18. Jahrhundert formuliert hatte.67

3. Der Traum vom Automaten-Menschen Zur gleichen Zeit vergrößert sich die Distanz zwischen Herr und Diener, auf deren erste Anzeichen wir während der Aufklärung gestoßen waren. In den behaglichen Wohnungen des höheren Bürgertums sind für das Dienstpersonal bestimmte Räume geradezu verbotenes Terrain. So das Arbeitszimmer von Monsieur und das eheliche Schlafzimmer, Tempel der „habitudes intimes et secrètes", in dem der Diener „nur bescheiden in Erscheinung treten darf und nur mit größter Zurückhaltung zu agieren hat."68 Die physische Präsenz des domestique an sich erscheint nun mehr und mehr als anstößig. Man ermahnt ihn, durch Annahme der im Bürger64

Ebd. 2 1 - 2 2 .

65

PARISET: Manuel, 119. ADANSON: Maison de campagne [55], 160 - 161 und 41.

66

Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris

67

M . FOUCAULT:

68

[BAILLEUL]: Moyens [57], 67.

68

1975.

23

Domestique, Valet

tum hoch im Kurs stehenden Verhaltensweisen seine Gegenwart vergessen zu machen: taktvoll zurückhaltende Gebärden, gedämpftes Sprechen. Bailleul rät den domestiques, selbst während ihrer Mahlzeiten „den lärmenden Tonfall und das unmäßige Geschrei"69 zu vermeiden, und Madame Pariset empfiehlt deren Herren, den Dienstboten des abends etwas zu Lesen und zu Schreiben auszuteilen, um sich „den unerträglichen Lärm von Geschwätz und Schnarchen" zu ersparen70. Man verspürt nunmehr einen gewissen Widerwillen gegen die Dienerschaft. Genaugenommen allerdings reichen die Wurzeln dieser Entwicklung bis tief ins 18. Jahrhundert zurück. Neben die Vertrautheit eines grand seigneur mit „seinen" Leuten, in deren Mitte dieser sich bis zur Ungeniertheit wohl fühlte, war jene neue Empfindsamkeit des Bourgeois getreten, der auf den Kontakt mit dem einfachen Volk leicht allergisch reagierte. Schon verspürten die wohlentwickelten Geruchssinne die „puanteur du pauvre" und der starke Geruch des domestique begann zum Stein des Anstoßes zu werden.71 Bailleul schärft dem Dienstboten, der gerade die Pferde versorgt hat, ein, er habe Jacke, Rock und Hosen zu wechseln, sowie „seine Hände und sein Gesicht sorgfältig zu waschen, auf daß er keinen Stallgeruch in die Wohnung mitbringe".72 Im übrigen empfindet Bailleul eine wahrhaftige Phobie gegenüber dem Körper des domestique. Er entwickelt eine ganze Flut von Ratschlägen mit dem Ziel, den körperlichen Kontakt besonders bei der Toilette und während des Aufwartens bei Tisch, auf ein Minimum zu reduzieren. Müsse zum Beispiel der domestique Monsieur beim Anlegen von Kragen, Krawatte und Hosenträgern behilflich sein, so habe dies folgendermaßen zu geschehen: „légèrement, avec adresse, surtout sans toucher la peau avec ses mains". 73 Die Bekräftigung der Distanz zwischen dem Herrn und seinem Dienstboten und die Verschärfung der Kontrolle des letzteren durch den ersteren sind das Ergebnis einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Entwicklung: Unter den Herren steigt die Zahl der Neureichen, die sich bei der Lenkung des gemeinen Volkes unsicher fühlen und die danach trachten, ihre Ängste durch diese besonderen Maßnahmen zu besänftigen. Gewachsene Distanz und verschärfte Kontrolle stehen aber auch im 69 70

71 72

73

Ebd. 146. PARISET: Manuel [56], 24.

A. CORBIN: Le miasme et la jonquille, Paris 1982, 167 - 170. [BAILLEUL]: Moyens [57], 66 - 67.

Ebd. 75. 69

Domestique, Valet

24

Zusammenhang mit einer Abnahme der Religiosität. Der gottesfürchtige grand seigneur des 17. Jahrhunderts, ein Conti zum Beispiel, glaubte an einen Gott, der von ihm genausoviel fordere wie von seinen domestiques. Der Glaube, im Verein mit einem Gefühl für seine Verantwortung als Schutzherr, hielt das Bewußtsein der Pflichten wach, die er gegenüber seinen Leuten zu erfüllen hatte. Der Dienstbotenvertrag wurde damals als die Summe der gegenseitigen Verpflichtungen aufgefaßt, wobei das Seelenheil der beiden Protagonisten auf dem Spiel stand. Der aufgeklärte Mensch und mehr noch jener zu Beginn des 19. Jahrhunderts glaubt dagegen nicht mehr recht daran, daß der Schöpfer von ihm eines Tages Rechenschaft darüber verlangen könnte, wie er seine Dienstboten behandelt hat. Er meint, diesen gegenüber quitt zu sein, sobald er sie entlohnt hat; der Vertrag wird so eine ungleiche Abmachung, bei der sämtliche Verpflichtungen nur noch auf einer Seite zu finden sind. In der neuen Gesellschaft tendiert das Gespann maître-domestique dazu, dem Paar patron-salarié zu weichen, dessen wohlgesittete, rein funktionale Beziehungen aus dem Diener einen „Automaten-Menschen" machen und die das paternalistische Verhältnis, jenes enge, in ein Wechselbad von Zärtlichkeit und Gewalt getauchte physische Beieinander ersetzen, das für die vorangegangenen Zeiten charakteristisch gewesen war. Hier scheint uns der Schwerpunkt der Entwicklung zu liegen. Jedenfalls zielt der normative Diskurs der Eliten in diese Richtung. Selbstverständlich aber besteht oftmals eine Kluft zwischen Theorie und Praxis. Vielerorts, besonders in der Provinz und in Kreisen des Adels, folgen die Verhaltensweisen nicht dem propagierten Vorbild und bewahren noch bis tief ins 19. Jahrhundert hinein eine archaische Note.

70

25

Domestique,

Valet

Literatur Ph. A R I E S : L'enfant et la vie familiale sous l'Ancien Régime, Paris 1 9 6 0 (dt.: Geschichte der Kindheit, München 1 9 7 8 ) . A. C O R B I N : Le miasme et la jonquille, Paris 1 9 8 2 , 1 6 7 - 1 7 0 (dt.: Pesthauch und Blütenduft: eine Geschichte des Geruchs, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1 9 9 0 ) . D . D E S S E R T : „Le „laquais-financier" au grand siècle: Mythe ou réalité? In: XVIIe Siècle 31, 1979, 21 - 36. C . C . FAIRCHILDS: Domestic Enemies: Servants and their Masters in Old Regime France, Baltimore 1984. M. FOUCAULT: Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris 1975 (dt.: Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängisses, Frankfurt/M. 1976). J. G O D E C H O T : „La pensée révolutionnaire en France et en Europe, 1780 -1799, Paris 1964. Ders. (Hg.): Les constitutions de la France depuis 1789, Paris 1970. P. G U I R A L und G . THUILLIER: La vie quotidienne des domestiques en France au XIXe siècle, Paris 1978. J.-P. G U T T O N : Domestiques et serviteurs dans la France d'Ancien Régime, Paris 1981. S . C . M A Z A : Servants and Masters in Eighteenth-Century France, Princeton 1983. Cl. PETITFRERE: La Vendée et les Vendéens, Paris 1981. Ders.: L'Oeil du maître, Maîtres et serviteurs de l'époque classique au romantisme, Bruxelles 1986. D . R O C H E : Le peuple de Paris. Essai sur la culture populaire au XVIIIe siècle, Paris 1981. J . SABATTIER: Figaro et son maître. Maîtres et domestiques à Paris au XVIIIe siècle, Paris 1984.

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Propriété, Propriétaire ELISABETH B O T S C H

I.

Einleitung

2

II.

propriété' im Spannungsfeld zwischen Ancien Régime und bürgerlicher Gesellschaft 1750 - 1789

2

III. Die Konstituierung des freien Eigentumssystems

1789 -1793

IV.

Konflikte

V.

,.Eigentum ' im Zentrum sozialer und politischer während des Nationalkonvents 1792 - 1794 Die Vorherrschaft der Besitzenden 1795 -1820

1

10 15

VI. Babeuf und die Gleichheit des Besitzes

18

VII. ,Eigentum' und Bewußtsein

18

Literatur

24

73

Propriété,

Propriétaire

2

I. Einleitung Die Lösung der Eigentumsfrage konstituiert maßgeblich die Gesellschaftsformen Feudalismus, Kapitalismus und Kommunismus. Die Stellung des Eigentums regelt in einer spezifischen Weise Beziehungen unter den Menschen, unterschiedliche Eigentumsideen und -Vorstellungen beeinflussen ihr Denken und ihr Bewußtsein. Im Übergang vom Ancien Régime zur bürgerlichen Gesellschaft kristallisierten sich in Frankreich Eigentumsdoktrinen heraus, die in Widerspruch zueinander standen und den vielfältigen Interessen der gesellschaftlichen Gruppen entsprachen. Als durch die Französische Revolution ein auf Freiheit basierendes Eigentumssystem errichtet wurde, verschärften sich die Interessengegensätze in der Eigentumsfrage durch die Problematik der Besitzverteilung, durch Wirtschafts- und Warenzirkulationskrisen und durch massive soziale und politische Konflikte. Die Freiheit des Eigentums setzte sich schließlich durch, jedoch überstanden auch andere Eigentumsideen den Sieg des Besitzbürgertums. Im folgenden wird die Transformation des Eigentumsbegriffs und seiner prägenden Elemente analysiert und beschrieben.

II. Propriété im Spannungsfeld zwischen Ancien Régime und bürgerlicher Gesellschaft 1750 - 1789 Propriété stellt im Übergang vom Ancien Régime zur bürgerlichen Gesellschaft einen Schlüsselbegriff dar: Die neue Gesellschafts- und Wirtschaftsform, in Frankreich beschleunigt und zu einem großen Teil durchgeführt durch die Französische Revolution, basierte auf der Änderung des Eigentumssystems. Schon im Laufe des 18. Jahrhunderts spielte die Eigentumsdiskussion eine beträchtliche Rolle in den akademischen Zirkeln des Landes. Zahlreiche Streitschriften erschienen, in denen die Freiheit des Eigentums gefordert wurde, und unter dem Einfluß physiokratischer Ideen schrieben die Akademien und Landwirtschaftsgesellschaften Wettbewerbe zu diesem Thema aus'. Prämiiert wurden Autoren, die in ihren Artikeln das bestehende Feudalsystem

1

74

Siehe dazu D. R O C H E : Le Siècle des Lumières en province. Académies et académiciens provinciaux, 1680 - 1789, Bd. 1-2, Paris 1978, hier insbesondere Bd. 1 , 3 2 3 - 3 8 5 .

3

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kritisierten und seine Abschaffung forderten. Ihnen allen war gemeinsam, für die Befreiung des Bodens von allen grundherrlichen Rechten als Voraussetzung einer Modernisierung der Landwirtschaft zu plädieren. Das Eigentumsrecht wurde durch das Wegerecht geschwächt, wie zum Beispiel ein Preisträger der Akademie von Besançon bemerkte: Il est donc de l'intérêt de l'agriculture et par conséquent de l'Etat de supprimer un tel abus, afin de laisser au propriétaire de la terre la liberté de faire sa récolte dans le temps qui lui est propre et de disposer son terrain à lui fournir de nouvelles productions. 2

In einer anderen, von der St. Petersburger Gesellschaft im Jahre 1768 prämierten Schrift kommt Béardé de l'Abbaye zu dem Schluß: que pour le plus grand avantage de l'état, le paysan doit posséder du terrain en toute propriété.3

In den Akademien wurden die Agrartheorien der Aufklärung diskutiert und Argumente für die Befreiung des Bodens gesammelt. Die aufklärerische Publizistik der Jahre 1 7 7 0 - 1 7 8 9 verbreitete die Feudalismuskritik unter den gebildeten Schichten. Die Herausbildung eines neuen Eigentumsbegriffs, der auf dem Prinzip der Freiheit beruhte, ging einher mit einem Transformationsprozeß der ländlichen Gesellschaft, der, insbesondere seit 1750, zu einer fortschreitenden sozialen Differenzierung führte. Infolgedessen entwikkelten sich innerhalb der Gesellschaft sehr unterschiedliche Interessen an einem neuen Eigentumssystem. Eine doppelte Modernisierung auf dem Land äußerte sich einerseits bei den Bauern auf ideologischem, kulturellem und sozialem Gebiet und löste andererseits in den Kreisen der Grundherren eine Veränderung des Wirtschaftsverhaltens aus4. Das Bestreben der Grundherren, die Abgaben zu erhöhen, wurde begleitet von der Privatisierung der Gemeindeländereien zur Erweiterung des grundherrlichen Eigengutes und vom Bemühen ihrer Großpächter, die Wirtschaftsführung zu rationalisieren. Gleichzeitig sorgten diese bei ihren Kleinpächtern für eine strenge Eintreibung der Abgaben. Viele nutzten die bestehenden feudalen Eigentumsformen aus, um kapitalisti2

A.N. AD IV 23, III. Ethis de Nouvéan 1767. Zit. bei M. GÖHRING: Die Feudalität in Frankreich vor und in der großen Revolution, Berlin 1934,79 f.

3

Journal

4

Vgl. E. LE ROY LADURIE: Révoltes et contestations,

encyclopédique,

X X X I X ( 1770), T. 1/2, 211.

13-16.

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4

sehe Tendenzen in die Landwirtschaft einzuführen 5 . Dadurch traten zu den alten Konflikten zwischen Grundherrschaft und Grundholden neue hinzu, deren Ursachen im wachsenden Wirtschaftsindividualismus, in der Ausbildung von marktwirtschaftlichen Verkehrsformen und einer tendenziellen Kommerzialisierung aller wirtschaftlichen Beziehungen lagen6. Die Bourgeoisie erwarb im 18. Jahrhundert Land als Kapitalanlage, um es meist wieder zu verkaufen oder zu verpachten. Jedoch wuchs in diesen Schichten das Interesse an der Landwirtschaft, denn die Steigerung der Boden- und Pachtpreise und der landwirtschaftlichen Produktion versprach beträchtliche Gewinne abzuwerfen 7 . Da die grundbesitzende Bourgeoisie in den adligen Grundherren, die an einer Modernisierung ihrer Güter interessiert waren, Partner ihrer ökonomischen Interessen fand, zerfloß die Grenze zwischen liberalem Adel und Besitzbürgertum. Auch unter den Gebildeten wurde über die Freiheit des Eigentums nachgedacht. Ähnlich wie John Locke in seinem Werk Essay on civil Government" beantwortete der Baron Holbach 1765 die Frage, wie der Mensch sich das Recht über Dinge erwerbe: C'est par son travail qu'il en acquiert la propriété . . . J'ai des droits sur les fruits de mon champ, parce que c'est mon travail ou mes soins, et non ceux d'un autre qui l'ont rendu fertile [ . . . ] Les hommes ne vivent en société que pour jouir plus sûrement de leurs droits [ . . .]9

Ein Jahr später wurde in einem Artikel des Journal folgendes ausgeführt:

Encyclopédique

Un Citoyen qui n'a de propriété qu'autant qu'il lui en faut pour subsister, en y restant colé, est un homme à peine sociable [ . . ,]10 5

6

7 8 9

10

76

Dazu näheres bei G. VAN DEN HEUVEL: Grundprobleme der französischen Bauernschaft, 77 - 79. Siehe dazu V. HUNECKE, Antikapitalistische Strömungen in der Französischen Revolution: Neuere Kontroversen der Forschung, in: GG 4 (1978), 291 - 323 (besonders 299); R . ROBIN, Der Charakter des Staates am Ende des Ancien Régime: Gesellschaftsformation, Staat und Übergang, in: E. SCHMITT, (Hg.), Die Französische Revolution, Köln 1976, 202 - 229. Vgl. M . GÖHRING: Feudalität in Frankreich [ 2 ] , 6 9 - 7 1 . Essay on civil Government [o. O., um 1690]. P.-H.-T. d'Holbach: Eléments de la morale universelle ou Catéchisme de la nature (1765), Paris, Chez G. de Bure, rue Serpente, N° 6,1790,161 -163. Journal Encyclopédique, 1766, IV/3, 128 f.

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Ziel einer Gesellschaft sei es, so in den Ephémerides du Citoyen d'assurer les propriétés, et de multiplier les jouissances, c'est-à-dire que leur effet est pour chacun des Citoyens, la liberté de jouir des biens qui lui sont justement acquis, dans l'état actuel de l'ordre national."

Auch unter den Physiokraten trugen einige Theoretiker in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dieser Entwicklung Rechnung. Schriften erschienen, in denen die Abschaffung der Feudalrechte und die Einführung eines freien Eigentumssystems gefordert wurden 12 . „Les Rois ne sont point les maîtres des propriétés particulières", heißt es in Le Despotisme détruit, „ils ne sont au-contraire les chefs des nations, que pour garantir à chacun tous les avantages qu'il possède légitimement; et entre lesquels, la propriété tient un des premiers rang." 13 Boncerf zum Beispiel schlug in seiner berühmten Abhandlung Les Inconvénients des droits féodaux von 177614 vor, die grundherrlichen Rechte innerhalb des Ancien Régime abzuschaffen. Dagegen wandten sich aber alle Grundherren, die ihr Abgabeneigentum nutzen wollten. Die Princes et Pairs warfen Boncerf vor: L'objet de cet écrit, où la matière n'est qu'effleurée, seroit de détruire la servitude réelle ou des biens, après avoir détruit celles des personnes. On a prétendu que c'étoit attaquer les propriétés.15

Mit dem Verweis auf die Heiligkeit und Unverletzbarkeit des Eigentums schlugen auch die Parlamente eine Änderung der Eigentumsordnung ab. Nicht nur die feudal geprägte Eigentumsordnung wurde in den letzten Jahrzehnten des Ancien Régime angegriffen, sondern auch die soziale Verteilung des Eigentums wurde scharfer Kritik unterzogen. Zu den Vorläufern des Phalange-Gedankens im 18. Jh. zählt Rétif de la Bretonne, der sich in seinem umfangreichen Werk mit der sozialen Ungleichheit und Ideen zu einer gerechteren Sozialordnung auseinandersetzte. Er vertrat die Auffassung, daß eine quantitative Beschränkung 11

Troisième Partie, N° Premier, 1767.

12

B O N C E R F , 1 7 7 6 ; LETROSNE, 1 7 7 9 ; C L I Q U O T - B L E R V A C H E ,

13

Le Despotisme

14

15

1783.

détruit (III. Brief, 25. 12. 1778), Paris 1790,43 f. P . - F . B O N C E R F : Les Inconvénients des droits féodaux ou Réponse d'un avocat au Parlement de Paris à plusieurs vassaux des seigneuries, o. O. (1776). B A C H , 1 X 5 1 f. (24. 2. 1776).

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und breite Streuung des Eigentums zu einer Güter- und Lebensgemeinschaft in den Dörfern und Kleinstädten führen müsse, die die Voraussetzung der sozialen Gleichheit unter den Menschen darstelle16. Zwei Autoren, die dann während der Revolution zu den einflußreichsten Girondisten zählten, machten sich zu Anwälten einer gerechteren Besitzverteilung. Die Ursachen der gegenwärtigen Probleme lägen in der ungerechten Eigentumsverteilung, die dem Menschen die täglich notwendigen Lebensmittel entziehe, konstatierte Pétion17. Brissot entwikkelte in seinem 1780 erschienenen Buch über Eigentumsrecht und Diebstahl18 eine Theorie, in der er das Maß der menschlichen Bedürfnisse als Grenze des persönlichen Besitzes definierte. Im Naturzustand habe der Mensch gerade soviel Land besessen, wie er zur Befriedigung seiner Bedürfnisse benötigt habe. Er definierte daher Eigentum im Naturzustand als faculté qu'a l'animal de se servir de toute la matière pour conserver son mouvement. Cette conservation est le point central de ses besoins. Ces besoins sont donc en même temps, et le but et le titre de la propriété."

Da der Mensch aber unterschiedliche Bedürfnisse habe, könne es keine Gleichheit unter den Eigentümern geben. Im Gesellschaftszustand habe der Mensch sein Eigentum über seine Bedürfnisse hinaus ausgeweitet und sich deshalb der Usurpation schuldig gemacht. Da der Nutzen nicht mehr die Grenze des Eigentums darstelle, werde in der Gesellschaft das Gleichgewicht, das die Natur zwischen den Eigentümern hergestellt hat, ständig zerstört. Zwei Klassen, die Armen und die Reichen, hätten sich gebildet. Die Armen seien ihres natürlichen Eigentumsrechts beraubt, denn sie müßten ihr Existenzrecht durch Arbeit erkaufen. Die Reichen dagegen seien Diebe. Infolgedessen seien die Eigentümer verpflichtet,

16

17

18

19

78

Vgl. M. L E R O Y : Histoire des idées sociales en France, de Montesquieu à Robespierre. 2 Bde. Paris 1 9 4 6 , 2 4 2 ; N . R I V A L : Les Amours perverties: une biographie de Nicolas-Edme Rétif de la Bretonne, Paris 1 9 8 2 ; L . M . P E L L E RIN: Famille et éducation dans l'œuvre utopique de Rétif de la Bretonne 1775 - 1782, Nantes 1975. Vgl. J . P É T I O N : Essai sur le mariage, in: Œuvres, IV Bde, Paris Garnery An I - An II, Bd. I; B A C H , XXXI, 22 (10. 1. 1786). B R I S S O T : Recherches philosophiques sur le droit de propriété et sur le vol, considérées dans la nature et dans la société, Paris 1780, zit. nach der Ausgabe: Bruxelles, Librairie Universelle de J. Rozez, 1872. Ebd., 44 S. 44.

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für den Bedarf der Menschen zu sorgen, die sich durch ihre Arbeit nicht ausreichend ernähren können. Obgleich Brissot 1792 seine Theorie widerrief, stellt sie ein gutes Beispiel für die Eigentumsbegründung durch den unmittelbaren Nutzen für den Menschen dar.

III. Die Konstituierung des freien Eigentumssystems 1 7 8 9 - 1793 Mit Beginn der Französischen Revolution im Jahre 1789 stand das ,Eigen tum' im Brennpunkt dreier Themenbereiche: der Abschaffung des Feudalsystems, der Nationalisierung der Kirchengüter und der Verfassungsgebung. In der Konstitution von 1791 wurde schließlich das Recht auf Freiheit und Eigentum verankert, ohne daß es einer größeren Diskussion über Eigentumsideen bedurfte 20 . Im Rückgriff auf die Auffassungen der Staatstheoretiker des 18. Jahrhunderts begriffen die Parlamentarier das Individuum als Eigentümer seiner selbst. Die Beziehung zum Besitz lag in seiner Natur, und es konnte nur insoweit frei sein, als es Eigentümer seiner selbst und seiner Fähigkeiten war. Da Freiheit in Funktion des Eigentums gesehen wurde, und Eigentum gleichsam die Grundlage für Freiheit und Gleichheit darstellte 2 ', zählte somit auch Eigentum zu den unantastbaren Naturrechten. Im Catéchisme d'un peuple libre wurde als Ziel aller Gesetze die Aufrechterhaltung des persönlichen Eigentums „des actions & du travail" und des reellen Eigentums formuliert, das eine Folge des persönlichen Eigentums sei, c'est-à-dire, ce que nous avons acquis par notre travail & par toutes nos actions, comme l'air que nous respirons, l'eau que nous buvons, les fruits que nous mangeons. Quelles sont les propriétés territoriales? Ce sont les parties les plus importantes de la propriété réelle; mais elles tiennent plus au besoin social qu' au besoin personnel.22

Sicheres und unabhängiges Eigentum als notwendige Folge der Freiheit - in diesem Sinne fand das Eigentumsrecht Platz in der Verfassung von 1791. Gleichzeitig wurde das Wahlrecht an den Besitz gekoppelt. 20 21

22

Vgl. Arch. Pari., VIII 463. So schon bei John Locke. Vgl. dazu R . B R A N D T ; Eigentumstheorien Grotius bis Kant, Stuttgart-Bad Cannstadt 1974, 70. Catéchisme d'un peuple libre, Londres 1789, 16.

von

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Indessen lösten die anderen zwei Schwerpunkte Konflikte zwischen den betroffenen Gesellschaftsklassen aus, die die Eigentumsfrage in den Mittelpunkt der öffentlichen Auseinandersetzung stellten. Die Abschaffung des Feudalsystems, in der Nacht des 4. August 1789 mit Euphorie beschlossen, stieß auf verschieden geartete Interessenkonflikte wie zum Beispiel die Frage der Ablösung oder die Entrichtung von Abgaben bis zum Freikauf der Länder. Erst der Konvent hob das Feudalsystem im Juli 1793 ohne Entschädigung auf. Die Mehrheit der Bauern, die bäuerliche Mittelschicht und die kleinbäuerlichen Unterschichten, die durch die Kapitalisierung der Landwirtschaft ihrer Existenzgrundlagen beraubt zu werden drohten, bekämpfte 1789 sowohl feudale und grundherrliche Rechte als auch die kapitalistischen Tendenzen in der Landwirtschaft. Während in den meisten Cahiers de doléances in erster Linie Mißbräuche der Grundherren kritisiert wurden, wurde in einigen seltenen Fällen auch die radikale Zerstörung des Feudalsystems und die Freiheit des Eigentums gefordert. Im Wahlbezirk Amiens in der Picardie beispielsweise sollten seine Überreste verschwinden, weil sie gegen den Fortschritt in Landwirtschaft und Handel und gegen die öffentliche Freiheit verstießen23. Hier stellten reiche Bauern, die von der Kommerzialisierung des Bodens profitierten, die stärkste Gruppe unter den Verfassern der Cahiers dar. Aus einer lexikalischen Untersuchung der Umgebung von Themenwörtern, die Régine Robin an den Beschwerdeschriften der Cahiers des Auxois durchgeführt hat24, geht hervor, daß der städtische Dritte Stand sich durch ein offensives Denken auszeichnete, das die eigene Identifikation mit der Nation den Privilegien entgegensetzte. Der ländliche Dritte Stand dagegen dachte eher defensiv, indem er die Faktizität des Gegebenen dem Recht gegenüberstellte. Während in der Stadt in einem kleinen Rahmen Zukunftsperspektiven einer neuen Eigentumsordnung aufgezeigt wurden, beschränkten sich die Äußerungen auf dem Land auf die Kritik an grundherrlichen und feudalen Mißständen.

23

24

80

Vgl. F. G A U T H I E R : La voie paysanne dans la Révolution française. L'exemple picard, Paris 1977,138 f; Im Cahier der Gemeinde Orgeville-en-Vexin heißt es: „Que le droit de propriété soit inviolable et que nul ne puisse être privé de sa propriété, même à raison de l'interrest public qu'il n'en soit dédommagé au plus haut prix et sans aucun délai." Cahiers Andély, 116. Vgl. R . R O B I N : La société française en 1789: Sémur-en-Auxois, Paris 1970, im folgenden 299 - 338.

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Erst in den Bauernaufständen ab Juli 1789 und durch die Bewegung der Grande Peur, deren Wellen sich fast über das ganze Land ausbreiteten und Panik und Schrecken hervorriefen 25 , griffen die Bauern das Feudalsystem offen an. Sie erhoben sich gegen ihre Grundherren, stürmten deren Schlösser und zerstörten Archive, in denen die grundherrlichen Besitztitel aufbewahrt wurden. Freiheit, wie sie die Verfassung von 1791 garantierte, bedeutete für die Bauern Befreiung von den Fesseln des Feudalsystems: Rendez [ . . . ] la liberté aux campagnes; que la terre soit pour le propriétaire telle qu'elle est sortie des mains de la nature.26

In zahlreichen Petitionen an das Parlament wurde zusätzlich auch die Zurückgabe der usurpierten Gemeindeländer gefordert: Un nouveau système créé par les économistes a cherché à persuader que les communes étaient inutiles pour le bien de l'agronomie; des seigneurs puissants, des gens en crédit, se sont enrichis [ . . .]27

Die Individualisierung von Eigentum im Zuge der Kommerzialisierung der Agrarwirtschaft bedeutete für viele Dorfbewohner ohne eigenes Land den Ausschluß von der Landnutzung. Deshalb wandten sie sich gleichzeitig gegen die Bodenkonzentration. Der Beschluß der Nationalversammlung, die Kirchengüter zu konfiszieren und anschließend zu verkaufen, löste zwischen Gegnern und Befürwortern eine große Diskussion aus. Die Positionen schwankten zwischen der Auffassung, Eigentum sei prinzipiell unantastbar, also auch der Kirchenbesitz, und der Ansicht, die Kirchengüter stellten ein besonderes Gemeineigentum dar, das keiner einzelnen Person gehöre. Un Ecclésiastique, ou tous les Ecclésiastiques ensemble, ne peuvent pas dire: ces biens sont notre propriété; nous pouvons en disposer. Nul Ecclésiastique n'a ce droit; il n'en est que l'usufruitier, que l'économe; mais son économie ne vaut rien: il meurt souvent insolvable. Qui a donc droit d'en disposer? La nation seule. 28 25 26 27

28

Siehe dazu

La grande peur de 1789 ( 1 9 3 9 ) , Paris 1 9 7 0 . Nr. 128,6. Januar 1792, 290 f. S A G N A C / C A R O N , Nr. 5 5 , 2 8 . Februar 1 7 9 0 , 1 4 3 . Die Teilung der Gemeindeländereien stand bis 1793 im Zentrum des Konflikts zwischen den bäuerlichen Schichten. Le grand coup de Filet des Etats Généraux, o. O. u. J. (B. M. Rouen, Coll. Leber, II, 2a Nr. 3), 11. G . LEFEBVRE:

SAGNAC/CARON,

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Da diese Güter ursprünglich der Kirche vermacht wurden, um die Armen zu unterstützen, sollte die gesamte Nation auch über sie verfügen können. Von großer Bedeutung für die Entwicklung des Eigentums war die Entscheidung der Constituante, die Nationalgüter zu verkaufen. Sie ließ eine Eigentumsbewegung von großer Tragweite entstehen, die dem Landhunger der Bauern, aber auch dem Streben der Bourgeoisie nach Landbesitz entgegenkam. Eigentum erhielt so einen neuen Stellenwert als Einkommensquelle, als Patrimonium, als entscheidendes Merkmal der sich neu bildenden sozialen Hierarchie und als Gut in der Werteskala der Menschen29. Auch wenn sich die Besitzverteilung zwischen den sozialen Gruppen nicht entscheidend änderte, kommt dieser Transaktion große Bedeutung zu, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Eigentumsideen und ihre Verankerung in der Bevölkerung. Dadurch, daß vielen Franzosen die Gelegenheit gegeben wurde, Eigentum zu erwerben, fand die Idee von der Freiheit des Eigentums vermehrte Unterstützung in der Praxis.

IV. »Eigentum' im Zentrum sozialer und politischer Konflikte während des Nationalkonvents 1792 - 1794 In den ersten Jahren der Revolution kristallisierten sich immer häufiger und deutlicher drei voneinander abweichende Eigentumstheorien heraus: sie betonten einerseits das Recht auf freies und uneingeschränktes Eigentum, andererseits den Zusammenhang von Eigentum und sozialer Verantwortung, und außerdem vertraten sie die Notwendigkeit einer egalitären Besitzverteilung. Diese drei Auffassungen fanden sich sowohl in den betroffenen Schichten der Bevölkerung als auch bei den Politikern und bei den intellektuellen Zeitgenossen wieder. Die Zeit des Nationalkonvents zwischen 1792 und vornehmlich 1793 zeichnet sich hinsichtlich der Entwicklung der Eigentumsdoktrinen dadurch aus, daß die Frage der Begrenzung des Eigentums auf nationaler Ebene zum Angelpunkt der politischen Auseinandersetzung zwischen Girondisten und Montagnards wurde. Gleichzeitig stand die Eigentumsfrage im Zentrum sozialer Konflikte, ein Umstand, der dazu führte, daß dieses Thema nicht nur unter philosophischen und politischen Köpfen erörtert

29

82

Vgl. G.

BÉAUR,

Le marché foncier, 11.

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wurde, sondern auch die Menschen auf der Straße beschäftigte. Dort wurden die Konflikte um die Lebensmittelversorgung und um die Agrarprobleme im Rahmen der Forderung nach einer Einschränkung des absolut freien Eigentums ausgetragen. Agrarunruhen, Taxierungswellen auf den Marktplätzen der Städte und Ladenplünderungen zeugten hier von einer eigenen Sprache 30 . Die sozialen Konflikte dieser Jahre beruhten auf zwei sich gegenseitig ausschließenden Eigentumskonzepten: dem freien Eigentumsrecht, das in den Verfassungen verbürgt war und von der Bourgeoisie eingefordert wurde, und einem eingeschränkten Eigentumsrecht, dem das Recht auf Leben und Nutzung übergeordnet wurde und das die Sansculotten als Heilmittel ihrer Existenznot zu verwirklichen suchten. Dieser Konflikt, der im Kern zwischen Produzenten und Händlern einerseits, Verbrauchern andererseits bestand, spitzte sich in Aufständen und erzwungenen Höchstpreisfestsetzungen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zu, als die Nahrungsmittel rarer und teuerer wurden. Mangel und Teuerung trafen besonders die kleinen Handwerker und Händler, aber auch Tagelöhner, Kleinbauern und die breite Schicht der Armen, Bettler und Obdachlosen. Eigentümer, Pächter und Händler ordneten dem Eigentum nur das Prinzip der Freiheit über. Sie machten einen Rechtsanspruch auf die freie Verfügung ihrer Waren geltend, um sich gegen Höchstpreise, Konfiszierungen und wirtschaftspolitische Reglementierungen zu wehren. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um den freien Getreidehandel im Herbst 1792 erklärte der Exekutivrat in diesem Sinne: Si le commerce dans l'intérieur de la France est libre, si les négociants ne sont ni inquiétés, ni poursuivis dans les achats ni dans le transport des grains, alors, stimulés par leur propre intérêt, ils s'empresseront de porter ces grains dans les endroits où ils sont chers, parce qu'ils sont rares [ . . .]31

Im Mittelpunkt eines rekonstruierten Assoziationsfeldes um den Begriff ,Eigentum' stehen die Begriffe loi, droit de propriété und libre disposition. Das freie Eigentumsrecht stellte in dieser Sicht die Voraussetzung jedes wirtschaftlichen Handelns dar und mußte von allen Beteiligten respektiert werden. Das Gesetz legte das Eigentumsrecht und das freie

30 31

Näheres bei E. B O T S C H : Eigentum in der Französischen Revolution. Extrait d'une proclamation du conseil exécutif, in: Le Patriote Français Nr. 1190(12. Nov. 1792), 548.

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Verfügungsrecht fest und galt als einziger Maßstab. Die Achtung des Gesetzes garantierte Sicherheit, Ordnung und Ruhe, die Bedingungen für den Freihandel und die Regulierung von Verteilung, Preis und Lohn nach Marktgesetzen. In den Augen der Verbraucher hatte die tägliche, ausreichende Lebensmittelversorgung Vorrang und war den Privatinteressen der Produzenten unterzuordnen. Als Verkaufsware gehöre das Eigentum an Subsistenzmitteln zwar den Produzenten, aber der Nutzen dieses Eigentums stehe allen zu. Deshalb müßten die negativen Auswirkungen der Freiheit auf der Seite der Produzenten - nämlich Wucher, Diebstahl, Raub, Habsucht und Bereicherung - durch Gesetze eingeschränkt werden. Ihrer Ansicht nach war der Freiheit des Eigentums die soziale Verantwortung übergeordnet. Einige Vertreter dieses Gedankens plädierten für eine vorübergehend reglementierte Wirtschaft, andere zählten den Bereich der Lebensmittelversorgung grundsätzlich zu den Aufgaben des Staates, da die Verbraucher nicht vom Einzelinteresse weniger abhängig sein sollten, die sich bereichern wollten. Ihrer Eigentumsauffassung lag der Gedanke der Nutznießung zugrunde, der der Freiheit des Eigentums erst Sinn gab: La propriété [ . . . ] n'est autre chose que la jouissance légitime de biens légitimement acquis: or, des marchandises nécessaires aux besoins de tous, que l'on garde, que l'on resserre pour attendre l'occasion de les faire surpayer, cessent réellement d'être une propriété; [ . . . ] car c'est un bien illégitimement acquis; c'est un bien volé & recelé. 32

Radikalere Positionen forderten die gänzliche Abschaffung des Handels, weil dieser zu Spekulation und Bereicherung führe. Da alle Menschen das gleiche Recht auf die Produkte der Erde hätten, müsse die Regierung für die gleiche Verteilung der Lebensmittel Sorge tragen33. Als die Versorgungsprobleme infolge der Kriegswirtschaft und durch Verteilungsschwierigkeiten zunahmen, häuften sich auch die egalitaristischen Forderungen auf der Seite der Volksbewegung. ,Gleichheit' war der Schlüsselbegriff, aus dem ihre Vertreter das Recht aller auf eine angemessene Existenz und die Befriedigung der wichtigsten Bedürfnis-

32

33

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Sur la taxe des denrées, in: Révolutions de Paris Nr. 191 (2. - 9. März 1793), 441 f. Vgl. Des subsistances, in: Révolutions de Paris, Nr. 177 (24. November - 1. Dezember 1792), 430 - 432; ebenda Nr. 199 (27. April - 4. Mai 1793), 269.

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se ableiteten. Der Aspekt der Nutzung, zu dessen Gunsten das Eigentumsrecht eingeschränkt werden mußte, stand auch bei ihnen im Vordergrund. Jacques Roux zufolge, einem der Anführer der Volksbewegung, waren die Worte,Freiheit', .Gleichheit' und .Republik' nur leere Phantome, solange es noch Barbarei zwischen den Mächtigen und den Schwachen, den Reichen und den Armen gab: [ . . . ] ihr habt für das Glück des Volkes nicht genug getan. Die Freiheit ist ein leerer Wahn, solange eine Menschenklasse die andere ungestraft aushungern kann. Die Gleichheit ist ein leerer Wahn, solange der Reiche mit dem Monopol das Recht über Leben und Tod seiner Mitmenschen ausübt, die Republik ist ein leerer Wahn, solange Tag für Tag die Konterrevolution am Werk ist, mit Warenpreisen, die drei Viertel der Bürger nur unter Tränen aufbringen können.34

Immer wieder tauchte deshalb die Forderung nach der Gleichheit des Besitzes und der Vermögen auf. Ausgehend von der égalité des biens entwickelten sich verschiedene Konzeptionen von Eigentum. Allen gemeinsam war das Ziel, die Lebensmittel selbst produzieren zu können. Zur Durchführung wurden unterschiedliche Wege gefordert: die Verteilung von Land zu gleichen Teilen an alle, so wie es in der Teilung der biens communaux nach dem Gesetz vom 10. Juni 1793 zu einem großen Teil geschah, das gemeinschaftliche Eigentum einer Dorfgemeinde, dessen Nutzung unter den Dorfbewohnern gleich aufgeteilt wurde, und die Wiederherstellung der alten Kollektivrechte, die auf alte Bräuche zurückgingen und sich ausschließlich am Nutzungsrecht orientierten. Die sozialen Spannungen in der Gesellschaft des revolutionären Frankreich, die sich auf dem Hintergrund der Verteilungsproblematik gesellschaftlicher Güter zuspitzten, führten zu einem Konflikt zwischen denen, die - begünstigt durch die Revolution - über begehrte Güter verfügten, und jenen, die Mangel litten. Die Konfliktlinie verlief zwischen Besitzenden und Besitzlosen, zwischen Reichen und Armen. Die armen Schichten, größtenteils Lohnempfänger, aber auch kleine Händler, Ladenbesitzer, selbständige Handwerker, Kleinbauern und Tagelöhner, kurz die Sansculotten, sahen in den Besitzenden „Spekulanten", die sich durch den Kauf von Nationalgütem bereichert hatten, und beschimpften sie als die „neuen Aristokraten":

34

J. Roux: Le manifeste des Enragés (dt. Übersetzung in: W. Scripta et acta, Berlin 1969, 140).

MARKOV

(ed.):

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14

Tandis que les riches amassent sols sur sols et enfouissent les louis et les écus qu'ils ont acaparés, les pauvres Sansculottes supportent seuls le fardeau, ils endurent patiemment la misère lorsqu'ils devroient jouir des fruits de la révolution.35

Die Besitzenden reagierten gegen die täglichen Drohungen der Armen, ihr Eigentum zu plündern, mit der Berufung auf das Gesetz. Sie beschworen ihre Repräsentanten, gegen die Anarchie, die Willkür und die Gewalttätigkeiten einzuschreiten, Ruhe und Ordnung zum Schutz des Eigentums wiederherzustellen. In den Sansculotten sahen sie Kriminelle, die die Errungenschaften der Revolution, Freiheit, Rechtsgleichheit und Eigentum vernichten wollten, um eine Nivellierung der Vermögen einzuführen. Sämtliche Gleichheitsbestrebungen, die über die Rechtsgleichheit hinausgingen, belegten sie in Anspielung auf die Ackergesetze der altrömischen Volkstribunen, der Gracchen, mit dem Begriff loi agraire, der eindeutig negativ besetzt war und als Kampfbegriff diente 36 . Auf der politischen Ebene eröffneten die sozialen Konflikte, die im Streit um die Grenzen des Eigentums kulminierten, den Machtkampf zwischen der Gironde als der Vertreterin der Besitzenden und der Montagne als dem Bündnispartner der Sansculotten, aus dem die Volksallianz als Siegerin hervorging. Während die Gironde sich auf die Freiheit des Eigentums als unveräußerliches Recht berief, definierte Robespierre in seiner berühmten Rede vor dem Konvent am 24. April 1793 Eigentum als eine gesellschaftliche Einrichtung: En définissant la liberté le premier des biens de l'homme, le plus sacré des droits qu'il tient de la nature, vous avez dit avec raison qu'elle avait pour bome les droits d'autrui; pourquoi n'avez-vous pas appliqué ce principe à la propriété qui est une institution sociale [ . . . ] Vous avez multiplié les articles pour assurer la plus grande liberté à l'exercice de la propriété, et vous n'avez pas dit un seul mot pour déterminer le caractère légitime. 37

Obgleich die Montagnards im sozialen Bereich, vornehmlich durch die Begrenzung des Eigentums, Zugeständnisse an die Volksbewegung eingingen, lag es letztlich nicht in ihrer Absicht, die egalitären Bestrebun35 36

37

86

Le Père Duchesne, Nr. 198, 2. „ La loy agraire, et l'égalité de fortune, sont des ces chimères et de ces idées, purement imaginaires, qui, quoique possibles, ne peuvent présenter aucun point stable et utile, et qui ne rempliraient en aucune manière le but que l'on proposerait en les établissant." A. N. D./III 359, dossier 2, Pièce 83. Arch. Pari., Bd. 63, 197.

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gen der Volksschichten zu verwirklichen. Maßnahmen, die im Bereich einer Sozialverpflichtung des Eigentums lagen, wurden zwar getroffen, aber Überlegungen zu einer weitgehenden materiellen Gleichheit verworfen. Nach der Ventöse-Krise des Jahres II schließlich zerschlug Robespierre die radikale Opposition des Volkes, die nach einer konsequenteren Durchführung der Zwangswirtschaft gerufen hatte38.

V. Die Vorherrschaft der Besitzenden 1795 - 1820 Als die Thermidorianerbourgeoisie nach dem Sturz Robespierres an die Macht gelangte, siegte das Prinzip des freien Eigentums. Die Verfassung des Jahres III sah nur für jene Franzosen das volle Bürgerrecht vor, die zur Steuer veranlagt waren. Gleichzeitig nahmen die Thermidorianer auch die Sozialgesetzgebung der Jakobinerdiktatur zurück und führten die Wirtschaftsfreiheit wieder ein. Ihr Ziel war es, den Status der ersten Revolutionsphase von 1789 wiederherzustellen, der die politische und soziale Vorrangstellung des Bürgertums abgesichert hatte 39 . Das neue Frankreich der Direktoriumszeit war ein Land der Besitzenden. Dans toutes les associations policées, les propriétaires seuls composent la société. Les autres ne sont que des prolétaires qui, rangés dans la classe des citoyens surnuméraires, attendent le moment qui puisse leur permettre d'acquérir une propriété, afin d'obtenir le droit de cité. Ces principes, qui sont la base de tous les corps politiques existant actuellement sur la terre, ont été entièrement méconnus parmi nous, depuis cinq ans. On n'acessé depuis cette époque de persécuter les propriétaires, et il n'est pas d'efforts qu'on n'ait faits pour mettre les sans-culottes à leur place. 40

Das Zensuswahlrecht der Direktorialverfassung von 1795, das den Besitz materieller Güter voraussetzte, wurde mit dem Interesse begründet, das die Besitzenden an einer stabilen Regierung hätten, die das

38

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40

Zu den Ideen der Enragés und ihres Anführers Jacques Roux vgl. W. M A R K O V : Robespierristen und Jacquesroutins, in: derselbe (Hg.), Maximilien Robespierre ¡758-1794. Beiträge zu seinem 200. Geburtstag, Berlin (DDR) 1967, 1 5 9 - 2 1 7 . Vgl. G. LEFEBVRE: La France sous le Directoire 1795 - 1799, Paris 1984, 26-31. Gazette française vom 23. September 1794, zit. bei A U L A R D : Réaction Thermidorienne, II 267.

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Eigentum zu schützen vermöge: „La propriété attache l'homme au sol qui le vit et au gouvernement qui le protège."41 Wenn man das volle Bürgerrecht allen, die innerhalb des Staatsgebietes geboren sind, zugestehen wolle, ohne das Eigentum zu berücksichtigen, könne dies, so Dupont de Nemours, zur Usurpation der Volkssouveränität durch die besitzlosen Schichten führen: que les sans-culottes, sans maison, sans héritage, que ceux qui ne possèdent aucune partie du sol, et que l'on pourrait regarder comme ayant au pillage un intérêt momentané, nomment malgré les propriétaires, ceux qui feront les loix pour l'administration des héritages, des maisons, des propriétés de toute espèce, et pour la sûreté des personnes et des biens, ce serait donc usurper la souveraineté nationale.42 Als Teil des Souveräns könnten nur Eigentümer betrachtet werden, denn alle Nichtbesitzenden seien „simples locataires"43. Eine Regierung, die von den Besitzenden gebildet wurde, schien die beste Garantie für Ruhe, Ordnung und Sicherheit zu bieten. Der Eigentümer gebe einen Teil seiner Freiheit an die Regierung ab, damit diese das individuelle Eigentum schütze. Zu den Eigentümern zählten viele Anhänger dieser Auffassung aber nicht nur die Grundbesitzer, sondern auch jene, die über beweglichen Besitz und Handelseigentum verfügten. Il faut donc reconnaître trois sortes de propriétaires,le propriétaire foncier, le propriétaire mobilier & le propriétaire d'industrie. Dans cette dernière classe, seront compris tous les artistes & artisans établis avec un fonds de boutique, indépendans d'autrui, & payant une taxe annuelle au dessus de 50 livres. Dans la seconde seront compris tous les rentiers, capitalistes & marchands, payant une taxe mobilière fixée, ou d'après leurs capitaux, ou d'après leurs meubles.44 Demzufolge sollte das Wahlrecht der alten Bourgeoisie d'Ancien Régime, aber auch vor allem dem neuen Bürgertum 45 vorbehalten werden. 41 42

43 44 45

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La Quotidienne ou Le Tableau de Paris N° 127 (26. Juni 1795), 1. DUPONT DE NEMOURS: Observations sur la Constitution proposée par la Commission des onze . . . Paris, Du Pont, an III (1795), 7 f. Vgl. La Quotidienne N° 113 (11. Juni 1795), 2. La Quotidienne N° 127 (26. Juni 1795), 1. Zum Bedeutungswandel der sozialen Kategorien bourgeois, rentiers und propriétaire siehe M . V O V E L L E / D . ROCHE: Bourgeois, rentiers, propriétaires, 419-452.

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Ein beträchtlicher Teil der verkauften Nationalgüter ging in den Besitz der Bourgeoisie über. Häufig waren die Neureichen identisch mit den Emporkömmlingen der Politik. Viele hatten sich durch den Kauf von Nationalgütern und durch Spekulationshandel und Geschäfte mit der Staatsverschuldung systematisch bereichert 46 . Sie waren es, die letztlich von der Revolution profitierten. Das System des freien Eigentums garantierte ihre Herrschaft, indem es sie gegen die Nichtbesitzenden abgrenzte. Die Verfechter des gleichen Wahlrechts führten die Gleichheit aller vor dem Gesetz als höchstes Prinzip der Regierung an, das durch das Zensuswahlrecht verletzt werde; denn, so äußerte sich J. Souhait zur Verteidigung des allgemeinen Wahlrechts: La distinction que l'on voudrait mettre entre un homme pauvre & celui à qui une propriété quelconque donnerait l'exercice exclusif de ces droits, ferait de l'inégalité des richesses une source d'inégalité de droits [ . . . ] Celui qui aurait le plus de propriétés, prétendrait bientôt à plus de droits, & ferait disparaître l'égalité, un des principes conservateurs [ . . ,]47

Wenn den Armen das Wahlrecht verweigert werde, sei das Prinzip der Gleichheit in Gefahr, das zum Erhalt einer freien Gesellschaft unabdingbar sei. Obgleich ähnliche Überlegungen in der Presse von 1795 und in Petitionen, die den Conseil des Onze in Bezug auf die Verfassung des Jahres III erreichten, noch erhebliche Bedeutung erlangten, waren nach der Zeit des Terrors und den Erfahrungen mit dem Prinzip der Grenzen des Eigentums die Besitzenden mit ihrem Wunsch nach Freiheit und Sicherheit des Eigentums in der Mehrheit. Im Code Napoléon von 1804 wurde, wie schon von den Thermidorianern vorbereitet, dem Privateigentum eine Schlüsselrolle eingeräumt: „La propriété est le droit de jouir et disposer des choses de la manière la plus absolue, pourvu qu'on n'en fasse pas un usage prohibé par les lois ou par les règlements" 48 , lautet der Artikel über das Eigentumsrecht. Ganz im Sinne der besitzenden Schichten wurde das Eigentumsrecht in 46

47

48

Vgl. F. FURET/D. RICHET: Die Französische Revolution, München 1968, S. 554 - 557; zur Entwicklung der politischen Eliten am Beispiel des Elsaß siehe R. MARX: Recherches sur la vie politique de l'Alsace prérévolutionnaire et révolutionnaire, Strasbourg 1966. Opinion de Julien Souhait [. . .] sur le droit de suffrage dans les assemblée primaires et électorales [1795], 8. Code Napoléon, Art. 544.

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das Zentrum der Gesetzgebung gestellt: es sei der wertvollste Grundsatz eines Gesetzbuches, die erste und zugleich wichtigste Verfügung, aus der alle anderen hervorgingen, begründete Lahary die Stellung des Eigentums.

VI. Babeuf und die Gleichheit des Besitzes Dennoch lebten Ideen von der Gleichheit des Besitzes fort und blitzten während der Revolutionsjahre immer wieder auf. Eine besondere Ausprägung erlangten sie in der Theorie Babeufs, der sowohl im Privateigentum als auch im Ackergesetz die Ursachen für die Ungleichheit der Menschen erkannte: C'est le droit de propriété qui est la cause odieuse de toutes vos souffrances, de toutes vos malheurs. Ce droit n'est point naturel, il n'a point une origine légitime: il n'est qu'une déplorable création de nos fantaisies, de nos erreurs; il est né d'un vice affreux, de l'avidité, et il donne naissance à tous les crimes, à tous les chagrins de la vie, à tous les genres de maux et de calamités. 49

Infolgedessen entwickelte er Vorstellungen eines Verteilungskommunismus. Die Güter- und Arbeitsgemeinschaft sah er als den einzigen Weg, die tatsächliche Gleichheit zu verwirklichen. Die Abschaffung des Privateigentums, eine gemeinsame Verwaltung, die Nutzung der Begabungen und des Fleißes eines Jeden und die Planung der Lebensmittelversorgung hingegen würden seiner Ansicht nach die materielle Gleichheit aller Menschen dauerhaft durchsetzen50. Im Frühjahr 1796 zerschlug das Direktorium dann schließlich die Verschwörung der Gleichen und setzte dadurch diesem Vorstoß zur Verwirklichung der Gleichheit ein Ende. Doch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde diese Idee von einigen Frühsozialisten wieder aufgegriffen.

VII. Eigentum und Bewußtsein Der Bedeutungsänderung des Begriffes ,Eigentum' von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis ins frühe 19. Jahrhundert wurde in einer Studie zu 49 50

90

Le Tribun du Peuple, Nr. 37, 30 Frimaire An IV (20. Dez. 1795), 133. Vgl. Le Tribun du Peuple, Nr. 36,9. Frimaire An IV (29. Nov. 1795) und Nr. 35, 17. Brumaire An IV (7. Nov. 1795), 105.

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diesem Thema51 ausführlich nachgegangen, indem die semantischen Felder des Begriffs anhand repräsentativer Quellenbelege52 mit Hilfe serieller Methoden chronologisch rekonstruiert wurden53. Daher mag hier eine Zusammenfassung der dort gewonnenen Ergebnisse genügen. Berücksichtigt man bei dieser Analyse von Eigentumskonzepten Unterschiede innerhalb der gesellschaftlichen Gruppen und zwischen unterschiedlichen Bewußtseinsebenen, können Änderungen der gesellschaftlichen Sinnbildungsmuster erfaßt werden, die den Begriff,Eigentum' konstituieren. Dabei läßt sich erfassen, welche Sinnelemente den Begriff ,Eigentum ' interessen- und schichtenübergreifend prägten und wie dieser Sinnbildungsprozeß zwischen den Ebenen der gesellschaftlichen Gruppen, der politischen Handlungsträger und der Bildungselite stattfand. Aus den Frequenzanalysen der sinnbildenden Begriffe von ,Eigentum', rekonstruiert aus Petitionen und Flugschriften aus allen gesellschaftlichen Gruppen54, lassen sich folgende Ergebnisse herausschälen: zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und dem frühen 19. Jahrhundert löste sich im Bewußtsein der französischen Gesellschaft die Bedeutung von .Eigentum' vollständig von ihren feudalen Prämissen. Unter Eigentum' verstanden die Zeitgenossen der Französischen Revolution freien individuellen Besitz. Alle drei Hauptstränge von Eigentumstheorien schlugen sich im Vokabular der Franzosen nieder. Je nach schichtenspezifischer Zugehörigkeit überwogen Assoziationen, die die Theorie vom freien Eigentum, die Forderung nach den Grenzen des Eigentums und das Konzept von der Gleichheit des Besitzes kennzeichneten. So entsprach das Begriffsnetz liberté, respect, sacré und violation einerseits und das von égalité, limite, jouissance, existence, usage, agiotage und accaparement andererseits den jeweiligen gesellschaftlichen Interessen. Stellt man die charakteristischen Assoziationen des Begriffes .Eigentum' für die Zeit um 1750 in einem Wortfeld zusammen, so wird deutlich, daß schon zu diesem Zeitpunkt die Vorstellung von einem

51

52

53 54

Siehe E. B O T S C H : Eigentum in der Französischen Revolution, besonders Kap. VII Eigentum und soziales Bewußtsein. Zur Quellengrundlage siehe R . REICHARDT; Einleitung HPSG Heft 1/2, 64-148. Zur Theorie der sozialhistorischen Semantik ebd. S. 64 - 85. Tabellarische Belege und Analysen bei BOTSCH: Eigentum in der Französischen Revolution.

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freien Eigentum mit seinen dazugehörigen Konnotationen wie liberté, travail oder droit, weit verbreitet war. Wortfeld P R O P R I É T É um 1750 Grundherrschaft

Freies Eigentum

vassaux fiefs seigneurs féodalité PROPRIÉTÉ droits légitimes loyers/fermages conservation maintien de la société

droits justice liberté travail acquérir sûreté protection respect

Kurz vor und in den Jahren der Revolution differenzierte sich der freie Eigentumsbegriff. Standen in den Jahren 1789 bis 1791 insgesamt noch Begriffe im Vordergrund, die mit der Überwindung des Feudalsystems zusammenhingen oder auf die Probleme der Bauern mit dem neuen Eigentumssystem verwiesen, so änderten sich die Konnotationen von ,Eigentum' von 1792 bis zum Jahr II vollständig. Die semantischen Begriffsreihungen spiegeln die Eigentumsproblematik in den Auseinandersetzungen jener Jahre wider. Die beiden miteinander konkurrierenden Eigentumskonzeptionen, das freie Eigentumsrecht und die Grenzen des Eigentums, standen sich in ihren positiven und negativen Wortbedeutungen gegenüber. Während bei den einen die unbeschränkte Freiheit von Besitz im Vordergrund stand, riefen die anderen nach der Verwirklichung der Gleichheit, die die unbegrenzte Freiheit des Eigentums ausschloß. Letztere indessen hielten beispielsweise alle Getreidehändler, die für Freihandel eintraten, für Wucherer und Spekulanten. Die Adepten der Freiheit verdammten im Gegenzug jeden Versuch, die Freiheit des Eigentumsrechts einzuschränken, als Schritt in die Anarchie. Der Begriff liberté, bis 1792 herausragender Zentralbegriff der politischen Diskussion, fällt im Jahre II hinter égalité zurück. Sowohl der Respekt vor dem Eigentum als auch die sozialen Auswirkungen des freien Eigentums finden in Ausdrücken wie gros fermier, cherté des grains, accapareurs, agiotage, égoïsme und sordide intérêt Niederschlag im Bewußtsein der Betroffenen. Begriffe, die Verletzungen des 92

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Propriété, Wortfeld

g c

Propriétaire PROPRIÉTÉ

Liberaler Eigentumsbegriff

Sansculottischer Eigentumsbegriff

o v g .S g 'g §

1793

prix taxe limites jouissance vie usufruit égalité de fait

respect industrie pacte social droit travail loi liberté entière

PROPRIÉTÉ

brigandage anarchie loi agraire partage égal violation

gros fermier/propriétaire cherté des grains accapareurs agiotage egoisme sordide intérêt

freien Eigentumsrechts bezeichneten, rangieren ebenfalls auf den oberen Plätzen der Begriffshierarchie. Dazu gehören brigandage, anarchie, loi agraire und partage égal. Der Wunsch nach der gleichen Verteilung von Eigentum bleibt deutlich hinter den anderen Forderungen zurück. Im Jahr III schlägt sich die Rückkehr des Bürgertums zur politischen Macht in den Hauptbedeutungen des Begriffs nieder: ,Freiheit' steht jetzt vor .Gleichheit'. Danach folgen vente des biens nationaux und égalité. Erst 1798/99 tritt eine deutliche Wende auf den ersten Rangplätzen der Assoziationsfelder ein. Prospérité, richesse und fortune werden nun am häufigsten mit dem Begriff »Eigentum' verbunden. Diesen Vermögensbezeichnungen stehen die negativ besetzten Worte délits und vol gegenüber. Der Eigentumsanhäufung auf der einen Seite entsprechen Eigentumsdelikte auf der anderen Seite. Eigentum hat sich zu einer Institution des Besitzbürgertums entwickelt, das über die Unantastbarkeit seiner Rechte wacht und Zuwiderhandlungen kriminalisiert. Dennoch überlebten auf der Ebene der gesellschaftlichen Gruppen in 93

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beträchtlichem Umfang Vorstellungen von einem quantitativ beschränkten Eigentum das Ende der Revolution. In den Konventsdebatten der Jahre 1792 und 179355 spielten Bedeutungselemente, die den Eigentumsbegriff der Parlamentarier als bürgerlichen ausweisen, eine herausragende Rolle. Den Assoziationen loi, travail und liberté folgen droit, droit de propriété, pacte social, industrie und respect. .Gesetz' und .Arbeit' sind Begriffsbestimmungen, die das Eigentum als dynamische Größe kennzeichnen, die dem Schutz des Staates untersteht. Eigentum kann durch Arbeit und Fleiß von jedem erworben werden. Die bürgerliche Gesellschaft besteht aus freien Eigentümern, die durch ihre Fähigkeiten und durch deren Anwendung Eigentum erwerben und veräußeren können. Privateigentum stellt die Grundlage der ökonomischen Beziehungen dar, die durch den Tausch zwischen Eigentümern definiert werden. 1792/93 beherrschte die Subsistenzmittelfrage die Debatten im Konvent und warf in konkreter Weise die Frage nach den Grenzen des Eigentums auf. Daß sich Begriffe des sansculottischen Begriffsnetzes wie taxe, prix, joussance, vie und égalité auf den oberen zehn Rängen der Häufigkeitsstatistik befinden, zeigt, wie stark der Bedeutungszusammenhang zwischen ,Eigentum', .Gleichheit' und ,Nutznießung' auch im Denken der Politiker verhaftet war. In Texten aus den Reihen der Bildungselite herrschte vor 1789 der Gebrauch von droit de propriété und acquérir vor, die das Hauptinteresse auf den Erwerb von Eigentum und seiner Sicherung durch das freie Eigentumsrecht lenkten. In der Begriffshierarchie von 1789 stehen Freiheit und Erhaltung des Eigentums im Vordergrund. Doch schon 1790 erlangte der Begriff usufruit, der den Aspekt der Nutzung von Eigentum betont, große Bedeutung. Die häufige Nennung von limite zeigt, daß die Idee von der Beschränkung des Eigentums im Bewußtsein der Bildungselite fest verankert war. Nach dem Sturz Robespierres verschwinden die konkreten Anzeichen dafür, daß die beiden Konzepte von der Freiheit und den Grenzen des Eigentums das Denken der Bildungselite bestimmten. In den Texten um das Jahr 1800 überragen die Begriffe lois, garantie und respect bei

55

94

Die Analyse der Konventsdebatten beschränkt sich auf die Jahre 1792/93, weil nur während dieses Zeitabschnittes die Eigentumsdiskussion eine herausragende Rolle spielte. Im politischen Kampf zwischen Gironde und Montagne nahm die Eigentumsfrage sogar eine Schlüsselstellung ein.

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weitem alle Wörter, die die Begrenzung des Eigentums ansprechen. Dem Erhalt und Schutz von Besitz wurde größte Bedeutung beigemessen, die Verletzung von Eigentumsrechten galt dagegen als schwerwiegendes negatives Kriterium.

Wortfeld respect garantie travail lois droit argent intérêts consolidation maintien base de l'ordre protection

PROPRIÉTÉ

um 1800

social

PROPRIÉTÉ

CS

t

Où «

atteinte

Die Konzeption des Besitzbürgertums und der Großgrundbesitzer von der absoluten Freiheit des Eigentums trug in der aufgeklärten Elite des ausgehenden 18. Jahrhunderts den Sieg davon. Assoziationen eines Eigentumsbegriffs, der auf der sozialen Verantwortung beruht, lebten jedoch auch nach der Revolution an der Gesellschaftsbasis weiter, konnten aber nicht mehr an die herrschende Elite vermittelt werden.

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Literatur Le marché foncier à la veille de la Révolution. Les mouvements de propriété beaucerons dans les régions de Maintenon et de Janville de 1761 à 1790. Paris 1984. E. B O T S C H : Eigentum in der Französischen Revolution: Gesellschaftliche Konflikte und Wandel des sozialen Bewußtseins. München/Wien 1991. M . D O R I G N Y : Les Girondins et le droit de propriété. In: Bulletin d'Histoire économique et sociale de la Révolution Française, Année 1980/81, 1983, 1 5 - 3 1 . M. G A R A U D : La Révolution et la Propriété fonçière. Paris 1958. G . van den H E U V E L : Grundprobleme der französischen Bauernschaft 1730-1194. Soziale Differenzierung und sozio-ökonomischer Wandel vom Ancien Régime zur Revolution. München, Wien 1982. E. HINRICHS: Die Ablösung von Eigentumsrechten. Zur Diskussion über die droits féodaux in Frankreich am Ende des Ancien Régime und in der Revolution. In: R. Vierhaus (Hg.): Eigentum und Verfassung, Göttingen 1972, 1 1 2 - 178. M . L E R O Y : Histoire des idées sociales en France, de Montesquieu à Robespierre. 2 Bde. Paris 1946. E. L E R O Y LADURIE: Révoltes et contestations rurales en France de 1675 à 1788, in: AESC 1 (1974), 6 - 22. L . M . PELLERIN: Famille et éducation dans l'œuvre utopique de Rétif de la Bretonne 1775-1782. Nantes 1975. N . R I V A L : Les Amours perverties: une biographie de Nicolas-Edme Rétif de la Bretonne. Paris 1982. Ph. S A G N A C : La Législation civile de la Révolution Française (1789 1804). Essai d'histoire sociale. Paris 1898. M . V O V E L L E / D . R O C H E : Bourgeois, rentiers, propriétaires. Eléments pour la définition d'une catégorie sociale à la fin du XVIIIe siècle, in: ACNSS 84 (Dijon 1959), Paris 1960, 4 1 9 - 4 5 2 .

G . BÉAUR:

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Artikelliste

Artikelliste Numerische Zusätze bezeichnen den Ort des Erscheinen des jeweiligen Artikels (z. B. 3/36 = Heft 3, Seite 36ff.) Abus Administration, Bureaucratie Agiotage, Agioteur 12/7 Amérique - Angleterre Anarchie, Anarchiste Analyse, Expérience 6/7 Ancien Régime - Nouveau Régime Antiquité Aristocratie, Aristocrate Art, Arts et Sciences Artisan, Artiste Athéisme, Athée Autorité, Pouvoir, Puissance Avocat Barbarie, Civilisation Vandalisme 8/7 Bastille 9/7 Bien commun, Esprit public Bon Sauvage Bonheur, Félicité publique Bourgeois, Bourgeoisie Canaille, Populace Capitaliste, Banquier, Financier 5/27 Caste, Classe Censure, Liberté de la presse Charité, Bienfaisance Citoyen - Sujet, Civisme 9/75 Civilité 4/7

Clergé Club, Cercle, Sociabilité Commune(s) Complot, Saint-Barthélemy Concorde, Division, Fraternité, Union, Unité Condition, Etat, Naissance, Qualité, Rang Conservateur Constitution, Constitutionnel 12/31 Convention Conversation, Démagogue, Orateur Corps, Etats, Ordres Corruption, Décadence Cosmopolitisme, Cosmopolite 6/41 Cour, Courtisan Crime Crise Critique 5/7 Curé, Prêtre Débauche, Libertinage, Libertin 13/7 Déisme Démocratie, Démocrates, Démocratique 6/57 Despotisme, Tyrannie Dévotion, Dévots Doctrine, Principes Domestique, Valet 13/47 Droit 12/65 Droite - Gauche Economie politique 8/51 Egalité, Egalitaire 97

Artikelliste Elite, Les meilleurs Emeute, Emotion, Désordres, Troubles Enthousiasme Esclavage, Noirs Etat, Chose publique Etre suprême Faction, parti (Girondins, Jacobins, usw.) Famille, Maison Fanatisme, Fanatique 4/51 Féodalité, Féodal 10/7 Femme Fermier, Gabelle, Maltôtier, Traitant Fermentation Financier, Banquier, Capitaliste 5/27 France, Français Gens de lettres, Auteur Gouvernement Guerre civile Guillotine, Supplice Histoire Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens 7/7 Honneur, Mérite Humanité Idéologie, Idéologues Idiomes, Dialectes, Langue Individu, Individualisme Industrie Instruction, Education Insurrection, Révolte, Sédition Intérêt, Intérêt public Jansénisme, Jésuitisme 98

Justice Libéral, Libéralité Liberté Liberté - Egalité - Fraternité Libertinage 13/7 Libre pensée, libre penseur Loi, Législateur Lumières - Ténèbres Luxe Magistrat, Magistrature Majorité - Minorité Manufacture, Fabrique Marchand, Commerçant Négociant Matérialisme, Matérialiste 5/61 Modération, Modéré Moderne, Anciens et Modernes Mœurs Monopoleur, Accaparement Morale Moyen-âge Nation 7/75 Nature, Naturel Noblesse, Nobles Notables Office, Officiers, Vénalité Opinion publique Ordre - Désordre Ouvrier, Prolétaire Parlements 10/55 Patrie, Patriotisme, Patriote Pauvres, Pauvreté Paysan, Laboureur Petits-maîtres, Muscadins Incroyables, Merveilleuses Peuple, Sans-culottes

Artikelliste Philosophe, Philosophie 3/7 Police Politique, Machiavélisme Préjugés Privé - Public Privilège, Privilégiés Progrès, Perfectibilité Propriétaire 13/7 Propriété 13/7 Province Public, Publicité Raison, Vérité Réaction, Réactionnaire Réforme, Réformateur Religion Rente, Rentier Représentation politique République, Républicain, Républicanisme Révolution, Révolutionnaire Riches - Pauvres, Patriciens Plébéiens

Robe, Robin Royauté Sens, Sensibilité, Sentiment Siècle Société, Social, Art social Souverain, Souveraineté Subsistance, Pain Superstition Système Terreur, Terrorisme, Terroriste 3/89 Tiers Etat Tolérance, Tolérantisme Travail, Travailleur Tribun, Orateur Utilité Utopie, Utopiste 11/9 Valet 13/47 Vertu Ville Volonté générale

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Mitarbeiter und Autoren von Artikeln: Sylvain AuROux/Paris, Keith M. BAKER/Stanford, Georges BENREKASSA/Paris, Armin BiERMANN/Siegen, Hans Erich BöDECKER/Göttingen, Elisabeth B O T S C H / Paris, Nicole und Yves CASTAN/TOUIOUSC, Roger CHARTIER/Paris, Albert CREMER/Göttingen, Otto DANN/Köln, André DELAPORTE/Trier, Michel D E L O N / Paris, Clause DESIRAT/Tours, Horst DiPPEl/Hamburg, Christof DIPPER/Darmstadt, Henri DuRANTON/Saint Etienne, Arlette FARGE/Paris, Robert FAVRE/Lyon, Elisabeth FEHRENBACH/Saarbrücken, Martin FoNTius/Berlin, Hans-Günter FUNKE/Regensburg, Rolf GEissLER/Berlin, Dieter GEMBicKi/Genf, Maurice G R E S S E T / Besançon, Bernard GROSPERRIN/Chambéry, Jacques GUILHAUMOU/Marseille, Hans Ulrich GuMBRECHT/Stanford, Ran HALEVi/Paris, Frederike J . H A S S A U E R Roos/Wien, Gerd van den HEUVEL/Hannover, Patrice HiGONNET/Cambridge (Mass.), Annette HöFER/Essen, Jochen HoocK/Paderborn, Gemod JUNGCURT/ Heidelberg, Barbara KALTz/Montreal, Steven K A P L A N / N C W York, Günther L O T TEs/Regensburg, Hans-Jürgen LOsEBRiNK/Passau, Klaus MALETTKE/Marburg, Pierre MICHEL/ Lyon, Matthias MiDDELL/Leipzig, Michel MoRiNEAU/ClermontFerrand, Ulrich Christian PALLACH/Erlangen, Erich PELZER/Freiburg, JeanClaude PERROT/Paris, Claude PETITFRERE/Tours, Helmut PFEiFFER/Konstanz, Jeremy PoPKiN/Lexington (Kent.), Rolf REicHARDT/Mainz, Pierre RETAT/Lyon, Ulrich RiCKEN/Halle, Jânos Rmsz/Bayreuth, Thomas ScHLEicH/Bamberg, Brigitte ScHLiEBEN-LANGE/Tübingen, Wolfgang ScHMALE/Bochum, Peter SCHÖTTLER/ Paris, Fred ScHRADER/Paris, Winfried SCHULZE/Bochum, Michael S C O T T I - R O S I N / Mainz, William SEWELL/Tucson (Ariz.), Martine SoNNET/Paris, Burkhard STEINWACHs/Konstanz, Karlheinz SuERLE/Konstanz, Christoph STROSETZKi/Münster, Hans-Ulrich THAMER/Münster, Manfred TiETz/Bochum, Anne V I G U I E R / T O U louse, Jürgen Voss/Paris, Michael WAGNER, Eric WALTER/Amiens, Denis WORONOFF/Paris.

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